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German Pages 624 Year 2014
Beiträge zu Grundfragen des Rechts
Band 13
Herausgegeben von Stephan Meder
Albert Janssen
Die gefährdete Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Beiträge zur Bewahrung ihrer verfassungsrechtlichen Organisationsstruktur
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0280-9 ISBN 978-3-8470-0280-2 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Versicherungsgruppe Hannover. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Annegret
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die den Abhandlungen gemeinsame Fragestellung . . . . . . II. Der wesentliche Inhalt der gegebenen Antworten und der sie verbindende verfassungsrechtliche Grundgedanke . . . . . . III. Hinweise zur Form der Veröffentlichung . . . . . . . . . . . .
. . . .
17 17
. . . .
18 36
1. Die Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene. Zur Reichweite verfassungsrechtlicher Vorgaben im Gemeinderecht . . .
39
2. Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
3. Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
1. Teil: Fragwürdige Entwicklungen in der Organisationsstruktur der deutschen Bundesländer – das Beispiel Niedersachsen I. Die missverstandene demokratische Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung
8
Inhalt
II. Der Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche 4. Die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien. Eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zur Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen . . . . . . . .
115
5. Die gefährdete regionale Identität Ostfrieslands nach Auflösung des Regierungsbezirks Aurich vor dreißig Jahren . . . . . . . . . . . . .
153
III. Das überholte parlamentarische Regierungssystem auf Landesebene 6. Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
IV. Der dominierende Einfluss der politischen Parteien auf die Entstehung der neuen Niedersächsischen Verfassung und ihre Beachtung in der Staatspraxis 8. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993 – Ein wirklicher Fortschritt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
9. Die Entstehung der neuen Niedersächsischen Verfassung und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs und die Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
2. Teil: Notwendige Reformen des deutschen Bundesstaates 10. Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
11. Die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen und einer Bundesratsreform mit einem Nachtrag . . . . . . . . . . . .
317
12. Mehr direkte Demokratie als Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus? Zugleich eine Stellungnahme zu dem Buch von Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie .
359
Inhalt
9
3. Teil: Abschied von der Exekutive als eigenständiger Staatsgewalt 13. Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen . . . . . .
381
14. Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . .
435
15. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Beamtenund Bürokratiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
501
16. Brauchen wir eine neue deutsche Verfassung? . . . . . . . . . . . . .
513
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation staatlicher und supranationaler Herrschaft durch das deutsche Volk 17. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens für die Legitimation der Staatsgewalt. Ein Beitrag zur Auslegung des Artikel 20 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
18. Verfassungsgebung ohne die verfassungsgebende Gewalt des Volkes? Eine juristische Stellungnahme zu dem Essay »Zur Verfassung Europas« von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . .
561
19. Europa auf dem falschen Weg – Eine verfassungsrechtliche Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
589
20. Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa. Überlegungen zum Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597
Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
617
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
621
Vorwort
Nach über dreißigjähriger praktischer Tätigkeit als Verwaltungs- und Parlamentsjurist im Dienst eines deutschen Bundeslandes lege ich hiermit eine Auswahl verfassungsrechtlicher Arbeiten von mir vor, die fast alle durch meine in der beruflichen Praxis gemachten Erfahrungen veranlasst sind und konkrete Antworten auf dort zu lösende Fragen zu geben versuchen. Erst im Nachhinein ist mir bei erneuter Lektüre der Studien das ihnen gemeinsame Anliegen und dessen fortdauernde Aktualität deutlich geworden. Darüber gibt die Einführung in die Abhandlungen genauer Auskunft. Da ich die hier versammelten Texte daneben auch als nach wie vor aktuelle Zeitzeugnisse verstehe, habe ich an ihrer ursprünglichen Fassung bewusst nichts geändert. Hildesheim, im Frühjahr 2014
Albert Janssen
Abkürzungsverzeichnis
Aufgenommen wurden nur die für die Rechtsquellen und die Belege aus Rechtsprechung und Literatur benutzten Abkürzungen Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Arbeitsförderungsgesetz Archiv für Kommunalwissenschaften Archiv des öffentlichen Rechts Arbeit und Recht (Zeitschrift) Bundesarbeitsgericht Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz) BeamtVG Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter des Bundes (Beamtenversorgungsgesetz) BAT Bundes-Angestelltentarifvertrag BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter BayVerfGH Bayerischer Verfassungsgerichtshof BB Betriebs-Berater (Zeitschrift) BBesG Bundesbesoldungsgesetz BBG Bundesbeamtengesetz BetrVG Betriebsverfassungsgesetz BGBl. Bundesgesetzblatt BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BHO Bundeshaushaltsordnung BlStSozArbR Blätter für Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht BPersVG Bundespersonalvertretungsgesetz BR-Drs. Bundesratsdrucksache (Nummer und Jahrgang) BRRG Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz) BSHG Bundessozialhilfegesetz BT-Drs. Bundestagsdrucksache (Wahlperiode und Nummer) BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ABl.EG AcP AEUV AFG AfK AöR AuR BAG BeamtStG
14 DDB DJT dng DÖD DÖV DVBl. EG-Vertrag
Abkürzungsverzeichnis
Der Deutsche Beamte (Zeitschrift) Deutscher Juristentag Die niedersächsische Gemeinde (Zeitschrift) Der öffentliche Dienst (Zeitschrift) Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Amsterdam EKD Abl. Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland EuGRZ Europäische Grundrechte Zeitschrift EuR Europarecht (Zeitschrift) EUV Vertrag über die Europäische Union FAG Finanzausgleichsgesetz FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland FS Festschrift FStrPrivFinG Gesetz über den Bau und die Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private (Fernstraßenbaufinanzierungsgesetz) GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GVBl. Gesetz- und Verordnungsblatt HGrG Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzgesetz) HOAI Honorarordnung für Architekten und Ingenieure HStR Handbuch des Staatsrechts, hg. von Isensee und Kirchhof, 1987 ff. Inst. Institutionen (Teil des Corpus iuris civilis) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge JöR NF JuS Juristische Schulung (Zeitschrift) JWG Jugendwohlfahrtsgesetz JZ Juristenzeitung KJ Kritische Justiz (Zeitschrift) LHO Landeshaushaltsordnung LT-Drs. Drucksachse des Landtags (Wahlperiode und Nummer) MBl. Ministerialblatt Nds. Rpfl. Niedersächsische Rechtspflege (Zeitschrift) Nds StGHE. Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs NdsVBl. Niedersächsische Verwaltungsblätter NGO Niedersächsische Gemeindeordnung (seit 2010: Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz) NJW Neue Juristische Wochenschrift NLO Niedersächsische Landkreisordnung (seit 2010: Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz) NLT Niedersächsischer Landkreistag (Zeitschrift) Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland NordÖR NST-N Niedersächsischer Städtetag – Nachrichten für kreisfreie und kreisangehörige Städte, Gemeinden und Samtgemeinden NSTV-N Niedersächsischer Städteverband – Nachrichten für Städte, Gemeinden und Samtgemeinden
Abkürzungsverzeichnis
NV NVwZ OVG RdA RiA SächsVerfGH StGH SZ ThürVBl. TVG VBlBW Verw Arch. VG VGH VNV VOB VOL VR VVDStRL WRV ZBR ZeuP ZevKR ZG ZRP
15
Niedersächsische Verfassung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberverwaltungsgericht Recht der Arbeit (Zeitschrift) Recht im Amt (Zeitschrift) Sächsischer Verfassungsgerichtshof Staatsgerichtshof Süddeutsche Zeitung Thüringer Verwaltungsblätter Tarifvertragsgesetz Verwaltungsblätter Baden Württemberg Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Vorläufige Niedersächsische Verfassung (seit 1993: Niedersächsische Verfassung – NV) Verdingungsordnung für Bauleistungen Verdingungsordnung für Leistungen Verwaltungsrundschau (Zeitschrift) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Rechtspolitik
Einführung
I.
Die den Abhandlungen gemeinsame Fragestellung
Über den Verlust der »Staatlichkeit«1 hat man in jüngster Zeit – was die Bundesrepublik Deutschland betrifft – vor allem im Blick auf ihre fortschreitende Integration in die Europäische Union (EU) gesprochen. In zentralen neueren Entscheidungen hat sich auch das Bundesverfassungsgericht mit diesem Aspekt des genannten Themas befasst2. Nach meinem Eindruck wird demgegenüber die Frage, ob denn die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht primär und vor allem durch die Auflösung ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Organisationsstruktur gefährdet ist, kaum noch ausdrücklich gestellt. Das war in der Vergangenheit bekanntlich völlig anders. Man braucht insoweit nur an die einschlägigen Arbeiten von Werner Weber zu erinnern, in denen ja mit besonderem Nachdruck das Verhältnis von Staat und Verbänden, Probleme der Parteienstaatsdemokratie und vertikalen Gewaltenteilung u. a. als die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland betreffende namhaft gemacht wurden3. Auch die folgenden Studien behandeln im Schwerpunkt bewusst diesen zuletzt genannten Aspekt der gefährdeten Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Das geschieht in der Überzeugung, dass vor allen Fragen nach dem durch die europäische Integration (und dem Beitritt Deutschlands zu anderen »zwischenstaatlichen Einrichtungen« i. S. des Art. 24 GG) eingetretenen Souveränitätsverlust der Bundesrepublik das Problem ihrer Staatlichkeit primär in der Frage besteht, ob sie (noch) als »in Ämtern rechtlich verfasste politische Gewalt« anzusehen ist4. Dementsprechend ist schon vor Jahren die Prognose 1 So der Titel des 2007 erschienenen Buches von Stefan Haack. 2 Siehe besonders BVerfGE 89, 155; BVerfGE 123, 267; BVerfGE 126, 158; BVerfGE 129, 124; BVerfGE 130, 318; BVerfGE 131, 152 und BVerfGE 132, 195. 3 Siehe dazu vor allem die beiden Aufsatzsammlungen von Werner Weber : Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970 und: Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. Aufl. 1967. 4 Denn »der Staat der Neuzeit und der Gegenwart« ist nun einmal »die in Ämtern rechtlich
18
Einführung
gewagt worden, dass »der Staat als Amtsgewalt den Verlust der Souveränität« überdauern wird5. Die hier erneut veröffentlichten Abhandlungen wollen darum – allgemein gesprochen – eine Antwort auf die Frage zu geben versuchen, ob die Organisationsstruktur der Bundesrepublik Deutschland noch ihren verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht und welche Reformen ggf. notwendig sind, um das sicherzustellen.
II.
Der wesentliche Inhalt der gegebenen Antworten und der sie verbindende verfassungsrechtliche Grundgedanke
Veränderungen in der verfassungsrechtlichen Organisationsstruktur der Bundesrepublik Deutschland lassen sich auf allen demokratischen Entscheidungsebenen unseres Staates ausmachen. Auf diese sozusagen ebenspezifischen Veränderungen bei den Kommunen, den Ländern und beim Bund gehen die Studien des ersten und zweiten Teils ein. Für alle genannten Entscheidungsebenen ist daneben nun aber ein (weitgehender) Abschied von der verfassungsrechtlich gebotenen bürokratischen Amtsherrschaft zu beobachten, – mit der Folge, dass aus diesem Grund die Bundesrepublik Deutschland als Staat ohne (wirkliche) Exekutive verstanden werden muss. Das ist die These der hier im dritten Teil versammelten Arbeiten. Die Aufsätze des vierten Teils schließlich stellen klar, dass letztlich nicht von den politischen Parteien und Verbänden, sondern allein vom deutschen Volk alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) und dass dies nach deutschem Verfassungsrecht auch für die Legitimation der von der EU ausgeübten überstaatlichen (supranationalen) Herrschaft gilt. Daran im vorliegenden Zusammenhang zu erinnern, ist m. E. deshalb geboten, weil die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und damit auch ihre verfassungsrechtliche Organisationsstruktur letztlich auf der Einsicht beruht, dass das »gedankliche Gebilde des Staates … zu seiner Konstruktion als Rechtssubjekt eigener Art des Volkes als Element« bedarf6. gefasste politische Gewalt«, so schon sehr früh Wilhelm Henke, Die Lehre vom Staat, Der Staat 12 (1973), S. 219 (236). Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser These s. besonders den dritten Teil der vorliegenden Sammlung. 5 So wiederum Henke (Anm. 4), S. 227 Anm. 14. 6 So schon für die Weimarer Reichsverfassung: Hans Liermann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart, 1927, S. 77. Für die Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt folgt daraus: »Die verfassungsgebende Gewalt ist diejenige Gewalt, die wirklich und unveräußerlich beim Volk liegt; sie entscheidet über die Verfassung. Die Staatsgewalt liegt nicht beim Volk. So wie die verfassungsgebende Gewalt die Verfassung hervorbringt, so bringt die Staatsgewalt – neben anderem – das Verfassungsgesetz hervor«, so Wilhelm Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 32.
Einführung
19
Zur inhaltlichen Durchführung der vier genannten Themenkomplexe im Einzelnen ist einführend Folgendes zu bemerken:
1.
Zum 1. Teil
a) Was die kommunale Ebene als unterste demokratisch legitimierte Entscheidungsebene nach dem Grundgesetz angeht, so zeigen verschiedene gesetzliche Regelungen des niedersächsischen Gemeinderechts, besonders aber die kommunale Praxis in Niedersachsen, dass die durch das Grundgesetz und die Niedersächsische Verfassung geregelte demokratische Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 57 Abs. 2 NV) in der Vergangenheit in mehrfacher Weise missverstanden wurde: Das betrifft zunächst die vielfach zu beobachtende Weigerung der kommunalen Praxis, mit der Gleichwertigkeit dieser demokratischen Legitimation gegenüber der durch den Landtag und den Bundestag gestifteten Ernst zu machen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene. Man muss nämlich insoweit aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben den Rat als Volksvertretung i. S. des Art. 17 GG verstehen und daraus die notwendigen Konsequenzen für die Behandlung der Petitionen durch die Kommunen ziehen (dazu hier Nr. 1)7. Da der Gemeinderat wie der Kreistag (mit ganz bestimmten Kompetenzen ausgestattete) Verwaltungsorgane sind, können sie nun aber nicht als Institution allgemeiner staatsbürgerlicher Repräsentation tätig werden. Aus diesem Grund beruhen in der Vergangenheit gefasste Beschlüsse verschiedener kommunaler Räte in Niedersachsen zu verteidigungspolitischen Fragen, zur Volkszählung, zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen der niedersächsischen Landesregierung gegen im Staatsdienst beschäftigte DKP-Politiker u. a. auf einem Missverständnis über die Reichweite der durch den jeweiligen Gemeinderat gestifteten demokratischen Legitimation. Daneben folgt aus dem Charakter des Gemeinderats und Kreistags als (auch für bestimmte Einzelentscheidungen zuständige) Verwaltungsorgane, dass der Rechtsstatus der Ratsherren und Kreistagsabgeordneten stärker durch amtsrechtliche Momente geprägt ist8 als der der Abgeordneten in den Parlamenten von Bund und Ländern. Dass diese Unterschiede in Niedersachsen immer wieder missachtet wurden, lässt sich vor allem damit erklären, dass namentlich in den Landkreisen und 7 Zu weiteren Folgen, die sich aus der Gleichwertigkeit der durch den Gemeinderat gestifteten demokratischen Legitimation gegenüber der parlamentarisch-demokratischen ergeben, s. Albert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 135 f., 137 f., 217 f. 8 Zu denken ist insoweit an die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit und zur Vermeidung von Interessenkollisionen wie auch an ihre Haftung wegen bestimmter Pflichtverletzungen.
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Einführung
großen Städten des Landes die politischen Parteien die kommunalen Entscheidungen nach wie vor entscheidend beeinflussen und auf diese Weise häufig »zentralistische Parteiinteressen über gemeindepolitische Anliegen gestellt« werden9. Im Grunde ist dieser Umstand auch die Erklärung dafür, dass sich auf der kommunalen Ebene das Verhältnis zwischen Rat bzw. Kreistag und Verwaltung in vielfacher Hinsicht dem vom Parlament und Regierung in den Volksvertretungen von Bund und Ländern angenähert hat. Die inzwischen in Niedersachsen vollzogene Abschaffung der doppelten kommunalen Spitze hat insoweit lediglich partiell Abhilfe geschaffen10 (dazu hier unter Nr. 2). Der eigentliche Sinn und die Notwendigkeit demokratischer Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung erschließt sich letztlich erst, wenn man auf die Eigenart der Konflikte abstellt, über die die kommunalen Vertretungsorgane zu entscheiden haben. Es sind nämlich im Gegensatz zum Privatrecht primär nicht Interessenkonflikte zwischen Einzelpersonen, sondern solche zwischen Gruppen. So stehen etwa den Interessen der Autofahrer an einem zügigen Durchgangsverkehr die Interessen der von diesem Verkehr betroffenen Anwohner an der Vermeidung von Lärm- und Geruchsbelästigungen gegenüber. Die gerechte Lösung eben solcher Interessenkonflikte erfordert nun ein demokratisches Verfahren der Entscheidungsfindung, wie es in den Gemeindeordnungen vorgesehen ist. Besonders die in der Vergangenheit in verschiedenen Formen betriebene Privatisierung kommunaler Aufgaben der Daseinsvorsorge hat das deutlich gemacht. Sie ist deshalb wegen ihrer (weitgehend) fehlenden demokratischen Legitimation verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Ohne eine solche Legitimation würde sich übrigens auch »die Frage nach der daseinsrichtigen Organisation in ein Konglomerat technischer Probleme auflösen und es käme für die richtige Organisation der Daseinsvorsorge auf nichts anderes als die technische Perfektion an«11 (dazu hier unter Nr. 3). b) Neben der kommunalen Selbstverwaltung muss gerade in Niedersachsen 9 So richtig schon sehr früh Winfried Brohm, Die Eigenständigkeit der Gemeinden, DÖV 1986, S. 397 (404). 10 Denn insoweit ist zu beachten, dass heute in Niedersachsen zwar der Bürgermeister nach geltendem kommunalen Verfassungsrecht nicht mehr vom Rat mit (qualifizierter) Mehrheit abgewählt werden kann; doch spielt nach wie vor der durchweg von den politischen Parteien dominierte Rat eine entscheidende Rolle bei seiner Abwahl und erst recht bei der Abwahl der kommunalen Wahlbeamten, s. nur §§ 82, 109 Abs. 3 des geltenden Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes vom 17. Dezember 2010 (Nds. GVBl. S. 576). Nach dem Gesetzentwurf der jetzigen rot-grünen Landesregierung vom 18. 09. 2013 (LT-Drs. 17/578) ist so gar eine Anpassung der Amtszeiten der Hauptverwaltungsbeamten an diejenigen der kommunalen Vertretung vorgesehen. In dieser geplanten »Synchronisation« muss m. E. ein weiterer Schritt zur (Wieder-)einführung des »parlamentarischen Regierungssystems« auf kommunaler Ebene gesehen werden. 11 So bereits hellsichtig Ernst Forsthoff, Die Daseinsvorsorge und die Kommunen (1958) in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1. (!) Aufl. 1964, S. 111 (128).
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als dem zweitgrößten Flächenland der Bundesrepublik Deutschland die (allgemeine) staatliche Verwaltung in der Fläche vertreten sein. Dafür sprechen nicht nur verwaltungspraktische, sondern auch verfassungsrechtliche Gründe. Denn bei einem Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche ist die nach Art. 57 Abs. 5 NV geforderte (wirksame) Kommunalaufsicht über die Landkreise und die großen selbstständigen Städte nicht mehr gewährleistet und auch nicht sichergestellt, dass die gerade für komplexe Verwaltungsentscheidungen zentrale Bündelungsfunktion (Koordinierungsfunktion) vor Ort den verfassungsrechtlichen Anforderungen gemäß (Art. 20 Abs. 3 GG) wahrgenommen wird. Die mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in Niedersachsen vollzogene Abschaffung der Bezirksregierungen12 ist darum nach wie vor verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Das gilt umso mehr, als in Niedersachsen (wie in Nordrhein-Westfalen) nach dem Zweiten Weltkrieg auch »unter dem Einfluss der Besatzungsmacht die staatliche (landrätliche) Kreisverwaltung aufgelöst worden ist und die Landkreise zu reinen Selbstverwaltungskörperschaften umgeformt worden sind«13. Die isolierte Auflösung der staatlichen Mittelinstanz in Niedersachsen ohne eine diesen Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche kompensierende Kreisreform in diesem Bundesland verleiht damit der Abschaffung der Bezirksregierungen ihre eigentliche verfassungsrechtliche Relevanz (dazu hier unter Nr. 4). Welche Folgen dieser Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche konkret zeitigt, lässt sich nun besonders anschaulich an der heute in Niedersachsen praktisch fehlenden regionalen Steuerung der Siedlungsstruktur zeigen. Das hat etwa in der Region Ostfriesland – einem Landstrich der politisch über Jahrhunderte durch die Ostfriesische Landschaft14 und später besonders durch die Behörde des Regierungspräsidenten zusammengehalten wurde – u. a. zu einer völlig unkoordinierten (und zum Teil faktisch erzwungenen) Genehmigung von Windkraftanlagen, Tiermastställen und Biogasanlagen geführt, die im Ergebnis diese (Küsten-)landschaft heute in ihrer Substanz gefährden. Wenn sich das Land Niedersachsen der Verantwortung für eine solche Entwicklung unter Hinweis auf die (offensichtlich bewusst falsch verstandene) kommunale Selbstverwaltungsgarantie der Niedersächsischen Verfassung (Art. 57) entzieht, so muss man davon ausgehen, dass in Niedersachsen, was die allgemeine Ver-
12 Und zwar mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen vom 5. November 2004 (Nds. GVBl. 2004, S. 394). 13 So Weber, Gegenwartsprobleme der Verwaltungsordnung, in: ders., Staats- und Selbstverwaltung (Anm. 3), S. 9 (21). 14 Zu ihrem Rechtsstatus und ihrer Aufgabenstellung in der Gegenwart s. Albert Janssen, Zur Rechtsnatur und zum Aufgabenbereich der Ostfriesischen Landschaft, Emdener Jahrbuch 49 (1969), S. 179 ff.
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Einführung
waltung betrifft, »der Staat in der unteren Verwaltungsinstanz«15 seine ihm gestellten Aufgaben nicht mehr wahrzunehmen gewillt ist (dazu hier unter Nr. 5). c) Für die Landesebene selbst kann zunächst allgemein festgestellt werden, dass sich die Staatlichkeit des Landes Niedersachsen heute auf den Status eines »autonomen Verwaltungskörpers« beschränkt16. Ursächlich für diese Entwicklung ist bekanntlich der (aufgrund der vorgegebenen bundesstaatlichen Struktur wohl zwangsläufige) Verlust wesentlicher Gesetzgebungskompetenzen und finanzieller Handlungsspielräume der Länder. Dass die fortschreitende europäische Integration diese Tendenz noch verstärkt hat, ist ebenfalls nicht zu übersehen. Im Blick auf die Kompetenzen des Landesparlaments folgt daraus, dass ihm als wesentliche Aufgabe nur die parlamentarische Kontrolle der Landesregierung verblieben ist. Die weitere zwingende Folge aus dem gewandelten Rechtsstatus des Landes besteht dann für den Niedersächsischen Landtag darin, dass er nicht (mehr) die Erfüllung von Regierungsaufgaben mit politischer Substanz kontrolliert, sondern die Erledigung reiner Verwaltungsaufgaben der Exekutive. Aus diesem Grund ähnelt die Tätigkeit des Landesparlaments strukturell gesehen heute mehr der eines kommunalen Vertretungsorgans als der eines Parlaments. Deshalb kommt man nicht um die Feststellung herum, dass das parlamentarische Regierungssystem auf der Landesebene seine »Geschäftsgrundlage«(innere Berechtigung) verloren hat. Damit ergibt sich aufgrund dieses Wandels die verfassungsrechtliche Forderung, auf Landesebene die Direktwahl der Ministerpräsidenten einzuführen. Denn ohne diese Reformmaßnahme kann unter den gegebenen Umständen nicht mehr eine wirksame parlamentarische Kontrolle sichergestellt werden. Oder anders gesagt: Der vom Land Niedersachsen ausgeübten staatlichen Herrschaft fehlt ohne die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten die erforderliche demokratische Legitimation (dazu hier Nr. 6 und Nr. 7). d) Neben dem gewandelten Rechtsstatus Niedersachsens ist für die Landesebene auch der dominierende Einfluss der politischen Parteien auf die vom Land ausgeübte staatliche Herrschaft hervorzuheben. Als herausragendes Beispiel dafür kann das von den politischen Parteien beanspruchte Meinungsmonopol in den Beratungen zur neuen Niedersächsischen Verfassung vom 19. Mai 1993 15 So der Titel einer 1964 in 2. Auflage erschienenen Schrift von Werner Weber, die in nach wie vor unübertroffener Prägnanz »die Notwendigkeit staatlicher Präsenz in der Kreisinstanz« (so die Überschrift des VI. Abschnitts der genannten Schrift) umschreibt. Das ist, wie gesagt, besonders nach dem Wegfall der Bezirksregierungen in Niedersachsen nicht nur eine verwaltungspraktisch, sondern auch eine verfassungsrechtlich begründete Forderung. 16 Schon 1961 konnte Werner Weber die Staatlichkeit Niedersachsens wie die der anderen Bundesländer nicht anders sehen, s. ders., Zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (Heft 7 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtags) 1984, S. 32 (Vortrag vom 13. April 1961).
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angesehen werden, und weiter der Umstand, dass diese über ihre Fraktionen im Landtag letztlich auch den Grad der Verbindlichkeit, den die neue Niedersächsische Verfassung für die Staatspraxis tatsächlich besitzt, nach wie vor entscheidend bestimmen. Ein dieser Entwicklung notfalls entgegen tretendes bzw. sie zumindest (partiell) steuerndes Tätigwerden der Exekutive war und ist dagegen in Niedersachsen kaum feststellbar : Für die Entstehung der Niedersächsischen Verfassung ist zunächst erwähnenswert, dass dafür die verfassungstheoretisch gut begründbare (und vom Grundgesetz auch ausdrücklich anerkannte) Unterscheidung zwischen verfassungsgebender Gewalt des Volkes und (Parteien-)staatsgewalt keine Bedeutung besaß. Die neue Niedersächsische Verfassung ist vielmehr das »reine« Produkt einer Verfassungsgebung durch politische Parteien. Das zeigt sich auch daran, dass die Exekutive sich im Gegensatz zur Entstehung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung an den Beratungen zur neuen Verfassung des Landes mit keinem substantiellen Beitrag beteiligt hat. Auf diese Weise ist es dazu gekommen, dass man sich in den Beratungen zur neuen Niedersächsischen Verfassung mit der richtigen Organisation der Landesstaatsgewalt als der wesentlichen inhaltlichen Substanz der den Ländern vom Grundgesetz eingeräumten Verfassungsautonomie praktisch überhaupt nicht beschäftigt hat, obwohl gerade die Erfahrungen aus der Staatspraxis unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung in dieser Hinsicht vielfältigen verfassungsrechtlichen Reformbedarf deutlich gemacht hatten. Was den dominierenden Einfluss der politischen Parteien auf die Verfassungsauslegung in der Staatspraxis betrifft, so fällt besonders auf, dass in Niedersachsen (wie wohl auch im Bund und in den anderen Ländern) entgegen den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes und der Niedersächsischen Verfassung die Personalwirtschaft – zumindest was die Spitzenpositionen des höheren Dienstes in der Verwaltung und den Landesministerien betrifft – mit wachsender Tendenz primär von parteipolitischen Überlegungen bestimmt wird17. Ebenfalls bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung von der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit nicht nur häufig durch rechtlich höchst zweifelhafte Begründungen ihrer Wirksamkeit beraubt wurden, sondern dass der Landtag mehrheitlich sogar ausdrücklich verschiedene Formen von Umwegfinanzierungen am Haushalt vorbei billigte. Überhaupt ist es ein erstaunliches Phänomen, dass das Landesparlament durch solche Umwegfinanzierungen und durch andere,
17 Dieses Urteil beruht auf meiner regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen des Haushaltsausschusses des niedersächsischen Landtags über einen Zeitraum von 14 Jahren. In diesen Sitzungen sind alle wesentlichen Personalentscheidungen des Landes erörtert worden.
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die Zersplitterung der Landesverwaltung befördernde Maßnahmen18 das letzte ihm verbliebende Recht von politischem Gewicht, die parlamentarische Kontrolle der Landesregierung, damit aus eigenem Entschluss erheblich geschwächt hat (dazu hier Nr. 8 und Nr. 9).
2.
Zum 2. Teil
a) Eine Reformbedürftigkeit des deutschen Bundestaates besteht auch nach den in den Jahren 2006 und 2009 beschlossenen Förderalismusreformen I und II19 wegen des nach wie vor dramatischen Verlusts der deutschen Bundesländer an sachlicher Autonomie, die ihnen ja vom Grundgesetz gemäß Art. 28 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 2 GG garantiert ist, weiterhin. Man kann heute sogar die Frage stellen, ob der Umfang der den Bundesländern verbliebenen Kompetenzen noch den Anforderungen des Art. 79 Abs. 3 GG, der ja über Art. 20 Abs. 1 GG eine bleibende Garantie zugunsten des Föderalismus enthält, entspricht. Was nun zunächst die Entwicklung der Gesetzgebungskompetenzen im deutschen Bundesstaat angeht, so ist durch die fortschreitende europäische Integration ein grundlegender Wandel insofern eingetreten, als die Koordinierungsfunktion der Bundesgesetzgebung, wie sie besonders in Art. 72 Abs. 2 GG für die konkurrierende Gesetzgebung angesprochen wird, weitgehend auf die EU übergegangen ist. Eine entsprechende Regelungstiefe besitzt das insoweit einschlägige europäische Recht schon deshalb, weil es ja nicht nur für ein so großes Mitgliedsland wie die Bundesrepublik Deutschland, sondern ebenfalls für weitaus kleinere Mitgliedsländer der EU gilt. Diese Entwicklung und daneben auch die nach wie vor vom Bund – z. T. unter Zustimmung des Bundesrates – gehandhabte nivellierende Auslegung der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Kriterien für die Zulässigkeit der konkurrierenden Gesetzgebung legen den Gedanken nahe, diese zuletzt genannte Gesetzeskategorie ganz zu verabschieden und die dann nur noch bestehenden ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Grundgesetz in einem Katalog zusammenzufassen. Da18 Im Verfassungsausschuss, der den Entwurf für die neue Niedersächsische Verfassung bearbeitete, hatte der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag eine präzise Regelung für die Voraussetzungen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf juristische Personen des öffentlichen Rechts und vor allem auf juristische Personen des Privatrechts (oder Einzelpersonen) – sog. Beliehene – vorgeschlagen, um damit der angesprochenen Zersplitterung der Verwaltung Grenzen zu setzen. Doch war der genannte Verfassungsausschuss an der Erörterung dieser (für die Kontrollrechte des Landtags wesentlichen) Grundsatzfrage nicht interessiert, dazu hier genauer mit Belegen Nr. 9 bei Anm. 64 ff. und bei Anm.94 ff. 19 Siehe Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 2006 (BGBl. I S. 2034) und Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2248).
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neben sollten im Grundgesetz dann aber auch in einem weiteren Katalog die den Ländern verbliebenen Kernkompetenzen im Bereich der Gesetzgebung ausdrücklich benannt werden. Denn ein solcher Katalog ließe sich als inhaltliche Konkretisierung ihrer entsprechenden, durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kompetenzen verstehen und würde folglich auch über Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG die für die deutschen Bundesländer relevante europäische Rechtssetzung wirksam begrenzen20. Aus dem verfassungsrechtlich fundierten Autonomiegedanken21 folgt weiter die Forderung nach einer Reform der Finanzverfassung des Grundgesetzes, die über die bisherigen zaghaften Reformansätze hinausgehen müsste. Sie hätte den Ländern in der Steuergesetzgebung zumindest das Maß an Autonomie einzuräumen, das den Gemeinden mit dem Hebesatzrecht bei den Realsteuern verfassungsrechtlich zugestanden wird. Daneben ist eine Überprüfung der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und 91 b GG und besonders der Regelung des Art. 104 a Abs. 3 GG weiterhin geboten. Denn es ist wiederum der für den deutschen Bundesstaat zentrale Autonomiegedanke, der eine Entflechtung der gegenwärtigen Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern erforderlich macht und ebenfalls die strikte Beachtung des Grundsatzes, dass die Körperschaft, die öffentliche Aufgaben veranlasst, dafür auch finanziell aufzukommen hat (Konnexitätsprinzip)22. Bei allen diesen Forderungen nach hinreichender sachlicher Autonomie der Bundesländer ist allerdings immer auch das verfassungsrechtliche Gebot zu beachten, dass die Bundesländer nicht nur dementsprechende Kompetenzen besitzen sollen, sondern daneben auch in der Lage sein müssen, diese aufgrund ihrer »Größe und Leistungsfähigkeit … wirksam« zu erfüllen (Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG). Daran kann man nun aber im Blick auf die Stadtstaaten oder das Saarland u. a. zu Recht zweifeln. Darum gehört zur Frage nach der Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates auch die nach der Notwendigkeit einer den zitierten verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden Länderneugliederung. Schließlich ist unter verfassungsrechtlichem Aspekt auch deshalb eine Reform des deutschen Bundesstaates geboten, weil sich seit langem das Abstimmungs20 Diese Forderung, einen besonderen Katalog über die (durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten) Länderkompetenzen im Bereich der Gesetzgebung in das Grundgesetz aufzunehmen, findet sich mit einem entsprechenden Formulierungsvorschlag auch in einem Diskussionspapier der Landtagsdirektoren aus dem Jahr 2000, das im Sonderheft 2000 der Zeitschrift für Gesetzgebung »Stärkung des Föderalismus« veröffentlicht ist, dort s. S. 35 ff. und dazu a. a. O.: Albert Janssen, Wege aus der Krise des deutschen Bundesstaates, S. 41 (49 f., 59). 21 Siehe dazu ergänzend ebenfalls Janssen (Anm. 20), S. 61 ff. 22 Siehe zu den Reformvorschlägen zur Finanzverfassung wiederum neben den einschlägigen Ausführungen in den hier unter Nr. 10 und Nr. 11 abgedruckten Arbeiten den Entwurf der Landtagsdirektoren (Anm. 20), S. 23 ff. und daselbst meinen Kommentar, S. 50 ff.
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verhalten der einzelnen Länder im Bundesrat besonders bei der Beratung von Zustimmungsgesetzen durchweg primär an den Machtinteressen der (Bundes-) parteien orientiert. Bisweilen ist es bekanntlich sogar der kleinere Koalitionspartner auf Länderebene, der unter Berufung auf entsprechende Koalitionsabsprachen das Stimmverhalten des betreffenden Landes im Bundesrat aus eben diesen parteipolitischen Gründen maßgeblich beeinflusst. Bedenkt man nun aber, dass dem Bundesrat dieses Zustimmungsrecht ursprünglich vom Grundgesetz deshalb eingeräumt wurde, weil der Vollzugsachverstand der Länder – ihre Verwaltungserfahrung – gefragt war, so spricht auch aus diesem Grund23 viel für die Direktwahl der Ministerpräsidenten auf Landesebene. Denn Landesregierungen mit direkt gewählten Ministerpräsidenten würden aufgrund dieser besonderen demokratischen Legitimation ihr Stimmverhalten im Bundesrat mit Sicherheit primär an den eigenen Landesinteressen und weniger an den Machtinteressen der politischen (Bundes-) parteien ausrichten. Dieser Gesichtspunkt besitzt auch im Blick auf die Beteiligungsrechte des Bundesrates in europäischen Angelegenheiten (Art. 23 Abs. 2, 4 – 6 GG) erhebliche Bedeutung (dazu hier Nr. 10 und Nr. 11). b) Im Zusammenhang mit der Frage nach notwendigen Reformen des deutschen Bundesstaates ist auch darauf hingewiesen worden, dass mehr direkte Demokratie für seine Lebensfähigkeit Voraussetzung sei. Aus diesem Grund sind vor allem die in einigen Landesverfassungen vorgesehen Quoren für die direktdemokratischen Verfahren als viel zu hoch kritisiert worden und ebenfalls das für diese Verfahren geltende »Finanztabu«. Lässt sich über diese Fragen verfassungsrechtlich gesehen kein abschließendes Urteil fällen, so scheint mir das anders im Blick auf die Behauptung, vom »demokratischen Mehrwert« der direktdemokratischen Verfahren zu sein. Denn dem Grundgesetz und auch den insoweit einschlägigen Landesverfassungen lässt sich eine solche Wertung (Einschätzung) nicht entnehmen. Sie übersieht m. E. auch besonders den Beitrag der vom Grundgesetz statuierten demokratischen Amtsherrschaft zur Realisierung des Gemeinwohls (dazu Nr. 12).
3.
Zum 3. Teil
Das entscheidende Ergebnis der Überlegungen des ersten und zweiten Teils lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass auf allen staatlichen Entscheidungsebenen der Charakter der Exekutive (Regierung und Verwaltung) als eigenständige Staatsgewalt und ihre Bedeutung für die Realisierung des Gemeinwohls 23 Siehe insoweit bereits das hier unter 1 c) Ausgeführte zu den parlamentarischen Kontrollrechten des Landtags.
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häufig verkannt wird. Ausdrücklich bestätigt wird dieses Ergebnis nun noch durch die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland und die unreflektierte Kritik an der bürokratischen Organisationsstruktur der Exekutive. Das ist jetzt im Einzelnen zu schildern und auch auf insoweit verfassungsrechtlich gebotene Reformmaßnahmen einzugehen: a) Neben der bereits angesprochenen verfassungswidrigen Ämterpatronage durch die politischen Parteien24 werden die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beamtenrechts vor allem durch seine zunehmende Privatisierung in Frage gestellt. Zunächst lassen sich insoweit heute Angleichungen des Beamtenrechts an das Individualarbeitsrecht beobachten, die, wie die Einführung der Teilzeitbeschäftigung (Zwangsteilzeit), der Führungsfunktionen auf Zeit oder der leistungsorientierten Bezahlung, gewöhnlich mit der Notwendigkeit einer für die Verwaltung zu fordernden marktwirtschaftlichen Orientierung begründet worden sind. Alle diese Maßnahmen haben faktisch aber durchweg zu einer verstärkten (partei-)politischen Abhängigkeit des Beamten von seinem Dienstherrn geführt und damit die Ämterpatronage weiter befördert. Hinzu kommen im Beamtenrecht noch Angleichungen an das Sozialversicherungsrecht und schließlich der Versuch, kollektive Rechte der Beamten grundrechtlich zu begründen, womit augenscheinlich vom Ausschließlichkeitscharakter des Demokratieprinzips für die Legitimation der Exekutive (und ihrer Beamten) Abschied genommen wird. Das insoweit verbindliche Demokratieprinzip wird nun aber nach dem Grundgesetz dahingehend konkretisiert, dass alle Staatsgewalt durch öffentliche Ämter auszuüben ist.25. Das Grundgesetz kennt eben nur demokratische Amtsherrschaft, und insofern ist zu Recht auch ein zwingender verfassungsrechtlicher Zusammenhang zwischen dem republikanischen Amtsprinzip und dem Demokratieprinzip behauptet worden26. Die Kategorie des Amtes wiederum findet »ihre prototypische und verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 4 auch als Regel-Status aufgerichtete Ausformung in der Stellung des Beamten«27. Die entscheidende verfassungsrechtliche Grenzziehung, die auch für eine Privatisierung der Verwaltung überhaupt von Bedeutung ist, ergibt sich dann daraus, dass Art. 33 Abs. 4 GG den (durch Art. 33 Abs. 5 GG fixierten) verfassungsrechtlichen Status des Beamten mit der Eigenart der von ihm zu erledigenden Aufgaben verknüpft: Alle »hoheitsrechtlichen Befugnisse« sollen als 24 Dazu genauer Nr. 7 bei Anm. 28 ff., Nr. 13 bei Anm. 151 ff. und Nr. 15 unter IV 9. 25 Dazu hier Nr. 2 bei Anm. 35 ff., Nr. 3 bei Anm. 38, Nr. 7 bei Anm. 64 ff., Nr. 13 bei Anm. 29 ff., Nr. 14 bei Anm. 106 ff., Nr. 17 bei Anm. 58 ff. 26 So bereits deutlich Wilhelm Henke, Die Republik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1. (!) Aufl. 1987, RN 31. 27 So zutreffend Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung 1993, S. 332.
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»ständige Aufgabe in der Regel« von Beamten ausgeübt werden. Da nun, wie gesagt, das Grundgesetz nur demokratische Amtsherrschaft kennt, lässt die Konkretisierung dieser Aussage durch Art. 33 Abs. 4 GG die Folgerung zu, dass von den dort genannten »hoheitsrechtlichen Befugnissen« alle Verwaltungsbereiche erfasst sind. Grundsätzlich sollen also nach dem Grundgesetz die Aufgaben der kommunalen und staatlichen Verwaltung durch Beamte, die – um es mit einer letztlich aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden Formulierung zu sagen – in einem Dienst- und Treueverhältnis stehen, erledigt werden. Das Grundgesetz geht nun allerdings neben dem Beamtenstatus als Regelstatus von den aufgrund von privatrechtlichen Verträgen tätigen Angestellten und Arbeitern als Teil des öffentlichen Dienstes aus28. Aber auch insoweit folgt aus dem Ausschließlichkeitscharakter des Demokratieprinzips für die Legitimation der Exekutive zumindest, dass die genannten Dienstnehmer entgegen der ganz h. L. nicht streiken dürfen. Es ist besonders der durch die (verfassungsrechtlich begründete) Lehre vom Verwaltungsprivatrecht nahe gelegte Gedanke des zwingenden Zusammenhangs zwischen der zu erledigenden Aufgabe und dem Rechtsstatus des dafür zuständigen Verwaltungspersonals, der für diese Rechtsansicht spricht. Der von den Kirchen für ihre Arbeitnehmer entwickelte sog. »Dritte Weg« unterstützt diese Argumentation insofern, als er ein rechtlich unbedenkliches Modell zur verfassungsrechtlich gebotenen Realisierung der Koalitionsfreiheit für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst darstellt (dazu hier Nr. 13 und 14). b) Die zunehmende Privatisierung der Verwaltung stellt über den öffentlichen Dienst hinaus auch die bürokratische Organisationsform der Exekutive als solche in Frage. Darauf wird schon in den besprochenen Arbeiten des ersten und zweiten Teils mehrfach hingewiesen29 und in diesem Zusammenhang auch bereits darauf aufmerksam gemacht, dass auf diese Weise u. a. die parlamentarische Verantwortlichkeit des zuständigen Ministers relativiert und die besonderen verfassungsrechtlichen Ausprägungen des Demokratieprinzips durch die Grundsätze des Haushaltsrechts (einschl. der damit verbundenen Kontrollmechanismen) außer Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus übersieht nun aber die landläufige Bürokratiekritik, dass die Regelgebundenheit der Verwaltung wie die Institution des Berufsbeamtentums letztlich allein ein gerechtes Staatshandeln sicherstellen können. Um den verfassungsrechtlichen Auftrag des Art. 20 Abs. 3 GG erfüllen zu können, bedarf es also ebenfalls eines neutralen, unabhängigen Beamtentums und einer bürokratischen Organisationsstruktur der Verwaltung. Denn die Gerichte kommen 28 Das zeigen Bestimmungen wie Art. 85 Abs. 2 S. 2, 131, 132 Abs. 1 S. 2 und 3, 137 Abs. 1 GG. 29 Siehe dazu genauer Nr. 3, Nr. 9 bei Anm. 61 ff. und daneben im Zusammenhang mit der Privatisierung des Beamtenrechts ausführlich Nr. 13 bei Anm. 49 ff.
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in dieser Hinsicht durchweg augenscheinlich zu spät und haben im Übrigen lediglich die »Pathologie der Verwaltung« (Werner Weber) im Blick. Und die Medien erfahren auch nur von sog. Skandalen, stehen aber der Verwaltung fern und können das rechtsstaatliche Verwaltungshandeln ebenfalls nicht garantieren. Auch aus diesem Grund muss darum an die vom Grundgesetz ausdrücklich gewollte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive erinnert werden (dazu hier Nr. 15). c) Eine wirkliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive setzt nun aber nicht nur das Bewusstsein von der Exekutive als eigenständiger Staatsgewalt voraus, sondern dazu gehört auch, »eine substantielle Teilung … dergestalt …, dass in jeder dieser … Ordnungen eine wirkliche ›Gewalt‹ beheimatet ist«. Genau das ist nun aber heute nicht mehr der Fall. Denn »hinter der Legislative und der Exekutive des Bonner Grundgesetzes stehen dieselben parteipolitischen Kräfte, erhebt sich also nur eine Gewalt«30. Ein Reformansatz, der diese vom Grundgesetz intendierte substantielle Gewaltenteilung neu beleben könnte31, ergibt sich m. E. aus den bereits mitgeteilten Überlegungen zum ersten und zweiten Teil. Denn sie zeigten im Ergebnis, dass die Länder (und nicht die politischen Parteien) primär als die »Gewalt« zu verstehen sind, die hinter der Exekutive des Grundgesetzes stehen. Die Länder tragen so gesehen weniger zur vertikalen, sondern entscheidend zur horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive bei. Diese Folgerung unterstützt auch der Inhalt der den Ländern nicht entziehbaren Gesetzgebungskompetenzen (Art. 79 Abs. 3 GG), wie er sich besonders aus Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG erschließen lässt32. Denn ein entsprechender Katalog zeigt ja, dass die den Ländern verbliebene Regelungsautonomie sich ähnlich wie bei den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften auf die gesetzliche Regelung ihrer Organisationsstruktur und die für ihre (regionale) Identität maßgeblichen Gesichtspunkte erstrecken müsste. Aus einem so verstandenen Rechtsstatus der Länder, der im Übrigen auch gute verfassungsrechtliche Gründe besitzt33, und mir auch die adäquate Antwort des deutschen Bundesstaates auf die fortschreitende europäische Integration zu sein scheint34, folgt nun aber die verfassungsrechtliche Forderung nach umfassenderen Verwal30 So richtig Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (1949), in: ders., Spannungen und Kräfte (Anm. 3), S. 9 (24, 25 – Hervorhebung dort). 31 Die Parteien sollen ja an der politischen Willensbildung lediglich »mitwirken« (Art. 21 Abs. 1, S. 1 GG). 32 Dazu hier Nr. 11 bei Anm. 39 ff. i. V. m. Anm. 84 f. und bei Anm. 64 ff. 33 Dazu hier Nr. 7 bei Anm. 46 ff. 34 Im Übrigen erleichtert auch der hier gemachte Vorschlag einer Abschaffung der konkurrierenden Gesetzgebung (Nr. 11 bei Anm. 49 ff.) die Umsetzung des Europarechts im deutschen Bundesstaat.
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tungsbefugnissen der Länder zu Lasten des Bundes. Insofern gehört m. E. besonders die Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG und auch der gegenwärtige Umfang der bundeseigenen Verwaltung auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand. Die aus diesen Überlegungen sich ergebende wichtigste Reformmaßnahme liegt damit auf der Hand, – es ist die hier bereits an mehreren Stellen angemahnte Einführung der Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Bundesländern35. Denn dadurch würde – um noch einmal die wesentlichen Vorteile dieses Reformvorschlags zu nennen – eine parlamentarische Kontrolle der jeweiligen Landesregierung durch den gesamten Landtag, eine von den politischen Parteien weniger abhängige Personalpolitik des Ministerpräsidenten und ein von den wirklichen Interessen ihrer Länder geleitetes Abstimmungsverhalten der Landesregierungen im Bundesrat möglich. Da der Bund nach dem Grundgesetz demgegenüber im Schwerpunkt die Gesetzgebung und die Interessenvertretung Deutschlands gegenüber der EU wahrzunehmen hat, kommt es auf Bundesebene im Gegensatz zu den Ländern stärker auf ein Zusammenwirken von Parlament und Regierung an. Für den Bund ist darum an der überkommenen Entscheidungsstruktur des parlamentarischen Regierungssystems festzuhalten, zumal sie auch eine wirksame Zusammenarbeit mit dem Bundesrat gewährleistet. Allerdings sollte man auf Bundesebene schon wegen der auch dort verbreiteten parteipolitischen Ämterpatronage und der faktisch unwirksamen verfassungsrechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung durch das Grundgesetz (wie des faktisch leerlaufenden Art. 113 GG) u. a. ganz entschieden für die Direktwahl des Bundespräsidenten eintreten. Denn ihm könnte dann mit gutem Recht die Kompetenz zum Widerspruch gegen einen überschuldeten Haushalt und zu maßgebenden Personalentscheidungen wie die Berufung der Bundesverfassungsrichter, der Mitglieder des Senats beim Bundesrechnungshof, der Spitze der Bundesbank u. a. zusätzlich zu seinen bisherigen Befugnissen zugesprochen werden. Im Übrigen hätte dann auch der öffentliche Dienst auf Bundesebene seinen »Patron«36 (dazu hier Nr. 16).
35 Dazu hier besonders Nr. 7 bei Anm. 83 ff., Nr. 10 bei Anm. 43 ff., Nr. 11 bei Anm. 104 ff. und Nr. 12 bei Anm. 46 ff. Zur Notwendigkeit entsprechender (und inzwischen in Niedersachsen vollzogener) Reformmaßnahmen auf kommunaler Ebene s. Nr. 1 bei Anm. 41 ff. und Albert Janssen, Organisation der kommunalen Spitze, in: Hans-Uwe Erichsen (Hrsg.), Kommunalverfassung heute und morgen – Bilanz und Ausblick, 1989, S. 32 ff. 36 So Werner Weber, Das politische Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie (1956), in: Spannungen und Kräfte (Anm. 3), S. 120 (140 f.).
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4.
31
Zum 4. Teil
Neben der These, vom (weitgehenden) Abschied der deutschen Staatsrechtslehre und Staatspraxis von der Exekutive als eigenständiger Staatsgewalt, die in den drei ersten Teilen dieser Sammlung entwickelt wird, betrifft die zweite, die die im folgenden vierten Teil aufgeführten Arbeiten zu begründen versuchen, die demokratische Legitimation der deutschen Staatsgewalt und der sie nachhaltig beeinflussenden supranationalen Herrschaft der EU. Diese zweite These besagt, dass sowohl die deutsche Staatsgewalt wie die supranationale Herrschaft der EU ihre demokratische Legitimation allein durch das deutsche Volk erfährt: a) Zunächst muss, was die demokratische Legitimation der deutschen Staatsgewalt betrifft, an die eigenständige Bedeutung des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber dem folgenden Satz 2 erinnert werden. Sie besteht darin, dass die genannte Vorschrift die demokratische Legitimation für die »politische Willensbildung des Volkes« (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) stiftet. Diese politische Willensbildung wiederum betrifft u. a. die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und ihre Fortexistenz unter dem Grundgesetz wie daneben auch die gewohnheitsrechtliche Rechtsbildung, die ja ebenfalls durch das Grundgesetz anerkannt ist37. Die weitere Frage, wie der so legitimierte und konkretisierte Volkswille politische Wirksamkeit erlangt, lässt sich nun nicht mit der Repräsentationsfunktion des Parlaments bzw. seiner Abgeordneten (abschließend) beantworten. Denn für die Abgeordnetenstellung ist nun einmal das Amtsprinzip konstitutiv, das dem Gedanken einer (inhaltlichen) Repräsentation letztlich entgegensteht. Die für das Gemeinwesen aber notwendige inhaltliche Repräsentation des Volkswillens hat nach dem Grundgesetz vielmehr (primär) der Bundespräsident zu leisten; und vor allem aus diesem Grund besitzt er auch kraft Verfassung ein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen auf der Grundlage des Art. 79 Abs. 3 GG38. Damit ist ein weiterer Grund genannt, um für die bereits geforderte Direktwahl des Bundespräsidenten einzutreten (dazu hier Nr. 17). b) Auch die durch die EU ausgeübte supranationale Herrschaft bedarf letztlich der Legitimation durch das deutsche Volk; insoweit ist ebenfalls Art. 20 Abs. 1 37 Und zwar durch Art. 20 Abs. 3 GG, so etwa Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972, S. 129 mit weiteren Nachweisen. 38 Nach deutschem Verfassungsrecht ist darum auch nicht primär eine »sekundäre verfassungsgebende Gewalt einem Gericht« wie dem Bundesverfassungsgericht anvertraut (so Peter Graf Kielmannsegg, Die Grammatik der Freiheit, 2013, S. 177, ergänzend dazu S. 172 f.), sondern diese übt, was die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützen Grundentscheidungen unserer Verfassung betrifft, eben der Bundespräsident aus. Dass man im Blick auf das Verfassungsgesetz im Übrigen eine entsprechende Rolle des Bundesverfassungsgerichts vertreten kann, soll damit nicht bestritten werden.
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S. 1 GG die verbindliche Regelung. Das muss deshalb angenommen werden, weil es bis heute an einem europäischen Volksbewusstsein fehlt, das als verfassungsgebende Gewalt eine europäische Verfassung zu legitimieren vermöchte. Diese Folgerung ergibt sich ebenfalls aus dem menschenrechtlich fundierten Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aus diesem Grund ist auch der Staatenbund (im Gegensatz zum Bundesstaat) die rechtsbegrifflich korrekte Erfassung des für die EU geltenden Rechtsstatus, was (auch) ihrem verfassungsrechtlichen Verständnis als »zwischenstaatlicher Einrichtung« (Art. 24 Abs. 1 GG) entspricht. Diese These wird deshalb so häufig kritisiert, weil man sich durchweg nicht hinreichend über den aus seiner historischen Entwicklung folgenden Charakter des Staatenbundes als Gemeinschaft zur gesamten Hand im Klaren ist. Da es keinen »Patriotismus der Gattung Mensch« gibt (Carl Schmitt), liegt also der zentrale gedankliche Fehler aller Befürworter einer politischen europäischen Union bzw. eines europäischen Bundesstaates darin, dass für sie die EU als zwischenstaatliche Einrichtung ein zu überwindender Rechtsstatus auf dem Weg in einen europäischen Bundesstaat ist. Solange es aber an einem lebendigen europäischen Volksbewusstsein fehlt, können solche Bestrebungen m. E. nur als »Krieg gegen die Empirie« (Ralf Giordano) verstanden werden (dazu hier Nr. 18 und Nr. 19). c) Das Verständnis der EU als Rechtsgemeinschaft, das (auch) durch ihre vertragsrechtlichen Grundlagen und das für sie geltende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV, Art. 2 ff. AEUV) nahegelegt ist, verlangt schließlich noch eine Stellungnahme zu den theoretischen Möglichkeiten, die für eine Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene in Betracht kommen. Der Rechtsstatus der EU als Staatenbund im Sinne einer Gemeinschaft zur gesamten Hand spricht nicht unbedingt für die von der Union nach wie vor forciert betriebene legislatorische Rechtsvereinheitlichung. Daneben hat man zu Unrecht die »gewachsene« Rechtsvereinheitlichung, zu der eine europäische Rechtswissenschaft Wesentliches beizutragen hätte, vernachlässigt. Vor allem aber kommt wegen des noch (weitgehend) fehlenden europäischen Volksbewusstseins als grundsätzliche Alternative zur legislatorischen Sachrechtsvereinheitlichung in der EU der (weitere) Ausbau eines europäischen Kollisionsrechts in Anlehnung an das geltende internationale Privatrecht in Betracht. Diesem Gedanken ist auch für die weitere Entwicklung eines europäischen öffentlichen Rechts deshalb näher zu treten, weil sich zumindest die Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts zunehmend weniger als eine solche der Staatswillensbildung versteht, sondern die Ausarbeitung der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Denn damit kann sie ja grundsätzlich auch an die Methode des internationalen Privatrechts zur Lösung der Konflikte, die aus der Kollision mehrerer Rechtsordnungen entstehen, anknüpfen. Gilt insoweit doch nach wie vor als metho-
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dische Richtschnur der Satz Savignys, »dass bei jedem Rechtsverhältnis dasjenige Rechtsgebiet« aufzusuchen ist, »welchem dieses Rechtsverhältnis seiner eigentümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist«39 (dazu hier Nr. 2040).
5.
Der die Abhandlungen verbindende verfassungsrechtliche Grundgedanke
a) Alle hier abgedruckten Arbeiten versuchen durchgehend mit dem Gedanken Ernst zu machen, dass »das Materiale am Rechtsbegriff der Demokratie … die Personalität« ist41. Dieser These entspricht die Feststellung, dass der Inhalt der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht allein durch die nachfolgenden Grundrechte näher bestimmt wird, sondern auch durch die Teilhabe des einzelnen Bürgers an der demokratischen Willensbildung auf den verschiedenen staatlichen Entscheidungsebenen. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG »bindet« demnach, wie richtig gesagt worden ist, »Art. 2 – 19 einerseits und Art. 20 GG andererseits zusammen«42. Aus diesem Grund enden die angestellten Überlegungen zur demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung etwa mit der Feststellung, »dass demokratische Teilhabe – und namentlich solche auf kommunaler Ebene – … etwas mit Menschenwürde zu tun hat«43 Daneben wird hier der entscheidende verfassungsrechtliche Grund für die Forderung nach hinreichender sachlicher Autonomie der deutschen Bundesländer »in der im Begriff der Autonomie eingegangenen Verbindung von Demokratie und Freiheit« gesehen und deshalb der Gedanke geäußert, dass man wohl »in der durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde die gemeinsame letzte verfassungsrechtliche Begründung für die grundrechtliche wie demokratische Freiheit sehen muss«44. In diesem Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass nach dem Grundgesetz 39 Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, S. 108 (Hervorhebung A.J.) auch S. 28. 40 Und ergänzend: Albert Janssen, Otto von Gierkes Freiheitsbegriff als Beitrag zur Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), in: Waechter (Hrsg.), Grundrechtsdemokratie und Verfassungsgeschichte, 2009, S. 13 (36 f.). 41 So Wilhelm Henke,Demokratie als Rechtsbegriff (1986), in: ders., Ausgewählte Aufsätze 1994, S. 115 (124 – Hervorhebung A.J.). 42 So Jan Schapp, Grundrechte als Wertordnung JZ 1998, S. 913 (918). Im Ergebnis ebenso BVerfGE 123, 267 (341): »Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert« und BVerfGE 129, 124 (169): »Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers auf Demokratie …« 43 So hier Nr. 3 bei Anm. 77. 44 So hier Nr. 10 bei Anm. 13 ff. und in Anm. 13, daneben Nr. 11 bei Anm. 36 ff.
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»die Gewährleistung der Freiheit unseres Daseins in kontingenter geschichtlicher Identität als besondere Legitimation des deutschen Bundesstaates und als Maßstab für seine Entwicklung« anzusehen ist45, weil er die Folgerung zulässt, dass es sich bei der Verletzung der durch Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG geschützten regionalen Identitäten eines Bundeslandes letztlich immer auch um eine »Missachtung der Person« handelt46. Schließlich beantwortet die 17. Studie die Frage nach dem verfassungsrechtlichen »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt mit der Feststellung, dass der »einzelne Bürger als Mitglied der örtlichen (und regionalen) Gemeinschaft und vor allem als Angehöriger des deutschen Volkes« und nicht das Volk als solches »letzter Grund für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens« ist47. Diese letzte Feststellung lässt auch die weitere Folgerung zu, dass es zum »Recht des Menschen« gehört, »in einer sozialen und politischen Gemeinschaft zu leben, die ihn in seiner Prägung und Eigenart auffängt und trägt, ihm Heimat geben kann«48. b) Findet das Recht des einzelnen Bürgers, in den genannten politischen Gemeinschaften zu leben, und sein Recht auf Teilhabe an der politischen Willensbildung in ihnen damit letztlich die verfassungsrechtliche Begründung in Art. 1 Abs. 1 GG, so bleibt die Frage nach der Organisationsstruktur des Staates zu beantworten, die (insoweit) den Schutz der Menschenwürde sicherzustellen vermag. Die hier gegebene Antwort auf diese Frage lautet, dass nach dem Grundgesetz die demokratische Amtsherrschaft den Staat zum Garanten der Menschenwürde macht. Denn der Unterschied der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse gegenüber den privatrechtlichen liegt darin, dass staatliches Handeln und Entscheiden immer in (öffentlichen) Ämtern geschieht49. Besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang in den folgenden Studien die von der herrschenden Staatsrechtslehre und Staatspraxis (fast) vergessene eigenständige Bedeutung der Exekutive als bürokratische Amtsherrschaft. Denn, so wird hier festgestellt, »Beamtentum und Bürokratie sind – staatstheoretisch gesehen – die Gewährleistung dafür, dass im Zeitalter der Globalisierung wie der 45 46 47 48
So hier Nr. 11 bei Anm. 38 ff. Dazu hier konkret Nr. 5 bei Anm. 30 f. und ergänzend Nr. 4 bei Anm. 93 ff. Siehe hier Nr. 17 bei Anm. 89 ff. So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (1998), in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 103 (120); s. ergänzend dazu Hermann Lübbe, Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus (1979), in: ders., Philosophie nach der Aufklärung, 1980, S. 143 (156): Die Freiheit des Regionalismus »ist nicht die Freiheit, die uns einander gleich macht, sondern die Freiheit, in der wir voneinander kraft Herkunft verschieden sein dürfen. Der Anspruch dieser Freiheit ist legitimiert, weil sie die Freiheit unseres Daseins in kontingenter geschichtlicher Identität meint, die als solche einer Legitimation weder bedürftig noch fähig ist … Die Erhaltungsansprüche kontingenter Herkunftsidentitäten haben allgemeine Geltung.« 49 Siehe dazu hier Nr. 20 bei Anmerkung 68 ff.
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zunehmenden Ökonomisierung des Politischen die zum Schutz der Menschenwürde unverzichtbare öffentliche Gewalt ihr Proprium bewahrt«50. Diese Überlegung ist der eigentliche Grund dafür, dass hier zunächst für die kommunale Selbstverwaltung bei aller Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer demokratischen Legitimation gegenüber der parlamentarisch-demokratischen besonders betont wird, dass insoweit die Legitimation von Verwaltungsentscheidungen in Frage steht und sich daraus besondere Anforderungen an die Organisationsstruktur der Kommunen ergeben. Auch die hier geäußerte Kritik am Rückzug der (allgemeinen) staatlichen Verwaltung aus der Fläche ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Daneben wird in den Studien damit übereinstimmend für die Länder betont, dass sie wegen ihrer (zwangsläufigen und historisch begründeten) Entwicklung zu autonomen Verwaltungseinheiten ihre Organisationsstruktur nicht mehr am parlamentarischen Regierungssystem ausrichten dürfen. Daraus ergibt sich dann schließlich die für die Garantenstellung des Staates zum Schutz der Menschenwürde entscheidende Folgerung, dass gerade in den Ländern als Inhabern der wesentlichen Exekutivbefugnisse im deutschen Bundesstaat durch entsprechende verfassungsrechtliche Reformen (Direktwahl der Ministerpräsidenten u. a.) die strikte Trennung zwischen Legislative und Exekutive sichergestellt werden muss. c) Die folgenden Abhandlungen wollen demnach letztlich einen verfassungsrechtlichen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, wie der Staat des Grundgesetzes die Menschenwürde (soweit sie als »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt in Betracht kommt) wirksam zu achten und zu schützen vermag. Dabei ist es allerdings nicht der direkte Zugriff auf Art. 1 Abs. 1 GG, der die Begründung für ein solches Vorgehen liefert, sondern die soeben unter a) und b) aufgezeigte Relation zwischen Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 GG. Das scheint mir deshalb ein legitimer verfassungstheoretischer Ausgangspunkt zu sein, weil genau diese Relation der Art. 79 Abs. 3 GG durch den Schutz der »in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze« herstellt, – jene Vorschrift also, deren Bedeutung das Bundesverfassungsgericht darin gesehen hat, dass »die Verletzung« der in ihr »festgelegten Verfassungsidentität … aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes« ist.51 50 So hier Nr. 15 unter V.; s. daneben Nr. 3 bei Anm. 76 f. und Nr. 4 bei Anm. 61 ff., 108 ff. 51 So BVerfGE 123, 267 (344 – Hervorhebungen A.J.). Eine entsprechende Relation stellt Art. 79 Abs. 3 GG zwischen dem (materiellen) Sozialstaatsprinzip und der Sicherstellung seiner Realisierung durch die demokratische Amtsherrschaft des Staates her, wenn man in Art. 2 Abs. 1 GG die für das Veständnis des Art. 1 Abs 1 GG konstitutive Definition der grundrechtlich geschützten Freiheit sieht, dazu im Ansatz: Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 7), S. 16 ff., 76 f. und Freiheitsbegriff (Anm. 40), S. 29 ff. Der Staat ist natürlich auch deshalb Garant der Menschenwürde in ihrer demokratisch wie grundrechtlich fundierten Bedeu-
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Die gefährdete Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland muss einen also deshalb so beunruhigen, weil der deutsche Verfassungsstaat trotz seiner zahlreichen internationalen Verflechtungen der eigentliche Garant der Menschenwürde ist und bleibt.
III.
Hinweise zur Form der Veröffentlichung
Die einzelnen Studien sind hier, wie bereits im Vorwort erwähnt, unverändert in ihrer ursprünglichen Fassung abgedruckt. Die daraus folgende unterschiedliche Zitierweise in den Anmerkungen der Abhandlungen erklärt sich aus den vielfach voneinander abweichenden Vorgaben, die mir insoweit von den Redaktionen der Zeitschriften, in denen sie zuerst erschienen sind, gemacht wurden. Zur ersten Orientierung über den Inhalt der Studien habe ich ihnen jeweils zusammenfassende Thesen angefügt52. Der inhaltlichen Orientierung über das Ausgeführte soll daneben das für diese Veröffentlichung gefertigte Stichwortverzeichnis, das sich bewusst auf die leitenden Schlüsselbegriffe beschränkt, dienen.
tung, weil er als Rechtsstaat zu ihrem Schutz – notfalls durch die staatlichen Gerichte – verpflichtet ist. Mir scheint in der Gewährleistung des rechtsstaatlichen Schutzes der Menschenwürde auch die eigentliche Zukunftsperspektive für die EU als Rechtsgemeinschaft zu liegen; dazu im Ansatz schon hier Nr. 20 bei Anm. 82 ff. und ergänzend für entsprechende Überlegungen zum (evangelischen)Kirchenrecht: Dietrich Pirson, Die Ökumenizität der Kirchenrechts (1997), in: ders., Gesammelte Beiträge zum Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, 2. Halbband 2008, S. 670 ff. 52 Nur für die Nr. 8, 15 und 19 ist davon wegen der Kürze und gedanklichen Dichte der Texte Abstand genommen worden.
1. Teil: Fragwürdige Entwicklungen in der Organisationsstruktur der deutschen Bundesländer – das Beispiel Niedersachsen I. Die missverstandene demokratische Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung
1.
Die Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene. Zur Reichweite verfassungsrechtlicher Vorgaben im Gemeinderecht
Nachdem die Entscheidung des OVG Münster aus dem Jahre 19781 mit der These, dass der Gemeinderat als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG zu verstehen sei, zunächst für einiges literarisches Aufsehen gesorgt hatte2, ist es über die Frage der richtigen Behandlung von Petitionen im kommunalen Bereich wieder ruhig geworden. In der Literatur der Folgezeit wurde die Auffassung des OVG Münster zwar zunehmend bejaht3 ; es fehlt aber insoweit bis heute an einer gründlicheren Untermauerung dieser Rechtsansicht4 und vor allem an der 1 Abgedruckt in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.), 1978, S. 895; Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl.), 1978, S. 375; Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 1979, S. 281; Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), 1979, S. 60 u. a. 2 Siehe etwa die Stellungnahme von Wolfgang Löwer, Der Gemeinderat als Petitionsadressat;, in: Städte- und Gemeindebund, 1979, S. 29 ff. sowie Albert v. Mutius, Zum personalen Geltungsbereich des Petitionsrechts, in: Verwaltungsarchiv (VwArch), Bd. 70 (1979), S. 165 ff. mit weiteren Literaturnachweisen auf S. 165, Fn. 4. 3 So etwa von Jochen Abr. Frowein, Der Status der kommunalen Vertretungskörperschaften und ihre Mitglieder, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin, Heidelberg und New York 1982, S. 83 f., Edzard Schmidt-Jortzig, Kommunalecht, Stuttgart u. a. 1982, S. 64 f., Heiko Faber, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Bd. 2 (1984, Art. 28, Rdnr. 55; Jochn Hofmann, BayVBl., 1984, S. 747 f. (Urteilsanmerkung); Bodo Pieroth und Bernhard Schlink, Grundrechte, Frankfurt/M. 1985, Rdnr. 1085; Reinhard Rauball, in: Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, hrsg. Von Ingo v. Münch, 3. Aufl. 1985, Art. 17 Rdnr. 12, sowie Janbernd Oebbecke, Weisungsund unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, Köln 1986, S. 146 ff. Vorher hatte bereits Karl-Ulrich Meyn, Gesetzesvorbehalt und Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinden, Göttingen 1977, S. 38, Fn. 84, die gleiche Ansicht vertreten. 4 Sie ist umso mehr erforderlich, als die wohl noch herrschende Meinung den Gemeinderat nach wie vor als zuständige Stelle im Sinne des Artikels 17 GG ansieht. Vgl. z. B. Hermann von Mangold und Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin und Frankfurt/ M. 1957, Art. 17, Anm. IV.2. (mit weiteren Nachweisen aus der älteren Literatur); Günter Düring, in: Maunz u. a., Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, Art. 17, Rdnr. 58, (1960); v. Mutius (Fn. 2), S. 169 ff.; Löwer (Fn. 2), S. 29 ff.; Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, Baden-Baden 1979, S. 331, Fn. 17; Ernst Friesenhahn, Zur neueren Entwicklung des Petitionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Festschrift für Hans Huber, Berlin 1981, S. 358; Fritz Ossenbühl, Die Rechtsstellung von Bürgern und Einwohnern, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin,
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Darlegung der konkreten Folgerungen darauf für das Petitionswesen auf kommunaler Ebene. Dieser Umstand rechtfertigt allein schon eine erneute Erörterung der angesprochenen Probleme; das gilt nun umso mehr, als sie exemplarisch zu zeigen vermag, wie weit Rechtsprechung und Lehre im Kommunalrecht noch von einer abschließenden Klärung des Verhältnisses von Verfassungs- und Verwaltungsrecht entfernt sind. Auf diese letzte These ist zum Schluss (IV) zurückzukommen. Zuvor soll in mehreren Schritten der Ablauf des Petitionsverfahrens im kommunalen Bereich genauer untersucht werden, und zwar zunächst die in Betracht kommenden Petitionsadressaten (I), danach die weitere Behandlung der Petitionen durch die Gemeindeverwaltung und die Petitionsadressaten (II) und schließlich die Frage nach der Einrichtung von Petitionsausschüssen auf kommunaler Ebene (III). Der Erörterung dieser Einzelprobleme wird das niedersächsische Gemeinderecht zugrunde gelegt, weil sich hier – bedingt durch den Verwaltungsausschuss als zusätzliches selbstständiges Organ neben Rat und Gemeindedirektor – die praktischen Schwierigkeiten bei der Behandlung von Petitionen auf Gemeindeebene besonders deutlich zeigen lassen.
I.
Mögliche Petitionsadressaten
Artikel 17 GG unterscheidet zwischen den »zuständigen Stellen« und der »Volksvertretung«: 1. Unter »zuständigen Stellen« sind »alle unmittelbaren und mittelbaren staatlichen Stellen zu verstehen, die sachlich und örtlich in der Lage sind, auf die Petition eine der Bitte oder Beschwerde entsprechende Antwort zu geben«5. Entgegen der inzwischen wohl herrschenden Meinung müssen diese Stellen nicht nur im »untechnischen« Sinne6, sondern organisationsrechtlich für die Erledigung der Petition zuständig sein, weil nur so allein die im Artikel 17 GG vorgesehene Zweiteilung der Petitionsadressaten in »Volksvertretung« und »zuständige Stellen« einen Sinn bekommt. Dieser Zweiteilung liegt dann nämlich eine »Wirkungsdifferenzierung bei der Petitionsbescheidung zugrunde. Wendet man sich an die zuständige Stelle, so bedeutet dies, dass man sich dorthin wendet, wo auch die Entscheidung in der Sache getroffen werden kann«7. Heidelberg und New York 1981, S. 389; Graf Wolfgang von Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, Rheinbreitbach 1985, S. 38,Fn. 93, sowie aus der Rechtsprechung besonders OVG Lüneburg, in: DVBl., 1968,S. 388 (390). Ansätze für eine genauere Begründung finden sich aber bei Oebbecke (Fn. 3). 5 So Rauball (Fn. 3), Rdnr. 12. 6 So aber auch ebenda. 7 So richtig Löwer (Fn. 2), S. 33 f. (Hervorhebungen dort!) m.w. N. in Fn. 65; daneben im
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Aus dieser Interpretation folgt nun aber nicht, dass eine organisationsrechtlich unzuständige Stelle die Petition zurückweisen kann. Vielmehr lässt sich aus dem grundrechtlichen Charakter des Artikels 17 GG, der insoweit ja auch die Garantie eines für den Petenten fairen Verfahrens einschließt, in einem solchen Fall die Pflicht der Behörden ableiten, die Petition an die zuständige Stelle weiterzuleiten und dem Petenten einen entsprechenden Zwischenbescheid zu erteilen8. Als »zuständige Stelle« kommt im kommunalen Bereich nun zunächst die Gemeinde als solche in Betracht. Lässt eine an die Gemeinde adressierte Petition deutlich erkennen, dass allein eine Entscheidung in der Sache begehrt wird und darum etwa auch der Rat nicht wie die Parlamente in Bund und Ländern als Volksvertretung angesprochen wird, so wird man diese Möglichkeit bejahen müssen. Denn die Gemeinde »entscheidet in der Sache, sie ist Zurechnungssubjekt der aufgrund der Petition zu treffenden Entscheidung«9. Die Tatsache, dass die konkrete Entscheidung von den einzelnen Organen der Gemeinde (Rat, Verwaltungsausschuss, Gemeindedirektor) getroffen wird und daneben sogar kommunale Aufgaben durch gemeindliche juristische Personen des öffentlichen oder privaten Rechts (Stadtsparkasse als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts, Stadtwerke als GmbH) wahrgenommen werden, folgt aus »der organschaftlichen Zuständigkeit zur Entscheidung innerhalb der ›zuständigen Stellen‹«10 und steht darum nicht der Feststellung entgegen, dass die Gemeinde als solche zuständige Stelle im Sinne von Artikel 17 GG sein kann. Natürlich bleibt es dem Petenten unbenommen, sich direkt an die einzelnen Gemeindeorgane oder an die erwähnten juristischen Personen (soweit sie von der Gemeinde beherrscht werden) zu wenden. Sind diese dann für die sachliche Entscheidung unzuständig, so ist die Gemeinde verpflichtet, die Petition dem zuständigen Gemeindeorgan bzw. der zuständigen juristischen Person zuzuleiten. Konkret hat in diesem Fall entweder der Gemeindedirektor gemäß § 63 Abs. 1 Niedersächsische Gemeindeordnung (NGO) die Petition in Empfang zu nehmen und – bei eigener Unzuständigkeit – im Rahmen seiner Verantwortlichkeit für die Geschäfte der laufenden Verwaltung (§ 62 Abs. 1 Nr. 6 NGO) an das zuständige Organ zu überweisen, oder die betreffende juristische Person (ihr Geschäftsführer/Vorstand) hat entsprechend zu handeln. Diese Verpflichtung folgt aus dem bereits erwähnten Anspruch des Petenten auf ein faires Ergebnis ebenso BVerfGE 2, 225 (229), und Graf Wolfgang von Vitzthum und Wolfgang März, Das Grundrecht der Petitionsfreiheit, in: Juristenzeitung (JZ), 1985, S. 811 ff. 8 Diese grundrechtliche Pflicht der staatlichen Stellen macht die Annahme überflüssig, dass »man es bei Art. 17 GG mit zwei Zuständigkeitsbegriffen in einem Wort zu tun« hat (so aber zuletzt Oebbecke (Fn. 3), S. 147). 9 So richtig Löwer (Fn. 2), S. 23. 10 So wiederum ebenda.
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Verfahren, der sich wiederum aus dem grundrechtlichen Charakter des Artikels 17 GG ableiten lässt. Denkbar ist auch, dass sich der Petent direkt an die einzelnen Ämter der Gemeinde oder die Fachausschüsse des Rats wendet. In beiden Fällen ist ebenfalls eine aus Artikel 17 GG ableitbare Verpflichtung der Gemeinde zur Weiterleitung der Petition an das zuständige Organ bzw. an die zuständige juristische Person zu bejahen. Denn wie einem sachlich unzuständigen Gemeindeorgan fehlt auch den Ämtern als lediglich innerorganisatorisch bedeutsamen Gliederungseinheiten der Gemeindeverwaltung die Befugnis zur Sachentscheidung. Gleiches gilt für Petitionen, die an die Fachausschüsse nach § 51 NGO gerichtet sind, weil diese Ausschüsse als Unterorgane des Rats seine Beschlüsse (und die des Verwaltungsausschusses) ja nur vorbereiten. Für an die besonderen Ausschüsse nach § 53 NGO adressierte Petitionen kann dann natürlich auch nichts anderes gelten, wenn diese Ausschüsse keine eigene Entscheidungskompetenz besitzen. Manche Einwohner einer Gemeinde wenden sich mit ihren Bitten und Beschwerden schließlich direkt an »ihren« Ratsherrn. Soweit Entsprechendes bei Abgeordneten des Bundestags oder der Landesparlamente geschieht, wird in der Literatur zum Teil die Ansicht vertreten11, dass sie auch möglicher Petitionsadressat sein könnten. Dies müsste dann auch für kommunale Mandatsträger gelten. Dagegen spricht aber bereits, dass der Ratsherr als einzelner nicht die Eigenschaft eines Gemeindeorgans besitzt und deshalb nicht in der Lage ist, auf die ihm zugegangene Petition eine entsprechende Antwort zu geben. Daneben würden auf diese Weise dem angesprochenen Ratsherrn, die nach Artikel 17 GG bestehenden Pflichten auferlegt. Er müsste also die Petition nicht nur entgegennehmen und an die sachlich zuständige Stelle weiterleiten, sondern dem Bürger darüber auch einen schriftlichen Bescheid zukommen lassen. Der Annahme eines solchen aus Artikel 17 GG folgenden öffentlich-rechtlichen Pflichtverhältnisses zwischen Bürger und Ratsherrn steht aber wohl der Grundsatz des freien Mandats (Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG; siehe für das Gemeinderecht § 39 Abs. 1 NGO) entgegen Die Auffassung, dass auch ein kommunaler Mandatsträger Petitionsadressat mit der sich aus dieser Eigenschaft ergebenden Verpflichtung sei, ist aus den genannten Gründen daher abzulehnen12. Schon im eigenen politischen Interesse wird der einzelne Ratsherr in der Praxis allerdings ihm zugegangene Bitten und Beschwerden gewöhnlich an die 11 So etwa Rauball (Fn 3), Rdnr. 13; Prodomos Dagtoglou, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Bd. 2, Art. 17, Rdnr. 105 (1967). 12 So auch Dürig (Fn. 4), Rdnr. 61; Hans-J. Wolff und Otto Bachof, Verwaltungsrecht III, 4. Aufl. München 1978; § 166, Rdnr. 23; Harald Seidel, Das Petitionsrecht, Frankfurt/M. 1972, S. 40 ff.
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zuständigen Stellen bzw. – sofern der Rat als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG anzusehen ist (siehe dazu 2.) – an ihn auch in dieser Eigenschaft weiterleiten. Geschieht diese Weiterleitung – wovon im Normalfall auch ohne besondere Nachfrage auszugehen ist – mit Einverständnis des Absenders, so wird dadurch das (zunächst an den betreffenden Ratsherrn gerichtete) Schreiben zur Petition im Rechtssinne. Die Fraktionen im Rat der Gemeinde können ebenfalls nicht Petitionsadressaten sein13, weil ihnen bereits die Eigenschaft einer staatlichen Stelle fehlt. Praktisch werden sie sich aber wohl wie der (unzuständige) einzelne Ratsherr verhalten, was dann natürlich auch die gleichen Rechtsfolgen zeitigt. 2. Für Petitionen, über die ein anderes Gemeindeorgan als der Rat oder eine von der Gemeinde beherrschte juristische Person abschließend zu entscheiden hat, kommt er als Adressat dennoch in Betracht, wenn man den Gemeinderat entgegen der wohl noch herrschenden Meinung14 als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG verstehen muss. Dafür sprechen folgende Argumente: a) Zunächst legt der Wortlaut des Grundgesetzes ein solches Verständnis nahe. Denn Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG spricht zwar nicht wie Artikel 17 GG direkt von der Volksvertretung; der übereinstimmende Sprachgebrauch ist aber dennoch nicht zu übersehen, wenn es dort heißt, dass »das Volk« u. a. in den Gemeinden »eine Vertretung« haben müsse15. Faber hat darum wohl nicht ganz zu Unrecht aufgrund dieser »syllogistischen Binsenwahrheit«16 den Gemeinderat als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG angesehen. b) Die Ratio der durch Artikel 17 GG vollzogenen Zweiteilung der Petitionsadressaten in »Volksvertretung« und »zuständige Stellen« spricht ebenfalls für diese These. Denn die Volksvertretung wird im Gegensatz zu den »zuständigen Stellen« ja nicht als Inhaber bestimmter Entscheidungskompetenzen in Artikel 17 GG als Petitionsadressat genannt. Der Zweck ihrer Befassung mit Petitionen »liegt vielmehr in der Aufrechterhaltung, Verbreiterung und Stärkung der Verbindung zwischen Volk und Parlament, Staat und Gesellschaft. Er liegt sowohl in der Offenhaltung des Zugangs zu den Vertretern des Volkes als auch in der Informierung der Volksvertretung. Der Petent soll – neben der sachlich geprägten und insoweit u. U. voreingenommenen oder bürokratisch reagierenden ›zuständigen Stelle‹ – ein Staatsorgan befassen können, das von der vom Petenten vorgetragenen Entscheidung 13 So auch Dürig (Fn. 4), Rdnr. 60, und Wolff/Bachof. Anders aber Dagtoglou (Fn. 11), Rdnr. 105, sowie Rauball (Fn. 3), Rdnr. 13. 14 Siehe die Nachweise in Fn. 4. 15 Gegenargumente versucht selbst insoweit Löwer (Fn. 2), S. 33, zu entwickeln. 16 Faber (Fn. 3), Rdnr. 55 am Ende. Mit dem Wortlaut des Grundgesetzes argumentieren daneben besonders Rauball (Fn. 3), Rdnr. 12, Meyn (Fn. 3), S. 38, Fn. 84; Schmidt-Jortzig (Fn. 3), S. 65 u. a.
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unberührt ist und das besetzt ist mit Volksvertretern, ›Amateuren‹ und Politikern und nicht mit ›Staatsmännern‹, Beamten oder Richtern. Gerade wegen dieser Distanz zum angegriffenen Vorgang, zur beschwerten Behörde und zur professionalisierten Funktionärsgruppe kann sich die Volksvertretung der Sache des Petenten mit einer nur ihr eigenen Distanz, Dynamik und Direktheit annehmen«17.
Die geschilderte Funktion nimmt nun aber nicht nur das Parlament, sondern ebenso der Rat einer Gemeinde wahr, wenn er sich mit einer Eingabe befasst18. Denn die unmittelbare Beteiligung des Gemeindebürgers (Laien) an der Verwaltung, deren Entscheidungen im Übrigen erfahrungsgemäß den wesentlichen Gegenstand aller Petitionen ausmachen, ist ja gerade der eigentliche Sinn der kommunalen Selbstverwaltung. Das gilt umso mehr, als ähnlich wie beim Parlament die Kenntnisnahme und Beratung der Petitionen, die dem Rat nach § 40 Abs. 3 NGO zugesprochene Befugnis zur Kontrolle der Verwaltungsangelegenheiten wirksam unterstützen können: »Das grundrechtsgeschützte Petitionsrecht ist zwar kein Instrument parlamentarischer Kontrolle, es wirkt aber doch als Kontrollanregung und -herausforderung. Es ist Hilfe zur Kontrolle«19. Mehr noch als beim Parlament ist diese »Hilfe zur Kontrolle« für das niedersächsische Gemeinderecht auch deshalb von erheblicher Bedeutung, weil gerade auf Gemeindeebene das Antragsrecht des einzelnen Ratsherrn besonderes Gewicht besitzt (vgl. §§ 39 a, 41, Abs. 3 NGO) und seine wirksame Ausübung entsprechende (auch durch Eingaben vermittelte) Informationen voraussetzt. c) Für das Verständnis des Gemeinderats als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG spricht schließlich die besonders im Blick auf die Landesparlamente gleichwertige demokratische Legitimation des Rats. Der Rat muss nämlich aus diesem Grund als Teilvolksvertretung verstanden werden, der eine örtlich (und sachlich auf den durch Artikel 28 Abs. 2 GG umschriebenen Verwaltungsbereich) beschränkte Wiederholung der eigentlich staatlichen Volksvertretung darstellt. Dafür kann zunächst auf den Wortlaut des Artikels 28 Abs. 1 Satz 2 GG verwiesen werden, der ja eine Vertretung des Volkes »in den Ländern, Kreisen und Gemeinden« fordert, die »aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist«. Denn diese Vorschrift setzt damit bezüglich der demokratischen Legitimation die Landesparlamente mit den Gemeinderäten (und Kreistagen) gleich. Dieses Auslegungsergebnis unterstützt die in der Literatur und Rechtsprechung ausführlich geführte Diskussion über die Frage, ob der Einführung eines 17 So richtig Vitzthum/März (Fn. 7), S. 812; ähnliche Oebbecke (Fn. 3), S. 150 f. 18 So im Ergebnis auch Oebbecke (Fn. 3), S. 151. 19 So wiederum Vitzthum/März (Fn. 7), S. 813. Kritisch zu dieser scharfen Trennung zwischen Petitions- und Kontrollrecht aber Rainer Pietzner, Rezension des in Fn. 4 genannten Buches von Vitzthum, in: Der Staat, Bd. 25 (1986), S. 625 ff.
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Ausländerwahlrechts auf kommunaler Ebene verfassungsrechtliche Hindernisse entgegenstehen. Solche Hindernisse sind nämlich von der herrschenden Meinung20 mit dem Argument angenommen worden, dass dem Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG derselbe, auf die deutschen Staatsangehörigen beschränkte Volksbegriff zugrunde liegt wie dem Artikel 20 Abs. 2 GG. Die »Staatshomogenität« der Kommunen, die auch in der systematischen Stellung des Artikels 28 GG im zweiten Abschnitt des Grundgesetzes (Überschrift: »Der Bund und die Länder«) zum Ausdruck kommt, erschöpft sich demnach nicht »in der Übernahme der (formalen) demokratischen Wahlrechtsprinzipien«; sie ist vielmehr, wie eben Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG »mit der Forderung einer Vertretung des ›Volkes‹ in den Gemeinden deutlich macht, zugleich eine Homogenität der Träger der Demokratie. Die mit der Selbstverwaltung verbundene ›örtliche‹ Demokratie rekrutiert ihre personelle Basis nicht anders als die staatliche Demokratie. Es sind dieselben Kräfte, die auf beiden Ebenen wirken«21. Hilfsweise lässt sich für diese Staatshomogenität der Kommunen auch noch anführen, dass nach dem Grundgesetz gewisse Parallelen zwischen dem allgemeinen Rechtsstatus der Bundesländer, die ja unbestritten »Volksvertretungen« im Sinne des Artikels 17 GG besitzen, und den Gemeinden bestehen. So sind Länder wie kommunale Selbstverwaltungskörperschaften in ihrem Bestand nicht absolut geschützt22 und beide besitzen – quantitativ freilich in unterschiedlichem Umfang – »nur« eine vom Grundgesetz (Artikel 28 Abs. 1 und Abs. 2 GG) festgelegte »Selbstorganisationsfreiheit«23. Im Ergebnis kann darum gesagt werden, dass »die Aktivbürgerschaft … auch in den Gemeinden nicht als verfassungsirrelevanter Volksteil, sondern als Teilvolk anzusehen (ist), das eine verfassungsrechtlich voll gültige demokratische Legitimation zu vermitteln vermag«24. Es ist so gesehen falsch, wenn behauptet wird25, dass die Gemeinde- und Kreiswahlen nach Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG nur »eine zusätzliche, neben die staatlich-demokratisch tretende Legitimation, deren innere Begründung sich 20 Vgl. insoweit nur zusammenfassend Hans-Hermann Schild, Kommunalwahlrecht für Ausländer? Verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Probleme der Einführung des Kommunalwahlrechts für Personen, welche nicht Deutsche i. S. des Art. 116 Abs. 1 GG sind, in DÖV, 1985, S. 664 ff. 21 So richtig Manfred Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, Berlin 1976, S. 119; ähnlich Oebbecke (Fn. 3), S. 89 f.; Meyn (Fn. 3), S. 37, und aus der Rechtsprechung: BVerfGE 38, 258 (271); BVerfGE 47, 253 (1. LS), (272); Bay VerfGH, NWvZ, 1985, S. 823 f. 22 Vgl. Artikel 29 GG für die Länder und den Rechtscharakter (institutionelle Garantie) der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG). 23 Siehe dazu Meyn (Fn. 3), S. 37. 24 So ebenda. Aus der Rechtsprechung so zuletzt auch Bay VerfGH, NVwZ, 1985, S. 823 f. 25 Etwa von Schmidt-Jortzig (Fn. 3), S. 39 (Hervorhebungen dort!) ähnlich v. Mutius (Fn. 2), S. 173.
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aus dem Selbstverwaltungsgedanken« ergäbe, schaffen würden. Denn das Gemeindevolk schafft keine »Zusatzlegitimation«, sondern für die kommunale Selbstverwaltung im Rahmen des Artikels 28 Abs. 2 GG eine spezielle (besondere), aber gleichwertige demokratische Legitimation, die insoweit den Rückgriff auf Artikel 20 Abs. 2 GG überflüssig macht26. Kraft Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG (und nicht schon kraft Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 GG)27 ist, was die demokratische Legitimation betrifft, der Volksbegriff bei den Gemeindewahlen der gleiche wie bei den Bundestags- und Landtagswahlen. Diese Spezialregelung, die durchaus – da nicht zu dem durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbestand der Verfassung zählend – anders lauten könnte28, lässt eine andere Interpretation nicht zu. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, dass auch an dem Repräsentationscharakter des Gemeinderats zumindest nach niedersächsischem Recht nicht zu zweifeln ist. Denn eine insoweit erhebliche Abweichung von der Zusammensetzung der Parlamente, wie sie möglicherweise etwa für Bayern anzunehmen ist29, gibt es in Niedersachsen nicht. Die hier vorgesehene Teilnahme des (nicht stimmberechtigten) Gemeindedirektors an den Sitzungen des Rats berührt dessen Repräsentationscharakter wohl kaum in rechtserheblicher Weise. Auf das Problem, ob das Vorliegen eines solchen Repräsentations-»Defizits« überhaupt die Gleichwertigkeit der demokratischen Legitimation für die Kommunen im dargelegten Sinne in Frage zu stellen vermag, braucht hier darum gar nicht eingegangen zu werden. Im Ergebnis muss man also den Gemeinderat als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG verstehen. Er kommt demnach als Adressat für Petitionen, über die ein anderes Gemeindeorgan oder eine von der Gemeinde beherrschte juristische Person abschließend zu entscheiden hat, in Betracht30. 26 27 28 29 30
Anders aber Schmidt-Jortzig (Fn. 3). So richtig Birkenheier (Fn. 21), S. 129 ff. Siehe ebenda. Dazu Schröder (Fn. 4), S. 359 ff. Im konkreten Fall ist natürlich vorab vom Gemeindedirektor die Zuständigkeit des Rats als Volksvertretung gemäß Artikel 17 GG in dem Sinne zu prüfen, ob nicht die Behandlung der vorliegenden Petition zu den Aufgaben des Bundestags, Landtags oder anderer gemeindlicher Volksvertretungen wie dem Ortsrat und Samtgemeinderat gehört (s. insoweit auch Vitzthum [Fn. 4], S. 32, sowie die dort auf den Seiten 147, 149 abgedruckten Ziffern 6.3 und 7.4 der »Grundsätze des [vom Bundestag nach Artikel 45 c bestellten] Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden«). Da nach der NGO auf Stadtbezirksebene neben dem Stadtbezirksrat kein weiteres Organ eigene Kompetenzen besitzt und der Ortsvorsteher (bzw. der mit Hilfsfunktionen der Gemeindeverwaltung betraute Ortsbürgermeister) in den Ortschaften keine nennenswerten Aufgaben selbstständig wahrnimmt, bleibt für den Gemeindedirektor bezüglich der »Zuständigkeit« anderer kommunaler Volksvertretungen im Sinne des Artikels 17 GG bei Eingaben praktisch allein die Frage zu entscheiden, ob der Rat der Mitgliedsgemeinde oder der Samtgemeinde sich damit zu be-
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3. Weitere Petitionsadressaten auf Gemeindeebene sind nach Artikel 17 GG nicht denkbar. Allerdings ist in diesem Zusammenhang noch zu fragen, ob auch § 58 NGO i. V. m. § 62 Abs. 3 NGO nicht zumindest die Pflicht des Gemeindedirektors folgt, ausdrücklich an den Verwaltungsausschuss der Gemeinde gerichtete Petitionen, über die dieser Ausschuss sachlich nicht entscheiden kann, ihm dennoch zunächst zuzuleiten. Denn wenn nach § 58 Satz 1 NGO der Verwaltungsausschuss »zu allen Verwaltungsangelegenheiten Stellung nehmen kann«, so liegt die Folgerung nahe, dass es sich bei derartigen Petitionen immer um eine »wichtige Angelegenheit« im Sinne des § 62 Abs. 3 NGO handelt, über die der Gemeindedirektor nach dieser Vorschrift den Verwaltungsausschuss von sich aus zu unterrichten »hat«. Für eine solche Auslegung könnte nun besonders die Entstehungsgeschichte des § 58 NGO sprechen: Danach ist diese Bestimmung durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Gemeindeordnung und der Niedersächsischen Landkreisordnung vom 14. April 1963 (GVBl. S. 255) in die NGO aufgenommen worden, und zwar mit dem Hinweis31, dass die für den Kreisausschuss geltende entsprechende Vorschrift der Landkreisordnung (§ 52 NLO) nun auch für den Verwaltungsausschuss der Gemeinde gelten solle. Der § 52 NLO wiederum, der durch Gesetz vom 31. März 1958 (GVBl. S. 17) in die Landkreisordnung Eingang fand, sollte in der zunächst in Aussicht genommenen Fassung zur 2. Lesung32 dem Kreisausschuss nur die Kompetenz verschaffen, zu »Beschwerden« in bestimmten Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises Stellung zu nehmen, wenn der Oberkreisdirektor »der Beschwerde nicht abhelfen will oder glaubt, ihr nicht abhelfen zu können«. Ausgangspunkt dieser Regelung war also die Überlegung, dass der Kreisausschuss zu bestimmten an den Landkreis gerichteten Eingaben sollte Stellung nehmen können. Diese Fassung des § 52 NLO hat man in den weiteren Ausschussberatungen dann deshalb fallengelassen und die allgemeinere, bis heute geltende Formulierung gewählt, weil die Kompetenz des Kreisausschusses, zu »Beschwerden« Stellung zu nehmen, umfassender gesehen wurde und zugleich klargestellt werden sollte, dass der Kreisausschuss damit nicht zu einer echten »Beschwerdeinstanz« aufgewertet würde33. fassen haben. Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass diese Prüfungspflicht des Gemeindedirektors natürlich auch (erst recht) dann besteht, wenn eine der genannten kommunalen Volksvertretungen (und der Bundestag oder Landtag) für die Entscheidung des mit der Petition verfolgten Anliegens sachlich zuständig sind und darum als zuständige Stellen im Sinne des Artikels 17 GG in Betracht kommen. 31 Siehe Entwurfsbegründung: LT-Drs. 4/850,S. 4287. 32 Lt – Drs. 3/732, S. 2159. 33 Besonders deutlich insoweit die Ausführungen des Abgeordneten Joachim Burfeindt in der 73.Sitzung des Innenausschusses vom 15. Januar 1958 (Protokoll, S. 10 f.) und des Abgeordneten Dr. Hermann Neddenriep in der 75. Sitzung des Innenausschusses vom 22. Januar 1958 (Protokoll, S. 13 f.); vgl. daneben den Ausschussbericht (Protokoll der 56. Sitzung des Nds. Landtags vom 5. März 1958 – 3. Wahlperiode – Sp. 3149).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Die Entstehungsgeschichte des § 58 NGO zeigt also, dass dem Kreisausschuss wie dem Verwaltungsausschuss unabhängig von der Tatsache, dass die damals ganz herrschende Meinung den Rat als zuständige Stelle im Sinne des Artikels 17 GG verstand, die Befugnis zuerkannt werden sollte, rechtlich unverbindliche (politische) Stellungnahmen zu an die Gemeinde gerichteten Petitionen eben auch bei fehlender Entscheidungskompetenz über das mit ihnen verfolgte Anliegen abzugeben. Wenn nun aber, wie hier geschehen, die Zweiteilung der Petitionsadressaten in Artikel 17 GG auch für die Gemeinden als verbindlich anerkannt wird, dann ist der Verwaltungsausschuss nicht mehr (entsprechend der Entstehungsgeschichte des § 58 NGO) grundsätzlich für an die Gemeinde gerichtete Petitionen zuständig. Er kann dann nur als zuständige Stelle im Sinne des Artikels 17 GG Petitionsadressat sein. Diese verfassungsrechtliche Festlegung schließt allerdings nicht aus, dass durch Gesetz neben der Volksvertretung einem zusätzlichen Organ die Befugnis eingeräumt wird, auch dann an sich adressierte Petitionen zu behandeln, wenn diesem Organ die sachliche Entscheidungskompetenz für das mit ihnen verfolgte Anliegen fehlt. Darin lässt sich deshalb heute die Bedeutung des § 58 NGO für das Petitionswesen auf Gemeindeebene in Niedersachsen sehen. Im Ergebnis hat folglich der Gemeindedirektor in dem praktisch wohl höchst seltenen Fall, dass eine Petition an den Verwaltungsausschuss gerichtet ist, obwohl diesem Ausschuss die Kompetenz für die sachliche Entscheidung fehlt, sie ihm dennoch zunächst zuzuleiten. Allerdings wird man dafür eine entsprechende unmissverständliche Aussage des Petenten fordern müssen, dass unabhängig von der materiellen Entscheidungszuständigkeit eine Einflussnahme des Verwaltungsausschusses auf die sachliche Entscheidung begehrt wird34.
II.
Die weitere Behandlung der Petitionen
Für die weitere Behandlung der Petitionen durch die Gemeindeverwaltung und die Petitionsadressaten auf kommunaler Ebene ist im Einzelnen Folgendes zu beachten: 1. Die Zuständigkeit der einzelnen Petitionsadressaten für die materielle Entscheidung über Petitionen ergibt sich aus dem kommunalen Verfassungsrecht. Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass der Rat der Gemeinde nur 34 Petitionen, die an andere Ausschüsse der Gemeinde mit eigener sachlicher Entscheidungskompetenz wie den Werksausschuss (§ 113 Abs. 3 und 4 NGO) gerichtet sind, obwohl derartige Ausschüsse über diese nach der Kompetenzordnung der NGO (und anderer besonderer Rechtsvorschriften – vgl. § 53 NGO) sachlich nicht entscheiden können, sind von dem Gemeindedirektor unmittelbar dem sachlich zuständigen Organ zuzuleiten. Denn für diese Ausschüsse sind die §§ 58, 62 Abs. 3 NGO eben nicht einschlägig.
1. Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene
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dann über Petitionen abschließend entscheiden kann, wenn deren sachliche Entscheidung entweder seiner ausschließlichen Zuständigkeit unterliegt oder wenn seine Zuständigkeit deshalb gegeben ist, weil er gemäß § 40 Abs. 2 NGO sein (begrenztes) »Zugriffsrecht« ausgeübt hat bzw. der Verwaltungsausschuss ihm eine solche zur Beschlussfassung vorgelegt hat. Sind an den Rat Petitionen gerichtet, in denen keiner der genannten Fälle gegeben ist, so bleibt zu fragen, ob daraus, selbst wenn man den Rat als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG versteht, automatisch sein zusätzliches Recht und die zusätzliche Pflicht folgt, einen (rechtlich unverbindlichen) Beschluss »in der Sache« zu fassen, d. h. bei eigener sachlicher Unzuständigkeit die Petition wie das Parlament an das sachlich zuständige Organ »zur Berücksichtigung«, »zur Erwägung«, »als Material« u. a. zu überweisen35. Dagegen könnte sprechen, dass es auf kommunaler Ebene abweichend vom parlamentarischen Regierungssystem in Bund und Ländern keine allumfassende politische Verantwortung des Rats für den gesamten Aufgabenkreis der Gemeinde gibt. Soweit die in der NGO vorgenommene Zuständigkeitsverteilung nicht durch Vorbehaltsschlüsse des Rats u. a. modifiziert werden kann, muss sie demnach als endgültige Scheidung der Einfluss- und Verantwortlichkeitsbereiche der Gemeindeorgane verstanden und respektiert werden. Lässt sich also eine Entscheidungsbefugnis des Rats nicht begründen, so ist jedes offizielle Einwirken auf die Willensbildung des zuständigen Organs auch in Form rechtlich unverbindlicher Empfehlungen ausgeschlossen36. Artikel 17 GG könnte nun aber eine solche Kompetenz für an den Rat als Volksvertretung gerichtete Eingaben begründen, wenn diese Vorschrift zwingend eine Behandlung der Petition gebietet, wie sie in den parlamentarischen 35 Vgl. insoweit etwa § 52 Abs. 1 und Abs. 2 der Geschäftsordnung des niedersächsischen Landtags: (1) Die Ausschüsse empfehlen dem Landtag zu jeder Eingabe in der Regel einen der folgenden Beschlüsse: 1. die Eingabe wird der Landesregierung zur Berücksichtigung überwiesen, 2. die Eingabe wird der Landesregierung zur Erwägung überwiesen, 3. die Eingabe wird der Landesregierung als Material überwiesen, 4. der Einsender der Eingabe ist über die Sachlage/Rechtslage zu unterrichten, 5. die Eingabe wird für erledigt erklärt, 6. der Landtag hat/sieht keine Möglichkeit/keinen Anlass, sich für das Anliegen des Einsenders zu verwenden/der Eingabe zu entsprechen. (2) Soll eine Eingabe für erledigt erklärt werden, so soll in dem Beschluss angegeben werden, wodurch sich die Eingabe erledigt hat. 36 Richtig heißt es dementsprechend im 1. Leitsatz eines rechtskräftigen Urteils des VG Schleswig vom 11. November 1986 (dng, 1987, S. 94): »Beschlüsse der Gemeindevertretung, dass keine Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Volkszählung getroffen werden dürfen, sind rechtswidrig, weil die Durchführung der den Gemeinden zur Erfüllung nach Weisung übertragenen Volkszählung nicht in die Organzuständigkeit der Gemeindevertretung fällt«.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Geschäftsordnungen u. a. vorgesehen ist37. Dahin tendiert die inzwischen wohl herrschende Meinung38, während das Bundesverfassungsgericht Artikel 17 GG insofern weitaus restriktiver auslegt. Nach seiner Rechtsprechung ist nämlich der Petitionsadressat allein in dem Sinne zu einer sachlichen Prüfung der Eingabe verpflichtet, als er ihren Inhalt zur Kenntnis nehmen und dem Petenten eine schriftliche Antwort erteilen muss, aus der »zum mindesten die Kenntnisnahme von dem Inhalt der Petition und die Art ihrer Erledigung« ersichtlich sind39. Folgt man dieser Auslegung des Artikels 17 GG durch das Bundesverfassungsgericht, so dürfte und müsste der Rat als Volksvertretung an ihn gerichtete Petitionen »nur« zur Kenntnis nehmen und das dem Petenten mitteilen. Denn für eine weitergehende Beschlussfassung besitzt der Rat in derartigen Fällen dann im Gegensatz zum Verwaltungsausschuss gerade keine Zuständigkeit. Für diese aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sich ergebende Folgerung spricht, dass sie sich schlüssig in den Kontrollauftrag des Rats nach § 40 Abs. 3 NGO einfügt40. Darüber hinaus gewährleistet sie wohl am ehesten, dass die Unterschiede zwischen den förmlichen Rechtsbehelfen und der formlosen, keine Ansprüche in der Sache begründenden Petition nicht verwischt werden. Es ist danach andererseits den Parlamenten anheimgegeben, für Petitionen weitergehende Behandlungspflichten der Volksvertretungen (und zuständigen Stellen) als die vom Bundesverfassungsgericht genannten zu statuieren. Diese Gründe legen im Ergebnis die These nahe, dass der Rat als Volksvertretung keine Beschlüsse »in der Sache« zu an ihn gerichteten Petitionen fassen darf, er aber kraft Artikel 17 GG diese Petitionen zur Kenntnis nehmen und dem Petenten einen entsprechenden Bescheid erteilen muss41.
37 Siehe noch einmal als Beispiel die in Fn. 35 zitierte Vorschrift aus der Geschäftsordnung des niedersächsischen Landtags. 38 Siehe nur Vitzthum/März (Fn. 7), S. 810 f., 816 mit weiteren Nachweisen. 39 So BVerfGE 2, 225 (230); ähnlich BVerfGE 13, 54 (90) und Bay VerfGH, in: DÖV, 1957, S. 719, 721. 40 Insofern beurteilt der Bay VerfGH schon in seinem Beschluss aus dem Jahr 1957 (DÖV, 1957, S. 719) die Bedeutung der Kenntnisnahme einer Petition durch den Rat richtig, wenn er für die entsprechende Tätigkeit der Parlamente ausführt: »Sicherlich ist die Entgegennahme von Eingaben und Beschwerden der Staatsbürger auch von Interesse für die Volksvertretung, die dadurch in die Lage versetzt wird, sich auf diesem Wege über die Auswirkungen gesetzgeberischer Maßnahmen, die Tätigkeit der Verwaltung und andere Vorgänge zu informieren und behaupteten Missständen nachzugehen«. 41 Bezüglich des von der Lehre aus Artikel 17 GG gefolgerten Petitionsformationsrechts der Volksvertretung (siehe dazu zusammenfassend Vitzthum [Fn. 4], S. 56 ff.) kann für den Rat im Prinzip nichts anderes als für die Parlamente in Bund und Ländern gelten. Ihm muss also, falls man ein solches Recht als verfassungsrechtlich verbürgt anerkennt, dieses dann auch
1. Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene
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2. Aus dem Wortlaut des § 58 Satz 1 NGO folgt bereits, dass der Verwaltungsausschuss zu an ihn gerichteten Petitionen, für die dem Ausschuss die sachliche Entscheidungskompetenz fehlt, Stellung nehmen »kann«. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung darüber, ob der Verwaltungsausschuss entsprechend tätig wird, also ausdrücklich in sein Ermessen gestellt, und der Verfassungsgeber hat insoweit durch Artikel 17 GG allein den Rat als Volksvertretung in der geschilderten Weise in die Pflicht genommen. 3. Zu klären bleibt, inwieweit sich aufgrund des unter 1. und 2. dargestellten Verfahrens eine unerwünschte »Kumulation von Petitionsmöglichkeiten«42 ergeben kann: Wendet sich der Petent mit demselben Anliegen in unterschiedlichen Schreiben zugleich an den Rat und Verwaltungsausschuss, so liegt, falls beide Organe für die sachliche Entscheidung nicht zuständig sind, tatsächlich eine von der Verfassung nicht gewollte Kumulation der Petitionsmöglichkeiten vor, die der Verwaltungsausschuss nur durch Verzicht auf Befassung um ihre Wirkung zu bringen vermag. Die Tatsache, dass eine solche Kumulation überhaupt auftreten kann, ist eine Folge der früher herrschenden Auslegung des Artikels 17 GG, nach der der Gemeinderat ja nur als zuständige Stelle im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist. Davon ging man augenscheinlich auch bei der Einfügung des § 58 NGO in die Gemeindeordnung aus (vgl. insoweit auch das zu II 2. Gesagte). Eine weitere »Kumulation von Petitionsmöglichkeiten« kann theoretisch auch dadurch eintreten, dass dasselbe Anliegen mit einer Petition an den Rat (bzw. den Verwaltungsausschuss) und zugleich mit einer weiteren an das »zuständige« Landesparlament (bzw. den Bundestag) verfolgt wird43. Allerdings bleibt insoweit zu beachten, dass das jeweilige Landesparlament sich mit entsprechenden Eingaben nur in dem Rahmen befassen kann, der ihm durch die Aufsichtsbefugnisse des Landes gegenüber den Kommunen gesetzt ist. Denn darüber hinausgehende Einwirkungsbefugnisse des Landes auf die kommunale Selbstverwaltung sind verfassungsrechtlich oder gesetzlich nicht vorgesehen44. Falls es nun insoweit zu einer »Kumulation« im übertragenen Wirkungskreis kommt, ist weiter zu bedenken, dass sie bei den Bundesauftragsangelegenheiten in gleicher Weise möglich ist, weil in einem solchen Fall ja der Bundestag und zuständige Landtag angerufen werden können45. Im Übrigen wäre zu fragen,
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gegen die für die Sachbehandlung zuständige Stelle zustehen, näher dazu Oebbecke (Fn 3), S. 151. Siehe dazu v. Mutius (Fn. 2), S. 174 f. Diese Fälle hat allein v. Mutius im Auge. Siehe insoweit nur Ernst-Wolfgang Böckenförde, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und kommunale Selbstverwaltung, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), Bd. 103 (1978), S. 31 f. So richtig Oebbecke (Fn. 4), s. 151.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
»was eine Kumulation der bei der auf Formlosigkeit angelegten und nicht mit Ansprüchen in der Sache ausgestatteten Petition verschlagen könnte«46 ? 4. Haben der Rat als »Volksvertretung«, der Verwaltungsausschuss gemäß § 58 Satz 1 NGO oder die nach der NGO »zuständigen Stellen« (siehe I 1.) eine Eingabe im Rahmen ihrer Kompetenz behandelt, so obliegt es in jedem dieser Fälle dem Gemeindedirektor, dem Petenten den entsprechenden Bescheid zu erteilen. Ebenso wie er Widerspruchsbescheide fertigen muss, wenn der Verwaltungsausschuss nach § 57 Abs. 3 NGO (oder u. U. der Rat) die Entscheidung in der Sache getroffen hat, besteht für den Hauptverwaltungsbeamten im Petitionsverfahren eine solche Pflicht. Sie folgt aus den §§ 62 Abs. 1 Nr. 2, 63 Abs. 1 NGO. Nach diesen Bestimmungen vertritt nämlich der Gemeindedirektor die Gemeinde in Rechts- und Verwaltungsgeschäften nach außen und hat u. a. die Beschlüsse des Rats und Verwaltungsausschusses auszuführen. Dem Ratsvorsitzenden obliegt demgegenüber nach § 31 Abs. 1 Satz 2 NGO allein die repräsentative Vertretung der Gemeinde47. Handelt es sich um Petitionen, die die Tätigkeit einer von der Gemeinde beherrschten juristischen Person betreffen und an diese gerichtet sind, so hat deren zuständiges Organ (Geschäftsführer/ Vorstand) den Petenten von der Entscheidung in Kenntnis zu setzen.
III.
Petitionsausschüsse auf kommunaler Ebene
Was die Frage der Zulässigkeit von Petitionsausschüssen auf kommunaler Ebene betrifft, so ist zwischen entsprechenden Ausschüssen mit eigener Entscheidungskompetenz und solchen zu unterscheiden, die eine Beschlussempfehlung lediglich vorbereiten: 1. Petitionsausschüsse mit eigenen Entscheidungskompetenzen wiederum können anstelle des Rats als Volksvertretung oder als zuständige Stelle im Sinne des Artikels 17 GG tätig werden. Soweit vom Gesetzgeber geschaffene Petitionsausschüsse statt des Rats als Volksvertretung von der Eingabe Kenntnis nehmen und entsprechend beschließen, steht ihrer Tätigkeit Artikel 17 GG entgegen. An diesem Ergebnis ändert sich nichts, wenn der Rat einen solchen Ausschuss »zur Erledigung von Anregungen und Beschwerden« bildet (so § 6 c der Gemeindeordnung von
46 So wiederum zu Recht ebenda. 47 Zu dem Gesagten passt es, wenn das OVG Lüneburg (DVBl., 1968, S. 388 (390) in der formalen Behandlung (verwaltungsmäßigen Abwicklung) der Eingaben grundsätzlich ein dem Gemeindedirektor obliegendes Geschäft der laufenden Verwaltung (§ 62 Abs. 1 Nr. 6 NGO) sieht.
1. Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene
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Nordrhein-Westfalen48). Denn auch in diesem Fall ist es gerade nicht, wie von Artikel 17 GG gefordert, der Rat selbst als Volksvertretung, der sich mit entsprechenden Eingaben befasst, sondern anstelle des Rats eben der von ihm gebildete Ausschuss. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob die gesetzliche Einführung eines Petitionsausschusses, der sich etwa zur Hälfte aus Ratsherren und zur anderen Hälfte aus (sachkundigen) Bediensteten der Gemeindeverwaltung zusammensetzt, mit dem Ziel möglich ist, dass dieser Ausschuss als »zuständige Stelle« im Sinne des Artikels 17 GG tätig wird und deshalb über die Eingaben abschließend sachlich entscheiden kann. Eine solche Regelung würde zunächst dem Grundgedanken der von der NGO geschaffenen Kompetenzordnung deutlich widersprechen. Denn danach sind die allgemeinen kommunalen Zuständigkeiten – die eng begrenzte eigene Entscheidungskompetenz einiger Sonderausschüsse49 und rechtlich verselbständigter kommunaler Einrichtungen einmal ausgenommen – abschließend auf Rat, Verwaltungsausschuss und Gemeindedirektor verteilt. Unabhängig von diesem rechtssystematischen Bedenken muss aber auch gefragt werden, ob nicht der Begriff der »zuständigen Stellen« in Artikel 17 GG die gesetzliche Einführung eines entsprechenden Ausschusses verbieten würde. Das ließe sich bejahen, wenn man über die unter I.1. dargelegte Definition dieses Begriffs hinaus die Annahme vertreten würde, genau die Organisationseinheit, die für die Entscheidung in der Sache zuständig war, habe nun auch über die Petition zu entscheiden und kein anderes (von der Volksvertretung zu unterscheidendes zusätzliches) Beschlussorgan. Neben dem Plural »zuständige Stellen« in Artikel 17 GG spricht für eine solche Auslegung, dass sie wohl am ehesten der Ratio der durch diese Vorschrift vollzogenen Zweiteilung der Petitionsadressaten entspricht. Wenn daneben immer wieder richtig betont wird, dass Artikel 17 GG an die geltende Kompetenzordnung anknüpft – diese also nicht verändern kann und will -, so ermöglicht diese Aussage wohl auch den weiteren Schluss, dass Artikel 17 GG dem Gesetzgeber verbietet, besondere Organe allein für die sachliche Entscheidung über Eingaben zu schaffen. 2. Petitionsausschüsse, die eine Beschlussempfehlung lediglich vorbereiten, sind dagegen auf kommunaler Ebene rechtlich nicht ausgeschlossen. Das gilt für den Rat sowohl, wenn er als zuständige Stelle die Kompetenz für die Sachentscheidung besitzt, als auch für den Fall, dass er sich als Volksvertretung mit einer Eingabe befassen muss. Gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 NGO hätte daneben der Ge48 A. A. für entsprechende Beschlüsse der Parlamente aber Bay VerfGH, DÖV, 1957, S. 719 (720 f.) und Friesenhahn (Fn. 4),S. 371 f. 49 Siehe dazu Robert Thiele, Niedersächsische Gemeindeordnung, Kommentar, 2. Aufl. Hannover 1987, § 53, Anm. 1 – 3.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
meindedirektor grundsätzlich (»soll«) einen solchen Ausschuss bei der Vorbereitung der entsprechenden Beschlüsse des Verwaltungsausschusses über Petitionen zu »beteiligen«. Zweifelhaft erscheint allerdings, ob die Einrichtung eines derartigen besonderen Petitionsausschusses auf kommunaler Ebene zweckmäßig ist. Vor allem bei Petitionen, für die der Rat oder Verwaltungsausschuss als zuständige Stelle die Kompetenz zur Sachentscheidung besitzen, könnte das nämlich in der Praxis sehr leicht zu Rivalitäten zwischen diesem Ausschuss und demjenigen Fachausschuss führen, der ohne Vorliegen einer Petition für die Beratung der ihr zugrunde liegenden Angelegenheit zuständig wäre. Auch dürfte insoweit in vielen Fällen eine Koordination zwischen dem Petitionsausschuss und dem jeweiligen Fachausschuss erforderlich sein, um eine einheitliche Entscheidungspraxis in Fachfragen zu gewährleisten. Die Notwendigkeit einer solchen Koordination wiederum zeigt aber, dass mit der Einrichtung besonderer Petitionsausschüsse das Verfahren zur Behandlung von Eingaben häufig schwerfälliger werden würde. So gesehen spricht einiges dafür, die Vorbereitung von Beschlüssen des Rats und Verwaltungsausschusses über Petitionen grundsätzlich den bestehenden Fachausschüssen zu überlassen.
IV.
Verhältnis vom Verfassungs- und Verwaltungsrecht
Die vorstehenden Darlegungen geben über das konkrete Thema hinaus Anlass, auf einige Ungereimtheiten in der Interpretation der für das Gemeinderecht wesentlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben hinzuweisen: 1. Wenn die wohl noch überwiegende Ansicht in der Literatur den Rat nicht als Volksvertretung im Sinne des Artikels 17 GG zu verstehen vermag, so zeigt das neben einem fragwürdigen Umgang mit dem Wortlaut der Verfassung vor allem, dass die vom Grundgesetz geforderte demokratische Legitimation allen staatlichen Handelns50 unbewusst mit parlamentarisch-demokratischer Legitimation gleichgesetzt wird51. Darum ist die herrschende Meinung etwa nicht in der Lage, eine Entfeinerung der von den Kommunen zu vollziehenden Rechtsvorschriften unter Hinweis auf ihre gleichwertige demokratische Legitimation als verfassungsrechtlich geboten einzufordern. Aus dem gleichen Grund steht man gewöhnlich auch skeptisch der These gegenüber, dass im Selbstverwaltungsbereich, sofern die Rechts- und Gesetzesvorbehalte der Grundrechte das 50 Dazu zusammenfassend Oebbecke (Fn. 3), S. 67 ff.; vgl. daneben aus der Rechtsprechung zuletzt das Urteil des NRW VerfGH vom 15. September 1986 (NVwZ, 1987, S. 211 f.). 51 Richtig insoweit aber Bay VerfGH (NVwZ, 1985, S. 823): Der Gemeinderat »verkörpert … auf der kommunalen Ebene in gleicher Weise das System der repräsentativen Demokratie wie der Bayerische Landtag auf Landesebene«.
1. Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene
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zulassen, auch eine kommunale Satzung als Ermächtigungsgrundlage für »Eingriffe« ausreicht52 bzw. an die gesetzliche Ermächtigung zum Erlass entsprechender Satzungen zumindest nicht die strengen Anforderungen zu stellen sind, die nach Artikel 80 Abs. 1 GG gelten53. 2. Die (unbewusste) Gleichsetzung der nach dem Grundgesetz für alle Staatsgewalt erforderlichen demokratischen Legitimation mit parlamentarischdemokratischer Legitimation hat nun umgekehrt zur Folge gehabt, dass man trotz der verfassungsrechtlichen Festlegung der Kommunen auf Verwaltungsaufgaben und des sich daraus ergebenden Charakters des Rats als Verwaltungsorgan ziemlich kritiklos versucht hat, parlamentarische Grundsätze (bzw. solche des parlamentarischen Regierungssystems) in das Gemeinderecht hineinzutragen. Nur so ist es etwa zu erklären, dass eine Harmonierung der Wahlzeiten von Gemeinderat und Verwaltungsspitze gefordert worden ist54 oder einige Gemeindeordnungen die Abwahl hauptamtlicher kommunaler Wahlbeamter vorsehen55 und so eine Abhängigkeit der Verwaltungsspitze vom Rat schaffen, die der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung nahekommt56. Wenn daneben etwa in Niedersachsen in einer neueren Novelle zur 52 So etwa Meyn (Fn. 3), S. 46 ff., und für Satzungen allgemein Hans-Jürgen Papier, in: Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, hrsg. Von Volkmar Götz u. a., München 1985, S. 47, sowie Michael Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, in: JZ, 1984, S. 694, 695. Aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Satzungsautonomie durch Art. 28 Abs. 2 GG und der gleichwertigen demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften folgt allerdings allein für diese eine verfassungsrechtliche Begrenzung des Gesetzgebers in den im Text genannten Fällen. Diese Möglichkeit der Begrenzung bezweifelt etwa Herbert Bethge, Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 1983, besonders S. 577 ff. 53 So etwa die Lösung von Gabriele Wurzel, Gemeinderat als Parlament?, Würzburg 1975, S. 151 ff. Allgemein zu strengeren Anforderungen an die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für kommunale Satzungsgebung infolge der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgericht: Max-Jürgen Seibert, Beschränkung der Amtshaftung durch gemeindliche Satzung? Zum Vorbehalt des Gesetzes im Bereich der Satzungsautonomie, in: DÖV, 1986, besonders S. 962 ff. 54 Dazu genauer Hermann Schönfelder, Rat und Verwaltung im kommunalen Spannungsfeld, Köln u. a. 1979, S. 138 ff. 55 Siehe für das niedersächsische Recht: § 61 Abs. 2 NGO. Zusammenfassend zu dieser Frage Rolf Stober, Kommunale Ämterverfassung und Staatsverfassung am Beispiel der Abwahl kommunaler Wahlbeamter, Tübingen 1982; vgl. daneben insoweit aus der neueren Literatur Ulf Lichterfeld, Zur Abberufung (Abwahl) von kommunalen Hauptverwaltungsbeamten, in: DVBl., 1982, S. 1021 ff., und Günter Benne, Die Abberufung des Hauptverwaltungsbeamten in Niedersachsen, in: Niedersächsischer Städteverband, 1983, S. 4 ff., sowie aus der jüngeren Rechtsprechung die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Januar 1985 (NVwZ, 1985, S. 275.) und des VGH Kassel vom 3. Juli 1985 (NVwZ, 1985, S. 604 f.). 56 Übersehen wird damit, dass eine sachgerechte Aufgabenerfüllung durch die Gemeindeverwaltung eine Ämterverfassung für sie voraussetzt. Denn die konsequente Wahrnehmung des Beanstandungsrechts durch den Hauptverwaltungsbeamten und die ordnungsgemäße Er-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
NGO der Gesetzgeber sich der Entscheidung über die Mindeststärke der Ratsfraktionen und die Ausschussöffentlichkeit u. a. ausdrücklich entäußert und sie den Geschäftsordnungen der Räte überlässt57, so ist das ebenfalls ein Beleg für eine wenig einleuchtende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung58. Denn die gleichmäßige Erledigung der Verwaltungsaufgaben setzt eine möglichst einheitliche Binnenorganisation des Verwaltungsorgans Rat auf Landesebene voraus. Deshalb muss auch diese Anlehnung an parlamentarische Vorbilder zweifelhaft erscheinen. 3. Die eigenständige demokratische Legitimation der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften fordert nun aber nicht nur zur gleichzeitigen Beachtung der dargelegten Konsequenzen, die aus ihrer Gleichwertigkeit mit der parlamentarisch-demokratischen Legitimation folgen, wie der Unterschiede zwischen Rat und Parlament auf59 ; sie verlangt vielmehr darüber hinaus eine gegenüber der herrschenden Meinung strengere Berücksichtigung derjenigen verfassungsrechtlichen Aussagen, die die rechtlichen Unterschiede zwischen den Grundrechten und der kommunalen Selbstverwaltunsgarantie (Artikel 28, Abs. 2 GG) deutlich machen. Die genannte Bestimmung statuiert eben, wie ihr Zusammenhang mit Artikel 28 Abs. 1 GG beweist60 und einige Sonderregelungen der Finanzverfassung (Artikel 106 Abs. 9 und Artikel 108 Abs. 5 GG u. a.) ebenfalls andeuten, eine selbstständige demokratische Entscheidungsebene. Das unterstreicht die Stellung des Artikels 28 Abs. 2 GG im zweiten Abschnitt des Grundgesetzes (Überschrift: »Der Bund und die Länder«), und der stets betonte Charakter dieser Vorschrift als institutionelle Garantie sowie das Verständnis des ihr beigefügten Gesetzesvorbehalts als »rahmenrechtlichen Schrankenvorbehalts«61 entsprechen einer solchen Sicht. Umso mehr muss es
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füllung der Pflichten im übertragenen Wirkungskreis (die wiederum Voraussetzung für die Möglichkeit einer parlamentarischen Verantwortung der Regierung ist) dürften bei einer Abhängigkeit der Verwaltungsspitze vom Rat in Frage gestellt sein (siehe insoweit auch Stober (Fn. 55), S. 39 f, 51 ff., und Hans-Uwe Erichsen, Zur Verfassungswidrigkeit der Abwahl kommunaler Wahlbeamter, in: DVBl., 1980, S. 728 f.). So geschehen durch das Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Gemeindeordnung, der Niedersächsischen Landkreisordnung und des Gesetzes über die Auflösung des Verbandes Großraum Hannover vom 20. Dezember 1984 (GVBl. S. 283). Sie wiegt umso schwerer, als sie – wie in der Entwurfsbegründung zu dem in Fn. 57 genannten Gesetz (LT-Drs. 10/2790, S. 5) ausgeführt – als erster Schritt eines umfassenden Konzepts dargestellt wird. Ansatzweise ebenso die schon mehrfach zitierte Entscheidung des Bay VGH (NWwZ, 1985,S. 823 f.). Zu diesem Zusammenhang genauer : Gerd Schmidt-Eichstaedt, Bundesgesetze und Gemeinden, Stuttgart u. a. 1981, S. 124 ff. und Gerd-Jürgen Richter, Verfassungsprobleme der kommunalen Funktionalreform, Köln u. a. 1977, S. 92 ff. Ausführlich dazu Joachim Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, München 1977, S. 84 ff. Burmeister weist auch zu Recht auf die in bewusster Abweichung von der entsprechenden Bestimmung der Weimarer
1. Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene
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erstaunen, wenn unbestritten ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung am Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip)62 und nicht – wie richtigerweise auch das Verhältnis von Bund und Ländern – am Subsidiaritätsprinzip gemessen wird63 oder wenn die kommunale Verfassungsbeschwerde (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) durchweg in Anlehnung an die allgemeine Verfassungsbeschwerde (Artikel 93 b Abs. 1 Nr. 4a GG) interpretiert wird, statt die Parallelen zum Bund-Länder-Streit (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) hinreichend zu berücksichtigen64. Denn allen diesen Ansichten liegt letztlich eben (unbewusst) ein grundrechtliches Verständnis des Artikels 28 Abs. 2 GG zugrunde65. Mit diesen Hinweisen schließt sich für unseren Gedankengang der Kreis. Denn sie rechtfertigen hinreichend die eingangs aufgestellte Behauptung, dass im Kommunalrecht die richtige Verhältnisbestimmung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht subtilerer Überlegungen als gemeinhin angenommen bedarf.
Thesen I. Die richtige Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene setzt zunächst eine genaue Bestimmung der möglichen Petitionsadressaten voraus: 1. Zuständige Stellen im Sinne des Artikel 17 GG sind die Gemeinde als solche, alle zuständigen Organe der NGO mit eigener sachlicher Entscheidungskompetenz für das mit der Petition verfolgte Anliegen und die von der Gemeinde beherrschten juristischen Personen privaten und öffentlichen Rechts, soweit sie eine entsprechende Kompetenz besitzen.
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Reichsverfassung (Art. 127 WRV) gewählte Formulierung des »Gesetzesvorbehalts« in Art. 28 Abs. 2 GG hin (ebenda, S. 84 f. mit Fn. 2). Das gilt selbst für Autoren, die im Übrigen ziemlich deutlich das grundrechtliche Verständnis der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verabschiedet haben; siehe insoweit nur Schmidt-Eichstaedt (Fn. 60), S. 160 ff. i. V. m.S. 129 ff., und Burmeister (Fn. 61),S. 160 f., i. V. m. S. 88 ff. u. a. Dazu demnächst genauer die Arbeit des Verfassers: Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts (dort § 4 bei Fn. 22 ff.). Das geschieht aber besonders durch Burmeister (Fn. 61), S. 182 ff. Zur letztlich grundrechtlichen Fundierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, die besonders durch die überzeugende Kritik von Phlipp Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986, am z. T. inflationären Gebrauch des Rechtsstaatsprinzips als verfassungsrechtlichem Argument nahegelegt ist, siehe besonders Bernhard Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 1984, S. 459 ff. (besonders S. 460 f.), und auch Kunig, S. 354 ff. Zum (herrschenden) Verständnis der kommunalen Verfassungsbeschwerde als Ausprägung »der tradierten grundrechtlichen Verfassungsbeschwerde«: Burmeister (Fn. 61), S. 180 ff.
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2. Eine an die einzelnen Ämter der Gemeindeverwaltung oder an (unselbständige) gemeindliche Ausschüsse gerichtete Petition ist von dem Gemeindedirektor an das für die sachliche Entscheidung zuständige Organ weiterzuleiten. Die Pflicht zur unmittelbaren Weiterleitung an die zuständige Stelle der Gemeinde besteht für ihn grundsätzlich – zu den Ausnahmen siehe 3. und 4. – auch, wenn die Petition an ein sachlich unzuständiges Gemeindeorgan gerichtet ist. Der Geschäftsführer/Vorstand einer von der Gemeinde beherrschten juristischen Person besitzt bei an diese juristische Person adressierten Petitionen, für deren Behandlung sie sachlich unzuständig ist, eine entsprechende Pflicht zur Weiterleitung. 3. Der Gemeinderat muss als Volksvertretung im Sinne des Artikel 17 GG verstanden werden. Er kommt demnach auch als Adressat für Petitionen in Betracht, über die ein anderes Gemeindeorgan (oder eine von der Gemeinde beherrschte juristische Person) abschließend zu entscheiden hat. 4. Bei entsprechenden an den Verwaltungsausschuss gerichteten Petitionen folgt aus den §§ 58 Satz 1, 62 Abs. 3 NGO die Pflicht des Gemeindedirektors, diese zunächst dem Verwaltungsausschuss zuzuleiten, wenn das Petitum eindeutig erkennen lässt, dass eine indirekte Einflussnahme des Verwaltungsausschusses auf die Sachentscheidung angestrebt wird.
II. Für die weitere Behandlung der Petitionen durch die Gemeindeverwaltung ist folgendes zu beachten: 1. Der Rat muss als Volksvertretung im Sinne des Artikel 17 GG Petitionen, die an ihn gerichtet sind, deren sachliche Entscheidung aber einem anderen Gemeindeorgan (bzw. einer von der Gemeinde beherrschten juristischen Person) obliegt, zur Kenntnis nehmen und darüber einen Beschluss fassen. Der Verwaltungsausschuss kann gemäß § 58 Satz 1 NGO zu entsprechenden Petitionen eine Stellungnahme abgeben. 2. Eine »Kumulation« von Petitionsmöglichkeiten kann nach niedersächsischem Recht auf Gemeindeebene zunächst eintreten, wenn sich außer dem Rat der Verwaltungsausschuss – ohne rechtlich dazu verpflichtet zu sein – mit einer an ihn gerichteten gleich lautenden Petition befasst. Beschäftigt sich neben dem Rat auch der Landtag im Rahmen der Aufsichtsbefugnisse des Landes über die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften mit einer gleich lautenden Petition, so liegt eine weitere Kumulation vor, die eine gewisse Parallele im Verhältnis Bund-Land bei den Bundesauftragsangelegenheiten besitzt und im Übrigen wie die erste Kumulationsmöglichkeit wegen der Formlosigkeit der Peti-
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tion und fehlender Ansprüche in der Sache keinen (rechtlichen) Bedenken unterliegt. 3. Nach Beschlussfassung über die Petition durch das jeweils in Frage kommende Gemeindeorgan hat der Gemeindedirektor dem Petenten einen entsprechenden Bescheid zu erteilen. Hat sich der Petent an eine von der Gemeinde beherrschte juristische Person gewandt, so ist diese (ihr Geschäftsführer/Vorstand) zur Beantwortung seiner Petition verpflichtet.
III. Was die Frage der Zulässigkeit von Petitionsauschüssen auf kommunaler Ebene betrifft, so ist zwischen entsprechenden Ausschüssen mit eigener Entscheidungskompetenz und solchen zu unterscheiden, die eine Beschlussfassung lediglich vorbereiten: 1. Die gesetzliche Einführung von Petitionausschüssen, die sich statt des Rats als Volksvertretung mit Eingaben befassen oder als zuständige Stelle im Sinne des Artikel 17 GG über Eingaben entscheiden können, widerspricht dem System des geltenden Kommunalverfassungsrechts und Artikel 17 GG. 2. Petitionsauschüsse der Kommunen, die allein der Vorbereitung von Beschlüssen des Verwaltungsausschusses und des Rats über Eingaben dienen, sind rechtlich möglich, aber unzweckmäßig.
IV. Die Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene zeigt exemplarisch, wie wichtig die richtige Verhältnisbestimmung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht im Kommunalrecht ist. Denn einerseits besitzt der Gemeinderat nach dem Grundgesetz eine gegenüber den Parlamenten in Bund und Ländern gleichwertige demokratische Legitimation; er ist andererseits aber ein Verwaltungsorgan. Und eben diese Eigenschaft verbietet es besonders, parlamentarische Grundsätze (bzw. solche des parlamentarischen Regierungssystems) kritiklos auf das Gemeindeverfassungsrecht anzuwenden. Aus der hier dargelegten eigenständigen demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften folgt auch das Gebot, vom grundrechtlichen Verständnis des Artikel 28 Abs. 2 GG endgültig Abschied zu nehmen.
2.
Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem1
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: In Niedersachsen befindet sich das kommunale Verfassungsrecht in keinem guten Zustand, und die kommunale Verfassungspraxis in unserem Lande lässt auch manches zu wünschen übrig, wenn man sie an der Forderung nach einer effektiven, gerechten und bürgernahen Verwaltung misst. Das genauer zu belegen und rechtliche Abhilfen dafür vorzuschlagen, ist die Absicht meiner Darlegungen. Ich tue das im Folgenden aus primär verfassungsrechtlicher Sicht unter dem nicht von mir geprägten Stichwort »Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung«.2 Es sind nach meinem Eindruck drei Ansatzpunkte auszumachen, die einen entsprechenden Umwandlungsprozess des kommunalen Verfassungsrechts erkennen lassen: Zunächst das Bemühen der Gemeinderäte, sich wie die Parlamente in Bund und Ländern auch mit allgemeinen politischen Fragen zu befassen, des Weiteren die Zurückdrängung des amtsrechtlichen Moments in der Rechtsstellung der Ratsherren und schließlich der Versuch, das Verhältnis von Rat und Verwaltung dem von Parlament und Regierung anzunähern. Auf diese drei Entwicklungslinien werde ich nun in der Weise genauer eingehen, dass ich jeweils zunächst ihren tatsächlichen und rechtlichen Verlauf schildere und diesen Verlauf dann einer (verfassungs-)rechtlichen Würdigung unterziehe.
1 Den folgenden Ausführungen ist mit Rücksicht auf den Zuhörerkreis des Vortrags und den voraussichtlichen Leserkreis das niedersächsische Gemeinderecht zugrunde gelegt; die mitgeteilten Überlegungen können aber über das Land Niedersachsen hinaus Geltung beanspruchen. 2 Von einer »Parlamentarisierung der kommunalen Selbstverwaltung« sprach etwa auch der Staatssekretär im Niedersächsischen Innenministerium Dieter Haaßengier auf der Mitgliederversammlung des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes im Jahre 1987, s. dng 1987, S. 290.
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I.
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Die zunehmende Beschäftigung der Gemeinderäte mit allgemeinen politischen Fragen
1. Es gibt dafür hinreichende Beispiele aus jüngster Zeit. Am Anfang standen Beschlüsse verschiedener Gemeinderäte zu verteidigungspolitischen Fragen, insbesondere zu einer gemeindlichen »atomwaffenfreien Zone«.3 Es folgten u. a. solche, die sich gegen die Novellierung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes richteten4, und weiter Beschlüsse zum Thema Volkszählung.5 Die Räte der niedersächsischen Städte Oldenburg und Emden schließlich haben vor kurzem in Resolutionen bzw. Appellen die Praxis der Landesregierung kritisiert, mit disziplinarrechtlichen Mitteln gegen die im Staatsdienst beschäftigten DKP-Politiker vorzugehen.6 Die inhaltlichen Varianten derartiger Beschlüsse bzw. entsprechender Anträge sind vielfältig. Hier eine Auslese zum Thema »Verteidigungspolitik«:7 Die Gemeindeverwaltung wird beauftragt, gegenüber der Bundeswehr und den US-Streitkräften mit Nachdruck den Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, dass die Absicht, ABC-Waffen im Gemeindegebiet zu lagern, auf »entschiedene Ablehnung stoßen würde«, oder : Die Gemeindeverwaltung wird beauftragt, bei den zuständigen Stellen darauf hinzuwirken, dass die Herstellung, der Transport und die Lagerung atomarer, biologischer und chemischer Waffen verhindert werden, oder : Die Gemeindeverwaltung wird aufgefordert, keine Maßnahmen zu unterstützen, die der Lagerung oder Stationierung von Atomwaffen dienen. Entsprechende Anträge lauten etwa: Der Gemeinderat soll das gemeindliche Gebiet zur atomwaffenfreien Zone erklären und jegliche Stationierung oder Lagerung von Atomwaffen sowie den Transport durch das Gemeindegebiet nicht gestatten, oder : Der Gemeinderat möge beschließen, dass eine Lagerung, Stationierung und der Transport von Atomwaffen im Stadtgebiet abgelehnt wird sowie der Lagerung von Atomwaffen entschlossener Widerstand entgegengesetzt werden soll. 2. Warum eigentlich, so ließe sich nun fragen, sollte man nicht in allen diesen Fällen eine »kommunale Befassungskompetenz«8 annehmen. Denn unabhängig 3 Einschlägige Beispiele nennt etwa Penski, ZRP 1983, S. 161 f. 4 Darauf weisen Wurzel (BayVBl. 1986, S. 417) und Gröttrup (DÖV 1987, S. 714, 715 f., 718) u. a. hin. 5 Dazu das (rechtskräftige) Urteil des VG Schleswig vom 11. 11. 1986, Leitsätze in: dng 1987, S. 94. 6 Siehe die Berichte in der Nordwest-Zeitung vom 27. Oktober 1987 und in der Ostfriesen Zeitung vom 14. November 1987. 7 Die folgenden Beispiele finden sich bei Penski, a. a. O. (Anm. 3). 8 So für ähnliche Fälle etwa Gröttrup, DÖV 1987, S. 714 ff.
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von der Tatsache, dass sich die Gemeinderäte mit entsprechenden Beschlüssen und Anträgen meistens außerhalb ihres Entscheidungsbereichs bewegten, ist doch ihre gegenüber den Parlamenten gleichwertige demokratische Legitimation kaum zu bestreiten.9 Nach Artikel 28 Abs. 1 S. 2 des Grundgesetzes muss ja »das Volk« wie in den Ländern so auch in den »Kreisen und Gemeinden … eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist«. Gerade die in jüngster Zeit diskutierten Fragen, ob die gesetzliche Einführung des Ausländerwahlrechts auf kommunaler Ebene zulässig ist und ob weiter die kommunalen Vertretungsorgane als Volksvertretungen im Sinne des Artikels 17 GG zu verstehen sind, haben den insoweit einschlägigen Bedeutungsgehalt des Artikels 28 Abs. 1 S. 2 erneut bewusst gemacht. Wenn nun, so lässt sich folglich fragen, der Bundestag und auch die Landtage nach ganz überwiegender Ansicht eine entsprechende Befassungskompetenz besitzen, die letztlich ihre Grenze wohl nur im Prinzip der Bundestreue findet, warum können dann nicht auch aufgrund ihrer gleichwertigen demokratischen Legitimation die kommunalen Vertretungsorgane eine solche Kompetenz beanspruchen? Die Antwort auf eine solche Frage kann nur lauten: Diese Folgerung ist deshalb unzulässig, weil es sich nach den klaren Aussagen des Grundgesetzes und der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung auf kommunaler Ebene um eine demokratische Legitimation für eine Selbstverwaltungskörperschaft handelt. Die Gemeinden sind nach den Verfassungen des Bundes und unseres Landes eben nicht als Staaten, sondern als unterste demokratische Verwaltungsebene innerhalb der staatlichen Exekutive zu betrachten. Sie können darum auch nur die ihnen durch die Verfassung zugeschriebenen Verwaltungsaufgaben erledigen, nur für diese sind sie demokratisch legitimiert. Die Kunst der Verfassungsauslegung besteht insoweit gerade darin, mit dem Gedanken Ernst zu machen, dass die Gemeinderäte als Verwaltungsorgane eine gegenüber den Parlamenten in Bund und Ländern gleichwertige demokratische Legitimation besitzen. Vorbildlich heißt es insoweit in den Leitsätzen einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahre 1984:10 »Der Gemeinderat verkörpert auf der kommunalen Ebene in gleicher Weise das System der repräsentativen Demokratie wie der Landtag auf Landesebene … Zwischen den Aufgaben des Landtages einerseits und eines Gemeinderats andererseits bestehen … tiefgreifende Unterschiede … Der Gemeinderat ist nach seinem Aufgabenkreis kein Parlament.«
9 Zum Folgenden genauer : Janssen, AfK 1987, S. 206 (209 ff.). 10 Abgedruckt in: NVwZ 1985, S. 823 f. Genauer dazu die Anmerkung von J.Hofmann, in: BayVBl. 1984, S. 747 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
3. Wie weit nun die Kompetenzen der so gekennzeichneten kommunalen Vertretungsorgane reichen, bestimmen konkret die in Ausfüllung der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie des Artikels 28 Abs. 2 GG bzw. des Artikels 44 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung ergangenen §§ 2, 4 und 5 der NGO, in unserem Fall der § 4 Abs. 1 S. 1, nach dem die Gemeinden für »alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« und nicht – wie fälschlicherweise immer gelesen wird – für alle örtlichen Angelegenheiten zuständig sind.11 Als Wahrnehmung derartiger Angelegenheiten wird man bei großzügiger Auslegung des Begriffs mit der inzwischen wohl herrschenden Meinung auch noch ansehen dürfen, wenn sich eine Gemeinde etwa gegenüber der für eine Standortentscheidung eigentlich zuständigen Stelle darum bemüht, dass bei dieser Entscheidung die örtlichen Interessen möglichst weitgehend berücksichtigt werden. Es handelt sich jetzt zwar nicht mehr um die eigenverantwortliche Erledigung einer Verwaltungsaufgabe, sondern um die Interessenvertretung gegenüber einer anderen für die Erledigung zuständigen Stelle. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, kann danach ein Gemeinderat zu einer verteidigungspolitischen Maßnahme etwa dann Stellung nehmen, soweit sie eine das Gemeindegebiet erfassende und damit die Bürger besonders berührende Planung des Bundes zum Thema hat. Rechtswidrig wäre es dagegen, wenn der Rat einer Gemeinde wie die Parlamente in Bund und Ländern insoweit »lediglich« als Institution allgemeiner staatsbürgerlicher Repräsentation tätig würde. In diesem Fall läge – und das gilt entsprechend für die anderen anfangs erwähnten Beispiele – eine rechtlich unzulässige Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung vor.12 4. Macht man mit dem Rechtscharakter des Gemeinderats als Verwaltungsorgan Ernst, so sind -das sei abschließend in diesem Zusammenhang noch erwähnt – auch Zweifel an der NGO-Novelle vom 20. 12. 198413 anzumelden, mit der sich der Gesetzgeber der Entscheidung über die Mindeststärke der Ratsfraktionen und über die Ausschussöffentlichkeit u. a. ausdrücklich entäußert hat.14 Denn die gleichmäßige Erledigung der Verwaltungsaufgaben setzt eine
11 Genauer dazu J.Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (1977) S. 69 ff. 12 Im Wesentlichen damit übereinstimmend etwa: Penski (ZRP 1983, S. 161 ff.), Süß (BayVBl. 1983, S. 513 ff.), Schmitt-Kammler (DÖV 1983, S. 869 ff.), Theis (JuS 1984, S. 422 ff.), Wurzel (BayVBl. 1986, S. 417 ff.) und aus der Rechtsprechung etwa die Urteile des OVG Lüneburg vom 28. Oktober 1986 (NST-N 1987, S. 24 ff.) und vom 25. März 1987 (NST-N 1987, S. 261 ff.) sowie das Urteil des VG Würzburg vom 19. 6. 1985 mit Anmerkungen von J.Hofmann und Reigl (BayVBl. 1986, S. 51 ff.) und der Beschluss des OVG Koblenz vom 15. 11. 1985 (NVwZ 1986, S. 1047 f.). 13 Nieders. GVBl. S. 283. 14 Das gilt umso mehr, als die Landesregierung – wie in der Entwurfsbegründung zu dem
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möglichst einheitliche Binnenorganisation des Verwaltungsorgans Rat auf Landesebene voraus und verbietet insoweit die Anlehnung an parlamentarische Vorbilder. Nicht die Organisationsgewalt der Gemeinde als solche steht ja auch unter besonderem verfassungsrechtlichen Schutz, sondern richtigerweise letztlich nur solche kommunalen Organisationsentscheidungen, die die Erledigung einer den Gemeindebürger betreffenden kommunalen Aufgabe unmittelbar zum Gegenstand haben. Diese These hier näher zu begründen, würde die Grenzen des Referats sprengen.15 Mit der angesprochenen NGO-Novelle wie auch mit der stillschweigenden Aufhebung der Ausführungsbestimmungen zur NGO durch die Landesregierung16 hat diese zumindest Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben, die m. E. die Entwicklung zu einer weiteren Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung befördern könnten.
II.
Die Zurückdrängung der amtsrechtlichen Momente in der Rechtsstellung der Ratsherren
5. Insoweit handelt es sich primär um eine faktische und nicht um eine rechtliche Entwicklung, die mit der wachsenden Bedeutung der politischen Parteien in den Gemeinderäten unmittelbar zusammenhängt. »Die Wahl in den Gemeinderat«, so hat man vor kurzem festgestellt, »ist heute in erster Linie von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei und weniger von der allgemeinen Hochschätzung als Einzelpersönlichkeit abhängig. Damit besteht die Gefahr, dass zentralistische Parteiinteressen über gemeindepolitische Anliegen gestellt werden«.17 Konkret sind es insoweit vor allem die Fraktionen mit ihren Stäben, die zumindest in den großen Städten die kommunalen Entscheidungen vorab festlegen.18 Das gilt nun auch für ganz konkrete, den Bürger unmittelbar berührende Verwaltungsentscheidungen wie etwa den Erlass eines Bebauungs-
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genannten Gesetz (LT-Drs 10/2790, S. 5) ausgeführt – in dieser Novelle einen ersten Schritt zur Realisierung eines umfassenden Konzepts sieht. Siehe insoweit nur die Kritik Bethges (Die Verwaltung 15/1982, S. 221 ff.) an der Begründung der kommunalen Organisationshoheit durch Edzard Schmidt-Jortzig (Kommunale Organisationshoheit, 1979, bes. S. 161 ff.). Die Ausführungsbestimmungen zur NGO (mit Ausnahme der zu den haushaltsrechtlichen Vorschriften der NGO erlassenen) sind nämlich nicht mehr in der neuesten Liste der geltenden Verwaltungsvorschriften für den Aufgabenbereich des Niedersächsischen Ministers des Innern enthalten. So Brohm, DÖV 1986, S. 397 (404). Zu den Grenzen der den Fraktionen durch das Gemeinderecht übertragenen Aufgaben s. genauer das rechtskräftige Urteil des VG Gelsenkirchen vom 13. 2. 1987 (DÖV 1987, S. 830 ff.).
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plans.19 Aber nicht nur die faktische Vorabbestimmung der kommunalen Entscheidungen und der Zusammensetzung des Rats durch Parteien und Fraktionen ist insoweit erwähnenswert, sondern auch die nach der NGO und den einschlägigen Geschäftsordnungen vielfach an den Fraktionsstatus geknüpften Rechte im Rat. Allerdings ist zu beachten, dass insoweit von der NGO Fraktionen und Gruppen gewöhnlich gleichgesetzt werden. Wo das nicht wie bei den Ansprüchen auf Aufwandsentschädigung nach § 39 Abs. 6 und Abs. 7 NGO der Fall ist, bleibt immer noch zu bedenken, dass eine Fraktion ja auch aus parteilosen Ratsmitgliedern, die sich zur Erreichung bestimmter kommunalpolitischer Ziele zusammenschließen – sogenannte freie bzw. unabhängige Wählergemeinschaften-, gebildet werden kann. Rechtlich bedenklich im Sinne einer Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung ist es dann aber, dass Beiträge und Spenden an die unabhängigen kommunalen Wählergemeinschaften trotz deren Fähigkeit zur Fraktionsbildung nach der vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Regelung des § 10b des Einkommensteuergesetzes20 nicht absetzbar sind, sondern eben nur die Beiträge und Spenden an die politischen Parteien.21 Das mag verstehen, wer will, zumindest können über die Wirkung einer solchen Regelung kaum Zweifel bestehen: indirekte finanzielle »Subventionen« der politischen Parteien auf Gemeindeebene befördern natürlich ihre Macht gegenüber den sogenannten Rathausparteien und damit auch besonders ihren noch zu schildernden Einfluss auf die Verwaltung. 6. Aber nicht nur die verstärkte Eingebundenheit der Ratsherren in die politischen Parteien ist für ihre heutige Rolle im kommunalen Verfassungsleben typisch, sondern ebenfalls die unmittelbare Zurückdrängung des ihre Rechtsstellung prägenden amtsrechtlichen Moments. In diesen Zusammenhang gehört das Bemühen der Literatur, eine allgemeine Treuepflicht der Ratsherren zu leugnen.22 Allerdings erkennt die NGO ausdrücklich ebenfalls nur eine besondere Treuepflicht an, nämlich das Vertretungsverbot nach § 39 Abs. 3 NGO i. V. m. § 27 NGO. Sie enthält auch nicht wie etwa die Bayerische Gemeinde-
19 Informativ insoweit die Ausführungen des Oberstadtdirektors von Hannover, LehmannGrube, in: DÖV 1985, S 1 ff. (bes. S. 3 f., 5 ff.). 20 I.d.F. der Bekanntmachung vom 21. Juni 1979 (BGBl. I S. 721). 21 BVerfGE 69, 92 (109 ff.). In der 10. Wahlperiode hatte die Bundesregierung allerdings den »Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Begünstigung von Zuwendungen an unabhängige Wählervereinigungen« (BT-Drs 10/6088) vorgelegt, der diese gesetzliche Ungleichbehandlung beseitigen sollte. Die parlamentarischen Beratungen zu diesem Gesetzentwurf waren am Ende der 10. Wahlperiode noch nicht abgeschlossen. Es bleibt abzuwarten, ob der in der laufenden 11. Wahlperiode von der Bundesregierung erneut vorgelegte entsprechende Entwurf (BT-Drs 11/1316) nun Gesetz wird. 22 Dazu die ausführliche Darstellung bei M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts (1978) S. 388 ff.
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ordnung das Verbot der Stimmenthaltung23 und verzichtet im Unterschied zu mehreren anderen Gemeindeordnungen weiter darauf, eine besondere Präsenzpflicht für die Ratsherren, die ihre Mitarbeit in den Rats- und Ausschusssitzungen sicherstellen soll, zu statuieren.24 Ein Beleg aus neuerer Zeit dafür, dass man auch seitens der Landesregierung nicht immer hinreichend das amtsrechtliche Moment in der Rechtsstellung der Ratsherren beachtet, zeigt ihre Antwort auf eine Kleine Anfrage, die die Interpretation des § 39 Abs. 4 NGO zum Gegenstand hat.25 Nach dieser Vorschrift besteht ja ein Schadensersatzanspruch der Gemeinde gegen Ratsherren, die durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung ihrer Pflichten einen Schaden für die Gemeinde verursacht haben. Der BGH hat nun in einem Urteil aus dem Jahre 1984 entschieden26, dass die Ratsherren bei Beschlussfassung über einen Bebauungsplan als Beamte im haftungsrechtlichen Sinne zu verstehen sind, denen insoweit folglich auch Amtspflichten gegenüber den planbetroffenen Bürgern obliegen. Die Verletzung dieser Pflichten führt darum zu Schadensersatzansprüchen der betroffenen Bürger gegen die Gemeinde nach Amtshaftungsgrundsätzen. Zu den damit den Ratsmitgliedern obliegenden Sorgfaltspflichten hat der BGH in einem weiteren Urteil aus dem gleichen Jahr, das die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 Abs. 1 BBauG betraf, ausgeführt, dass nicht ein laienhaftes Ermessen ausreiche, sondern sachlich begründete, evtl. mit Unterstützung der Verwaltung oder Sachverständiger getroffene Entscheidungen gefordert werden müssten.27 Das wurde vorher schon in der Literatur ähnlich gesehen28, und die Literatur hat die zuletzt genannte Entscheidung des BGH auch so verstanden, dass sie die Rückgriffsmöglichkeit der Gemeinde nach § 39 Abs. 4 NGO gegen die einzelnen Ratsherren konkretisiert.29 Wie sollte man den § 39 Abs. 4 NGO denn wohl auch anders verstehen? Kann 23 Dort Art. 48 Abs. 1 S. 2. Diese Bestimmung verstößt nicht, wie der BayVerfGH entschieden hat (NVwZ 1985, S. 823 f.), gegen die bayerische Verfassung. 24 Siehe etwa § 34 Abs. 3 der Baden-Württembergischen Gemeindeordnung, Art. 48 Abs. 1 S. 1 der Bayerischen Gemeindeordnung, § 33 Abs. 1 des Saarländischen Kommunalselbstverwaltungsgesetzes. 25 Siehe LT-Drs 10/3753. 26 BGHZ 92, 34 ff. Diese Entscheidung ist u. a. abgedruckt in: DVBl. 1984, S. 1119 ff.; DÖV 1985, S. 23 ff.; NJW 1984, S. 2516 ff. 27 Urteil vom 14. 6. 1984, NVwZ 1986, S. 504 (505). Vgl. insoweit auch das Urteil des BayVGH vom 30. 10. 1985 (BayVBl. 1986, S. 726 f.). 28 Vgl. etwa Degenhart, NJW 1981, S. 2666 ff. und R. Michaelis, DVBl. 1978, S. 125 ff. Auch der Versuch Hüttenbrinks (DVBl. 1981, S. 989 ff.), eine öffentlich-rechtliche Haftung der Ratsherren als ehrenamtlicher Organwalter aus den »allgemeinen Grundsätzen« einer positiven Forderungsverletzung zu begründen, gehört in diesen Zusammenhang. 29 Siehe Kortmann/Andrae, NVwZ 1986, S. 451 f. und daneben ergänzend Kosmider, NVwZ 1986, S. 1000 f.
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es denn im Bereich der Verwaltung die Wahrnehmung von Kompetenzen ohne Übernahme einer entsprechenden Verantwortung durch die Organwalter geben? Der Niedersächsische Innenminister ist der Ansicht. In seiner Beantwortung der erwähnten Kleinen Anfrage führt er u. a. aus, dass § 39 Abs. 4 NGO »nur den Fall einer individuellen Pflichtverletzung eines Ratsherrn« regele und deshalb als Rechtsgrundlage für einen Rückgriff bei Schäden, die eine Gemeinde infolge eines Ratsbeschlusses erleide, »nicht in Betracht« komme. Was heißt das konkret? Handelt es sich hier nur um eine kollektive oder um gar keine Pflichtverletzung? Warum sollen fehlerhafte Verwaltungsentscheidungen des Rats wie der Erlass eines nichtigen Bebauungsplans, dessen Inhalt im Grunde ja nur ein Bündel von individuell-konkreten Entscheidungen enthält30, sanktionslos bleiben? Und muss Entsprechendes gelten, wenn der Verwaltungsausschuss über Widersprüche in eigenen Angelegenheiten nach § 57 Abs. 3 NGO fehlerhaft beschließt oder der Rat aufgrund eines Vorbehaltsbeschlusses nach § 40 Abs. 2 NGO über Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Gemeindedirektors oder des Verwaltungsausschusses fallen, entscheidet? Diese Fragen wird man verneinen müssen. Allerdings ist der Gegenansicht zuzugestehen, dass die NGO insofern die rechtliche Interpretation des § 39 Abs. 4 durch das Innenministerium begünstigt, als sie in allen diesen Fällen nicht ausdrücklich namentliche Abstimmung verlangt und – was noch unverständlicher und vor allem mit dem Demokratieprinzip kaum zu vereinbaren ist – nach § 47 Abs. 2 die geheime Abstimmung aufgrund entsprechender Regelungen der Geschäftsordnung zulässt.31 Daneben wird man kaum leugnen können, dass diese »amtliche« Auslegung des § 39 Abs. 4 NGO der heutigen Realität des kommunalen Verfassungslebens entspricht. Denn mit welchem Recht lässt sich noch von der Verantwortung des einzelnen Ratsherrn reden, wenn die politischen Parteien und ihre Fraktionen auf kommunaler Ebene eine so dominierende Rolle in den Räten spielen?32
30 So etwa zu Recht: Niehues, DVBl. 1982, S. 317 (321 f.). 31 Michaelis (DVBl. 1978, S. 131) schlägt u. a. deshalb für die Gemeindeordnungen eine Haftungsbestimmung mit folgendem Inhalt vor: (1) Erleidet die Gemeinde infolge eines Beschlusses der Gemeindevertretung einen Schaden, so haften die Gemeindevertreter persönlich als Gesamtschuldner, wenn sie in vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung ihrer Pflichten gehandelt haben. (2) Ist durch einen Beschluss der Gemeindevertretung der Eintritt von Schaden absehbar, hat der Gemeindevorsteher namentliche Abstimmung zu verlangen; eine geheime Abstimmung ist unzulässig. In der Sitzungsniederschrift ist zu vermerken, wie jeder Gemeindevertreter gestimmt hat. (3) Der Anspruch nach Absatz 1 wird weder durch die Niederlegung noch durch sonstigen Verlust des Mandats berührt. Die Einwendung der Bindung bei der Abstimmung an Parteioder Fraktionsbeschlüsse ist ausgeschlossen. 32 Zur Rolle der Parteien und Fraktionen insoweit auch die schon genannte Rede von Staats-
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7. Bevor man aber mit einer solchen Argumentation »die normative Kraft des Faktischen« anerkennt, scheint es mir zunächst geboten, an die sich aus vielen Vorschriften der NGO und anderer Gesetze ergebenden rechtlichen Unterschiede in der Rechtsstellung der Ratsherren gegenüber der der Abgeordneten zu erinnern:33 Neben den bereits genannten Regelungen zur Ersatzpflicht der Ratsherren und zum Vertretungsverbot als besonderer Form der allgemeinen Treuepflicht ist dafür zunächst auf die fehlende Garantie der Indemnität und Immunität hinzuweisen. Hinzukommen die für die Mitglieder der Gemeindevertretungen geltenden besonderen Inkompatibilitätsvorschriften (§ 35a NGO). Weiter ist in diesem Zusammenhang das ebenfalls nur für die Ratsherren geltende Mitwirkungsverbot zu nennen (§ 39 Abs. 3 NGO i. V. m. § 26 NGO) sowie ihre Verpflichtung auf die gewissenhafte Erfüllung der durch die Mandatsübernahme entstandenen Obliegenheiten zu Beginn ihrer Tätigkeit (§ 42 NGO). Schließlich bestehen auch hinsichtlich der Verschwiegenheitspflicht und Aussagepflicht (Zeugnisverweigerungsrecht) (§ 39 Abs. 3 NGO i. V. m. § 25 NGO) Unterschiede zwischen den Gemeindevertretern und Abgeordneten.34Alle genannten besonderen Bestimmungen für die Ratsherren lassen sich mehr oder weniger deutlich als notwendige Folgerung aus der Befugnis der Gemeindevertretung zu Verwaltungsentscheidungen verstehen. Die Gewährleistung einer objektiven, unbefangenen und gerechten derartigen Entscheidung setzt, wenn sie in die Zuständigkeit des Rats fällt, diese oder ähnliche Regelungen notwendig voraus. Dementsprechend hat Arnold Köttgen mit der ihm eigenen Hellsichtigkeit schon 1952 zur revidierten Gemeindeordnung der Britischen Zone, die ja bereits die Grundstruktur der späteren niedersächsischen und nordrhein-westfälischen Gemeindeordnungen enthielt, betont, dass ohne eine »amtsrechtliche Umdeutung der bisherigen Kommunalparlamente« in diesen Ländern »nachhaltige Folgen für ihren Verwaltungsstil und darüber hinaus für den Rechtsstaat und die Geschlossenheit der deutschen Gesamtverwaltung« zu befürchten seien.35 8. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes fordern nun aber m. E. keine entsprechende Umdeutung im Sinne Köttgens, sondern erlauben allein nur eine entsprechende Interpretation. Oder anders, im Blick auf die heutige Rechtslage ausgedrückt: Die genannten besonderen Regelungen der NGO zur Rechtsstellung der Ratsherren sind mehr oder weniger auch verfassungsrechtlich geboten. sekretär Haaßengier auf der Mitgliederversammlung 1987 des Niedersächsischen Städteund Gemeindebundes, abgedruckt in: dng 1987, S. 290 (291). 33 Übersichtlich zum Folgenden: Wurzel, Gemeinderat als Parlament? (1975) S. 37 ff. und M. Schröder (Anm. 22) S. 379 ff. 34 Genauer zur Aussagepflicht: Wurzel, a. a. O., S. 84 ff. 35 DVBl. 1952, S. 421 ff. (424).
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Zur Begründung dieser These ist zunächst daran zu erinnern, dass unser heutiges Beamtenrecht lediglich eine besondere Ausprägung des für die Ausübung aller Staatsgewalt geltenden Amtsrechts darstellt.36 Verfassungsrechtlich ist das mit der Entscheidung des Artikels 20 Abs. 2 des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie und seiner Aussage zu begründen, dass die Staatsgewalt »durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird. Denn mit der Entscheidung für die repräsentative Demokratie geht die Vorstellung einer Ausübung der Staatsgewalt durch anvertraute öffentliche Ämter einher37 und durch die weitere Aussage des Artikels 20 Abs. 2 S. 2 GG wird dementsprechend »das Prinzip der funktionsbestimmten und funktionsgebundenen Organschaft als Organisationsprinzip für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben« statuiert. Diese Vorschrift verlangt nämlich, »dass die Kompetenznormen, die die Rechtsmacht zur organschaftlichen Ausübung von Staatsgewalt begründen, die funktionsspezifischen Merkmale der jeweiligen Kompetenzen als kompetenzbestimmende Merkmale unmittelbar (mit) normieren und dadurch gewährleisten, dass die je zugewiesene Funktion – und nur diese – bei der organschaftlichen Wahrnehmung von Staatsgewalt in allen Entscheidungslagen gleichmäßig und kontinuierlich ausgeübt wird«. Auf diese Weise besteht eine »durchgängige Bindung der Staatsorgane an die jeweils zugewiesene Funktion und die dadurch begründete funktionsspezifische organschaftliche Entscheidungsmacht«.38 Die ideengeschichtlichen Zusammenhänge, in der diese verfassungsrechtlichen Aussagen mit der Lehre vom öffentlichen Amt in der gemeineuropäischen Staatslehre des 17. und 18. Jahrhunderts stehen, sind bereits von Wilhelm Hennis vor 25 Jahren neu in das Bewusstsein gehoben worden.39 Darauf kann hier nur verwiesen werden. Eine erste wichtige rechtliche Folgerung für das Abgeordnetenmandat zog daraus später im Anschluss an Köttgen Wilhelm Henke mit der Deutung des Abgeordnetenmandats als eines öffentlichen Amts. Dass der Abgeordnete nach Artikel 38 Abs. 1 GG Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist, bedeutet seiner Ansicht 36 Siehe insoweit nur Köttgen, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962 (1962), S. 117 ff. (121 f., 123, 138 ff.). Zu dem speziellen Problem des zwischen Amtsrecht und Beamtenrecht bestehenden Verhältnisses: Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht (1977) bes. S. 127 ff., 160 ff. 37 Das betont neuestens wieder Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2 (1987) S. 40 f.; vgl. ergänzend daselbst auch W.Henke, S. 874, 877 f. i. V. m. S. 880 f. Deutlich insoweit auch schon Köttgen (Anm. 36) S. 129 f. und S. 135 ff. (bes. S. 136 und S. 139). 38 So Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz (1986) S. 7. 39 In: Festgabe für Rudolf Smend (Anm. 36) S. 51 ff. Siehe ergänzend die Ausführungen von W. Henke (Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972, S. 11 ff.).
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nach heute im Blick auf die sich im Parlament manifestierende Volkssouveränität, dass »der Abgeordnete ein staatliches, öffentliches Amt (besonderer Art) innehat, kraft dessen er für das Gemeinwohl zu sorgen verpflichtet ist, dass er dem Bereich gesellschaftlicher Freiheit und Beliebigkeit mit seinen nur sittlichen (oder privatrechtlichen) Bindungen entrückt und in den Bereich institutionalisierter, öffentlich-rechtlich geordneter, öffentlicher Verantwortung eingetreten ist«.40 Was nun für das Abgeordnetenrecht zutrifft, muss erst recht für die Rechtsstellung der Ratsherren gelten. Denn sie sind – wie gesagt – Teil der vollziehenden Gewalt und die »durch die Kompetenz zugewiesene Aufgabe verlangt (erg.: kraft Verfassung eben) eine aufgabengerechte Entscheidungsstruktur und damit auch eine aufgabengerechte Organisation und ein aufgabengerechtes Verfahren der Staatsorgane«.41Ich habe an anderer Stelle zu diesem Gedanken ergänzend ausgeführt, dass notwendig ein Komplementärverhältnis zwischen dem für die Erledigung öffentlicher Aufgaben einschlägigen Recht und dem Dienstrecht, das für den diese Aufgaben erfüllenden Personenkreis gilt, bestehen muss.42 Bezüglich der öffentlich-rechtlichen Bindung darf es also insoweit grundsätzlich keine Unterschiede geben. Dementsprechend weicht etwa das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst in vielen Punkten von dem der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft ab. Dieser Gedanke greift auch für die Rechtsstellung der Ratsherren Platz. Für sie gelten zwar nicht wie für die Bediensteten der Gemeindeverwaltung das Beamtenrecht und der BAT u. a., wohl aber aus ihrer Stellung als Organwalter folgende amtsrechtliche Bindungen. Diese sind nun auch, da die Ratsherren Teile eines Exekutivorgans sind, notwendig strenger als das für die Parlamentsabgeordneten geltende Amtsrecht. Das zeigt bereits Artikel 20 Abs. 3 GG, nach dem das Parlament als Legislative lediglich an die »verfassungsmäßige Ordnung«, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung dagegen auch an »Gesetz und Recht« gebunden sind. Im Ergebnis folgt aus diesen Überlegungen zwingend, dass die geschilderte Auslegung des § 10b des Einkommensteuergesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, die Leugnung einer für den Ratsherrn bestehenden allgemeinen Treuepflicht, die restriktive Auslegung des § 39 Abs. 4 NGO u. a. verfassungsrechtlich bedenklich sind. Genauso verfassungsrechtlich bedenklich wäre es, wenn man die genannten besonderen Vorschriften der NGO, die aus der Rechtsstellung des Ratsherrn als Organwalter einer Selbstverwaltungskörperschaft folgen, aufheben würde. 40 So Henke, a. a. O., S. 122. Vgl. auch derselbe, DVBl. 1973, S. 553 (558 ff.) und NVwZ 1985, S. 616 (620). 41 So wiederum Barbey (Anm. 38) S. 20 Anm. 34. 42 Janssen, Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen (1982) S. 35 f., 42 ff.
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III.
Das veränderte Verhältnis von Rat und Verwaltung
Für die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung spricht nun besonders die anfangs genannte dritte Entwicklungslinie; sie zeigt, dass sich das Verhältnis von Rat und Verwaltung dem von Parlament und Regierung verstärkt angenähert hat. 9. Dafür gibt es viele faktische und rechtliche Belege. Ich möchte die Problematik hier nur an zwei Beispielen aus jüngerer Zeit illustrieren. Das erste betrifft die Modalitäten, die nach den Zeitungsberichten vor kurzem die Abwahl des Göttinger Oberstadtdirektors ermöglichten. In einer Meldung des Göttinger Tageblatts vom 17. September 1987 wird unter der Überschrift »Einigung: SPD und CDU wählen Oberstadtdirektor ab« darüber folgendes berichtet: »Nach jeweils dreistündigen Sitzungen in ihren Fraktionsräumen konnten sich die Spitzen von CDU und SPD zusammensetzen und eine gemeinsame Vereinbarung unterzeichnen … Das Papier regelt die Modalitäten, unter denen der Oberstadtdirektor … abgewählt wird und neue Dezernentenstellen besetzt werden sollen … Der künftige Oberstadtdirektor wird (erg.: danach) von der SPD gestellt. Das Vorschlagsrecht für die Nachfolge des aus Altersgründen ausscheidenden Rechtsdezernenten erhält die CDU. Den neu zu schaffenden Umweltdezernenten kann die SPD vorschlagen. Beide Parteien behalten es sich vor, ihr Vorschlagsrecht an Dritte abzugeben. Konkret heißt das, dass die CDU ihr Vorschlagsrecht an die F.D.P. und die SPD ihr Vorschlagsrecht an die GAL abtreten wird …«
Weiter wird in dem genannten Artikel ausgeführt, dass sich für das Rechtsdezernat »als aussichtsreicher Kandidat« ein Göttinger Ratsherr beworben habe. Dennoch, so wird berichtet, plädierte ein anderer Ratsherr »dafür, dass Oberstadtdirektor, Rechtsdezernat und Umweltdezernat von Fachleuten besetzt werden müssten, die weder mit Göttinger Rat noch Verwaltung verquickt« seien. Diesem Argument ist jedoch nach dem Zeitungsbericht von einer Fraktion im Rat der Stadt Göttingen entgegengehalten worden, dass »ihr ein Sitz in der Verwaltungsspitze zustehe«. Schließlich hätte die Fraktion »über lange Jahre die Politik dieser Stadt mitbestimmt«. Darum dürfe etwa auf das eingeräumte Vorschlagsrecht für das Rechtsdezernat »nicht von außen Einfluß genommen werden«. Diese Mitteilung enthält nun m. E. mehrere interessante Aussagen für unser Thema: Erstens bestimmen faktisch die Fraktionen und nicht der Rat, ob und zu welchen »Bedingungen« der Oberstadtdirektor abgewählt wird. Zweitens wird darüber vorab eine »Vereinbarung« geschlossen. Drittens wird zusammen mit den »Modalitäten« der Abwahl im Voraus die zukünftige Besetzung frei werdender bzw. neu zu schaffender Dezernentenstellen geregelt. Auch insoweit ist nicht an eine wirkliche Wahl durch den Rat
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gedacht, sondern es werden Vorschlagsrechte für die einzelnen Ratsfraktionen vorab vergeben mit der Möglichkeit der Delegation dieses Rechts. Viertens wird dem Einwand, dass die frei werdenden Posten mit unabhängigen »Fachleuten« besetzt werden sollten, von einer Partei im Rat der Stadt, die für einen ihrer Ratsherren das (nun wahrlich den Fachmann erfordernde) Rechtsdezernat ausersehen hat, mit dem Argument begegnet, dass ihr deshalb »ein Sitz in der Verwaltungsspitze zustehe« und deshalb »ein Einfluss von außen« nicht in Betracht käme, weil sie »über lange Jahre die Politik dieser Stadt mitbestimmt« habe. Soweit zu dieser Zeitungsmeldung. Ob sie die Göttinger Geschehnisse richtig wiedergibt, vermag ich abschließend nicht zu entscheiden, doch sprechen dafür viele andere Presseberichte über diese Ereignisse.43 Dem Eingeweihten und auch dem sorgfältigen Zeitungsleser ist zudem bekannt, dass eine solche Praxis keinesfalls so singulären Charakter besitzt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Gleichsam wie ein Kommentar zu dem wiedergegebenen Zeitungsbericht aus der Sicht der Verwaltung liest sich nun eine vor kurzem veröffentlichte – unter Insidern allerdings schon länger bekannte – Rede des Kölner Oberstadtdirektors Rossa im Rat dieser Stadt vom März 1987, in der er zur von den dortigen Ratsfraktionen angestrebten sog. Dezernatsneuordnung Stellung genommen hat.44 In dieser Rede heißt es u. a.: »Sie alle wissen, dass ihre Dezernatsneuordnung mit der Aufschrift ›Straffung der Verwaltung‹ falsch etikettiert ist. Darum ging es nicht. Ein in Ungnade gefallener Beigeordneter sollte weg. Auf der Basis dieser parteipolitisch motivierten und falschen Vorentscheidung mussten unter dem Proporzzwang dann noch zwei Dezernate beseitigt werden … Ich kann … zu dieser ausgehandelten Reform unter vielen Aspekten nicht schweigen … Jeder Arbeitnehmer, … auch der Beigeordnete also, hat Anspruch darauf, nur nach Maßgabe seiner beruflichen Fähigkeiten belastet zu werden. Und der Oberstadtdirektor hat das Recht, für die Bewältigung der uns von Ihnen und der Gemeindeordnung anvertrauten großen kommunalen und staatlichen Aufgaben einen qualifizierten und ausreichenden Stab von Mitarbeitern bewilligt zu bekommen, der unser Scheitern nicht vorprogrammiert und das zu Verantwortende nicht zum Glücksspiel zu Lasten der Bürger und unserer persönlichen Existenz macht. Wir alle haben einen Beruf erlernt, wir sind keine Glücksspieler. Wir haften für unsere Handlungen, wir sind sogar strafrechtlich für unsere Leistungen verantwortlich. Wir sind für unsere Fehler auch 43 Vgl. etwa Hannoversche Allgemeine vom 18. und 29. September sowie vom 17. Oktober 1987 und vom 6. Februar 1988; Nordwest-Zeitung vom 30. September 1987 sowie Göttinger Tageblatt vom 17. Oktober und 23. Dezember 1987. 44 Die Rede ist abgedruckt in: Städte- und Gemeinderat (Fachzeitschrift für Kommunal- und Landespolitik in Nordrhein-Westfalen) 1987, S. 239 ff.
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und insbesondere dann haftbar, wenn wir Aufgaben übernehmen, denen wir nicht gewachsen sein können. Man setzt keinen Rennfahrer an den Steuerknüppel eines Großflugzeugs. Sie haben das aber vor … Erstaunlich an der Dezernatsneuordnung ist eines: Wieso fand diese wichtige Diskussion in kleinen Führungszirkeln hinter verschlossenen Türen statt? Wieso diskutierte man darüber nicht in öffentlichen Sitzungen, nämlich da, wo Organisationsformen der Verwaltung hingehören: z. B. vor die Mitglieder des Ausschusses Allgemeine Verwaltung … Ich rede über Fachkompetenz. Sie haben diese Frage zugunsten des Festhaltens an einem politischen Einflussbereich entschieden … Wenn Sie uns nun noch stärker als bisher nach dem Grad der Vasallentreue sortieren und parteipolitisch noch stärker als bisher vereinnahmen und damit trennen, werden sie das Gegenteil von dem erreichen, was Sie mit der Dezernatsneuordnung zu erreichen versprochen haben: Sie machen uns ineffizient. Sie strafen, wo Sie straffen wollten … Der Schlüssel zur Wahrheit für diese Art der Dezernatsneuordnung, für das Verfahren, für den Ernst und die Verbissenheit, mit der zwischen Ihnen um politische Besitzstände in der Verwaltung gerungen wurde, liegt letztlich in der praktizierten Kölner Gemeindeordnung, die jeden leitenden Mitarbeiter als geborenen Fraktionsassistenten verpflichtet. Gegenwärtig sitzen in Arbeitskreisen und Fraktionen des Rates und der Bezirksvertretungen 103 leitende Verwaltungsmitarbeiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Von der Verwaltungsführung her völlig unkontrollierbar … Wenn wir hier zu keiner durchgreifenden Reform kommen, wird die Verwaltung nie mehr eine sachgerechte Organisation vom Rat bekommen.«
Das Fazit des Kölner Oberstadtdirektors aus dieser Entwicklung lautet u. a.: »An den Landtag in Düsseldorf richte ich den Appell: Verschrotten Sie endlich diese Gemeindeordnung!« Dieser letzte Ausspruch betrifft nun eine Gemeindeordnung, die bekanntlich in ihrem wesentlichen Inhalt mit der NGO übereinstimmt. 10. Das sind zugegebenermaßen recht pointierte Äußerungen! Man kann die darin angeprangerte Praxis auch etwas abstrakter mit der Literatur dahingehend kennzeichnen, dass es in jüngster Zeit namentlich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen verstärkt zu einer Politisierung der Verwaltung und einer Bürokratisierung der Politik gekommen ist.45 Das zeigt sich, wie die geschilderten Beispiele verdeutlichen, bei Personal- und Organisationsentscheidungen und darüber hinaus auch bei konkreten, den Bürger unmittelbar betreffenden Verwaltungsentscheidungen, worauf von anderer Seite bereits hingewiesen worden ist.46 Nun wäre es allerdings lebensfremd, angesichts dieser Entwicklung be45 So besonders Wallerath, DÖV 1986, S. 533 (542). 46 Etwa von Lehmann-Grube, DÖV 1985, S. 3 f., 5; vgl. daneben den in DÖV 1987, S. 1005 (1006, 1007, 1009) abgedruckten Auszug aus den »Bemerkungen 1987 des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein«.
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haupten zu wollen, dass eine saubere rechtliche Trennung des ehrenamtlichpolitischen Elements auf der einen Seite vom hauptamtlich-administrativen auf der anderen im Kommunalverfassungsrecht alle Probleme aus der Welt schaffen würde, – obwohl nicht zu leugnen ist, dass gerade diese Trennung die Substanz kommunaler Aufgabenteilung in allen Gemeindeordnungen der Bundesrepublik ausmacht.47 Die kommunale Wirklichkeit zeigt nun einmal, dass die beiden genannten Elemente in allen wichtigen Entscheidungen der Gemeinde praktisch ständig ineinanderfließen. Und die kommunale Wirklichkeit zeigt auch – das haben die Untersuchungen von Banner, Wallerath, Schmidt-Eichstaedt u. a.48 belegt -, dass dieses Faktum negative Folgen für die Qualität derartiger Entscheidungen gerade in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zeitigt – in jenen Ländern also, deren Gemeindeordnungen nicht nur eine Aufgabenteilung zwischen Rat und Verwaltung nach hauptamtlich-administrativem und ehrenamtlich-politischem Element beinhalten, sondern die zusätzlich den dafür zuständigen Organen jeweils eine besondere Führungspersönlichkeit – den Ratsvorsitzenden einerseits, den Gemeindedirektor (Hauptverwaltungsbeamten) andererseits – zugeordnet haben. Dieses Verhältnis ist dann in der NGO noch dahingehend modifiziert worden, dass der Rat Geschäfte der laufenden Verwaltung, für die nach § 62 Abs. 1 Nr. 6 NGO der Gemeindedirektor durchaus funktionsgerecht zuständig ist, sich zur Beschlussfassung vorbehalten kann, und er – was noch wichtiger ist – den Gemeindedirektor nach § 62 Abs. 2 ohne Gründe mit einer Dreiviertelmehrheit abwählen kann. Eine ähnliche Abwahlregelung findet sich auch in der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen. Was diesen letzten Punkt betrifft, so ist bis heute die auch in den parlamentarischen Beratungen des § 62 Abs. 2 NGO aufgeworfene Frage unbeantwortet geblieben, ob mit einer solchen Vorschrift nicht die konsequente Wahrnehmung des Beanstandungsrechts durch den Gemeindedirektor und die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Pflichten im übertragenen Wirkungskreis (die ja wiederum Voraussetzung für die Möglichkeit einer parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung ist) in Frage gestellt wird.49 Das müsste umso 47 Siehe dazu nur Wallerath, DÖV 1986, S. 537 f. mit weiteren Nachweisen. 48 Siehe Banner DÖV 1985, S. 364 ff., bes. S. 370 ff. und in: Städte- und Gemeinderat (Anm. 44) 1987, S. 229 ff., 234 ff.; Wallerath, DÖV 1986, bes. S. 543 f.; Schmidt-Eichstaedt, AfK 1985, S. 20 ff., bes. S. 32 ff. Vgl. daneben die unter dem Titel »Politik und kommunale Selbstverwaltung« veröffentlichte Stellungnahme des Sachverständigenrates zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung beim Institut für Kommunalwissenschaften der KonradAdenauer-Stiftung (1984) bes. S. 29, 45 ff. und zuletzt B. Richter, Demokratische Gemeinde 11/1987, S. 8 ff. 49 Zusammenfassend zu dieser Frage: Stober, Kommunale Ämterverfassung und Staatsverfassung am Beispiel der Abwahl kommunaler Wahlbeamter (1982). Vgl. daneben aus der neueren Literatur: Lichterfeld, DVBl. 1982, S. 1021 ff. und Benne, NSTV-N 1983, S. 4 ff. sowie aus der jüngeren Rechtsprechung die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
mehr gelten, wenn die NGO etwa durch eine Harmonisierung der Wahlzeiten von Gemeinderat und Verwaltungsspitze in Richtung auf eine mehrheitsbezogene »Stadtregierung« fortgebildet würde – auch das ist ja in der Literatur bereits gefordert worden.50 Auf die schwerwiegenden rechtlichen Bedenken gegen solche Forderungen ist noch besonders einzugehen; sie lassen sich zum Teil auch schon aus unserer bereits begründeten These herleiten, dass der Rat ein Verwaltungsorgan darstellt und für seine Mitglieder ein besonderes Amtsrecht gelten muss. Daneben bieten diese dem parlamentarischen Regierungssystem entlehnten Konstruktionen aber auch »eine geringere Gewähr für Kontinuität und Sachgerechtigkeit der Verwaltungsführung«51 und heben daneben den eigentlichen Konstruktionsfehler im Verhältnis von Rat und Verwaltung nicht auf. Dieser liegt ja wegen des häufigen Zusammentreffens von politischen und bürokratischen Elementen in kommunalen Entscheidungen in dem Festhalten an der doppelten Gemeindespitze. Angesichts der geschilderten Entwicklung im Verhältnis von Rat und Verwaltung kann die rechtspolitische Forderung darum nur auf eine natürliche Verzahnung zwischen politischer und administrativer Ebene in der kommunalen Führungsspitze hinauslaufen, die die vielfach beobachtete Tendenz zu den sog. »informalen Allianzen«52, wie sie auch bei der geschilderten Abwahl in Göttingen und bei der Kölner Dezernatsneuordnung zutage trat, verhindert. Andererseits muss aber gewährleistet sein, dass die aufgezeigte gemeindeverfassungsrechtliche Funktionsverteilung zwischen ehrenamtlich-politischem und hauptamtlich-administrativem Element gewahrt bleibt bzw. wieder gestärkt wird. 11. Um mit der letzten Forderung zu beginnen, so ist zunächst zu fragen, ob dem Rat weiterhin ein Zugriffsrecht auf die nach § 62 Abs. 1 Nr. 6 NGO grundsätzlich dem Hauptverwaltungsbeamten zustehenden Geschäfte der laufenden Verwaltung als typisch administrativer Kompetenz zustehen soll. Zur Zurückdrängung des parteipolitischen Einflusses auf die Personalentscheidungen der Verwaltung wäre daneben mit einem Teil der Literatur zumindest zu fordern, dass Ernennungen unterhalb der Ebene der Wahlbeamten ohne Zu23. Januar 1985 (NVwZ 1985, S. 275 f.) und des VGH Kassel vom 3. Juli 1985 (NVwZ 1985, S. 604 f.). 50 So etwa von Borchmann/Vesper, Reformprobleme im Kommunalverfassungsrecht (1976) S. 71 ff. Für die großen Städte stellt eine solche Lösung auch Schmidt-Eichstaedt zur Diskussion (AfK 1985, S. 30 f.), wenn er sie im Ergebnis auch ablehnt (a. a. O., S. 35). Vgl. zur Diskussion dieser Frage weiter : Schönfelder (Rat und Verwaltung im kommunalen Spannungsfeld, 1979, S. 138 ff.) und den vom Nieders. Minister des Innern 1978 herausgegebenen Bericht: Niedersächsische Sachverständigenkommission zur Fortentwicklung des Kommunalverfassungsrechts, S. 148 ff., auch S. 157 ff. 51 So zu Recht Wallerath, DÖV 1986, S. 544 f. 52 Ausdruck von Wallerath, a. a. O., S. 544.
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stimmung des Hauptverwaltungsbeamten ausgeschlossen werden.53 Zu fragen wäre auch, ob nicht neu eingerichtete oder frei werdende Planstellen grundsätzlich erst nach einer Ausschreibung der entsprechenden Stelle besetzt werden sollten, – es sei denn, dass die Bewerber »ein wettbewerbsmäßiges Auswahlverfahren für die Zulassung zum Aufstieg in Führungspositionen erfolgreich durchlaufen« haben.54 Wichtigste Folgerung für eine funktionsgerechte Aufgabenteilung zwischen Kommunalpolitikern und Verwaltung ist nach dem Gesagten aber eine Veränderung der kommunalen Führungsebene als der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung. Will man insoweit grundsätzlich an dem in der NGO und der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen realisierten »Prinzip der ›kontrapunktischen‹ Organisation«55 festhalten, so muss zumindest gefordert werden, dass die Abwahlmöglichkeit des kommunalen Hauptverwaltungsbeamten beseitigt wird.56 Nachzudenken wäre insoweit auch über Möglichkeiten einer kollegialen Führungsstruktur in dem Sinne, dass das hauptamtliche Element mit dem ehrenamtlichen der Politiker in der Führungsspitze zusammengeführt wird, wie es ansatzweise etwa im »Stadtvorstand« der rheinland-pfälzischen Städte und dem für die schleswig-holsteinischen Städte geltenden Kommunalrecht geschieht. Ganz sicher sind das aber nur Teilreparaturen. Konsequent zu Ende gedacht und nach den vorliegenden Erfahrungen den aufgestellten Forderungen am besten gerecht werdend ist zweifellos die Lösung der Bayerischen und vor allem der Baden-Württembergischen Gemeindeordnung, nach der ja der direkt vom Volk gewählte Bürgermeister geborener Vorsitzender des Rats und aller seiner Ausschüsse und zugleich Chef der Verwaltung ist.57 Es kann mit 53 Regelungsbeispiele bieten insoweit etwa die Gemeindeordnungen von Baden-Württemberg (§ 24 Abs. 2) und Rheinland-Pfalz (§ 47 Abs. 2 S. 2). 54 So etwa Wallerath, a. a. O., S. 545. 55 So wiederum Wallerath (a. a. O., S. 544) im Anschluss an Schmidt-Eichstaedt (AfK 1985, S. 26). 56 Kann man sich selbst dazu nicht entschließen, so wäre an eine Modifikation des § 61 Abs. 2 NGO in dem Sinne zu denken, dass man die Abwahl des Gemeindedirektors gesetzlich nur zulässt, »wenn dies aus Gründen, die in seiner Person liegen, im Interesse der Gemeinde erforderlich erscheint«. Damit wäre politischer Willkür, die nach den bisher vorliegenden Erfahrungen durch das Drei-Viertel-Quorum ja keineswegs ausgeschlossen ist, ein Riegel vorgeschoben. Der vorgeschlagene Passus »im Interesse der Gemeinde erforderlich erscheint« würde die aus Praktikabilitätsgründen wohl notwendige Beschränkung der materiellen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung einer solchen Maßnahme sicherstellen (unbestimmter Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum). Zusätzlich könnte man die Abwahl auch noch in Anlehnung an § 118 Abs. 2 NGO von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde abhängig machen. Denn der Gemeindedirektor erfüllt ja zu einem großen Teil Aufgaben im übertragenen Wirkungskreis, für deren Erledigung der Rat nach der NGO gerade keine Verantwortung besitzt. 57 Genauer zu seiner Rechtsstellung und seiner tatsächlichen Position: Wehling/Sievert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg (2. Aufl. 1987).
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dieser Feststellung hier sein Bewenden haben. Denn diese These ist ja gerade in jüngster Zeit von jenen Autoren, die das Verhältnis von Rat und Verwaltung zum Gegenstand kritischer Überlegungen gemacht haben, häufig begründet worden.58 12. Wichtiger und bisher kaum angesprochen ist mir in diesem Zusammenhang aber noch ein anderer Aspekt: Die aufgezeigten Notwendigkeiten einer Reform des niedersächsischen Kommunalverfassungsrechts können nun nicht unverbindliche gedankliche Konstruktionen aufgrund bestimmter Entwicklungen in der kommunalen Wirklichkeit bleiben, sondern diese Überlegungen lassen sich durch konkrete verfassungsrechtliche Aussagen untermauern. Dass dieser Gesichtspunkt wie bei den ersten beiden Entwicklungslinien bisher kaum zur Sprache gekommen ist, liegt wohl primär daran, dass die Staatsrechtswissenschaft seit 1945 weitgehend zur Rechtsstaatswissenschaft (Forsthoff)59 verkümmert ist und darum über grundrechtlichen Spekulationen die Interpretation der Kompetenz- und Organisationsregeln unserer Verfassung vernachlässigt hat.60 Die Erfüllung dieser Aufgabe fordert nun freilich auch den in der Staatswirklichkeit verwurzelten Juristen. Denn hier passiert ja bekanntlich mehr und auch anderes, als etwa in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder in den meisten sozialwissenschaftlichen Erhebungen zur Sprache kommt. Verfassungsrechtlich gesehen ist nun für unseren Fragenkreis von der Überlegung auszugehen, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Kommunalrecht zwar keine Gewaltenteilung, wohl aber eine Funktionenteilung im dargelegten Sinne fordern. Eine erste allgemeine Aussage läßt sich insoweit aus der unmittelbaren demokratischen Legitimation des Gemeinderats gewinnen. Denn die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Gemeindevertretung kann »nicht dadurch unterlaufen werden … , dass sie keine Kompetenzen« erhält.61 Vielmehr spricht ihre besondere demokratische Legitimation dafür, dass sie die wesentlichen Kompetenzen auf kommunaler Ebene wahrnimmt. Nach Frowein gehören darum etwa »Satzungsrecht, Verabschiedung des Haus58 Siehe etwa Banner, DÖV 1984, S. 364 ff., bes. S. 370 ff. und Städte- und Gemeinderat (Anm. 44) 1987, S. 231 f., 234 ff.; Wallerath, DÖV 1986, S. 543 f.; Schmidt-Eichstaedt, AfK 1985, S. 32 ff.; Schönfelder (Anm 50) S. 157 ff., 222 und die Stellungnahme: Politik und kommunale Selbstverwaltung (Anm. 48) S. 46 ff., 51 ff. 59 Der genaue Titel des Aufsatzes von Forsthoff aus dem Jahr 1968 lautet: Von der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft. Er ist wiederabgedruckt in: derselbe, Rechtsstaat im Wandel (2. Aufl. 1976) S. 188 ff., zu dieser Entwicklung bes. S. 198 ff. und der im gleichen Band (S. 175 ff., bes. S. 183) veröffentlichte Aufsatz aus dem Jahr 1963: Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung. 60 So zumindest die Sicht von Forsthoff, vgl. die in Anm. 59 genannten Nachweise und derselbe, Der Staat der Industriegesellschaft (1971) S. 146 ff. 61 So richtig Frowein, Parteienproporz in der Gemeindespitze und Verfassung (1976) S. 18.
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haltsplans und Bestellung der leitenden Organe, soweit sie nicht unmittelbar gewählt werden«, zu den dem Rat verfassungsrechtlich vorbehaltenen Aufgaben.62 In einem zweiten Schritt ist der bereits mehrfach betonte Charakter der Kommune als Selbstverwaltungskörperschaft zu bedenken. Diese Aussage wird ergänzt und unterstützt durch die u. a. vom Bundesverfassungsgericht vertretene These, dass in der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung auch die Abwehr radikaler Konsequenzen des Parteienstaates zu sehen ist.63 Daneben ist insoweit an unsere aus Artikel 20 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes gewonnenen Aussagen anzuknüpfen, die ja auf die Forderung nach einem für die Ausübung aller Staatsgewalt geltenden Amtsrecht hinausliefen, welches je nach Eigenart der wahrgenommenen Kompetenzen strengere oder weniger strenge Anforderungen an den Amtsinhaber stellt. Damit übereinstimmend hat Köttgen richtig betont, dass die Gemeindevertretung keine Kompetenz wahrnehmen könne, deren Erfüllung das Bestehen einer entsprechenden Dienstpflicht erfordere. Derartige Pflichten bilden ja, wie er sagt, die »Grundlage jeder Verwaltungsführung« im engeren Sinne. Denn, so fährt er fort, »es gibt ohne Strukturzerstörung keine Weisungsgewalt des Staates gegenüber dem einzelnen Gemeindevertreter und erst recht nicht gegenüber dem Kollegium. Beschlüsse können daher zwar von Staats wegen beanstandet oder ersetzt werden, angewiesen werden kann allein der Beamte … Hier liegt auch die Berechtigung einer weiteren selbständigen Zuständigkeit der Gemeindeverwaltung, das Recht und die Pflicht zur Beanstandung gesetzwidriger Beschlüsse der Gemeindevertretung«.64 Das Spezifische dieser Dienstpflicht drückt sich nun auch darin aus, dass der sie wahrnehmende Personenkreis gemäß Artikel 33 Abs. 2 des Grundgesetzes »nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung« ausgesucht werden muss. Wenn Artikel 33 Abs. 2 des Grundgesetzes allerdings nach herrschender Meinung für die kommunalen Wahlbeamten nur bedingt gilt, weil er insoweit von dem Demokratieprinzip »überlagert« wird65, so bleibt doch für die Auswahl dieses Personenkreises zumindest die verfassungsrechtliche Forderung, auf die in § 61 Abs. 4 NGO formulierten Qualifikationsmerkmale für kommunale Wahlbeamte streng zu achten, da sie unabdingbare Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der Gemeindeverwaltung als solche formulieren. Das haben 62 Frowein, in: Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2 (2. Aufl. 1982) S. 82. 63 BVerfGE 11, 266 (273) und 351 (365). Dazu wiederum Frowein, DÖV 1976, S. 44 (45). 64 Köttgen, DVBl. 1952, S. 423. Konkreter verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt könnte insoweit Art. 33 Abs. 4 GG sein, s. dazu besonders Stober (Anm. 49) S. 57 ff. 65 So die h. M., s. nur Frowein, Parteienproporz (Anm. 61) S. 29 und Maunz, in: derselbe u. a. Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, Art. 33 Rdnr. 14 (1966).
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ja auch die zitierten Äußerungen des Kölner Oberstadtdirektors deutlich gemacht. Verbindet man nun diese einzelnen verfassungsrechtlichen Aussagen mit dem letztlich ebenfalls aus Artikel 20 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes folgenden Gebot der funktionsgerechten Funktionsausübung66, so kommt man im Ergebnis wohl nicht um die Feststellung herum, dass die aufgezeigten rechtspolitischen Forderungen zur Korrektur des Verhältnisses von Rat und Verwaltung verfassungsrechtlich begründbar sind, weil sie ja eben diesen Maßstab zur Grundlage hatten. Hat man einmal erkannt, dass die Ausübung von Staatsgewalt im Gegensatz zu der vom Recht vorgefundenen menschlichen Freiheit »nur durch besondere Rechtsvorschriften begründet und den Staatsorganen zu aufgabengerechter Wahrnehmung in rechtlich geordneten Verfahren zugewiesen«67 wird, dann sollte dieses methodische Vorgehen keine Zweifel erwecken. Derartige Zweifel dürften wohl erst dann entstehen, wenn angesichts der liberalen Abgrenzungsfunktion der Grundrechte zu ihrer Interpretation entsprechende Methoden der Verfassungsauslegung praktiziert würden. Ich komme zum Schluss: Die NGO sollte man sicher nicht, wie es der Kölner Oberstadtdirektor ja für die Nordrhein-Westfälische Gemeindeordnung wünscht, »verschrotten«. Sie ist aber in wesentlichen Teilen reformbedürftig, und das ist weitgehend nicht nur eine rechtspolitische Forderung. Wer wollte angesichts dieser Sach- und Rechtslage an dem »Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung« noch zweifeln?
66 Eine indirekte Bestätigung für diese Interpretation des Artikels 20 Abs. 2 S. 2 GG liefert auch Art. 137 Abs. 1 GG. Denn diese Vorschrift soll nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die »organisatorische Gewaltenteilung« sicherstellen und ist deshalb auch im kommunalen Bereich anzuwenden, vgl. etwa BVerfGE 12, 73 (77); 18, 172 (183); 48, 64 (82 f.); 57, 43 (62). Die Bemühungen um die richtige Interpretation des Art. 137 Abs. 1 GG haben dann ja in der Literatur dementsprechend das hier im Text aufgegriffene Stichwort der »funktionsgerechten Funktionsausübung« geprägt, s. dazu allgemein: Schlaich, AöR 105 (1980) S. 188 (223 ff.) und für den kommunalen Bereich: M. Schröder (Anm. 22) S. 434 ff., bes. S. 441. Die Frage, inwieweit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG über das Gebot der funktionsgerechten Funktionsausübung hinaus eine Trennung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung auf Bundes- und Landesebene nach inhaltlichen Kriterien gebietet, steht auf einem anderen Blatt, dazu demnächst die Arbeit des Verfassers: Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts. 67 Barbey (Anm. 38) S. 20 (Hervorhebung A.J.!)
2. Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung
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Thesen I. 1. Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung zeigt sich zunächst in dem Bemühen der Gemeinderäte, sich wie die Parlamente in Bund und Ländern auch mit allgemeinen politischen Fragen zu befassen. Das belegen Ratsbeschlüsse zu verteidigungspolitischen Fragen, zur Novellierung des § 116 AFG, zur Volkszählung und zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen der niedersächsischen Landesregierung gegen DKP-Politiker. 2. Der Gemeinderat besitzt zwar eine gegenüber den Parlamenten in Bund und Ländern gleichwertige demokratische Legitimation; er ist aber kraft Verfassung ein Verwaltungsorgan. 3. Seine Kompetenzen sind durch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Artikel 28 Abs. 2 GG, Artikel 44 VNV) abschließend festgelegt. Danach ist es ihm versagt, lediglich als Institution allgemeiner staatsbürgerlicher Repräsentation tätig zu werden. 4. Dem Charakter des Rats als Verwaltungsorgan widerspricht auch, dass sich der Gesetzgeber durch die NGO-Novelle vom 20. 12. 1984 der Entscheidung über die Mindeststärke der Ratsfraktionen und über die Ausschussöffentlichkeit entäußert hat.
II. 5. Die Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung ist daneben durch die Zurückdrängung der amtsrechtlichen Momente in der Rechtsstellung der Ratsherren befördert worden. Diese Entwicklung hängt mit der wachsenden Bedeutung der politischen Parteien in den Gemeinderäten zusammen, deren steuerliche Bevorzugung gegenüber den sog. Rathausparteien sogar vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden ist. 6. Der angesprochenen Tendenz entspricht die häufige Negierung einer für die Ratsherren bestehenden allgemeinen Treuepflicht in der Literatur und die restriktive Auslegung des § 39 Abs. 4 NGO (Haftung der Ratsherren) durch den Niedersächsischen Innenminister. 7. Rechtlich ist dagegen zunächst an die nach der NGO bestehenden Unterschiede in der Rechtsstellung der Ratsherren gegenüber der der Abgeordneten in Bund und Ländern zu erinnern. Nur für Ratsherren gibt es ein Vertretungs- und Mitwirkungsverbot, besondere Inkompatibilitätsvorschriften, eine (besondere) Verschwiegenheitspflicht und Regelungen zur Verpflichtung auf die gewissen-
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hafte Erfüllung der mit dem Mandat verbundenen Obliegenheiten u. a., und es fehlt für sie die Garantie der Indemnität und Immunität. 8. Daneben folgt aus Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes zwingend, dass für die Ratsherren ein besonderes Amtsrecht gelten muss, das über die unter 7. genannten Pflichten hinaus das Bestehen einer allgemeinen Treuepflicht voraussetzt und eine restriktive Auslegung des § 39 Abs. 4 NGO sowie die Bevorzugung der politischen Parteien vor den sog. Rathausparteien verbietet.
III. 9. Die entscheidende Ursache für die bedenkliche Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung schließlich liegt in dem Umstand begründet, dass sich das Verhältnis von Rat und Verwaltung dem von Parlament und Regierung angenähert hat. Als neueres Anschauungsmaterial können dafür die Presseberichte über die Abwahl des Göttinger Oberstadtdirektors und eine Rede des Kölner Oberstadtdirektors zur von den dortigen Ratsfraktionen angestrebten Dezernatsneuordnung dienen. 10. Die in dieser Entwicklung auf kommunaler Ebene zutage tretende Bürokratisierung der Politik und Politisierung der Administration ist in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen deshalb besonders weit fortgeschritten, weil nach den Gemeindeordnungen dieser Länder praktisch eine doppelte Führungsspitze nach dem »Prinzip der ›kontrapunktischen‹ Organisation« besteht. 11. Um die gemeindeverfassungsrechtliche Funktionsverteilung zwischen ehrenamtlich-politischem und hauptamtlich-administrativem Element zu bewahren bzw. wieder herzustellen, ist primär eine gesetzliche Veränderung der kommunalen Führungsebene in der Weise nötig, dass die hauptamtliche Spitze mit der politischen verzahnt wird. Diesem Ziel würden aber auch bereits die Streichung des § 61 Abs. 2 NGO (Abwahl), die grundsätzliche Ausschreibungspflicht für freiwerdende Planstellen, die notwendige Zustimmung des Gemeindedirektors zu Ernennungen unterhalb der Ebene der Wahlbeamten u. a. dienen. 12. Die geforderte gemeindeverfassungsrechtliche Funktionsverteilung lässt sich verfassungsrechtlich mit den Artikeln 20 Abs. 2, 28 Abs. 2, 33 Abs. 2 GG begründen. Die zu ihrer Sicherung erhobenen Forderungen (s.11) sind deshalb mehr als unverbindliche gedankliche Konstruktionen.
3.
Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem
I.
Einleitung
1. Wer sich einigermaßen in der deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auskennt und sich den Blick für die kommunale Wirklichkeit bewahrt hat, kommt nicht um die Feststellung herum, dass schon immer in Deutschland über den Umfang kommunaler Daseinsvorsorge gestritten worden ist, und vor allem, dass die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften schon immer ihre aus der Daseinsvorsorge resultierenden Aufgaben auch in privatrechtlichen Formen erledigt haben. Zum Rechtsproblem wird die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge meines Erachtens allerdings dann, wenn es durch sie – wie gesagt worden ist – zur »Sonderung der Demokratie von der Selbstverwaltung« kommt1. Genau das ist heute, wie ich im Folgenden an einigen exemplarischen Fällen zeigen möchte, der Fall. Doch zuvor bedarf es noch der Klarstellung, warum denn der durch Artikel 28 Absätze 1 und 2 GG (bzw. Artikel 57 Absätze 1 bis 3 NV) ja verfassungsrechtlich verbürgte Zusammenhang zwischen Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung gerade durch die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge heute gefährdet ist. Auf eben diese Frage hat Ernst Forsthoff mit seinem vor genau 40 Jahren im Druck erschienenen Vortrag »Die Daseinsvorsorge und die Kommunen« eine meines Erachtens nach wie vor einleuchtende Antwort gegeben2 : Er zeigt in dem genannten Vortrag zunächst auf, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten der Mensch im industriellen Zeitalter hinsichtlich seiner Grundbedürfnisse immer weniger in einem von ihm beherrschten Lebensraum existiert, sondern insoweit in vielfacher Hinsicht »vom Staat« lebt. Seine heutige Abhängigkeit von der Versorgung mit Wasser, Elek1 So Forsthoff , Die Daseinsvorsorge und die Kommunen (1958), in: Ders., Rechtsstaat im Wandel, 1. (!) Aufl. 1964, S. 111 (121). 2 Zum Folgenden: Forsthoff, a. a. O., S. 111 ff.
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trizität, (Erd-)Gas, einer städtischen Verkehrsinfrastruktur u. a. belegt diese Feststellung. Soll die damit für den heutigen Menschen eingetretene »Entfremdung« überwunden werden, so müssen die Entscheidungen über Umfang und Durchführung der Daseinsvorsorge – wie Forsthoff weiter folgert – möglichst ortsnah und unter Beteiligung der Bürger durchgeführt werden. Darum sind die Kommunen die geborenen Träger der Daseinsvorsorge3. Wenn man diese Zusammenhänge aus dem Blick verliert, dann könnte sich, wie Forsthoff schon damals meines Erachtens richtig sieht, »die Frage nach der daseinsrichtigen Organisation in ein Konglomerat technischer Probleme auflösen und es käme für die richtige Organisation der Daseinsvorsorge auf nichts anderes als die technische Perfektion an«4. Es ist im Ergebnis nach Forsthoff also die Daseinsvorsorge, die »im technischen Zeitalter … der kommunalen Selbstverwaltung einen neuen Sinn gegeben hat«5. Man kann nun mit Fug darüber streiten, ob die hier nur verkürzt wiedergegebene soziologische Analyse von Forsthoff in allen ihren Aussagen richtig und heute noch gültig ist. Was mir aber für unsere weiteren Überlegungen nach wie vor wegweisend an Forsthoffs Gedanken erscheint, ist der Zusammenhang, der von ihm – verfassungsrechtlich gesprochen – zwischen den demokratischen Teilhaberrechten der Bürger einerseits und der kommunalen Daseinsvorsorge andererseits gesehen wird. Denn erst auf diesem Hintergrund wird das eigentliche Rechtsproblem unserer Themenstellung deutlich. Es folgt dann nämlich aus dem Spannungsverhältnis, das zwischen Demokratie (Artikel 28 Abs. 1 S. 2 GG) und Effizienz (§ 6 Haushaltsgrundsätzegesetz6) bei der kommunalen Aufgabenerfüllung besteht – oder noch präziser : aus der Frage, wie die kommunale Daseinsvorsorge dieses notwendige Spannungsverhältnis im richtigen Gleichgewicht hält. In den nun zu besprechenden Privatisierungsfällen geht es mir darum, am 3 Forsthoff drückt das so aus (a. a. O., S. 125): »Da die Überwindung der Entfremdung in der Selbstbestimmung besteht, bieten sich für die Ordnung der Daseinsvorsorge mit besonderer Dringlichkeit diejenigen Verwaltungsformen an, die auf der Nähe … beruhen. Diese Nähe bieten die Organisationsformen der kommunalen Selbstverwaltung.« 4 A.a.O., S. 128. Hellsichtig auch die unmittelbar an das wiedergegebene Zitat anschließenden weiteren Folgerungen von Forsthoff: »Das würde nicht nur für die Daseinsvorsorge, sondern für alle herkömmlichen Institutionen der Verwaltung gelten. Sie wären ebenfalls antiquiert, und was sie ersetzen würde, zeichnet sich bereits ab: das Elektronenhirn, die Automation und die sonstigen Mechanisierungen, welche Leistungs- und Ordnungsorganismen in Schaltstellen verwandeln. Ob uns eine solche Entwicklung in eine staatenlose, aber total und technisch perfekt administrierte Welt erspart bleiben wird, vermag niemand zu sagen«, s. insoweit noch hier im Text unter 9 b). 5 Wie Anmerkung 4. 6 Zur Bindungswirkung dieser Vorschrift für die kommunale Selbstverwaltung s. die Habilitationsschrift von Johannes Hellermann vom April 1998: Örtliche Daseinsvorsorge und kommunale Selbstverwaltung (Manuskript S. 158 ff. m.N. = 6. Kapitel II. 1.).
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konkreten Beispiel dieser Frage nachzugehen. Dabei unterscheide ich mit der einschlägigen Literatur zwischen der materiellen Privatisierung (Aufgabenprivatisierung), der formellen Privatisierung (Organisationsprivatisierung) und der Teilprivatisierung als Mischform zwischen formeller und materieller Privatisierung.
II.
Der Entzug von Aufgaben kommunaler Daseinsvorsorge (Aufgabenprivatisierung)
2. a) Was zunächst die Aufgabenprivatisierung betrifft, so handelt es sich dabei um Fälle, in denen die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften freiwillig oder kraft höherrangigen Rechts die Wahrnehmung einer Aufgabe der Daseinsvorsorge im Vertrauen darauf aufgeben, dass der Markt die entsprechenden Bedürfnisse befriedigt. Ein gutes Beispiel für einen (partiellen) Aufgabenentzug kraft höherrangigen Rechts im Bereich der Daseinsvorsorge stellt das Gesetz des Bundes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. April 1998 (BGBl. I S. 730) dar. Dieses Gesetz beruht auf europarechtlichen Vorgaben; es setzt die Richtlinie 96/92 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Dezember 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (Abl. EG 1997 Nr. L27 S. 20) um. Mit dem neuen Energiewirtschaftsgesetz tritt an die Stelle des bisherigen Konzepts gegeneinander abgeschotteter kommunaler Versorgungsgebiete ein Wettbewerbskonzept. Es gibt keine ausschließlichen Konzessionsverträge zwischen Versorgungsunternehmen und Kommunen mehr, die bisher ja auch kartellrechtlich ausdrücklich sanktioniert waren. Für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften greift insoweit besonders der § 13 Abs. 1 des neuen Energiewirtschaftsgesetzes in ihr bisher bestehendes Recht zur Gestaltung der Energieversorgung ein. Dessen einschlägige Passage lautet: »Gemeinden haben ihre öffentlichen Verkehrswege für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen … zur unmittelbaren Versorgung von Letztverbrauchern im Gemeindegebiet diskriminierungsfrei durch Vertrag zur Verfügung zu stellen.«
Im Ergebnis enthält diese Vorschrift also – wie gesagt – die Aufhebung des Rechts der Kommunen zur Bildung geschlossener Versorgungsgebiete und damit eine Einschränkung der kommunalen Betätigungs- und Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Sektor der örtlichen Energieversorgung. Welche Folgen sich daraus für die Gemeinden konkret ergeben, ist von Wieland und Hellermann so beschrieben worden7: 7 DVBl. 1996, S. 401 f.
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Es stehen nicht nur finanzielle Nachteile zu befürchten, weil zweifelhaft erscheint, ob das Aufkommen an Konzessionsabgaben aus der – u. U. auch mehrfachen – Verleihung einfacher Wegerechte dieselbe Höhe erreichen könnte wie bislang die Einnahmen aus ausschließlichen Konzessionsverträgen, die fiskalisch von erheblicher Bedeutung sind. Vor allem verlören die Kommunen mit dem Verbot ausschließlicher Konzessionsverträge entscheidend an Einflussmöglichkeit auf den jeweiligen Träger und die sachliche Ausgestaltung der Energieversorgung für die Bürger. Das betrifft etwa die Tarifgestaltung: Mit dem Wegfall geschlossener Versorgungsgebiete entfiele die Möglichkeit, das sogenannte ›Rosinenpicken‹ anderer Energieversorgungsunternehmer durch eine besonders billige Versorgung von Großabnehmern mittels Stichleitungen zu verhindern; dieses ›Rosinenpicken‹ hat zur Folge, dass die verbleibenden Abnehmer einen größeren Anteil der Festkosten und damit höhere Energiepreise zu tragen haben. Weiter betroffen wären Bemühungen der Kommunen um eine ressourcen- und umweltschonende Energieversorgung: So würde der Betrieb dezentraler Energieerzeugungsanlagen mit Kraft – Wärme – Koppelung, die neben dem erzeugten Strom auch die anfallende Wärme zur Deckung des lokalen Wärmebedarfs nutzen, in Frage gestellt, wenn ein kontinuierlicher Absatz von Fernwärme und Strom wegen des möglichen Verlusts einzelner Stromgroßabnehmer nicht sichergestellt ist. Auch die – erfolgreich unternommenen – Versuche von Stadtwerken, die Schadstoffbelastung ihrer Gemeinden zu minimieren, sind nur in einem geschlossenen Versorgungsgebiet möglich.«
b) Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Einschränkung kommunaler Befugnisse zur Elektrizitätsversorgung ihrer Bevölkerung ergibt sich aus dem Umstand, dass nach wohl begründeter Auffassung die einschlägigen europarechtlichen Vorgaben die Aufrechterhaltung geschlossener kommunaler Versorgungsgebiete erlauben8. Damit bleibt zu klären, ob nach deutschem Verfassungsrecht der Bund überhaupt die Gesetzgebungskompetenz zu der zitierten strittigen Regelung besaß oder er damit in die durch Artikel 28 Absatz 2 GG geschützten Kompetenzen der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften widerrechtlich eingegriffen hat. Der Bund konnte sich zur Begründung für seine Gesetzgebungskompetenz in diesem Fall meines Erachtens schwerlich auf Artikel 74 Absatz 1 Nr. 11 GG (Recht der Energiewirtschaft) berufen. Denn bei dem in Frage stehenden § 13 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes geht es – im Gegensatz zu vielen anderen Vorschriften dieses Gesetzes – gerade nicht um eine wirtschaftsrechtliche Regelung, sondern um eine solche, die das Straßen- und Wegerecht deshalb betrifft, weil »die Verlegung von Leitungen zur Fortleitung und Abgabe von Energie eine Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus dar-
8 s. besonders Hellermann (Anm. 6), S. 240 ff. (= 9. Kapitel II. 1.); daneben Wieland/Hellermann (Anm. 7), S. 401 (402 ff.) und Baur, in: Baur/Friauf, Energierechtsreform zwischen Europarecht und kommunaler Selbstverwaltung, 1997, S. 15 ff. (Ergebnis: S. 28 f.) u. a.
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stellt«9. Nun sehen die einschlägigen Straßengesetze für diesen speziellen Fall allerdings keine gebührenpflichtige Sondernutzung vor, sondern verweisen insoweit auf das bürgerliche Recht (s. § 23 Abs. 1 Niedersächsisches Straßengesetz, § 8 Abs. 10 Bundesfernstraßengesetz), obgleich nach wohl richtiger Ansicht darin eine verfassungsrechtlich relevante Systemwidrigkeit (Artikel 3 Abs. 1 GG) mit der Folge zu sehen ist, dass es sich bei den diese Regelungen vollziehenden Konzessionsverträgen – materiellrechtlich betrachtet – um öffentlichrechtliche Vereinbarungen handelt10. Gegen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die strittige Regelung spricht also die durch Artikel 28 Abs. 2 GG geschützte gemeindliche Wegehoheit; sie liefert den Grund dafür, dass die Wegerechtsvergabe zu Zwecken der örtlichen Energieversorgung als Wahrnehmung einer Aufgabe kommunaler Selbstverwaltung verstanden werden muss11. Nach alledem kann sich der Bund für die Regelung des § 13 Abs. 1 Energiewirtschaftsgesetz nicht auf seine Kompetenz zur Regelung der Energiewirtschaft berufen. Damit ist meines Erachtens zugleich im Gegensatz zu der wohl herrschenden Meinung12 klargestellt, dass ihm auch nicht die Entscheidung über die grundsätzliche Frage, ob insoweit die Privatisierung der Energiewirtschaft durchgeführt werden kann, zusteht. Der Artikel 28 Abs. 2 GG postuliert – das habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt13 und entsprechende Ansätze lassen sich inzwischen auch in der Rechtsprechung und Literatur finden14 – eine besondere demokratische Entscheidungsebene mit bestimmten Kompetenzen; diese Vorschrift besitzt also keinen grundrechtsähnlichen Charakter und auch ihr Verständnis als sogenannte institutionelle Garantie führt nicht weiter15. Allgemeiner Maßstab für die Zulässigkeit gesetzgeberischer Eingriffe in die durch Artikel 28 Abs. 2 GG geschützten kommunalen Befugnisse ist darum der Grundsatz der Subsidiarität16. Genau dieser Grundsatz legt fest, welche demokratische Entscheidungsebene – Bund, Länder oder kommunale Selbstverwaltungskörperschaften – die Kompetenz zur materiellen Aufgabenprivatisierung besitzt. Das können im vorliegenden Fall – wie gezeigt – nur die kommunalen 9 So richtig Wieland/Hellermann (Anm. 7), S. 405; genauere Begründung bei Hellermann (Anm. 6), S. 228 ff. (= 9. Kapitel I. 2.). 10 s. besonders Joachim Wieland, Die Konzessionsabgaben, 1991, S. 381 ff. und Hellermann (Anm. 7), S. 229 ff. (= 9. Kapitel I. 2.). 11 Im Ergebnis ebenso bereits Köttgen, Gemeindliche Daseinsvorsorge und gewerbliche Unternehmerinitiative, 1961, S. 26 ff. Ausdrücklich gegen diesen Zusammenhang: Ossenbühl, Energierechtsreform und kommunale Selbstverwaltung, 1998, S. 45 f. m. N. 12 s. dazu zuletzt Hans-Günter Henneke, Nds.VBl. 1998, S. 273 (281 f.) m. N. und daneben Ossenbühl (Anm. 11), S. 22 ff. 13 s. Albert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 128 ff. 14 Dazu nur Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 (63 ff.) und Kenntner, DÖV 1998, S. 701 ff. 15 Das hat besonders Waechter (a. a. O.) klargestellt. 16 s. dazu Janssen (Anm. 13), S. 133 ff. m. N.
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Selbstverwaltungskörperschaften sein. Es ist eben mit dem für die gesetzlichen Eingriffe in Artikel 28 Abs. 2 GG geltenden Subsidiaritätsprinzip unvereinbar, dass die Kommunen, die zweifelsohne genauso wie der Bund rechtlich und tatsächlich in der Lage sind, über das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Energieversorgung zu entscheiden, diese Entscheidungsbefugnis undmöglichkeit durch § 13 Abs. 1 Energiewirtschaftsgesetz genommen wird. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass es hier ja nicht nur um die Entscheidung geht, ob örtliche private Träger der Energieversorgung oder die Gemeinden in diesem Bereich bestimmte Aufgaben wahrnehmen, sondern darum, ob und inwieweit die Gemeinde mit einem privaten überregionalen Unternehmen paktieren soll. Es ist übrigens erstaunlich, dass in der gesamten neueren Literatur ganz offensichtlich eine Diskussion aus den sechziger Jahren in Vergessenheit geraten ist, die genau diese Problematik betraf: Das damalige Bundessozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetz enthielten Regelungen, nach denen die vorher vom Staat oder von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften wahrgenommene Fürsorge zugunsten der als »freie Fürsorge« bezeichneten Sozialarbeit aller der Stellen zurücktreten sollte, die weder staatliche noch kommunale Behörden waren. Die erwähnten Regelungen liefen also auf eine Nachordnung des Staates hinter die Gesellschaft im Sozialbereich hinaus. Dieser Entscheidung des damaligen Gesetzgebers ist 1964 der große Kanonist Hans Barion mit einer meines Erachtens durchschlagenden Kritik entgegengetreten17, aus der sich – im Gegensatz zu der späteren einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts18 – eine Unterstützung unserer soeben vorgetragenen Argumentation ergibt: Zunächst stellt Barion – ähnlich wie hier geschehen – fest, dass »manche Fürsorgebereiche« nach den genannten Gesetzen »von der Art sind, dass sie nur örtlich behandelt werden können«19. Und folgert dann daraus richtig: 17 In: Der Staat 3 (1964), S. 1 ff. Überzeugend auch – was die fehlende Kompetenz des Bundes in dieser Frage betrifft – Köttgens Gutachten, in: v. d. Heydte/Köttgen, Vorrang oder Subsidiarität der freien Jugendhilfe?, 1961, S. 28 ff., 48 f. 18 BVerfGE 22, S. 180 ff. 19 Barion (Anm. 17), S. 25, s. auch S. 24. Er unterstützt diese These durch eine Auslegung des Begriffs »örtliche Gemeinschaft« in Artikel 28 Abs. 2 GG, die heute offensichtlich in Vergessenheit geraten ist, wie folgt (a. a. O., S. 26): »Die … enge Bindung der örtlichen öffentlichen Fürsorge an die örtliche Gemeinschaft findet eine zusätzliche Stütze in der grundgesetzlichen Qualifizierung dieses Trägers als einer Gemeinschaft. Die Regelung des BSHG und JWG macht aus der örtlichen Gemeinschaft für das Gebiet der Fürsorge einen bloßen örtlichen Verwaltungsbezirk, der insoweit jedenfalls dann, wenn die Selbstverwaltungsträger im Sinne des BSHG und JWG ihre Pflicht tun, keine Gemeinschaft mehr ist. Die örtliche Gemeinschaft wird gerade hinsichtlich einer typischen Gemeinschaftsaufgabe, der Fürsorge, durch die genannten beiden Gesetze nicht gefördert, nicht einmal unberührt gelassen, sondern gesprengt, desintegriert. Mit der Integrationsfunktion, die die Selbstverwaltung für
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»Was den Verteidigern der beiden Gesetze (erg.: des BSHG und JWG) fehlt, ist der Nachweis der verfassungsmäßigen Möglichkeit, solche ›Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft‹ aus dem in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG in Bezug genommenen Kreis ›aller‹ dieser Angelegenheiten herauszunehmen«20.
Darum haben nach Barion für diesen Bereich »gemäß der Selbstverwaltungsgarantie des GG die Selbstverwaltungsträger und nicht der Staat darüber zu entscheiden … , ob sie jeweils die Fürsorge selbst ›als öffentliche‹ oder durch die freie Fürsorge ausüben wollen«21.
3. Der besprochene Fall und seine rechtliche Würdigung lassen meines Erachtens aber noch einige weitergehende Folgerungen zur Konkretisierung des Inhalts kommunaler Daseinsvorsorge zu und machen zugleich die Wichtigkeit der weiteren Frage deutlich, unter welchen Umständen sich der Staat und die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften von überkommenen Aufgaben der Daseinsvorsorge trennen können und sollten. Dass Letzteres möglich sein muss, folgt schon aus der Überlegung, dass der von Forsthoff in die verwaltungsrechtliche Dogmatik eingeführte Begriff der Daseinsvorsorge22 im Kern eine Abgrenzung der staatlichen von den privaten Aufgaben nach inhaltlichen Kriterien angesichts einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit intendiert. Forsthoff weist darum auch der staatlichen Daseinsvorsorge eine »Komplementärfunktion« gegenüber der von der Gesellschaft geleisteten »Daseinsstabilisierung« zu23. Der Staat kann sich danach also aus Bereichen zurückziehen, in denen die Gesellschaft inzwischen aus sich heraus die erforderliche »Daseinsstabilisierung« leistet. Nach dem besprochenen Fall sind ja besonders zwei Umstände für die Ent-
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die örtliche Gemeinschaft haben soll, sind beide Gesetze, insoweit sie den örtlichen Gemeinschaften diese Funktionsbehinderung auferlegen, unvereinbar und schon darum grundgesetzwidrig«. Barion (Anm. 17), S. 25. Barion, a. a. O., S. 26. Ganz entsprechend der Gedankengang auf S. 34 f.: »Was die Verteidiger des Gesetzes brauchen ist ein positiver grundgesetzlicher Beleg dafür, dass der Bund mit Wirkung auch für die Länder, nicht nur für sich, auf das Recht zu öffentlicher Fürsorge neben der freien verzichten kann. Aus dem Sozialstaatsprinzip lässt sich vieles, aber nicht das Recht entnehmen, den sozialstaatlichen Charakter der Länder zu verkürzen, und die Hilfsvoraussetzung der Gesetzesverteidiger, dass dem Bund im Verhältnis zu den Ländern alles erlaubt sei, was ihm nicht verboten ist, widerspricht, wie nicht oft genug betont werden kann, dem innerstaatlichen Subsidiaritätsprinzip des GG, nach dem der Bund nur die Rechte gegenüber den Ländern besitzt, die ihm ausdrücklich zugesprochen werden«. Zuerst mit seiner Schrift »Die Verwaltung als Leistungsträger« aus dem Jahre 1938; s. daneben seine zusammenfassende Sicht in der Einleitung (S. 9 ff.) zu seinem Buch »Rechtsfragen der leistenden Verwaltung« aus dem Jahre 1959. Zu den staatstheoretischen Wurzeln des Begriffs »Daseinsvorsorge« s. besonders Ernst Rudolf Huber, Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins (1974) in: Ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 319 ff. Forsthoff, Rechtsfragen (Anm. 22), S. 9 (20 f.).
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scheidung der Kommunen, wer Leitungen in Wege und Straßen verlegen darf, konstitutiv. Zunächst können die gemeindlichen Wege und Straßen nur in einem begrenzten Umfang Versorgungsleitungen aufnehmen. Diese »Begrenztheit der Kapazität« macht es so erforderlich, dass »eine Instanz darüber entscheidet«, wer dazu befugt ist24. Diese Entscheidungskompetenz steht nun – wie gesagt – den Gemeinden kraft ihrer Wegehoheit zu. Des Weiteren zeigte der besprochene Fall, dass augenscheinlich bestimmte »Leistungen der Daseinsvorsorge am Günstigsten von einem einzigen oder ganz wenigen Unternehmern erbracht werden können«. Die Ökonomen sprechen dann bekanntlich von (aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gerechtfertigten) »natürlichen Monopolen«25. Neben der leitungsgebundenen Energieversorgung ist insoweit auch an die Abwasserentsorgung und den Nahverkehrsbereich zu denken26. Verfassungsrechtlich gesehen erweist sich damit für die Kommunen die durch Artikel 28 Abs. 2 GG geschützte Wegehoheit als der Dreh- und Angelpunkt, um sich gegen den Entzug von Daseinsaufgaben behaupten zu können. 24 So bereits richtig: Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 10. Aufl. 1973, S. 397. 25 S. dazu Wieland (Anm. 10), S. 129 ff. 26 Was den im Text zuerst genannten Umstand betrifft, so befindet sich übrigens der Staat in einer ähnlichen Entscheidungssituation im Umweltschutzrecht. Auch hier erfordert die Knappheit der Ressourcen sein Tätigwerden und auch hier geht es um die Verteilung der Nutzungsbefugnisse an einer »Sache« im weiteren Sinne. Darum besitzt der Staat nach wohl herrschender Meinung ein durch das Bundesimmissionsschutzrecht eingeräumtes »Luftbewirtschaftungsermessen« und Entsprechendes gilt für eine Genehmigung nach dem Wasserhaushaltsgesetz und die Zuteilung von Nutzungsbefugnissen am Boden bei industriellen Großbauvorhaben u. a. Das Verständnis des Umweltschutzrechts als öffentliches Sachenrecht habe ich vor Jahren in einem bisher ungedruckten Vortrag näher entwickelt. Im Ansatz ebenso: Wieland (Anm. 10), S. 127 ff., 176 ff. Der Begriff »Daseinsvorsorge« gewinnt auf diesem Hintergrund als juristischer Begriff meines Erachtens Konturen: Neben der für das gesamte öffentliche Recht typischen Konfliktsituation (s. dazu noch genauer hier im Text unter 5.) ist für ihn kennzeichnend, dass diese Konfliktsituation primär die Entscheidung über die Nutzung einer »Sache« und nicht den direkten Konflikt zwischen Personen betrifft. Insoweit besitzt auch für das öffentliche Recht die für die Systematik des zivilrechtlichen Schuld- und Sachenrechts konstitutive Unterscheidung zwischen ius in re und ius in personam Bedeutung. Dieser Gedanke ist nicht so ganz neu, wie es scheinen mag. So heißt es etwa im »öffentlichen« katholischen Kirchenrecht, wie es im alten Codex Iuris Canonici von 1917 festgehalten ist (Canon 726): »Unter ›Sache‹ versteht man alles, was der Kirche als Mittel zur Erreichung ihres Zweckes dient« (Nomine rerum veniunt media quibus Ecclesia utitur ad finem suum consequendum). Richtig wird dazu in einem bekannten »Praktiker«-Kommentar dieses Gesetzbuchs ausgeführt: »Während die ›Personen‹, von denen das zweite Buch (erg.: des Codex Iuris Canonici) handelt, wesentlich ein eigenes Endziel haben, ist es den ›S a c h e n‹ eigen, dass sie Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind« (so Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechts. Erklärung der Kanones, Bd. 2, 1940, S. 11). In anderem Zusammenhang hat in neuerer Zeit besonders Wolfgang Schur die Unterscheidung zwischen obligatorischem und dinglichem Recht für das öffentliche Recht fruchtbar gemacht, s. seine Schrift »Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht«, 1993.
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Die Eigenschaft der gemeindlichen Straßen als »öffentlicher Mehrzweckinstitute«27 liefert dafür also den Grund. Ergänzend dazu besitzen die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften als Gebietskörperschaften noch die durch Artikel 28 Abs. 2 GG ebenfalls geschützte (Bau-)Planungshoheit, die ja als eine Konkretisierung des »Raumgestaltungsrechts«28 auf kommunaler Ebene verstanden werden kann. Damit sind die rechtlichen Grundlagen für die kommunalen Kompetenzen in der Versorgungswirtschaft und – da insoweit auch die Knappheit der Ressourcen in Frage steht – meines Erachtens auch für ihre Kompetenz im öffentlichen Personennahverkehr29 benannt. Daneben ergeben sich bekanntlich zahlreiche Aufgaben der kommunalen Daseinsvorsorge aus dem Umstand, dass beim Fehlen entsprechender öffentlicher Einrichtungen der Kommunen Gefahren für die Gemeindebürger entstehen, denen dann von den für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden begegnet werden muss30. Das ist heute etwa bei den Krankenhäusern, der Abwasserentsorgung und auch wohl weitgehend noch bei der Abfallentsorgung selbst nach Erlass des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes des Bundes der Fall. Diese Aufgaben der Daseinsvorsorge können Bund und Länder dann allerdings, sofern der Grundsatz der Subsidiarität (bzw. der ihm verwandte des gemeindefreundlichen Verhaltens31) dem nicht entgegenstehen, nach dem hier vertretenen Verständnis der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie an sich ziehen bzw. dann auch in beschränktem Umfang der Gesellschaft überlassen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch noch zu prüfen, ob über den abstrakten Grundsatz der Subsidiarität hinaus nicht der Begriff der »örtlichen Gemeinschaft« insoweit einen darüber hinausgehenden verfassungsrechtlichen Schutz der Gemeinden gewährleistet32. Unsere Überlegungen zur Aufgabenprivatisierung kommen damit zu folgendem Ergebnis: Der Bereich kommunaler Daseinsvorsorge ist verfassungsrechtlich gegen materielle Privatisierungsversuche vor allem durch die Wegehoheit der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften als besondere Ausprägung ihrer Kompetenz zur Regelung »aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« (Artikel 28 Abs. 2 S. 1 GG) geschützt. Im Übrigen setzt besonders der Begriff der »örtlichen Gemeinschaft« als solcher dem eingreifenden 27 So schon Köttgen, Gemeindliche Daseinsvorsorge (Anm. 11), S. 28, 32, 34 u. a. und zuletzt Hellermann, (Anm. 6), S. 234 (= 9. Kapitel 2 b) m. w. N. 28 Diesen Begriff übernehme ich von: Jan Schapp, Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, 1978, S. 54 u. a. 29 Insofern kann ebenfalls ein »natürliches Monopol« der Daseinsvorsorge bestehen (s. dazu nur Wieland, Anm. 10, S. 130 f.). 30 So richtig Waechter, Kommunalrecht, 3. Aufl. 1997, S. 339 f. 31 Dazu Waechter (Anm. 30), S. 80. 32 s. zur Erläuterung dieser These die hier in Anmerkung 19 wiedergegebene Auslegung des Begriffs durchBarion.
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Gesetzgeber insoweit Grenzen, als das Subsidiaritätsprinzip den (teilweisen) Verbleib der entsprechenden Aufgabe auf der kommunalen Ebene verlangt. Die zentrale weitere Frage lautet damit, ob für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften bei der Entscheidung, ob sie ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge in privaten oder öffentlichen Rechtsformen ausführen, tatsächlich – wie es die meisten Gemeindeordnungen vorsehen – eine rechtlich unbeschränkte Wahlmöglichkeit besteht.
III.
Die Erledigung der Aufgaben kommunaler Daseinsvorsorge durch privatrechtliche Organisationsformen (Organisationsprivatisierung)
4. Was die (formelle) Organisationsprivatisierung der kommunalen Daseinsvorsorge betrifft, so hat ein auf Bundesebene agierender namhafter kommunaler Spitzenverband 1994 in einer Entschließung dazu folgendes festgestellt: »Die meisten Privatisierungsüberlegungen auf kommunaler Ebene werden gegenwärtig vorrangig durch Umgehungs- und Vermeidungsmotive bestimmt, mit denen versucht wird, sich zur Erreichung einer effizienten Aufgabenwahrnehmung aus den Fesseln des – sich zumindest partiell hinderlich erweisenden – öffentlichen Rechts zu befreien«33.
Genauer heißt es zu den angesprochenen »Umgehungs- und Vermeidungsmotiven« in einem Prüfungsbericht des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein von 1990, der das »Ergebnis der Prüfung über die Ausgliederung kommunaler Aufgaben aus der Haushaltswirtschaft und der Verselbständigung kommunaler Einrichtungen« wiedergibt: »Als Gründe für die Ausgliederung bzw. Verselbständigung wurden insbesondere die Möglichkeit der Ausnutzung steuerlicher Vorteile, ein gegenüber der Verwaltung größerer Handlungsspielraum und die Beteiligung Dritter, die keine Gebietskörperschaften sind, genannt«34.
Gegenüber diesen zum Teil verständlichen Motiven für eine Organisationsprivatisierung ist aber an die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegen eine solche Maßnahme sprechen, zu erinnern: a) Sie lassen sich vor allem aus dem Gebot der hinreichenden demokratischen Legitimation allen Verwaltungshandelns der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften ableiten. Zwar gilt das Gebot demokratischer Legitimation auch 33 Einstimmige Entschließung des Präsidiums des Deutschen Landkreistages aus dem Jahre 1994, abgedruckt in: der landkreis 1994 S. 244 (249). 34 So der genannte Prüfungsbericht S. 2 (Maschinenschrift).
3. Zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge
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für das Handeln der Exekutive in Bund und Ländern35, doch stellt es auf der kommunalen Ebene kraft Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG besonders strenge Anforderungen an diese Legitimation. In der besonderen demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltung ist ja auch der rechtfertigende Grund für die Forderung der Kommunen nach mehr standardisierten Vorgaben des Bundes- und Landesgesetzgebers zu sehen und ebenfalls für die These, dass eben diese besondere demokratische Legitimation ohne weitere gesetzliche Konkretisierung in beschränktem Umfang zu Grundrechtseingriffen durch Satzung legitimiert36. Die demokratische Legitimation der Exekutive erfährt wie auf staatlicher so auch auf kommunaler Ebene ihre besondere Ausprägung zunächst durch die Bindung der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften an die bekannten Grundsätze des Haushaltsrechts, die für sie kraft des Haushaltsgrundsätzegesetzes ebenfalls verbindlich sind37. Der Haushaltsplan steckt im Übrigen ja nicht nur den finanziellen Handlungsspielraum ab, sondern der Rat übernimmt mit dem Beschluss über ihn die politische Verantwortung für die finanzielle Belastung der Bürger. Daneben ist zu beachten, dass mit dem Prinzip der Einzelveranschlagung und der Zweckbindung der Einnahmen im Grunde eine konkrete, vom Rat gebilligte Aufgabenplanung für das Haushaltsjahr vorliegt und das gesamte Haushaltsgebaren einer Rechnungsprüfung unterliegt, wobei wiederum der Rat über die Jahresrechnung und Entlastung beschließt. Das Spezifische der durch den Rat vermittelnden demokratischen Legitimation des Verwaltungshandelns besteht darüber hinaus im für alles öffentliche Handeln geltenden Amtsprinzip, das gerade auch in der Rechtsstellung der Ratsherren seine besondere Ausprägung erfahren hat38 : So finden sich in den Gemeindeordnungen der Länder ausdrücklich formulierte Ersatzpflichten der Ratsherren für Schäden, die der Gemeinde durch pflichtwidrig mitbewirkte Beschlüsse entstehen. Hinzu kommen die für die Mitglieder der Gemeindever35 Eindrucksvoll dazu Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993. 36 s. dazu nur Janssen (Anm. 13), S. 137 f., 145 ff. (Ergebnis: S. 152 f.); Maurer, DÖV 1993, S. 184 (187 ff.). 37 Nachweis in Anmerkung 6. 38 Zum Folgenden Janssen (Anm. 13), S. 148 f. Zum allgemeinen Gedanken, dass öffentliche Gewalt immer in Ämtern ausgeübte sein muß, s. die Nachweise bei Janssen, Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem, 1988 (= Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages; H. 17), S. 8 Anm. 35 und 38; daneben Wilhelm Henke, Kommentierung des Artikel 21 GG (Zweitbearbeitung 1991), in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Rdnr. 79 f.; derselbe, Die Republik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, S. 863 (874, 877 f.); derselbe, Recht und Staat 1988, S. 387 ff., 609 ff. u. a.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, S. 40 f.; Löwer, Aktuelle Gefährdungen des Republikanismus durch den Parteienstaat, 1993 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der Verbände des höheren Dienstes; H. 25), S. 2 f., 7 f. u. a.
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tretung geltenden besonderen Ineligibitäts- und Inkompatibilitätsvorschriften. Hervorzuheben ist daneben vor allem die in einigen Gemeindeordnungen ausdrücklich genannte, an das Beamtenrecht erinnernde Treuepflicht der Ratsherren. Das Vertretungsverbot als besondere Form der allgemeinen Treuepflicht ist sogar in allen Gemeindeordnungen (mit Ausnahme von Thüringen) zu finden. Weiter ist in diesem Zusammenhang das für die Ratsherren geltende Mitwirkungsverbot zu nennen sowie ihre häufig vorgesehene Vereidigung oder Verpflichtung auf die gewissenhafte Erfüllung der durch die Mandatsübernahme entstandenen Obliegenheiten zu Beginn ihrer Tätigkeit. Schließlich besteht auch im Vergleich zu den Parlamentsabgeordneten eine strengere Verschwiegenheitspflicht, und es fehlt für die Gemeindevertreter im Gegensatz zu den Abgeordneten die Garantie der Indemnität und Immunität. Nimmt man zu dieser »Amtsstellung« der Ratsherren die besonderen rechtlichen Bindungen hinzu, die für den ihre Beschlüsse ausführenden öffentlichen Dienst – insbesondere die Beamten – bestehen, so wird vollends deutlich, dass die demokratische Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene und ihre Umsetzung in einem Verfahren abläuft, das die öffentliche politische Auseinandersetzung, Rationalität und Rechtssicherheit (Abwesenheit von Willkür) gewährleisten soll. b) Gegenüber dem Postulat der demokratischen Legitimation für das kommunale Verwaltungshandeln im dargelegten Sinn wird allerdings geltend gemacht, dass namentlich nach dem Recht der GmbH hinreichende Einflussnahmen des Rats etwa auf die Entscheidungen einer kommunaleigenen Stadtwerke GmbH – dem bekanntlich häufigsten Fall einer Organisationsprivatisierung – möglich sind39 : Die Gesellschafterversammlung wird durch den Rat gewählt und ist Herr des für die GmbH geltenden Gesellschaftsvertrages. Sie wählt auch den Geschäftsführer, kann ihm Weisungen erteilen und beruft ihn notfalls ab. Die Mitglieder der Gesellschafterversammlung sind im Innenverhältnis an die Ratsbeschlüsse gebunden – die von der Gesellschafterversammlung gefassten Beschlüsse verlieren allerdings bekanntlich nicht ihre Gültigkeit, wenn die Gesellschafter entgegen den Weisungen des Rats in der Versammlung abstimmen. Auch die Mitglieder eines fakultativen Aufsichtsrats einer GmbH kann man durch eine entsprechende Passage im Gesellschaftervertrag an die Beschlüsse des Rats im Innenverhältnis binden40. Schließlich sind im Gesellschaftervertrag vereinbarte gesellschaftsinterne Zustimmungsvorbehalte der Gesellschafterversammlung, die sich etwa auf die zentralen Fragen der Unternehmensgeschäftsführung und der öffentlichen Zweckbindung der Gesellschaft beziehen, 39 Zum Folgenden übersichtlich: Hauser, Die Wahl der Organisationsform kommunaler Einrichtungen, 1987, S. 38 ff., 67 ff. 40 s. dazu nur den Überblick bei Norbert Meier, VR 1998, S. 217 ff.
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möglich. Die Kontrolle einer kommunalen GmbH durch die Kommunalaufsicht und den Rat kann dann durch körperschaftsinterne Verfahrensrichtlinien gesichert werden41. c) Trotz der genannten Möglichkeiten des direkten oder indirekten Einflusses des Rates auf die Entscheidungen der kommunaleigenen GmbH ist doch nicht zu übersehen, dass es sich insoweit immer um eine mittelbare demokratische Einflussnahme (Delegationsdemokratie) handelt, die dann auch die politische Verantwortung der Ratsherren vor dem (Wahl-)Bürger relativiert42. Daneben entfallen die weiteren hier genannten Ausformungen des Demokratieprinzips auf kommunaler Ebene. Besonders wird die Einheit des Haushalts beseitigt, weil der vom Rat beschlossene Haushalt nur noch einen Teil der Aufgaben und der finanziellen Auswirkungen ihrer Erledigung widerspiegelt. Es gelten für die GmbH auch nicht die Verschuldensgrenzen des Haushalts und sie unterliegt nicht dem letztlich öffentlichen Rechnungs- und Prüfungswesen, das für die übrige Kommunalverwaltung vorgeschrieben ist. Schließlich kann die kommunaleigene GmbH keine – besonderen rechtlichen Bindungen unterliegenden – Beamte beschäftigen, sondern nur Angestellte und Arbeiter. Zwei rechtspolitische Bedenken kommen hinzu43 : Zunächst liegt die Vergütung des Personals einer kommunaleigenen GmbH häufig über der von den übrigen Bediensteten der Kommune in entsprechenden Funktionen, was nicht nur zu höheren Kosten, sondern wegen der Ungleichbehandlung bisweilen auch zu Misshelligkeiten unter den Bediensteten führt. Daneben sollte man in diesem Zusammenhang das vielfach beobachtete Phänomen nicht übersehen, dass »von den Kommunen in die Organe von Eigengesellschaften entsandte Vertreter eher im Gemeinderat oder Kreistag die Interessen ›ihres‹ Unternehmens vertreten als im Unternehmen die Interessen der Kommune«44. d) Die hier gegen die GmbH-Lösung aufgezeigten Bedenken gelten natürlich in verstärktem Maße, wenn sich eine Kommune für eine Stadtwerke-AG entscheidet, da dieses Recht bekanntlich weitaus weniger Modifikationen durch die zuständigen kommunalen Organe zulässt. Darauf sei hier nur verwiesen. In der Literatur ist daneben auch vielfach aufgezeigt worden, dass der Eigenbetrieb, wenn man dieses Rechtsinstitut zu handhaben versteht, eine hinreichend elastische Organisation bietet, um die Aufgaben kommunaler Daseinsvorsorge wirksam im Sinne des von den Kommunen geforderten effektiven Handelns und 41 So Engellandt, DÖV 1996, S. 71 ff. 42 Hierzu und zum Folgenden besonders Wieland, Kommunale Selbstverwaltung zwischen Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Ausdehnung wirtschaftlicher Betätigung, in: Henneke (Hrsg.), Stärkung der kommunalen Handlungs- und Entfaltungsspielräume, 1996, S. 17 (23 ff.). 43 Zum Folgenden wiederum Wieland, a. a. O., S. 25 f. 44 So richtig Wieland, a. a. O., S. 26.
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zugleich ohne solch starken Verlust an demokratischer Teilhabe wie bei der GmbH-Lösung wahrzunehmen45. Ist das aber so, dann halte ich die These vom freien Ermessen der Kommunen bei der Wahl der Organisationsform für die Erledigung ihrer Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge aus den dargelegten demokratischen Gründen für nicht haltbar. Es gibt meines Erachtens aus eben diesen Gründen eine Präferenz für den Eigenbetrieb, wenn nicht gar im konkreten Fall der Regiebetrieb in Betracht kommt. Die entsprechenden Bestimmungen des kommunalen Wirtschaftsrechts sind darum verfassungskonform in diesem Sinne auszulegen. 5. Die vorgetragene Argumentation gegen die Organisationsprivatisierung erhält ihre eigentliche Stroßkraft aber erst, wenn man die Frage nach dem rechtfertigenden Grund für die aufgezeigten Regelungen demokratischer Willensbildung stellt. Dafür ist zunächst auf den schlichten Gedanken zu verweisen, der seit der Steinschen Städteordnung von 1808 den Sinn kommunaler Selbstverwaltung ausmacht, nämlich dass sich in der demokratischen Teilhabe an den Verwaltungsentscheidungen auf der Ortsebene ein Stück Menschenwürde realisiert. Man hat deshalb nicht zu Unrecht festgestellt: das »Materiale am Rechtsbegriff der Demokratie ist … die Personalität«46. Genauer erschließt sich der Sinn des demokratischen Entscheidungsverfahrens auf kommunaler Ebene aber erst, wenn wir nach dem inhaltlichen Charakter der Entscheidungen fragen, die hier zur Diskussion stehen47. Im Gegensatz zum Privatrecht überwiegen im öffentlichen Recht nicht die Konflikte zwischen Personen, sondern zwischen Gruppen, – so etwa zwischen den Gruppen der Steuerzahler und der Empfänger staatlicher Leistungen oder im Umweltbereich zwischen den Betreibern von industriellen Großanlagen und den in der Nähe davon wohnenden Bürgern bzw. zwischen den Autofahrern, die mehr Straßen fordern, und den Naturschützern usw. Richtig ist insofern zum Verfahren, in dem der heutige demokratische Staat (und auch die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften) derartige Konflikte lösen, exemplarisch für das Steuerrecht gesagt worden: »Heute beruht (erg.: im Gegensatz zum Konstitutionalismus) das Steuergesetz nicht mehr auf der Zustimmung der Steuerpflichtigen zu ihrer eigenen Belastung, sondern auf einer Entscheidung des gesamten Volkes darüber, wie Lasten und Vorteile zwischen 45 s. dazu: Scholz/Pitschas, Gemeindewirtschaft zwischen Verwaltungs- und Unternehmensstruktur, 1982, bes. S. 24 ff.; Hauser (Anm. 39), bes. S. 221 (Ergebnis der Untersuchung). Übersichtlich zur Problematik der Eigenbetriebe das 1994 erschienene Heft 44 (Eigenbetriebe) und das 1995 erschienene Heft 47 (Eigenbetriebe und Verbandslösungen) der Schriftenreihe des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes. 46 So Henke, Der Staat 25 (1986), S. 157 (165). 47 Zum Folgenden s. besonders Schapp, JZ 1993, 974 (977 f.) und derselbe, Freiheit, Moral und Recht, 1994, S. 213 ff., 239 ff., 243 ff.
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den einzelnen Gruppen des Volkes angemessen zu verteilen sind. Mit dieser Entscheidung verfügen nicht Eigentümer über ihr Eigentum, es entscheidet vielmehr ein Schiedsrichter über Rechte und Pflichten von Gruppen in ihrem Verhältnis zueinander«48.
Genau diese schiedsrichterlichen Funktionen nehmen auf der kommunalen Ebene Rat und Verwaltung wahr. Wegen ihrer Organisationsstruktur und des für sie geltenden Entscheidungsverfahrens können Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung das auch gar nicht leisten. Der Staat und die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften handeln daneben aus eben diesem Grund aufgrund von verfassungsrechtlich oder gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen und nicht wie der Privatmann auf der Basis der durch die Grundrechte garantierten bürgerlichen Freiheit49. Die Wahrnehmung der staatlichen wie kommunalen Kompetenzen geschieht schließlich – wie gezeigt – in Ämtern, weil es ein Handeln in förmlichen Verfahren nach Rechtsregeln ist. Das gilt nach unseren Darlegungen mehr noch für die Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene als in der parlamentarischen Demokratie auf Bundes- und Landesebene. Es besteht demnach ein notwendiger (aber häufig geleugneter) Zusammenhang zwischen dem Inhalt der zu lösenden Aufgabe und der Art ihrer Wahrnehmung50. Die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften schlüpfen 48 So Schapp, JZ 1993, S. 980 (Hervorhebung A. J.). Schapp hat an anderer Stelle für die Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Nachbarrecht ganz ähnlich auf die unterschiedliche Konfliktsituation im klein-nachbarlichen Raum (Nutzungskonflikte) einerseits und die Raumordnungskonflikte, die eine staatliche Steuerung erfordern, andererseits abgestellt, s. derselbe: Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, 1978. Das bestätigt – indirekt – unseren Versuch (s. hier Anm. 26), die Unterscheidung zwischen obligatorischem und dinglichem Recht für das öffentliche Recht fruchtbar zu machen. Die von Schapp begründete Unterscheidung zwischen Einzel- und Gruppenkonflikten liefert aber nicht nur die innere Rechtfertigung für die verfassungsrechtliche Forderung nach hinreichender demokratischer Legitimation für die von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften getroffenen Entscheidungen; sie läßt m. E. auch eine genauere Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Recht als bisher üblich zu, weil sie als Präzisierung der sogenannten Interessentheorie, auf die ja in Zweifelsfällen üblicherweise zurückgegriffen wird, verstanden werden kann (s. zur Interessentheorie nur Bachof, Über öffentliches Recht, 1978, in: Derselbe, Wege zum Rechtsstaat, 1979, S. 359 ff., 370 ff.). 49 Grundlegend dazu Barbey, Wirtschaft und Verwaltung (Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv) 1978, S. 77 f.; derselbe, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, 1986, S. 20 ff. 50 Deutlich zum Erfordernis demokratischer Entscheidung bei der Lösung von Gruppenkonflikten Schapp (JZ 1993, S. 979): »Die Geschichte des modernen Staates seit seiner Begründung in den konfessionellen Bürgerkriegen ist dann vor allem auch eine Geschichte der Sicherung dieser Unparteilichkeit. Das entscheidende Sicherungsmittel liegt in der Überantwortung der Souveränität an das Volk im System der repräsentativen Demokratie … Das Recht wurde jetzt nicht mehr zwischen einzelnen Gruppen ausgehandelt oder von einer Gruppe gegen die andere festgesetzt, sondern durch die Gesamtheit aller Mitglieder des Gemeinwesens beschlossen. Die Neutralität der Entscheidung war so am besten gesichert.
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für die Erledigung ihrer Aufgaben der Daseinsvorsorge aus den genannten Motiven häufig in das Rechtsgewand der auf der Basis grundrechtlicher Freiheit handelnden Privatpersonen und genau das begegnet nach den hier vorgetragenen Überlegungen verfassungsrechtlichen Bedenken.
IV.
Mischformen zwischen formeller und materieller Privatisierung bei der Wahrnehmung kommunaler Aufgaben der Daseinsvorsorge (Teilprivatisierung)
6. Bevor ich auf die gegenwärtige Problematik dieser Form der Privatisierung eingehe, erlauben Sie mir den Hinweis auf ein bekanntes historisches Beispiel einer solchen Privatisierung, das schon 160 Jahre zurückliegt und in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach behandelt worden ist. Denn dieses Beispiel liefert meines Erachtens einen nach wie vor einleuchtenden Beleg dafür, dass sinnvolle Teilprivatisierungen möglich sind. a) Es handelt sich um das Preußische »Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen« vom 3. November 183851, an dessen Entstehung übrigens der große Jurist Friedrich Carl von Savigny als damaliges Mitglied des Preußischen Staatsrats weit über seine amtlichen Kompetenzen hinaus maßgeblich mitgewirkt hat52. Worum ging es mit dieser Regelung? Die Kassen des preußischen Staates waren damals vor allem noch als späte Folge der napoleonischen Freiheitskriege leer. Nach der Staatsschuldensverordnung von 1820 war die AufDas Volk nahm die Schiedsrichterrolle zwischen den Gruppen in die eigenen Hände. Man kann die Gesamtheit der Mitglieder des Volkes selbst wieder als ›rechtssetzende Gruppe‹ auffassen. Der Gedanke liegt den Gesellschaftsvertragstheorien der Neuzeit mehr oder weniger zugrunde. Dabei darf aber die besondere Qualität dieser Gruppe nicht aus dem Blick geraten. Sie ist gerade nicht durch die Partikularität eines Interesses charakterisiert, sondern dadurch, dass sie die Befugnis in Anspruch nimmt, über partikuläre Interessen von Gruppen zu entscheiden. Der Staat steht damit grundsätzlich auf einer anderen Ebene als die Gruppen, was ja auch in der Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat zum Ausdruck kommt.« Das gilt – wie gesagt – gleichfalls für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften als unterste demokratische Entscheidungsebene des Staates. Auch hier zeigt sich (s. bereits im Text unter 2 b), dass eine grundrechtliche Interpretation des Artikel 28 Abs. 2 GG und auch noch sein Verständnis als institutionelle Garantie in die Irre führt. 51 Abgedruckt bei Grotefend/Cretschmar, Preußisch-deutsche Gesetz-Sammlung 1806 – 1904, Bd. 2 (Die Verwaltung) 1904, S. 283 ff. Vgl. dazu aus der Literatur des 19. Jahrhunderts: Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 1868, S. 1001 ff.; Dernburg, Lehrbuch des Preußischen Privatrechts, Bd. 2, 1878, S. 602 ff. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts s. nur: Kiefner, in: Hefermehl u.a (Hrsg.) FS für Harry Westermann zum 65. Geburtstag, 1974, S. 263 ff.; Landwehr, in: Köbler (Hrsg.) , Wege europäischer Rechtsgeschichte, 1987, S. 249 (255 ff.); Bieback, Die öffentliche Körperschaft, 1975, S. 105 ff.; Henderson, in: Born (Hrsg.), Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte , 1966, S. 137 ff.; Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 1967, S. 615 ff. u. a. 52 Dazu Kiefner, a. a. O.
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nahme neuer Schulden für den als dringend notwendig erkannten Eisenbahnbau nur mit Zustimmung der Stände möglich, die einzuholen wiederum der preußische König aus hier nicht zu schildernden Gründen sich weigerte. Zweifellos war nun aber der Ausbau der Verkehrseinrichtungen, wie noch einmal deutlich das Landes-Kultur Edikt von 1811 betont hatte, eine staatliche Aufgabe – oder, wie man heute genauer sagen würde, eine Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge. Wie kann man nun aber notwendige staatliche Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllen, wenn das Geld dafür nicht vorhanden ist, keine weiteren Schulden gemacht werden dürfen und das alles dennoch unter prägender staatlicher Einflussnahme geschehen soll? Genau auf diese Fragen gab das genannte Eisenbahngesetz eine noch heute überraschend einfache und kluge Antwort: Es mobilisierte privates Risikokapital – wie die Ökonomen sagen würden – in der Weise, dass Inhaberaktien für die geplante Eisenbahnbau AG ausgegeben wurden. Das Gesetz sicherte dem Staat aber eine weitgehende Einflussnahme auf die privaten Eisenbahngesellschaften. Jede Gesellschaft bedurfte zu ihrer Errichtung und zum Bau der Bahnlinien einer staatlichen Konzession. Vor ihrer Erteilung wurde u. a. die Streckenführung geprüft. Der Staat konnte weiter Einfluss nehmen auf die Festlegung der Tarife und besaß ein allgemeines Aufsichtsrecht über die betreffende Eisenbahn AG. Die Eisenbahngesellschaften hatten weiter eine nach dem Ertrag zu berechnende Abgabe in einen staatlichen Fonds einzuzahlen, mit dessen Mitteln u. a. es dem preußischen Staat in der Folgezeit möglich war, gemäß § 42 des Gesetzes zu verfahren, d. h. »das Eigentum der Bahn mit allem Zubehör gegen vollständige Entschädigung anzukaufen«. Das ist dann später auch weitgehend durch den preußischen Staat geschehen. b) Die Erteilung einer staatlichen Konzession, die Zahlung einer Konzessionsabgabe an den Staat, der staatliche Einfluss auf den von den Reisenden zu zahlenden Fahrpreis, das (Rück-) Kaufsrecht des Staates und seinen Einfluss auf die baulichen Maßnahmen – alles das zeigt augenscheinliche Parallelen zu den Bestimmungen, wie wir sie heute in den Konzessionsverträgen der Kommunen mit den Gas- und Elektrizitätsunternehmen wiederfinden. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Regelungskomplexen scheint mir allerdings darin zu liegen, dass die damaligen Konzessionsabgaben zweckgebunden in einem Fonds in der Absicht gesammelt wurden, den staatlichen Einfluss auf das Eisenbahnwesen bis hin zum Kauf der gesamten Eisenbahnanlagen zu erhöhen. Es gibt also augenscheinlich Möglichkeiten einer sinnvollen Aufgabenteilung zwischen Kommunen und Privatwirtschaft im Bereich »schlichter« Daseinsvorsorge, d. h. jener Bereiche, die nicht dem Anschluss- und Benutzungszwang unterfallen. Allerdings zeigt der eben genannte Unterschied auch, wo gegenwärtig Änderungsmöglichkeiten beständen. So könnten die Kommunen theoretisch auch heute noch durch entsprechende Maßnahmen sicherstellen, dass
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die Mittel aus der Konzessionsabgabe mit dem Ziel angespart werden, nach Ablauf des Konzessionsvertrages gemäß den sogenannten »Endschaftsbestimmungen« derartiger Verträge die im Gemeindegebiet vorhandenen Anlagen von den Energieversorgungsunternehmen zu kaufen bzw. sich damit diese Entscheidung zumindest offen zu halten. Geschah das entsprechende Vorgehen des preußischen Staates damals aus allgemeinen Überlegungen der Staatsräson, zu denen auch in erheblichem Maße militärische gehörten53, so scheint mir heute angesichts der hier versuchten inhaltlichen Bestimmung der demokratischen Legitimation kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften und ihrer Rechtfertigung zumindest die Frage berechtigt, ob nicht ein verfassungsrechtliches Gebot für die Kommunen bestehen könnte, auf dem Gebiet der Gas- und Elektrizitätsversorgung durch ähnliche Fondslösungen wie im preußischen Eisenbahngesetz realisiert verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Solange nicht der Beweis erbracht ist, dass die augenblickliche Aufgabenteilung zwischen Kommunen und Energieversor53 Dass es danach keine verfassungsrechtlichen Überlegungen sein konnten, zeigt folgende – klassisch zu nennende – Rechtsansicht Labands, die er noch kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges geäußert hat (s. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, 5. Aufl. 1913, S. 51): »Der Staat«, so sagt er, überschreitet nicht »durch den Betrieb der Post und Telegraphie den aus seinem Begriff sich ergebenden Kreis von Aufgaben … Der Staat hat die Pflege der Wohlfahrt des Volkes zur wesentlichen Aufgabe, wenn es demnach zur Erreichung dieser Aufgabe geboten erscheint, Anstalten für den Verkehr von Staats wegen zu errichten, so handelt der Staat durch Erfüllung dies Gebots innerhalb seiner begriffsmäßigen Zwecke. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie mit dem Betriebe von Eisenbahnen … durch den Staat. Der Staat hält die Post- und Telegraphenanstalten nicht ausschließlich im fiskalischen Finanzinteresse; es sind vielmehr zugleich öffentliche Interessen, welche er dabei verfolgt; er befriedigt ein unabweisbares Bedürfnis sowohl des Staates selbst, als der einzelnen Angehörigen desselben. Man muss sich aber wohl hüten, aus dieser zweifellosen und unbestrittenen Tatsache falsche Folgerungen herzuleiten. Es ist zwar richtig, dass der Staat ohne Postanstalt in der Gegenwart nicht bestehen, seine wesentlichen Aufgaben nicht erfüllen könnte, dass er daher eine ebenso dringende und unerlässliche Pflicht hat, für die Existenz einer leistungsfähigen Posteinrichtung, wie für die Rechtspflege und Landesverteidigung zu sorgen. Daraus folgt aber keineswegs, dass der Staat selbst die Post und Telegraphie in eigenem Betriebe haben müsse ; es ist vielmehr auch die Möglichkeit gegeben, dass der Staat kraft seiner Gesetzgebung und Beaufsichtigung für die Wahrung aller öffentlichen Interessen in ausreichender Weise sorgt, ohne den Betrieb der Post selbst zu übernehmen … Die ›Verstaatlichung‹ der Post ist nur eine der möglichen Formen, in denen das öffentliche Interesse, welches gebieterisch den Betrieb der Post verlangt, befriedigt werden kann. Die Gründe, welche für diese Form in das Gewicht fallen, mögen so schwerwiegend sein, dass vernünftigerweise dadurch alle anderen an sich möglichen Formen ausgeschlossen werden; immerhin sind diese Gründe nicht aus der rechtlichen Natur der durch den Betrieb der Post ausgeübten Funktion hergeleitet, sondern nur Zweckmäßigkeitsgründe , politische, militärische, finanzielle und volkswirtschaftliche Erwägungen.« Genau das ist m. E. – wie hier zu zeigen ist – im Staat des Grundgesetzes, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und darum auch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie richtigerweise als Garantie einer selbständigen demokratischen Entscheidungsebene verstanden wird (s. hier im Text unter 2 b), anders.
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gungsunternehmen die wirtschaftlichere (sparsamere) Lösung auch im Blick auf ökologische Zielsetzungen ist, scheint mir das eine zwingende Folgerung aus der demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zu sein. 7. Weitere wichtige Formen kommunaler Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft finden sich bekanntlich besonders in der Abwasserentsorgung, – einer kommunalen Aufgabe, für die ja durchweg Anschluss- und Benutzungszwang besteht und die damit »qualifizierte« (und nicht nur »schlichte«) Daseinsvorsorge beinhaltet. Aus diesem Umstand wird von der wohl überwiegenden Meinung zunächst gefolgert, dass unabhängig von den Rechtsformen der Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Privatwirtschaft die Bürger in der Abwasserentsorgung in direktem Kontakt zur Gemeinde stehen müssen54. Ähnlich wurde früher in den Stellungnahmen zur Organisation der kommunalen Abfallentsorgung55, für die ja ebenfalls Anschluss- und Benutzungszwang angeordnet werden kann (§ 8 Nr. 2 NGO), argumentiert. Allerdings wird diese Argumentation , die meines Erachtens verfassungsrechtlich (grundrechtlich) fundiert ist, heute nach Erlass des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes (s. dort besonders § 16 Abs. 2) nur noch bedingt aufrechterhalten56. Das kann hier dahingestellt bleiben. Denn die folgenden Überlegungen konzentrieren sich deshalb allein auf die Abwasserentsorgung, weil sich hier besonders deutlich verschiedene Organisationsformen der Zusammenarbeit zwischen kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften und Privatwirtschaft herausgebildet haben. Das gilt vor allem für das gerade in der kommunalen Abwasserentsorgung immer häufiger praktizierte sogenannte Betreibermodell. Dazu hat sich ein erfahrener Prüfer kommunaler Unternehmen aus wirtschaftlicher Sicht wie folgt geäußert: »Beim Betreibermodell bindet sich die Kommune sachlich (Errichtung, Finanzierung und Betrieb) und zeitlich (langfristig) an ein Unternehmen, hinter dem in der Regel ein Konsortium aus Planungsunternehmen, Bank und Betreiber steht. Die Kommune gibt im kommunalen Bereich ein Stück kommunale Selbstverwaltung global an ein privates Unternehmen mit Monopolwirkung und Ausschalten des Marktes. Die Entscheidung ist auf lange Zeit nicht revidierbar. Wichtige Kontrollmechanismen werden ausgeschaltet, weil die Errichtung über eine Totalunternehmerschaft … erfolgt und die 54 So bereits Köttgen (Anm. 11), S. 83 f.; vgl. auch Bodanowitz, Organisationsformen für die kommunale Abwasserbeseitigung, 1993, S. 29 ff. A. A. aus neuerer Zeit besonders Brünning, Der Private bei der Erledigung kommunaler Aufgaben, 1997, S. 258 ff. 55 Schoch, Privatisierung der Abfallentsorgung, 1992, S. 37 ff., 141 ff. 56 s. dazu Weidemann, DVBl. 1998, S. 661 (bes. 665 ff.) und – weniger klar – Kloweit, Die Beteiligung Privater an der Abfallentsorgung, 1995, S. 185 ff. Zum gesetzgeberischen Versagen im neuen Abfallrecht eindrucksvoll: Kibele, VBlBW 1999, S. 1 ff.
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Kontrollfunktion des Planers in der Verpflichtung zur Kommune entfällt. Auf einer Zeitachse betrachtet, fallen die Leistungen Planung, Finanzierung und Errichtung zu unterschiedlichen Zeitpunkten an und es besteht keine Notwendigkeit, alle Leistungen zu einem frühen Zeitpunkt in eine Hand zu geben. Die Vergabe von Leistungen im Rahmen von z. B. HOAI-, VOB- oder VOL-Verträgen zum richtigen Zeitpunkt, diversifiziert an den jeweiligen Spezialisten, vermeidet ein nicht unterschätzbares Problem: Die Abnahmesituation einer Planungsleistung, einer Bauleistung oder einer Finanzierungsleistung ist grundsätzlich unterschiedlich zur Abnahme einer Betreiberleistung zu betrachten. Die erstere ist faktisch nach Leistung abzunehmen, die zweite wird für die Zukunft vereinbart. Die Vermischung dieser Leistungen liegt nicht im Interesse der Kommunen. Dazu kommt, dass in den von mir gesichteten Betreiberregelungen neben der angemessenen Dynamisierung des vereinbarten Entgelts, jeweils Haftungsund Gewährleistungsregelungen für Einnahmeausfälle des Betreibers vereinbart sind, die das wirtschaftliche Risiko voll der Kommune zuordnen. In diesem Falle braucht die Kommune aber keinen globalen Partner mit Monopolstatus, sondern nutzt die Möglichkeiten des Marktes über differenzierte Verträge. Abschließend sei noch festgestellt, dass mit einer privatrechtlichen Regelung die öffentlich-rechtliche Verpflichtung der Kommunen nicht abgewälzt werden kann, d. h. diese Verpflichtung bleibt sowohl, was die Erfüllung als auch was die Strafbarkeit bei Nichterfüllung angeht (z. B. Strafbarkeit nach Wasserrecht), bei der Kommune und ihren Verantwortlichen«57.
Dieses kritische Urteil findet noch seine zusätzliche Unterstützung in dem Umstand, dass es ja in der Realität durchweg nicht so abläuft, wie man nach dem »offiziellen« Mustervertrag für ein Betreibermodell des Bundesumweltministeriums58 den Eindruck gewinnen könnte, – nämlich, dass sich beim Betreibermodell zwei Vertragspartner deutlich unterscheidbar gegenüberstehen. Der Wirklichkeit kommt insoweit Cronauge wohl weitaus näher, wenn er als »Muster« für ein Kooperationsmodell in der Abwasserentsorgung den sogenannten Entsorgungsvertrag (Betreibervertrag) zwischen Kommunen und der Abwasserentsorgung GmbH einbettet in ein Bündel weiterer miteinander zusammenhängender Vertragsbeziehungen, das dann insgesamt so aussieht: Es gibt einen Gesellschaftsvertrag der Abwasserentsorgung GmbH (an der durch diesen Vertrag die Kommune auch beteiligt wird), den schon genannten Entsorgungsvertrag zwischen der Kommune und der Abwasserentsorgung GmbH, den Pachtvertrag zwischen der Kommune und der Abwasserentsorgung GmbH und schließlich den Betriebsführungsvertrag zwischen der Abwasserentsorgung 57 So S. 7 f. des maschinenschriftlichen Manuskripts eines Vortrags, den Horst Krautter im November 1994 auf dem Oberkreisdirektoren-Seminar des Niedersächsischen Landkreistages gehalten hat. 58 s. dazu die Musterverträge, die vom Bundesumweltministerium als Anlage zum Erfahrungsbericht über BMU-Projekte in den neuen Bundesländern unter folgendem Titel 1992 herausgegeben wurden: Ökologischer Aufbau. Privatwirtschaftliche Realisierung der Abwasserentsorgung – Musterverträge -.
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GmbH und einer Betriebsführungs GmbH, d. h. jener GmbH, die dann endlich konkret abwassertechnische Anlagen betreibt59. Zu diesem Geflecht verschiedenartiger Vertragsbeziehungen kommt hinzu, dass im Vertragsmuster des sogenannten Entsorgungsvertrages auch geregelt ist60, dass das von den Kommunen zu zahlende Entgelt an die Abwasserentsorgung GmbH auch »die Kapitalkosten für das notwendige Kapital« umfasst, »das sich aus den Anschaffungs- und Herstellungskosten … ergibt«. Wenn wir uns an dieser Stelle unserer Überlegungen daran erinnern, dass der preußische Staat mit dem Eisenbahngesetz von 1868 privates Kapital mobilisierte und aufgrund seiner Konzessionserteilung für die jeweilige Eisenbahn AG noch Geld verdiente, mit dem er später das Eigentum an den Eisenbahnen erwerben konnte, dann wird deutlich, wie – zumindest finanziell gesehen – richtige und falsche Zusammenarbeit zwischen Staat bzw. kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften und Privaten aussieht! Für unsere gegenwärtige Bestandsaufnahme bleibt abschließend noch zu bemerken, dass die geschilderte Einschaltung einer gemischten Gesellschaft in das Betreibermodell wie schon das Kooperationsmodell einer gemischten Gesellschaft als solches gegenüber dem reinen, auf einer zweiseitigen Vertragsbeziehung beruhenden Betreibermodell weitere Bedenken auslöst. Lassen wir wieder unseren Praktiker sprechen. Er führt zur gemischten Gesellschaft aus: »Grundsätzlich gilt die Darstellung zum Betreibermodell. Hinzu kommt: In den meisten der untersuchten Gesellschaftsgründungen bestand für die Gründung der Gesellschaft aus der Sicht der Kommune überhaupt kein Anlass, weil Vorteile beim Management oder gar der Finanzierung oder gar durch Übernahme von wirtschaftlichem Risiko durch den privaten Partner nicht gegeben waren. In aller Regel teilt die Kommune ihre Zuständigkeit für eine öffentliche Aufgabe mit einem privaten Unternehmer, der sich damit exklusiv Dienstleistungen gegen Honorar sichert, ohne angemessenen Vorteilsausgleich. Mit dem Kooperationsmodell – Gemischte Gesellschaft wird in vielen Fällen die klassische und sinnvolle Differenzierung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zu Lasten der Kommune vermischt, weil die Kommune in der gemischten Gesellschaft (mit den Loyalitätspflichten aus dem Gesellschaftsrecht) durch Gesellschaftsgründung Auftragnehmer geworden ist und als Endabnehmer der Leistung Auftraggeber ist. Weiter ist zu bedenken, dass der private Partner ausschließlich nach den Regeln des Gesellschaftsrechts und der Betriebwirtschaft handeln darf und muß, während die Kommune immer auch öffentlich-rechtliche Verpflichtungen (z. B. bei der Abwasserentsorgung) erfüllen muss und unter politischem Erfolgszwang steht; hier besteht für die Politik die Gefahr der Erpressbarkeit«61.
59 s. im einzelnen Cronauge, Kommunale Unternehmen, 3. Aufl. 1997, S. 323 ff. 60 A.a.O., S. 335. 61 So Krautter (Anm. 57), S. 8.
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8. Mit dieser Feststellung ist meines Erachtens der Boden für eine kurze rechtliche Würdigung der in der Praxis üblichen Modelle der Teilprivatisierung bereitet: a) Wenn einschlägige Untersuchungen in Übereinstimmung mit der hier wiedergegebenen Stellungnahme eines Kenners der Szene feststellen, dass bereits die Realisierung des Betreibermodells vermeidbare wirtschaftliche Nachteile für die Kommunen mit sich bringt62, so müssen dagegen wie gegen andere Formen der Teilprivatisierung auch alle jene haushaltsrechtlichen Bedenken gelten, die schon so häufig gegen die private Vorfinanzierung des Baus von Straßen, wie sie besonders auf Bundesebene praktiziert wird, vorgetragen wurden63. Die augenscheinlichen wirtschaftlichen Nachteile des Betreibermodells in der geschilderten Form verstoßen so gesehen gegen das haushaltsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot. Daneben ist dieses Modell nicht mit den Grundsätzen der Haushaltsvollständigkeit, -klarheit und –wahrheit zu vereinbaren und stellt nach einigen Autoren auch den rechtlich bedenklichen Versuch einer Umgehung der für die Kreditaufnahme der Kommunen geltenden Grenzen dar. Schließlich ist in diesem Zusammenhang an die Argumente zu erinnern, die hier aus dem Gebot der demokratischen Legitimation allen kommunalen Verwaltungshandelns gegen die formale Organisationsprivatisierung abgeleitet wurden. Sie gelten zum Teil deshalb auch im vorliegenden Fall , weil ein wesentlicher Bereich der Vollzugsaufgaben im Betreibermodell in die Hand Privater gelegt wird, wobei die vertraglich vereinbarten Mitteilungs- und Auskunftspflichten, Ingerenzrechte, Kündigungsschutzklauseln u. a. zugunsten der Gemeinden und ihrer Räte keinen Ersatz für diesen Verlust an demokratischer Steuerung darstellen können64. Von einer politischen Verantwortlichkeit der Ratsherren für die Abwasserentsorgung kann bei deren Realisierung durch das Betreibermodell meines Erachtens nicht mehr gesprochen werden. Das gilt vor allem in den (in der Praxis wohl am häufigsten vorkommenden) Fällen, in denen die hier geschilderten »Vertragspakete« für eine Kooperation zwischen Kommunen und Privatwirtschaft in der Abwasserentsorgung geschnürt werden. Ich darf hier auch noch einmal an die wiedergegebene Kritik an der gemischten Gesellschaft insofern erinnern, als dort besonders kritisiert wurde, dass durch solche Vertragspakete die »klassische und sinnvolle Differenzierung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zu Lasten der Kommunen verwischt« wird65. 62 Dazu besonders gründlich Bodanowitz (Anm. 54), S. 108 ff. 63 Zu den entsprechenden Argumenten gegen die private Vorfinanzierung des Straßenbaus s. besonders Ekardt, VBlBW 1997, S. 281 ff.; daneben Höfling, DÖV 1995, S. 141 ff.; Zeiss, ZRP 1998, S. 467 ff. und Steinwachs/Zeiss, ZRP 1997, S. 211 ff. 64 Übersichtlich zu diesen Einflussmöglichkeiten Hartmut Bauer, DÖV 1998, S. 89 (93 ff.). 65 s. noch einmal Krautter (Anm. 57), S. 8.
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b) Die vorgetragene Kritik ist deshalb so ernst zu nehmen, weil das überkommene Verwaltungsrecht passende Rechtsinstitute für die effektive Erledigung der Abwasserentsorgung besitzt, deren Einsatz aber eben nicht den dargestellten rechtlichen Bedenken unterliegt. So ist ausführlich dargelegt worden, dass gerade der kommunale Eigenbetrieb die ideale Organisationsform für die Abwasserentsorgung darstellt und nötigenfalls kommunale Abwasserbeseitigung im »Querverbund« mit anderen Eigenbetrieben oder durch interkommunale Zusammenarbeit sinnvoll durchgeführt werden kann66. Daneben ist zu beachten, dass die Erledigung hoheitsrechtlicher Gemeindeaufgaben wie die der Abwasserentsorgung nicht die Einschaltung eines sog. (privaten) Verwaltungshelfers verbietet, wenn dabei folgende, bereits 1961 von Köttgen richtig formulierten Grenzen beachtet werden: »Demnach muß sich ein in die Versorgung eingeschalteter Dritter im Zweifel mit der Rolle eines kommunalen Erfüllungsgehilfen begnügen, da die Gemeinde die sich für sie aus dem Anschluss- und Benutzungszwang ergebenden Rechte und Pflichten nicht übertragen kann. Werden also die technischen Obliegenheiten eines Verwaltungsmonopols von einer kommunalen Gesellschaft oder sogar von einem beliebigen Privatunternehmer wahrgenommen, so ist dieses für den Benutzer nicht mehr als ein Faktum, das ihn juristisch in keiner Weise berührt. Das Benutzungsentgelt bleibt eine der Gemeinde geschuldete Gebühr, die Ansprüche des Benutzers richten sich allein gegen die Gemeinde. Verstöße gegen den Benutzungszwang oder gegen die sonstige satzungsrechtliche Benutzungsordnung sind keine Vertragsverletzungen gegenüber wem auch immer, sondern Verstöße gegen die Satzung, die für diesen Fall die Anwendung öffentlich-rechtlicher Zwangsmittel vorsehen kann«67.
Schließlich kommt für die Teilnahme Privater an der Erledigung hoheitlicher Gemeindeaufgaben sogar der öffentlichrechtliche Kooperationsvertrag in Betracht. Denn er zeichnet sich in seiner überkommenen Form (und im Gegensatz zum Betreibervertrag) dadurch aus, dass zwischen der öffentlichen Hand und Privaten konkrete Einzelleistungen in der Form vereinbart werden, dass es »zu einer genauen und gerechten Verteilung der beiderseitigen, einander entsprechenden Rechte und Pflichten« kommt, und zwar »je nach den Besonderheiten des Sachgebiets, in dem die Aufgabe durch Zusammenwirken zu erfüllen ist«68. Entscheidend ist nun – wie gesagt –, dass es in diesen Verträgen gerade nicht um die Übertragung der ganzen kommunalen Aufgabe geht. Daneben ist zu beachten, dass die vereinbarte (Teil-)erledigung der kommunalen Aufgabe durch Private von diesen gewöhnlich nicht auf Subunternehmer übertragen werden 66 s. Bodanowitz (Anm. 54), besonders S. 68 ff. 67 So Köttgen (Anm. 11), S. 82. Daneben aus neuerer Zeit vor allem Dirk Ehlers, Die Erledigung von Gemeindeaufgaben durch Verwaltungshelfer, 1997, S. 18 ff., 23 ff. 68 So faßt Wilhelm Henke (DÖV 1985, S. 41, ähnlich S. 53) die Eigenart dieses Vertragstyps zusammen.
106
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
darf. Es liegt also – zivilrechtlich gesprochen – ein obligatorischer Vertrag vor, der den Privaten als Person verpflichtet. Dabei handelt er in Erfüllung seiner Vertragspflichten und nicht in Ausübung eines anvertrauten öffentlichen Amtes, womit auch eine Haftung der öffentlichen Hand für sein Handeln prinzipiell ausgeschlossen ist69. Im Ergebnis steht es den Gemeinden – wie das Beispiel der Abwasserentsorgung zeigt – aus verfassungsrechtlichen Gründen also nicht frei, sich für das Betreibermodell oder eine Beteiligungsgesellschaft bei der Erledigung ihrer Aufgaben der Daseinsvorsorge zu entscheiden. Stärker noch als bei der Organisationsprivatisierung besteht hier eine Präferenz für den Eigenbetrieb. Im Übrigen sind in den angegebenen Grenzen die Einschaltung eines privaten Verwaltungshelfers in die Erledigung der entsprechenden Gemeindeaufgaben und der Abschluss eines kooperativen (obligatorischen) verwaltungsrechtlichen Vertrages zu diesem Zweck möglich. 69 s. im Einzelnen dazu: Henke, a. a. O., S. 41 ff., 48 ff. Der infrage stehende Betreibervertrag unterscheidet sich von dem üblichen verwaltungsrechtlichen Kooperationsvertrag im geschilderten Sinne neben den anders geregelten Haftungsfragen noch durch folgende Merkmale: 1. Nach § 4 des Mustervertrages des Bundesumweltministeriums für einen Betreibervertrag (Anm. 58, S. 12) sind »die von der Firma X nach diesem Vertrag übernommenen sowie in ihrem Auftrag künftig neu hergestellten, der Erfüllung der Aufgaben der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung dienenden Anlagen, Bauwerke und Gegenstände … öffentliche Einrichtungen.« Und in der Erläuterung dazu (a. a. O.) heißt es: »Die von dem Betreiber aufgrund des Vertrages errichteten Anlagen sind öffentliche Einrichtungen im Sinne des Kommunalrechts. Dies ergibt sich bei Vorliegen einer entsprechenden Zweckbestimmung aus dem öffentlichen Sachenrecht. Danach ist die Eigenschaft eines Sachbestandes als eine öffentliche Einrichtung gerade nicht von der Eigentümerstellung, sondern nur von der verlautbarten Zweckbestimmung abhängig. Eine solche ergibt sich aus dem vorstehenden Absatz.« Eine entsprechende öffentliche Sachherrschaft in privater Hand – sofern rechtlich so etwas überhaupt möglich ist – begründet der Kooperationsvertrag im üblichen Sinne nicht. 2. Es wird – wie Krautter es ausdrückt (s. schon hier im Text bei Anm. 57) – mit dem Betreibervertrag »ein Stück kommunaler Selbstverwaltung global an ein privates Unternehmen mit Monopolwirkung und Ausschalten des Marktes« übergeben und diese Entscheidung ist »auf lange Zeit nicht revidierbar«. Es handelt sich also – wiederum im Gegensatz zum überkommenen Kooperationsvertrag – um die vertragliche Begründung einer »Totalunternehmerschaft«, in der Planung, Errichtung, Finanzierung und Betrieb der Anlage in einer Hand liegen. Sind diese Modifikationen nun aber bei einer Aufgabe wie der Abwasserentsorgung, die letztlich der Ordnungsverwaltung zuzurechnen ist, rechtlich zulässig? Ich meine das aus verfassungsrechtlichen (grundrechtlichen) Gründen verneinen zu müssen. Denn es kann eine Privatisierung von polizeilichen Aufgaben – Polizei im materiellen Sinne verstanden – deshalb nicht geben, weil nur die öffentliche Hand (s. auch Artikel 33 Abs. 4 GG) insoweit ein willkürfreies, verhältnismäßiges Verwaltungshandeln garantieren und verantworten kann. Allein der private Verwaltungshelfer und der kooperative Verwaltungsvertrag im geschilderten Sinne stellen hier die zulässigen Ausnahmen dar. Daraus folgt für die Erledigung von Daseinsaufgaben, die letztlich polizeiliche Aufgaben betreffen, dass sie grundsätzlich durch die Verwaltung selbst zu erfüllen sind (im Ergebnis ebenso für die Abwasserentsorgung Köttgen und Bodanowitz – s. hier den Nachweis in Anm. 54).
3. Zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge
V.
107
Rechtspolitischer Ausblick
9. a) Kennt man sich einigermaßen in den zahlreichen Novellen zur NGO der letzten zehn Jahre aus, so wird einem nicht entgangen sein, dass meine Darlegungen in weiten Teilen als Plädoyer für eine Rückkehr zu jenen Regelungen zu verstehen ist, die mit dem Neunten Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Gemeindeordnung und Niedersächsischen Landkreisordnung vom 10. Mai 1986 in Kraft getreten sind (Nds. GVBl. S. 140). Denn besonders mit dieser Novelle wurde ja der Versuch gemacht, die Wahlfreiheit der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften bezüglich der Rechtsform, in der sie ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge erledigen, einzuschränken. Doch haben solche Überlegungen angesichts der Tatsache, dass die Kommunen heute besonders wegen ihrer desolaten Finanzsituation mit dem Rücken zur Wand stehen, überhaupt einen Sinn – liefern sie nicht vielmehr Steine statt Brot? Ich meine das deshalb verneinen zu müssen, weil gerade dann, wenn verfassungsrechtliche Gründe gegen die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge geltend gemacht werden, der Gesetzgeber in Bund und Ländern endlich gezwungen wird, in jenen Bereichen finanzielle Erleichterungen für die Kommunen zu schaffen, in denen das rechtlich durchsetzbar und sinnvoll ist. Ich nenne nur beispielsweise folgende Möglichkeiten: – Streichung des § 96 Abs. 1 Satz 1 Bundessozialhilfegesetz, nach dem die kreisfreien Städte und Landkreise örtliche Träger der Sozialhilfe sind, da diese Vorschrift wegen der inzwischen eminent hohen finanziellen Belastung der betroffenen Kommunen »weder eine nur punktuelle Annexregelung darstellt, noch für den wirksamen Vollzug des BSHG notwendig ist«70. Dass der klassische Bereich der (Jugend-) fürsorge damit nicht erfasst ist, sei besonders betont. – Änderung des Artikel 104 a GG im Sinne der Durchsetzung des Verursacherprinzips. Insofern kann auf die von der Konferenz der Landtagspräsidenten vorgeschlagene Formulierung zurückgegriffen werden71. – Reform des Asylgrundrechts (Artikel 16 Abs. 2 GG) im Sinne einer innerstaatlichen Gewährleistung des entsprechenden völkerrechtlichen Standards72.
70 So etwa Mückl, ZG 1998, S. 197 (209 ff. – Zitat: S. 210) mit Nachweisen; s. daneben Schoch/ Wieland, JZ 1995 S. 982 ff. 71 s. NdsLT-Drs. 12/2797; daneben Schoch, der landkreis 1994, S. 253 ff. und ZRP 1995, S. 387 ff.; Mückl,Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998, S. 143 ff. 72 So bereits der Vorschlag des jetzigen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Papier vor gut 10 Jahren, s. ders., Der Staat 27 (1988), S. 33 ff. (Formulierungsvorschlag: S. 54). Zur
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
– Verstärkte Einführung von standardisierten gesetzlichen Regelungen auf Bundes- und Landesebene, deren Vollzug den Kommunen obliegt. – Streichung der Vorschrift über die Frauenbeauftragte (§ 5 a NGO) unter gleichzeitiger Einfügung der zwingenden Regelung in das Personalvertretungsgesetz, dass die Hälfte der Mitglieder des Personalrats Frauen sein müssen73. – Vereinfachung der Regeln des Datenschutzrechts. Hinzukommen müsste ebenfalls eine Vereinfachung des Gemeindeverfassungsrechts, für die viele Vorschläge von den kommunalen Spitzenverbänden und anderen auf dem Tisch liegen. Am Rande sei dazu bemerkt: Dass mit der letzten großen Reform der NGO aus dem Jahr 1996 die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung gebremst wurde, die ich hier an gleicher Stelle vor 11 Jahren kritisiert habe74, ist ein Irrtum. Doch zurück zur Berechtigung der vorgetragenen Kritik an der zunehmenden Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge. Meine abschließende These dazu lautet: Erst wenn die aufgezählten oder ähnliche Reformen des geltenden Rechts realisiert würden und die Kommunen dann immer noch vor den gleichen Schwierigkeiten wie heute ständen, besitzt man das Recht, die hier genannten verfassungsrechtlichen Bedenken als unbeachtlich beiseite zu schieben. b) Das Thema weist daneben aber über die unmittelbare kommunale Problematik hinaus. Denn letztlich zeigt sich auf der kommunalen Ebene ja ein Problem, das für die gesamte Exekutive gilt. Will man sich wirklich – so lautet insoweit die Frage – angesichts vieler entsprechender (Schein-)Privatisierungsvorhaben auf Bundes- und Landesebene langfristig ausschließlich am Modell einer »Skelett-Verwaltung« englischer Provenienz orientieren75 und dem Konzept eines unternehmerischen Managements? Die klassische kontinentaleuropäische Verwaltung lebt in ihrem Kern von anderen Traditionen, die Klaus König wie folgt gekennzeichnet hat76 : »Die Selbstbeschreibung der klassischen öffentlichen Verwaltung durch das Regulativ des Rechtsstaates bietet eine über das Professionell-Technokratische hinausweisende
73 74 75 76
Unterbringung von Flüchtlingen als Pflichtaufgabe der Kommunen: Glauben, DÖV 1993, S. 821 ff. und Mückl (Anm. 71), S. 42 ff., 195 ff. Zu nach wie vor bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 5 a NGO: Grußendorf, NST-N 1995, S. 22 ff. s. den Nachweis hier in Anm. 38; vgl. daneben meine Stellungnahme in: Erichsen (Hrsg.), Kommunalverfassung heute und morgen – Bilanz und Ausblick -, 1989, S. 32 ff. Dazu Ridley, DÖV 1995, S. 569 ff. Für die Kommunen hat eine ähnliche Frage schon 1986 Reffken (dng 1986, S. 161 ff.) gestellt. Verw.Arch. 87 (1996), S. 19 (37). Zur Vereinbarkeit von Gesetzmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung s. zuletzt: Gaentzsch, DÖV 1998, S. 952 ff.; Penski, DÖV 1999, S. 85 ff. und Helsper, BB 1999, S. 20 ff.
3. Zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge
109
Qualität. Es bindet die öffentliche Verwaltung in ihren Konkretisierungen an Menschen- und Bürgerrechte, an die Messbarkeit ihrer Handlungen, an die Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken, an die Gewährleistung von Rechtsschutz usw. Es geht mithin nicht einfach darum, dass der öffentliche Dienst eine Identitätsformel gefunden hat, sondern dass die Suche nach Gerechtigkeit zugunsten der Bürger gesichert wird.«
Mit diesem letzten Zitat bin ich auch bei meiner letzten Frage angelangt, nämlich der nach der Aufgabe des Verwaltungsjuristen in diesem Prozess der Veränderung. Der Verwaltungsjurist muss notwendigerweise – so hat Ernst Forsthoff einmal gesagt77 – bisweilen der »lästige Jurist« sein. Warum ist das so? Die Antwort ist ganz einfach: weil es ihm obliegt, Hüter jener Tradition zu sein, die in dem eben wiedergegebenen Zitat von Klaus König so trefflich beschrieben wurde. Nimmt man zu diesen Gedanken den hier entwickelten hinzu, dass demokratische Teilhabe – und namentlich solche auf kommunaler Ebene – ebenfalls etwas mit Menschenwürde zu tun hat, so lässt sich das entscheidende, meine Darlegungen bestimmende Anliegen so zusammenfassen: Der Satz, dass kommunale Selbstverwaltung etwas mit Menschenwürde zu tun hat, sollte eigentlich unmittelbar einleuchten. Wenn Sie nun nach meinen Ausführungen auch die Frage, warum das heute nicht mehr so ist, beunruhigt, dann haben diese Ausführungen ihren eigentlichen Sinn erfüllt.
Thesen I. 1. Kommunale Daseinsvorsorge ist schon immer auch in privatrechtlichen Formen betrieben worden. Diese Entwicklung ist heute aber so weit fortgeschritten, dass der Zusammenhang zwischen Demokratie und Selbstverwaltung grundsätzlich gefährdet ist. Denn kommunale Selbstverwaltung lebt entscheidend von den Aufgaben der Daseinsvorsorge.
II. 2. Die in § 13 Abs. 1 des neuen Energiewirtschaftsgesetzes geregelte Aufhebung des kommunalen Rechts zur Bildung geschlossener Versorgungsgebiete stellt eine rechtswidrige Einschränkung der Betätigungs- und Gestaltungsmöglich77 Forsthoff, DÖV 1955, S. 648 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
keiten der Gemeinden auf dem Sektor der öffentlichen Energieversorgung dar. Denn darin liegt ein Verstoß gegen die durch Artikel 28 Abs. 2 GG geschützte Wegehoheit der Kommunen, die bei einem Verständnis der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips (auch) das Recht verleiht, über das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Energieversorgung im örtlichen Bereich selbst zu entscheiden. 3. Als allgemeine Folgerung für die Grenzen der Aufgabenprivatisierung ergibt sich aus dem besprochenen Beispiel (2.): Der Bereich kommunaler Daseinsvorsorge ist verfassungsrechtlich gegen materielle Privatisierungsversuche vor allem durch die Wegehoheit der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften als besondere Ausprägung ihrer Kompetenz zur Regelung »aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« (Artikel 28 Abs. 2 S. 1 GG) geschützt. Im Übrigen setzt der Begriff der »örtlichen Gemeinschaft« als solcher dem in die kommunale Daseinsvorsorge eingreifenden Gesetzgeber insoweit Grenzen, als das Subsidiaritätsprinzip den (teilweisen) Verbleib der entsprechenden Aufgabe auf der kommunalen Ebene verlangt.
III. 4. Gegen eine formelle Organisationsprivatisierung kommunaler Aufgabenerledigung im Bereich der Daseinsvorsorge, die aus zum Teil verständlichen Motiven immer häufiger auf gemeindlicher Ebene zu beobachten ist, sprechen verfassungsrechtliche Bedenken, die sich aus der besonderen demokratischen Legitimation der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften (Artikel 28 Abs. 1 S. 2 GG) vor allem dann ergeben, wenn die Ausformung dieser demokratischen Legitimation durch das Haushaltsrecht und das für die Ratsherren in besonderem Maße geltende Amtsprinzip mit in die Betrachtung einbezogen wird. 5. Der eigentliche rechtfertigende Grund für die Forderung nach unverkürzter demokratischer Legitimation für die Entscheidungen der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften ist darin zu sehen, dass im Gegensatz zum Privatrecht vom öffentlichen Recht primär nicht die Konflikte zwischen (Einzel-) personen, sondern die zwischen Gruppen zu lösen sind. Denn die Lösung derartiger Konflikte erfordert gerade ein Verfahren, wie es die geschilderte demokratische Legitimation (s. 4.) auf kommunaler Ebene beinhaltet. Die Wahrnehmung kommunaler Aufgaben der Daseinsvorsorge aufgrund von rechtlich zugewiesenen Kompetenzen muss deshalb auch ein anderes Verfahren der Entscheidungsfindung sein als das privates Handeln bestimmende, weil Letzteres ja im Gegensatz zum öffentlichrechtlichen Handeln auf grundrechtlicher Freiheit basiert.
3. Zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge
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IV. 6. Das historische Beispiel des preußischen Eisenbahngesetzes von 1838 zeigt, dass sinnvolle Teilprivatisierungen von Aufgaben der Daseinsvorsorge ohne Einbuße an staatlichem Einfluss auf die Erledigung dieser Aufgaben möglich sind. Allerdings wirft es im Blick auf die heute von den Energieversorgungsunternehmen an die Gemeinden zu zahlenden Konzessionsabgaben die (verfassungsrechtliche) Frage auf, ob diese Einnahmen von den Kommunen nicht zweckgebunden mit dem Ziel angespart werden müssten, ihnen nach Ablauf des Konzessionsvertrages eine Entscheidung für oder gegen seine Fortsetzung zu ermöglichen. 7. Die verschiedenen Formen von Teilprivatisierungen auf kommunaler Ebene sind besonders deutlich im Bereich der Abwasserentsorgung zu finden. Dabei ist für das dort neuerdings häufig vorkommende Betreibermodell ein Geflecht verschiedenartigster Verträge, das eine klare Trennung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer nicht mehr zulässt, prägend. Hinzu kommt, dass durch den von den Kommunen zu leistenden Kapitaldienst und die wegen der Totalunternehmerschaft des Betreibers fehlende Diversifizierung der im Einzelnen zu erbringenden Leistungen das Betreibermodell im Ergebnis für die Kommunen gewöhnlich teurer wird als die Erledigung der Abwasserentsorgung durch einen kommunaleigenen Regiebetrieb oder Eigenbetrieb. 8. Rechtlich sprechen deshalb gegen das in der gemeindlichen Abwasserentsorgung praktizierte Betreibermodell als solches und erst recht gegen seine meistens vertraglich vorgesehene Kombination mit dem Kooperationsmodell einer gemischten Gesellschaft zunächst das haushaltsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot sowie die Grundsätze der Haushaltsvollständigkeit, -klarheit und –wahrheit. Daneben gelten auch hier cum grano salis die demokratischen Bedenken, die gegen die formale Organisationsprivatisierung geltend gemacht wurden. Zu beachten bleibt auch, dass der kommunale Eigenbetrieb sich als besonders geeignete Rechtsform für die Realisierung der Abwasserentsorgung auf kommunaler Ebene erwiesen hat und Teilleistungen in diesem Bereich – rechtlich unbedenklich – durch den (privaten) Verwaltungshelfer oder aufgrund eines verwaltungsrechtlichen Kooperationsvertrages von Privaten erbracht werden können.
V. 9. Gegen das hier vertretene Ergebnis der fehlenden Freiheit der Kommunen, zwischen öffentlichem und privatem Recht bei der Entscheidung über die Erledigung ihrer Aufgaben der Daseinsvorsorge wählen zu können, lässt sich so-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
lange nicht der Vorwurf verfassungsrechtlicher Blindheit für die realen Nöte der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften erheben, wie die vielfältigen Möglichkeiten anderweitiger Reformen zu ihren Gunsten vom Bundes- und Landesgesetzgeber nicht ausgeschöpft sind. Daneben sollte bedacht werden, dass ebenfalls die Privatisierung staatlicher Aufgaben der Daseinsvorsorge voll im Gange ist und damit über die hier behandelte konkrete Fragestellung hinaus die Funktion der Exekutive überhaupt wie die des in ihr tätigen Juristen zur Diskussion steht.
II. Der Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche
4.
Die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien. Eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zur Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen
I.
Eine Prognose Werner Webers aus dem Jahr 1951 und ihre Bestätigung durch die niedersächsische Verwaltungsreform von 2004
Einer der wenigen wirklichen Kenner des niedersächsischen Staats- und Verwaltungsrechts wie des staatlichen Organisationsrechts überhaupt, Werner Weber, schrieb vor über 50 Jahren: »Das Regierungspräsidium ist das letzte Asyl staatlicher Verwaltung im eigentlichen Sinne des Wortes; es ist die einzige noch behauptete Domäne des staatlichen Berufsbeamtentums, der verbliebene Rest gesamtstaatlicher, die öffentliche Ordnung als einheitlichen Verantwortungsbereich begreifenden Obrigkeit. Dagegen begehren allerdings die verschiedensten Strömungen auf. Die Stadt- und Landkreise, weil ihrem Selbständigkeitsstreben diese Instanz im Wege ist, die Zentralbehörden, weil ihnen das eigenständige Verantwortungsbewusstsein dieser traditionsstärkeren Behörde nicht genügend fachlich-instrumentale Bequemlichkeit erschließt und ihrem Ministerialzentralismus den Weg vom abstrakteren Regieren zum konkreteren Verwalten versperrt; vor allem hat die Bezirksregierung Gegnerschaft in den politischen Ständen unserer Zeit, insonderheit in den Herrschaftsapparaten der politischen Parteien, weil ihnen diese andersartige Macht fremd sein und als Konkurrenz unerträglich erscheinen muss.«
Eine Abschaffung der Bezirksregierungen wäre, so fährt Weber fort, »in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen … von besonderer Tragweite, weil hier bekanntlich unter dem Einfluss der Besatzungsmacht die staatliche (landrätliche) Kreisverwaltung aufgelöst ist und die Landkreise zu reinen Selbstverwaltungsverbänden umgeformt worden sind. Nach dieser Kommunalisierung der Landkreise würde die Beseitigung der Regierungspräsidenten vom ganzen Verwaltungsaufbau nur noch ein Konglomerat quasiautonomer, landesunmittelbarer Stadt- und Kreisrepubliken übrig lassen«1. 1 So Weber, Staats- und Selbstverwaltung in der Gegenwart, 2. Aufl. 1967, S. 20 f.
116
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Genau diese nach Weber die Staatlichkeit der Verwaltung grundsätzlich in Frage stellende Organisationsstruktur besteht nunmehr seit fünf Jahren in Niedersachsen. Denn mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen vom 5. November 20042, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, wurden, wie es dort heißt, »die Bezirksregierungen Braunschweig, Hannover, Lüneburg und Weser-Ems aufgelöst« und die »Regierungsbezirke… aufgehoben«3. Und was die Verfassung der niedersächsischen Landkreise betrifft, so hat man an deren von Weber in dem wiedergegebenen Zitat problematisierten Kommunalisierung (cum grano salis) bis heute festgehalten und wird das auch nach allen bekannt gewordenen politischen Absichtserklärungen in Zukunft tun4. Die Frage, die sich für mich aus der damit offensichtlichen Bestätigung der Prognose Werner Webers ergibt, lautet, ob der mit der neu geschaffenen zweistufigen Verwaltungsstruktur in Niedersachsen verbundene Rückzug des Staates aus der Fläche auch verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, und – falls das zu bejahen ist – ob eine andere Organisationsstruktur der zweistufigen Verwaltung in Niedersachsen verfassungsrechtlich unbedenklich wäre. Im Folgenden soll eine Antwort auf diese Frage in mehreren gedanklichen Schritten zu geben versucht werden: In einem ersten Schritt geht es mir um die Darstellung der fragwürdigen singulären Bedeutung, die die niedersächsische Verwaltungsreform von 2004 in mehrfacher Hinsicht besitzt. Um diese richtig zu erkennen, ist es erforderlich, zunächst Inhalt und Verfahren der wohl bedeutendsten niedersächsischen Verwaltungsreform nach dem zweiten Weltkrieg, der von 1977, kurz zu schildern (II.), um auf diesem Hintergrund dann Entsprechendes für die Entstehung und den Inhalt des Gesetzes zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen von 2004 zu versuchen (III.). Erst danach können eine (bisher nur in Ansätzen vorhandene) verfassungsrechtliche Würdigung des genannten Gesetzes5 folgen und alternative verfassungsrechtliche Lösungen in den Blick genommen werden (IV.). Schließen will ich mit einem kurzen Hinweis auf die weitergehende Bedeutung der durch die politischen Parteien bestimmten Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur in Niedersachsen (V.). Ich wähle für die folgenden Ausführungen bewusst die verfassungsrechtliche Perspektive, da die bisherigen, vorwiegend verwaltungswissenschaftlichen Stellungnahmen6 zum niedersächsischen Reformvorhaben von 2004 nach mei2 3 4 5
Nds. GVBl. 2004, S. 394. Art. 1 § 1 des genannten Gesetzes. Dazu genauer hier unter III. Besonders durch Seggermann, Die Region, 2009, vor allem S. 188 ff.; daneben allgemein Ruffert, ThürVBl. 2006, S. 265 ff. und Mehde, Verwaltung und Management (VM) 2009, S. 19 (26 ff.). 6 s. besonders Bogumil / Kottmann, Verwaltungsstrukturreform – die Abschaffung der Be-
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
117
nem Eindruck nur ansatzweise zum Kern des mit ihm aufgeworfenen Problems einer rechtlich einwandfreien neuen Organisationsstruktur der staatlichen Verwaltung in der Fläche vordringen. Eine genauere juristische Würdigung dieses Reformvorhabens ist m. E. im Übrigen auch deshalb besonders geboten, weil die ministerielle Spitzenbürokratie in Niedersachen sich bei der Konzipierung und Beratung des ihm zugrunde liegenden Gesetzes ganz offensichtlich darauf beschränkte, von der Regierungskoalition ausgehandelte, von Gesichtspunkten der Parteipolitik maßgeblich bestimmte Vorgaben »technisch« umzusetzen. Sie lieferte also – wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – keinen eigenständigen inhaltlichen Beitrag aus juristischer oder verwaltungspraktischer Perspektive zu dieser bedeutenden Verwaltungsreform.
II.
Inhalt und Verfahren der niedersächsischen Verwaltungsreform von 1977 als Beispiel für eine verfassungsgemäße Reform
Um die fragwürdige singuläre Bedeutung des Gesetzes zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen von 2004 richtig zu erkennen, ist es, wie gesagt, hilfreich, zum Vergleich zunächst den Inhalt des Achten niedersächsischen Gesetzes zur Verwaltungs- und Gebietsreform vom 28. Juni 19777 und das Beratungsverfahren, das zu diesem Gesetz führte, kurz zu schildern. Denn das genannte Gesetz entschied sich im Gegensatz zum Reformgesetz von 2004 bewusst unter genauer Darlegung der Gründe für eine grundsätzliche Beibehaltung der niedersächsischen Bezirksregierungen bei gleichzeitiger Verringerung ihrer Anzahl von acht auf vier :
1.
Der Inhalt des Reformgesetzes von 1977
Hinsichtlich seines Inhalts sind nun zwei Punkte erwähnenswert: a) Umfassendes Konzept einer neuen Verwaltungsorganisation. Im Anschluss an eine wenige Jahre zuvor durchgeführte Gemeindereform verband das Reformgesetz von 1977 mit dem Neuzuschnitt der Regierungsbezirke zugleich einen solchen der niedersächsischen Landkreise. Hinzu kam 1977 eine umfaszirksregierungen in Niedersachsen, 2006; daneben Wissmann, DÖV 2004, S. 197 ff.; Reffken, NdsVBl. 2006, S. 177 ff. und NordÖR 2007, S. 1 ff.; Hesse, NdsVBl. 2007, S. 145 ff.; Bogumil, ZG 2007, S. 246 ff.; Sachverständigenrat für Umweltfragen (Hrsg.), Umweltverwaltungen unter Reformdruck (Sondergutachten), 2007, S. 79 ff., 105 ff, 175 ff.; Mehde.(FN 5), S.19 ff. u. a. 7 Nds.GVBl. S. 233.
118
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
sende Funktionalreform, die sowohl die Übertragung von zahlreichen Aufgaben der Ministerien auf die neu gegliederten Bezirksregierungen wie auch eine Verlagerung von Aufgaben der Bezirksregierungen auf die Landkreise (und kreisfreien Städte) umfasste – Letzteres in weitaus größerem Umfange, als es die Verwaltungsreform von 2004 bewirkt hat8. Man konnte sich damals allerdings nicht zu einem Eingriff in die Verfassung der niedersächsischen Landkreise (und kreisfreien Städte) entscheiden. In dieser Hinsicht folgte man nicht dem die Reform von 1977 prägenden Sachverständigen-Gutachten »Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen« aus dem Jahr 19699 , das gerade wegen der Übertragung zahlreicher Aufgaben der Bezirksregierungen auf die Landkreise (kreisfreien Städte) und wegen der von ihm im erheblichen Umfang vorgesehenen (aber dann so nicht realisierten) Verbindung von staatlichen Sonderbehörden mit den Dienststellen der Landkreise »eine angemessene Vertretung des Staates« auf der Kreisebene gefordert hatte10. b) Rechtfertigung der staatlichen Mittelinstanz. Neben dieser Einbettung einer Reform der staatlichen Mittelinstanz in ein umfassendes Konzept der Verwaltungsorganisation in Niedersachsen fällt die sorgfältige Begründung auf, die der Gesetzentwurf für die grundsätzliche Beibehaltung der Bezirksregierungen liefert. Ich zitiere hier nur eine m. E. besonders zentrale Passage: 8 s. dazu Artikel VII und VIII des Reformgesetzes von 1977 (FN 7) und erläuternd: Götz / Petri, Die Verwaltung 13 (1980), S. 37 (50 ff.); Elster, in: Korte / Rebe (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung des Landes Niedersachsen, 2. Aufl. 1986, S. 332 ff. Im Vergleich dazu fällt die vollmundig angekündigte Übertragung von weiteren Aufgaben auf die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zu Beginn der Verwaltungsreform von 2004 (s. Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP für die 15. WP des Nds. Landtags [LT], S. 12; LTDrs. 15 / 1183, S. 1 f.[Antwort der Landesregierung auf eine Entschließung des LT]; Häusler, NdsVBl. 2004, S. 145 [146] ) kaum ins Gewicht. s. dazu klärend Reffken, NdsVBl. 2006, S. 177 (179) mit der zusammenfassenden Bemerkung: Insoweit war bereits vorher »die Zitrone … weitgehend ausgequetscht«. 9 Vollständiger Titel des Gutachtens: Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen. Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform. Der Kommission gehörten neben dem Vorsitzenden, Werner Weber, fünf Landtagsabgeordnete, ein Ministerialdirigent aus der Staatskanzlei, die Leiter der Abteilungen I (Organisation und Verfassung) und III (Kommunalangelegenheiten, Landesplanung) des Innenministeriums, ein Regierungspräsident und vier Vertreter aus dem kommunalen Bereich an. Zugleich wurden ein interministerieller Ausschuss der Staatssekretäre sowie zur organisatorischen Unterstützung der Arbeit der Kommission ein besonderes Referat innerhalb der Kommunalabteilung des Innenministeriums gebildet. 10 Im Einzelnen dazu hier unter IV. 3.Weitere gravierende Abweichungen der Verwaltungsreform 1977 von den Vorschlägen des Sachverständigengutachtens betreffen einen vielfach anderen räumlichen Zuschnitt der Landkreise, die Anerkennung einer erhöhten Anzahl kreisfreier Städte, die Organisation der Regionalplanung und eine gegenüber den Vorschlägen des Gutachtens weniger umfangreiche Vereinheitlichung der Verwaltung in der Mittelinstanz.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
119
»Die Behörden der Mittelinstanz sind die einzigen staatlichen Behörden mit gebündelter, nahezu alle wesentlichen staatlichen Aufgaben umfassender Zuständigkeit. Sie haben deshalb seit jeher den besonderen Auftrag, die Erfüllung der vielfältigen Verwaltungsaufgaben in ihren Zuständigkeitsbereich zu koordinieren. Sie bilden damit ein wirksames Gegengewicht sowohl gegenüber der Vielgliedrigkeit und der Individualität der Gebietskörperschaften und sonstigen Verwaltungsträger unterhalb der Bezirksebene als auch die notwendige Ergänzung zum verfassungsrechtlich verankerten Ressortprinzip in der Ministerialinstanz. … Eine moderne Verwaltung, für die überörtliche Planungs- und Leistungsaufgaben immer bedeutsamer werden, muss auf größere Zusammenhänge ausgerichtet sein. Eine Koordination der Verwaltungsentscheidungen des Landes erst auf der Kreisebene würde außerdem wesentliche Eingriffe in die Kreisverfassung erfordern, um die verfassungsmäßigen Rechte des Landtages sowie die Verantwortung der Landesregierung für die Verwirklichung der landespolitischen Entscheidungen und die Durchführung der Gesetze zu erhalten. Auch als Aufsichts- und Rechtsmittelbehörden sind die Behörden der staatlichen Mittelinstanz nicht zu ersetzen. Eine Verlagerung dieser Aufgaben auf die Ministerien würde diese von ihren leitenden Funktionen ablenken und mit wesensfremden Tätigkeiten belasten. Sie würde zudem bei den Ministerien in erheblichem Umfang zusätzliche Personalund Sach-, insbesondere Reisekosten, verursachen. Außerdem wären durch zu große Ortsferne eine wirksame Ausübung der Aufsicht und auch der Kontakt zwischen den Bürgern und der Aufsichts- bzw. Rechtsmittelbehörde erschwert. Umgekehrt scheidet eine Verlagerung der Aufsichtsaufgaben – das sind insbesondere die Aufsicht über die Kreise, kreisfreien und selbständigen Städte und Großraumverbände sowie über die staatlichen Behörden der Ortsstufe- auf die Kreisebene von vornherein aus sachlogischen Gründen aus«11
Die genannten Argumente zur Rechtfertigung der Bezirksregierungen – Ergänzung zum Ressortprinzip der Ministerialinstanz, notwendige Koordination der Verwaltungsentscheidungen des Landes in der Fläche (Bündelungsfunktion) vor dem Vollzug auf der Ausführungsebene, Aufsichts- und Rechtsmittelbehörde – wurden und werden auch noch heute in der einschlägigen Literatur vielfach genannt12. Und daneben zusätzlich ihre »Distanzierungsfunktion« hervorgehoben, »die fachlich anspruchsvolle Verwaltungsentscheidungen er11 LT-Drs. 8 / 1000, S. 185 f. 12 s. für die damalige Zeit, was die Auffassung der Praxis betrifft: Sachverständigengutachten (FN 9), S. 234 ff.; Elster (FN 8), S. 361 ff.; bes. 368 ff.; Neuordnung der Staatlichen Mittelinstanz (Mittelinstanz-Bericht), 1973, bes. S. 7 ff., 15 ff. Zur theoretischen Rechtfertigung damals s. etwa: Hillmann, Der Regierungspräsident und seine Behörde, Diss. Göttingen 1969, S. 136 ff., 236 ff., 278 ff.; Wahl, in: Jeserich / Pohl / v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, 1987, S. 208 (227 ff.). Aus der gegenwärtigen Literatur s. ,was die Praxis betrifft, für Niedersachsen: Becker, NdsVBl. 2004, S. 289 ff.; Reffken (FN 8), S. 177 ff. Zur theoretischen Rechtfertigung der Bezirksregierungen allgemein s. etwa: Kilian, in: Morlok / Windisch / Miller (Hrsg.), Rechts- und Organisationsprobleme der Verwaltungsmodernisierung, 1997, S. 109 ff.; Wissmann (FN 6), S. 197 ff.; Bogumil (FN 6), S.246 ff. und für Niedersachsen: Bogumil / Kottmann (FN 6), bes. S. 54 ff.; Sondergutachten (FN 6), S. 97 ff., 105 ff., 177 ff.
120
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
möglicht, die von zu direktem Einfluss der politischen Ebene freigehalten werden können«, sowie schließlich die »Entlastungs- und Bindegliedsfunktion« der Bezirksregierungen, nach der sie als Mittler zwischen den politisch bestimmten Ebenen Ministerium und Kommune fungieren sollen13.
2.
Zielsetzung und parlamentarische Beratung des Reformgesetzes von 1977
Den genannten Inhalten des Reformgesetzes von 1977 lag auch eine klare Zielsetzung zu Grunde, die sich in einem über mehrere Jahre hinweg erstreckenden Dialog zwischen Politikern des Landes und der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften einerseits, der (Rechts-) Wissenschaft und der Spitzenbürokratie in den Ministerien und Kommunen andererseits herausgebildet hatte14. Diese Zielsetzung war durch die Erkenntnis bestimmt, dass nach der in Niedersachsen weitgehend in den überkommenen Verwaltungsstrukturen geleisteten Aufbauarbeit der Nachkriegszeit sich nunmehr besonders aus den Anforderungen der Raumordnung wie der staatlichen Daseinsvorsorge überhaupt neue Aufgaben für die Landes- und Kommunalverwaltung ergeben hatten, die eine durchgreifende (umfassende) Verwaltungs- und Gebietsreform erforderten. Dafür sprach auch, dass die Verwaltung den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in bestimmten Bereichen zukünftig nur durch eine 13 So Wissmann, (FN 6), S. 202 und zur »Entlastungs- und Bindegliedsfunktion« ebenfalls LTDrs. 8 / 1000, S. 186 f. Mustergültig in der Kürze die gesetzliche Kennzeichnung der Stellung und Aufgaben der Bezirksregierungen in Artikel II §§ 3 und 4 des Reformgesetzes von 1977: »Die Bezirksregierungen sind die Mittelinstanz der allgemeinen Landesverwaltung. … Der Leiter der Bezirksregierung ist der allgemeine Vertreter der Landesregierung im Regierungsbezirk. … Die Bezirksregierungen nehmen für ihren Bezirk die mittelinstanzlichen Aufgaben der allgemeinen Landesverwaltung zusammenfassend wahr und sorgen für einen einheitlichen Verwaltungsvollzug. Zu den mittelinstanzlichen Aufgaben gehören insbesondere als zweitinstanzliche Verwaltungsaufgaben die Dienst- und Fachaufsicht über die den Bezirksregierungen unterstellten Landesbehörden und Einrichtungen des Landes sowie nach Maßgabe der Gesetze die Aufsicht über die Landkreise, die kreisfreien Städte, die großen selbständigen Städte, die selbständigen Gemeinden und die Großraumverbände. Die Bezirksregierungen wachen darüber, dass die Ziele der Landesregierung im Regierungsbezirk verwirklicht werden, beobachten in enger Verbindung mit den kommunalen Körperschaften die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im Regierungsbezirk und unterrichten darüber die Landesregierung. … Die Bezirksregierungen sind ferner in ihrem Bezirk für die Aufgaben der Landesverwaltung zuständig, die nicht anderen Behörden und Stellen übertragen sind.« 14 Die Zusammensetzung der Sachverständigenkommission (s. dazu bereits hier FN 9) ist für diesen Dialog ein markantes und das ganze Verfahren prägendes Beispiel. s. ergänzend dazu auch die Schilderung über das Vorgehen der Sachverständigenkommission: Sachverständigengutachten (FN 9), S. 20 ff.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
121
stärkere Spezialisierung gerecht werden konnte. Das alles waren übrigens Einsichten, die damals in den meisten Ländern der Bundesrepublik geteilt wurden und darum zum Teil auch in diesen Ländern zu entsprechenden Reformen Anlass gaben15. Für das Entscheidungsverfahren, das schließlich zum Reformgesetz von 1977 führte, ist nun neben dem erwähnten ständigen Dialog zwischen der Politik und Bürokratie noch kennzeichnend, dass es sich – auch bedingt durch politisch wechselnde Mehrheiten – über einen Zeitraum von insgesamt zwölf Jahren und in mehreren Einzelschritten vollzog16. Richtig ist allerdings festgestellt worden, dass sich »rückblickend betrachtet … der niedersächsische Reformprozess, dessen wesentliche Teilphasen die Gemeindegebietsreform mit Teilen der Kreisgebietsreform (1972 – 1974) und die zusammengefasste Kreis- und Bezirksreform (1975 – 1978) sind, … als ein Kontinuum darstellt«17.
3.
Offen gebliebene Fragen der Kreisverfassung und der Kreisneugliederung
Muss man deshalb aufs Ganze gesehen das niedersächsische Reformvorhaben von 1977 von seinem Inhalt wie von seiner Entscheidungsfindung her positiv bewerten, so hinterließ es dennoch zwei grundsätzliche Probleme, deren ganze Tragweite allerdings erst durch die Verwaltungsreform von 2004 sichtbar wurde. Das erste wurde hier bereits erwähnt: Durch die umfangreiche Übertragung bisheriger Aufgaben der Bezirksregierungen auf die Landkreise (und die zusätzliche Betrauung der Landkreise mit bisherigen Aufgaben der staatlichen Sonderbehörden) war nun wirklich nicht mehr zu übersehen, dass sie grundsätzlich eine »dualistische Struktur« besitzen und deshalb »den Status eines staatliche Verwaltungsbezirks mit dem einer Gebietskörperschaft« in sich vereinigen müssen18. Trotz dieser nun noch deutlicher hervortretenden (im Prinzip 15 16 17 18
Zuverlässig berichtet darüber das Sachverständigengutachten (FN 9), S. 13 ff. Dazu genauer Götz / Petri (FN 8), S. 38 ff.; Elster (FN 8), S. 328 ff. Götz / Petri (FN 8), S. 38. So Werner Weber, in: Verein für die Geschichte der Deutschen Landkreise e. V. (Hrsg.), Der Kreis, Band 1, 1972, S. 75 ( 76) und daneben ganz entsprechend Weber (FN 1), S. 73 ff., 82 ff. Das ist, wie Weber richtig zeigt, der überkommene historische Status der Landkreise. Diese historische Kontinuität wurde nach dem zweiten Weltkrieg vor allen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nicht fortgesetzt, dazu für Niedersachsen genauer Elster (FN 8), S. 372 ff. Zur Preußischen Kreisordnung von 1872, die ja in gewisser Weise Modellcharakter für die historische Entwicklung der Kreisverfassung besitzt, bemerkt Kahl (Die Staatsaufsicht, 2000, S. 124), sie stelle »einen Kompromiss aus obrigkeitsstaatlichen und liberalen Ideen« dar. Aufschlussreich zur späteren historischen Entwicklung auch Drews, Grundzüge einer Verwaltungsreform, 1919, S. 76 ff. und Meyer / Anschütz, Lehrbuch des deutschen
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
aber von ihren Anfängen her bestehenden) Struktur der Landkreise hielten die damaligen Reformer, wie gesagt, an der »Vollkommunalisierung« der Kreisverfassung fest. Das zweite Problem betrifft den 1977 gefundenen räumlichen Zuschnitt der niedersächsischen Landkreise. Denn dieser wird selbst in der amtlichen Begründung zum Regierungsentwurf im Blick auf die Tatsache, dass die Landkreise nunmehr Träger der Regionalplanung sein sollten, problematisiert19. Dementsprechend ist damals in der Literatur gesagt worden, dass mit der Verwaltungsreform von 1977 in Niedersachsen »ein ungünstiger, weil entschieden zu kleiner Planungsraum für die ›Regionalplanung‹ gewählt« worden sei20. Im Übrigen sei »durch die Kleinheit der Planungsräume der Einstieg der Regionalplanung ins Detail vorprogrammiert«. Denn die niedersächsischen Landkreise seien »eben keine Regionen im raumordnerischen Sinne«21. Das allgemeine (letztlich ungelöste) Problem des richtigen Zuschnitts der niedersächsischen Landkreise, das hinter dieser Diskussion über den richtigen Planungsraum für die Regionalplanung stand, hat wiederum Werner Weber bereits in seinem bekannten Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag von 1964, in dem er die Planungsregion als eine eigenständige Kommunalkörperschaft verfasst wissen wollte, mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht:
Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 407 f., die noch einmal nachdrücklich auf die »enge Verbindung zwischen Staatsverwaltung und Selbstverwaltung« (so Drews, ebd., S. 76) auf der Landkreisebene hinweisen. 19 LT-Drs. 8 / 1000, S. 234: »Bei der Entscheidung über den Neuzuschnitt und die erforderliche Vergrößerung der Landkreise orientiert sich die Landesregierung an dem überkommenen Bild des Landkreises. Sie nimmt dabei in Kauf, dass die neuen Landkreise in einigen Fällen nach Größe und Zuschnitt nicht die optimale Abgrenzung erhalten, die nach raumordnerischen Gesichtspunkten anzustreben wäre«. s. ergänzend Sachverständigengutachten (FN 9), S. 236: »Nach den Vorstellungen der Kommission« sollen »die künftigen Kreise und Regierungspräsidenten in abgestuften Planungskompetenzen« die Aufgaben der Raumordnung und Landesplanung »ausfüllen«. Wenn diese Aufgaben »ausschließlich den Kreisen obliegen«, so würde das »einen wesentlich größeren als den von der Kommission vorgeschlagenen Gebietszuschnitt der Kreise voraussetzen.« Das Problem des Gebietszuschnitts der Landkreise verschärfte sich insoweit noch dadurch, dass nach dem Reformgesetz 1977 in den kreisfreien Städten der Flächennutzungsplan das Regionale Raumordnungsprogramm ersetzen sollte. Denn, so hat man damals kritisch zu dieser Lösung bemerkt (Wahl, DÖV1981, S. 597 [600]), »die Gemeinden handeln in einem anderen räumlichen und politischen Bezugsfeld als die Regionalplanung. … Ihre demokratische Verwurzlung in dem sie legitimierenden engeren räumlichen Bereich prägt das Handeln der Gemeinde und soll es prägen«. Grundsätzliche Kritik an dieser Lösung auch bei Söfker, in: Regionale Raumordnung und gemeindliche Planungshoheit im Konflikt?, 1982 (Schriftenreihe des Niedersächsischen Städteverbandes H. 10), S. 5 (8 ff.) und Boß, ebd., S. 28 ff. 20 So Wahl (FN 12), S. 261; ähnlich Söfker (FN 19), S.8. 21 So Boss (FN 19), S. 30.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
123
Man muss »sich die Frage vorlegen, wie sich denn Region und Regionalverband auf die Dauer zu der vorhandenen Verwaltungsgliederung in Bezirke der mittleren und der unteren Verwaltungsbehörden (Regierungsbezirke, Landkreise) verhalten. Darauf ist zu erwidern, dass die überlieferte Verwaltungsbezirkseinteilung durch das Prinzip der Regionalgliederung in der Tat eine manifeste Kritik erfährt und darauf hingewiesen wird, dass insoweit unter den veränderten Anforderungen der Gegenwart manches überprüfungsbedürftig ist. Wenn auf eine Revision nach dieser Richtung vom Gedanken der Region, der Regionalplanung und des Regionalverbandes Impulse ausgehen, so wäre das jedenfalls nicht eine unerwünschte und mit einem Geheimnis zu umgebende Nebenfolge«22.
Die über die in der Verwaltungsreform von 1977 gefundene Kreisneugliederung hinausweisende Frage lautete so gesehen also, ob langfristig nicht ein räumlicher Zuschnitt der niedersächsischen Landkreise gefunden werden müsste, der sich an einem maßgeblich durch das Recht der Raumordnung geprägten Begriff der Region orientiert. Diese Frage sollte sich noch aus anderen Gründen, die mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen von 2004 geschaffen wurden, verschärfen. Das ist jetzt genauer zu schildern.
III.
Inhalt, Verfahren und verfassungsrechtliche Relevanz der niedersächsischen Verwaltungsreform von 2004
Die nachhaltige Veränderung der Landesverwaltung, die mit diesem Gesetz realisiert wurde, ist Teil einer Entwicklung, die in Niedersachsen mit den Verwaltungsreformen der neunziger Jahre begann. Diese Reformen betrafen einmal mit der Budgetierung, der Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung, der Gründung zahlreicher Landesbetriebe sowie dem Projekt »Leistungsorientierte Haushaltswirtschaft in Niedersachsen (LoHN)« Reformansätze im Bereiche des Haushalts23. Daneben sind in diesem Zusammenhang besonders auf kommunaler Ebene durchgeführte Maßnahmen zur Organisationsprivatisierung und funktionalen Privatisierung staatlicher Aufgaben erwähnenswert24. Alle ge22 Weber, Gutachten zum 45 DJT, 1964, S. 58 f.; s. daneben auch Wahl (FN 12), S. 230 mit dem Hinweis, dass durch die damaligen Verwaltungsreformen in verschiedenen Bundesländern ebenfalls »die Institution der allgemeinen Mittelinstanz nicht zuletzt wegen ihres spannungsreichen Verhältnisses zur räumlichen Planung auf der mittleren Ebene in Frage gestellt worden« sei. 23 Dazu ausführlich Reffken, NdsVBl. 2003, S. 313 (315 ff.); Janssen, ZBR 2003, S. 113 (119 f.) und: JöR 51 (2003), S. 301 (318 ff). 24 Dazu unter verfassungsrechtlichem Aspekt wiederum Janssen, ZBR (FN 23), S. 121 f. und: Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem, 1999 (Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages H. 28).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
nannten Reformen trugen – vereinfacht gesprochen – zu einer primären Orientierung der staatlichen Verwaltung an Organisationsstrukturen der Privatwirtschaft bei. Dem entsprach auch eine zunehmende Privatisierung des Beamtenrechts in Bund und Ländern in diesen Jahren25. Die mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen vollzogene Auflösung der Bezirksregierungen kann nun ganz i. S. des anfänglichen Weber-Zitats als weiterer konsequenter Schritt auf dem Weg zum Abschied von der staatlichen Verwaltung verstanden werden. Für seinen Inhalt, seine Zielsetzung und seine parlamentarische Beratung ist im übrigen in weit stärkerem Maße als bei den erwähnten Reformen der neunziger Jahre die starke Einflussnahme der politischen Parteien auf das Vorhaben kennzeichnend. Im Einzelnen betrifft die hier anfangs behauptete fragwürdige singuläre Bedeutung des Reformgesetzes von 2004 mehrere Punkte:
1.
Der problematische Inhalt des Reformgesetzes von 2004
a) Isolierte Abschaffung der Bezirksregierungen. Die erste Besonderheit seines Inhalts besteht darin, dass die mit ihm vollzogene Auflösung der Bezirksregierungen im Gegensatz zur Verwaltungsreform von 1977 isoliert vorgenommen wurde, d. h. es wurde die Frage ausgeblendet, ob damit nicht zugleich Reformen auf der Landkreisebene (kreisfreien Städte) und auf der Ministerialebene notwendig seien. Das erstaunt deshalb, weil die beiden zuletzt genannten Entscheidungsebenen – und namentliche die Ministerien – ja jetzt zahlreiche Aufgaben der Bezirksregierungen zu übernehmen hatten26, soweit diese nicht (in geringem Umfang) privatisiert, auf Sonderbehörden des Landes oder auf sog. »Dritte« (Landwirtschaftskammern und andere Stellen der berufsständischen Verwaltung, Landestreuhandstelle für Wohnungsbau, N-Bank u. a.27) übertragen wurden. Ein nach der Auflösung der Bezirksregierungen gesetzlich zu regelnder Neuzuschnitt der Landkreise wurde so gar ausdrücklich von der Landesregierung und den Regierungsfraktionen abgelehnt. »Die Bildung anonymer Großkreise oder künstlicher Regionen«, so führte der Innenminister im Landtag 25 Janssen, ZBR (FN 23), S.114 ff. und zu den verfassungsrechtlichen Grenzen S. 126 ff. 26 Einen anschaulichen Beleg für den Umfang der übertragenen Aufgaben auf die Ministerien liefert der Beschluss der Landesregierung vom 7. 9. 2004 (Nds. MBl. 2004, S. 685 ff.). Die Kommunalisierung einzelner Aufgaben der ehemaligen Bezirksregierungen besitzt demgegenüber kaum Bedeutung (dazu bereits hier FN 8). Allerdings zählen dazu Aufgaben mit ausgesprochen staatlichem Charakter wie die Genehmigung von Flächennutzungsplänen, Aufgaben der oberen Denkmalschutzbehörden, Ausweisung von Wasserschutz- und Überschwemmungsgebieten. 27 s. dazu die Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Abschaffung der Bezirksregierungen: LT-Drs. 15 / 2852, S. 24.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs zur Reform der niedersächsischen Verwaltung aus, »entspricht nicht der Politik der Landesregierung«28. Und ebenso eindeutig heißt es in der für die laufende 16. Wahlperiode zwischen der CDU- und FDP-Fraktion abgeschlossenen Koalitionsvereinbarung: »Die Koalitionspartner lehnen eine von oben diktierte Gebietsreform strikt ab. Wir fördern verstärkt die interkommunale Zusammenarbeit. Wenn Kommunen sich freiwillig zu neuen Körperschaften zusammenschließen, werden wir uns am Ausgleich entstehender Härten beteiligen«29.
Die weitere mit der Auflösung der Bezirksregierungen verbundene Frage nach der Notwendigkeit einer Korrektur der kommunalisierten niedersächsischen Kreisverfassung, die ja in ihrer gegenwärtigen Fassung »keine vom politischen Betrieb distanzierte« Verwaltung zulässt, wurde gar nicht erst gestellt, obwohl den Landkreisen ja durch die Reform zusätzliche Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises zugesprochen wurden30. Und auch nicht die nach der Not28 Plenarprotokoll vom 27. 10. 2004, S. 4754; ganz ähnlich schon ders. vorher in einer anderen Landtagssitzung: Plenarprotokoll vom 23. 6. 2004, S. 3937. 29 S. 26 der Koalitionsvereinbarung. Fast wortgleich die am 27. 2. 2008 vor dem Landtag abgegebene Regierungserklärung durch den Ministerpräsidenten (Plenarprotokoll, S. 58): »Eine von oben verordnete Kreis- und Gebietsreform lehnen die Koalition und die Regierung ab. Wir setzen auf das Prinzip der Freiwilligkeit« (Hervorhebung A. J.). 30 Wissmann (FN 6), S.203. Der Niedersächsische Innenminister hat so gar auf der Landkreisversammlung des Niedersächsischen Landkreistages 2008 diese Kommunalisierung mit folgenden Worten als großen Fortschritt gepriesen (NLT 2008, S. 60 f.): »Die Niedersächsische Landkreisordnung … wird in diesem Jahr fünfzig Jahre alt … Es wäre ein Versäumnis, wenn ich als Kommunalminister auf der Mitgliederversammlung des Landkreistages dieses für die kommunale Selbstverwaltung in Niedersachsen wichtige Ereignis übergehen würde. Denn der Gesetzgeber hat mit der Landkreisordnung durchaus Neuland betreten. … Nach dem Krieg, im Jahr 1947, erfolgte per Gesetz eine wichtige Weichenstellung hin zu einer Kommunalisierung der Landkreise. Sie wurden selbständige, aus dem Verband des Staates herausgelöste Gebietskörperschaften, die ihre eigenen Angelegenheiten verwalten. Die Niedersächsische Landkreisordnung ist am 1. Juli 1958 in Kraft getreten und hat diesen Erneuerungsprozess konsequent zu Ende geführt. Sie hat die Landkreise als selbstverwaltete Gemeindeverbände und Gebietskörperschaften zu Trägern der Aufgaben mit überörtlicher Bedeutung in ihrem Gebiet gemacht. Der Landesgesetzgeber hat außerdem erkannt, welche Vorteile es hat, wenn auch staatliche Aufgaben vor Ort und aus einer Hand erledigt werden. Deshalb erfüllen die Landkreise seitdem die zugewiesenen Aufgaben als untere Verwaltungsbehörden. Die Landkreisordnung hat ganz sicher ihren Anteil daran, dass sich die Landkreise zu einem elementaren Bestandteil der öffentlichen Verwaltung entwickelt haben. Für eine gelebte Demokratie ›von unten‹ und eine bürgernahe Verwaltung sind sie gänzlich unverzichtbar.« Dass diese Kommunalisierung nach dem zweiten Weltkrieg in Niedersachsen »unter der Einwirkung der britischen Besatzungsmacht« (so richtig Werner Weber, Der Staat in der unteren Verwaltungsinstanz, 1964, S. 13) geschah, war dem Niedersächsischen Innenminister bei den zitierten Ausführungen wohl nicht bewusst. Und wohl auch nicht, dass genau diese verbindliche Vorgabe der britischen Besatzungsmacht in den Verfassungsberatungen über den Artikel 44 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (VNV), der im Wortlaut insoweit mit dem heute einschlägigen Artikel 57 Niedersächsische
126
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
wendigkeit einer Reform der für die Landesregierung geltenden Organisationsstruktur. Selbst das hätte sich aus folgender Überlegung jetzt nahe gelegt: Schon vor der Verwaltungsreform 2004 hatte die Landesregierung wie die Regierungen der anderen Bundesländer – bedingt vor allem durch die fortschreitende europäische Integration – mehr oder weniger den Charakter einer obersten Verwaltungsbehörde angenommen. Dieser Trend verstärkte sich nun noch durch die Übernahme zahlreicher Verwaltungsaufgaben von den aufgelösten Bezirksregierungen31. Dass im Grunde damit das Ressortprinzip (Artikel 37 Niedersächsische Verfassung [NV]) in seiner überkommenen Form notwendigerweise auf den (verfassungsrechtlichen) Prüfstand gehörte, ist dennoch erstaunlicherweise von keiner Seite angemahnt worden32. Man verdrängte also die Frage, ob nicht »die Verschlankung der Ministerialverwaltung und die Überprüfung der Struktur der Ressorts mit an der Spitze der Überlegungen« bei »jeder Verwaltungsreform« zu stehen habe33. In diesem entscheidenden Punkt ist also die allgemeine Bemerkung des niedersächsischen Ministerpräsidenten in seiner Regierungserklärung vom 4. März 2003, dass man in Zukunft grundsätzlich »die Treppe… von oben« fegen werde34, ohne Folgen geblieben. b) Reduzierung der Kommunalaufsicht. Die zweite inhaltliche Besonderheit des Reformvorhabens liegt in seinem nachdrücklich hervorgehobenen »neuen« Verständnis der Kommunalaufsicht, das im Ergebnis auf eine Reduzierung eben dieser Aufsicht hinausläuft. In der Koalitionsvereinbarung von 2003 heißt es zunächst allgemein: »Die neue Landesregierung wird mit den kommunalen Spitzenverbänden in Niedersachsen einen Pakt zur Stärkung der Kommunen schließen, um die vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Land und Kommunen auf eine neue Grundlage zu stellen«35.
31 32
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Verfassung (NV) übereinstimmt, durchweg gerade nicht als Fortschritt empfunden wurde, sondern als Hindernis, um die erwünschte dualistische Struktur der niedersächsischen Landkreise als staatlichem Verwaltungsbezirk und Gebietskörperschaft verfassungsrechtlich festzuschreiben, s. dazu Band 1 der vom Büro des Niedersächsischen Landtags herausgegebenen Materialien zur VNV, S. 278 ff., 290, 510 ff. s. dazu noch einmal Nds. MBl. 2004, S. 685 ff. Dazu aber bereits vor der niedersächsischen Verwaltungsreform von 2004 Janssen, JöR (FN 23), S. 317 mit einem Reformvorschlag in Fn. 59. Genauer zur allein verbliebenen rechtlichen Stellung der Landesregierung als oberste Verwaltungsbehörde nach der Verwaltungsreform 2004: Janssen, Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen, 2007, S. 33 ff. So richtig Demuth, in: Morlok u. a. (FN 12), S. 75 (86); ebd. auch auf S.85 f. zutreffende kritische Bemerkungen zum heutigen falschen Verständnis des Ressortprinzips auf Landesebene. Plenarprotokoll vom 4. 3. 2003, S. 23. Koalitionsvereinbarung (FN 8), S. 16.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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Deutlicher wird dann der Regierungsentwurf zum Reformgesetz. Dort wird zur Kommunalaufsicht, die in Zukunft für die Landkreise und kreisfreien wie großen selbständigen Städte durchweg von den Ministerien wahrgenommen werden soll36, ausgeführt: »Das Zusammenwirken von Land und Kommunen wird künftig von einer ausgeprägten Vertrauenskultur getragen werden. Die Aufsicht des Staates über die Kommunen wird daher deutlich reduziert. Dazu gehört auch der Abbau von Genehmigungsvorbehalten und Anzeigepflichten, z. B. im Kommunalverfassungsrecht«37.
Und ergänzend dazu erläuterte ein in »der Stabsstelle Verwaltungsmodernisierung« des Innenministeriums tätiger Referatsleiter die Substanz dieser neuen »Vertrauenskultur« wie folgt: »Mit der Konzentration der Aufsicht bei den obersten Landesbehörden soll der veränderten Bedeutung von verwaltungsinterner Aufsicht, Kontrolle und Beratung Rechnung getragen und eine deutliche Reduzierung von Aufsicht erreicht werden. Kommunen und Landesbehörden haben sich zu leistungsfähigen Institutionen entwickelt, die in ihrer Ausstattung mit Fachkompetenz in größerem Maß selbständig agieren können und nicht mehr ständig von Aufsichtsbehörden kontrolliert und beraten werden müssen«38.
Bemerkenswert an dieser Begründung für die Rückführung der Kommunalaufsicht ist m. E., dass es an jedem Hinweis in dem Gesetzentwurf und den parlamentarischen Beratungen des Reformgesetzes dafür fehlt, worin denn konkret insoweit die in der Vergangenheit augenscheinlich vorhandene Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Land und Kommunen bestand und ob eine Kommunalaufsicht dadurch ihrem verfassungsrechtlichen Sinn gerecht wird, dass ein »Vertrauensverhältnis« durch Reduzierung eben dieser Aufsicht begründet wird39. 36 s. Artikel 6 Nr. 3 und Artikel 7 Nr. 2 des Gesetzentwurfs (LT-Drs. 15 / 1121, S.6, 7). 37 LT-Drs. 15 / 1121, S. 35 (Hervorhebungen A. J.). 38 So der damalige Referatsleiter in der Stabsstelle Verwaltungsmodernisierung des Niedersächsischen Innenministeriums Häusler (FN 8), S. 146 f. (Hervorhebungen A. J.); ebd. in Fn. 21 folgender Hinweis zum Zitat des Textes: »Nur mit weniger Aufsicht kann eine Aufblähung der Ministerien vermieden werden. Die Grenze für die Rückführung von Aufsicht bildet Art. 57 Abs. 5 NV« (Hervorhebung A. J.). Erwähnenswert auch die Feststellung des damaligen Stellvertretenden Leiters der Stabsstelle Verwaltungsmodernisierung Grabowski, Neues Archiv für Niedersachsen 2005, S.27 (40), dass die bisherige Kommunalaufsicht »auf Misstrauen aufbaut.« Zu dem Ausgeführten passt schließlich die Bemerkung, dass »die unteren Verwaltungsebenen (Kommunen und Landesbehörden) … durch den Abbau der Kontrolldichte bei Aufsichtsbehörden in ihrer Kompetenz und Eigenverantwortung gestärkt« seien (so Mittelfristige Planung Niedersachsen 2008 – 2012 [2008], S.49). 39 Ganz anders übrigens als das dargestellte Verständnis der Kommunalaufsicht die Beurteilung ihrer praktischen Handhabung in der Vergangenheit durch den vom Niedersächsischen Minister des Innern in der Zeit der Albrecht-Regierung herausgegebenen Bericht: Niedersächsische Sachverständigenkommission zur Fortentwicklung des Kommunalverfassungs-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
c) Inkonsequenter zweistufiger Verwaltungsaufbau. Die dritte inhaltliche Besonderheit der hier zu besprechenden Verwaltungsreform von 2004 liegt in ihrem spezifischen Verständnis von einem neuen zweistufigen Verwaltungsaufbau des Landes. Dafür ist einmal kennzeichnend, dass, wie schon kurz bemerkt, bereits vorhandene Sonderbehörden mit Aufgaben der aufgelösten Bezirksregierungen betraut wurden. Zu diesem Zweck baute man auch »die bestehenden Landesoberbehörden, zentralen Landesämter oder Landesbetriebe zu noch größeren Behörden« aus oder schuf »sogar – wie im Schulbereich – neue zentrale Landesbehörden«40. Die überkommene, im Prinzip gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen den (für einen fachlich eng begrenzten Aufgabenkreis zuständigen) Sonderbehörden und der allgemeinen Verwaltung (Bezirksregierungen) wurde auf diese Weise häufig, wie exemplarisch die Aufgabenerledigung der Umweltverwaltung in den vergangenen fünf Jahren in Niedersachsen zeigt, nachhaltig gestört41. Darauf ist später noch zurückzukommen. Ein weiteres besonderes Kennzeichen des zweistufigen Verwaltungsaufbaus in Niedersachsen besteht in der Einrichtung von sog. Regierungsvertretungen, die jeweils am Ort der früheren Bezirksregierungen ihren Sitz haben. Dafür entschied sich die Landesregierung erst nach Einbringung des Reformgesetzes in den Landtag (aber vor dessen zweiter und dritter Lesung) mit Beschluss vom 7. September 2004. Die Landesregierung versteht danach diese Regierungsvertretungen als »unselbständige Teile der Ministerien vor Ort«. Sie sollen nach dem genannten Beschluss weiter »eine unmittelbare Präsenz der Ministerien in der Fläche« ermöglichen und »die Aufnahme regionsspezifischer Interessen und Anliegen« erleichtern42. Ergänzend beschrieb der Niedersächsische Innenmirechts, 1978, S. 37, wo es heißt: »Nach der Überzeugung der Sachverständigenkommission wird sie (erg.: die Kommunalaufsicht) dem gesetzliche Auftrag gemäß auch so gehandhabt, dass die Entschlusskraft und die Verantwortungsfreude der Gemeinden und Landkreise grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden. Den Aufsichtsbehörden ist – ebenso übrigens wie den Fachaufsichtsbehörden – noch nicht vorgeworfen worden, die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten zu wollen. In der Regel besteht zwischen den Gemeinden und Landkreisen auf der einen Seite und ihren Aufsichtsbehörden auf der anderen Seite ein ausgeglichenes Vertrauensverhältnis. Die Aufsichtsbehörden als Behörden in der Demokratie gehen unbestritten nicht von der Vorstellung bevormundeter, sondern mündiger Kommunen aus. In Würdigung dieses Umstandes und nach dem Grundverständnis der Kommission von kommunaler Selbstverwaltung … sind keine Gesichtspunkte erkennbar, die zu einer wesentlichen Änderung des heute geltenden Kommunalaufsichtsrechts führen können.« 40 So Reffken (FN 8), S. 180 mit genauen Nachweisen; s. dazu auch die Übersicht bei Grabowski (FN 38), S. 34. 41 Sorgfältig belegt durch Reffken (FN 8), S. 181 ff und NordÖR 2007, S. 1 (4 ff.); s. daneben ergänzend Sondergutachten (FN 6), S. 97 ff., 105 ff., 177 ff. 42 Alle Zitate in dem genannten (nicht im Nds. MBl. veröffentlichten) Beschluss, dort S. 1, 2; ergänzend die Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage (FN 27), S. 42 ff. Aus der Literatur zur Konzeption der Regierungsvertretungen u. a. : Hesse (FN 6), S. 156 ff. und: Neues Archiv für Niedersachsen 2005, S. 14 (21 ff.); Grabowski (FN 38), S. 32 ff.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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nister ihre Stellung und Funktion in seiner Rede zur zweiten Lesung des Reformgesetzes wie folgt: »Diese Einrichtungen sind … der Ansprechpartner der Landesregierung in der Fläche, aber auch Moderator einer kreisübergreifenden Aufgabenerledigung, wo immer diese von den Kommunen selbst für sinnvoll erachtet wird. Es wird ein Schwerpunkt der Regierungsvertretungen sein, diesen Prozess vor Ort in den Kommunen voranzutreiben und zu moderieren. Es ist auch deshalb wichtig, die raumordnerische Steuerung dort anzusiedeln«43.
Kritisch hat nun aber der Niedersächsische Landesrechnungshof zu dieser Durchbrechung eines zweistufigen Verwaltungsaufbaus in Niedersachsen bemerkt, dass in der Praxis daneben »in den Regierungsvertretungen … auch diesen Zielvorstellungen nicht unterfallende Aufgaben wahrgenommen« würden, und darum vorgeschlagen, dass »diese durch Gesetze vorgegebenen Verwaltungsaufgaben und das zu ihrer Erledigung vorgesehene Personal … in die Ministerien verlagert werden« sollten44. Die aufgezeigten Nachbesserungen des zweistufigen Verwaltungsaufbaus in Niedersachsen stellen sich damit aufs Ganze gesehen als wenig überzeugende Behelfsmaßnahmen dar. Sie können als Indiz für die Fragwürdigkeit des das gesamte Vorhaben bestimmenden Konzepts verstanden werden45. Dessen Problematik soll im Folgenden noch genauer gezeigt werden.
43 Plenarprotokoll vom 27. 10. 2004, S. 4754 f. 44 Jahresbericht 2007 (LT-Drs. 15 / 3800, S. 146, genauer zu dieser Kritik, S. 152 ff.). Ebd. auf S. 152 heißt es: »Die Landesregierung verfolgt mit der Einrichtung der vier Regierungsvertretungen das Ziel, den ländlichen Raum mit seinen Regionen zu fördern. Dabei sollen die Regierungsvertretungen die Kommunen unterstützen und eng mit den regionalen Akteuren zusammenarbeiten. Ferner sollen sie als Ansprechpartner für die regionalen Interessen dienen und die Aktivitäten vor Ort beobachten und unterstützen. Die Feststellungen des LRH zeigen, dass in den Regierungsvertretungen überwiegend gesetzliche Aufgaben ohne Bezug zu diesem politischen Auftrag erledigt werden. Eine fachliche Einbindung dieser Verwaltungsaufgaben in die Regierungsvertretungen ist weder gegeben noch notwendig. Diese Restaufgaben der ehemaligen Mittelinstanz sollten unmittelbar durch die Fachreferate der Ministerien erledigt werden. Dies würde zudem zu einer Reduzierung der bei den Regierungsvertretungen anfallenden Personalkosten für ›Innere Dienste‹ führen.« 45 Zutreffend die Feststellung von Pautsch (NordÖR 2009, S. 108 [109]): »Gleichwohl hat der in Niedersachsen eingeschlagene Weg, trotz der grundsätzlichen Einführung der Zweistufigkeit für bestimmte Aufgaben an Sonderbehörden und weiteren Landeseinrichtungen festzuhalten, zu einer Mischorganisation geführt, bei der fraglich ist, ob sie – wenngleich gesetzgeberisch gewollt – mit dem rechtsstaatlichen Prinzip eines klaren Verwaltungsaufbaus mit eindeutig bestimmten Verwaltungsträgern noch vereinbar ist.«
130 2.
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Diffuse Zielsetzung und (schein-) parlamentarische Beratung des Reformgesetzes von 2004
Es ist nach dem zum Inhalt des Reformgesetzes von 2004 Gesagten kaum erstaunlich, dass es an jeder nachvollziehbaren allgemeinen Zielsetzung für die von ihm veranlassten Reformmaßnahmen fehlt und seine parlamentarische Beratung die erforderliche Sorgfalt vermissen lässt. a) Antibürokratisches Motiv als wahrer Grund des Gesetzes. Was die unmittelbare Zielsetzung des Gesetzentwurfs betrifft, so versteht er sich als schlichte Umsetzung von nicht mehr zu diskutierenden politischen Vorgaben. Dementsprechend heißt es in seiner Begründung: »Mit den Zielen, die Bezirksregierungen abzuschaffen, und eine weitgehende Zweistufigkeit der Verwaltungsorganisation herzustellen, ist der Weg für die Umsetzung vorgegeben worden. Organisationsmodelle, wie sie derzeit andere Bundesländer anstreben, oder bereits umgesetzt haben, … scheiden damit aus. Alternativen kommen nicht in Betracht«46.
Welche politischen Vorgaben bestanden denn nun konkret? Dafür ist zunächst auf die Koalitionsvereinbarung zwischen der CDU- und FDP-Fraktion aus dem Jahr 2003 zu verweisen, in der es zur beabsichtigten »Verwaltungsmodernisierung« u. a. heißt: »Abschaffung der Bezirksregierungen: Die Koalitionspartner stehen zu den 37 Landkreisen und den 8 kreisfreien Städten in Niedersachsen, zur Region Hannover und zur Landeshauptstadt Hannover. Die neue Landesregierung hält es allerdings nicht mehr für erforderlich, an verschiedenen Standorten annähernd gleiche Behördenstrukturen in Mittelinstanzen vorzuhalten. Unnötige Doppelstrukturen und unsachgemäße Verflechtungen sollen zugunsten einer strafferen Behördenstruktur und damit verbundener Synergieeffekte durch Kompetenzbündelungen ersetzt werden. Deswegen sollen die Bezirksregierungen und zahlreiche Landesämter nach Auffassung der Koalitionspartner zu wenigen dezentralen Kompetenzzentren entwickelt werden«47.
Diese Zielsetzung wird in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten vom 4. März 2003 vor dem Niedersächsischen Landtag wie folgt konkretisiert: »Wir müssen uns auf die Kernaufgaben konzentrieren. Nur wenn bei jeder Aufgabe und Leistung nach Sinn, Erforderlichkeit, Dringlichkeit und Wirtschaftlichkeit gefragt wird, haben wir die Chance, unseren Haushalt in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren wieder auf ordentliche Füße zu stellen. Einer dieser Schritte ist die Abschaffung der Bezirksregierungen; denn das Nebeneinander hier bei uns in Hannover von Verwal46 LT-Drs. 15 / 1121, S. 36 (Hervorhebung A. J.); s. auch S. 37: »Mit der Vorgabe, die Bezirksregierungen aufzulösen, ist ein wichtiges Signal gesetzt worden, das die Reform strukturiert hat« (Hervorhebungen A. J.), daneben auch S. 19. 47 S. 12 der genannten Koalitionsvereinbarung.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
131
tung und Landeshauptstadt, der Regionalverwaltung, der Bezirksregierung und der Landesverwaltung kann sich dieses Land nicht mehr leisten….Es ist eben nur möglich, dass eine Stelle zuständig ist, entweder die Agrarstrukturverwaltung oder die Landwirtschaftskammern, die Bezirksregierung oder die Regionalverwaltung oder aber die Landeshauptstadt«48.
Zunächst fällt an den zitierten politischen Vorgaben auf, dass sie nicht, wie auch der Niedersächsische Landesrechnungshof bald danach kritisch anmerkte, auf einer sorgfältigen Mängel- und Schwachstellenanalyse beruhen49. Und daneben, dass dort noch nicht wie in der Begründung des späteren Regierungsentwurfs zum Reformgesetz von einer zukünftigen zweistufigen Verwaltung in Niedersachsen die Rede ist. Diese systematische Rechtfertigung für die Auflösung der Bezirksregierungen wurde also »nachgeschoben«50. Es bleiben damit nach den zitierten Stellungnahmen nur zwei ausdrücklich benannte »politische« Motive für diese Maßnahme: der Wunsch, Doppelzuständigkeiten zu vermeiden; und das Ziel, wegen der angespannten finanziellen Situation des Landes Einsparungen zu erzielen. Beide Gründe vermögen nun aber, wie auch in der einschlägigen Literatur sorgfältig nachgewiesen worden ist, schwerlich zu überzeugen: Denn zum zuerst genannten politischen Motiv ist zu bemerken, dass die zitierten allgemeinen Hinweise des Ministerpräsidenten dazu kaum eine sachlich fundierte Kritik darstellen. Sie belegen vielmehr, dass den politischen Akteuren wohl nicht hinreichend klar war, dass man bei »einer Aufgabenzuordnung auf verschiedene Behörden auf der Grundlage vernünftiger organisatorischer Erwägungen«, wie es ja generell im Verhältnis zwischen den Bezirksregierungen zu den Sonderbehörden und in ihrem Verhältnis zu den Ministerien und den Landkreisen (kreisfreien Städten) der Fall war, wohl kaum von einer zu beseitigenden Doppelzuständigkeit sprechen kann51. Und was die Einsparungen betrifft, die man mit der Auflösung der Bezirksregierungen erreichen wollte, so ist schon bald von sachkundiger Seite darauf hingewiesen worden, dass der damit angestrebte Wegfall von 6.700 Stellen gerade einmal 3,2 % der niedersächsischen Landesbediensteten ausmacht52. Im Übrigen ist selbst dieser be48 Plenarprotokoll vom 4. 3. 2003, S. 33. 49 Richtig dazu Reffken (FN 8), S. 178 und unter Zitierung der entsprechenden Kritik des Landesrechnungshofs Bogumil (FN 6), S. 253. 50 Richtig beobachtet von Reffken (FN 8), S. 178. 51 So zu Recht wiederum Reffken unter Heranziehung von Beispielen aus der Umweltverwaltung (FN 8), S. 179 und daneben (FN 41), S. 1 ff. 52 Bogumil / Kottmann (FN 6), S. 4; s. dazu ebenfalls S. 48 ff, 74 ff. Zutreffend dort auch die ergänzende Feststellung (S. 4): »Der Nettostelleneffekt der Abschaffung der Bezirksregierungen ist jedoch (erg.: noch) deutlich geringer, da die Stellen für die Kommunalisierung, die Verlagerung an Dritte oder durch die Privatisierung entweder nicht komplett gestrichen werden oder andere Kosten entstehen.«
132
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
hauptete (geringe) Einspareffekt nach den Jahresberichten des Niedersächsischen Landesrechnungshofs von 2008 und 2009 noch ernsthaften Zweifeln ausgesetzt53. Weil auch andere von der Landesregierung gelegentlich und durchweg nach Erlass des Reformgesetzes genannte Gründe für die Abschaffung der Bezirksregierungen letztlich nicht zu überzeugen vermögen54, ist im Ergebnis der Verdacht kaum von der Hand zu weisen, dass sich der grundsätzliche antibürokratische Affekt vieler Landespolitiker, wie er sich in der Vergangenheit immer wieder gerade in ihrem Umgang mit den Bezirksregierungen gezeigt hatte55, das wesentliche Motiv für die von ihnen beschlossene Abschaffung dieser Verwaltungsebene darstellt. An der Richtigkeit der von Werner Weber hier unter I. mitgeteilten entsprechenden Beobachtung lässt sich darum m. E. nicht zweifeln. b) Fehlende Auseinandersetzung mit der Kritik am Gesetzentwurf. Bei dieser Sachlage kann es nicht verwundern, dass das Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen ganz im Gegensatz zum geschilderten Procedere bei der Verwaltungsreform von 1977 in der »Rekordzeit« von gut achtzehn Monaten konzipiert und parlamentarisch beraten wurde. Und verwundern kann es auch nicht, dass man dabei nicht auf mehrfach geltend gemachte (und gut begründete) Einwände von Vertretern der Verwaltungspraxis einging56 und sich 53 Jahresbericht 2008 (LT-Drs. 16 / 190, S. 14 ff.) mit dem entscheidenden Satz auf S. 14: »Wegen einer zu geringen Personalfluktuation in den von der Verwaltungsmodernisierung betroffenen Bereichen besteht das Risiko, dass das Land mehr als 1.000 Stellen nicht wie geplant bis zum Ende des Jahres 2010 wird abbauen können.«; Jahresbericht 2009 (LT-Drs. 16 / 1300, S. 121 ff), wo sich die entscheidende Passage auf S. 121 f. findet: »Das Ziel der Landesregierung, die Personalkostenbelastung durch Personalabbau dauerhaft zu senken, ist gescheitert. Ohne zusätzliche Konsolidierungsschritte im Personalhaushalt wird die Landesregierung eine nachhaltige Haushaltssanierung nicht erreichen können.« Im Übrigen treffen die behaupteten Einspareffekte schon im Blick auf die gestiegenen Verwaltungskosten nicht zu, die das Land den Kommunen zu erstatten hat. So heißt es etwa im genannten Jahresbericht des Landesrechnungshofs 2009 auf S. 12: »Der Kostenausgleich, den die Kommunen für die vom Land zum 01. 01. 2005 übertragenen Naturschutzaufgaben erhalten, soll fast verdoppelt werden. Dadurch würde die Kommunalisierung dieser Aufgaben für das Land unwirtschaftlich.«, genauer dazu ebd. S. 12 ff., s. daneben insoweit noch einmal die hier in FN 52 zitierte Bemerkung von Bogumil / Kottmann. 54 Wie der behauptete mögliche Aufgabenabbau, die mögliche Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch zusätzliche Aufgabenübertragung und die Beseitigung einer behaupteten ausufernden Fachaufsicht, s. dazu Reffken (FN 8), S. 178 f., 180. 55 s. dazu den Bericht von Janssen, Emder Jahrbuch 88/89 (2008/2009), S. 244 (246 f.) und daneben Reffken (FN 8), S. 178: »Ein Unbehagen gegenüber diesen großen Behörden war im politischen Raum immer spürbar, vermutlich weil dieser Behördentyp politisch schwer zugänglich war und dort im Regelfall unbeeindruckt von politischen Wünschen konsequent nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehandelt wurde.« 56 Es blieb der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag als Opposition vorbehalten, im Parlament die schriftliche Kritik von vier ehemaligen, der CDU angehörenden Regie-
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
133
jeder juristischen Stellungnahme zu diesem Vorhaben enthielt. Verwaltungswissenschaftlichen Beistand für das Reformgesetz holte man sich schließlich erst, als es an die »Umsetzung« der geschilderten politischen Vorgaben ging, und das geschah auch nur mit dem Ziel, diese »Umsetzung« argumentativ abzustützen57. Anderslautende verwaltungswissenschaftliche Stellungnahmen, die sich kritisch zur Abschaffung der Bezirksregierungen äußerten, überging man58, und auch die hier bereits wiedergegebenen Argumente, die für den Erhalt der Bezirksregierungen im Regierungsentwurf zur Verwaltungsreform 1977 geltend gemacht wurden59. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch erwähnenswert, dass auch in der für die gegenwärtige 16. Wahlperiode zwischen der CDUund FDP-Fraktion abgeschlossenen Koalitionsvereinbarung unangefochten von jeder Kritik betont wird, dass man »das Ziel der Zweistufigkeit der Landesverwaltung … weiter verfolgen« werde. Das verdient auch deshalb der besonderen Erwähnung, weil in derselben Koalitionsvereinbarung zugleich, wie schon erwähnt, eine seitens des Landes gesetzlich zu realisierende Kreisreform ausdrücklich abgelehnt wird60.
3.
Verfassungsrelevante Probleme des Reformgesetzes von 2004
Insgesamt gesehen bestätigt so der Inhalt und die Zielsetzung des Reformgesetzes wie auch die Form seiner Beratung, dass es sich bei der damit vollzogenen Auflösung der Bezirksregierungen um eine Maßnahme handelt, der keine langfristigen, systematischen Erwägungen zugrunde lagen, wie das bei der Verwaltungsreform von 1977 noch ganz offensichtlich der Fall war. Vielmehr sind für diese Auflösung parteipolitisch motivierte Motive bestimmend, die allem Anschein nach auf keinen rational nachvollziehbaren Überlegungen basierten. Es dieser Tatbestand, der nun zwangsläufig zu der weiteren Frage Anlass
57 58 59 60
rungspräsidenten an der geplanten Abschaffung der Bezirksregierungen zu verlesen, s. Plenarprotokoll vom 23. 6. 2004, S. 3972 f. Als weitere Kritik aus der Verwaltungspraxis s. etwa noch Becker (FN 12), S. 89 ff.; Reffken (FN 8), S. 177 ff. und die Vorlage 3 zur LT-Drs. 15 / 1121 (Stellungnahme eines Verwaltungspraktikers aus Nordrhein-Westfalen zu dem Reformgesetz) s. dazu besonders Hesse (FN 6), S. 145 ff. und: (FN 42), S. 14 ff. Ausschließlich auf Hesse berief sich auch der Niedersächsische Innenminister in seiner Rede zur zweiten Lesung des Reformgesetzes im Landtag (Plenarprotokoll vom 27. 10. 2004, S. 4752, 4754). Das gilt besonders für die Stellungnahmen von Bogumil / Kottmann (FN 6) und Bogumil (FN 6), S. 253 ff.; s. aber auch Sondergutachten (FN 6), S. 79 ff. s. hier unter II. 2. S. 27 der genannten Koalitionsvereinbarung. Als weitere Zeugnisse für diese nach wie vor bestehende Haltung der Landesregierung s. Plenarprotokoll vom 27. 2. 2008, S. 58 (Regierungserklärung des Ministerpräsidenten); Mittelfristige Planung 2008 – 2012 (FN 38), S. 49, 51; die Ausführungen des Niedersächsischen Innenministers auf der Landkreisversammlung des Niedersächsischen Landkreistages 2009: NLT 2 / 2009, S.50 (52).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
gibt, inwiefern die Auflösung der Bezirksregierungen in Niedersachsen verfassungsrelevante Folgen nach sich gezogen hat. Nach meinem Eindruck kommen dafür aufgrund des bisher Gesagten zwei Anknüpfungspunkte in Betracht, die im Folgenden genauer benannt werden sollen, bevor im nächsten Abschnitt (IV.) ihre verfassungsrechtliche Bewertung folgt. a) Gefährdung des rechtsstaatlichen Verwaltungsvollzugs. Der erste Anknüpfungspunkt ist in dem mit der Auflösung der Bezirksregierungen verbundenen Wegfall ihrer Bündelungsfunktion (Koordinierungsfunktion) zu sehen, weil diese Folge ja die verfassungsrelevante Frage aufwirft, wie die Bindung der Verwaltung an »Gesetz und Recht« (Artikel 20 Abs. 3 GG; Artikel 2 Abs. 2 NV) in Zukunft noch sichergestellt ist61. Das gilt vor allem im Blick auf die bisher von den Bezirksregierungen im großen Umfang getroffenen sog. komplexen Verwaltungsentscheidungen. Derartige Entscheidungen, die bekanntlich besonders für den Bereich des Umwelt- und Technikrechts typisch sind, setzen, weil ihnen zwangsläufig weitgehend eine gesetzliche Vorprogrammierung fehlt, notwendigerweise dann auf der Verwaltungsebene eine sorgfältige Abwägung der durch sie berührten unterschiedlichen Gemeinwohlbelange (öffentliche Interessen) voraus. Es ist nun auch gerade für den Bereich des Umweltrechts mehrfach überzeugend nachgewiesen worden, dass für seinen ordnungsgemäßen Vollzug eine Verwaltungsorganisation erforderlich ist, die es zum einen ermöglicht, in der Fläche die unterschiedlichen Interessen zu bündeln62 ; und die zum anderen aber auch gewährleistet, dass – soweit spezielle (technische) Fragen berührt sind – diese möglichst vor Ort unter Beteiligung der dafür sachlich zuständigen Sonderbehörden geklärt werden können63. Insoweit reicht – das zeigt die Praxis überdeutlich – eine sog. (nachträgliche) »Negativkoordination«
61 Ergänzend dazu lässt sich auch fragen, ob die heutige Organisationsstruktur der allgemeinen staatlichen Verwaltung in Niedersachsen es dem öffentlichen Dienst ermöglicht, sein »Amt« und seine »Aufgaben« gemäß Artikel 6 NV »unparteiisch und ohne Rücksicht auf die Person nur nach sachlichen Gesichtspunkten« auszuüben. Richtig heißt es insoweit bei Wissmann, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, S. 943 (978): »Den gesamten öffentlichen Dienst prägen verfassungsunmittelbare Pflichten zur dem Gemeinwesen verpflichteten unparteiischen Amtsausübung. Das Organisationsrecht muss die Verwirklichung der entsprechenden Amtspflichten institutionell ermöglichen.« 62 Dass dies die genuine Aufgabe der Bezirksregierungen war, ist unbestritten; und auch, dass diese Aufgabe von keiner anderen Behörde in gleicher Weise zu leisten ist. Die viel beschworene und zum Teil als verfassungsrechtlich garantierter Grundsatz (Rechtsstaatsprinzip) verstandene »Einheit der Verwaltung« wurde gerade deshalb durch die Bezirksregierungen besonders überzeugend realisiert, s. zum Ganzen bereits hier die Nachweise in (FN 12) und daneben Spoerr, in: Fuchs (Hrsg.), Landesverfassungsrecht im Umbruch,1994, S. 163 (178 ff.); Seggermann (FN 5), S. 188 ff.. 63 Dazu Sondergutachten (FN 6), S. 176 ff.; Reffken (FN 41), S. 5 ff.; Wissmann (FN 6), S. 203 f.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
135
zwischen verschiedenen Sonderbehörden nicht aus64. Und diese notwendige Bündelung bzw. Koordination kann auch nicht auf der ortsfernen, nach Ressorts gegliederten Ministerialebene geleistet werden, und ebenfalls nicht auf der dafür zu kleinräumigen, in unmittelbarer Nähe der Kommunalpolitik handelnden Landkreisebene, – zumal dann nicht wenn es – wie in Niedersachsen – nur voll kommunalisierte Landkreise gibt65. Das Gesagte zusammenfassend und gleichsam bestätigend ist bemerkt worden: »Wer steht bei komplexen Verwaltungsentscheidungen in der Abwägung für die Interessen ein, die altertümlich Gemeinwohl genannt werden? Diese übergreifenden Interessen abzubilden, fällt zunehmend dem Gesetzgeber wie dem Gesetzesvollzug schwer. Die Komplexität der Realität, etwa im technischen Bereich, hat die Vorstellung ad absurdum geführt, Gesetzesvollzug sei bloße Ausführung des Gesetzes; so kleinteilig und dynamisch kann kein Gesetzgeber handeln. Wenn der Anspruch nicht aufgegeben werden soll, dass der Gesetzgeber inhaltliche Ziele vorgibt und nicht bloße Abwägungsmodalitäten bereitstellt, erfordern die Regelungen – nur scheinbar paradox – Handlungsspielräume der Verwaltung, um das Ziel zu erreichen. Der Handlungsspielraum ist jedoch durch die Art der Sachregelung bedingt, er soll nicht fremde Abwägungselemente ermöglichen … Wenn der schlichte Gesetzesvollzug eine Fiktion ist, muss der anspruchsvolle Gesetzesvollzug ermöglicht werden: Durch fachliche Arbeit und interne Kontrolle, nur so sind Verteilungs- und Vollzugsgerechtigkeit zu sichern. Staatliche Mittel- und Sonderbehörden sind in ihrer Eigenart dazu jeweils besonders geeignet: …Der Vollzug gesetzlicher (Fach-) Vorschriften ist durch Mittelund Sonderbehörden anders einzubringen und gleichmäßiger zu gewährleisten, als wenn diese Vorschriften nur ein Posten übergreifender Abwägungsentscheidungen ›vor Ort‹ sind. … Sonder- und Mittelbehörden … gehören in straffer Form zur effektiven Verwaltung der Kernaufgaben und sind keine Altlast rückständiger Verwaltungsorganisation. Sie sichern, dass die Frage nach dem allgemeinen Wohl nicht verloren geht«66.
64 So richtig Seggermann (FN 5), S. 203; s. auch S. 196 f.: »Fast zynisch mutet eine aktuelle Situationsbeschreibung im Zuge der niedersächsischen Verwaltungsreform an, wonach die Einheit stiftende und damit demokratiefundierte Bündelungsfunktion nach funktionalen Ausgliederungen und Konzentrationen sowie nach dem Abwandern der Aufsichtsfunktion bei staatlichen Verwaltungsstrukturen grundsätzlich in Frage gestellt wird und im Rahmen von Sonderverwaltungen, die effizient ihren jeweiligen Gemeinwohlaspekt bearbeiten, effektiver durch temporäre Projektgruppen ersetzt werden könne.« Für »zynisch« hält Seggermann insoweit, wie sich aus der dort dem Zitat beigefügten Fn. 445 ergibt, eine entsprechende Äußerung von Häusler (FN 8), S. 148., der – wie bereits bemerkt – in des Stabstelle Verwaltungsmodernisierung des Niedersächsischen Innenministeriums tätig war. 65 s. insoweit nur Sondergutachten (FN 6), S. 108 ff. zur begrenzten Fähigkeit der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zur Erledigung von Aufgaben aus dem Bereich des Umweltrechts. 66 So Wissmann (FN 6), S. 204 und ausführlich zur Struktur entsprechender Verwaltungsentscheidungen ders., Generalklauseln, 2008, S. 270 ff., 276 ff., 300 ff., 322 ff., 333 f.
136
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Die unter IV. genauer zu prüfende Frage lautet damit, ob eine Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche deshalb verfassungsrechtlich geboten ist, weil sonst die Bindung der (komplexen) Verwaltungsentscheidungen an »Gesetz und Recht« nicht gewährleistet ist. Oder anders gesagt: Zu klären bleibt, ob »die staatsrechtlich verankerte Organisationsmaxime von der Einheit der Verwaltung« sich »auch strukturell in der Verwaltungsorganisation in Form dominierender Bündelungsbehörden durchsetzen« muss67. b) Gefährdung der Kommunalaufsicht. Wegen des Wegfalls der Bezirksregierungen und des daraus folgenden Übergangs der Kommunalaufsicht über die Landkreise sowie die großen selbständigen und kreisfreien Städte auf das Innenministerium (bzw. auf das jeweils sachlich zuständige Ministerium bei der Fachaufsicht) muss auch an der Wirksamkeit eben dieser Aufsicht gezweifelt werden. Das haben bereits die hier unter II. zitierten Ausführungen zur Notwendigkeit der Bezirksregierungen in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Verwaltungsreform 1977 mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervorgehoben. Wenn Artikel 57 Abs. 5 NV u. a. davon spricht, dass das Land durch seine Aufsicht »sicherstellt«, dass von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften die Gesetze »beachtet« werden, so reicht das mit der Abschaffung der Bezirksregierungen propagierte neue Vertrauensverhältnis zwischen Land und Kommunen und die daraus abgeleitete Begründung für eine Reduzierung der Kommunalaufsicht sicherlich nicht aus, um diesem Verfassungsauftrag gerecht zu werden. Wie soll etwa, um konkret zu werden, das Innenministerium in Hannover auf einen Einspruch des Oberbürgermeisters der im fernen Nordwesten Niedersachsens gelegenen kreisfreien Stadt Emden gegen einen Ratsbeschluss (§ 65 NGO) richtig und in der gebotenen Eile reagieren? Oder : Wenn man die zentrale Rolle der Kommunalaufsicht bei der Genehmigung kommunaler Kredite (§ 86, 92 NGO u. a.) kennt, sind – um im herangezogenen Beispiel zu bleiben – auch erhebliche Zweifel angebracht, ob denn das Innenministerium in Hannover die ihm insoweit zugesprochene Kompetenz bei der Genehmigung des Haushalts der seit langem hoch verschuldeten Stadt Emden den gesetzlichen 67 So Seggermann (FN 5), S. 214. Richtig bemerkt auch Wissmann (FN 61), 981 f.: »Die Anwendung des Gesetzes muss institutionell und personell ermöglicht werden. Daraus folgt notwendig die maßgebliche Einbeziehung rechtskundiger Mitarbeiter in Verwaltungsentscheidungen, die die richterliche Kontrollperspektive als entscheidenden rechtsstaatlichen Maßstab antizipieren. Diese Orientierung auf die Einhaltung des Rechts ist zwingend bereits der Verwaltung selbst aufgegeben und darf nicht auf die Gerichte überwälzt werden (Art. 20 Abs. 3 GG). Der im Zuge der aktuellen Verwaltungsreformen zu beobachtende Wegfall von Sach- und Kontrollinstanzen, insbesondere die teilweise Abschaffung des Widerspruchsverfahrens, kann aus dieser Perspektive nicht als kumulativ einsetzbares Effizienzelement verstanden werden, vielmehr verlangt die Verdichtung der Verwaltungsentscheidung auf eine Instanz (erg.: wie das in Niedersachsen jetzt ja weitgehend der Fall ist) die nachweisliche Stärkung der Rechtlichkeit als Ausgleichsmoment.«
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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Anforderungen entsprechend wahrzunehmen imstande ist. Und derartige Zweifel sind umso mehr berechtigt, als in einem solchen Fall ja durchweg zwischen der Aufsichtsbehörde und der betroffenen Stadt ein Haushaltskonsolidierungskonzept oder -programm auszuhandeln ist68. Im Übrigen ist ja durch den Wegfall der Bezirksregierungen in ähnlicher Form die Wirksamkeit der ebenfalls durch Artikel 57 Abs. 5 NV geforderten Fachaufsicht über den Vollzug der von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zu erledigenden Auftragsangelegenheiten und damit letztlich deren demokratische Legitimation in Frage gestellt. Denn diese kann der Landtag durch die ihm nach Artikel 7 NV obliegende parlamentarische Kontrolle ja nur dann stiften, wenn die Landesregierung die Möglichkeit zu einer entsprechenden Aufsicht auch tatsächlich besitzt. Genau das muss aber nach der Abschaffung der Bezirksregierungen und dem (weitgehenden) Übergang der Fachaufsicht auf die durchweg fern vom Geschehen sich befindenden zuständigen Fachressorts bezweifelt werden69. 68 Dazu der aufschlussreiche Bericht aus der Praxis der Kommunalaufsicht in Niedersachsen von Mlynek, NdsVBl. 1995, S. 54 ff. Diese Darstellung der Praxis findet ihre theoretische Rechtfertigung durch Kahl (FN 18), bes. S. 518 ff. Das hier geschilderte Verständnis der Kommunalaufsicht durch den niedersächsischen Reformgesetzgeber widerspricht diesem Verständnis fundamental, da es im Ergebnis nicht auf Kooperation setzt, sondern eine Reduzierung (Schwächung) der Staatsaufsicht anstrebt. Der Gegensatz zur Auffassung Kahls ergibt sich deutlich aus folgender Bemerkung von ihm ([FN 18], S. 549 f.): »Die Zurückführung der Staatsaufsicht auf eine bloße Reservefunktion (erg.: hätte) eine rechtsstaatswidrige Durchlöcherung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zur Folge. … Wegen der unterschiedlichen Leitidee der Aufsicht einerseits und der (gerichtlichen) Kontrolle andererseits stehen beide Überwachungsinstitute in einem uneingeschränkten Komplementärverhältnis zueinander.« Artikel 57 Abs. 5 NV enthält demnach nicht (lediglich) eine »Grenze für die Rückführung von Aufsicht«, wie Häusler nach dem hier in FN 38 vollständig wiedergegebenen Zitat meint, sondern einen verfassungsrechtlichen Auftrag an Gesetzgeber und Verwaltung zu einer wirksamen Kommunalaufsicht, der rechtsstaatlich fundiert ist. 69 Die Schwächung der Fachaufsicht bedeutet deshalb eine Schwächung der demokratischen Legitimation der von den Kommunen getroffenen entsprechenden Verwaltungsentscheidung, weil diese Legitimation bei Auftragsangelegenheiten nicht durch die kommunale Vertretungskörperschaft, sondern eben durch das Landesparlament gestiftet wird (s. dazu nur Waechter, Kommunalrecht, 3. Aufl. 1997, S. 99). Es kann insoweit also nicht entgegen der Ansicht von Mehde ([FN 5], S. 26 f.) von einem »Zusammentreffen von mindestens zwei Legitimationsketten« gesprochen werden. Verliert man diesen Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit einer wirksamen Fachaufsicht und der durch den Landtag gestifteten demokratischen Legitimation im Wege der parlamentarischen Kontrolle aus den Augen, so lassen sich schnell »pragmatische« Argumente für eine Aufweichung der Ministerverantwortlichkeit finden, wie Mehde es etwa an anderer Stelle (DVBl 2001, S. 13 ff.; ausführlich dazu mit entsprechender Tendenz Gross, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation,1999, S. 184 ff.) versucht hat. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit werden diese Zusammenhänge aber betont in dem Urteil des StGH Bremen vom 15. 1. 2002 (NordÖR 2002, S. 60 ff.) im Blick auf die Fachaufsicht bei Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Private. Im Leitsatz 3 des genannten Urteils (ebd. S. 60, genauer dazu S. 62 f.) heißt es u. a.: »Die
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Die genannten eingetretenen Einschränkungen der Kommunalaufsicht besitzen schließlich auch deshalb noch verfassungsrechtliche Bedeutung, weil das Land nach Artikel 83 ff., 104 a Abs. 5 Satz1 und Abs. 6 GG u. a. für die Verletzung seiner Pflichten, die ihm beim Vollzug von Bundesrecht und supranationalem Recht (wie Völkerrecht) obliegen, zu haften hat70. Denn soweit diese Pflichten für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften bestehen, hat ja das Land ebenfalls durch seine Aufsicht »sicherzustellen«, dass dies auch geschieht. Die durch das Reformgesetz von 2004 offensichtlich eingetretene Gefährdung der nach Artikel 57 Abs. 5 NV gebotenen Kommunalaufsicht fordert also gleichfalls zur Prüfung der Frage auf, ob auch aus diesem Grund eine Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche verfassungsrechtlich geboten ist71.
IV.
Verfassungsrechtliche Würdigung der Verwaltungsreform von 2004
1.
Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Forderung nach funktionsgerechter Organstruktur
Für die Beantwortung der damit aufgeworfenen Frage, ob es für die aufgezeigten Fälle verbindliche »Verfassungsvorgaben für staatliche Entscheidungsstrukturen«72 gibt, kommt vor allem »der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur« in Betracht, der m. E. richtigerweise als »ein aus dem Gewaltenteilungsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleiteter Verfassungsrechtssatz« zu verstehen ist73. Dieser Ableitungszusammenhang ist deshalb folgerichtig, weil nach der wohl h. M. der rechtliche Gehalt des Gewaltenteilungsprinzips (primär) darin liegt, dass es gebietet, die Kompetenzen von Legislative, Exekutive und Recht sprechender Gewalt gemäß der für jede Gewalt verfassungsrechtlich festgelegten Organstruktur und dem für sie verfassungsrechtlich vorgegebenen
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Grundsätze demokratischer Legitimation, Verantwortlichkeit und Kontrolle der Regierung verlangen, dass die im Gesetz vorgesehenen Instrumente der Fachaufsicht und der Weisungsbefugnis gegenüber den Beliehenen auch effektiv genutzt werden.« Genauer zur Auslegung des Artikel 104 a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 GG Henneke, Bundesstaat und kommunale Selbstverwaltung nach den Föderalismusreformen, 2009, S. 51 ff. Richtig betont Wissmann zur Organisation der Aufsicht (FN 61), S. 976: »Der organisatorische Spielraum des Gesetzgebers ist … durch rechtsstaatliche Bewertungsmaßstäbe begrenzt.« So der Untertitel einer Abhandlung von v. Dannwitz, Der Staat 35 (1996), S. 329. So wieder v. Dannwitz (FN 72), S. 330, genauere Begründung dieser Aussage ebd. auf S. 331 ff.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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Verfahren zu verteilen bzw. dabei auf den Zusammenhang von Funktion, Kompetenz und Legitimation zu achten74. Dieses Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips stützt auch die These, dass das staatliche Organisationsrecht »in unauflöslicher Verknüpfung mit materiellem Recht steht«75 und deshalb das (materielle) Außenrecht »für sich allein gar nicht die Gewissheit staatlichen Handelns garantieren« kann. Darum »gewinnen« so gesehen das Innen- und Außenrecht »erst aus ihrem Zusammenwirken gewissermaßen ihre Funktion«76. Dem entsprechend ist für die Lösung des hier aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Problems zu beachten, dass »die durch die Kompetenz zugewiesene Aufgabe« eben auch »eine aufgabengerechte Organisation und ein aufgabengerechtes Verfahren der Staatsorgane« verlangt77. Nach dem richtig verstandenen Grundsatz der funktionsgerechten Organstruktur muss demnach die Exekutive (Verwaltung) von Verfassungs wegen »die zur Aufgabenerfüllung notwendigen personellen, sachlich-instrumentellen und organisatorischen Gegebenheiten besitzen, um die … (erg.: ihr) eingeräumte Entscheidungsbefugnis sachgerecht und damit erst verantwortlich wahrnehmen zu können«78. Hierzu gehört auch, dass »eine umfassende Information gewährleistet ist und eine ausgewogene Bewertung anhand sachlich-rationaler Maßstäbe stattfinden kann«79. Der hier zu entscheidende Einzelfall ist folglich daraufhin zu überprüfen, ob »die vorhandene Entscheidungsstruktur« eine »Gewähr für eine sachgerechte Entscheidungsfindung« bietet80 oder anders ausgedrückt: Es ist zu fragen, ob er deshalb verfassungswidrig ist, weil er eine (evidente) funktionale Inkompatibilität betrifft81. Da nun die heutige durch das Reformgesetz von 2004 geschaffene Verwaltungsorganisation in Niedersachsen nach dem hier unter III. 3. Ausgeführten 74 s. dazu Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 172 ff. und Nachdenkliches (FN 32), S. 42 ff.; v. Dannwitz (FN 72), S. 330 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, S. 567 ff und: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 179 ff.; Krebs, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, S. 511. 75 So schon früh Schnapp, AöR 105 (1980), S. 243 (270); aus neuerer Zeit dazu etwa Gross, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, S. 846 ff. 76 Schnapp (FN 75), S. 268, 252 (Hervorhebung A.J.). 77 So Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, 1986, S. 20 Fn. 34; daneben entsprechend Burgi, VVDStRL 62 (2003), S. 405 (430 f.); genauer zu diesen Zusammenhängen Gross (FN 69), S. 200 ff. 78 v. Dannwitz (FN 72), S. 335. 79 v.Dannwitz ebd., S. 335. 80 v. Dannwitz, ebd., S. 347. 81 Von »funktionalen Inkompatibilitäten« spricht v. Dannwitz ebd. auf S. 346, s. auch S. 338. Auf S. 350 stellt er richtig fest, dass »evident ungeeignete Entscheidungsstrukturen als verfassungswidrig zu beanstanden« seien.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
eine Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht (Artikel 20 Ab. 3 GG; Artikel 2 Abs. 2 NV) und eine Kommunalaufsicht, die den Anforderungen des Artikel 57 Abs. 5 NV genügt, nicht sicherstellt und damit eben keine »Gewähr für eine sachgerechte Entscheidungsfindung« bietet, muss man im Ergebnis für diese Verwaltungsorganisation das Vorliegen einer verfassungswidrigen funktionalen Inkompatibilität bejahen.
2.
Bestätigung dieses Ergebnisses durch Artikel 56 NV
Das gefundene Ergebnis unterstützt die nun genauer zu begründende These, dass die Niedersächsische Verfassung eine Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche voraussetzt: Das Land Niedersachsen übt nach Art. 56 Abs. 1 NV »seine Verwaltung durch die Landesregierung und die ihr nachgeordneten Behörden aus«. Dass zu diesen »nachgeordneten Behörden« besonders Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche zählen, folgt aus Absatz 2 der genannten Vorschrift, der besagt, dass »der allgemeine Aufbau und die räumliche Gliederung der allgemeinen Landesverwaltung eines Gesetzes« bedürfen. Denn auch aus den Motiven zu dieser Vorschrift – und namentlich aus denen zu der gleich lautenden Bestimmung in der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung – ergibt sich eindeutig, dass sich diese Regelung nicht auf die Einrichtung von Sonderbehörden des Landes bezieht, und dass mit der »räumlichen« Gliederung der allgemeinen Landesverwaltung ihre »bezirkliche« Gliederung gemeint ist. Den zunächst gewählten Begriff »bezirkliche Gliederung« ließ man nämlich in den Verfassungsberatungen zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung allein aus sprachlichen Gründen fallen82. Bei dieser Sachlage erstaunt es nicht, dass in der Literatur schon früh die Ansicht vertreten worden ist, dem Artikel 43 Abs. 2 Vorläufige Niedersächsische Verfassung (= Artikel 56 Abs. 2 NV) lasse sich »eine institutionelle Garantie der allgemeinen Landesverwaltung und damit der Bezirksregierungen« entnehmen83. Selbst wenn man nun aber so weit nicht gehen will, so bleibt doch der aus Artikel 56 NV m. E. zwingend folgende Schluss, dass – allgemein gesprochen – der niedersächsische Verfassungsgeber von der Existenz einer allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche als von ihm zu regelnde verbindliche Vorgabe ausging. So hat auch die Staatspraxis diese Vorschrift bis zum Erlass des 82 s. Bd. 1 der Materialien zur VNV (FN 30), S. 276 f., 507 f., 535 f., 641; dazu auch Elster (FN 8), S. 319 ff. 83 So Müller-Heidelberg, Neues Archiv für Niedersachsen 15 (1966), S. 7 (24).
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
141
Reformgesetzes von 2004 stets verstanden84. Und auch ihr Verhältnis zu Artikel 57 und 59 NV spricht für diese Folgerung. Denn wie die kommunale Selbstverwaltung durch Artikel 57 NV garantiert wird und nach Artikel 59 NV die »Gebietsänderungen« von Gemeinden und Kreisen grundsätzlich eines Gesetzes bedürfen, so enthält Artikel 56 NV eine zumindest indirekte Garantie der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche und das Gebot, dass (deshalb) eine »bezirkliche« Neugliederung der allgemeinen staatlichen Verwaltung nur in Gesetzesform möglich ist. Aus dem Gesagten folgt damit, dass die hier unter 1. getroffene Feststellung, dass die augenblickliche Organisation der allgemeinen staatlichen Verwaltung in Niedersachsen eine verfassungswidrige funktionale Inkompatibilität darstellt, durch das verfassungsrechtliche Leitbild bestätigt wird, das die Niedersächsische Verfassung – und vor allem ihr Artikel 56 – für den Aufbau der Landesverwaltung voraussetzt.
3.
Verfassungsgemäßer zweistufiger Verwaltungsaufbau in Niedersachsen durch eine Kreisreform
Mit der Feststellung, dass das Reformgesetz von 2004 aus den genannten Gründen verfassungswidrig ist, kann nun aber seine verfassungsrechtliche Beurteilung deshalb nicht abgeschlossen werden, weil damit übersehen würde, welchen Wandlungen auch die Organisationsstruktur in den deutschen Bundesländern durch die fortschreitende europäische Integration zwangsläufig ausgesetzt ist. Weil dieser Gesichtspunkt in der gesamten Debatte über das Reformgesetz von 2004 nicht zur Sprache gekommen ist, wurde auch übersehen, dass sich die Notwendigkeit eines zweistufigen Verwaltungsaufbaus selbst in den größeren Flächenländern der Bundesrepublik eben durch die europäische Integration neu stellt. Denn die deutschen Bundesländer haben sich auf diese Weise nun einmal faktisch mehr oder weniger unter Verlust ihrer so vielfach 84 Richtig insofern Hagebölling, Niedersächsische Verfassung. Kommentar, Artikel 56 Anm. 3 (S. 141) und Elster (FN 8), S. 319 ff. Der Verfassungsgeber hat auch nicht, wie Häusler ([FN8], S. 149) behauptet, »die Anregung, die Bezirksregierungen als die Mittelinstanz der allgemeinen Verwaltung zu erwähnen, ausdrücklich verworfen«. Vielmehr ist ein entsprechender Formulierungsvorschlag des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag ausweislich der Materialien zur NV im Sonderausschuss »Niedersächsische Verfassung« überhaupt nicht behandelt worden (s. Bd. 1 der von der Landtagsverwaltung zusammengestellten Materialien, S. 879 f., 937 f. i. V. m. Bd. 2, S. 1459). Dafür wiederum kann der Grund sprechen, dass man schlicht und einfach weiterhin von der bisherigen Staatspraxis ausging, zumal eine Auflösung der Bezirksregierungen in Niedersachsen damals überhaupt nicht zur Diskussion stand.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
noch behaupteten Staatlichkeit zu höheren Verwaltungseinheiten entwickelt85, so dass sich besonders deshalb ein zweistufiger Aufbau ihrer Verwaltung nahe legt. Ein solcher zweistufiger Verwaltungsaufbau müsste nun aber nach dem hier soeben unter 1. und 2. Ausgeführten gerade in Niedersachsen als dem zweitgrößten Flächenland in der Bundesrepublik Deutschland die Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche sicherstellen. Ausgehend von der nunmehr hier existierenden Verwaltungsstruktur stellt sich damit konkret die Frage, ob in diesem Land eine Kreisreform denkbar ist, die den soeben dargelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht86 : a) Notwendige Vertretung des Staates auf der Kreisebene. Dass sich eine angemessene Vertretung des Staates auf der Kreisebene und damit eine wesentliche Voraussetzung für eine Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche realisieren lässt, zeigt ansatzweise besonders die in der bayerischen Landkreisordnung geregelte Kreisverfassung87. Aber viel konkreter und die Erledigung staatlicher Aufgaben durch die Landkreise weitaus stärker berücksichtigend sind insofern die Vorschläge für eine künftige Kreisverfassung im 1969 erschienenen Gutachten zur 1977 abgeschlossenen Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen. Nach diesen Vorschlägen werden nämlich zunächst (und vor allem) bestimmte fachliche Qualifikationen für das (damalige) Amt des Oberkreisdirektors und eine Beteiligung der Landesregierung an der Auswahl der Bewerber für dieses Amt gefordert88 und weiter, dass ein Landebeamter zu seinem allgemeinen Vertreter bestellt wird89. Daneben ist für unsere Fragestellung die im Sachverständigengutachten in Aussicht genommene Schaffung eines Kreisamts von Bedeutung, das »in sich die Funktionen einer kreiskommunalen und einer staatlichen Behörde« vereinigt90. Und schließlich ist im vorliegenden Zusammenhang noch die Absicht erwähnenswert, dass die »zur Erledigung der Aufgaben der unteren Verwaltungsbehörde erforderlichen Bediensteten … das Land zur Verfügung« stellt, wobei sich »ihre Zahl nach den
85 Dazu zusammenfassend Janssen, Nachdenkliches (FN 32), S. 32 ff. 86 s. auch die Bemerkung von Miller, in: Morlok u. a. (FN 12), S. 94 (108): »Die Durchführung einer erneuten Kreisgebietsreform kann daher als Alternative zu der Diskussion um den Forbestand der Regierungspräsidien bzw. um die Einrichtung von Regionalämtern angesehen werden« (Hervorhebung A.J.). 87 s. dort bes. Artikel 37; zu insofern z. T. parallelen (aber nicht so weitgehenden) Regelungen in anderen süddeutschen Ländern vgl. Henneke, Kreisrecht, 2. Aufl. 2007, S. 44 und Bovenschulte, Gemeindeverbände als Organisationsformen kommunaler Selbstverwaltung, 2000, S. 349 f. 88 Sachverständigengutachten (FN 9), S. 196 f. 89 Sachverständigengutachten (FN 9), S. 198. 90 Sachverständigengutachten (FN 9), S. 197 f.
4. Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur
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Bedürfnissen der Landesverwaltung« richten soll91. Alle diese Vorschläge belegen m. E., dass ein realistisches Konzept für den (partiellen) staatlichen Charakter der Kreisverwaltung existiert. b) Notwendigkeit einer Kreisgebietsreform. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie denn eine künftiger, für die Präsenz der staatlichen Verwaltung in der Fläche erforderlicher räumlicher Zuschnitt der niedersächsischen Landkreise auszusehen hätte. Ganz sicher wird man dazu zunächst feststellen müssen, dass diese Frage nicht, wie die Koalitionsfraktionen und die niedersächsische Landesregierung ja nach dem hier unter III. Ausgeführten offensichtlich meinen, letztlich in das Belieben der Landkreise selbst gestellt werden kann. Dagegen spricht schon eine ausgeformte Verfassungsrechtsprechung zum Problem kommunaler Gebietsreformen, wobei für Niedersachsen natürlich besonders das ausführliche Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs aus dem Jahr 1979 zur mit der Verwaltungsreform 1977 vollzogenen Kreisneugliederung in diesem Land einschlägig ist92. Eine sinnvolle Lösung dieses Problems ist m. E. nur möglich, wenn man sich die schon in der Verwaltungslehre Lorenz von Steins gut begründete Einsicht zu eigen macht, dass die kommunale Selbstverwaltung notwendig ein Substrat voraussetzt und dieses nicht nur in der für die Gemeinden konstitutiven »örtlichen Gemeinschaft« (Art. 28 Abs. 2 GG), sondern daneben auch »in den historischen Kräften der Landschaften«, wie Lorenz von Stein sagt, zu finden ist93. Zwei Überlegungen können nach meinem Dafürhalten weiterhelfen, um auf dieser gedanklichen Grundlage Kriterien für einen solchen künftigen Kreiszuschnitt in Niedersachsen zu gewinnen, der einen zweistufigen Verwaltungsaufbau in diesem Land auch im Blick auf die zu beachtenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe realistisch erscheinen lässt: Zunächst ist an die bereits wiedergegebenen Ausführungen von Werner Weber zu erinnern, dass vom Gedanken der Region und Regionalplanung u. a. auch Impulse für eine Kreisneugliederung ausgehen könnten94. Diesen Gedanken halte ich deshalb für so fruchtbar, weil ja, wie ebenfalls schon betont, der Flächenumfang der heutigen niedersächsischen Landkreise durchweg einen viel zu kleinen Planungsraum für die Regionalplanung darstellt95. Daneben entspricht auch das herrschende Verständnis der Regionalplanung »als Aufgabe 91 Sachverständigengutachten (FN 9), S. 199; s. auch ergänzend S. 219 f. zu den vorgeschlagenen (weniger einschneidenden) Veränderungen für die Verfassung der kreisfreien Städte. 92 Vollständiger Abdruck in Nds. MBl. 1979, S. 547 – 627. 93 v. Stein, Die Verwaltungslehre, Teil 1 Abteilung 2, 2. Aufl. 1869, S.148 mit genauerer Begründung dieses Standpunktes auf S. 148 ff. und bes. S. 179 ff.; s. dazu auch v. Unruh, in: Jeserich / Pohl / ders. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. III, 1984, S. 562. 94 s. dazu hier unter II. 3. 95 s. dazu wiederum hier unter II. 3.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
eines staatlich-kommunalen Kondominiums« der für einen zweistufigen Verwaltungsaufbau in Niedersachsen konstitutiven dualistischen Struktur der Landkreise als Gebietskörperschaft und staatlichem Verwaltungsbezirk96. Die zweite Überlegung, die – aufbauend auf dem Grundgedanken Lorenz von Steins – für einen künftigen Zuschnitt der niedersächsischen Landkreise wesentlich ist, knüpft an die in Niedersachsen offensichtlich in Vergessenheit geratene Erkenntnis an, dass bereits der Reformgesetzgeber von 1977 mit seiner Verringerung der Regierungsbezirke von acht auf vier den bis dahin bestehenden Zusammenhang zwischen der staatlichen Mittelinstanz und der historischen wie landschaftlichen Einheit des verwalteten Raums zerschnitt97. Ich bin darauf an anderer Stelle genauer eingegangen und habe dort auch herausgearbeitet, dass vor der Verwaltungsreform von 1977 gerade deshalb die damals acht Regierungsbezirke in Niedersachsen ebenfalls die idealen Träger der Regionalplanung waren98. Damit spricht viel für die These, dass man grundsätzlich bei einem neuen Gebietszuschnitt der niedersächsischen Landkreise an den räumlichen Zuschnitt der acht alten Regierungsbezirke vor 1977 anknüpfen sollte, wobei natürlich inzwischen zusammengewachsene räumliche Einheiten wie die Region Hannover oder der Landkreis Emsland, der ja bekanntlich eine überdurchschnittliche Flächengröße von 2860 Quadratkilometern besitzt (und damit von seiner räumlichen Ausdehnung gesehen größer ist als das Saarland), zu berücksichtigen wären. Für eine solche Lösung sprechen auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte Und zwar einmal der Schutz, den die historischen Landschaften in Nieder-
96 Zum genannten Charakter der Regionalplanung genauer Schmidt-Aßmann, AöR 101 (1976), S. 520 (533 ff.) und mit Blick auf die niedersächsischen Verhältnisse vor der Verwaltungsreform 2004 Söfker (FN 19), S. 5 ff. Aus diesem Charakter der Regionalplanung folgt, dass einem »kommunalfreundlichen Typ der Regionalplanung« darum Grenzen gesetzt sind; »sie liegen dort, wo die Mitwirkungsrechte des Staates so weit reduziert würden, dass es einer Flucht aus der Verantwortung für die Gestaltung des regionalen Planungsraumes gleichkäme« (so Schmidt-Aßmann ebd., S. 538). Eine solche Grenzüberschreitung hat in Niedersachsen inzwischen stattgefunden, dazu Janssen, Emder Jahrbuch (FN 55), S. 251 f., s. auch die Schilderung auf S. 252 ff. zu den sich daraus ergebenden konkreten Folgen für die Siedlungsstruktur einer Region. Zur These einer dualistischen Struktur der Landkreise s. hier die Nachweise in FN 18. 97 Dass sich auch der damalige Reformgesetzgeber dieser Zusammenhänge nicht (mehr) bewusst war, beweist die Feststellung im einschlägigen Regierungsentwurf (LT-Drs. 8 / 1000, S. 188 [Hervorhebung A. J.]), dass die aufgelösten Regierungsbezirke »als Zufälligkeit lange zurückliegender historischer Vorgänge« zu betrachten seien. Dass demgegenüber die alten acht Regierungsbezirke in Niedersachsen als in historischen Kontinuitäten wurzelnde Einheiten zu verstehen sind, betonen Götz / Petri (FN 8), S.46; Elster (FN 8), S. 364 f., 357 f.; Poeschel, DÖV 2004, S. 421 (424 f.). Allgemein zum Begriff der Region zuletzt Seggermann (FN 5), S. 111 ff. 98 Janssen, Emder Jahrbuch (FN 55), S. 246, 247 ff.
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sachsen aufgrund von Art. 72 NV genießen99, weil diese ja weitgehend mit den alten Regierungsbezirken vor 1977 im räumlichen Zuschnitt übereinstimmen. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG von Bedeutung. Denn seine Aussage, dass bei einer eventuellen Länderneugliederung u. a. auch »historische und kulturelle Zusammenhänge« wie auch »die Erfordernisse der Raumordnung« zu berücksichtigen sind, ist ja in der Literatur selbst als Maßstab für eine Gemeindegebietsreform fruchtbar gemacht worden100. c) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Regionalkreisen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen entsprechend geschnittene Regionalkreise in Niedersachsen könnten nun aber namentlich im Blick auf das Neugliederungsurteil des Landesverfassungsgerichts von Mecklenburg-Vorpommern vom 26. 6. 2007 geltend gemacht werden101, das ja bekanntlich eine dem vorgetragenen Vorschlag z. T. entsprechende Lösung einer Kreisgebietsreform in diesem Bundesland für verfassungswidrig erklärt hat. Ohne darauf hier im Einzelnen eingehen zu können, scheinen mir allerdings zwei Gesichtspunkte entscheidend gegen die exemplarische Bedeutung dieses Urteils zu sprechen. Zunächst der Umstand, dass der Niedersächsische Staatsgerichtshof in seinem schon genannten Urteil zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Landkreises Emsland, der von seiner Größe her gesehen ja schon jetzt einem Regionalkreis im hier entwickelten Sinne entspricht, u. a. ausgeführt hat, es sei »nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber der Flächengröße des neuen Emslandkreises keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen« habe102. Der Niedersächsische Staatsgerichtshof hat weiter in seinem Urteil als ein entscheidendes Beurteilungskriterium für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Landkreises Emsland nicht das Ehrenamt der Kreistagsabgeordneten herausgestellt, wie es im Urteil des Landesverfassungsgerichts von Mecklenburg-Vorpommern geschieht. Vielmehr hat der Staatsgerichtshof insoweit die Frage für ausschlaggebend erklärt, ob »die Bürger des Kreises die in seinem Gebiet für die Verwaltung des Kreises anfallenden Aufgaben noch als ihre eigenen Angelegenheiten empfinden und sich infolgedessen mit ihnen identifizieren können«103. Das ist m. E. ein Gesichtspunkt, der mit dem hier vertretenen Begriff der Region als Substrat der Landkreise durchaus vereinbar ist. Im Übrigen scheint mir der zentrale Fehler in der Ar99 s. dazu zuletzt das ungedruckte Rechtsgutachten von Hendler, Die Ostfriesische Landschaft im Verwaltungsgefüge des Landes Niedersachsen und ihr verfassungsrechtlicher Schutz, 2001, 24 ff. 100 So besonders von Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und gemeindliche Gebietsgestaltung, 1976, S. 70 ff. 101 Abgedruckt u .a. in: DVBl 2007, S. 1102 ff.; NordÖR 2007, S. 353 ff.; NdsVBl. 2007, S. 271 ff. Aus der Literatur allgemein zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Schaffung von Regionalkreisen Wallerath, in: FS Schnapp, 2008, S. 695 ff. 102 Nds. MBl, 1979, S. 600. 103 Nds. MBl. 1979, S. 602.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
gumentation des Verfassungsgerichts von Mecklenburg-Vorpommern darin zu liegen, dass es die Unterschiede, die aufgrund der einschlägigen verfassungsrechtlichen Regelungen (Artikel 28 Abs. 2 GG; Artikel 57, Abs. 1, 3, 4 NV) zwischen Gemeinden und Landkreisen bestehen, nicht hinreichend berücksichtigt hat. Darauf ist auch in der Literatur mehrfach hingewiesen worden104. Gibt es demnach eine verfassungsgemäße Lösung für eine zweistufige Verwaltung in Niedersachsen, so muss das Land nach der festgestellten Verfassungswidrigkeit seiner augenblicklichen Verwaltungsstruktur nun auch entsprechend tätig werden. Es kann also insoweit nicht, um es noch einmal zu wiederholen, eine entsprechende Kreisreform von freiwilligen Initiativen der betroffenen Landkreise abhängig machen105.
V.
Die niedersächsische Verwaltungsreform von 2004 als Beispiel für die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien
Die mit dem Reformgesetz von 2004 vollzogene Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen kann m. E. nun auch als Teil einer allgemeinen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden, die eine fortschreitende Auflösung ihrer staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien beinhaltet106. Bisherige Etappen auf diesem Weg sind im Blick auf die Verwaltung vor allem die ständig zunehmende verfassungswidrige 104 s. etwa Hans Meyer, NVwZ 2007, S. 24 ff., 28; Erbguth, DÖV 2008, S. 152 (153); Mehde, NordÖR 2007, S. 331 (334 f.); Bull, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Funktional-, Struktur- und möglichen Gebietsreform in Schleswig-Holstein, 2007 (Schleswig-Holsteinischer Landtag Umdruck 16 / 2310), S. 32 f., 39, 75 f. 105 Daneben ist noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen (s. bereits hier unter III. 1 .a), dass ebenfalls eine Änderung in der Organisationsstruktur der Landesregierung Voraussetzung für eine effektive zweistufige Landesverwaltung in Niedersachsen wäre. Allerdings wird man insoweit wohl nicht von einem verfassungsrechtlichen Gebot sprechen können. 106 Diese Behauptung lässt sich im Grunde nur durch eine besondere Abhandlung belegen. Ich verweise hier nur vorläufig auf einige insoweit einschlägige Arbeiten von mir. Zur Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften: Janssen, Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem, 1988 (Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages H. 17) und: Privatisierung der Daseinsvorsorge (FN 24); zur Entwicklung des Landesverfassungsrechts: Janssen, JöR (FN 23), S. 301 ff. und: Nachdenkliches (FN 32); zur Entwicklung des deutschen Bundesstaatsrechts: Janssen, in: Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU, 2001, S. 59 ff. und in: Verhandlungen des 65. DJT, Bd. II / 1, 2004, S. 9 ff.; zur Entwicklung des öffentlichen Dienstrechts: Janssen, Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen, 1982, und: ZBR (FN 23), S. 113 ff.; zur Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates allgemein: Janssen, Die Verwaltung 35 (2002), S. 117 ff. und in: Henneke / Meyer (Hrsg.), FG Schlebusch, 2006, S. 107 ff.
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Ämterpatronage107, aber daneben auch die hier schon erwähnten Reformen des Haushaltsrechts und Privatisierungsbestrebungen. Selbst in den beiden zuletzt genannten Fällen geht ja ein Stück »Staatlichkeit« der Verwaltung insofern verloren, als durch solche Maßnahmen ihre demokratische Legitimation und – z. T. – auch der rechtsstaatliche Gesetzesvollzug Einbussen erfährt. Dass diese Entwicklung die neuere Verwaltungsrechtslehre durchweg nicht anficht, sondern sie im Gegenteil darin teilweise eine (begrüßenswerte) Fortentwicklung des öffentlichen Rechts erblickt108, erklärt sich nach meinem Eindruck damit, dass sie – insoweit durchaus in weitgehender Übereinstimmung mit der Haltung der politischen Parteien – die bürokratische Organisationsform der Verwaltung kaum noch als eine für ihre demokratische Legitimation und ihr rechtstaatliches Handeln konstitutive Voraussetzung zu begreifen vermag109. Damit aber steht einiges auf dem Spiel, – vor allem der drohende Verlust der Einsicht, dass Bürokratie zunächst und vor allem als der organisatorische Versuch zu verstehen ist, Willkür zu verhindern. Es scheint heute in Vergessenheit geraten zu sein, dass eben dies auch eine wesentliche Aufgabe des im öffentlichen Dienst tätigen Juristen ist. Denn – wie ein Schüler Werner Webers einmal zutreffend gesagt hat – »die Alternative zum ideologischen Denken ist ein rechtliches Denken auch da, wo es nicht um Prozess, Gesetzesanwendung und Urteil geht, sondern um politischen Streit«110. Eine solche Sicht der Dinge setzt nun allerdings zunächst einmal voraus, dass man die Gefahr erkennt, die mit dem in Bund und Ländern eingetretenen Verlust der »spezifische(n) Besonderung« von Legislative und Exekutive einhergeht111. 107 Zuletzt dazu Dippel, NordÖR 2009, S. 102 ff.; s. daneben zu der daraus folgenden Notwendigkeit (verfassungs-) rechtlicher Maßnahmen Janssen, ZBR (FN 23), S. 130 f. 108 Gute Darstellung des Meinungsstandes bei Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 81 ff., bes. S. 87 ff. Kritisch zur skeptischen Beurteilung dieser letzten Entwicklungsstufe des öffentlichen Rechts in Deutschland durch Wahl: Schuppert, AöR 133 (2008), S.76 (90 ff.). Liest man vor diesem Hintergrund etwa die Analyse von Colin Crouch (Postdemokratie, 2008, bes. S. 45 ff, 101 ff.) und berücksichtigt die Erfahrungen der Verwaltungspraxis, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass von der »neuen« Verwaltungsrechtswissenschaft vielfach unter Nichtbeachtung der tatsächlichen politischen Rahmenbedingungen argumentiert wird. Zumindest lässt sich die Feststellung kaum umgehen, dass sie sich weitestgehend von dem Anspruch, die Verwaltungswirklichkeit von einem eigenständigen juristischen Standpunkt aus beurteilen zu können (und – verfassungsrechtlich gesehen – zu müssen), verabschiedet hat. 109 Erwähnenswerte Ausnahmen insoweit etwa: Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991; Jaestedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996; Loschelder, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, S. 409 ff. 110 So Henke, Der Staat 31 (1992), S. 265 (275, auch 276). Genauer zu dieser Aussage Janssen, ZevKR 54 (2009), S. 1 (14 f.). 111 So W. Weber, Zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung, 1984 (H.7 der Schriftenreihe
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Sie liegt, wie der hier geschilderte Fall deutlich zeigt, darin, dass es dann »keine Eigenständigkeit der Staatswillenbildung« mehr gibt, weil ein »Parteiregime« für die Ausübung der Staatsgewalt in Legislative und Exekutive (allein) bestimmend ist112. Die genauere verfassungsrechtliche Begründung der These, dass nach deutschem Verfassungsrecht den politischen Parteien eben dafür die demokratische Legitimation fehlt und auch das parlamentarische Regierungssystem ihr Verhalten insoweit nicht zu rechtfertigen vermag, kann allerdings in diesem Rahmen nun nicht mehr geleistet werden113. Auf ihre Dringlichkeit hinzuweisen, war die weitergehende Absicht der vorstehenden Ausführungen114.
Thesen I. Der mit der Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen verbundene Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche besitzt deshalb verfassungsrechtliche Relevanz, weil die sich daraus ergebende Organisationsstruktur der niedersächsischen Verwaltung ihre Staatlichkeit grundsätzlich in Frage stellt. des Niedersächsischen Landtages), S. 33 und ähnlich: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 161. Zur Notwendigkeit dieser Unterscheidung auch Janssen, Die Verwaltung (FN 106), S. 128 f.; FG Schlebusch (FN 106), S. 114 ff.; Nachdenkliches (FN 32), S. 42 ff. Ein wesentlicher verfassungsrechtlicher Grund für die damit zu fordernde Eigenständigkeit der Exekutive liegt auch darin, dass sie eine (häufig geleugnete) Kompetenz neben Legislative und Judikative zur Konkretisierung (und Durchsetzung) der verfassungsimmanenten Schranken der grundrechtlichen Freiheit besitzt, dazu Janssen, in: Waechter (Hrsg.), Grundrechtsdemokratie und Verfassungsgeschichte, 2009, S. 13 (29 ff.). 112 Dazu heißt es genauer bei Henke, Zweitkommentierung von Artikel 21 GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1991, Rn. 153: Die Wahl »als staatsrechtlicher Akt legitimiert … nicht die Parteien, sondern die Parlamente und Regierungen, und die Legitimation der Parteiführungen durch innerparteiliche Demokratie hat demgegenüber keinen Vorrang. Wo die Parteien ihn mit Erfolg in Anspruch nehmen, gibt es keine Eigenständigkeit der Staatswillenbildung und damit keinen Staat im Sinne der Verfassung, sondern ein Parteiregime«, s. ergänzend ebd. Rn. 142 ff. Der legitime Ort im Staat des Grundgesetzes, den parteipolitischen Einfluss nachhaltig zur Geltung zu bringen, ist grundsätzlich allein das Parlament, s. dazu Janssen, Nachdenkliches (FN 32), S. 46 ff. 113 s. insoweit nur noch einmal das in FN 112 wiedergegebene Zitat aus der Kommentierung von Henke und zu der namentlich auf Landesebene begrenzten Möglichkeit, durch das parlamentarische Regierungssystem die Einflussnahme der politischen Parteien auf die Exekutive zu rechtfertigen, Janssen, Nachdenkliches (FN 32), S. 33 ff., 51 f. 114 Daran sollten daneben zumindest im Blick auf das nunmehr nicht mehr zu leugnende Versagen auch des deutschen Staates (besonders seiner Bankenaufsicht) in der Kontrolle der Finanzmärkte keine Zweifel mehr bestehen.
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II. Die problematische Bedeutung dieser »Reform« wird sofort deutlich, wenn man sie mit der bisher größten Verwaltungsreform in Niedersachsen nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Jahr 1977 vergleicht, für die folgende Merkmale kennzeichnend sind: 1. Was den Inhalt der Reform von 1977 betrifft, so enthielt sie ein umfassendes Konzept für eine neue Verwaltungsorganisation, indem sie mit dem Neuzuschnitt der Regierungsbezirke einen solchen der niedersächsischen Landkreise verband. Daneben liefert die Begründung zu diesem Reformgesetz eine ausführliche Rechtfertigung der Bezirksregierungen unter Hinweis auf ihre (notwendige) Ergänzung zum Ressortprinzip der Ministerialinstanz, ihre Koordination der (komplexen) Verwaltungsentscheidungen in der Fläche und ihre Funktion als Aufsichts- und Rechtsmittelbehörde. 2. Auch über die Zielsetzung dieses Reformvorhabens bestand damals eine klare Vorstellung: Man wollte damit besonders den durch die Anforderungen an die Raumordnung wie durch die staatliche Daseinsvorsorge überhaupt neu gestellten Aufgaben und daneben auch den inzwischen eingetretenen wirtschaftlichen und technischen Veränderungen in Niedersachsen gerecht werden. Für das zur Realisierung der angestrebten Reformen führende Entscheidungsverfahren ist einmal seine schrittweise, sich über Jahre erstreckende parlamentarische Beratung bemerkenswert; zum anderen der dieses Verfahren prägende ständige Dialog zwischen Politik und Bürokratie. 3. Zwei grundsätzliche (ungelöste) Probleme der Reform von 1977 wurden von den Fachleuten schon damals gesehen; haben sich dann aber in der Praxis besonders nach der Abschaffung der Bezirksregierungen im Jahr 2005 deutlich gezeigt: Der schon 1977 eingeleitete Übergang von zahlreichen staatlichen Verwaltungsaufgaben von den Bezirksregierungen auf die Landkreise widersprach die weiterhin bestehende »Vollkommunalisierung« der Kreisverfassung in Niedersachsen. Daneben erwies sich die Übertragung der Regionalplanung auf die Landkreise im Blick auf die dieser Planung zugedachte Steuerungsfunktion als eine Fehlentscheidung.
III. Die niedersächsische Verwaltungsreform von 2004 unterscheidet sich von der aus dem Jahr 1977 in wesentlichen Punkten: 1. Mit dieser Reform wurden allein die Bezirksregierungen abgeschafft, ohne die Frage zu stellen, ob nicht wegen der damit eingetretenen Gefährdung der staatlichen Verwaltung ein neuer Gebietszuschnitt der Landkreise und eine
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Reform ihrer Verfassung und weiter auch eine Reform der Ministerialverwaltung (Fragwürdigkeit des Ressortprinzips u. a.) verbunden sein müsste. Diese Frage stellt sich heute aber umso mehr, als die Abschaffung der Bezirksregierungen zu einer (bewusst in Kauf genommenen) Reduzierung der Kommunalsaufsicht in Niedersachsen geführt hat und hier nunmehr ein in mehrfacher Hinsicht inkonsequenter zweistufiger Verwaltungsaufbau besteht. 2. Als wahrer Grund für das Reformgesetz von 2004 lässt sich letztlich nur ein allgemeiner antibürokratischer Affekt der politischen Akteure ausmachen. Dafür spricht einmal, dass die vom Gesetzgeber mit der Abschaffung der Bezirksregierungen verfolgten Stelleneinsparungen eine schon damals ersichtliche irreale Zielsetzung darstellten. Zum anderen, dass das Reformvorhaben ohne eine wirkliche fachliche Beteiligung der Exekutive durchgeführt wurde und jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der mehrfach öffentlich geäußerten fachlichen Kritik an dem Gesetzentwurf bewusst vermieden wurde. 3. Das Reformgesetz von 2004 wirft damit zwei verfassungsrelevante Probleme auf: Zunächst ist zu fragen, ob die jetzige Organisationsstruktur der niedersächsischen Verwaltung noch ihre Bindung an »Gesetz und Recht« (Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. Abs. 2 NV) sicherzustellen vermag. Daneben ist ganz offensichtlich mit dem Wegfall der Bezirksregierungen eine Gefährdung der Kommunalaufsicht verbunden, durch die das Land ja gerade »sicherstellen« soll, dass von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften die Gesetze »beachtet und die Auftragsangelegenheiten weisungsgemäß erfüllt werden« (Art. 57 Abs. 5 NV).
IV. Die sich damit stellende allgemeine verfassungsrechtliche Frage lautet demnach, ob in Niedersachsen eine Präsenz der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche kraft Verfassung geboten ist. Das ist aus zwei Gründen zu bejahen und deshalb eine »Nachbesserung« der Verwaltungsreform von 2004 zu fordern: 1. Die nunmehr in Niedersachsen bestehende Verwaltungsorganisation verstößt gegen den aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (ebenso Art. 2 Abs. 1 S. 2 NV) ableitbaren »Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur«, weil sie – wie bereits bemerkt (s. III 3.) – eine Bindung der Verwaltung an »Gesetz und Recht« und eine Kommunalaufsicht, die den Anforderungen des Art. 57 Abs. 5 NV genügt, nicht sicherstellt. Sie stellt damit im Ergebnis eine verfassungswidrige funktionale Inkompatibilität dar. 2. Dieses Rechtsansicht unterstützt der Art. 56 NV, der zumindest eine indirekte Garantie der allgemeinen staatlichen Verwaltung in der Fläche beinhaltet. 3. Der bestehende inkonsequente und verfassungswidrige zweistufige Ver-
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waltungsaufbau in Niedersachsen verlangt vor allem eine Kreisreform, die die Vertretung des Staates auf der Kreisebene sicherstellt und weiter zu einem neuen Gebietszuschnitt der niedersächsischen Landkreise führt, der sich an den ca. acht (namentlich durch die historischen Landschaften in Niedersachsen geprägten) Regionen des Landes orientiert.
V. Die niedersächsische Verwaltungsreform von 2004 lässt sich als exemplarischer Beleg für die (ständig fortschreitende) Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien verstehen. Diese Entwicklung wiederum erklärt sich aus der (auch in der gegenwärtigen Verwaltungsrechtslehre zu beobachtenden) Unfähigkeit, die bürokratische Organisationsform der Verwaltung als eine für die demokratische Legitimation des Staates und sein rechtstaatliches Handeln konstitutive Voraussetzung zu begreifen.
5.
Die gefährdete regionale Identität Ostfrieslands nach Auflösung des Regierungsbezirks Aurich vor dreißig Jahren1
I. Mit dem Achten Gesetz zur Verwaltungs- und Gebietsreform von 19772 setzte das nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründete Land Niedersachsen eine der bedeutendsten Reformen seiner Verwaltungsstruktur in die Tat um. Nach Art. II dieses Gesetzes wurde mit Wirkung vom 1. Februar 1978 – also heute vor gut 30 Jahren – u. a. die »Behörde des Regierungspräsidenten in Aurich«, wie es dort heißt, aufgelöst. Dieser Reformmaßnahme, die den Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen bildet, waren heftige ostfriesische Proteste, die mit dem Bekanntwerden entsprechender Absichten der niedersächsischen Landesregierung einsetzten, vorausgegangen. Und das wiederum war ganz eindeutig seit 1969 der Fall, als das in seinen sorgfältigen Darlegungen bis heute unübertroffene sog. Weber-Gutachten zur Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen veröffentlicht wurde3. Denn dieses Gutachten enthielt bereits den genauer begründeten Vorschlag zur Auflösung von vier Regierungsbezirken in Niedersachsen, zu denen eben auch Aurich gehörte. Als dieser Vorschlag dann aber 1978 Wirklichkeit wurde, fügte man sich in Ostfriesland wie in den anderen betroffenen Regionen Niedersachsens fast klaglos in sein Schicksal. Und auch in der Folgezeit hat es kaum bemerkenswerte Initiativen gegeben, um die mit der Auflösung des Regierungsbezirks Aurich verloren gegangene letzte politische 1 Den nachfolgenden Text habe ich in gekürzter Form am 9. Mai 2008 auf der Festversammlung zum Oll’Mai 2008 im Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft in Aurich unter dem Titel: »Chancen und Gefahren für die politische Entwicklung Ostfrieslands nach Auflösung der Bezirksregierung Aurich vor dreißig Jahren« vorgetragen. Die dem Text beigefügten Anmerkungen beschränken sich auf die Quellenbelege für die im Text angesprochenen Rechtsvorschriften, Gutachten und die dort wörtlich wiedergegebenen Zitate. 2 Nieders. Gesetz- und Verordnungsblatt 1977, S. 233 3 Der genaue Titel des Gutachtens lautet: Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen. Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen, Bd. 1 und 2. Dieser Kommission saß seinerzeit Werner Weber, Professor des Öffentlichen Rechts an der Universität Göttingen, vor.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Einheit Ostfrieslands in irgendeiner anderen verwaltungsrechtlichen Organisationsform zum Ausdruck zu bringen. Man könnte also die Akten über diesen Vorgang schließen und zumindest heute – gut dreißig Jahre nach diesem Ereignis – zur politischen Tagesordnung übergehen. Dabei würde nun allerdings übersehen, dass besonders die ostfriesischen Landeshistoriker dieses Geschehen nicht so folgenlos verstehen konnten. So stellt etwa Heinrich Schmidt in seiner »Politischen Geschichte Ostfrieslands« bereits 1975 fest, Ostfriesland »behauptete seine historische Individualität als ein territorialpolitisches Gebilde – zuletzt in der reduzierten Form des Verwaltungsbezirks in größeren Staatszusammenhängen. So wäre denn mit der Aufhebung des Verwaltungsbezirks … die territoriale Geschichte des Landes am Ende«. Es bleibt für Schmidt nur die Hoffnung, dass »die lebendige, sich in Zusammengehörigkeitsempfindungen umsetzende Erinnerung an Ostfriesland als einen ›historischen Raum‹ … die niedersächsische Gebietsreform auf absehbare Zeit überdauern« wird. Um das zu gewährleisten, sieht er bereits damals die zukünftige, namentlich der Ostfriesischen Landschaft gestellten Aufgabe darin, »Ostfriesland als aktuellen regionalen Lebenszusammenhang nach dem Wegfall der Verwaltungsgrenzen und der territorialpolitischen Existenz neu zu definieren«4. Schmidt setzt also nach dem durch die Auflösung des Regierungsbezirks Aurich eingetretenen Ende der ostfriesischen Geschichte für die Zukunft Ostfrieslands auf die Möglichkeit, seinen – um es noch einmal zu wiederholen – »aktuellen regionalen Lebenszusammenhang« neu zu definieren. Ganz ähnlich beurteilt Walter Deters die Situation in seiner 1985 zum ersten Mal erschienenen »Kleinen Geschichte Ostfrieslands«. Er stellt dort nämlich fest, dass die ostfriesische Geschichte mit der Auflösung des Regierungsbezirks Aurich als »Ereignis« zu Ende gegangen sei und danach nur noch in der Form der Erzählung weiterlebe5. Deters verwendet hier – ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen – eine bekannte geschichtstheoretische Unterscheidung, die besagt, dass Ereignisse im Gegensatz zu (unstrukturierten) Erzählungen »schon von den Zeitgenossen als zusammenhängend, als Sinneinheit« erfahren werden6. Und genau das, so behauptet er nun, ist für die ostfriesische Geschichte nicht mehr möglich. Die Chance, sie als »Sinneinheit« zu erfahren, ist mit der Auflösung des Regierungsbezirks Aurich als letzter politischer Klammer der ostfriesischen Region verloren gegangen. Deters meinte aber 1985 noch ganz ähnlich wie Schmidt, dass Ostfriesland
4 Alle Zitate: Schmidt, a. a. O., S. 507. 5 Deters, a. a. O., S. 101. 6 So Reinhard Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, 2003, S. 327 (Hervorhebung A. J.); ganz ähnlich ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl. 1984, S. 144.
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zumindest »als landschaftlicher Begriff« weiterleben würde7. Das ist nach meinem Eindruck aber aus heutiger Sicht auch nicht mehr der Fall, und damit bin ich bei der Ausgangsthese für die folgenden Überlegungen angelangt. Sie lautet: Ostfriesland hat vor allem aufgrund der vom Land Niedersachsen in den vergangenen dreißig Jahren betriebenen Verwaltungsreformen nicht nur, wie Schmidt und Deters meinten, seine historische Identität verloren, sondern ebenfalls auch seine landschaftliche, worunter ich vor allem die Erfahrung einer Landschaft als vertrautem Lebensraum – als Heimat – verstehe. Da regionale Identität eine zeitliche (historische) und eine räumliche (landschaftliche) Komponente beinhaltet, kann man auch sagen: Ostfriesland hat heute durch die genannten Verwaltungsreformen (weitgehend) seine regionale Identität verloren. Das möchte ich im Folgenden vor allem im Blick auf den Verlust seiner räumlichen Identität genauer darlegen und Wege zur Überwindung dieser Situation aufzeigen. Dabei werde ich exemplarisch besonders die Entwicklung der Regionalplanung in Niedersachsen heranziehen. Denn besonders ihr Niedergang hat nach meinem Eindruck auch der politischen Bedeutung Ostfrieslands großen Schaden zugefügt.
II. Will man den insoweit eingetretenen Wandel richtig begreifen, der sich durch die niedersächsischen Verwaltungsreformen in den vergangen dreißig Jahren auch in Ostfriesland vollzogen hat, so ist zunächst ein kurzer Blick auf die ostfriesische Verwaltungswirklichkeit vor Auflösung des Regierungsbezirks Aurich im Februar 1978 sehr hilfreich. Ich will dafür nur auf zwei für unsere Themenstellung relevante Umstände hinweisen. Der erste betrifft den damaligen Stand der hier ja wegen ihrer Bedeutung für die Entwicklung Ostfrieslands besonders zu behandelnden Regionalplanung im Regierungsbezirk Aurich. Regionalpläne sollen ja nach gängiger Auffassung die »vorausschauende, überörtliche und überfachliche Planung für die raum- und siedlungsstrukturelle Entwicklung ihres Planungsraumes auf mittlere und längere Sicht« enthalten8. Vor 1978 stellten nun die Regierungspräsidenten und nicht wie danach die Landkreise und kreisfreien Städte derartige für ihren Bezirk verbindliche Pläne auf. Der Gesetzgeber verpflichtete sie dabei lediglich, die öffentlichen Körperschaften sowie die Verbände und Vereinigungen, die von einer solchen Planung berührt wurden, an deren Erarbeitung zu »beteiligen« 7 Wie Anm. 5 (Hervorhebung A.J.). 8 So die Definition, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Raumordnung, 2005, S. 965 (Stichwort: Regionalplanung).
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und mit den betroffenen Landkreisen sowie den Städten und Gemeinden ihres Bezirks die einschlägigen Bedenken zu »erörtern«9. Es sind diese gesetzlich vorgegebenen (staatlichen) Strukturen der damaligen Regionalplanung, die auch für das letzte, 1976 vom Regierungspräsidenten in Aurich festgestellte und bekannt gemachte Regionale Raumordnungsprogramm für den Regierungsbezirk Aurich bestimmend waren10. Deshalb vermittelt noch heute die Lektüre des genannten Planes den Eindruck, dass er klare Vorgaben für die Raumordnung in ganz Ostfriesland enthält und darum diese auch steuernd zu beeinflussen vermochte. Die eminent politische Bedeutung dieses Planes liegt dabei besonders in seinen verbindlichen Aussagen zur Siedlungsstruktur, Infrastruktur und der anzustrebenden Freiraumstruktur im alten Regierungsbezirk Aurich. Er stellte insofern in der Tat ein wesentliches Steuerungsinstrument für die Entwicklung Ostfrieslands dar. Die zweite Beobachtung zur damaligen Verwaltungswirklichkeit im Regierungsbezirk Aurich ist weniger erfreulich. Denn bemerkbar machte sich seinerzeit schon der durch politische Intervention bedingte Verlust an tatsächlicher selbständiger Entscheidungskompetenz des Regierungspräsidenten. Hierfür nur einige Beispiele aus meiner Tätigkeit dort in den Jahren 1973/74: Es konnte schon mal passieren, dass ursprünglich dem Regierungspräsidenten zugesagte finanzielle Mittel für den sozialen Wohnungsbau später dann an ihm vorbei und unter Nichtbeachtung seiner genauen Kenntnis über die tatsächliche Wohnungssituation im Regierungsbezirk »auf dem kurzen Dienstweg«, wie es so schön hieß, vom Niedersächsischen Sozialminister direkt der Neuen Heimat für den Bau einer großen Wohnanlage in einer ostfriesischen Stadt bewilligt und zugeteilt wurden. War das eine durchaus gängige Erfahrung für einen damals in der staatlichen Mittelinstanz tätigen Beamten, so erschien es mir und anderen Bediensteten dann schon problematischer, wenn zunächst auf Weisung des Regierungspräsidenten erlassene Abrissverfügungen für ein baurechtswidrig errichtetes Ferienhausgebiet im Regierungsbezirk erfolgreich in einem Musterprozess vor dem Verwaltungsgericht verteidigt wurden; es dann aber zum Vollzug dieser Verfügungen deshalb nicht kommen durfte, weil zwischenzeitlich Landtagsabgeordnete aus der Region beim Regierungspräsidenten vorstellig geworden waren. Der Regierungspräsident ließ damals also ganz offensichtlich aus falscher, aber wohl nicht zu vermeidender politischer Rücksichtnahme seine Beamten in dieser Sache »im Regen stehen«. 9 § 8 Abs. 3 des Nieders. Gesetzes über Raumordnung und Landesplanung (NROG) in der Fassung vom 24. Januar 1974 (Nieders. Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 50). 10 Vgl. Amtsblatt für den Regierungsbezirk Aurich Nr. 25 vom 2. Dezember 1976, S. 167. Ebenfalls veröffentlicht in: Der Nieders. Minister des Innern (Hrsg.), Schriften der Landesplanung Niedersachsen. Regionales Raumordnungsprogramm für den Regierungsbezirk Aurich 1976.
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Was daneben das Ansehen der Behörde des Regierungspräsidenten bei den ostfriesischen Landtagsabgeordneten und den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften des Bezirks allgemein betrifft, so war damals bereits der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass sie primär als lästiger, bürokratischer Störenfried bei dem Versuch der Politik (und vor allem der Kommunalpolitik) angesehen wurde, ihre Wünsche unmittelbar in die Tat umzusetzen. Im Grunde waren es auch diese sich im Laufe der Zeit steigernde Grundstimmung und weniger sachliche Gründe, die m. E. letztlich zur Auflösung aller Bezirksregierungen in Niedersachsen mit Wirkung vom 1. Januar 2005 führten. Dafür war nun die Verwaltungsreform von 1977, der ich mich jetzt zuwende, aus heutiger Sicht gesehen ein erster Schritt.
III. Aus ostfriesischer Sicht erstaunlich ist an dieser zuletzt genannten Reform, dass der Reformgesetzgeber ganz augenscheinlich gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass er mit Auflösung der Behörde des Regierungspräsidenten in Aurich den bis dahin bestehenden Zusammenhang zwischen der staatlichen Mittelinstanz und der historischen wie landschaftlichen Einheit des verwalteten Raumes zerschnitt. Das mangelnde Bewusstsein über die historischen Zusammenhänge ergibt sich deutlich aus der amtlichen Begründung für die Auflösung der Regierungsbezirke Aurich, Hildesheim, Osnabrück und Stade, wie sie sich in der berühmten Drucksache 1.000 aus der 8. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages findet. Dort heißt es, dass die räumlichen Zuschnitte der genannten Regierungsbezirke lediglich als »Zufälligkeit lange zurückliegender historischer Vorgänge« zu betrachten seien und schon deshalb ihre Auflösung kein wirkliches Problem darstelle11. Es wurde also vom Reformgesetzgeber im Gegensatz zu den hier anfangs zitierten ostfriesischen Landeshistorikern der Tatbestand schlichtweg geleugnet, dass mit der Auflösung des Regierungsbezirks Aurich eine in weit zurückreichenden historischen Kontinuitäten wurzelnde Verwaltungseinheit beseitigt wurde. Und Entsprechendes gilt für die damals aufgelösten Regierungsbezirke Hildesheim, Osnabrück und Stade. Denn auch dort bestanden und bestehen noch Landschaften als Regionalverbände, die in ihrer Struktur der Ostfriesischen Landschaft in Aurich ähneln. Und noch heute kann man auch geschlossene Darstellungen zur Regionalgeschichte des Bistums Hildesheim, des Hochstifts Osnabrück und des Landes zwischen Weser und Elbe (d. h. dem Bereich der Stader Landschaft) lesen. Bedenkt man dann noch, dass es 11 Nieders. Landtag Drs. 8/1000, S. 188 (Hervorhebung A.J.).
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in Artikel 29 Absatz 1 des Grundgesetzes und indirekt auch in den sog. Traditionsklauseln der Niedersächsischen Verfassung (Artikel 72) sogar verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte für die Forderung gibt, dass jede staatliche (Verwaltungs-)einheit in der Fläche regionale Identitäten zu beachten hat, so erscheint die zitierte Sichtweise der Drucksache 1.000 noch unverständlicher. Mit der Auflösung des Regierungsbezirks Aurich wie der Bezirke Hildesheim, Osnabrück und Stade wurden daneben im Ansatz auch die dort bis dahin bestehenden Zusammenhänge zwischen der staatlichen Mittelinstanz und der landschaftlichen Einheit des verwalteten Raumes zerschnitten. Das zeigt am deutlichsten die Tatsache, dass nunmehr nach dem Willen des Reformgesetzgebers die Regionalplanung von den ehemaligen Regierungsbezirken auf die Landkreise und kreisfreien Städte in diesen Bezirken überging und sie damit ihren Charakter als Planung für die Region verlor. Denn dieser Planung fehlte damit ihr materielles Substrat: Wie die »örtliche Gemeinschaft« aufgrund einschlägiger verfassungsrechtlicher Aussagen Grundlage für die kommunale Flächennutzungsplanung ist, so ist es die Region im hier dargelegten Sinne für die Regionalplanung. Man spricht ja zu Recht auch von einer verfassungsrechtlich verbürgten Planungshoheit der Städte und Gemeinden, aber nicht von einer solchen der Landkreise. Die Frage, die sich damit für Ostfriesland (wie für alle Regionen in Niedersachsen) stellte, lautete damals also: Wie kann jetzt nach dem Wegfall der durch die Behörde des Regierungspräsidenten in Aurich verkörperten räumlich-politischen Einheit Ostfrieslands diese in anderen Formen noch weiterhin gewahrt und vor allem noch eine das ganze Ostfriesland in den Blick nehmende Regionalplanung erhalten werden? Es war der damalige Landtagsabgeordnete und Bürgermeister der Stadt Leer Horst Milde, der bereits mit einem 1969 in der Zeitschrift »Ostfriesland« veröffentlichten Entwurf für ein »Gesetz über den Kommunalverband Ostfriesland (Ostfrieslandsgesetz)« genau auf diese Frage eine Antwort zu geben versuchte12. Der geplante Kommunalverband sollte nach Mildes Vorstellungen zumindest das Gebiet der Stadt Emden, der damaligen Landkreise Aurich, Leer, Norden und mehrere Gemeinden des alten Landkreises Jever umfassen. Als Verbandsmitglieder waren die im so definierten Verbandsbereich liegenden Gemeinden sowie die damaligen Landkreise Aurich, Leer, Norden und Jever vorgesehen. Im § 6 des Entwurfs werden die Aufgaben des Verbandes wie folgt beschrieben: »(1) Der Verband hat zur sinnvollen Gestaltung des ostfriesischen Raumes durch einheitliche Planung die Entwicklung der Verbandsglieder zu fördern. Er soll sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen und entlasten und auf eine Abstimmung aller Interessen hinwirken.
12 Siehe Zeitschr. »Ostfriesland« 1969/3, S. 13 ff.
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(2) Der Verband hat in eigener Verantwortung Grundsätze für die Nutzung des Bodens und der Küstenstreifen festzulegen. Dabei sind die Erfordernisse der Siedlung, der gewerblichen Wirtschaft und des Verkehrs, der Land- und Forstwirtschaft, der Wasserwirtschaft, der Energie- und Wasserversorgung, des Fremdenverkehrs, der Landschafts- und Heimatpflege, des Küstenschutzes und des Deichbaues und des Schutzes der Natur zu beachten. (3) Der Verband kann die Erhaltung größerer, von der Bebauung freizuhaltender Flächen, vor allem Grünflächen, Wasserflächen und Parks sowie die Vorhaltung von Baugelände und Bauaustauschgelände für die Verbandsglieder sichern und andere entwicklungsbestimmende Maßnahmen durchführen, soweit es für die Verbandsaufgaben förderlich ist und die Verbandsglieder dazu nicht in der Lage sind.«
Zu den Anforderungen an den gesetzlich vorgesehenen Verbandsplan heißt es im § 7 Absatz 1 des Entwurfs: »Der Verband hat als Grundlage für die Erfüllung seiner Aufgaben einen Verbandsplan aufzustellen. Dieser muss sich in die übergeordnete Planung einfügen. Die Ziele der Raumordnung und Landesplanung … sollen aus dem Verbandsplan ersichtlich sein. Er ist im Benehmen mit den sonstigen Behörden der Landesplanung aufzustellen und hat die bestehenden Baupläne und übergemeindlichen Planungen zu berücksichtigen, soweit sie den Zielen des Verbandsplanes nicht entgegenstehen.«
Und zum Verbindlichkeitscharakter dieses Planes wird im § 8 des Entwurfs dann gesagt: »(1) Die Verbandsglieder sowie Zusammenschlüsse, an denen Verbandsglieder beteiligt sind, haben Flächennutzungspläne und übergemeindliche Planungen im Benehmen mit dem Verband aufzustellen. Das gleiche gilt für Bebauungspläne, wenn kein Flächennutzungsplan erforderlich ist. (2) Die Verbandsglieder sowie Zusammenschlüsse, an denen Verbandsglieder beteiligt sind, haben auf Verlangen des Verbandes bestehende Pläne dem Verbandsplan anzupassen.«
In der Vorbemerkung zu diesem Entwurf schließlich wird ausdrücklich erwähnt, dass das »Vorbild« für diesen Gesetzentwurf der damals »seit sechs Jahren bestehende Großraumverband Hannover, aber auch die Vorstellung, solche Verbände in den Räumen Osnabrück und Braunschweig zu bilden«, gewesen sei. Interessant ist auch noch der Hinweis in der Vorbemerkung, dass mit der Begründung eines »Mitwirkungsrechts« der Ostfriesischen Landschaft im »Kommunalverband« ein »erster behutsamer Schritt in eine neue Aufgabenstellung der Ostfriesischen Landschaft getan« werde. Ich habe aus diesem Entwurf hier deshalb so ausführlich zitiert, weil ich darin immer noch ein für die Lösung heutiger Entwicklungsprobleme in Ostfriesland zukunftsträchtiges Modell sehe. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Ähnlich sah es damals übrigens weitgehend die ostfriesische Presse. Ich zitiere
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insoweit nur aus einer dort veröffentlichten Stellungnahme zu dem Milde-Entwurf, die Georg Christoph von Unruh, ehemaliger Kreisyndikus in Leer und damals bereits Professor des Öffentlichen Rechts an der Universität Kiel, abgegeben hat13, weil sie mir besonders einleuchtet. Darin äußerte sich von Unruh u. a. wie folgt: »Der von Bürgermeister Milde vorgelegte Entwurf eines Ostfrieslandgesetzes stellt nicht nur eine für Zeit und absehbare Zukunft praktikable Lösung dar, die Belange eines wirtschaftlich nicht sehr starken Teilbereiches gegenüber den Belangen Niedersachsens nachdrücklich zur Geltung zu bringen und zugleich wichtige Vorkehrungen für eine Strukturförderung Ostfrieslands zu schaffen, sondern dürfte auch auf lange Zeit gesehen eine letzte Möglichkeit erschließen, die in der jüngsten Vergangenheit wiederholt beschworene Einheit Ostfrieslands nun auch zu verwirklichen. Man wird in Diskussionen über manche Einzelfrage streiten können, sollte jedoch dabei nie vergessen, dass eine allgemeine Übereinstimmung bei einer solchen Regelung in allen Einzelfragen niemals zu erzielen ist, und dass deshalb alle Kräfte auf das gemeinsame Ziel gerichtet werden müssen, dass überhaupt etwas geschaffen wird, was zur Behauptung Ostfrieslands geeignet ist, bevor es für solche Bemühungen zu spät ist.«
Besonders im Blick auf diese letzte Stellungnahme zum Milde-Entwurf irritiert es einen dann besonders, dass dieser Vorschlag im Grunde am kleinkarierten regionalen Parteiengezänk darüber damals politisch gescheitert ist – ein Ergebnis, dass man ja gerade nicht selten in der ostfriesischen Geschichte an ihren entscheidenden Wendepunkten beobachten kann.
IV. Entscheidend für die Entwicklung der regionalen Identität Ostfrieslands in der Folgezeit war nun der von der niedersächsischen Landesregierung mit Unterstützung des Niedersächsischen Landtags bewusst betriebene Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche. Das ist – wie soeben dargelegt – in Ansätzen bereits mit der Verwaltungsreform 1977, endgültig aber mit der von 2004 geschehen, deren Kern ja die Auflösung aller Bezirksregierungen in Niedersachsen ausmachte14. In der Begründung zum Gesetzentwurf für die Verwaltungsreform von 1977, der schon genannten Drucksache 1000, war noch die grundsätzliche Unverzichtbarkeit der Bezirksregierungen in Niedersachsen mit folgenden Argumenten gerechtfertigt worden: 13 Erschienen in: Ostfriesen Zeitung vom 8. 7. 1969. Abgedruckt auch in: Zeitschrift »Ostfriesland« 1969/3, S. 42 f. 14 Vgl. Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen vom 5. November 2004, Nieders. Gesetz- und Verordnungsblatt 2004, S. 394.
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»Die Behörden der Mittelinstanz sind die einzigen staatlichen Behörden mit gebündelter, nahezu alle wesentlichen staatlichen Aufgaben umfassender Zuständigkeit. Sie haben deshalb seit jeher den besonderen Auftrag, die Erfüllung der vielfältigen Verwaltungsaufgaben in ihrem Zuständigkeitsbereich zu koordinieren. Sie bilden damit ein wirksames Gegengewicht sowohl gegenüber der Vielgliedrigkeit und der Individualität der Gebietskörperschaften und sonstigen Verwaltungsträger unterhalb der Bezirksebene als auch die notwendige Ergänzung zum verfassungsrechtlich verankerten Ressortprinzip in der Ministerialinstanz. …Eine moderne Verwaltung, für die überörtliche Planungs- und Leistungsaufgaben immer bedeutsamer werden, muss auf größere Zusammenhänge ausgerichtet sein. Eine Koordination der Verwaltungsentscheidungen des Landes erst auf der Kreisebene würde außerdem wesentliche Eingriffe in die Kreisverfassung erfordern, um die verfassungsmäßigen Rechte des Landtages sowie die Verantwortung der Landesregierung für die Verwirklichung der landespolitischen Entscheidungen und die Durchführung der Gesetze zu erhalten. Auch als Aufsichts- und Rechtsmittelbehörden sind die Behörden der staatlichen Mittelinstanz nicht zu ersetzen. Eine Verlagerung dieser Aufgaben auf die Ministerien würde diese von ihren leitenden Funktionen ablenken und mit wesensfremden Tätigkeiten belasten. Sie würde zudem bei den Ministerien in erheblichem Umfang zusätzliche Personal- und Sach-, insbesondere Reisekosten verursachen. Außerdem wären durch zu große Ortsferne eine wirksame Ausübung der Aufsicht und auch der Kontakt zwischen den Bürgern und der Aufsichts- bzw. Rechtsmittelbehörde erschwert. Umgekehrt scheidet eine Verlagerung der Aufsichtsaufgaben – das sind insbesondere die Aufsicht über die Kreise, kreisfreien und selbständigen Städte und Großraumverbände sowie über die staatlichen Behörden der Ortsstufe – auf die Kreisebene von vorn herein aus sachlogischen Gründen aus«15.
Alle diese nach wie vor überzeugenden und in den übrigen Flächenländern Deutschlands auch durchweg immer noch geltenden Argumente für die Bezirksregierungen nämlich: notwenige Ergänzung zum Ressortprinzip der Ministerialinstanz, notwendige Koordination der Verwaltungsentscheidungen des Landes in der Fläche oberhalb der Kreisebene und: die Bezirksregierungen als notwendige Aufsichts- und Rechtsmittelbehörden u. a. galten nun plötzlich 2004 in Niedersachsen nicht mehr. Und zwar – das ist das Entscheidende -, obwohl der einschlägige niedersächsische Gesetzentwurf16 keine wirkliche Begründung dafür liefert, warum man auf alle diese, zum Teil sogar verfassungsrechtlich geforderten Funktionen der Bezirksregierungen plötzlich meinte verzichten zu können. Diese nun wirklich erstaunliche Vorgehensweise von Landesregierung und Landtag ist in der einschlägigen Fachliteratur – u. a. durch das Sondergutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen im vergangenen Jahr17 – einer zum 15 So Drs. 8/1000 des Niedersächs. Landtages, S. 185 f. 16 Nieders. Landtag Drs. 15/1121. 17 Genauer Titel des genannten Gutachtens: Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU),
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Teil vernichtenden Kritik unterzogen worden. Darauf ist hier nicht einzugehen. Nur eine Folgerung ist heute, nachdem immer deutlicher wird, dass auch die Spareffekte der Verwaltungsreform 2004 wohl kaum im vorausgesagten Umfang eintreten werden, nicht mehr zu umgehen: Es waren primär nicht sachliche, sondern politische Gründe – der von mir bereits in den Jahren 1973/74 beobachtete antibürokratische Affekt in gesteigerter Form sozusagen -, die letztlich für die Auflösung der Bezirksregierungen in Niedersachsen maßgeblich waren. Diese Folgerung ist für unseren Gedankengang deshalb relevant, weil eben entsprechende »politische Gründe« nun auch dafür sprachen, dass das Land seine Verantwortung für die Entwicklung in der Fläche fast vollständig auf die Landkreise, Städte und Gemeinden delegierte. Und das wiederum geschah, ohne zugleich (wie es noch die Reform von 1977 für diesen Fall gefordert hatte) »wesentliche Eingriffe in die Kreisverfassung« (und die der kreisfreien Städte) vorzunehmen18. Exemplarisch für dieses Vorgehen des Landes ist die jüngste Entwicklung der hier ja besonders interessierenden Regionalplanung in Niedersachsen: Allgemein lässt diese Entwicklung sich dahingehend charakterisieren, dass die niedersächsische Regionalplanung nach dem Verlust ihres Substrats – der Region – durch die Verwaltungsreform 1977 in der Folgezeit zusätzlich ihren staatlichen Charakter endgültig verloren hat. Ich kann hier leider nicht auf die vielen rechtlichen und praktischen Bedenken eingehen, die insoweit auch schon gegen die Übertragung der Regionalplanung auf die Landkreise und kreisfreien Städte Niedersachsens nach der Verwaltungsreform von 1977 ins Feld geführt wurden. Sie gelten – soviel lässt sich zumindest heute sagen – in verstärktem Maße für ihre weitere Entwicklung nach der Verwaltungsreform von 2004. Denn durch diese Reform wurde in Niedersachsen die staatliche Verantwortung für die Raumordnung in der Fläche fast vollständig zurückgenommen. Heute hat nämlich die sogenannte Regierungsvertretung am Ort der ehemaligen Bezirksregierung Weser-Ems in Oldenburg die Regionalprogramme der ostfriesischen Landkreise (und den Flächennutzungsplan der Stadt Emden) nur noch auf ihre Rechtmäßigkeit hin und nicht wie früher zusätzlich auf ihre Vereinbarkeit mit den Zielen der Raumordnung zu überprüfen. Es passt zu dieser Haltung, wenn das Land vor kurzem die verbindlichen Vorgaben im neuen LandesUmweltverwaltungen unter Reformdruck. Herausforderungen, Strategien, Perspektiven. Sondergutachten Februar 2007, bes. S. 97 ff., 195 ff. und ergänzend dazu: Hermann Reffken, Die Reform der Umweltverwaltung in den Flächenländern und der niedersächsische Sonderweg – Modellansatz oder Muster ohne Wert?, in: Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland (Nord ÖR) 2007, S. 1 ff. 18 Vgl. Drs. 8/1000, S. 186 des Nieders. Landtages. Diese »wesentlichen Eingriffe« konnten natürlich nur, wie das zeitlich vorangegangene Weber-Gutachten (s. hier den Nachweis in Anm. 3) eindrucksvoll auf S. 195 ff. des ersten Bandes belegt, eine »Verstaatlichung« der Kreisverfassung beinhalten.
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raumordnungsprogramm – und namentlich die zur Siedlungsstruktur – reduziert hat. Zu klären bleibt damit aufgrund der geschilderten Entwicklung im nächsten gedanklichen Schritt, was der in diesen Regelungen sich manifestierende Rückzug des Landes aus der Fläche nun konkret für Ostfriesland bedeutet. Oder noch genauer gefragt: Wie wirkt sich das Fehlen einer im Grundsatz staatlichen, das ganze Ostfriesland in den Blick nehmenden Regionalplanung auf seine Siedlungsstruktur heute aus? Das ist jetzt genauer zu untersuchen.
V. Nehmen wir als Beispiel nur den ostfriesischen Küstenstreifen, der nach den Aussagen des letzten Regionalprogramms für den Regierungsbezirk Aurich von 1976 in zwanzig Kilometern Breite mit den Inseln und dem Wattenmeer »zum Naturpark ›Ostfriesische Inseln‹ zu entwickeln und zu schützen« war, da er, wie es damals hieß, »ein zusammenhängendes Gebiet mit ausgeprägten Erholungsund Fremdenverkehrsfunktionen« sei19. Heute kann man genau in diesem Gebiet in einer Dichte wie sonst kaum in Deutschland Windkraftanlagen fast willkürlich einmal als Einzelanlage, das andere Mal in Gruppen über die Fläche verteilt feststellen. In großer Zahl findet man inzwischen daneben in diesem Gebiet Tiermastställe. Das ist aber bekanntlich noch nicht alles. Denn zu den Veränderungen der ostfriesischen Landschaft gehört natürlich auch die stolze Zeitungsmeldung von Januar 2008, dass der »größte Solarpark« Niedersachsens nunmehr mit einer Fläche von 8 ha in Ostfriesland »ans Netz« gegangen sei20. Und wenige Monate später konnte man in der Zeitung lesen, dass »zwischen Ems und Jade … mit Rückendeckung der Landesregierung mehrere neue Kohlekraftwerke in Planung« seien21. Nehmen Sie dann noch die zahlreichen Biogasanlagen hinzu und die (allerdings von der Regionalplanung nicht beeinflussbaren) Genehmigungen für die Offshore-Windparks, deren Zuleitungskabel übrigens ja durch das Bioreservat Wattenmeer führen werden, dann bleibt nicht mehr viel übrig von den anfangs zitierten Absichten der Regionalplanung von 1976. Von einem »Naturpark« Ostfriesische Inseln und Küste als einem »zusammenhängenden Gebiet mit ausgeprägten Erholungs- und Fremdenverkehrsfunktionen« kann man insofern für diese Region heute kaum noch sprechen. 19 Regionales Raumordnungsprogramm für den Regierungsbezirk Aurich (Anm. 10), S. 189, 174. 20 Meldung der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 5. Januar 2008. 21 Meldung der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 9. April 2008.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Wie hätte denn nun aber diese Entwicklung der Siedlungsstruktur in Ostfriesland anders gesteuert werden können? Zunächst ist insoweit auf die entscheidende Rolle hinzuweisen, welche eine vorausschauende sorgfältige Regionalplanung für die Konkretisierung der öffentlichen Belange spielt, die sich solchen Vorhaben wie den hier geschilderten entgegenhalten lassen und deshalb ihre planungsrechtliche Genehmigung vielfach fraglich, wenn nicht unmöglich machen. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich plädiere nicht für eine – rechtlich auch gar nicht mögliche – Regionalplanung als Verhinderungsplanung, sondern für eine solche, die die gesamtostfriesische Entwicklung vorausschauend in den Blick nimmt und aus dieser Perspektive entscheidet, ob noch weitere (und – wenn ja – wo) Windkraftanlagen, Masttierställe etc. in der (Küsten-) region gebaut werden sollen. Wenn nun aber, wie gezeigt, das Land die Voraussetzungen für eine solche Planung inzwischen beseitigt hat, dann wäre es ihm zumindest ja immer noch unbenommen geblieben, sich über den Bundesrat für die Aufhebung der Privilegierung von Windkraftanlagen und Tiermastställen im Außenbereich durch das Baugesetzbuch einzusetzen. Das wird übrigens auch in der einschlägigen Literatur zunehmend gefordert. Aber das Land hat auf die geschilderte Entwicklung in Ostfriesland (und der entsprechenden in anderen Regionen Niedersachsens) von sich aus letztlich nicht wirklich reagiert. Wie sehr durch ein solches Verhalten des Landes nun aber die Kommunen – und namentlich die kleinen – mit ihren Problemen im Ergebnis alleingelassen werden, mag eine Pressemeldung bereits aus dem Jahr 2004 belegen, wo es heißt: »Der niedersächsische Städte- und Gemeindebund beklagt, dass die Gemeinden landesweit dem Druck der Windkraftbetreiber ausgesetzt sind, die ihre Standortwünsche entgegen den planerischen Vorhaben durchsetzen wollen. So würden die Gemeinden mit Schadenersatzansprüchen in Milliardenhöhe bedroht; potenzielle Standorte für Windkraftanlagen würden so ›freigeschossen‹ – gegen die Planungen der gewählten Räte, deren Vorstellungen diese Vorhaben nicht entsprechen. Wie es im ›Ratsbrief‹ des kommunalen Spitzenverbandes weiter heißt, soll so ein den Windkraftbetreibern genehmer planungsfreier Raum freigeklagt werden. Die vom Gesetzgeber eingeräumte Entscheidungszuständigkeit der Räte über zulässige Standorte für Windräder soll auf diesem Weg zu Fall gebracht werden, wird befürchtet. Es wird nicht ausgeschlossen, dass es ein landesweit abgestimmtes Vorgehen der Windlobby gibt, heißt es«22.
Das bisher Gesagte zusammenfassend gilt damit für das Fehlen einer wirklichen Regionalplanung in Ostfriesland und anderswo entsprechend, was vor kurzem zu dem Fehlen von Gestaltungssatzungen für das Baugeschehen in größeren Städten Deutschlands festgestellt wurde. Dazu ist nämlich bemerkt worden: 22 Meldung aus dem »Rundblick« vom 10. 2. 2004.
5. Gefährdete regionale Identität Ostfrieslands
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»Zufriedenstellendes entsteht fast nur noch, wo Gestaltungssatzungen existieren. So, wie Europas Altstädte oder die Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts ihre Schönheit festen Regeln verdanken, danken es die Stadtkerne von Lübeck oder Münster, Freudenstadt oder Aachen solchen Reglements, dass sie ihre kriegszerstörte einstige Schönheit wenigstens teilweise wiedererlangten…Nicht Gestaltungssatzungen sind die wahren Zwänge unseres Städtebaus, sondern das Recht der Stärkeren, der Pragmatiker und Kalkulierer, das unter dem Deckmantel der Freiheit regiert.«23
Auf die geschilderte Problematik bezogen lautet darum die Frage für die folgenden Überlegungen: Wie kann man verhindern, dass in Ostfriesland unter dem Vorwand, die kommunale Selbstverwaltung schützen zu wollen, im Sinne des Zitats »das Recht der Stärkeren, der Pragmatiker und Kalkulierer regiert«?
VI. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass man die Hoffnung, das Land Niedersachsen würde den geschilderten Entwicklungen in Ostfriesland von sich aus entgegentreten, begraben sollte. Die Loslösung der staatlichen Verwaltung von ihren regionalen Wurzeln durch die Verwaltungsreform von 1977 und der grundsätzliche Abschied von der staatlichen Verwaltung in der Fläche durch die Verwaltungsreform 2004 haben das hinreichend deutlich gemacht. Und wer diese Feststellung selbst jetzt noch bezweifeln zu können meint, sollte die einschlägigen Passagen in dem vor kurzem zwischen der CDU-Fraktion und FDPFraktion im Niedersächsischen Landtag abgeschlossenen Koalitionsvertrag für die vierzehnte Wahlperiode lesen. Dort heißt es nämlich: »Die Koalitionspartner lehnen eine von oben diktierte Gebietsreform strikt ab. Wir fördern verstärkt die interkommunale Zusammenarbeit. Wenn sich Kommunen freiwillig zu neuen Körperschaften zusammenschließen, werden wir uns am Ausgleich entstehender Härten beteiligen. …Das Ziel der Zweistufigkeit der Landesverwaltung werden wir weiter verfolgen. Wir werden vom Land noch selbst wahrgenommene Verwaltungsaufgaben kritisch prüfen. Unser Ziel ist weiterhin, möglichst viele dieser Aufgaben, wenn sie nicht komplett entfallen können, auf die Kommunen oder private Anbieter zu übertragen«24.
Das Land setzt demnach in Zukunft allein auf die freiwillige (eventuell durch Landesmittel geförderte) interkommunale Zusammenarbeit oder die Privatisierung von Landesaufgaben, um seinen »Beitrag« zur politischen Entwicklung in den Regionen Niedersachsens und damit auch zu ihrer Siedlungsstruktur zu leisten. Die Tatsache, dass die Landesregierung aufgrund der nunmehr beste23 So Dieter Bartetzko, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. April 2008, S. 37. 24 S. 26, 27 des Koalitionsvertrages.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
henden Verwaltungsstrukturen in Niedersachsen ihren Verfassungsauftrag zur wirksamen Kommunalaufsicht gar nicht mehr wahrnehmen kann, ficht sie dabei nicht an; wie auch der Niedersächsische Landtag den daraus folgenden Leerlauf seiner ihm verfassungsrechtlich aufgegebenen Kontrolle von Regierung und Verwaltung klaglos hinnimmt, – ja dazu durch entsprechende gesetzliche Beschlüsse sogar selbst beigetragen hat. Wenn eine Änderung der bestehenden Verhältnisse durch eine Übernahme der staatlichen Verantwortung für sie seitens des Landes folglich politisch nicht gewollt ist, so bleibt die Frage, ob denn auf der Ebene der niedersächsischen Landkreise Reformmaßnahmen angestrebt werden und auch hinreichendes politisches Gewicht besitzen, um eine inzwischen fraglich gewordene positive Entwicklung der Regionen Niedersachsens sicherzustellen. Eine entsprechende Reform könnte nach dem Stand der Dinge nur in der Zusammenlegung mehrerer vorhandener niedersächsischer Landkreise (und kreisfreien Städte) oder in neu zu konzipierenden niedersächsischen Regionalkreisen nach dem Vorbild der seit 2001 existierenden Region Hannover bestehen. Dass auch die erste Alternative praktisch realisierbar wäre, beweist für mich der seit 1977 bestehende Großkreis Emsland, der ja bekanntlich in besonders wirksamer Weise seine Interessen in Hannover vertritt und eine ähnlich erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren durchgemacht hat. Da ich nun aber durch persönliche Kontakte die Haltung des Niedersächsischen Landkreistages und durch meine langjährige Zugehörigkeit zu einem seiner Gesprächskreise auch die des Deutschen Landkreistages zu dieser Reformfrage ziemlich genau kenne, wage ich die Prognose, dass auch von dieser Seite in nächster Zeit keine nachdrückliche Initiative für eine wirkliche Reform im hier skizzierten Sinne zu erwarten ist. Wenn ich die »Rauchzeichen« richtig deute, denkt man aber beim Niedersächsischen wie beim Deutschen Landkreistag zumindest über partielle Korrekturen der mit der Verwaltungsreform von 1977 vollzogenen Neugliederung der niedersächsischen Landkreise im Sinne größerer Einheiten nach. Im Grunde werden sich folglich sowohl das Land wie die Landkreise in der Reformfrage wirklich erst dann bewegen, wenn der bereits heute bestehende Veränderungsdruck, der von der sich in ständiger Fortentwicklung befindlichen Europäischen Union schon jetzt direkt auf die Verwaltungsstrukturen in Niedersachsen ausgeübt wird, sich noch erheblich verstärkt. Denn dieser Druck wird neben der Notwendigkeit der hier skizzierten Kreisreform die weitere schon jetzt erkennbare Notwendigkeit deutlich machen, dass die Landesregierung, nachdem sich das Land immer mehr zu einer höheren Verwaltungseinheit zurückentwickelt hat, ihre völlig veraltete und viel zu kostspielige Organisationsstruktur dringend reformieren muss. Damit wäre dann auch die Zusage des Ministerpräsidenten zu Beginn der vorigen Wahlperiode,
5. Gefährdete regionale Identität Ostfrieslands
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dass man bei den Verwaltungsreformen des Landes »die Treppe von oben fegen« wolle25, im Grunde erst erfüllt.
VII. Was nach alledem bleibt, ist lediglich die bescheidene Hoffnung, dass sich die ostfriesischen Landkreise und die Stadt Emden enger als bisher in ihrer Regionalplanung abstimmen bzw. von der im niedersächsischen Landesraumordnungsgesetz vorgesehenen Möglichkeit, einen Zweckverband für die gemeinsame Regionalplanung zu gründen, Gebrauch machen. Besser wäre es sicherlich noch, über die örtlichen Landtagsabgeordneten und die zuständigen kommunalen Spitzenverbände entsprechenden Druck auf das Land auszuüben, um zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen, die die Gründung eines Kommunalverbandes Ostfriesland im Sinne des anfangs erörterten Milde-Vorschlags erlaubt. Milde ging es ja darum, wie er seinerzeit betonte, »für Ostfriesland eine Stelle« zu schaffen, die »koordinierend (erg.: seine) … Interessen« wahrt26. Das ist mehr als ein Zweckverband für die Regionalplanung in Ostfriesland zu leisten vermag. Mir ist dieser Gedanke deshalb nach wie vor so sympathisch, weil von der Gründung eines solchen Kommunalverbandes weitergehende Impulse für eine in meinen Augen notwendige niedersächsische Verwaltungsreform auch im Interesse Ostfrieslands ausgehen könnten. Völlig damit übereinstimmend schrieb bereits 1964 einer der nach wie vor bedeutendsten Interpreten der niedersächsischen Verwaltungs- und Verfassungsstrukturen Werner Weber : Es ist zu vermuten, dass »die Kleinräumigkeit der Landkreise durch das Prinzip der Regionalgliederung eine manifeste Kritik erfahren, und es ist wahrscheinlich, es ist sogar sehr zu wünschen, dass von hier aus kräftige Impulse zu einer Überprüfung der überlieferten Verwaltungsorganisation im Ganzen ausgehen werden. Ohne derartige außerordentliche Impulse käme unter den heutigen Verhältnissen dort ohnehin nichts in Gang«27.
Man sollte aus diesem Grund auch nicht die Bestrebungen des Vereins »Lebensfähiges Ostfriesland« oder das »Positionspapier des Bundes der Steuer25 So der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung am 4. März 2003 vor dem Landtag (Plenarprotokoll S. 28). 26 Siehe Zeitschrift »Ostfriesland« 1969/3, S. 11. 27 Werner Weber, Die rechtliche Ordnung des größeren Raumes, in: Deutsches Volksheimstättenwerk Köln (Hrsg.), Die Ordnung des größeren Raumes (Wissenschaftliche Reihe Folge 16) 1964, S. 7 (22). Diese Aussage besitzt für mich unabhängig von dem Umstand, dass ja durch die Verwaltungsreform von 1977/78 die meisten niedersächsischen Landkreise erheblich vergrößert wurden, wegen ihres Hinweises auf »das Prinzip der Regionalgliederung« als zukunftsträchtigem Reformprinzip ihre bleibende Bedeutung.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
zahler von 2006 für neue Kommunalstrukturen in Niedersachsen oberhalb der Gemeindeebene«28 einfach kommentarlos auf sich beruhen lassen, sondern darüber ernsthaft diskutieren. Realisierungschancen für solche und ähnliche Vorhaben bestehen allerdings nur – und damit schließt sich der hier geschlagene gedankliche Kreis -, wenn in der ostfriesischen Bevölkerung das Bedürfnis, seine regionale Identität zu wahren, nicht nur erhalten, sondern in Zukunft gestärkt wird. Das setzt, wie anfangs bemerkt, nicht nur voraus, dass die ostfriesische Geschichte als Sinneinheit erfahren wird, sondern ebenfalls – was ich hier ergänzend zeigen wollte –, dass die ostfriesische Landschaft im Bewusstsein der Bevölkerung als ein ihr vertrauter Lebensraum bewahrt bleibt. Denn beides zusammen macht ja erst einen lebendigen Regionalismus aus. Und wenn beides fehlt, kann man mit einer ebenso zutreffenden wie nachdenklich stimmenden Feststellung von Adolf Muschg von einer drohenden »Enteignung von Raum und Zeit« in unserer Gegenwart sprechen29. Das ist letztlich deshalb so beunruhigend und fordert deshalb den Einsatz von uns allen für die Belebung der regionalen Kräfte in Ostfriesland heraus, weil damit die menschliche Freiheit gefährdet ist. Denn menschliche Freiheit ist nun einmal »nicht ein abstrakter Indifferenzpunkt …, von wo aus wir Werte und Präferenzen beliebig setzen«. Und gerade deshalb ist ein entwurzelter und jeder Identität beraubter Mensch »gerade nicht frei, sondern widerstandsloser Spielball der Manipulation«30. Es wäre noch viel besonders zur staatstheoretischen Bedeutung dieses letzten Gedankens zu sagen. Doch kann es im vorliegenden Zusammenhang bei dem Hinweis sein Bewenden haben, dass der Ostfriesischen Landschaft in Aurich in der Pflege des für unsere Freiheit so wichtigen regionalen Bewusstseins m. E. eine Schlüsselrolle zukommt. Diese ist umso bedeutender, als ein solches lebendiges Bewusstsein ja auch die erste und wichtigste Voraussetzung für alle hier angesprochenen notwendigen Reformen in Ostfriesland darstellt. Ich bin mir aber nicht sicher – und lassen Sie mich das in aller Vorsicht abschließend sagen -, ob die gegenwärtigen (mir wohlbekannten) Entscheidungsstrukturen der Ostfriesischen Landschaft in Aurich für die wirksame Erledigung einer 28 Bund der Steuerzahler Niedersachsen und Bremen e.V. (Hrsg.), Zehn Regionalpräsidenten anstelle von 37 Landräten. Positionspapier des Bundes der Steuerzahler für neue Kommunalstrukturen oberhalb der Gemeindeebene, 2006. 29 Diese Formulierung gebrauchte Muschg auf einer Abendveranstaltung des Niedersächsischen Heimatbundes in Hannover am 7. Oktober 2005 anlässlich des 86. Niedersachsentages, auf dem der NHB zugleich auf sein hundertjähriges Bestehen zurückblickte. 30 So Robert Spaemann, Sittliche Normen und Rechtsordnung, in: Heiner Marr¦ u. a. (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), 1996, S. 5 (8 f.); ganz ähnlich besonders Hermann Lübbe, Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, 1980, S. 143 ff. (Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus).
5. Gefährdete regionale Identität Ostfrieslands
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solchen großen Aufgabe noch geeignet sind. Wie dem auch sei, in jedem Fall sollten wir uns alle auch in Zukunft an das Motto eines der größten europäischen Juristen, des Aurichers Rudolf von Jhering, halten, der 1874 schrieb, ich verlange »den Kampf um das Recht keineswegs bei jedem Streit, sondern nur da … wo der Angriff auf das Recht zugleich eine Missachtung der Person enthält.31« Um eben diese »Missachtung der Person« geht es nämlich letztlich auch bei der Verletzung der regionalen Identität Ostfrieslands, – insbesondere darauf wollte ich Sie heute aufmerksam machen!
Thesen I. Durch die Auflösung des Regierungsbezirks Aurich vor dreißig Jahren ist nicht nur die ostfriesische Geschichte als Sinneinheit an ihr Ende gekommen. Vielmehr hat danach auch die Landschaft Ostfrieslands durch die fehlende staatliche Steuerung der Siedlungsstruktur weitgehend ihren Charakter als vertrauter Lebensraum verloren. Namentlich die zuletzt genannte Entwicklung bedarf wegen ihrer besonderen Gefährdung der regionalen Identität Ostfrieslands der näheren Darlegung.
II. In der Verwaltungswirklichkeit des Regierungsbezirks Aurich bestand vor dessen Auflösung im Jahr 1978 ein klares Bewusstsein über den Inhalt des staatlichen Gestaltungsauftrags in der Fläche, obwohl die eigenständige Entscheidungsfindung der Behörde damals bereits in Einzelfällen durch (partei-)politische Intervention in Frage gestellt wurde und auch schon grundsätzliche Vorbehalte gegen die Mittelinstanz seitens der Politik spürbar waren.
III. Die niedersächsischen Verwaltungsreformen der Jahre 1977/78 haben aus ostfriesischer Sicht die Loslösung der staatlichen Verwaltung von ihren regionalen Wurzeln bewirkt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen das irrige Verständnis 31 Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, 4. Auflage 1874, S. IX (Hervorhebung A.J.), vgl. auch S. 16.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
des räumlichen Zuschnitts des alten Regierungsbezirks Aurich als »Zufälligkeit lange zurückliegender historischer Vorgänge« durch die Reformer ; zum anderen der mit ihrer Reform verbundene Abschied von einer ganz Ostfriesland in den Blick nehmenden Regionalplanung (Raumordnung). Dieser Loslösung der staatlichen Verwaltung von den regionalen Wurzeln hätte die Gründung eines Kommunalverbandes Ostfriesland entgegen wirken können. Doch ist der von dem damaligen Landtagsabgeordneten (und Bürgermeister von Leer) Horst Milde bereits 1969 vorgelegte entsprechende Gesetzentwurf vor allem an der Uneinigkeit der (partei-)politischen Kräfte in Ostfriesland gescheitert.
IV. Die Verwaltungsreform 2004 hat mit der Auflösung aller Bezirksregierungen in Niedersachsen den fast vollständigen Rückzug der staatlichen Verwaltung aus der Fläche zur Folge gehabt, ohne für diese Maßnahme überzeugende Gründe nennen zu können. Damit stimmt die Entwicklung der Regionalplanung in Niedersachsen insofern überein, als es heute in diesem Bundesland (und damit auch in Ostfriesland) keine wirkliche Regionalplanung im Sinne einer vom Grundsatz her staatlichen Raumordnung für die Region mehr gibt.
V. Die Folgen dieser fehlenden regionalen Steuerung der Siedlungsstruktur kann man in Ostfriesland u. a. an der unkoordinierten (und zum Teil faktisch erzwungenen) Genehmigung von Windkraftanlagen, Tiermastställen, Biogasanlagen besichtigen. Die im Gespräch befindlichen Kohlekraftwerke an der ostfriesischen Küste und die geplanten Offshore-Windparks runden das Bild von einer in ihrer Substanz gefährdeten ostfriesischen (Küsten-)landschaft ab. Das Land Niedersachsen entzieht sich der Verantwortung für diese Entwicklung unter Hinweis auf die (insoweit offensichtlich falsch verstandene) kommunale Selbstverwaltungsgarantie der Niedersächsischen Verfassung. Es hat sich bis heute auch nicht über den Bundesrat (wirksam) für die Aufhebung der gesetzlichen Privilegierung von vielen der genannten Anlagen im Außenbereich durch das Baugesetzbuch eingesetzt.
5. Gefährdete regionale Identität Ostfrieslands
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VI. Wenn man trotz dieser Haltung des Landes an dem Ziel einer zu schützenden regionalen Identität Ostfrieslands wie der anderen Landschaften Niedersachsens festhält, ist es ebenfalls wenig erfolgversprechend, dafür die Hoffnung auf eine durchgreifende Kreisreform in Niedersachsen zu setzen. Diese müsste ja entweder in einer Zusammenlegung heute vorhandener Landkreise (und kreisfreien Städte) oder nach dem Vorbild der Region Hannover in neu zu konzipierenden Regionalkreisen bestehen. Weil aber augenscheinlich die kommunalen Spitzenverbände als maßgebliche politische Kräfte in Niedersachsen dazu gegenwärtig nicht bereit sind, wird erst in ferner Zukunft der durch die Europäische Union ausgeübte, ständig zunehmende Veränderungsdruck auf die niedersächsischen Verwaltungsstrukturen die im Grunde schon heute notwendigen Reformen auf der Ebene der Landesregierung wie auf der Landkreisebene herbeiführen.
VII. Um Schlimmeres zu verhindern, sollten in der Zwischenzeit die ostfriesischen Landkreise und die Stadt Emden ihre Regionalplanung möglichst bald auf einen gemeinsamen Zweckverband übertragen und die weitergehende (gesetzlich zu realisierende) Möglichkeit eines Kommunalverbandes Ostfriesland im Sinne des Milde-Vorschlags von 1969 dabei nicht aus dem Auge verlieren. Der Ostfriesischen Landschaft obliegt es in dieser Zwischenzeit und darüber hinaus, in dem Sinne die entscheidende Grundlage für alle denkbaren Reformen zu schaffen, dass sie durch ihre Arbeit zu einem lebendigen regionalen Bewusstsein der ostfriesischen Bevölkerung beiträgt.
III. Das überholte parlamentarische Regierungssystem auf Landesebene
6.
Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven1
Am 11. September 1992 kann der Niedersächsische Landtag auf eine dreißigjährige Parlamentsgeschichte im Leineschloss zurückblicken. Ein solcher Tag dürfte auch Anlass zu der grundsätzlichen und allgemeinen Frage sein, wie es um den Länderparlamentarismus aus niedersächsischer Sicht steht. Ich will im Folgenden in vier gedanklichen Schritten versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Zunächst (I) möchte ich einen Vergleich zwischen den Jahren 1962 und 1992 den Status des niedersächsischen Landtagsabgeordneten – seine Wandlungen und Zukunftsperspektiven näher betrachten. In einem weiteren Schritt (II) soll das Gleiche mit den Aufgaben des Landtags geschehen und daran anschließend (III) die Funktion des Landtagspräsidenten, der Landtagsverwaltung und des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag genauer untersucht werden. Zuletzt (IV) will ich versuchen, aufgrund der geschilderten Entwicklung des parlamentarischen Lebens im Leineschloss die zukünftigen Herausforderungen für den Niedersächsischen Landtag noch genauer zu benennen.
I. Was zunächst den Status der einzelnen niedersächsischen Landtagsabgeordneten betrifft, so geht es im Folgenden nicht nur um rechtliche Veränderungen in den vergangenen dreißig Jahren, sondern vor allem um solche tatsächlicher Art. Allgemein lässt sich die Entwicklung dahingehend kennzeichnen, dass die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten und ihre finanzielle Ausstattung namentlich seit den siebziger Jahren dem Bild eines hauptamtlich tätigen Berufspoli1 Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Landtagsverwaltung für das zu diesem Beitrag gelieferte Zahlenmaterial und den Mitgliedern des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag für die auf den S. 182 und 194 f. abgedruckten Übersichten
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
tikers entsprechen, während in den Jahren davor die Vorstellung vom ehrenamtlich tätigen Landtagsabgeordneten seinen Status bestimmte: 1. Im Entschädigungsrecht der niedersächsischen Landtagsabgeordneten ist insoweit die entscheidende Veränderung mit dem Niedersächsischen Abgeordnetengesetz vom 3. 2. 19782 eingetreten. Der Inhalt dieses Gesetzes wiederum wurde wesentlich mitbestimmt durch das bekannte Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 19753. Denn dort wurde zum ersten Mal von unserem höchsten Gericht dargelegt, dass die in Artikel 48 Abs. 3 des Grundgesetzes (ebenso Artikel 17 Abs. 3 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung) geforderte Entschädigung des Abgeordneten als eine Alimentation verstanden werden müsse, weil sie als Entgelt für eine inzwischen in Bund und Ländern hauptberufliche parlamentarische Tätigkeit gezahlt werde. Da die damit geforderte Vollalimentierung der Abgeordneten sich nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts4 grundsätzlich nicht an dem dem einzelnen Abgeordneten durch seine Mandatstätigkeit tatsächlich entstandenen »Schaden« orientieren sollte, ist mit diesem Urteil der wohl einmalige Fall eingetreten, dass die das Merkmal der »Entschädigung« nicht berücksichtigende und daher unrichtige Interpretation von Artikel 48 Abs. 3 des Grundgesetzes (und nicht die bewusste politische Entscheidung) Parlamentsgeschichte geschrieben hat. Diese Erläuterung war nötig, um die Entwicklung im Diätenrecht der niedersächsischen Abgeordneten zu verstehen. Im Jahre 1962 wurde an die niedersächsischen Landtagsabgeordneten eine (ehrenamtliche) Aufwandsentschädigung von 510 DM monatlich gezahlt. Sie entsprach damals kraft gesetzlicher Regelung 40 v. H. der Aufwandsentschädigung eines Bundestagsabgeordneten. Diese Quote gilt heute bekanntlich nicht mehr. Seit 1978 gibt es nämlich in Niedersachsen ein vollständiges Versorgungssystem für die Abgeordneten, vor allem also auch eine echte Altersversorgung, die heute 233 Versorgungsempfänger mit einem jährlichen Volumen von ca. 8.500,00 DM umfasst. Die vorliegenden Zahlen lassen insoweit noch ein weiteres Anwachsen erwarten. Die Höhe der Grundentschädigung für die Landtagsabgeordneten beläuft sich heute auf 8.200 DM monatlich, die der Aufwandsentschädigung auf 1.800 DM monatlich. Die Grundentschädigung hat ganz offensichtlich nicht mit der allgemeinen Einkommensentwicklung seit 1978 – dem Jahre ihrer Einführung – Schritt gehalten5, während die Altersversorgung der niedersächsischen Landtagsabgeordneten im Vergleich zu den Versorgungssystemen der Renten2 3 4 5
Nieders. GVBl. S. 101. BVerfGE 40, 296 ff. BVerfGE40, 296 (317 f.). Dazu instruktiv die Ausführungen des Landtagspräsidenten vor dem Plenum vom 22. 1. 1992 (Stenographischer Bericht über die 44. Plenarsitzung, S. 4136 ff.).
6. Der Landtag im Leineschloss
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versicherung, der Beamten und auch zu der in den meisten anderen deutschen Parlamenten geltenden Abgeordnetenversorgung als besonders gut bezeichnet werden muss. Das hat der soeben von der Diätenkommission vorgelegte sogenannte Strukturbericht genauer dargelegt6 und bedarf darum hier keiner besonderen Ausführung. 2. Ein Wandel ist in den vergangenen Jahren auch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der niedersächsischen Landtagsabgeordneten im Leineschloss, deren Zahl über all die Jahre nur wenig differierte, eingetreten: a) Was die räumliche Situation betrifft, so standen den Abgeordneten, Fraktionen und der Landtagsverwaltung im Jahre 1962 gemeinsam nur die Räume im Hauptgebäude des Niedersächsischen Landtages (ohne Kammerflügel) zur Verfügung. Die 149 Abgeordneten besaßen deshalb lediglich 21 Arbeitsräume mit einer Gesamtgröße von etwa 400 qm. Im Durchschnitt mussten sich also ca. 7 Abgeordnete einen Arbeitsraum teilen. Heute können durch den Ausbau des Kammerflügels und zwei Erweiterungsgebäude den 155 Abgeordneten 133 Arbeitsräume mit einer Gesamtfläche von ca. 3.426 qm, also gut das Sechsfache zur Verfügung gestellt werden. Die technische Ausstattung der Räume ist in all den Jahren allerdings über einen Telefonanschluss je Zimmer nicht hinausgekommen. b) Die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten haben sich auch hinsichtlich der Informationsmöglichkeiten verbessert: Zunächst ist dafür auf den von der Landtagsverwaltung täglich erstellen Pressespiegel zu verweisen; daneben vor allem auf die in kaum einem deutschen Parlament mit gleicher Sorgfalt erstellten Ausschussprotokolle. Seit der 10. Wahlperiode (Juni 1982) werden auch im niedersächsischen Landtagsinformationssystem (NILAS) die Parlamentsmaterialien (LT-Drucksachen, Stenoberichte und Ausschussniederschriften) elektronisch gespeichert. Diese Datenbank ist für die Abgeordneten deshalb von besonderem Wert, weil die genannten Materialien dort nicht im Volltext, sondern in einer von der Dokumentationsstelle der Landtagsverwaltung inhaltlich aufbereiteten (und verkürzten) Form erfasst werden. Eine besondere Informationsquelle für praktisch alle Bereiche der Landespolitik und der wichtigsten Rechtsgebiete stellt heute die Landtagsbibliothek dar, deren Bestand in der Vergangenheit ständig gewachsen ist. Im Jahre 1962 besaß sie 30.000 Bände und hielt 436 Zeitschriften; heute sind es 107.411 Bände und 936 laufend gehaltene Zeitschriften. Neu hinzugekommen sind außerdem 1.584 Mikromaterialien (Mikrofiches). In diesem Zusammenhang ist auch auf die ständig anwachsenden Bestände des Parlamentsarchivs hinzuweisen. Im Jahre 1962 befanden sich dort ca. 87 lfm Akten, heute fast das Vierfache. Hinzu 6 LT-Drs. 12/3640 unter II. c) (= S. 13 ff.).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
gekommen ist zwischenzeitlich ein Tonarchiv mit 2990 Tonbandaufzeichnungen aus der 6. bis 11. Wahlperiode und ein Bildarchiv mit ca. 2.000 Fotos. Zu den Informationsmöglichkeiten der Landtagsabgeordneten sind schließlich die im Leineschloss regelmäßig stattfindenden Ausstellungen zu zählen. Denn sie sind bewusst vor allem für diesen Personenkreis konzipiert und betreffen grundsätzlich Themen mit besonderem niedersächsischen Bezug. Die Wünsche verschiedener Institutionen und Verbände in und außerhalb des Landes, einen Ausstellungstermin im Landtag zu bekommen, sind inzwischen so zahlreich, dass trotz qualitativ guter Angebote die Bewerber auf das Jahr 1994 und später vertröstet werden müssen. 3. Der heutige Status des niedersächsischen Landtagsabgeordneten wäre unzureichend geschildert, wenn man nicht seine Eingebundenheit in die jeweilige Fraktion und deren Arbeitsbedingungen im Landtag mit berücksichtigen würde. Ihr ständig wachsender Raumbedarf im Landtag und die stark angestiegenen jährlichen Zuschüsse an die Fraktionen aus dem Landeshaushalt in den vergangenen dreißig Jahren lassen erkennen, welche politische Bedeutung ihnen in der täglichen Parlamentsarbeit heute zugemessen wird. Diese staatliche Unterstützung geschah und geschieht anders etwa als bei der Abgeordnetenentschädigung nicht aufgrund (teilweiser) verfassungsrechtlicher Vorgaben, sondern sie beruht auf freier Entscheidung des Gesetzgebers oder stellt sich als faktische Unterstützung dar wie z. B. die kostenlose Zurverfügungstellung der Arbeitsräume im Landtag. Rechtlich ist den Fraktionen im Abgeordnetengesetz, wie in früheren gesetzlichen Regelungen auch, ein Anspruch auf monatliche Zahlungen aus dem Landeshaushalt unter Berücksichtigung ihrer Stärke zuerkannt worden, dessen Höhe im Haushaltsplan festgesetzt wird. Außerdem erhalten die Abgeordneten eine Reisekostenentschädigung (Fahrtkosten, Tagegeld, Übernachtungsgeld) für eine bestimmte Anzahl von Fraktionssitzungen. Daneben steht den Parteien, deren verlängerter Arm im Parlament ja die Fraktionen sind, seit 1967 kraft Gesetzes ein Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung zu. Die gesetzlich geregelte Wahlkampfkostenpauschale betrug 1967 1,50 DM je Wahlberechtigten und 1990 belief sie sich auf 5 DM je Wahlberechtigten. Der niedersächsische Gesetzgeber folgt mit diesen den Fraktionen und Parteien gewährten Leistungen einem Trend, der in allen deutschen Parlamenten zu beobachten ist: Mit dem ständig wachsenden Ausgriff der Politik auf ehemals private oder von der Fachbürokratie allein gestaltete Lebensbereiche geht eine Professionalisierung der Politik einher, welcher der einzelne Abgeordnete nicht mehr gewachsen ist. Hierin liegt die eigentliche Erklärung für die wachsende Bedeutung der Fraktionen im parlamentarischen Leben und so auch im Niedersächsischen Landtag. Ob diese Entwicklung zwangsläufig ist, ist hier nicht zu entscheiden, aber ohne sie ist die Steigerung der staatlichen Fraktionskosten-
6. Der Landtag im Leineschloss
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zuschüsse in den vergangenen dreißig Jahren um ca. das Dreiunddreißigfache und des Raumbedarfs der Fraktionen im Leineschloss um etwa das Vierfache nicht zu erklären.
II. Der geschilderte Status wird den Landtagsabgeordneten gewährt, damit sie bestimmte Aufgaben wahrnehmen. Auch bezüglich dieser Aufgaben ist ein bemerkenswerter Wandel in den vergangenen dreißig Jahren eingetreten: 1. Ich beginne mit einigen allgemeinen Beobachtungen zur Zusammensetzung des Parlaments und zu seiner Arbeit. a) Die Zahl der Abgeordneten hat sich in den vergangenen dreißig Jahren kaum geändert und auch nicht das Verhältnis der direkt gewählten Abgeordneten zu denen, die über die Landesliste in den Landtag eingezogen sind. Der Frauenanteil hat sich dagegen fast vervierfacht (5,1 % 1962; 19,4 % 1992); er ist allerdings immer noch weit entfernt von einer dem Bevölkerungsanteil der Frauen proportionalen Repräsentation. Das Duchschnittsalter der Landtagsabgeordneten ist nur gering zurückgegangen (53,3 im Jahre 1962; 48,7 im Jahre 1992); das Mindestalter liegt nach wie vor weit über 21 Jahre (zu Beginn der 12. Wahlperiode war das jüngste Mitglied des Landtages knapp 30 Jahre). Was die von den Abgeordneten ausgeübten Berufe betrifft, so hat sich der Anteil der im öffentlichen Dienst Beschäftigten mehr als verdoppelt (29 % 1962; 62 % 1992). Die in der freien Wirtschaft tätigen Abgeordneten machten 1962 noch 36 % aus; heute sind es dagegen nur 24 %. Die Zahl der Plenarsitzungen ist nur wenig gestiegen (23 im Jahre 1962; 27 im Jahre 1992); die Dauer der Sitzungen dagegen um 100 %. Auffallend zugenommen haben auch die Ausschusssitzungen: 1962 waren es 282; 1992 werden es etwa 380 sein. Die Zahl der Ausschüsse hat sich dagegen kaum geändert. Bemerkenswert ist schließlich noch die Zunahme der Landtagsdrucksachen: 293 im Jahre 1962, ca. 1.700 im Jahre 1992. b) Zu beobachten sind auch inhaltliche Veränderungen im Ablauf des parlamentarischen Verfahrens. Besonders wichtig scheint mir die verstärkte Verlagerung der Meinungsbildung vom Parlament in die Fraktionen zu sein. In jeder Fraktion bestehen inzwischen Arbeitskreise, deren Gliederung sich in etwa thematisch an den jeweiligen parlamentarischen Ausschüssen orientiert. In diesen Arbeitskreisen werden die anstehenden Ausschussberatungen weitgehend vorbesprochen. Es ist auch durchaus üblich, dass Vertreter der Ministerialbürokratie bei der jeweiligen Regierungsfraktion zu den Beratungen hin-
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zugezogen werden7. Vor den Plenarsitzungen werden dann bekanntlich in den Fraktionssitzungen die parlamentarischen Stellungnahmen der einzelnen Fraktionsmitglieder inhaltlich im Wesentlichen festgelegt und ebenso das Abstimmungsverhalten im Parlament. Die parlamentarische Debatte im Niedersächsischen Landtag hat so, wie in anderen Parlamenten auch, primär eine Rechtfertigungs- und Darstellungsfunktion; sie führt aber kaum zur inhaltlichen Änderung vorher eingenommener Standpunkte. Entsprechendes ist in Ansätzen bisweilen auch schon in den Ausschussberatungen zu beobachten und würde dort sofort voll greifen, wenn diese öffentlich wären. Neben dieser inhaltlichen Vorabbestimmung der parlamentarischen Verhandlungen kommt als weitere für die Koalitionsfraktionen zunehmend die Bindung an die zwischen ihnen zu Beginn der Wahlperiode geschlossene Vereinbarung hinzu. Die große politische Bedeutung solcher Koalitionsvereinbarungen und ihre wachsende Detailliertheit bedingen, dass sie in der parlamentarischen Praxis nahezu wie Rechtsgebote gehandhabt werden. Die politische Substanz der parlamentarischen Auseinandersetzung leidet schließlich an der zunehmenden Verrechtlichung politischer Fragen. Hier gehen besonders eine zweifelhafte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der bei den Abgeordneten häufig durchaus verständliche Wunsch Hand in Hand, unangenehme politische Entscheidungen durch Berufung auf verfassungsrechtliche Bedenken hinauszuzögern oder zu umgehen. Ein hervorragendes Beispiel für diese letzte Behauptung bilden die ständig wieder aufbrechenden Debatten im Innen- und Rechtsausschuss des Niedersächsischen Landtages über die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Reichweite und Intensität des Datenschutzes in der öffentlichen Verwaltung8. Die Ausschussdebatten zum Meldegesetz, Statistikgesetz, Pass- und Ausweisgesetz in den achtziger Jahren oder die jetzigen zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Verfassungsschutzes im Lande Niedersachsen kreisen nach wie vor zu einem großen Teil um die richtige Auslegung von entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts; nicht aber primär um die zweckmäßigste Lösung. Ähnliches konnte man bisher z. B. auch in den Ausschussberatungen über das Niedersächsische Rundfunkrecht beobachten. 2. Was die Entwicklung der Gesetzgebung im Niedersächsischen Landtag als wichtigste parlamentarische Kompetenz betrifft, so fällt zunächst auf, dass in den vergangenen dreißig Jahren immer mehr Kompetenzen von den Ländern auf den Bund abgewandert sind. Die Zahl der zu beratenden Gesetze im Nieder7 Von daher war es auch nur ein kleiner Schritt zu der jetzt geübten Praxis, dass die Fraktionsvorsitzenden der Regierungskoalition regelmäßig an den Sitzungen des Kabinetts teilnehmen. 8 s. besonders das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts; BVerfGE 65, 1 ff.
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sächsischen Landtag hat sich dennoch kaum geändert, wohl aber die parlamentarische Behandlung der Gesetzentwürfe: a) In der diesen Ausführungen beigefügten Anlage (S. 194 f.) ist in einer Übersicht dargestellt, welche Gesetzgebungskompetenzen der Bund in den vergangenen dreißig Jahren durch Änderung des Grundgesetzes an sich gezogen hat. Zugleich sind darin jene Grundgesetzänderungen erfasst, die den finanzpolitischen Spielraum der Landesparlamente eingeengt haben; darauf ist noch im Folgenden unter 3. zurückzukommen. Es ist hier nicht der Ort, die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gründe für diese Fehlentwicklung zu benennen. Nur eines sollte klar sein: Solange die Landtage nicht den Mut aufbringen, diejenigen Materien, die sie selbst regeln können, auch als verfassungsrechtliche Regelungskompetenz entschieden einzufordern, solange wird sich dieser Trend einer Verlagerung der Kompetenzen fortsetzen. Eine echte Alternative liegt seit dem einstimmig gefassten Beschluss der Präsidentinnen und Präsidenten der Landesparlamente zur Reform der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vom 24. 9. 1991 auf dem Tisch. Dieser Bechluss, der in Niedersachsen als Landtagsdrucksache verteilt wurde (Nr. 12/2797), enthält in seiner Anlage 3 konkrete Vorschläge für eine Änderung des gesetzgeberischen Kompetenzkatalogs im Grundgesetz zugunsten der Länder. Wie zu hören ist, sind Teile davon inzwischen auch in die Beratungen der in Bonn tagenden Gemeinsamen Verfassungskommission zur Reform des Grundgesetzes eingegangen. In der Zukunft sind aber auch noch bedeutsame Einschränkungen der Gesetzgebungskompetenzen der Länder durch die Europäischen Gemeinschaften zu erwarten9. Das in den Vertrag von Maastricht10 aufgenommene Subsidiaritätsprinzip kann in der gewählten Fassung insoweit wohl kaum eine praktisch wirksame Grenze darstellen; vielmehr begünstigt es teilweise noch den zu erwartenden Zugriff der Europäischen Gemeinschaften auf Länderkompetenzen11. Einen wirklichen Schutz dagegen würde nur die enumerative Aufzählung der Rechtssetzungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaften unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips in dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie die Einfügung eines Klagerechts der Länder und ihrer Landtage vor dem Europäischen Gerichtshof zur Sicherung ihrer Kompetenzen bieten12. Diese Forderungen werden aber schon deshalb schwer 9 Zum gegenwärtigen Stand s. zuletzt M. Schweitzer, Beteiligung der Bundesländer an der eropäischen Gesetzgebung, ZG 7 (1992) S. 128 (128 f., 143 ff.). 10 Der Vertrag ist veröffentlicht im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 16 vom 12. Februar 1992, S. 113 ff. 11 s. dazu nur die kritischen Anmerkungen von Schoch, NLT 2/1992, S. 20 (23 f.). 12 Dazu überzeugend die einstimmig gefasste Entschließung des Niedersächsischen Landtags (LT-Drs. 12/2208).
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durchsetzbar sein, weil bereits auf deutscher Seite bei den Regierungen in Bund und Ländern vielfach der Wille fehlt, für sie einzutreten. Das bisherige Vertragswerk der Europäischen Gemeinschaften ist nun aber einmal – man mag das bedauern oder nicht – ein Werk der Exekutive. Konkret bleibt dem Niedersächsischen Landtag zur Zeit eine Gesetzgebungskompetenz auf folgenden Gebieten: – Landesverfassungsrecht mit Nebengebieten wie Wahlrecht, Parteienfinanzierung (im Rahmen des Bundesrechts), Abgeordneten- und Ministerrecht sowie Haushaltsrecht; – Kommunalverfassung, kommunale Finanzordnung, Kommunalabgaben; – allgemeines Beamtenrecht, allerdings nur in Ausfüllung des Beamtenrechtsrahmengesetzes des Bundes, wobei die Sondergebiete des Besoldungs- und Versorgungswesens seit 1971 bzw. 1976 im Wesentlichen bundesrechtlich geregelt sind; – Verwaltungsverfahren und Verwaltungsorganisation, insbesondere kommunale Verwaltungs- und Gebietsreform; – öffentliche Sicherheit und Ordnung (Polizeirecht) mit einigen Nebengebieten, wie z. B. Sammlungswesen, Glücksspiel- und Spielbankwesen; – Schulrecht, Erwachsenenbildung sowie Hochschulrecht, dies aber nur nach den Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes des Bundes; – Denkmalschutz, – Naturschutz-, Wasser- und Abfallrecht, allerdings nur noch Ausfüllung von Bundesrahmenrecht bzw. Ergänzung von Bundesrecht; – Bauwesen, von dem jedoch der Bund das politisch bedeutendere Städtebaurecht schon 1960 durch das Bundesbaugesetz (heute Baugesetzbuch) an sich gezogen hatte; – kleinere Nebengebiete des bürgerlichen Rechts wie Stiftungs- und Nachbarrecht, Realverbände; – kleine Bereiche des Berufsrechts wie Architekten- und Ingenieurrecht. b) Die rechtliche Einschränkung der Gesetzgebungskompetenzen hat in den vergangenen dreißig Jahren aber kaum zu einem Rückgang in der Zahl der zu beratenden Gesetzentwürfe geführt, sondern diese ist fast gleichgeblieben. Das erklärt sich einmal damit, dass die Novellierungen bestehender Gesetze zugenommen haben, und zum anderen mit dem Vesuch des Landtages, immer neue, bisher ungeregelte Bereiche staatlicher Politik durch gesetzliche Regelung parlamentarisch mitzubeeinflussen. Da im letzteren Fall vom Gesetzgeber häufig unter Verabschiedung des klassischen abstrakt-generellen Gesetzesbegriffs lediglich Grundsätze und Leitlinien für das Handeln der Exekutive aufgestellt
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werden, kann mit Fug bezweifelt werden, ob derartige politische Proklamationen in Gesetzesform eine tatsächliche Bindungswirkung erzielt haben13 Eine weitere faktische Veränderung betrifft den Ablauf der Gesetzesberatungen. Wesentlich ist hier besonders die bereits erörterte Einflussnahme der Fraktionen auf den Beratungsgang in den Ausschüssen und die erwähnte wachsende Verrechtlichung politischer Fragen. Hinzu kommt das schwindende Interesse des Landtages selbst an einer gründlichen Gesetzesberatung, wie es sich in der zunehmenden Praxis dokumentiert, dass sich die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen Beratungszeiten für Gesetze vorgeben lassen, die viel zu kurz sind. Die Folge ist, dass wegen der geringen Zeit zwischen der letzten Ausschussberatung und der Behandlung der Gesetze im Plenum ausführliche Ausschussberichte neuerdings erst nach der Verabschiedung des Gesetzes erscheinen können. Aber selbst wenn die Berichte rechtzeitig vorliegen, ist es heute häufige Praxis, dass die Berichterstatter die Ausschussberichte nicht mehr im Plenum vortragen, sondern zu Protokoll geben. Dass in beiden Fällen ein Stück demokratischer Legitimation des Gesetzes verloren geht, sollte nicht übersehen werden. Denn der Landtag wird durch den Ausschussbericht ja mit dem Ergebnis der Beratungen konfrontiert, die ein Teil seiner Mitglieder in seinem Auftrag durchgeführt hat. Der Ausschussbericht hält also für die beratenden Ausschüsse wie für das Parlament als Ganzes ein »zurechenbares« Ergebnis auch bezüglich der gesetzgeberischen Motive fest, von dem sich zu distanzieren die zweite und dritte Lesung des Gesetzes im Plenum die Möglichkeit böte – eben diese Möglichkeit wird vom Landtag bewusst häufig heute nicht mehr wahrgenommen. 3. Der finanzielle Handlungsspielraum des Niedersächsischen Landtages und damit das Haushaltsrecht des Parlaments ist durch mehrfache Änderung des Grundgesetzes in den vergangenen Jahren eingeschränkt worden14. Ursächlich für diese Entwicklung war daneben der ständige Anstieg der Schuldzinzen, den die wachsende Kreditaufnahme auslöste: a) Die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben, die durch Artikel 91a und 91b in das Grundgesetz aufgenommen wurden, sind eine wesentliche Ursache für die Fremdbestimmtheit des niedersächsischen Landeshaushalts. Das hier vorgesehene System gemeinsamer Planung und Finanzierung von Aufgaben durch Bund und Länder veranlasst die Länder nur um der zufließenden Bundesmittel willen zu Ausgaben, die sie sonst häufig nicht oder zu anderer Zeit getätigt hätten. Das Haushaltsbewilligungsrecht des Landtges wird so tatsächlich auf 13 Zu einem besonders anschaulichen Beispiel, dem niedersächsischen Mittelstandsförderungsgesetz, s. genauer: Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts,, 1990, S. 251 ff. 14 s. dazu noch einmal die hier beigefügte Anlage.
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eine nur noch formale Zustimmung zu Entscheidungen reduziert, die von den beteiligten Exekutiven schon getroffen wurden. Die Möglichkeit, in eigener Verantwortung über die Aufgaben und ihre beste Erfüllung zu entscheiden, wird ihm genommen. Auch der 1969 neu in das Grundgesetz eingefügte Artikel 104a beschränkt in ganz wesentlichem Umfang das Etatrecht des Landtages. Nach seinem Absatz 3 müssen die Länder und ihre Kommunen beim Vollzug von Leistungsgesetzen des Bundes wie etwa dem Wohngeldgesetz, dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Bundessozialhilfegesetz zum Teil oder ganz (so beim Bundessozialhilfegesetz) Ausgaben aus ihrem Haushalt leisten, die sie nicht selbst beschlossen haben, sondern die ihnen der Bund oktroyiert hat. Auch die nach Artikel 104a Abs. 4 des Grundgesetzes möglichen Finanzhilfen des Bundes macht dieser von einer Eigenbeteiligung der Länder abhängig und zwingt diese damit wiederum wie bei den Gemeinschaftsaufgaben um der ihnen zufließenden Bundesmittel willen zu Ausgaben, sie sie sonst eventuell gar nicht oder zu einem anderen Zeitpunkt verausgabt hätten. In beiden Fällen des Artikel 104a des Grundgesetzes beschränkt sich das Etatrecht des Parlaments (und der kommunalen Vertretungskörperschaften) ähnlich wie bei den Gemeinschaftsaufgaben im Ergebnis auf eine formale Zustimmung zu bereits von anderen Stellen getroffenen Entscheidungen. Dass es für die geschilderte Rechtslage Alternativen gibt, die den Landesparlamenten einen größeren finanziellen Spielraum wieder einräumen würden, zeigt wiederum der schon genannte Beschluss der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente zur Reform der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland15. Ihre entsprechenden Vorschläge haben inzwischen ebenfalls Eingang in die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Reform des Grundgesetzes gefunden. b) Die ständig wachsende Verschuldung des Landes in den vergangenen Jahren engt ebenfalls den finanziellen Hndlungsspielraum des Parlaments erheblich ein. Der Landtag hat allerdings auch nicht von sich aus in all den Jahren die Kraft gefunden, hier begrenzend zu wirken. Beliefen sich die Landesschulden im Jahre 1962 auf 73,7 % des Haushaltsvolumens, so liegen sie heute bei 126,9 % des Haushaltsvolumens. Entsprechend betrugen die Schuldzinsen für die vom Land aufgenommenen Kredite 1962 noch 1,2 % der Gesamtausgaben; inzwischen sind es 8,6 %. Wenn die Schulden und die damit verbundenen Zinsausgaben weiterhin so wie bisher steigen, so wird sich der Niedersächsische Landtag in nächster Zukunft auch mit der Frage befassen müssen, ob die Vorlage eines verfassungsgemäßen Haushalts überhaupt noch möglich ist. Denn nach Artikel 54 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung verstößt der Haushalt 15 LT-Drs. 12/2797, S. 22 ff.
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bereits dann gegen die Verfassung, wenn die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsjahr veranschlagten Ausgaben für Investitionen überschreiten und von dieser Regelung auch keine Ausnahme zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gemacht werden kann. 4. Nach Artikel 3 Abs. 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung ist es auch Aufgabe des Landtags, »die Ausübung der vollziehenden Gewalt nach Maßgabe dieser Verfassung« zu »überwachen«. Die damit dem Parlament aufgetragene parlamentarische Kontrolle hat in den vergangenen dreißig Jahren – stellt man auf die parlamentarischen Aktivitäten als solche ab – zugenommen. Sieht man allerdings näher hin, so geht es dabei immer weniger um eine Überwachung der Exekutive im wörtlichen Sinn. Vielmehr bezwecken die entsprechenden Aktivitäten, die von den die Regierung tragenden Fraktionen ausgehen, durchweg eine parlamentarische Unterstützung der Politik der Landesregierung; die der Opposition primär das Aufzeigen öffentlichkeitswirksamer bzw. pressewirksamer Fehler der Exekutive. Das ist nunmehr genauer zu schildern. a) Da parlamentarische Kontrolle nach dem Grundgesetz und unserer Landesverfassung nicht nur ein eigenverantwortliches, vorgängiges Handeln der Regierung betrifft, sondern die grundsätzliche Befugnis beinhaltet, sich mit jedem Bereich der Landespolitik zu befassen16, so sind darunter alle nicht auf die Gesetzgebung (einschließlich der Haushaltsgesetzgebung und der Vertragsgesetze) bezogenen Zuständigkeiten des Landtages zu verstehen. Dazu zählen also selbstständige Entschließungsanträge, parlamentarische Anfragen jeder Art und die Eingabenbehandlung. In diesem Bereich ist nun eine auffallende Steigerung der parlamentrischen Aktvitäten in den vergangenen dreißig Jahren festzustellen. Die selbstständigen Entsschließungsanträge haben um fast 70 % zugenommen (75 im Jahre 1962; 128 im Jahre 1992). Bei den Anfragen und Eingaben ist ein noch stärkeres Anwachsen zu verzeichnen: Die Schriftlichen Anfragen betrugen 4 im Jahre 1962; heute sind es ca. 590 jährlich. Die Mündlichen Anfragen sind von 51 im Jahre 1962 auf heute ca. 130 geklettert. Die Zahl der Großen Anfrgen hat sich vervierfacht (4 im Jahre 1961; heute ca. 16); die der Eingaben ist von 865 im Jahre 1962 auf heute etwa 1.690 jährlich angewachsen. Auffallend ist bei ihnen, dass nunmehr allein 29 % Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer betreffen, während 1962 keine Eingabe aus diesem Bereich beraten wurde. b) Dass mit all diesen parlamentarischen Initiativen immer mehr keine echte Kontrolle im Sinne des Artikel 3 Abs. 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung ausgeübt wird, wurde gesagt. Hinzu kommt, dass heute häufig entweder bürokratische Detailfragen (greifbar auch in den verschiedenen Zu16 Dazu genauer : Janssen (Anm. 13) S. 156 ff.
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stimmungsvorbehalten des Haushaltsausschusses) oder die »große« Bundespolitik bis hin zur Außenolitik (Sudanhilfe, Kurdenhilfe) im Niedersächsischen Landtag zum Gegenstand parlamentarischer Kontrolle gemacht werden und deren eigentlichen Sinn damit in Frage stellen. Für das mangelnde Interesse des Landtages an für die Bürger Niedersachsens wirklich wichtigen Fragen auf diesem Gebiet nur ein Beispiel: Die parlamentarische Behandlung der Mittelfristigen Planung in Niedersachsen im Haushaltsausschuss und später im Plenum kann ernsthaft nicht als solche bezeichnet werden, obwohl diese Planung (und nicht die das parlamentarische Interesse erregende letzte Stellenhebung im Haushaltsplan) die entscheidenden Daten für die Entwicklung des Landes setzt. Das folgt schon aus ihrer Verbindung von Aufgaben- und Finanzplanung und der Absicht des Gesetzgebers, dass die Beratungen über den Haushalsplan sich an den Daten der Mittelfristigen Planung orientieren sollen17. Ob und inwieweit die Mittelfristige Planung allerdings wesentlicher Gegenstand fraktionsinterner Meinungsbildung ist, kann ich nicht beurteilen. 5. Die Aufgaben des einzelnen Landtagsabgeordneten außerhalb des Parlaments haben sich ebenfalls in den vergangenen dreißig Jahren gewandelt. Für seine Tätigkeit ist es zwar von Anfang an kennzeichnend gewesen, dass er – bedingt durch die weitreichenden Exekutivbefugnisse der Länder – zum Teil die Funktion eines Ombudsmannes besaß und häufig sogar die (direkten) Kontakte zwischen Regierenden und Regierten herstellte bzw. – soweit er zugleich ein kommunales Mandat wahrnahm – als Verbindungsmann »seiner« kommunalen Körperschaft zur Landesebene tätig wurde. Doch hat sich diese Aufgabe im Laufe der Jahre nicht nur durch die wachsenden Verwaltungstätigkeiten ausgeweitet, sondern die Bedingungen für ihre Erfüllung sind auch schwieriger geworden. Die Integration der Bürger in den Staat durch die politischen Parteien, denen der einzelne Abgeordnete ja angehört, gelingt seit längerem nicht mehr problemlos. Bürgerinitiativen und andere Gruppierungen, die sich häufig ad hoc aus einem konkreten Anlass wie etwa der Planung und Durchführung eines industriellen Großvorhabens bilden, sind an ihre Seite getreten. Hinzu kommt die um sich greifende allgemeine Staatsverdrossenheit vieler Bürger. Was hier an Überzeugungsarbeit vom einzelnen Abgeordneten über die unmittelbare parlamentarische Tätigkeit hinaus geleistet werden muss, ist noch gar nicht so recht in das allgemeine Bewusstsein gedrungen. Aber auch die Arbeit im Wahlkreis und die parteiinterne Auseinandersetzung um die Wiedererlangung des Mandats haben sich verändert. Mit Quotenregelungen, der Forderung nach besonderen Fachkenntnissen im Umweltbereich, Finanzbereich usw. brauchte sich der Abgeordnete in früheren Zeiten nicht in 17 Hier liegt allerdings in Niedersachsen einiges im Argen, s. dazu genauer wiederum Janssen (Anm. 13) S. 103 f. mit Anm. 70.
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gleichem Umfang auseinanderzusetzen. Und auch seine Einkommenssituation war früher weniger häufig so stark von der Wiedererlangung des Mandats abhängig.
III. Die Entwicklung des Niedersächsischen Landtages in den vergangenen dreißig Jahren wäre unzureichend geschildert, wenn man den Blick nicht auch auf die mehr ausgleichenden Kräfte im Parlamentsbetrieb richten würde. Es muss also noch ein Wort zum gewandelten Amtsverständnis des Landtagspräsidenten, den Veränderungen in der ihm untergeordneten Landtagsverwaltung und zur Arbeit des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes gesagt werden: 1. Neben den allseits bekannten, verfassungsrechtlich verbürgten Rechten des Landtagspräsidenten als Inhaber des Hausrechts und der Polizeigewalt im Sitzungsgebäude, als oberste Dienstbehörde für die Mitarbeiter der Landtagsverwaltung, als Vertreter des Landtages und Verwalter seiner gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten (Artikel 8 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung) schreibt § 6 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Landtges ihm noch die Aufgabe zu, »die Würde und die Rechte des Landtages« zu »wahren«. Hierzu gehört etwa, dass der Landtagspräsident ggf. zu der öffentlichen Diätendiskussion klärend Stellung bezieht, dass er vermittelnd in Streitigkeiten der Fraktionen untereinander auf besondere Bitte hin eingreift oder dass er die Initiative ergreift, wenn er notwendige Neuerungen im Parlamentsrecht für erforderlich hält, wie es jetzt z. B. bei der schon lange aufgeworfenen Frage nach einer vernünftigen gesetzlichen Regelung für den Fraktionsstatus und die Prüfung der Fraktionskostenzuschüsse der Fall ist. In den letzten Jahren ist der zitierte Auftrag des § 6 unserer Geschäftsordnung vom Landtagspräsidenten aber weitergehender verstanden woden. So gehört nach heutigem Amtsverständnis eine gezielte Öffentlichkeits- und Pressearbeit ebenso dazu wie das Bemühen, durch kulturelle Veranstaltungen im Leineschloss Brücken zischen den Fraktionen zu bauen und vor allem den Gedanken des Zusammenhangs zwischen Kultur und Politik in der heutigen parlamentarischen Demokratie lebendig zu erhalten. Diesen zuletzt genannten Zweck verfolgt übrigens auch die künstlerische Ausgestaltung des Landtagsgebäudes. Der Würde des Landtages und damit der der parlamentarischen Demokratie in unserem Lande dient es nach heutigem Verständnis schließlich auch, wenn sein Präsident bewusst die Kontakte zu den größeren Verbänden und anderen staatlichen Institutionen pflegt bis hin zu Gesprächen mit Delegationen ausländischer Parlamente und ausländischen Diplomaten, die Niedersachsen besuchen.
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In alledem manifestiert sich ein Amtsverständnis, das über die Rolle eines Parlamentspräsidenten im engeren Sinne hinausgeht. Diese Entwicklung ist m. E. deshalb begrüßenswert, weil ein lebendiges Staatsbewusstsein in den Bundesländern einer Integrationsfigur im geschilderten Sinne bedarf. Niedersachsen scheint mir darum insoweit auf gutem Wege zu sein. 2. Die Verwaltung ds Landtages hatte in den vergangenen Jahren auf die gewachsenen Ansprüche der Abgeordneten und Fraktionen wie auch auf die soeben geschilderten Veränderungen im Präsidentenamt zu reagieren: Der gestiegene Raumbedarf der Abgeordneten löste zunächst größere Baumaßnahmen und dann eine Verstärkung der Hausverwaltung aus. Die Umstellung der finanziellen Entschädigung der Abgeordneten auf ein umfassendes Versorgungsrecht mit diversen Nebenleistungen zog Weiterungen in dem dafür zuständigen Referat der Landtagsverwaltung nach sich. Das erhöhte Informationsbedürfnis der Abgeordneten und Fraktionen machte mit der Einführung des Landtagsinformationssystms (NILAS) und dem Anwachsen der Bibliotheksund Archivbestände u. a. natürlich auch die Einstellung entsprechender Fachkräfte erforderlich. Das Gleiche gilt für die gestiegene Zahl an Eingaben, die geschilderte Zunahme der Landtagsdrucksachen, die verstärkte parlamentarische Kontrolle und vieles mehr. Wenn es der niedersächsischen Landtagsverwaltung trotz der erhöhten Anforderungen gelungen ist, im Vergleich zu den übrigen Landtagsverwaltungen Deutschlands bezüglich der Personalstärke nach wie vor dem letzten Drittel anzugehören, so liegt das u. a. daran, dass in Niedersachsen von politischer Seite aus niemals versucht worden ist, auf Kosten der Qualität Einfluss auf die Personalpolitik der Landtagsverwaltung zu nehmen. Auch im Vergleich zu den geschilderten Steigerungsraten der Fraktionskostenzuschüsse, die ja ebenfalls von den Fraktionen primär für die Personalkosten verbraucht werden, und deren gestiegenen Raumbedarf steht die Landtagsverwaltung (einschließlich der Mitglieder und Mitarbeiter des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes!) bescheiden dar : Die Personalkosten haben sich in den vergangenen dreißig Jahren – nominell – in etwa verzehnfacht; der Raumbedarf ungefähr verdoppelt. Was die räumlichen Arbeitsbedingungen der Landtagsverwaltung angeht, so würde allerdings jede weitere Beschränkung die ordnungsgemäßige Erledigung der Dienstgeschäfte gefährden. Mit dem zur Verfügung stehenden Raum und dem Zurückdrängen der Verwaltung an die Ränder des Parlamentsgebäudes ist für die gesamte Verwaltung die Grenze der Belastbarkeit erreicht. 3. Was schließlich den Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag betrifft, so ist seine Arbeitsbelastung in den vergangenen dreißig Jahren vor allem aus zwei Gründen besonders gestiegen: Einmal haben die zu beratenden Gesetzentwürfe des Landes nicht mehr durchweg die frühere Qualität und sind weniger ausgereift, so dass heute zahlreiche Korrekturen im
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parlamentarischen Beratungsgang nachgeholt werden müssen, die in diesem Stadium der Gesetzesberatung eigentlich gar nicht mehr erforderlich sein dürften. Zum zweiten schlägt die bereits erwähnte Verrechtlichung der Politik auf die Arbeit des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes unmittelbar durch. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die in den letzten Jahren wieder gestiegene Zahl der Untersuchungsausschüsse und für die laufende Wahlperiode auf die Enquete-Kommission zur Überprüfung des niedersächsischen Kommunalverfassungsrechts sowie den Sonderausschuss »Niedersächsische Verfassung«. Denn für derartige Sonderaufgaben wurden in Niedersachsen bisher nicht, wie in anderen Bundesländern üblich, besondere Arbeitsstäbe mit zusätzlichen (neuen) Mitarbeitern gebildet. Als Glücksfall hat sich für die parlamentarische Arbeit in den vergangenen dreißig Jahren der in den »Richtlinien und Geschäftsverteilungsplan für den Gesetzgebungs- und Beratungsdienst« von 1957 festgeschriebene Rechtsstatus des Dienstes erwiesen. Denn die parteipolitische Neutralität der dem Gesetzgebungs- und Beratungsdienst angehörenden Mitglieder und die ihnen für die Ausübung ihrer Tätigkeit eingeräume Weisungsunabhängigkeit hat den Dienst gerade wegen der unter diesen Voraussetzungen geleisteten Arbeit zu einer Institution werden lassen, die bei den Abgeordneten des Landtages uneingeschränktes Vertrauen genießt. Seine fachkundige Beratungstätigkeit und ausgleichende Funktion ist inzwischen aus dem parlamentarischen Leben Niedersachsens und insbesondere aus den Gesetzesberatungen gar nicht mehr wegzudenken. Ein Blick in die Ausschussprotokolle und Ausschussberichte zu zahlreichen Gesetzen der vergangenen dreißig Jahre genügt, um die Bereicherung und Vertiefung der parlamentarischen Gesetzesberatungen durch Beiträge des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes zu erkennen. Es kann darum heute mit Fug behauptet werden, dass die notwendige starke Stellung des Parlaments gegenüber der Exekutive in den Gesetzesberatungen ohne den Gesetzgebungsund Beratungsdienst im Niedersächsischen Landtag nicht über all die Jahre erhalten geblieben wäre.
IV. Versucht man nun abschließend aufgrund der geschilderten Entwicklung des parlamentarischen Lebens im Leineschloss einen Ausblick in die Zukunft, dann kann meines Erachtens heute soviel mit Sicherheit gesagt werden: 1. Die Bundesländer müssen mehr Gesetzgebungskompetenzen und größere finanzielle Handlungsspielräume als bisher vom Bund zugestanden bekommen; als Grundlage für ihre Forderungen kann insoweit das bereits zitierte Papier der Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten dienen. Die Bundesländer
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müssen weiter in Zukunft gegenüber den Europäischen Gemeinschaften einen streng am Subsidiaritätsprinzip orientierten, thematisch abschließend festgelegten Katalog der Regelungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaften durchsetzen und daneben eine direkte Vertretung der Länerinteressen durch den Bundesrat gegenüber den europäischen Institutionen. Bleiben diese Mindestforderungen unerfüllt, so wird man künftig, wenn die unter II. geschilderte Entwicklung in gleicher Richtung weiterverläuft, die Länder als höhere Verwaltungseinheiten verstehen müssen und die Länderparlamente dementsprechend als ein vergrößertes kommunales Vertretungsorgan. Dass damit der unter I. dargelegte augenblickliche Status der Abgeordneten und Fraktionen und weiter auch derjenigen der Landtagsverwaltung unvereinbar ist, dürfte unmittelbar einleuchten. Denn niemand trägt auf Dauer unbefangen und unbemerkt vom Steuerzahler einen zu groß geschneiderten Anzug. 2. Doch fast noch beunruhigender als der fortschreitende Kompetenzverlust des Niedersächsischen Landtags sind die offenbaren Mängel im demokratischen Entscheidungssystem. Sie zeigen sich einmal in der schwindenden Effektivität parlamentarischer Kontrolle durch ständige Ausweitung entsprechender politischer Aktivitäten, und zum anderen in der Schwierigkeit der politischen Parteien und der Fraktionen im Landtag, die wirklich aktuellen Interessen der Bevölkerung Niedersachsens zu erfassen und im Parlament zur Geltung zu bringen. a) Der zuerst genannte Gesichtspunkt hängt mit der – von den Medien beförderten – Erwartung an die Abgeordneten zusammen, dass sie praktisch zu allen Lebensbereichen nicht nur Verbindliches zu sagen vermögen, sondern die aufgeworfenen Probleme auch in eine bestimmte Richtung lenken können. Das gilt unabhängig von der Ebene, auf der der einzelne Abgeordnete tätig wird. Da realiter kein Abgeordneter diesen von ihm aber durchweg akzeptierten Erwartungen gewachsen sein kann, muss zwangsläufig in der Wirklichkeit eine mehr oder weniger verdeckte Verlagerung der geforderten Entscheidungen auf andere Entscheidungsträger stattfinden oder ihre im politischen Bereich unlösbare Problematik offenbar werden. Auf diese Weise ist bei uns – vielfach konstatiert – einerseits die Abhängigkeit des Politikers von den Medien und Verbänden und andererseits von der Bürokratie eingetreten. Man hat insofern wohl nicht ganz zu unrecht von einer »Politik ohne Politiker« beziehungsweise von einem »Machtverlust durch Funktionszuwachs«18 in unserer Gegenwart gesprochen. Eine Tendenzwende ist in Zukunft insoweit auch in Niedersachsen nicht zu erwarten. Denn bei schwindenden Kompetenzen des Parlaments wird der Landtagsabgeordnete nach anderen Tätigkeitsfeldern parlamentarischer Arbeit 18 So Vesting, Erosionen staatlicher Herrschaft, AöR 117 (1992) S. 4 (34, 37).
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suchen und damit seine »Kontrolltätigkeit« im geschilderten Sinne ausweiten. Und eine Landesregierung, die vom Parlament gewählt wird und abgewählt werden kann, wird ihre Aktivitäten zu einem großen Teil statt auf die Lösung längerfristiger Aufgaben auf die von den Abgeordneten gestellten Anfragen jeder Art zu konzentrieren haben. Um die Wirksamkeit parlamentarischer Kontrolle als wesentliches Steuerungsinstrument der Politik gegenüber der Bürokratie auf Länderebene zu gewährleisten, ist eine direkt-demokratische Legitimation der Exekutive vorgeschlagen worden19. Man kann sicherlich über die Richtigkeit dieses Vorschlags streiten, nicht aber über das damit verfolgte Anliegen: der Rückgewinnung eines pluralistischen politischen Willensbildungsprozesses, der in der Parteienstaatsdemokratie unserer Tage trotz des verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsprinzips faktisch ja zu einem Monopol der politischen Parteien beziehungsweise der Fraktionen als ihrer Vertretung im Parlament geworden ist. Am Rande sei bemerkt, dass durch die vorgeschlagene Verfassungsänderung auch die Vertretung länderspezifischer (im Gegensatz zu parteispezifischen) Interessen im Bundesrat und durch diesen auch gegenüber den Europäischen Gemeinschaften besser als bisher gewährleistet wäre. b) Was das abnehmende Integrationsvermögen der Parlamente in Bund und Ländern betrifft, so liegt das in Niedersachsen – wie schon früher betont – sicherlich nicht an dem mangelnden Bemühen der einzelnen Landtagsabgeordneten, sondern primär wohl an der Verselbstständigung der Apparate und Führungsgremien in den politischen Parteien gegenüber dem Parteivolk wie der Bevölkerung überhaupt und an dem Zugriff der Parteien auf ihnen nicht zukommende Bereiche politischer Willensbildung. Der Ruf nach direkt demokratischen Korrektiven wie Volksbegehren und Volksentscheid20 oder der schon erwähnte Vorschlag einer Direktwahl der Exekutivspitze und daneben auch die hier geschilderte Schwierigkeit der Aufgabe für die Landtgsabgeordneten heute, die Verbindung zwischen Regierenden und Regieren herzustellen und zu gewährleisten21, erklären sich u.. aus dieser Entwicklung unserer parteistaatlichen Demokratie. Auch insoweit ist eine Trendwende in Zukunft nicht zu erwarten, solange an der fast ausschließlichen Orientierung von Parlament und Regierung an dem in den Parteien artikulierten politischen Willen nicht gerüttelt wird. Das aber muss auch deshalb geschehen, weil die Parteien in der Gefahr sind, durch die eingetretene Entwicklung der politischen Meinungsbildung ihre für das Funktionie19 s. dazu Oschatz, Perspektiven des Parteienstaats – Volksparteien in der Krise, 1990, S. 20. 20 Realisiert etwa nunmehr in Artikel 81 der Verfassung von Sachsen Anhalt, dem Partnerland Niedersachsens, vom 16. Juli 1992. 21 s. hier unter II 5.
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ren unserer parlamentarischen Demokratie unverzichtbare Rolle aus den Augen zu verlieren, die bekanntlich darin besteht, die politischen Führungspersönlichkeiten auszulesen und zu präsentieren sowie die auf die politische Macht und ihre Ausübung gerichteten Meinungen zu artikulierten und in gebündelter Form geltend zu machen. Weil das nicht mehr befriedigend geschieht, kann man nicht mit leichter Hand über die genannten Vorschläge zu direkt-demokratischen Korrektiven hinweggehen. Noch wichtiger scheint es mir insoweit – namentlich angesichts der von Erwin K. und Ute Scheuch vorgelegten Untersuchungen zur Verfestigung innerparteilicher Strukturen22 -, verstärkt über eine Neubelebung des Verfassungsgebots, dass die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss (Artikel 21 Abs. 1 Satz 3 des Grundgesetzes), nachzudenken, und zwar besonders im Blick auf das durchweg praktizierte innerparteiliche Verfahren der Kandidatenaufstellung für Landtags- und Bundestagswahlen u. a.23 Für die Wiedergewinnung eines pluralistischen politischen Meinungsbildungsprozesses ist es weiterhin entscheidend, dass die politischen Parteien sich stärker als bisher gemäß dem Artikel 21 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes auf die Mitwirkung bei der politischen Willensbildung beschränken. Das Grundgesetz hat insoweit selbst ja die entscheidenden Grenzen genannt. Dazu gehört einmal, dass die politischen Parteien die Eigenständigkeit der Exekutive als wesentlichen Teil des demokratischen Entscheidungsverfahrens auch in dem Sinne achten, dass diese ihre Bediensteten gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben (Artikel 3 Abs. 3 und Artikel 33 Abs. 2 des Grundgesetzes) allein nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung und nicht im Hinblick auf politische Anschauungen einstellt und fördert. Dazu gehört aber auch, dass die Einflussnahme der politischen Prteien vor allem auf die Personalpolitik der öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten nicht so weit gehen kann, dass das Recht des Bürgers auf freie politische Meinungsbildung (Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes), dem Rundfunk und Fernsehen ja (auch) zu dienen haben, gefährdet wird24. Die von den Bürgern unseres Landes und ihren Vereinigungen 22 E. und U. Scheuch; Cliquen, Klüngel und Karrieren, 1992. 23 H.-P. Schwarz hat darum – die Kritik des Ehepaars Scheuch aufnehmend – vorgeschlagen, dass als Bewerber nur genannt werden kann, wer in geheimer Briefwahl aller Mitglieder der Partei gewählt wird (s. »Die Welt« vom 2. März 1992). Ergänzend zu diesem Vorschlag würde die Ausweitung der Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens dem Wähler ein wirksames Korrektiv gegenüber der Kandidatenaufstellung durch die Parteien an die Hand geben. 24 Deutlich benannt wird diese Grenze der parteipolitischen Einflussnahme etwa von Kriele, Plädoyer für eine Journalistenkammer, ZRP 1990, S. 109 ff. und seine Replik auf S. 291 f. (292); s. dazu auch Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, S. 667 (700 f.).
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vertretene öffentliche Meinung, die ja zu einem ganz wesentlichen Teil Garant eines pluralistischen politischen Meinungsbildungsprozesses ist, wird heute nun einmal primär durch eine von den Massenmedien Funk und Fernsehen bestimmte Auswahl der Informationen bestimmt. 3. Die gegebene Prognose veranlasst also zusammengefasst zu der Forderung nach mehr Kompetenzen für die Landesparlamente und zu dem Appell an die Abgeordneten zur Konzentration auf die genuinen parlamentarischen Aufgaben des Landtages sowie an die Parteien zur Offenhaltung des politischen Prozesses und zur Anerkennung eines eigenständigen Handlungsauftrags der Exekutive, den es allerdings parlamentarisch zu kontrollieren gilt. Man kann über die Berechtigung dieser Postulate streiten; nur darf einen die angedeutete Prognose nicht unberührt lassen. Denn sie führt zwangsläufig zu der Vermutung, dass das gegenwärtige und erst recht das zukünftige parlamentarisch-demokratische Entscheidungssystem auf Bundes- und Landesebene sich nicht den längerfristigen zentralen Staatsaufgaben wie innere Sicherheit, Abbau der Staatsverschuldung, Gewährleistung einer gesunden Umwelt als gewachsen erweist. Dabei ist ergänzend zu betonen, dass uns gerade die Ökonomen immer wieder darüber belehrt haben, dass die Antwort auf die nicht zu bestreitende Ausweitung, wachsende Kompliziertheit und zunehmende Regelungsbedürftigkeit staatlicher Aufgaben in der Gegenwart nicht sofort in einer »Lösung« der damit verbundenen Detailprobleme und auch nicht auf einer staatlichen Ebene gesucht werden darf, sondern zunächst in der Gewährleistung des Wettbewerbs der Ideen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips liegt25. Der föderale Bundesstaat und damit auch der Länderparlamentarismus erscheinen so gesehen als die adäquate Antwort auf die eigentlichen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Allerdings wird man sich nach dem Rückblick auf die dreißigjährige Parlamentsgeschichte im Leineschloss diesem Urteil kaum anschließen können, wenn die hier besonders unter II. geschilderte Entwicklung des Niedersächsischen Landtags in Zukunft ungehemmt in der gleichen Richtung weiterläuft.
25 s. zuletzt B. Wehner, Die Katastrophen der Demokratie, 1992. Dabei ist ausdrücklich zu betonen, dass Wehner nicht wie andere Ökonomen (etwa Wolfram Engels und Herbert Giersch) auf diese Prämisse die Forderung nach einem starken föderalen Bundesstaat stützt. Die Ökonomen übersehen allerdings durchweg alle, dass über die Notwendigkeit, zur Gewährleistung eines solchen Wettbewerbs von staatlicher Seite einzuschreiten, und die Art des Einschreitens nur ein in öffentlichen Ämtern tätiger, unabhängiger Personenkreis entscheiden kann, der einer effektiven politischen (parlamentarischen) Kontrolle untersteht.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Anlage In dem auf das Jahr 1963 folgenden Zeitraum von etwa zwei Jahrzehnten gingen ständig mehr Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund über, und auch der Spielraum der Landesparlamente für finanzpolitisch bedeutsame Entscheidungen wurde mehrfach eingeengt. Dies macht die folgende Übersicht über Änderungen des Grundgesetzes deutlich, die eine Verlagerung von Kompetenzen auf den Bund bewirkten. 1. Durch das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Grundgegsetzes vom 16. 6. 1965 (BGBl. I S. 513) wurde Art. 74 GG um eine neue Nr. 10a erweitert. Dadurch erhielt der Bund die Gesetzgebungskompetenz außer für Kriegsgräber auch für Gräber anderer Opfer des Krieges und von Opfern der Gewaltherrschaft. 2. Durch das Fünfzehnte Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8. 6. 1967 (BGBl. I S. 581) wurde Art. 109 GG dahin geändert, dass der Bundesgesetzgeber zur Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in die Haushaltswirtschaft der Länder eingreifen kann. 3. Durch das Siebzehnte Änderungsgesetz vom 24. 6. 1968 (BGBl. I, S. 709) wurde ein neuer Art. 115c in das Grundgesetz eingefügt. Danach hat der Bund für den Verteidigungsfall das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung auch auf allen Sachgebieten, die sonst ausschließlich zur Gesetzgebung der Länder gehören. 4. Durch das Zwanzigste Änderungsgesetz vom 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 357) wurde der Bund ermächtigt, Grundsätze für das Haushaltsrecht nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder aufzustellen (neue Fassung des Art. 109 Abs. 3). 5. Durch das Einundzwanzigste Änderungsgesetz (»Finanzreformgesetz«) vom 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 359), wurden die sog. Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a und 91b) eingeführt, die auf den betroffenen Gebieten (Hochschulbau, regionale Wirtschaftsförderung, Agrarförderung und Küstenschutz) die Budgethoheit der Landesparlamente stark beschränken. Das Finanzreformgesetz beschnitt die Budgethoheit der Landesparlamente durch den neu eingefügten Artikel 104 a Abs. 3 und 4 gleich noch einmal: Mit Geldleistungsgesetzen im Sinne des Absatzes 3 nimmt der Bund ebenso die Haushaltsentscheidungen der Landesparlamente vorweg, wie dies durch Gewährung von Finanzhilfen im Sinne des Absatzes 4 geschieht, die ja eine Eigenbeteiligung der Länder voraussetzen. 6. Durch das Zweiundzwanzigste Änderungsgesetz vom 12. 5. 1969 (BGBl. I S. 363) wurden die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes wie folgt erweitert: konkurrierende Kompetenz für Ausbildungsbeihilfen (Art. 74 Nr. 13), wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und Krankenhaus-
6. Der Landtag im Leineschloss
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pflegesätze (Art. 74 neue Nr. 19a) und Straßenbenutzungsgebühr (Art. 74 Nr. 22). Außerdem erhielt der Bund die Rahmenkompetenz für allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Nr. 1a) sowie auf dem Gebiet des Besoldungsrechts (Art. 75 neue Absätze 2 und 3). 7. Durch das Siebenundzwanzigste Änderungsgesetz vom 31. 7. 1970 (BGBl. I S. 1161) wurden auch andere als die wissenschaftlichen Hochschulen in die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 einbezogen. 8. Durch das Achtundzwanzigste Änderungsgesetz vom 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 206) wurde in das Grundgesetz ein Art. 74a eingefügt, durch den der Bund statt der bisherigen Rahmenkompetenz die konkurrierende Kompetenz für eine Vollgesetzgebung über Besoldung und Versorgung im öffentlichen Dienst erhielt. 9. Durch das Neunundzwanzigste Änderungsgesetz vom 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 207) wurde Art. 74 Nr. 20 GG dahin geändert, dass der Bund die konkurrierende Gesetzgebung auch für den Tierschutz erhielt. 10. Durch das Dreißigste Änderungsgesetz vom 12. 4. 1972 (BGBl. I S. 593) wurde Art. 74 um eine neue Nr. 24 erweitert. Durch diese erhielt der Bund die konkurrierende Gesetzgebung für die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung. 11. Durch das Einunddreißigste Änderungsgesetz vom 28. 7. 1972 (BGBl. I S. 1305) wurde Art. 73 Nr. 10 – Kompetenzen des Bundes auf Gebieten der Kriminalpolizei und des Verfassungsschutzes – erweitert. Außerdem erhielt der Bund die konkurrierende Kompetenz für das Waffenrecht (Art. 74 neue Nr. 4a). 12. Durch das Vierunddreißigste Änderungsgesetz vom 23. 8. 1976 (BGBl. I S. 283) erhielt der Bund die konkurrierende Kompetenz auch noch für das Sprengstoffrecht (erweiterte Fassung des Art. 74 Nr. 4a). Kompetenzverluste für die Länder ergaben sich auch noch durch folgende Vorgänge: Durch das Bundesberggesetz vom 13. 8. 1980 (BGBl. I S. 1310) verdrängte der Bund die Länder aus einem wichtigen Bereich des Wirtschaftsrechts (Art. 74 Nr. 11). Mit dem Grunderwerbsteuergesetz vom 17. 12. 1982 (BGBl. I S. 1777) verloren die Länder nahezu den letzten Bereich für eine eigene Steuergesetzgebung.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Thesen I. Der Status des einzelnen Landtagsabgeordneten und die Ausstattung der Landtagsfraktionen haben in Niedersachsen folgende Entwicklung durchgemacht: 1. Namentlich unter Berufung auf das Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 ist die verfassungsrechtlich geforderte »Entschädigung« des Abgeordneten auch in diesem Bundesland in einen Anspruch auf »Vollalimentierung« umgedeutet worden. Im Blick auf die gesetzliche Ausformung dieses Anspruchs ist besonders die im Vergleich zu den Abgeordneten der anderen Landesparlamente und den übrigen öffentlichen Versorgungssystemen üppige Alterversorgung der niedersächsischen Landtagsabgeordneten hervorzuheben. 2. Die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten im Landtag haben sich in dem behandelten Zeitraum ständig verbessert. Das gilt sowohl für ihre räumliche Unterbringung wie für die ihnen gebotenen Informationsmöglichkeiten. 3. Für die Fraktionen als den für ihre Parlamentsarbeit maßgeblichen Verbindungen der einzelnen Abgeordneten aus derselben Partei ist in der Vergangenheit ein ständig wachsender Raumbedarf im Landtag festzustellen und ebenfalls ein starker Anstieg der an sie gezahlten staatlichen Zuschüsse, und zwar um ca. das Dreiunddreißigfache in den vergangenen dreißig Jahren. Das geschieht bisher ohne eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Landes. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch auf den gesetzlich geregelten Anspruch der Parteien – deren verlängerter Arm im Parlament ja die Fraktionen sind – auf Wahlkampfkostenerstattung hinzuweisen. Er hat sich in den vergangenen dreiundzwanzig Jahren mehr als verdreifacht.
II. Im Blick auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Landtags sowie seine Kompetenzen lassen sich folgende Veränderungen feststellen: 1. Was die Zusammensetzung des Landtags betrifft, so fällt besonders auf, dass die im öffentlichen Dienst beschäftigten Abgeordneten sich im Berichtszeitraum mehr als verdoppelt haben (62 % gegenüber früheren 29 %). Für die Arbeitsweise des Landtags ist vor allem die verstärkte Verlagerung der politischen Meinungsbildung vom Parlament und seinen Ausschüssen in die Fraktionen erwähnenswert. Im Ergebnis findet deshalb heute in den Debatten des Landtags und den Beratungen seiner Ausschüsse kaum noch eine wirkliche Auseinandersetzung über politische Grundsatzfragen statt; vielmehr geht es
6. Der Landtag im Leineschloss
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dort primär um die Artikulation der vorher in den Fraktionen beschlossenen Standpunkte. 2. Der massive Rückgang der Gesetzgebungskompetenzen des Landtags in den vergangenen Jahren hat kaum zu einem Rückgang in der Zahl der von ihm zu beratenden Gesetzentwürfe geführt. Auffallend abgenommen hat aber die Bereitschaft der Abgeordneten zu einer gründlichen Gesetzesberatung. Auch insoweit spielt die schon die Ausschussberatungen prägende fraktionsinterne Vorabstimmung eine immer größere Rolle. 3. Für die weitere Einengung der finanziellen Handlungsspielräume des Landes ist neben den einschlägigen Änderungen des Grundgesetzes (Art. 91 a, 91 b, 104 a GG) vor allem der ständige Anstieg der Schuldzinsen, den die wachsende Kreditaufnahme des Landes auslöste, ursächlich. 4. Die dem Landtag obliegende Kontrolle des Regierungshandelns hat – stellt man auf die parlamentarischen Aktivitäten als solche (Entschließungen, Anfrage, Eingaben u. a.) ab – erheblich zugenommen. Es geht dabei allerdings kaum noch um einer wirkliche Überwachung der Exekutive im eigentlichen Sinn. Vielmehr bezwecken die entsprechenden Aktivitäten, die von den die Regierung tragenden Fraktionen ausgehen, durchweg eine Unterstützung der Politik der Landesregierung; die der Opposition primär das Aufzeigen öffentlichkeitswirksamer bzw. medienwirksamer Fehler der Exekutive. Im Übrigen fällt insoweit auf, dass sich die so praktizierte parlamentarische Kontrolle im Schwerpunkt entweder mit bürokratischen Detailfragen oder Problemen der Bundespolitik bis hin zur Außenpolitik befasst, kaum aber mit zentralen Fragen der Landespolitik. 5. Außerhalb des Parlaments haben sich die Aufgaben des einzelnen Abgeordneten ebenfalls stark gewandelt. Bedingt durch die weit reichenden Exekutivbefugnisse des Landes und die zunehmenden Proteste von Bürgerinitiativen und anderen Gruppierungen gegen die Landespolitik hat er immer mehr die Funktion eines Ombudsmannes in seinem Wahlkreis angenommen, der häufig auch die (direkten) Kontakte zwischen Regierenden und Regierten herstellt bzw. – so weit er zugleich ein kommunales Mandat wahrnimmt – als Verbindungsmann »seiner« kommunalen Körperschaft zur Landesebene tätig wird.
III. Veränderungen sind auch im Amtsverständnis des Landtagspräsidenten und der ihm untergeordneten Landtagsverwaltung zu beobachten: Was den Wandel im Amtsverständnis des Landtagspräsidenten betrifft, so gehören nach heutiger Auffassung neben seinen überkommenen verfassungsrechtlich verbürgten Rechten (Sitzungsleitung, Inhaber des Hausrechts und der
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Polizeigewalt im Sitzungsgebäude, oberste Dienstbehörde für die Mitarbeiter der Landtagsverwaltung u. a.) auch zu seinen Aufgaben die dauenden Gespräche mit den Medien und großen Verbänden des Landes, Initiativen zu Kontakten zwischen Kultur und Politik und die Pflege des Landesbewusstseins. Die dem Landtagspräsidenten unterstellte Landtagsverwaltung hat sich zwangsläufig in Reaktion auf den gesteigerten Raum- und Informationsbedarf der einzelnen Abgeordneten und ihrer Fraktionen vergrößert. Als Glücksfall für die parlamentarische Arbeit erweist sich nach wie vor der nach seinen Richtlinien zu parteipolitischer Neutralität verpflichtete Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag. Seine Arbeitsbelastung hat in den vergangenen Jahren besonders wegen der abnehmenden Qualität der Gesetzentwürfe des Landes erheblich zugenommen.
IV. Die geschilderte Entwicklung des niedersächsischen Landtags hat die Mängel im demokratischen Entscheidungssystem des Landes deutlich werden lassen. Sie zeigen sich einmal in der schwindenden Effektivität der parlamentarischen Kontrolle und zum anderen in der Schwierigkeit der politischen Parteien (und Landtagsfraktionen), die wirklich längerfristigen Interessen der Bevölkerung Niedersachsens zu erfassen und im Parlament zur Geltung zu bringen. Eine Tendenzwende ist in Zukunft so lange nicht zu erwarten, wie an der fast ausschließlichen Orientierung von Parlament und Regierung an dem in den Parteien artikulierten politischen Willen nicht gerüttelt wird.
7.
Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
Gewöhnlich wird die entscheidende Entwicklung der deutschen Landesparlamente vor allem in einem kontinuierlichen Rückgang ihrer Gesetzgebungskompetenzen und der fortschreitenden Einengung ihrer finanziellen Handlungsspielräume gesehen und dabei zugleich ein Machtzuwachs der Landesregierungen im Hinblick auf ihre deutlich zugenommenen Zustimmungsrechte zu Bundesgesetzen und anderen bundespolitischen Maßnahmen im Bundesrat festgestellt. Diese Beobachtung ist sicher richtig1, aber sie erklärt m. E. nicht hinreichend die eigentliche heutige Krise des Landesparlamentarismus in Niedersachsen. Diese ist vielmehr – das ist die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen – in dem mangelnden Willen der niedersächsischen Landtagesabgeordneten zu sehen, auf den augenscheinlichen Bedeutungsverlust des Landesparlaments mit notwendigen Reformen angemessen zu reagieren. Es ist diese mangelnde Bereitschaft der niedersächsischen Landtagesabgeordneten, sich auf die veränderten Verhältnisse wirklich einzulassen, die mich nachdenklich stimmt; zumal doch nicht zu übersehen ist, dass die Öffentlichkeit und die Medien inzwischen (auch) deshalb so empfindlich auf Meldungen über Diätenerhöhungen, (Auslands-)reisen von Landtagesausschüssen oder dem Landtagespräsidium u. a. reagieren, weil sie den Eindruck haben, dass derartige Dinge geschehen, obwohl das Landesparlament heute nur noch wenige, für die niedersächsische Bevölkerung wesentliche Entscheidungen zu treffen hat. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben, scheint mir, (im Gegensatz zu den Landtagesabgeordneten) längst begriffen, dass der angesprochene Reformbedarf besteht und diese Aufgabe vom Landtag deshalb zu allererst zu lösen ist. Im Folgenden geht es mir darum, die Entwicklung des niedersächsischen Landesparlamentarismus unter diesem Aspekt genauer zu schildern (I.), den 1 Im Blick auf die seit 1951 eingetretenen einschlägigen Änderungen des Grundgesetzes vermag das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 08. 2006 (BGBl.I S. 2863) die allgemeine Richtigkeit dieser Feststellung nicht zu widerlegen. Zusammenfassend zu diesem Gesetz: Ulrich Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, S. 930 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
allgemeinen historisch-politischen Kontext, in dem die Reformaufgabe steht, aufzuzeigen (II.) und schließlich noch danach zu fragen, ob und inwiefern sogar eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit für bestimmte Reformen gegeben ist (III.). Dabei liegt – das sei vorab klargestellt – den folgenden Überlegungen die Überzeugung zugrunde, dass Landtage mit sinnvollen politischen Aufgaben nach wie vor einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Kultur in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland zu leisten vermögen.
I.
Die tatsächliche Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
Blickt man auf die tatsächliche Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen, so drängt sich die allgemeine Feststellung auf, dass zwischen dem verfassungsrechtlichen Auftrag des Landtages einerseits und dem, was sich in der Verfassungswirklichkeit in den vergangenen Jahrzehnten in Niedersachsen vollzogen hat, eine tiefe Kluft besteht. Das ist jetzt zunächst zu schildern (1. und 2.), um dann noch einen kurzen Blick auf die Veränderungen zu werfen, die sich im Entschädigungsrecht der Landtagesabgeordneten vollzogen haben, und auf die daraus resultierenden Folgen für ihren Status (3.).
1.
Die Entwicklung der Gesetzgebung
Von den drei Aufgaben des Niedersächsischen Landtages, die Artikel 7 der Niedersächsischen Verfassung (NV) nennt – Gesetzgebung (einschließlich Haushaltsgesetzgebung), Kontrolle von Regierung und Verwaltung und schließlich Beteiligung an der Regierungsbildung – wird die Gesetzgebung durchweg immer noch als seine wichtigste angesehen. Ich will darum auf die Entwicklung der Gesetzgebung im Niedersächsischen Landtag zuerst eingehen. a) Insofern muss zunächst auf den dramatischen Verlust der Gesetzgebungskompetenzen aller Landtage in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangen Jahren hingewiesen werden, der durch Abwanderung eines großen Teils dieser Kompetenzen auf den Bund und die Europäische Union bedingt ist. Das ist vielfach in detaillierten Untersuchungen nachgewiesen und die Ursachen dafür benannt worden2. Ich will das hier nicht alles noch einmal wiederholen. 2 Ich bin darauf in folgenden Arbeiten eingegangen und habe dort auch Reformvorschläge zur Verbesserung dieser Situation gemacht: Albert Janssen, Der Landtag im Leineschloß. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Rückblicke – Ausblicke. FS aus Anlaß des 30. Jahrestages des Einzuges des Niedersächsischen Landtages in das hannoversche Leineschloß
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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Nur auf einen Punkt möchte ich in diesem Zusammenhang besonders eingehen, weil er in den Klagen der deutschen Landesparlamente über den substanziellen Verlust an Gesetzgebungskompetenzen gern übersehen wird und zugleich das mangelnde parlamentarische Bewusstsein der Landtagesabgeordneten belegt. So schicksalhaft, wie diese beklagte Entwicklung immer dargestellt wird, war sie nämlich für die Länder und ihre Parlamente gar nicht, wie sich aus folgender Überlegung ergibt: Zunächst ist zu beachten, dass die Landesregierungen im Bundesrat mit den notwendigen Mehrheiten den entsprechenden Grundgesetzänderungen zugestimmt haben. Das wiederum konnten sie allerdings deshalb umso leichter tun, weil ihnen im Gegenzug zu diesen Kompetenzverlusten häufig ein Machtzuwachs durch erweiterte Zustimmungsrechte des Bundesrates zur Bundesgesetzgebung beschert wurde3. Sieht man aus diesem Grund die Landesparlamente als die eigentlichen Verlierer bei der Abwanderung der Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund an, so ist das formal gesehen zwar richtig; berücksichtigt aber zu wenig die politische Wirklichkeit. Denn die jeweilige parlamentarische Mehrheit in den einzelnen Bundesländern hätte zwar nicht rechtlich, wohl aber durch entsprechenden politischen Druck auf »ihre« Landesregierung deren Abstimmungsverhalten im Bundesrat i. S. der parlamentarischen Interessen auf Landesebene lenken können. Im Übrigen war es den Landesparlamenten durch das Grundgesetz ja auch nicht verboten, die den Ländern zustehenden Gesetzgebungskompetenzen in ihren Verfassungen ausdrücklich positiv zu benennen, was dann ja den Landesregierungen im Bundesrat die Zustimmung zum Verzicht auf Gesetzgebungskompetenzen der Länder zugunsten des Bundes ohne eine entsprechende vorherige Änderung der jeweiligen Landesverfassung durch die Landtage unmöglich gemacht hätte. Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass gemäß dem seit fast vierzehn Jahren neu gefassten Artikel 23 GG die Länder der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union über den Bundesrat zustimmen am 11. September 1992 (Heft 19 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages), 1992, S. 15 (21 ff., 38 ff.); ders., Wege aus der Krise des deutschen Bundesstaates. Anmerkungen zu einer notwendigen Reform des Grundgesetzes, in: Stärkung des Föderalismus (Sonderheft 2000 der Zeitschrift für Gesetzgebung), S. 41 (42 ff., 45 ff.); ders., Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union (Band 15 der Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht), 2001, S. 59 (64 ff.); ders., Einführung zum Thema: Rückverlagerung von Gesetzgebungskompetenzen und Bundesstaatsreform, in: Föderalismusreform – Ziele und Wege (Heft 2 der Schriftenreihe des Schleswig-Holsteinischen Landtages), 2003, S. 100 (103 ff.); ders., Referat zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und der Entscheidungsfindung des Bundesrates, in: Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, Band II/1, 2004, S. 9 (11 ff., 27 ff.). 3 Sehr plastisch dazu: Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, 2.Aufl. 2002, S. 85 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
müssen (Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 GG), der durch Artikel 79 Abs. 3 GG gewährte Schutz des Kernbereichs ihrer Gesetzgebungskompetenzen auch gegenüber der Europäischen Union greift und ihnen darüber hinaus wesentliche Mitwirkungsrechte an der europäischen Rechtssetzung eingeräumt sind (Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG). So gesehen, kann man im Ergebnis schwerlich von einer für die Länder und ihre Parlamente unbeeinflussbaren, schicksalhaften Entwicklung sprechen, die zu dem erwähnten substanziellen Verlust ihrer Gesetzgebungskompetenzen geführt hat. Erstaunlich ist nun aber, dass der bedenkliche Rückgang der Gesetzgebungskompetenzen in den vergangenen Jahren nicht zu einem Rückgang in der Zahl der zu beratenden Gesetzentwürfe im Niedersächsischen Landtag geführt hat. Das erklärt sich einmal damit, dass die Novellierungen bestehender Gesetze zugenommen haben, und zum anderen mit dem Versuch des Landtages, immer neue, bisher ungeregelte Bereiche staatlicher Politik durch gesetzliche Regelung parlamentarisch mit zu beeinflussen. Da im letzteren Fall vom Gesetzgeber häufig unter Verabschiedung des klassischen abstrakt-generellen Gesetzesbegriffs lediglich Grundsätze und Leitlinien für das Handeln der Exekutive aufgestellt wurden, kann mit Fug bezweifelt werden, ob derartige politische Proklamationen in Gesetzesform eine tatsächliche Bindungswirkung erzielt haben4. b) Auch im vom Niedersächsischen Landtag praktizierten Gesetzgebungsverfahren ist es im Laufe der Jahre zu erheblichen Veränderungen gekommen. Die wichtigste scheint mir darin zu liegen, dass viele Gesetze zunehmend ohne eine hinreichend sorgfältige parlamentarische Beratung vom Landtag verabschiedet werden. Solche überhasteten Gesetzgebungsverfahren haben nun aber in mehrfacher Hinsicht unerfreuliche Folgen für die demokratische Legitimation der betreffenden Gesetze. Es fehlt bei ihnen zunächst an einer gründlichen Ausschussberatung, in der ja gerade auch für die Opposition die Chance besteht, in nichtöffentlicher Sitzung argumentativ auf den behandelten Gesetzentwurf einzuwirken5. Ein den wesentlichen Inhalt der Ausschussberatungen genauer wiedergebender Ausschussbericht kann in diesen Fällen gewöhnlich auch nicht rechtzeitig vor der zweiten parlamentarischen Beratung des Gesetzentwurfes erstellt und damit auch nicht vom Berichterstatter in der erforderlichen gründlichen Form vor dem Landtag abgegeben werden. Auf diese Weise geht ein 4 Zu einem besonders anschaulichen negativen Beispiel aus älterer Zeit für diese Gesetzgebungspraxis, dem niedersächsischen Mittelstandsförderungsgesetz, s. Albert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts. Untersuchungen zu den demokratischen und grundrechtlichen Schranken der gesetzgeberischen Befugnisse, 1990, S. 251 ff. 5 Damit wäre es allerdings dann vorbei, wenn die Ausschüsse öffentlich tagen würden. Das schlägt etwa die »Enquete-Kommission zur künftigen Arbeit des Niedersächsischen Landtages am Beginn des 21. Jahrhunderts« einstimmig (bei zwei Stimmenthaltungen) in ihrem Bericht von 2002 (Heft 49 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages), S. 36 vor.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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wesentlicher Teil der parlamentarisch-demokratischen Legitimation des Gesetzes deshalb verloren, weil der Landtag durch den Ausschussbericht ja mit dem Ergebnis der Beratungen konfrontiert wird, die ein Teil seiner Mitglieder in seinem Auftrag durchgeführt hat. Der Ausschussbericht hält also für die beratenden Ausschüsse wie für das Parlament als Ganzes ein »zurechenbares« Ergebnis auch bezüglich der gesetzgeberischen Motive fest, von dem sich zu distanzieren die zweite und dritte Lesung des Gesetzes im Plenum die Möglichkeit böte – eben diese Möglichkeit wird vom Landtag bewusst häufig heute nicht mehr wahrgenommen. Die treibende Kraft, die hinter solcher überhasteten Gesetzgebung steht, ist ganz offensichtlich durchweg die Landesregierung. Und die Regierungsfraktionen agieren in den parlamentarischen Beratungen derartiger Gesetze häufig nur noch als Vollstrecker ihres Willens6. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass zunehmend etwa seit 2001 aus Gründen der »Zeitersparnis« fertig ausgearbeitete Gesetzentwürfe der Landesregierung den Regierungsfraktionen im Landtag zugeleitet werden, damit diese sie als eigene Fraktionsentwürfe ins Parlament einbringen. Die angesprochene »Zeitersparnis« liegt dann für die Landesregierung darin, dass sie sich auf diesem »Umweg« von den sich selbst gesetzten oder ihr vom Landtag durch eine Entschließung aufgegebenen Regeln für gute Gesetzgebung wie: Gesetzesfolgenabschätzung, Verbandsbeteiligung, Mitzeichnung aller vom Gesetzentwurf betroffenen Ministerien befreit7. Doch darin erschöpfen sich nicht die Möglichkeiten einer »verdeckte(n) Verlagerung von Gesetzentwürfen auf die Regierungsfraktionen«. In den Gesetzesberatungen des hiesigen Parlaments lässt sich nämlich auch noch eine auffällige »Veränderung in den Regelungsgegenständen der Haushaltsbegleitgesetze« beobachten und daneben eine Zunahme des im Prinzip »nicht neuen ›Aufpfropf-Effekts‹, mit dessen Hilfe selbstständige Gesetzgebungsverfahren eingespart« werden8. Zu diesen Praktiken ist von kundiger Seite bemerkt worden: »Die Entwicklung der niedersächsischen Haushaltsbegleitgesetze seit 1995 lässt erstens erkennen, dass an die Stelle von Abweichungsmaßgaben für das betreffende 6 So Peter Blum (bis Ende 2006 Mitglied des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag), Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle (Gutachten I zum 65. Deutschen Juristentag), 2004, S. 119, auf S. 120 spricht er unter Benutzung eines Zitats vom »rituellen Vollzugsakt« des Parlaments in diesen Fällen. 7 Genauer hierzu Udo Winkelmann (ebenfalls Mitglied des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag), in: Janssen/Winkelmann, Die Entwicklung des niedersächsischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts in den Jahren 1990 – 2002, JöR NF 51 (2003), S. 302 (329 ff.) und Blum, Gutachten (Anm. 6), S. 55 ff., 82 f. 8 So richtig Blum, Gutachten (Anm. 6), S. 83.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Haushaltsjahr seit 1997 zunehmend Gesetzesänderungen mit Dauerwirkung treten. Zweitens nehmen diese Gesetze trotz ihrer in eine andere Richtung weisende Überschrift mehr und mehr ›sonstige‹ Bestimmungen ohne wesentliche haushaltsmäßige Auswirkungen auf. Drittens gewinnen diese Gesetzentwürfe im Landtag noch erheblich an Umfang, indem zusätzliche und völlig neue Regelungsgegenstände auf Fraktionsanträge hin einbezogen (›aufgepfropft‹) werden. Den Wendepunkt für die letztgenannten Entwicklungen bildet jeweils das Haushaltsbegleitgesetz 1999. Das ›Aufpfropfen‹ von Regelungsgegenständen zeigt sich auch außerhalb der Haushaltsbegleitgesetze, wobei die nachträglich ins parlamentarische Verfahren eingebrachten Änderungen den ursprünglichen Entwurfsumfang durchaus deutlich überschreiten können. Rechtspolitisch sind diese Entwicklungen bedenklich, denn sie führen in aller Regel zumindest zu einer Verkürzung und einer anderen Strukturierung des parlamentarischen Beratungsverfahrens, bei den Haushaltsbegleitgesetzen vor allem dadurch, dass der eigentliche Fachausschuss nicht die ›Federführung‹ für das Haushaltsbegleitgesetz hat, was sich nicht nur auf einzelne Verfahrensschritte, sondern auch auf das Beratungsergebnis auswirkt«9.
Zusammenfassend lässt sich m. E. nun diese »verdeckte Verlagerung von Gesetzentwürfen auf die Regierungsfraktionen« dahingehend charakterisieren, dass auf diese Weise – horribile dictu! – die vom Volk gewählten Abgeordneten der Regierungsfraktionen zu »Erfüllungsgehilfen« der im Grunde ja vom Parlament abhängigen Landesregierung degradiert werden10. Die geschilderte überhastete Gesetzesberatung des Landtages ist schließlich auch deshalb so problematisch, weil die Qualität der namentlich von der Landesregierung zu verantwortenden Gesetzentwürfe in den letzten Jahren in einem geradezu erschreckenden Maße abgenommen hat. Ich habe in den zehn Jahren meiner Mitgliedschaft im Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag und auch in den folgenden vierzehn Jahren als Landtagesdirektor praktisch jeden eingebrachten Gesetzentwurf und vor allem die vom Gesetzgebungs- und Beratungsdienst dazu gemachten Formulierungsvorschläge zur Verbesserung der Gesetzesqualität hinreichend genau studiert, um mir ein solches Urteil erlauben zu können. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen nicht nur in Organisationsmängeln der Landesregierung, sondern auch 9 So wiederum Blum, Gutachten (Anm. 6), S. 83 f. 10 Dass selbst der Niedersächsische Staatsgerichtshof bisweilen die Motive der Landesregierung für einen Gesetzentwurf mit denen des Landesgesetzgebers gleichsetzt, zeigt deutlich ein »Fragenkatalog«, den er zur Vorbereitung auf die erste mündliche Verhandlung über das Kreisreformgesetz von 1977 (Nds. GVBl. S. 233) unter dem 26. Juni 1978 und 4. Juli 1978 der Landesregierung zusandte. Darin wird nämlich die Landesregierung u. a. um Aufklärung darüber gebeten, von welchen Tatsachen und »Erwägungen« bzw. »Wertungen« der Gesetzgeber bei seinen Entscheidungen ausgegangen sei, ob er bestimmte Dinge »bedacht« habe, welche Umstände für seine Entscheidung »bedeutsam« gewesen seien, ob sie stärker »beurteilt« worden seien als andere, ob der Gesetzgeber davon »ausgegangen« sei, dass bestimmte Folgen durch die Kreisreform eintreten würden etc.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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und vor allem in einer problematischen Personalpolitik des Landes bei der Besetzung von bürokratischen Spitzenämtern. Darauf werde ich in anderem Zusammenhang (2. c) noch zu sprechen kommen. Dass insgesamt gesehen auch das vom Niedersächsischen Landtag praktizierte Gesetzgebungsverfahren für das verfassungsrechtliche Gebot einer stärkeren Trennung von Legislative und Exekutive spricht, wird ebenfalls später (6.) noch genauer zu begründen sein. c) Neben dem Kompetenzverlust des Landtages im Bereich der Gesetzgebung und dem Qualitätsverlust des parlamentarischen Beratungsverfahrens ist schließlich noch ein erheblicher Verlust an politischer Substanz des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens im Laufe der Jahre eingetreten. Auch dafür gibt es mehrere Gründe: Zunächst muss man als Ursache für diese Entwicklung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nennen. Seine Urteile enthalten ja häufig weit über den konkreten Streitgegenstand hinausgehende allgemeine verfassungsrechtliche Ausführungen und haben gerade dadurch die Gesetzesberatungen im Niedersächsischen Landtag in der Vergangenheit stark beeinflusst. So beschränkten sich – um ein gravierendes Beispiel zu nennen – die parlamentarischen Beratungen zum Niedersächsischen Meldegesetz, Passgesetz, Statistikgesetz u. a. in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und wenig später auch die Diskussionen im Landtag über verschiedene Novellen zum allgemeinen Polizeigesetz mehr oder weniger auf eine »politische« Diskussion über die richtige Auslegung des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts11. Und ganz entsprechend charakterisierte ein Kollege aus dem Gesetzgebungsund Beratungsdienst vor vielen Jahren einmal den wesentlichen Inhalt der Ausschussberatungen über das Landesrundfunkgesetz als eine Auseinandersetzung über die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 GG – er sprach insoweit sehr bildlich von einer »Kaffeesatzleserei« in den beratenden Ausschüssen. Neben dem Verlust an politischer Substanz der Gesetzesberatungen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der etwa auch in der Hochschulgesetzgebung des Landes deutlich zu beobachten ist, wurde und wird die niedersächsische Landesgesetzgebung häufig inhaltlich wesentlich vorgeprägt durch die zwischen den Länderexekutiven auf Referentenebene ausgehandelten sog. Mustergesetzentwürfe. Auch hier ist der Druck der Landesregierung auf die Regierungsfraktionen, in den parlamentarischen Beratungen dem Mustergesetzentwurf entsprechende Lösungen (kritiklos) zu vertreten, nicht unerheb11 BVerfGE 65, 1 ff.; s. dazu auch die Diskussionsveranstaltung im Niedersächsischen Landtag vom 8. Mai 1999: Bundesverfassungsgericht und Bundesländer. Zum 50-jährigen Bestehen des Grundgesetzes (Heft 36 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages), 1999, S. 34 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
lich12. Daneben lässt sich in Niedersachsen noch nicht das auf Bundesebene bekannte »Auspaktieren von Gesetzesinhalten durch Exekutive und Interessengruppen«13 als wirklich gravierende Entwicklung konstatieren. Umso beachtlicher ist aber weiter für die Landesgesetzgebung ihre zunehmende inhaltliche Vorprägung durch das im Einzelfall oft sehr konkrete (und nicht selten schwammige) europäische Recht14. Die bisherige starke inhaltliche Einengung der Landesgesetzgebung durch die Rahmengesetzgebung des Bundes und dessen extensive Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen gehört dagegen nun wohl mehr oder weniger deshalb der Vergangenheit an, weil die Rahmengesetzgebung durch die vom Bundestag beschlossene Föderalismusreform abgeschafft wurde15 und der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 72 Abs. 2 GG jetzt endlich strengere Grenzen gesetzt sind16. Was schließlich die parlamentarischen Beratungen über das Haushaltsgesetz und den Haushaltsplan betrifft, so besitzen diese Beratungen im Niedersächsischen Landtag keine eigenständige politische Bedeutung mehr. Das ist die zwangsläufige Folge des Umstandes, dass im Landeshaushalt schon seit Jahrzehnten praktisch nur noch Mittel veranschlagt werden, die durch andere gesetzliche oder vertragliche Regelungen gebunden sind.
12 Dieser Eindruck beruht auf persönlichen Erfahrungen von mir während meiner zehnjährigen Tätigkeit im Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag. Weniger kritisch insoweit dagegen Blum, Gutachten (Anm. 6), S. 116. Zu den grundsätzlichen Bedenken gegen Mustergesetzentwürfe s. auch Enquete-Kommission (Anm. 5), S. 22 f. 13 So Martin Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 9 (15); dazu auch Albert Janssen, Die zunehmende Privatisierung des Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen, ZBR 2003, S. 113 (123 ff.) und Blum, Gutachten (Anm. 6), S. 117 ff. Für diese bedenkliche Form der inhaltlichen Vorprägung gibt es allerdings auch ein besonders gravierendes, die Landesgesetzgebung betreffendes Beispiel aus dem europäischen Bereich. Danach hatten die deutschen Landtage eine zwischen dem für Wettbewerb verantwortlichen Mitglied der Europäischen Kommission, dem Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, den Finanzministern der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und dem Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes abgeschlossene »Verständigung über Anstaltslast und Gewährsträgerhaftung« unverändert in die einschlägigen Landesgesetze zu übernehmen, dazu genauer und mit Recht kritisch Enquete-Kommission (Anm. 5), S. 15 f. Anm. 13. 14 Dazu Janssen, Referat Deutscher Juristentag (Anm. 2), S. 11 f.; Enquete-Kommission (Anm. 5), S. 15 f. 15 Siehe dazu 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Anm. 1),Artikel 1 Nr. 8. 16 BVerfGE 106, 62 (104 ff., bes. 132 ff.); 110, 141 (174 ff.); 111, 10 (28 ff.) und: 226 (252 ff.); 112, 226 (243 ff.); 113, 167 (197 ff.).
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
2.
207
Die Entwicklung der parlamentarischen Kontrolle
Da parlamentarische Kontrolle nach dem Grundgesetz und der Niedersächsischen Verfassung nicht nur ein eigenverantwortliches vorgängiges Handeln der Regierung betrifft, sondern die grundsätzliche Befugnis beinhaltet, sich mit jedem Tätigkeitsbereich der Landesregierung zu befassen17, sind darunter alle nicht auf die Gesetzgebung (einschließlich der Haushaltsgesetzgebung und der Vertragsgesetze) bezogenen Zuständigkeiten des Landtages zu verstehen. Dazu zählen also selbstständige Entschließungsanträge, parlamentarische Anfragen jeder Art, die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und die Eingabenbehandlung. a) Was die Entwicklung in diesem Bereich nun konkret betrifft18, so ist eine auffallende Steigerung der parlamentarischen Aktivitäten in den vergangenen Jahren festzustellen. Dabei wurden immer häufiger entweder bürokratische Detailfragen (greifbar auch in den verschiedenen Zustimmungsvorbehalten des Haushaltsausschusses) oder die »große« Bundespolitik bis hin zur Außenpolitik (Sudanhilfe, Kurdenhilfe) sowie europäische Themen im Niedersächsischen Landtag zum Gegenstand parlamentarischer Kontrolle gemacht und deren eigentlicher Sinn damit in Frage gestellt. Für das mangelnde Interesse des Landtages an für die Bürger Niedersachsens wirklich wichtigen Fragen auf diesem Gebiet nur ein Beispiel: Die bisherige parlamentarische Behandlung der Mittelfristigen Planung in Niedersachsen im Haushaltsausschuss und später im Plenum kann ernsthaft nicht als solche bezeichnet werden, obwohl diese Planung die entscheidenden Daten für die Entwicklung des Landes setzt. Das folgt schon aus ihrer Verbindung von Aufgaben- und Finanzplanung und der Absicht des Gesetzgebers, dass die Beratungen über den Haushaltsplan sich an den Daten der Mittelfristigen Planung orientieren sollen19. Der Landtag selbst hat nun in der Vergangenheit durchaus gewisse Defizite in der von ihm ausgeübten Kontrolle erkannt. Die vom Landesparlament aus diesem Grund angedachten und zum Teil auch durchgeführten Reformen20 zeigen dann aber, dass es damit primär die Rechte der parlamentarischen Opposition, nicht aber die des Parlaments als solchem gegenüber der Regierung 17 Dazu genauer Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 4), S. 156 ff. Allerdings kann nicht jeder Bereich der Exekutive mit gleicher Intensität parlamentarisch kontrolliert werden. Das zeigen schon die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Kontrollrechte nach Artikel 24 Abs. 2 und 3 und Artikel 27 Abs. 4 NV. 18 Zum Folgenden bereits Janssen, Landtag im Leineschloss (Anm. 2), S. 25 ff. mit statistischen Angaben. 19 Hier liegt allerdings in Niedersachsen bis heute einiges im Argen, s. dazu schon Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 4), S. 103 f. 20 Siehe dazu zusammenfassend: Enquete-Kommission (Anm. 5), S. 30 ff. 47 ff. (bes. 54 ff.), 74 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
stärken wollte21. So gingen besonders die Beratungen im ausschließlich von Landtagesabgeordneten besetzten Verfassungsausschuss, der für die Ausarbeitung der neuen niedersächsischen Verfassung zuständig war, ganz offensichtlich davon aus, dass die parlamentarische Kontrolle der Regierung primär der Opposition zukommt und deren Status aus diesem Grund verfassungsrechtlich gestärkt werden müsse22. Es ist so gesehen auch konsequent, dass die beiden bisher vom Niedersächsischen Staatsgerichtshof zu Artikel 24 NV ergangenen Entscheidungen, der ja mit dem Auskunftsrecht und Akteneinsichtsrecht wichtige parlamentarische Kontrollrechte regelt, auf Antrag der Opposition im Niedersächsischen Landtag ergingen23. Auch in der parlamentarischen Praxis wurden die Kontrollrechte des Landtages ganz überwiegend von der Opposition wahrgenommen, wobei es ihr dabei primär um das Aufzeigen öffentlichkeitswirksamer bzw. pressewirksamer Fehler der Exekutive ging. Die (seltenen) Aktivitäten der Regierungsfraktionen zielten insoweit durchweg auf eine parlamentarische Unterstützung der Politik der Landesregierung. Eine wirkliche parlamentarische Kontrolle i. S. der »Überwachung« der Exekutive (so Artikel 7 NV) im wörtlichen Sinne durch den ganzen Landtag hat dagegen in all den Jahren kaum stattgefunden. Diese Feststellung gilt auch für die parlamentarische Kontrolle durch die zahlreichen vom Landtag eingesetzten Untersuchungsausschüsse. b) Eine entscheidende Schwächung der parlamentarischen Kontrollrechte des Niedersächsischen Landtages ist durch die unter dem Stichwort »Budgetierung« durchgeführten Reformen des niedersächsischen Haushaltsrechts24 und die fortschreitende Zersplitterung der Landesverwaltung eingetreten. Dabei hat die Zersplitterung der Landesverwaltung wohl mit der Ende 2004 vom Landtag beschlossenen Verwaltungsreform, die u. a. die Auflösung der Bezirksregierungen als typischer Bündelungsbehörden in der Fläche nach sich zog, ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht25. Eine Beeinträchtigung der parlamentarischen 21 Zur verfassungsrechtlichen Aufgabe der Kontrolle der Exekutive durch das gesamte Parlament nach wie vor besonders klar: Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen. Ein Beitrag zur rechtlichen Analyse von gerichtlichen, parlamentarischen und Rechnungshof-Kontrollen, 1984, S. 128 ff. 22 Dazu Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 308 ff., auch S. 314 f. 23 Dazu Janssen, a. a. O., S. 315 mit Nachweisen. 24 Dazu Enquete-Kommission (Anm. 5), S. 47 ff. (bes. 54 ff.). Zum damit verbundenen »Paradigmenwechsel« im Verständnis der staatlichen Verwaltung: Janssen, Privatisierung (Anm. 13), S. 119 ff. 25 Zu den entsprechenden Tendenzen vor der letzten Verwaltungsreform: Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 318 ff. und Hermann Reffken, Verwaltungsreform in Niedersachsen – Eine Zwischenbilanz, NdsVBl. 2003, S. 313 ff. Zur letzten bedeutenden niedersächsischen Verwaltungsreform, die vor allem mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung vom 5. November 2004 (Nds. GVBl. S. 394) realisiert wurde, mit insoweit berechtigter (und kaum widerlegbarer) Kritik: Reffken, NdsVBl. 2006, S. 177 ff. Aus dieser zuletzt genannten Reform
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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Kontrolle ist mit dieser zuletzt genannten Entwicklung deshalb verbunden, weil die bereits aus dem Demokratieprinzip als solchem folgende und im parlamentarischen Regierungssystem besonders ausgeprägte politische Verantwortlichkeit der Regierung ihren Sinn verliert, wenn die Regierung durch fortschreitende Verselbstständigung von Verwaltungseinheiten und Schwächung ihrer verfassungsrechtlich gebotenen Aufsicht über die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften (Artikel 57 Abs. 5 NV) u. a. ernsthaft gar nicht mehr für ihr Handeln parlamentarisch verantwortlich gemacht werden kann26. Hinzu kommt – wie gesagt -, dass der Landtag durch die beschlossenen Haushaltsreformen vielfältige Möglichkeiten parlamentarischer Steuerung des Regierungshandelns verloren hat27. c) Nicht nur von einer Schwächung der parlamentarischen Kontrolle, sondern von der faktischen Beseitigung ihrer Grundlage muss man sprechen, wenn man die in diesem Land seit Jahrzehnten praktizierte Ämterpatronage durch die politischen Parteien, die klaren verfassungsrechtlichen Bestimmungen widerspricht (Artikel 3 Abs. 3, 33 Abs. 2 GG; Artikel 3 Abs. 3 NV) ins Auge fasst. Sie betrifft vor allem die Spitzenpositionen in den Ministerien des Landes und zum Teil auch schon im Niedersächsischen Landesrechnungshof. Diese Entwicklung ist – wie ausdrücklich zu betonen ist – auch für andere Bundesländer und den Bund beobachtet worden28. Ich kann insoweit allerdings nur etwas über die hier einschlägigen niedersächsischen Verhältnisse aufgrund über dreißigjähriger ergibt sich mit Notwendigkeit auch zur Gewährleistung einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle die Forderung nach einer Reform der niedersächsischen Landesregierung und die nach einer Kreisreform in Niedersachsen, dazu hier unter 4. b). 26 Der für eine wirksame parlamentarische Kontrolle konstitutive Zusammenhang zwischen Demokratieprinzip und hierarchischer Verwaltung ist mehrfach betont worden, bes. klar : Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat. Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, 1991, S. 129 ff., auch 141 ff.; Görg Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992, S. 377 ff. 27 Interessant ist im Blick auf die geschilderte Beeinträchtigung der parlamentarischen Kontrolle auch, dass in den Beratungen zur neuen Niedersächsischen Verfassung vom Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag die Aufnahme einer Bestimmung in die Verfassung vorgeschlagen wurde, die besonders die Übertragung staatlicher Aufgaben (und deren Erfüllung) auf juristische Personen des Privatrechts oder Einzelpersonen an Voraussetzungen knüpfte, die die prinzipielle Verantwortung der Regierung für das entsprechende Verwaltungshandeln und – daraus folgend – eben eine wirksame parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns sicherstellen sollte (der Text dieser vorgeschlagenen Bestimmung und die dafür gegebene Begründung findet sich bei Janssen, Privatisierung [Anm. 13], S. 130 Anm. 150). Die Notwendigkeit einer solchen Regelung hat dann aber der vom Landtag mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftrage Verfassungsausschuss (wie auch später der Landtag selbst) verneint, obwohl die fortschreitende Zersplitterung der niedersächsischen Landesverwaltung mit ihren negativen Auswirkungen auf die Möglichkeit einer parlamentarischen Kontrolle schon damals allseits bekannt war (s. dazu Janssen, Entwicklung [Anm. 7], S. 305 f.). 28 Dazu mit Nachweisen Janssen, Privatisierung (Anm. 13), S. 124.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Einblicke in die praktische Personalpolitik des Landes sagen, wobei für mich insoweit auch die regelmäßige Teilnahme an den Sitzungen des Haushaltsausschusses in der Zeit von 1990 bis 2004 sehr aufschlussreich war. Da nun auf diese Weise nicht nur auf Seiten der Legislative, sondern auch an wichtigen Stellen der Exekutive Entscheidungen von einem Personenkreis getroffen werden, der seine politische bzw. berufliche Karriere zu einem wesentlichen Teil seiner Parteimitgliedschaft verdankt29, besteht auf beiden Seiten kein großes Interesse an einer wirklichen parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Oder anders gesagt: Da in Niedersachsen die für das parlamentarisch-demokratische System des Grundgesetzes und der niedersächsischen Landesverfassung konstitutive Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive in hohem Maße nicht mehr besteht, entfällt eine wesentliche Grundlage für eine wirksame parlamentarische Kontrolle des Niedersächsischen Landtages. Erwähnt werden muss auch hier wieder (s. schon Anm. 27), dass der Landtag sich zu keiner Zeit mit dieser für die Wirksamkeit seiner parlamentarische Kontrolle problematischen Entwicklung des öffentlichen Dienstes gründlich beschäftigt hat, obwohl die parteipolitische Ämterpatronage augenscheinlich trotz der genannten entgegenstehenden Regelungen des Grundgesetzes und der Niedersächsischen Verfassung selbstläufig (und immer noch steigerungsfähig) ist. Es ist darum auch nicht zu erwarten, dass das Landesparlament die durch die Föderalismusreform den Ländern zugesprochene Kompetenz zur (weitgehenden) eigenen Regelung ihres Beamtenrechts30 in der Absicht nutzt, die parteipolitische Ämterpatronage durch entsprechende verfassungsrechtliche (oder gesetzliche) Regelungen einzudämmen31. 29 Ob die so geförderten Spitzenbürokraten ihre verfassungsrechtlichen Pflichten nach Artikel 60 Satz 2 NV stets ordnungsgemäß wahrnehmen, kann nach meinen Erfahrungen trotz des von ihnen geleisteten Verfassungseids mit Fug bezweifelt werden. 30 Das ergibt sich aus dem Wortlaut des neuen Artikel 74 Abs. 1 Nr. 27 GG. Im Übrigen bedürfen vom Bund aufgrund des genannten Artikels geschaffene gesetzliche Regelungen der Zustimmung des Bundesrates, d. h. der Landtag kann (wenn er denn will) auf das Abstimmungsverhalten der Landesregierung im Bundesrat, wenn es um beamtenrechtliche Regelungen des Bundes geht, zumindest politisch einwirken. 31 Eine diese Entwicklung wirklich beendende Regelung könnte allerdings wohl nur der Bund schaffen, und zwar durch das verfassungsrechtliche Gebot für den Beamten mit Eintritt in den öffentlichen Dienst seine Parteimitgliedschaft – sofern eine solche besteht – ruhen zu lassen. Gerade die durch die parteimitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten bedingte faktische Abhängigkeit des betroffenen Beamten ist es ja, die zwar von den Parteien um ihrer wirksamen Einflussnahme auf die Verwaltung willen erwünscht ist; die aber dem eigenständigen Auftrag der Verwaltung zur sachgemäßen, objektiven Konkretisierung des öffentlichen Interesses widerspricht. Der parteilich gebundene, nicht aber der durchaus verfassungsrechtlich gewollte politisch denkende Beamte wäre durch diese Reformmaßnahme ausgeschlossen, was sicherlich die vom Gewaltenteilungsprinzip intendierte (s. dazu hier unter 6.) Eigenständigkeit der Exekutive gegenüber dem Parlament stärken und gerade deshalb auch eine wirksame parlamentarische Kontrolle ermöglichen würde. Der Nieder-
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
3.
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Die Entwicklung des Landtagesabgeordneten zum Berufsparlamentarier durch Änderungen seines Entschädigungsrechts
Von den bereits von anderer Seite geschilderten Ereignissen im Januar und Februar 1976 abgesehen, als sich in der laufenden Wahlperiode ein so vorher nicht geplanter Regierungswechsel von der Regierung Kubel zu der Regierung Albrecht vollzog32, kann über die Beteiligung des Niedersächsischen Landtages an der Regierungsbildung nichts für unser Thema wirklich Relevantes berichtet werden. Ich schließe deshalb meinen Überblick über die Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen ab mit einigen Bemerkungen zu den Veränderungen, die sich im Entschädigungsrecht der Landtagesabgeordneten vollzogen haben, und den daraus resultierenden Folgen für ihren Status. a) Allgemein lässt sich zu den Veränderungen des Entschädigungsrechts sagen, dass sich die Abgeordnetenentschädigung (einschließlich der finanziellen Leistungen an die Fraktionen und der aufgewendeten Mittel für die Arbeitsbedingungen der einzelnen Abgeordneten und der Fraktionen) trotz der im Laufe der Jahre stark abgenommenen Bedeutung des Landtages auf einem solch hohen Niveau eingependelt hat, das in früheren Jahren, als der Landtag weitaus wichtigere Aufgaben zu erledigen hatte, undenkbar war. Die große Wende ist insoweit mit dem niedersächsischen Abgeordnetengesetz vom 3. 2. 197833 eingetreten. Der Inhalt dieses Gesetzes wiederum wurde wesentlich mitbestimmt durch das bekannte Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts von 197534. Denn dort hat unser höchstes Gericht zum ersten Mal die These entwickelt, dass die in Artikel 48 Abs. 3 GG (ebenso Art. 13 Abs. 3 NV) geregelte »Entschädigung« des Abgeordneten als eine Alimentation verstanden werden müsse, weil sie als Entgelt für eine inzwischen in Bund und Ländern durchweg hauptberufliche parlamentarische Tätigkeit gezahlt werde. Da die damit geforderte Vollalimentierung der Abgeordneten sich nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts35 deshalb nicht nur an dem dem einzelnen Abgeordneten durch seine Mandatstätigkeit tatsächlich entstandenen »Schaden« orientieren darf, ist mit diesem Urteil der bisher wohl einmalige Fall eingetreten, dass die das Merkmal der »Entschädigung« nicht berücksichtigende und daher un-
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sächsische Landtag könnte ohne weiteres durch eine Entschließung die Landesregierung auffordern, eine entsprechende Initiative im Bundesrat zu versuchen. Siehe dazu den zuverlässigen Bericht von Werner Pöls, Regierungswechsel in Hannover. Die Ereignisse im Niedersächsischen Landtag vom 14. Januar bis 16. Februar 1976 (Heft 2 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages) 1977. Nds. GVBl., S. 101. BVerGE 4O, 296 ff. BVerfGE 40, 296 (317 f.).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
richtige Interpretation von Artikel 48 Abs. 3 GG Parlamentsgeschichte geschrieben hat36. Die vom Bundesverfassungsgericht eröffnete Möglichkeit einer Neugestaltung des Abgeordnetenrechts ist vom Niedersächsischen Landtag auch in den Jahren nach Erlass des Abgeordnetengesetzes von 1978 in der Weise genutzt worden, dass die Diäten der Abgeordneten, die staatlichen Zuschüsse an die Fraktionen und auch die Arbeitsbedingungen für die Abgeordneten und Fraktionen im Landtag ständig verbessert wurden. Eine vorsichtige Trendwende ist insoweit erst ab ca. 1995 zu beobachten. Es wäre eine eigene Abhandlung wert, die mühsame Geschichte dieser Trendwende, die ich im Einzelnen miterlebt habe, genauer zu schildern37. Doch für unseren Zusammenhang ist die Feststellung viel wichtiger, dass sich auch in Niedersachsen trotz der schwindenden politischen Bedeutung des Landesparlaments viele Landtagesabgeordnete aufgrund dieser neuen Regelungen zu Berufspolitikern entwickelt haben. Genau das wiederum hat zu einer Bürokratisierung der Politik geführt und – was noch schlimmer ist – zu einer wirtschaftlichen Abhängigkeit vieler Abgeordneten von ihrem Mandat. b) Die eingetretene wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Landtagesabgeordneten von ihrem Mandat zieht natürlich für diesen Personenkreis zwangsläufig eine besondere Abhängigkeit von ihrer Fraktion und Partei nach sich. Sie geht inzwischen auch in Niedersachsen zum Teil so weit, dass die verfassungsrechtliche Regelung über das freie Mandat der Landtagesabgeordneten (Artikel 12 NV) praktisch nur noch auf dem Papier steht. Der ehemalige Direktor des Thüringer Landtages, der die entsprechenden Verhältnisse im dortigen Parlament nun wirklich aus eigener Anschauung kennt, hat diese (neue) Abhängigkeit der (Landtages-)Abgeordneten kürzlich wie folgt beschrieben38 : »Ergänzend soll auf folgende negative Auswirkungen des Trends zum reinen Berufsabgeordneten verwiesen werden. Da der Mandatsverlust für ihn in aller Regel … einen finanziellen und gesellschaftlichen Abstieg zur Folge hat, ist sein politisches Wirken in hohem Maße auch auf die eigene Existenzsicherung durch eine erneute, gut abgesicherte Nominierung bei der nächsten Wahl ausgerichtet; darunter leidet die Gemeinwohlorientierung seines politischen Handelns. Daher ›klebt‹ er an seinem Man36 Wie eine am Begriff der »Entschädigung« anknüpfende, verfassungsrechtlich einwandfreie Regelung für die Abgeordnetenentschädigung aussehen könnte, schildert Lothar Determann, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Entschädigung von Abgeordneten, BayVBl. 1997,S. 385 ff. 37 Kurz dazu Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 314. 38 Leserbrief in der FAZ vom 28. August 2006. Übrigens ist es aus dieser Situation heraus besonders verständlich, dass manche Landtagsabgeordneten der jeweiligen Regierungsfraktion langfristig einen Posten in der Landesverwaltung (oder gar Landesregierung) anstreben, was die (unkritische) Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung natürlich noch befördert.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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dat, behindert die Nachwuchsförderung aus Konkurrenzangst, knüpft durch Multifunktionen und diffizile Formen von Ämterpatronage ›Seilschaften‹, vermeidet Risiken und scheut damit Offenheit und Innovationen… Schließlich führt der Kampf um den Erhalt des eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status zu einem FeindFreund-Denken in der Politik und damit zu Verlusten an politischer Kultur …. Eine repräsentative Demokratie kann aber nur funktionieren, wenn die Bürger darauf vertrauen können, dass ihre Abgeordneten im Interesse des Volkes… und damit nicht eigen-, sondern gemeinnützig handeln.«
Diesen Feststellungen kann man – was die niedersächsischen Verhältnisse betrifft – nach meinen Erfahrungen vielleicht nicht in dieser Schärfe, wohl aber in der Tendenz zustimmen. c) Ergänzend muss zum Status des niedersächsischen Landtagesabgeordneten aber noch darauf hingewiesen werden, dass die Aufgabe, die der einzelne Abgeordnete außerhalb des Parlaments als quasi Ombudsmann für die Bewohner seines Wahlkreises wahrnimmt, nach wie vor Bedeutung besitzt. Er stellt häufig auch die notwendigen direkten Kontakte zwischen Regierenden und Regierten her bzw. wird er – soweit er zugleich ein kommunales Mandat wahrnimmt – als Verbindungsmann »seiner« kommunalen Körperschaft zur Landesebene tätig. Insoweit leisten die Landtagesabgeordneten auch heute noch einen ganz wesentlichen Beitrag zur Integration der Bürger in den Staat, die trotz der um sich greifenden allgemeinen Politikverdrossenheit und der Tatsache immer noch gelingt, dass die politischen Parteien als solche, denen der einzelne Abgeordnete ja ebenfalls angehört, insoweit ganz augenscheinlich versagen und daneben Bürgerinitiativen und andere Gruppierungen, die sich häufig ad hoc aus einem konkreten Anlass bilden, an ihre Seite getreten sind. d) Erstaunlich ist nun aber wiederum die mangelnde Reformbereitschaft des niedersächsischen Landesparlaments angesichts der Tatsache, dass die heutige Abgeordnetenentschädigung und die damit häufig verbundene Entwicklung des niedersächsischen Landtagesabgeordneten zum Berufspolitiker im augenscheinlichen Gegensatz zu dem unter 1. und 2. geschilderten Kompetenzverlust des Niedersächsischen Landtages steht. Diese Verweigerungshaltung könnte nach meinem Eindruck allerdings schon bald in der Öffentlichkeit zu Forderungen nach Reformmaßnahmen führen, die dann voraussichtlich noch weit über das wünschenswerte Ziel, zu einem zeitgemäßen Abgeordnetenstatus und einer zeitgemäßen Struktur der parlamentarischen Arbeit in Niedersachsen zu kommen, hinausschießen. Als Beleg für die Berechtigung dieser Vermutung sei abschließend noch einmal aus der Stellungnahme des ehemaligen Direktors beim Thüringer Landtag zitiert, der insoweit – sicherlich nicht ganz grundlos – folgende Reformüberlegungen zur Diskussion stellt39 : 39 Wie Anm. 38.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
»Sollte man aber nicht für Landtagesabgeordnete … den Teilzeit- oder sogar den ehrenamtlichen Abgeordneten anstreben? Diese Trendumkehr könnte entscheidend dadurch gefördert werden, dass man die Diäten mit allen daran hängenden vermögenswirksamen Leistungen erheblich senkt und damit eine berufliche Tätigkeit neben dem Mandat faktisch erzwingt. Ein derartiger Schritt muss allerdings mit einer Parlamentsreform verbunden werden, um wieder zu ›Feierabendparlamenten‹ gelangen zu können. Die zeitliche Inanspruchnahme von Landtagesabgeordneten durch ihr Mandat ließe das durchaus zu, da die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Landesparlamente durch die Hochzonung von Aufgaben auf den Bund und die EU sowie durch die vielfältigen Mischfinanzierungen permanent verringert wurden und durch die Föderalismusreform entgegen der öffentlich geäußerten Euphorie der ›Jahrhundertreformer‹ nicht grundlegend und nachhaltig verbessert worden sind. Die Landtage müssten sich nur auf die landesspezifischen Themen konzentrieren und die reine Kommunal- und Bundespolitik (bis hin zu kompetenzrechtlich geradezu aberwitzigen Resolutionen z. B. zum Krieg im Irak) von der Tagesordnung verbannen, die in den Plenarsitzungen im Durchschnitt etwa 30 Prozent und in den Ausschüssen weit über 50 Prozent der Parlamentsarbeit ausmachen. Außerdem muss sich der Staat nicht in alle möglichen gesellschaftspolitischen Bereiche hineindrängen, sondern sollte das in Sonntagsreden soviel beschworene Subsidiaritätsprinzip auch im konkreten politischen Handeln respektieren. Die Voraussetzungen für den grundsätzlich berufstätigen Abgeordneten (mit Ausnahmen für besondere Funktionsträger in den Fraktionen im Hinblick auf deren erhebliche Belastungen) ließen sich also schaffen, und die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement ist in Deutschland auch immer noch in beeindruckendem Maße vorhanden. … Doch die Einführung von Teilzeit- oder sogar ehrenamtlichen Abgeordneten müssten die derzeitigen Abgeordneten selbst durch entsprechende gesetzliche Regelungen beschließen – und da klemmt die Säge. Wer will schon an den gewachsenen Besitzständen, in denen man sich recht gut eingerichtet hat, etwas ändern?«
II.
Der historisch-politische Kontext der Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
Nicht nur der Niedersächsische Landtag hat im Laufe der Jahre aufgrund seiner schwindenden politischen Bedeutung weitgehend seinen Parlamentscharakter verloren und ähnelt darum immer mehr einer kommunalen Vertretungskörperschaft, sondern auch die Landesregierung übt heute dementsprechend überwiegend Verwaltungstätigkeiten aus. Deshalb lässt sich für Niedersachsen (wie wohl auch für die anderen Bundesländer) ein »Wegfall der Geschäftsgrundlage« für das parlamentarische Regierungssystem feststellen. Darauf ist zunächst einzugehen (4.), um dann die notwendigen Folgerungen für den Status des Landes aus diesem Umstand zu ziehen (5.).
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
4.
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Der »Wegfall der Geschäftsgrundlage« für das parlamentarische Regierungssystem in Niedersachsen
a) Durch den starken Rückgang der Gesetzgebungskompetenzen des Landtages zugunsten des Bundes und der Europäischen Union hat natürlich auch die politische Bedeutung der Entscheidungen, die der niedersächsischen Landesregierung noch auf Landesebene verblieben sind, erheblich abgenommen. Ihre Entscheidungsspielräume werden daneben durch die ständig wachsende Zahl von einschlägigen bundesrechtlichen und europäischen Vorschriften zusätzlich eingeengt. Nicht nur für das Landesparlament, sondern auch für die Landesregierung gilt deshalb die Feststellung, dass sie mit Ausnahme der Wissenschafts-, Schul- und Kulturpolitik sowie der Verwaltungsorganisation des Landes (einschließlich des öffentlichen Dienstes) kaum noch eine »Rechtsmacht zu kategorialen Entscheidungen« besitzt. Die meisten der Kompetenzen, die die Landesregierung heute noch inne hat, lassen sich nur noch als »final determinierte Entscheidungskompetenzen« und damit lediglich als Verwaltungskompetenzen verstehen40. Der »politische« Entscheidungsspielraum, der ihr damit im Wesentlichen bleibt, besteht folglich darin, dass ihre Entscheidungen »ohne Verletzung des geltenden Rechts auch anders hätten ausfallen können«41. Sie ähneln also stark den verwaltungspolitischen Entscheidungen der (kommunalen) Selbstverwaltungskörperschaften42. Diese Entwicklung und die unter I. geschilderte des Landesparlamentarismus zusammengenommen legen m. E. nun den Schluss nahe, dass das parlamentarische Regierungssystem, welches ja von einem wirklichen Regierungshandeln 40 Die im Text getroffene Unterscheidung findet sich bei Günther Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz 1986, S. 29 Anm. 50. Genauer dazu heißt es dort: »Gesetzgebungskompetenzen und Regierungskompetenzen sind gleichermaßen dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht heteronom final determiniert sind, also die Rechtsmacht zu kategorischen Entscheidungen geben. Sie unterscheiden sich voneinander dadurch, dass die Gesetzgebung eine Kompetenz zu kategorischen gemeinverbindlichen Regelungen darstellt, während die Regierungskompetenzen keine Kompetenzen zu gemeinverbindlichen Regelungen sind und sich mit dieser Maßgabe in einer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit von Formen und Inhalten niederschlagen können. Verwaltungskompetenzen sind final determinierte Entscheidungskompetenzen, die sich ebenfalls in einer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit von Formen und Inhalten konkretisieren, insbesondere auch Kompetenzen zu final determinierten gemeinverbindlichen Regelungen (z. B. Polizeiverordnungen) sein können.« Ausführlicher geht Günther Barbey auf die Unterscheidung des Textes in seiner bis heute ungedruckten Habilitationsschrift: Gesetzesdelegation und Gesetz. Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 694 ff., 710 ff., 973 ff. ein. Diese Arbeit ist in den Jahren 1966 – 69 entstanden, wie der Hinweis auf S. 30 Anm. 78 beweist; ein Exemplar befindet sich im Archiv der Universität Münster. 41 So Walter Schmidt, Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts, 1982, S. 244 f. 42 Zu entsprechenden Tendenzen, die sich schon seit Jahren in der niedersächsischen Ministerialverwaltung abzeichnen: Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 317.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
und substanziellen parlamentarischen Gesetzgebungskompetenzen ausgeht und deshalb das partielle Zusammenwirken von erster und zweiter Gewalt bejaht, in der Verfassungswirklichkeit des Landes Niedersachsen keine Grundlage (mehr) besitzt43. b) Hat nun aber die Landesregierung inzwischen weitgehend den Charakter einer obersten Verwaltungsbehörde angenommen (und wird sich diese Entwicklung mit Sicherheit durch die fortschreitende europäische Integration noch verstärken), so muss sie auch eine dementsprechende durchsichtige Organisation besitzen, die ihre parlamentarische Verantwortlichkeit sicherstellt. Auch um einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle willen ist darum m. E. heute vor allem zu fragen, ob für eine oberste Verwaltungsbehörde denn noch das Ressortprinzip (Artikel 37 NV) passt44. Aus dem gleichen Grund muss nach Wegfall der Bezirksregierungen in Niedersachsen weiter danach gefragt werden, welche Verwaltungsebene denn die für eine wirksame parlamentarische Kontrolle unverzichtbare Bündelung der Verwaltungsaufgaben in der Fläche sicherstellt. Da die niedersächsischen Landkreise das wegen ihrer gegenwärtigen Größe und 43 Davon ging schon sehr früh für das (zukünftige) Land Baden-Württemberg auch Theodor Eschenburg mit ganz ähnlicher Begründung aus: Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaates, 1952, S. 42 f., 59 ff. 44 Diese Frage hätte sich vor allem die Landesregierung zu stellen, nachdem der Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung am 4. März 2003 vor dem Landtag erklärt hat (Plenarprotokoll, S. 28): »Und die Treppe wird am besten von oben gefegt, d. h. auch oben muss gespart werden und nicht nur bei den Leuten, bei denen man Arbeitsgerichte anrufen muss.« Die Notwendigkeit, für die Länder das Ressortprinzip abzuschaffen, ist schon vor Jahren betont und dabei folgende Lösung des Problems vorgeschlagen worden. Es »ließe sich der Wegfall der Landesministerien mit einem einfachen und sparsamen organisatorischen Aufbau der Landesregierungen verbinden. An die Stelle der Landesminister würden einfache Landesämter für die jeweiligen Aufgaben treten. An der Spitze der Landesämter könnten politische Beamte im rechtlichen Sinne stehen, die des Vertrauens des Ministerpräsidenten, von diesem ernannt, bedürften. Auf diese Weise würde eine ganz kostenaufwendige Ebene der Landesminister mit den diesbezüglichen Stäben vom Landtagsreferat bis zum Persönlichen Referenten eingespart werden. Zu Leitern der Landesämter sollten erfahrene Spitzenbeamte, aber durchaus auch befähigte Politiker ernannt werden… Weitere politische Beamte im rechtlichen Sinne (Staatssekretäre etc.) wären dann nicht notwendig. Dies würde zu einer erheblichen Vereinfachung und Kosteneinsparung auf Länderebene führen, zumal gerade im Ministerialbereich der Personal- und Kostenanstieg überproportional war … Um dem Wortlaut des Artikel 51 Abs. 1 GG (»der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder«) formal Rechnung zu tragen, könnte man die Leiter der Landesämter als Regierungsmitglieder bezeichnen, deren Schicksal mit dem des (vom Volk gewählten) Regierungschefs verknüpft sein sollte. Diese Überlegungen gelten natürlich nur für die Landesebene. An der Beibehaltung des parlamentarischen Regierungssystems im Bund sollte kein Zweifel bestehen«, so der ehemalige Direktor beim Niedersächsischen Landtag Hans-Horst Giesing, Kritische Fragen zum Föderalismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für »gute« und bürgernahe Politik?, 1999, S. 75 (86); zustimmend zu diesem Vorschlag: Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 3), S. 159 f.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
217
Organisationsstruktur wohl kaum zu leisten vermögen, kommt man also nicht nur aus Gründen der Verwaltungseffizienz, sondern eben auch unter dem Aspekt der parlamentarischen Kontrolle nicht um die Frage einer Kreisreform in Niedersachsen herum45.
5.
Die gewandelte »Staatlichkeit« des Landes Niedersachsen
Kann man aber in Niedersachsen gegenwärtig nicht mehr von einer überwiegenden parlamentarischen Tätigkeit des Landtages und der Erledigung von Regierungsaufgaben als typischer Tätigkeit der Landesregierung sprechen, so lässt sich diese Entwicklung zusammenfassend auch dahingehend kennzeichnen, dass das Land Niedersachsen heute als ein »autonomer Verwaltungskörper« (Werner Weber) zu verstehen ist46. Eine entsprechende Entwicklung haben mehr oder weniger ausgeprägt alle deutschen Bundesländer durchgemacht. Dass sie eine gewisse verfassungsgeschichtliche Zwangsläufigkeit besitzt, zeigt folgender Gedankengang: a) Von dem Historiker Reinhart Koselleck ist richtig bemerkt worden, dass die »langfristigen Strukturen der deutschen Geschichte« bis 1871 »nie national, sondern immer schon föderal ausgerichtet waren.« Und ergänzend hat er dazu ausgeführt:
45 Man hätte dabei an eine Kreisreform zu denken, die sich beim Neuzuschnitt der niedersächsischen Landkreise etwa an den vor der niedersächsischen Verwaltungs- und Gebietsreform von 1977 bestehenden Regierungsbezirken orientieren könnte (im gedanklichen Ansatz ähnlich Jürgen Poeschel, Zum verfassungspolitischen Problem der Region. Eine staatstheoretische Skizze und ihre Anwendung auf Niedersachsen und seine Verwaltungsreform, DÖV 2004, S. 421 ff.), und daneben an eine Änderung der Kreisverfassung, die auf eine (teilweise) »Verstaatlichung« der Kreisebene hinauslaufen müsste. Auch dafür gibt es ja bereits entsprechende Vorschläge in der Literatur (m. E. besonders überzeugend dazu nach wie vor: Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen. Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsrefom, Bd. 1, 1969, S. 195 ff.). Übrigens ist der Vorschlag, bei Abschaffung der Bezirksregierungen größere Landkreise als »Ersatz« zu schaffen, nicht so neu, wie es scheinen mag. So stellt Eschenburg bereits 1952 für die Verwaltungsorganisation im (künftigen) Land Baden-Württemberg fest (Verwaltungsaufbau [Anm. 43], S. 31): »Es gibt nur eine Möglichkeit, organisatorisch auf die Mittelinstanz zu verzichten, nämlich die Zahl der Kreise ganz erheblich zu vermindern und den Umfang der verbliebenen Kreise stark zu vergrößern, mit einem Wort Großkreise zu schaffen.« Grundsätzlich kritisch zu einem solchen Konzept für eine Kreisreform allerdings zuletzt Hubert Meyer, Flächendeckende und isolierte Regionalkreisbildungen – ein Zukunftsansatz?, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Verwaltungsstrukturen der Zukunft (Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd. 29), 2006, S. 113 ff. 46 So Werner Weber, Zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (Heft 7 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages), 1984,S. 32 (Vortrag vom 13. April 1961).
218
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
»Es sind die föderalen Strukturen der deutschen Geschichte, die uns von jenen Nachbarländern unterscheiden, die früher als wir zu einer Nationsbildung fanden. Und es sind die föderalen Strukturen, die über Jahrhunderte hinweg verhindert haben, dass sich so etwas wie eine deutsche Staatsnation im modernen demokratischen Sinne gebildet hatte«47.
Diese Aussage impliziert im Grunde schon die These, dass mit dem Entstehen einer »Staatsnation« ein Bundesstaat, der sich aus Einzelstaaten zusammensetzt, letztlich nicht vereinbar ist. Es war deshalb nur konsequent, wenn Gerhard Anschütz schon 1923 für die Weimarer Republik, die ja in gewisser Weise bereits eine »Staatsnation« darstellte (bzw. sich auf dem Weg dorthin befand), die Entwicklung Deutschlands hin zu einem »Einheitsstaat« mit föderalen Strukturen prognostizierte. Diese dann weiterhin bestehenden föderalen Strukturen beschrieb er damals wie folgt: »Man wird den Einheitsstaat so kräftig dezentralisieren können, dass der Eigenart unserer Stämme und Landschaften jeder berechtigte Lebensspielraum bleibt. Die Träger dieser Dezentralisation werden die Länder sein, in ihrer jetzigen oder der ihnen auf Grund des Artikel 18 RVerf. neu zu gebenden Begrenzung. Sie werden auch unter dem Einheitsstaate bestehen bleiben können mit Rechten und Freiheiten, die praktisch nicht geringer zu sein brauchen als die, welche sie heute besitzen: mit Autonomie auf weiten Gebieten, die das Reich ihnen überlässt, mit dem Recht, durch das Mittel des Reichsrats auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches einzuwirken, und mit dem Recht zum Vollzug der Reichsgesetze unter der Aufsicht des Reichs. Sie werden bestehen bleiben in der Stellung großer, starker und freier Selbstverwaltungskörper, die, im Verzicht auf eine – schon heute doch nur mehr formale – Eigenstaatlichkeit nichts anderes sind noch sein wollen als Glieder, die sich ihrem Ganzen, dem Reichsganzen, dienstwillig einfügen«48.
b) Dementsprechend hat man schon bald nach Erlass des Grundgesetzes davon gesprochen, dass es »den bloß fiktiven Charakter seines föderalen Aufbaus nicht verleugnen könne«49, und den Status der Bundesländer deshalb mit Begriffen 47 Reinhart Koselleck, Deutschland – eine verspätete Nation? (1998), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 2003, S. 359 (370). Genauere Begründung dieser Aussage: a. a. O., S. 371 ff. 48 Gerhard Anschütz, Drei Leitgedanken der Reichsverfassung, 1923, S. 20 f. (Hervorhebung bei Anschütz). Für Anschütz sind die Ansätze für diese Entwicklung schon in der Staatspraxis unter der Reichsverfassung von 1871 zu sehen, s. ders., Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1924), S. 11 (13 ff.); so auch Ernst Rudolf Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte (1970), in: ders., Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1975, S. 62 (74 ff.). 49 So Werner Weber, Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus (1951), in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 57 (61); genauer dazu Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht. Untersuchungen zu(r) Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, 1998, S. 145 ff.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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wie »autonome Verwaltungskörper«50, »gliedhafte Gebietskörperschaften höherer Art«51, »autonome Provinzen«52 u. a. gekennzeichnet. Folgerichtig i. S. der hier unter 4. angestellten Überlegungen ist es dann auch, dass gerade wegen dieses Status der Bundesländer bereits 1952 für das zukünftige Land BadenWürttemberg die These vertreten worden ist, dass das parlamentarische Regierungssystem für dieses Bundesland nicht »passt«, sondern der Ministerpräsident vom Volk direkt gewählt werden sollte53. Das dem gegenüber überwiegend abweichende Verständnis der deutschen Bundesländer als Teilstaaten in Lehre und Rechtsprechung54 lässt sich m. E. heute vor allem deshalb nicht mehr vertreten, weil inzwischen mit der Europäischen Union eine weitere politische Entscheidungsebene entstanden ist, die auch für die Länder in großem Umfang unmittelbar geltendes Recht setzt. Es wird ja von den Historikern nicht ohne Grund auf das alte Deutsche Reich als föderales Gebilde, das auch für die Europäische Union partiellen Modellcharakter besitzt, hingewiesen55. Der Europäischen Union selbst wiederum können dann aber wohl nur »Staatsnationen« mit ggf. föderalen Strukturen, wie sie schon in dem wiedergegebenen Zitat von Anschütz gekennzeichnet wurden und heute auch nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gelten, angehören. Mir scheint es so gesehen auch konsequent, wenn man in Niedersachsen, was das Verhältnis der Landesverfassung zum Grundgesetz betrifft, seit Inkrafttreten der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung von 1951 bis heute stets von der Ergänzungsfunktion der Landesverfassung ausgegangen ist und deshalb auch das Landesparlament und nicht die niedersächsische Bevölkerung (stillschweigend) als Inhaber der verfassungsgebenden Gewalt angesehen hat56. Verschiedene Bestimmungen des Grundgesetzes selbst unterstützen schließlich ebenfalls dieses Verständnis der deutschen Bundesländer. So wird das Recht der Länder zur Verfassungsgebung und zur Gesetzgebung, wie besonders deutlich Artikel 28 Abs. 1 GG zeigt, durch das Grundgesetz begründet und begrenzt57 50 51 52 53 54 55
56 57
Wie Anm. 46. So Werner Weber, Die Verfassungsfrage in Niedersachsen, DVBl. 1950, S. 593 (594). So Eschenburg, Verwaltungsaufbau (Anm. 43), S. 15, auch S. 50. So Eschenburg (a. a. O., S. 42), der insoweit vom »Staatspräsidenten« spricht, mit ausführlicher Begründung dieses Vorschlags auf S. 59 ff. Dazu Oeter, Subsidiarität (Anm. 49), S. 153 ff., 185 ff. Siehe etwa Peter Claus Hartmann, Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486 – 1806, 2005, S. 7 ff., 164 f. u. a. und Koselleck, Verspätete Nation (Anm. 47), S. 379 f. Meines Erachtens ist der Hinweis auf die Deutsche Bundesakte vom 8. Juli 1815 bzw. die Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820 insoweit viel nahe liegender. Dazu Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 302 f. und: Referat Deutscher Juristentag (Anm. 2), S. 31 f. Nach Martin Heckel gewährleistet das Grundgesetz in seinem Artikel 28 die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und »macht« sie »zu einem Teil der bundesstaatlichen Gesamtordnung«, s. ders., Zum Wandel des Föderalismus – am Beispiel des Bundesrates und
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
und auch ihr gegenwärtiger Bestand nach Artikel 29 GG letztlich »von der Willensbildung der übergeordneten Einheit Bund« abhängig gemacht58. Daneben ähnelt das Recht zur Auftragsverwaltung der Länder nach den Artikeln 85, 87 b Abs. 2, 89 f., 108 GG stark dem entsprechenden Recht der (kommunalen) Selbstverwaltungskörperschaften59. Dass die genannten Rechte der Länder tatsächlich erst aus dem Grundgesetz folgen (und nicht schon aus ihrem vermeintlichen Staatscharakter), ergibt sich für mich übrigens auch aus Artikel 144 Abs. 1 GG, nach dem das Grundgesetz ja lediglich der Annahme »in zwei Dritteln der deutschen Länder« bedurfte60. Die historische Entwicklung Niedersachsens (und der anderen Bundesländer) hin zu einem autonomen Verwaltungskörper hat also tatsächlich ansatzweise ebenfalls ihren Niederschlag im Verständnis der Bundesländer durch das Grundgesetz selbst gefunden.
III.
Verfassungsrechtliche Würdigung der Entwicklung des Länderparlamentarismus in Niedersachsen
Unter verfassungsrechtlichem Aspekt gesehen stellt sich die Erfüllung der dem Landtag obliegenden Aufgaben (Gesetzgebung und parlamentarische Kontrolle), wie sie hier unter 1. und 2. geschildert wurde, als eine weitgehende Durchdes Verordnungsrechts, in: Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel (FS für Peter Badura zum 70. Geburtstag) 2004, S. 169 (193). Daraus ergibt sich bereits richtigerweise die Folgerung, dass durch das Grundgesetz die Kompetenzen von Bund und Ländern begründet werden, so auch Günther Barbey, Bundesrecht bricht Landesrecht, DÖV 1960, S. 566 (570, vgl. auch S. 571, 573, 574, 575); Jochen Rotzek, Kommentierung des Artikel 70 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2 (4. Aufl. 2002), Rn. 24 und ders., Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, 1993, S. 33 ff., 130 ff.; ähnlich Markus Heintzen, Kommentierung des Artikel 70 GG (2003), in Dolzer/Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 47 u. a. Kritisch zu dieser These aus allgemeinen verfasssungstheoretischen Überlegungen: Oliver Beaud, Föderalismus und Souveränität, Der Staat 35 (1996), S. 46 (64 ff.). 58 So richtig Karl-Ulrich Meyn, Gesetzesvorbehalt und Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinden, 1977, S. 36. 59 Dazu Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (1949), in: ders., Spannungen (Anm. 49), S. 9 (17). 60 So besonders auch Barbey, Bundesrecht (Anm. 57), S. 574 mit folgender Überlegung: Nur wenn »das Grundgesetz die Verfassung des Gesamtstaates« ist und deshalb »insbesondere auch die Länder ihre Zuständigkeiten aus den Normen des Grundgesetzes« erhalten, d. h. wenn »ein und dieselbe Norm jedem einzelnen Land dieselbe Zuständigkeit« gewährt, »erscheint es gerechtfertigt, die Geltung eben dieser Normen von der Annahme des Grundgesetzes durch die Volksvertretungen (nur) in zwei Dritteln der deutschen Länder abhängig zu machen.« Der Grundgesetzgeber besitzt also »im Sinne der angegebenen Voraussetzungen die alleinige Zuständigkeit zur Verteilung der Zuständigkeiten auf Bund und Länder.« Und die »Annahme des Grundgesetzes hat damit den Rechtscharakter einer Zustimmung zu Normen, zu deren Setzung die Länder als solche nicht zuständig sind.«
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
221
brechung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive dar, die vor allem durch das an Intensität ständig zunehmende parteipolitische Zusammenwirken von Regierungskoalition und Regierung bedingt ist. Das ist zunächst genauer darzulegen (6.), um dann noch nach der richtigen verfassungsrechtlichen Antwort auf die Verfassungskrise, die in Niedersachsen ganz offensichtlich durch diese permanente Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips eingetreten ist, zu suchen (7.).
6.
Die Infragestellung des Gewaltenteilungsprinzips
a) Was den verfassungsrechtlichen Aussagegehalt des Gewaltenteilungsprinzips betrifft, so bin ich entgegen einer (wieder) im Vordringen befindlichen Meinung nach wie vor der Ansicht, dass bei strenger Auslegung des Artikel 20 Abs. 2 GG bzw. Artikel 2 Abs. 2 NV das Gewaltenteilungsprinzip als Ausfluss aus dem Demokratieprinzip verstanden werden muss. Verneint man dies, so ist und bleibt für mich die Aussage der genannten Vorschriften, dass alle Staatsgewalt »vom Volke … durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird, unverständlich61. Die entscheidende Veränderung gegenüber den konstitutionellen Verfassungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die ja durchaus das Gewaltenteilungsprinzip im Sinne Montesquieus realisierten62, besteht darin, dass damals im Gegensatz zu heute Exekutive und Legislative auch unterschiedliche Legitimationsgrundlagen (nämlich Monarchie und Volkssouveränität) besaßen, während heute, wie gesagt, alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die bleibende Kernaussage des Gewaltenteilungsprinzips dagegen, die sich schon bei Montesquieu (und in Ansätzen sogar bei John Locke) findet und von der deutschen Staatsrechtslehre lange vor Erlass der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes rezipiert wurde, lautet, dass »nicht zwei und schon gar nicht alle drei Gewalten in der
61 Genauer dazu Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 4), S. 172 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2 (3. Aufl. 2004), S. 429 (487 f. – Rn. 87 f.). Im Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte und den Wortlaut des Artikel 20 Abs. 2 GG vermag ich darum auch der Interpretation des Gewaltenteilungsprinzips durch Christoph Möllers in weiten Teilen nicht zu folgen, s. ders., Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005. 62 Dazu sehr klar Stefan Korioth, »Monarchisches Prinzip« und Gewaltenteilung unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus, Der Staat 37 (1998), S. 27 ff.; s. daneben besonders den Sammelband: Edgar Mass/Paul-Ludwig Weinacht (Hrsg.), Montesquieu-Traditionen in Deutschland. Beiträge zur Erforschung eines Klassikers. 2005.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
ausschließlichen Verfügung einer sozialen Kraft oder eines einzigen Staatsorgans sein« dürfen63. Diese Kernaussage ist nun im Blick auf die geschilderte Durchdringung von Legislative und Exekutive durch die politischen Parteien in Niedersachsen und die damit verbundene Aufhebung ihrer »spezifischen Besonderung« (Werner Weber) hoch aktuell, aber kann sie auch als verbindlich für das Verständnis des im Grundgesetz und den Landesverfassungen garantierten Gewaltenteilungsprinzips gelten? Genau das, meine ich, aus folgender Überlegung bejahen zu müssen: Das Grundgesetz und die Niedersächsische Verfassung konstituieren nicht abstrakte demokratische Herrschaft als solche, sondern knüpfen die Ausübung demokratischer Herrschaft in allen drei Staatsgewalten an die Inhabung eines Amtes des zuständigen Personenkreises. Das zeigen etwa Artikel 48 Abs. 2 und 3 GG und Artikel 13 Abs. 3 NV für die Abgeordneten. Auch der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister üben nach der Terminologie des Grundgesetzes öffentliche Ämter aus64, und Entsprechendes gilt nach der Niedersächsischen Verfassung für die Mitglieder der Landesregierung65. Daneben haben ebenfalls die Richter von Verfassungswegen öffentliche Ämter inne66, und schließlich findet »die Kategorie des Amtes …. ihre prototypische und verfassungsrechtlich durch Artikel 33 Abs. 4 GG auch als Regel-Status aufgerichtete Ausformung in der Stellung des Beamten«67. Die genannten Verfassungen kennen also nur demokratische Amtsherrschaft. Das folgt im Grunde schon aus der Tatsache, dass Bund und Länder nach ihren Verfassungen demokratische Republiken sind. Und genau deshalb hat man auch die verbindliche verfassungsrechtliche Aussage des Gewaltenteilungsprinzips wie folgt beschrieben: »Die Gewaltenteilung ist zwar durch Artikel 20 Abs. 2 S. 2 GG gewährleistet, aber in ihrem Sinn ungewiss. Das republikanische Amtsprinzip gibt ihr nicht nur eine sichere, von historischen Zufälligkeiten und Machtkonstellationen …. unabhängige Deutung, sie bezieht auch die wesentlichen Prinzipien staatlicher Ämterorganisation mit ein und bewahrt zugleich das ganze System der Staatsorgane, Gewalten, Ämter und Funktionen 63 So Alois Riklin, Der Geist der Machtteilung – Vom wahren Sinn einer Lehre Montesquieus, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. April 1999 (Beilage »Literatur und Kunst« – Hervorhebung A.J.); genauer dazu ders., Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2006, S. 279 ff. (bes. S. 280, 283, 290). 64 Vgl. für den Bundespräsidenten Artikel 54 Abs. 2 Satz 2; 55 Abs. 2; 56 Satz 1; 57; 61 Abs. 2 GG. Für die Mitglieder der Bundesregierung Artikel 64 Abs. 2; 66; 69 Abs. 2 GG. 65 Artikel 29 Abs. 3; 31; 34 Abs. 2; 40 Abs. 1 und 2 NV. 66 Siehe nur Artikel 97 Abs. 2 und 98 Abs. 2 GG; sowie Artikel 51 Abs. 2, 52 und 55 Abs. 3 NV. 67 So zutreffend Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung. Entscheidungsteilhabe Privater an der öffentlichen Verwaltung auf dem Prüfstand des Verfassungsprinzips Demokratie, 1993, S. 332.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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vor dem Missbrauch für irrational legitimierte oder persönliche Herrschaft, dem sie als formale Ordnungen immer ausgesetzt sind, sei es von den Parteien, den Verbänden, den Kirchen oder den neuen Bewegungen«68.
Das Gewaltenteilungsprinzip soll danach also – um es noch einmal zu wiederholen – »vor dem Missbrauch für irrational legitimierte oder persönliche Herrschaft«, wie er sich u. a. in einer zu ausgeprägten Herrschaft der politischen Parteien einstellen kann, schützen. Die Berechtigung dieser Interpretation zeigt auch folgende Überlegung: Die Wahl »als staatsrechtlicher Akt legitimiert …. nicht die Parteien, sondern die Parlamente und Regierungen, und die Legitimation der Parteiführungen durch innerparteiliche Demokratie hat demgegenüber keinen Vorrang. Wo die Parteien ihn mit Erfolg in Anspruch nehmen, gibt es keine Eigenständigkeit der Staatswillensbildung und damit keinen Staat im Sinne der Verfassung, sondern ein Parteiregime«69. Eben das will nun das Gewaltenteilungsprinzip dadurch verhindern, dass es »die positiv und konkretisierend ordnende Zuteilung der politischen Gestaltungsverantwortung im Staate« sicherstellt70. Dieser zentralen Aussage des Gewaltenteilungsprinzips steht auch nicht das parlamentarische Regierungssystem entgegen. Denn die »durchgängige Bindung der Staatsorgane an die jeweils zugewiesene Funktion und die dadurch begründete funktionsspezifische organschaftliche Entscheidungsmacht bestehen ganz unabhängig davon, wie die jeweilige Organkompetenz im Übrigen ausgestaltet ist«71. b) Doch wie wird nun konkret aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips das festgestellte parteipolitische Zusammenwirken von Regierungskoalition und Regierung begrenzt? Zunächst kann man nach dem allgemein zum Gewaltenteilungsprinzip Ausgeführten besonders dann nicht mehr von der durch dieses Prinzip geforderten »Eigenständigkeit der Staatswillensbildung«72 sprechen, wenn »die Entscheidungen über Aufgaben der Gesetzgebung, der Regierung und der Verwaltung … (erg.: weitgehend) unterschiedslos in denselben Parteivorständen und Koalitionsausschüssen« fallen73. Der (partei)politische Einfluss der 68 Wilhelm Henke, Die Republik, in: Isensee/Kirchhof (Anm. 61), Bd. 1 (1.[!] Aufl. 1987), S. 883 (Rn. 34). 69 So Wilhelm Henke, Zweikommentierung von Artikel 21 GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (1991), Rn. 153 (Hervorhebungen A.J.). 70 So Werner Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem (1959), in: ders., Spannungen (Anm. 49), S. 152 (174). 71 So Barbey, Bundesverfassungsgericht (Anm. 40), S. 7 (Hervorhebungen A.J.). 72 Wie Anm. 69. 73 Das hat Werner Weber schon 1959 kritisch für die Länder festgestellt, s. Teilung der Gewalten (Anm. 70), S. 162 (Hervorhebung A.J.). Genauer heißt es dazu (a. a. O., S. 161 f.): »In dem Pluralismus der Macht- und Einflussträger unserer Zeit ist ein Dualismus oder eine Polarität von Exekutive und Legislative anders als in der ständischen und konstitutionellen Monarchie
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
(Regierungs)fraktionen auf die Exekutive und umgekehrt auch der Einfluss der Exekutive auf die parlamentarische Meinungsbildung besitzen nach dem Grundgesetz und der Niedersächsischen Verfassung eben klar festgelegte und durch das Gewaltenteilungsprinzip besonders geschützte Grenzen: Danach ist das Parlament der legitime Ort für die »politische Mitwirkung« der Parteien an der staatlichen Willensbildung (Artikel 21 Abs. 1 Satz 1 GG). Hier werden sie, organisiert in Fraktionen, tätig. Demgegenüber besitzen Regierung und Verwaltung einen eigenständigen, inhaltlich anders geprägten Handlungsauftrag. Vor allem hat die Exekutive im Gegensatz zu den Fraktionen im Parlament grundsätzlich die gesamtstaatlichen Interessen (und das heißt auch die Interessen der parlamentarischen Opposition u. a.) stets zu verfolgen. Das ist vielfach von der Staatsrechtslehre schon sehr früh für die Regierung und Verwaltung unter dem Grundgesetz betont worden74. Nicht zu Unrecht hat man deshalb auch an den verfassungsrechtlichen Begriff der »vollziehenden Gewalt« anknüpfend ( s. Artikel 20 Abs 2 Satz 2 GG u. a.75) das Handeln der Regierung als nicht mehr angelegt. Konkret zeigt sich das – am Beispiel der politischen Parteien – etwa in Folgendem: Die Parteien beherrschen die Willensbildung im Parlament. Die Mehrheitsparteien des Parlaments bilden aus ihren Führern aber gleichzeitig die Regierung. Sie haben darüber hinaus die Herrschaft über die Verwaltung angetreten. Die Ressortcheffunktion der Minister, die Parteiführer sind, hat diese Herrschaft schon in der Weimarer Republik begründet. Inzwischen ist sie dadurch ausgedehnt worden, dass die Beamtenpersonalpolitik die leitenden Beamtenpositionen auf breiter Front unter parteipolitische Einflüsse gebracht und das Beamtentum im Ganzen instrumentalisiert hat… Die Landtage unserer Länder befinden sich in einem Prozess der Umbildung zu Gremien, in denen die politischen Parteien ähnlich wie in den Räten der Städte und Kreise unmittelbare Verwaltungsherrschaft üben. Die Entscheidungen über Aufgaben der Gesetzgebung, der Regierung und Verwaltung fallen unterschiedslos in denselben Parteivorständen und Koalitionsausschüssen. Es kann – alles in allem genommen – keine Rede mehr davon sein, dass sich in der Gegenüberstellung von Exekutive und Legislative zwei maßgebende politische Machtkörper begegneten. Beide bezeichnen vielmehr nur noch Instrumentarien der Herrschaftsausübung, die sich die oligarchischen Träger der politischen Gewalt unterschiedslos dienstbar zu machen suchen.« 74 So etwa von Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung (1952), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, 1978, S. 455 (489); s. daneben die Stellungnahmen von Werner Weber aus den Jahren 1951, 1956 und 1959: Spannungen (Anm. 49), S. 38 f., 139 ff., 173 f. Siehe ergänzend folgende Ausführungen von Henke aus dem Jahr 1991 (Kommentierung Artikel 21 [Anm. 69], Rn. 142, 143, 144): »Die Regierung ist in anderer Weise an Verfassung und Recht gebunden als die Parteien. Sie müssen nach Art. 21 Abs. 1 nur die freiheitliche, demokratische Grundordnung und den Bestand des Staates achten … Die Regierungen müssen außerdem eine Politik für das gesamte Volk, auch für die Wähler der Oppositionsparteien und für diese selbst, und in diesem Sinne für das Gemeinwohl betreiben … Die Regierung, die nur von der Mehrheit gebildet wird, muss ihr Handeln außer vor dem Parlament vor allen Bürgern verantworten und insofern mit ihren Entscheidungen für alle handeln … Regierungspolitik und Parteipolitik sind nicht dasselbe. Die ›Einflussnahme‹ der Parteien setzt eine rechtliche Sonderung geradezu voraus, die sich dahin auswirkt, dass die Regierungsentscheidungen in den dafür nach Verfassung und Geschäftsordnung vorgesehenen Verfahren getroffen werden.« 75 Siehe daneben auch Artikel 1 Abs. 3; 20 Abs. 3 und 20 a GG.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
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Ausübung eines ihr eingeräumten »Ermessens« verstanden76, wobei allerdings ausdrücklich die Unterschiede zum Verwaltungsermessen betont wurden77. Entsprechend diesem unterschiedlichen Handlungsauftrag der Fraktionen in den Parlamenten einerseits, der Regierung und Verwaltung andererseits, besitzen die Regierungsmitglieder auch einen anderen Status. Nur sie leisten bei der Amtsübernahme einen Amtseid (Artikel 64 Abs. 2 GG in Verbindung mit Artikel 56 GG, Artikel 31 NV), brauchen nicht dem Parlament anzugehören und dürfen grundsätzlich kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und »weder der Leitung … noch dem Aufsichtsrate eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens angehören« (so Artikel 66 GG, ganz ähnlich Artikel 34 Abs. 2 NV). Die Regierungsmitglieder erhalten auch nicht wie die Abgeordneten eine »Entschädigung« (Artikel 48 Abs. 3 GG, Artikel 13 Abs. 3 NV), sondern »Bezüge« (Artikel 34 NV) für ihre Tätigkeit und sind daneben anderen, schon aus dem Wortlaut ihres Amtseids folgenden inneren Bindungen unterworfen als die Abgeordneten nach Artikel 38 Abs. 1 GG (Artikel 12 NV)78. Nur die Regierungsmitglieder leiten schließlich »selbstständig und unter eigener Verantwortung« ihren »Geschäftsbereich« (Artikel 65 Satz 2 GG, Artikel 37 Abs. 1 Satz 2 NV) und stehen öffentlichen Bediensteten in bürokratisch organisierten Ministerien vor79. 76 Siehe Meinhard Schröder, Der Bereich der Regierung und der Verwaltung, in: Isensee/ Kirchhof (Anm. 61), Bd. 3 (1.[!] Aufl. 1988), S. 503 (Rn. 9) im Anschluss an: Walter Leisner, Regierung als Macht kombinierten Ermessens. Zur Theorie der Exekutivgewalt, JZ 1968, S. 727 ff. 77 Leisner, a. a. O., S. 729 f. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass nicht nur die Verwaltung, sondern ebenfalls die Regierung als Teil der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht gebunden ist (Artikel 20 Abs. 3; 20a GG). 78 Henke, Kommentierung Artikel 21 (Anm. 69), Rn. 85 spricht im Anschluss an Badura m. E. zutreffend vom »freien Mandat des parteigebundenen Abgeordneten«. Die Bindung der Regierungsmitglieder an den Eid ist richtig wie folgt charakterisiert worden: »Der spezifische Sinn des Eides ist die Bindung im Gewissen des den Eid Leistenden… Der promissorische Eid soll die Unverbrüchlichkeit des abgegebenen Versprechens im Interesse des Staatswohls sichern, dem der Eidesleistende verpflichtet wird; dieses Versprechen ist auf die Erhaltung der Staatsordnung gerichtet, wie sie von der beschworenen Verfassung normiert wird… Der ernstlich verstandenen Eidesleistung wohnt … auch ein positives Bekenntnis zu dieser Ordnung inne … und bedeutet deshalb bei Personen, die kraft ihres Amtes einen Einfluss darauf haben, eine gewisse Gewährleistung für den Bestand dieser Ordnung … Weiterhin stellt der Eid ein psychologisches Hemmnis gegen die Verletzung beschworener Pflichten dar. Aus den Vorstellungen und Wertungen über den Charakter des Eides, seine Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit, folgt die Hemmung, sich gegen ihn zu vergehen«, so Friedrich Klein, in: von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. 2 (1964), Artikel 56 Anm. III.2. (S. 1093) – Hervorhebung bei Klein; vgl. auch a. a. O. Artikel 56 Anm. V. vor 1. (S. 1095) und Artikel 64 Anm. V.2. (S. 1248). 79 Zu den insoweit aus Artikel 33 Abs. 4 GG folgenden inhaltlichen Vorgaben: Janssen, Privatisierung (Anm. 13), S. 125 ff. Zur insoweit einschlägigen Tradition der kontinental-europäischen Verwaltung hat Klaus König bemerkt: »Die Selbstbeschreibung der klassischen
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Es besteht im Ergebnis also nicht, wie heute überwiegend vertreten wird, eine Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung (der »Politik«) auf der einen Seite und der Verwaltung (»Bürokratie«) auf der anderen80. Vielmehr muss zwischen erster und zweiter Gewalt aufgrund der von den politischen Parteien (Fraktionen) bestimmten Politik des Parlaments einerseits, die sich in seiner Gesetzgebung und Kontrolle niederschlägt, und der bürokratisch geformten des Regierungshandelns81 andererseits unterschieden werden. So gesehen zeigt die unter 1. und 2. geschilderte Tätigkeit des Niedersächsischen Landtages überdeutlich, dass in Niedersachsen diese substanzielle Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive nicht mehr besteht und damit »die Verfasstheit politischer Herrschaft« in diesem Land in Frage gestellt ist82. öffentlichen Verwaltung durch das Regulativ des Rechtsstaates bietet eine über das Professionell-Technokratische hinausweisende Qualität. Es bindet die öffentliche Verwaltung in ihren Konkretisierungen an Menschen- und Bürgerrechte, an die Messbarkeit ihrer Handlungen, an die Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken, an die Gewährleistung von Rechtsschutz usw. Es geht mithin nicht einfach darum, dass der öffentliche Dienst eine Identitätsformel gefunden hat, sondern dass die Suche nach Gerechtigkeit zugunsten der Bürger gesichert wird«, so ders., Unternehmerisches oder exekutives Management – die Perspektive der klassischen öffentlichen Verwaltung, Verw.Arch. 87 (1996), S. 19 (37). 80 Exemplarisch Hans D. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 1975 und ders., in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Aufl. 2004, Artikel 20, Rn. 26. 81 Siehe noch einmal das ausführliche Zitat hier in Anm. 74 aus Henkes Kommentierung des Artikel 21 GG. Gerade weil das politische Handeln der Regierung (weitgehend) durch die Bürokratie bestimmt wird, bedarf es der Kontrolle durch das (ganze) Parlament. Nach wie vor gültig ist deshalb m. E. folgende Feststellung Max Webers (Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens [1918], in: ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. Aufl. 1980, S. 306 [352]): »Die Leitung der Beamtenschaft, welche ihr die Aufgaben zuweist, hat dagegen selbstverständlich fortwährend politische: – machtpolitische und kulturpolitische – Probleme zu lösen. Sie darin zu kontrollieren, ist die erste grundlegende Aufgabe des Parlaments. Und nicht nur die den höchstgestellten Zentralinstanzen zugewiesenen Aufgaben, sondern jede einzelne noch so rein technische Frage in den Unterinstanzen kann politisch wichtig und die Art ihrer Lösung durch politische Gesichtspunkte bestimmt werden. Politiker müssen der Beamtenherrschaft das Gegengewicht geben« (alle Hervorhebungen bei Max Weber). 82 Siehe dazu Wilhelm Hennis, Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit (1971), in: ders., Politik und praktische Philosophie. Schriften zur politischen Theorie, 1977, S. 176 (184): »Die Verfasstheit politischer Herrschaft so, dass sie kontrollierbar, abberufbar, verantwortlich ist, ist nicht ihr Äußerliches, das hinzu, oder weggenommen werden kann, sondern konstituiert sie in ihrer Eigenschaft als politische Herrschaft. Politik in diesem Sinne setzt mithin ein verfasstes politisches Gemeinwesen voraus.« Von diesem Standpunkt aus hat Hennis zutreffend den Regierungsstil der »Ära Kohl« kritisiert, s. ders., Totenrede des Perikles auf ein blühendes Land. Ursachen der politischen Blockade (1997), in: Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, 1998, S. 155 (160 ff.). Entsprechendes lässt sich übrigens für die »Ära Schröder« in Niedersachsen und im Bund feststellen, s. dazu Janssen, Entwicklung (Anm. 7), S. 317 f. und: Privatisierung (Anm. 13), S. 123 ff. Zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Sicht dieses Problems s. Albert Janssen,
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
227
c) Diese Feststellung besitzt nun im vorliegenden Fall deshalb eine besondere verfassungsrechtliche Relevanz, weil auch die Rechtfertigung der aufgezeigten Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips durch das parlamentarische Regierungssystem für Niedersachsen nicht (mehr) gelingen kann83. Denn das parlamentarische Regierungssystem besitzt, wie gezeigt (4.), hier keine reale Grundlage mehr. Gerade der heutige daraus folgende Status des Landes als autonomer Verwaltungskörper (5.) gebietet die strenge Trennung zwischen Legislative und Exekutive, zumal es in Niedersachsen bereits zu einer weitgehenden, die politische Entscheidungsfähigkeit des Landes beeinträchtigenden Bürokratisierung der Politik (und wohl auch zu einer Politisierung der Bürokratie) gekommen ist. Kein geringerer als Werner Weber hat schon 1961 vor genau dieser Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen gewarnt. Er führte damals aus: »Nach Wegfall oder Einschränkung der Gesetzgebungsaufgaben könnte es (erg.: das Parlament) sich stärker der unmittelbaren Einwirkung auf die ausführende Verwaltung zuwenden wollen, zumal die Substanz der Länder sich ohnehin immer mehr auf die Verwaltung verlagert und die parteienstaatlichen Tendenzen auch sonst längst ihr Interesse an der unmittelbaren Verwaltungsherrschaft bezeugt haben. Es braucht nicht so zu kommen, aber vieles spricht dafür, dass sich die Dinge nach dieser Richtung entwickeln werden, wenn man ihnen unreflektiert Lauf lässt. Dann allerdings würde die Verfassung in eine Krise geraten können; denn die spezifische Besonderung von Exekutive und Legislative, von Regierung und Verwaltung einerseits und des Parlaments andererseits, auf der sie fußt, würde dann entfallen. Damit wäre auch die fruchtbare Polarität von handelnder staatlicher Herrschaftsverantwortung und kontrollierender Volksrepräsentation in Frage gestellt«84.
Dem ist aus heutiger Sicht m. E. nichts hinzuzufügen.
7.
Die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten als notwendige verfassungsrechtliche Reformmaßnahme
Abschließend ist damit zu klären, wie der gegenwärtigen Verfassungskrise in Niedersachsen, die durch die Aufhebung der »spezifischen Besonderung von Exekutive und Legislative« eingetreten ist, wirksam begegnet werden kann. Da das parlamentarische Regierungssystem zumindest auf Landesebene, wie die Die Infragestellung des Verfassungsstaates. Ein Nachwort zur CDU-Spendenaffäre und den zeitgleichen Affären der nordrhein-westfälischen und der niedersächsischen Landesregierung, Die Verwaltung 35 (2002), S. 117 ff. 83 Meines Erachtens kann übrigens ein solcher Rechtfertigungsversuch unabhängig von der nun im Text folgenden Begründung bereits aufgrund des bei Anm. 71 mitgeteilten Arguments nicht gelingen. 84 So Weber, Vortrag (Anm. 46), S. 33 (Hervorhebung dort).
228
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
niedersächsische Entwicklung zeigt, diese spezifische Besonderung nicht i. S. des geltenden Verfassungsrechts lediglich modifiziert, sondern weitgehend beseitigt hat, muss nach einer verfassungsrechtlichen Lösung gesucht werden, die unter den heutigen Bedingungen der Parteienstaatsdemokratie die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive sicherstellt. Denn diese ist nun einmal, wie wir sahen, gerade für die »Verfasstheit politischer Herrschaft« auf Landesebene schlechthin konstitutiv. Als wirksame verfassungsrechtliche Reformmaßnahme kommt insoweit m. E. allein die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten in Betracht. Nachdem dazu im Jahr 2006 eine große Monografie erschienen ist, die in dieser Maßnahme übrigens den »Kern einer Reform der Landesverfassungen« erblickt85, kann ich mich im Folgenden auf einige Hinweise zu diesem Vorschlag beschränken, die in unserem Zusammenhang besonders relevant sind: a) Neben der damit (besser) gewährleisteten Trennung zwischen Legislative und Exekutive sprechen noch folgende konkrete Gründe für die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten: Zunächst stünde i. S. der hier vertretenen eigentlichen Intention des Gewaltenteilungsprinzips auf Landesebene bei Realisierung dieses Reformvorschlags häufiger als im bisherigen System das gesamte Parlament der Regierung als Kontrollorgan gegenüber, und zwar auch dann, wenn es um das Abstimmungsverhalten der Landesregierung im Bundesrat geht. Ein direkt gewählter Ministerpräsident wäre wohl auch wegen seiner eigenen demokratischen Legitimation weniger dem Druck der ihn parlamentarisch unterstützenden Fraktionen in seiner Personalauswahl und –führung ausgesetzt und hätte diese daneben eigenständig zu verantworten. Das ist wegen der erwähnten parteipolitischen Durchdringung der (Spitzen-)bürokratie in Niedersachsen heute auch für die Möglichkeit einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle von erheblicher Bedeutung. Daneben würden die dem Landtag verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen bei Einführung einer Direktwahl des Ministerpräsidenten viel deutlicher als zur Zeit als wirkliche parlamentarische Kompetenzen wahrgenommen werden, was voraussichtlich besonders dringend zu wünschende Verbesserungen im parlamentarischen Beratungsverfahren der Gesetze nach sich ziehen würde. Schließlich können für die Einführung einer Direktwahl des Ministerpräsidenten noch manche jener Argumente sprechen, die vor Jahren in Niedersachsen für die Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters (und Landrats) auf kommunaler Ebene ins Feld geführt wurden86. 85 So Jan L. Backmann, Direktwahl der Ministerpräsidenten. Als Kern einer Reform der Landesverfassungen, 2006. 86 Siehe dazu zusammenfassend Albert Janssen, Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem (Heft 17 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages) 1988, S. 9 ff. und: Organisation der kommunalen Spitze, in: Hans-Uwe Erichsen (Hrsg.), Kommunalverfassung heute und morgen. Bilanz und Ausblick, 1989, S. 32 ff.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
229
b) Was die rechtliche Umsetzung dieses Reformvorschlags betrifft, so würde einer Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten durch Änderung der Niedersächsischen Verfassung nach ganz herrschender Meinung nicht das sog. Homogenitätsprinzip des Artikel 28 Abs. 1 GG entgegenstehen87 und m. E. auch nicht einer Regelung über die Abwahl des Ministerpräsidenten, die den entsprechenden Vorschriften in einigen Gemeindeordnungen nachgebildet wäre (s. etwa § 61 a NGO)88. Im Übrigen bestünden ja die heute in der Niedersächsischen Verfassung ausführlich geregelten parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten der Landesregierung weiterhin fort, so dass es zur einer völligen Abkoppelung der Politik des Ministerpräsidenten vom Willen des Parlaments kaum kommen dürfte. Was schließlich den Wahlmodus angeht, so könnten die Bürger Niedersachsens mit ihrer Erststimme den Ministerpräsidenten wählen und mit ihrer Zweitstimme zugleich für den Wahlkreiskandidaten und die ihn tragende Partei votieren – im Ergebnis würden dann insoweit Erst- und Zweitstimme im Sinne des geltenden Wahlrechts zusammenfallen. Diese Möglichkeit sah ja vor vielen Jahren schon das niedersächsische Wahlgesetz vor. Ausdrücklich sei noch bemerkt, dass mit einem solchen Wahlrecht – etwa bei einer Aufteilung der zu vergebenden Sitze in zwei Drittel Direktmandate und ein Drittel Listenmandate – sicherlich auch die in meinen Augen wünschenswerte Konzentration der Parteien auf die Kandidatenauslese gefördert würde89. c) Trotz der damit wohl hinreichend begründeten Notwendigkeit für die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten in Niedersachsen und der auch rechtstechnisch unproblematischen Umsetzung dieses Reformvorschlags wird es in diesem Land auf lange Sicht voraussichtlich nicht zu einer entsprechenden Verfassungsänderung kommen. Denn unsere bisherigen Ausführungen 87 Es ist schon erstaunlich, wenn demgegenüber ohne nähere Begründung Folgendes behauptet wird: »Die Übereinstimmung von Bund und Ländern hinsichtlich des parlamentarischen Regierungssystems kommt nicht von ungefähr, denn auch das föderale System, das durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 (3) GG die Bundesstaatlichkeit und damit die Eigenstaatlichkeit der Länder nach Art. 20 (1) GG garantiert, lässt den Ländern nicht die Freiheit der Wahl des Regierungssystems. Das Homogenitätsgebot des Art. 28 (1) GG sorgt dafür, dass das parlamentarische System des Bundes auch für die Länder zu gelten hat«, so Hansjörg Eisele, Landesparlamente – (k)ein Auslaufmodell? Eine Untersuchung zum deutschen Landesparlamentarismus am Beispiel des Landtags von Baden-Württemberg, 2006, S. 52. Erstaunlich ist auch, dass der Verfasser in seiner Untersuchung nicht die hier in Anm. 43 genannte Schrift von Eschenburg berücksichtigt hat, der ja, wie dort schon erwähnt, gerade für das (zukünftige) Land Baden Württemberg mit ausführlicher Begründung die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems ablehnt. Die insoweit einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 9, 268 [281]) hat Eisele augenscheinlich auch nicht gelesen. 88 Siehe ergänzend auch Eschenburg, Verwaltungsaufbau (Anm. 43), S. 42, 66. 89 So auch Eschenburg, a. a. O., S. 64.
230
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
haben deutlich genug das fehlende parlamentarische Selbstverständnis des Niedersächsischen Landtages und seine mangelnde Reformbereitschaft belegt. Da hilft es auch nichts, wenn – wie eben für die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten dargelegt – gewichtige verfassungsrechtliche Gründe für diese Reformmaßnahme ins Feld geführt werden können. Bedenkt man dann noch, mit welcher Sorgfalt die Abgeordneten des Niedersächsischen Landtages demgegenüber stets über ihre Diäten und die hinreichende Ausstattung ihrer Fraktionen u. a. nachgedacht haben, so stimmt einen im Ergebnis primär nicht das fehlende Parlamentsverständnis und die mangelnde Reformbereitschaft des Niedersächsischen Landtages nachdenklich, sondern vor allen die augenscheinlich bestehende Selbsttäuschung seiner Abgeordneten über ihre reale politische Bedeutung und die des Landesparlaments heute. Die hier an verschiedenen Stellen angemahnten Reformen90 lassen sich darum nach meinem Eindruck nur dann realisieren, wenn der Souverän – die Bevölkerung Niedersachsens – von seinen Rechten auf unmittelbare Beteiligung an der staatlichen Willensbildung nach Artikel 47 ff. NV Gebrauch macht. Das muss man sich vor allem deshalb dringend wünschen, weil ohne einen zeitgemäßen effektiven Landesparlamentarismus die demokratische Kultur in diesem Lande und damit auch seine politische Stabilität mit Sicherheit Schaden nimmt.
Thesen I.
Die tatsächliche Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
1. Was die Entwicklung der Gesetzgebung des Landtages betrifft, so sind die entsprechenden Kompetenzen nicht ohne seine Schuld erheblich zurückgegangen; nicht aber die Zahl der vom Landtag beratenen Gesetzentwürfe. Daneben ist das für die Landesgesetzgebung von der Verfassung vorgesehene parlamentarische Beratungsverfahren im Laufe der Jahre in vielen Fällen immer mehr zu einem »rituellen Vollzugsakt« verkümmert, wozu sicherlich auch die starke inhaltliche Vorprägung der zu beratenden Gesetze durch vom Landtag nicht beeinflussbare Faktoren wie: von den Landesexekutiven ausgehandelte Mustergesetzentwürfe, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die ständig zunehmenden Vorgaben des europäischen Rechts u. a. beigetragen haben. Wesentliche Ursache für diese Entwicklung aber ist das intensive Zusammenwirken der Landesregierung mit den Regierungsfraktionen des Landtages im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Dadurch ist es letztlich zu 90 Siehe hier 3 d), 4 b) und 7. sowie ergänzend die Anmerkungen 27 und 31.
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
231
einer Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive im Gesetzgebungsverfahren gekommen (s. dazu 6.) 2. Die parlamentarische Kontrolle als zweite wichtige Kompetenz des Landtages wurde von ihm in den vergangenen Jahren primär als ein Recht der Opposition verstanden und dementsprechend fast ausschließlich von der jeweiligen Opposition im Landtag ausgeübt. Gegenständlich erstreckte sich diese Kontrolle vorwiegend auf bürokratische Detailfragen und daneben häufig auch auf primär bundespolitische und europäische Probleme. Sie hat im Übrigen inzwischen durch Reformen des Haushaltsrechts und die fortschreitende Zersplitterung der Landesverwaltung (die durch die soeben beschlossene Verwaltungsreform noch einmal besonders »gefördert« wurde) viel von ihrer Wirksamkeit eingebüßt. Diese Entwicklung hat der Landtag selbst durch entsprechende Gesetze, die die genannten Reformen erst möglich machten, eingeleitet. Durch die in Niedersachsen (wie in den anderen Bundesländern und im Bund) seit Jahrzehnten von den politischen Parteien betriebene Ämterpatronage ist wegen der damit verbundenen (teilweisen) Aufhebung der Unterscheidung zwischen Bürokratie und (Partei-)politik eine weitere wesentliche Beeinträchtigung der parlamentarischen Kontrolle eingetreten. Ein Wille des Niedersächsischen Landtages, dieser Einschränkung seiner Kontrollrechte durch geeignete Reformmaßnahmen entgegenzutreten, ist nicht erkennbar. 3. Trotz der ständig abnehmenden politischen Bedeutung des niedersächsischen Landesparlaments in den vergangenen Jahren sind die Diäten seiner Abgeordneten und deren Arbeitsbedingungen im Landtag besonders seit dem Abgeordnetengesetz von 1978 kontinuierlich verbessert worden. Etwa seit 1995 lässt sich insoweit eine (vorsichtige) Trendwende beobachten. Viele Landtagesabgeordnete sind inzwischen (auch) aufgrund dieser Verbesserung ihres finanziellen Status Berufspolitiker geworden – mit der Folge einer so großen (faktischen) Abhängigkeit von ihrer Fraktion und Partei, dass die verfassungsrechtliche Garantie des freien Mandats (Artikel 12 NV) für ihre parlamentarische Arbeit praktisch keine Rechtswirkungen mehr entfaltet. Übersehen darf bei diesen Veränderungen des Abgeordnetenstatus allerdings nicht die nach wie vor große Bedeutung, die der Einsatz des einzelnen Abgeordneten außerhalb des Parlaments als quasi Ombudsmann für die Bewohner seines Wahlkreises besitzt. Dennoch gebietet die schwindende politische Bedeutung des Landesparlaments wohl den Abschied vom Status des Berufspolitikers auf Landesebene, was zwangsläufig Konsequenzen für die Höhe der Abgeordnetenentschädigung und die Organisation der parlamentarischen Arbeit nach sich ziehen muss. Eine entsprechende Einsicht der niedersächsischen Landtagesabgeordneten ist allerdings nicht feststellbar.
232 II.
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Der historisch-politische Kontext der Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
4. Da insbesondere durch den gravierenden Rückgang der Gesetzgebungskompetenzen nicht nur die Entscheidungen des Landesparlaments, sondern auch die der Landesregierung immer mehr den Charakter von Verwaltungsentscheidungen angenommen haben, hat das parlamentarische Regierungssystem in Niedersachsen (wie wohl auch in den anderen Bundesländern) faktisch seine »Geschäftsgrundlage« verloren. Diese Entwicklung sollte von den in diesem Lande politisch Verantwortlichen nicht nur als Aufforderung zu einer Parlamentsreform (s. 3.), sondern auch als eine geistige Herausforderung in dem Sinne verstanden werden, dass die soeben beschlossene (und ganz offensichtlich Stückwerk gebliebene) Verwaltungsreform des Landes durch eine Überprüfung des Ressortprinzips (Artikel 37 Abs. 1 Satz 2 NV) und eine Reform der Landkreise ihre bisher nicht erkennbare durchsichtige Struktur erhält, zumal damit auch die Möglichkeit für eine wirksame parlamentarische Kontrolle sichergestellt würde. 5. Der festgestellte »Wegfall der Geschäftsgrundlage« für das parlamentarische Regierungssystem in Niedersachsen impliziert die Reduzierung seines Staatscharakters auf den Status eines »autonomen Verwaltungskörpers« (Werner Weber). Dieser wohl auch für die anderen Bundesländer heute geltende Status lässt sich als folgerichtiges Ergebnis einer verfassungsgeschichtlichen Entwicklung begreifen, die unter der Reichsverfassung von 1871 eingesetzt, sich in der Weimarer Republik verstärkt und unter dem Grundgesetz nach anfänglichem Stillstand zuletzt besonders durch die fortschreitende europäische Integration zu ihrem (vorläufigem) Ende gekommen ist. Verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes lässt sich entnehmen, dass diese Entwicklung auch ihre verfassungsrechtliche Legitimation besitzt.
III.
Verfassungsrechtliche Würdigung der Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen
6. Die in Niedersachsen weitgehend eingetretene Aufhebung der Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive durch das parteipolitische Zusammenwirken von Regierungskoalition und Regierung im Gesetzgebungsverfahren und bei der parlamentarischen Kontrolle widerspricht in der aufgezeigten Intensität (s. 1. und 2.) dem unter die verfassungsrechtliche »Ewigkeitsgarantie« fallenden Gewaltenteilungsprinzip, wenn man die deutsche (und westeuropäische) Verfassungstradition und den verfassungsrechtlichen Kontext, in dem es steht, als verbindlich für seinen Sinngehalt ansieht. Denn es setzt dann dem
7. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus
233
(partei-)politischen Einfluss der (Regierungs-)fraktionen im Landtag auf das Regierungs- und Verwaltungshandeln und (umgekehrt) auch dem politischen Einfluss der Regierung auf das parlamentarische Handeln verbindliche, in der niedersächsischen Verfassungswirklichkeit weitgehend nicht beachtete Grenzen. Diese Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips besitzt wegen des beschränkten Staatscharakters Niedersachsens (s. 5.) eine besondere verfassungsrechtliche Relevanz. Denn gerade für ein wirksames demokratisches und rechtsstaatliches Handeln von autonomen Verwaltungseinheiten ist die klare Trennung zwischen der Parteienherrschaft des Parlaments und der bürokratischen Herrschaft der Exekutive wesentliche Voraussetzung. 7. Die in Niedersachsen aufgrund dieser Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips z. Zt. bestehende Verfassungskrise fordert zu ihrer Beseitigung eine Reform der Landesverfassung, die die grundsätzliche Trennung zwischen Legislative und Exekutive in der heutigen Parteienstaatsdemokratie sicherstellt. Dafür kommt als wirksame verfassungsrechtliche Maßnahme im Grunde nur die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten in Betracht; zumal sie auch die Kontrolle der Exekutive durch das ganze Parlament nachhaltig fördern würde, dem Ministerpräsidenten eine von den Parteien und (Regierungs-)fraktionen unabhängigere (und stärker persönlich zu verantwortende) Personalpolitik als bisher ermöglichen und voraussichtlich ebenfalls dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren seine von der Verfassung gewollte Bedeutung zurückgeben könnte. Die rechtstechnische Ausformung einer solchen Reformmaßnahme (Wahl und mögliche Abwahl des Ministerpräsidenten, Kontrollmöglichkeiten des Parlaments u. a.) würde keine Schwierigkeiten bereiten. Dennoch ist aufgrund der aufgezeigten Reformunwilligkeit des Niedersächsischen Landtages und der mangelnden Bereitschaft seiner Abgeordneten, den großen politischen Bedeutungsverlust des Landesparlaments anzuerkennen, nicht zu erwarten, dass sie freiwillig eine solche Verfassungsreform beschließen werden.
IV. Der dominierende Einfluss der politischen Parteien auf die Entstehung der neuen Niedersächsischen Verfassung und ihre Beachtung in der Staatspraxis
8.
Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993 – Ein wirklicher Fortschritt?
Die aufgeworfene Fragestellung soll in drei gedanklichen Schritten beantwortet werden. Zunächst beabsichtige ich, kurz darzustellen, welche Inhalte Landesverfassungen bisher üblicherweise hatten und welche Inhalte aufgrund der neueren Entwicklung unseres Staatswesens gefordert sind. In einem zweiten Schritt geht es darum, den wesentlichen Inhalt der neuen Niedersächsischen Verfassung zu referieren. Schließlich soll in einem dritten und letzten gedanklichen Schritt die Folgerung aus dem Gesagten gezogen werden.
I.
Typen von Landesverfassungen und deren Aufgaben
1. Der wesentliche Inhalt der Bundes- und Landesverfassungen, wie er sich uns heute in Deutschland darstellt, hat sich vor allem im 19. Jahrhundert durch die sog. konstitutionelle Bewegung herausgebildet. Danach enthält jede Verfassung üblicherweise zunächst eine Vorschrift über die Grundlagen der Staatsgewalt und grenzt das Verhältnis der Bürger zum Staat in einem Grundrechtskatalog ab. In einem weiteren Abschnitt der jeweiligen Verfassungen werden dann die einzelnen Staatsorgane näher geregelt – also im Bund heute der Bundestag, der Bundesrat, der Bundespräsident und die Bundesregierung. In den Landesverfassungen finden sich entsprechende Bestimmungen über den Landtag und die Landesregierung. Im Anschluss daran folgen in den Bundes- und Landesverfassungen gewöhnlich Regelungen über die verschiedenen Staatsfunktionen, also über die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung. Einen besonderen abschießenden Abschnitt enthalten die meisten Verfassungen dann noch zum Finanzwesen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass jede Bundesverfassung eines föderalen Staatswesens natürlich noch genauere Kompetenzabgrenzungen im Bereich der Gesetzgebung und Verwaltung (auch für das Finanzwesen!) zwischen Bund und Ländern benötigt. 2. An diesem überkommenen Inhalt einer Staatsverfassung orientierten sich nach dem zweiten Weltkrieg auch die Verfassungen der einzelnen Länder in der
238
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Bundesrepublik Deutschland. Allerdings lässt sich feststellen, dass sich zwei Typen der Verfassungsgebung nach 1945 auf Länderebene herausbildeten. Einerseits erließ man, und zwar durchweg vor Inkrafttreten des Grundgesetzes, in einigen Ländern sog. Vollverfassungen im geschilderten Sinne. Diese Länderverfassungen beschränkten sich also nicht auf ein Organisationsstatut, sondern enthielten ebenfalls ausführliche Grundrechtskataloge, wie es etwa auch in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts auf Länderebene häufig der Fall war. Ein klassisches Beispiel dafür bietet z. B. die geltende Bayerische Verfassung oder die Verfassung von Rheinland-Pfalz. Ganz anders verfuhr man dagegen nach dem zweiten Weltkrieg in Niedersachsen. Dort wurde zunächst der Erlass des Grundgesetzes abgewartet; danach entschied man sich für eine Lösung, die mehr auf den ergänzenden Charakter einer Landesverfassung gegenüber der Bundesverfassung abstellte. Deshalb wurde in der sog. Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung vom 13. April 1951 auf einen Grundrechtskatalog vollständig verzichtet. Diese Vorläufige Niedersächsische Verfassung enthielt lediglich Regelungen über den Landtag und die Landesregierung, über die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und schließlich über das Finanzwesen. Die Verfassungsväter waren der Überzeugung, dass der Grundrechtskatalog in Bund und Ländern der gleiche sein müsse. In diesem zuletzt genannten niedersächsischen Verfassungstyp spiegelt sich aber auch ein bestimmtes Bewusstsein von der Stellung der Länder in einem Bundesstaat wider. Werner Weber, der bekannte Göttinger Staatsrechtslehrer und maßgebliche Mitgestalter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung, hat die Länder primär als höhere Verwaltungseinheiten verstanden. Für höhere Verwaltungseinheiten kommt es in der Tat primär auf eine funktionsfähige Organisation an; eben diese wollte die Vorläufige Niedersächsische Verfassung gewährleisten und nichts weiter. Auch was ihre Legitimation betrifft oder die Staatssymbole des Landes Niedersachsen, so zeigt sich insoweit ebenfalls die nur zögerliche Anerkennung des Staatscharakters Niedersachsens. Die Vorläufige Niedersächsische Verfassung wurde nämlich nicht vom Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt beschlossen, sondern mit einer Zweidrittelmehrheit vom Parlament. Und man konnte sich auch nicht dazu durchringen, eine Landesfahne mit eigenständigen Farben – etwa das weiße Pferd auf rotem Grund – einzuführen, sondern wählte die Bundesfarben für die Landesfahne mit dem entsprechenden niedersächsischen Wappen. 3. Nach der Wiedervereinigung standen nun die fünf neuen Bundesländer ebenfalls vor der Frage, ob sie eine sog. Vollverfassung im Sinne des anfangs geschilderten Typs erlassen oder aber ihren verfassungsrechtlichen Überlegungen das niedersächsische Modell zugrunde legen sollten. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Alle fünf neuen Bundesländer haben sich für eine Vollverfassung entschieden, d. h. für eine Verfassung mit einem ausführlichen Grund-
8. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993
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rechtskatalog und ergänzenden Staatszielbestimmungen. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn nach dem Zusammenbruch der DDR suchte man den einheitsstiftenden Anknüpfungspunkt in den ehemaligen Ländern dieses Teils des deutschen Staatsgebiets. Fiel die Klammer der alten unerwünschten DDR fort, so ist es nur zu verständlich, dass alle neuen Bundesländer ihre Eigenstaatlichkeit betonen und Vollverfassungen haben wollten. 4. Dieses vorherrschende Bedürfnis nach der Wiedervereinigung, an die historischen Länder anzuknüpfen, ist auch eine Erklärung dafür, dass die im Grunde unumgängliche Frage einer Länderneugliederung sowohl in der alten Bundesrepublik wie im ehemaligen Gebiet der DDR zu diesem Zeitpunkt nicht erörtert werden konnte. Das Erstaunliche an den Verfassungsdiskussionen in Bund und Ländern nach der Wiedervereinigung ist aber, dass in diesen Diskussionen die entscheidenden Fragen, die unser demokratisches Staatswesen heute bewegen, im Grunde überhaupt nicht zur Sprache gekommen sind. Sie bestehen zusammengefasst in Folgendem: Unser Staatswesen ist nicht mehr in der Lage, dringende längerfristige Probleme zu lösen. Das zeigt sich beispielhaft an der wachsenden und kaum noch zu steuernden Staatsverschuldung und an dem ungelösten Problem eines wirksamen Umweltschutzes. Es gibt auch keine längerfristigen Perspektiven in den meisten übrigen staatlichen Aufgabenbereichen. Die zweite problematische Entwicklung unseres Staatswesens besteht darin, dass sich die politischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland im staatlichen Bereich nicht auf die politische Willensbildung in den Parlamenten beschränkt haben, sondern ebenfalls auf die Verwaltung und die Rechtsprechung besonders durch eine gezielte, aber nicht immer sehr niveauvolle Personalpolitik massiven Einfluss genommen haben. Hinzu kommt – was fast noch wichtiger ist – ihr nachhaltiger Einfluss auf den (öffentlich-rechtlichen) Rundfunk und damit auf die Auswahl der für die politische Meinungsbildung der Bürger wesentlichen Informationen. Diese Entwicklung lässt sich nur zurückdrehen, wenn man wieder eine Pluralität in der politischen Willensbildung herstellt. Dafür gibt es bekanntlich mehrere Lösungsmöglichkeiten. Eine davon liegt in der Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direkt-demokratische Momente; die andere in der Forderung nach parteipolitischer Neutralität der Beamtenschaft und nach einer Direktwahl der Exekutivspitze zumindest in den Ländern; eine dritte schließlich in der größeren Unabhängigkeit des einzelnen Abgeordneten gegenüber seiner Partei, um so zu gewährleisten, dass die Repräsentation der Wählerinteressen (im Gegensatz zu den Parteiinteressen) im Parlament realisiert wird. 5. Zusammengefasst lässt sich also zu diesem ersten gedanklichen Schritt sagen, dass es zwei Typen von Landesverfassungen in neuerer Zeit gibt, einmal die sog. »Vollverfassung«, zum anderen das Organisationsstatut, wobei Nie-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
dersachsen sich nach dem zweiten Weltkrieg für das zweite Modell entschieden hat. Des Weiteren lässt sich nicht übersehen, dass die Entwicklung der parteistaatlichen Demokratie in Bund und Ländern verfassungsrechtliche Antworten auf ganz neue Probleme erfordert.
II.
Der wesentliche Inhalt der neuen niedersächsischen Verfassung
In einem zweiten gedanklichen Schritt ist nun, wie angekündigt, kurz der Inhalt der neuen Niedersächsischen Verfassung zu schildern, um daraus dann in einem letzten Schritt die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. 1. Eine Präambel, wie sie für Vollverfassungen durchaus üblich (aber nicht konstitutiv) ist, besaß die neue Niedersächsische Verfassung ursprünglich nicht. Der kurz vor Verabschiedung der Verfassung ausgebrochene Streit um den »Gottesbezug« hatte es verhindert, eine solche Präambel zu formulieren. Gedrängt durch eine Volksinitiative nach Artikel 47 der Verfassung hat der Landtag dann aber im Mai dieses Jahres mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen, die neue Verfassung durch eine Präambel zu ergänzen; sie hat folgenden Wortlaut: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben.« Anders als die alte Niedersächsische Verfassung enthält die jetzige auch Vorschriften über Grundrechte und Staatsziele. Allerdings hat man sich, was die Grundrechte betrifft, auf eine sibyllinische Formel geeinigt. Die neue Bestimmung lautet (Artikel 3): »Das Volk von Niedersachsen bekennt sich zu den Menschenrechten als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit. Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteile dieser Verfassung …«. Im Grunde hat man also durch einen generellen Verweis auf das Grundgesetz das Grundrechtsproblem gelöst, allerdings mit der nicht unbeachtlichen Folge, dass nunmehr der Staatsgerichtshof im Rahmen seiner Kompetenz staatliche Maßnahmen auch an den Grundrechten des Grundgesetzes messen kann, da diese nunmehr ja ebenfalls Landesverfassungsrecht darstellen. In der Vorschrift über die Grundlagen der Staatsgewalt ist jetzt zusätzlich der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, zu dem der Staat verpflichtet ist, genannt. Besondere Grundrechtsgewährleistungen und Staatszielbestimmungen enthält die neue Verfassung im Bereich der Kulturhoheit des Landes: Artikel 4 bestimmt, dass jeder Mensch das Recht auf Bildung hat und dass allgemeine Schulpflicht besteht. Außerdem wird hier den privaten Schulen, die Ersatz
8. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993
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für öffentliche Schulen sind, im Falle ihrer Genehmigung eine staatliche Förderung zugesichert. Gemäß Artikel 5 »schützt und fördert« das Land die Wissenschaft. Die Unterhaltung und Förderung von Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen wird zur Landesaufgabe erklärt; den Hochschulen wird die Selbstverwaltung im Rahmen der Gesetze gewährleistet. Nach Artikel 6 schließlich »schützen und fördern« das Land, die Gemeinden und die Landkreise Kunst und Kultur. Weitere Grundrechte und Staatsziele wurden entgegen den meisten anderen sog. Vollverfassungen der Länder nicht in die neue Niedersächsische Verfassung aufgenommen. Besonderen Streit hat es noch über die Frage gegeben, wie die Gleichstellung von Frauen und Männern verfassungsrechtlich sichergestellt werden kann. Das Ergebnis ist das typische Beispiel eines Kompromisses, der nicht viel an der gegenwärtigen Rechtslage ändert. Die Formulierung, auf die man sich verständigt hat, lautet im Artikel 3 Abs. 2, der die Grundrechte betrifft: »Die Achtung der Grundrechte, insbesondere die Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern, ist eine ständige Aufgabe des Landes, der Gemeinden und der Landkreise.« 2. Bezüglich der Vorschriften über den Landtag ist zunächst erwähnenswert, dass der Landtag künftig für fünf Jahre gewählt wird (Artikel 9 Abs. 1). Für die kommende 13. Wahlperiode gilt jedoch noch einmal die Vierjahresfrist (Artikel 76). Das passive Wahlalter hat man – ab der 14. Wahlperiode – auf 18 Jahre herabgesetzt. Die Verfassung selbst legt auch fest, dass auf Listen mit weniger als 5 % der abgegebenen Stimmen keine Mandate entfallen, es sei denn, dass ein Bewerber der betreffenden Partei einen Sitz in einem Wahlkreis direkt errungen hat. Damit wird zugleich das derzeitige Wahlsystem verfassungsrechtlich festgeschrieben (Artikel 8 Abs. 3). Die Verfassung sieht im Übrigen künftig ausdrücklich vor, dass sich Abgeordnete zu Fraktionen zusammenschließen können. Der Opposition wird das »Recht auf Chancengleichheit« gewährleistet und ein verfassungsrechtlicher Anspruch »auf die zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche Ausstattung« zugesprochen (Artikel 19). Die Verfassung regelt außerdem besonders (Artikel 20), dass der Landtag Ausschüsse und einen Ältestenrat bildet. Kleinen Fraktionen wird in den Ausschüssen ein Sitz mit beratender Stimme gesichert. Die meisten dieser Bestimmungen sind aus der Geschäftsordnung des Landtages bzw. aus Landgesetzen übernommen. Erwähnenswert ist noch im Hinblick auf die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten, dass nach dem neuen Artikel 24 die Abgeordneten künftig einen Rechtsanspruch auf Beantwortung ihrer Fragen im Plenum und in den Ausschüssen besitzen. Die Landesregierung hat den Ausschüssen Akten vorzulegen und Zugang zu öffentlichen Einrichtungen zu gewähren, wenn dies mindestens ein Fünftel der Ausschussmitglieder zum Beratungsgegenstand verlangt. Unter
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
bestimmten, in der Verfassung näher geregelten Voraussetzungen kann die Landesregierung allerdings Auskunft, Aktenvorlage und Zugang verweigern. Nach Artikel 25 hat die Landesregierung von sich aus den Landtag über bestimmte wichtige Vorhaben zu unterrichten. Mit dieser Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung sind natürlich künftige verfassungsgerichtliche Prozesse vorprogrammiert. Wer will denn abschließend rechtlich (und nicht politisch wie bisher) entscheiden, ob eine Frage wirklich beantwortet ist und ob die in Artikel 24 Abs. 3 formulierten Verweigerungsgründe der Landesregierung zur Aktenvorlage wirklich zutreffen oder nicht? Schließlich sind die Untersuchungsausschüsse in der neuen Verfassung ausführlicher geregelt als bisher (Artikel 27). Neu ist insbesondere, dass schon ein Fünftel der Landtagsmitglieder die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen kann und dass ein Fünftel der Ausschussmitglieder, das politisch nicht mit der Einsetzungsminderheit identisch sein muss, ein Recht auf Beweiserhebung hat. 3. Zu den Vorschriften über die Gesetzgebung ist zunächst zu bemerken, dass die Gesetze künftig vom Landtagspräsidenten ausgefertigt werden; die Verkündung obliegt nach wie vor dem Ministerpräsidenten (Artikel 45). Damit drückt sich auch ein neues Amtsverständnis des Landtagspräsidenten aus, denn auf Bundesebene fertigt bekanntlich der Bundespräsident die Gesetze aus. Verfassungsänderungen bedürfen in Zukunft der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten, nicht nur – wie bisher – von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder bzw. mindestens von der Mehrheit der Abgeordneten (Artikel 46). 4. Eine besonders wichtige Neuerung sind die Vorschriften über Plebiszite: Vorgesehen ist zunächst eine »Volksinitiative« (Artikel 47). Danach können 70.000 Wahlberechtigte verlangen, dass sich der Landtag mit einem bestimmten Gegenstand befasst. Nach Artikel 48 kann dem Landtag durch Volksbegehren ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf vorgelegt werden. Das Volksbegehren kommt zustande, wenn es von 10 % der Wahlberechtigten unterstützt wird. Nimmt der Landtag dann ein zustande gekommenes Volksbegehren nicht innerhalb von sechs Wochen im Wesentlichen unverändert an, so findet darüber ein Volksentscheid statt (Artikel 49). Dabei kann der Landtag dem Volk einen eigenen Gegenentwurf mit vorlegen. Ein Gesetz kommt durch Volksentscheid zustande, wenn die Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer, jedoch mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten, zustimmt. Zu Verfassungsänderungen durch Volksentscheid ist die Zustimmung von mindestens der Hälfte der Wahlberechtigten erforderlich. Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, so haben die Initiatoren Anspruch auf Kostenerstattung (Artikel 50). 5. Was die Vorschriften über die Rechtsprechung betrifft, so erweitert die neue Verfassung die Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs. Er kann nunmehr
8. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993
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auch bei Streitigkeiten über Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden u. a. von den Initianten angerufen werden, und die Kommunen haben die Möglichkeit erhalten, Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts an den Staatsgerichtshof zu richten (Artikel 54 Nr. 2 und 5). Bisher mussten sich die Kommunen in Niedersachsen bekanntlich bei entsprechenden Verfassungsbeschwerden direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden. Geändert worden ist auch die Zusammensetzung des Staatsgerichtshofs: Es ist nicht mehr vorgesehen, dass dem Staatsgerichtshof Berufsrichter im Nebenamt anzugehören haben. Die Amtszeit der Mitglieder wird jetzt in der Verfassung auf sieben Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl festgesetzt (Artikel 55). Für die Wahl wird eine qualifizierte Mehrheit in der Verfassung – wie bisher schon im Staatsgerichtshofgesetz – vorgeschrieben. 6. Erstaunlicherweise haben die bisherigen Vorschriften über die Exekutive (Regierung und Verwaltung), abgesehen von einer neuen Bestimmung über die Gebietsänderung von Gemeinden und Landkreisen (Artikel 59), nur unwesentliche Änderungen erfahren. Denn hier hätte aller Grund bestanden, die einschlägigen Erfahrungen, die man in über vierzig Jahren mit dem Organisationsstatut der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung gemacht hatte, in die Verfassungsberatungen einzubringen. So wäre beispielsweise die Klärung der Frage wünschenswert gewesen, ob das unerschütterliche Festhalten am Ressortprinzip künftig noch mit der Stellung der Länder vereinbar ist. Und hätte nicht schon im Blick auf die diffuse Verfassungswirklichkeit als maßgebendes Organisationsprinzip für die Verwaltung das Gebot in die Verfassung aufgenommen werden müssen, dass nur in begründeten Ausnahmefällen öffentliche Aufgaben von juristischen Personen des Privatrechts (und in privatrechtlicher Form) erfüllt werden dürfen? Bemerkenswert ist auch, dass keine kritische Stellungnahme im hier unter II 2. geschilderten Sinn zur Verrechtlichung des Verhältnisses von Parlament und Regierung seitens der Landesregierung abgegeben worden ist, obwohl etwa die bereits jetzt durch praktische Fälle belegten Auslegungsschwierigkeiten zum Umfang des Aktenvorlagerechts nach Artikel 24 schon damals erkennbar waren. 7. Bei dieser Sachlage ist es bemerkenswert, dass es zu wesentlichen Änderungen der Vorschriften über das Finanzwesen gekommen ist. Artikel 64 schreibt jetzt ausdrücklich eine mehrjährige Finanz- und Investitionsplanung vor. Artikel 65, der den Landeshaushalt regelt, erwähnt nunmehr auch das Institut der Verpflichtungsermächtigung, das bekanntlich bisher nur in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen vorgesehen war. In Artikel 67 sind die Voraussetzungen für über- und außerplanmäßige Ausgaben präzisiert worden. Neu ist auch die Regelung des Artikels 68: Danach müssen zu Gesetzentwürfen, die von der Landesregierung, aus der Mitte des Landtags oder auch durch Volksbegehren vorgelegt werden, die Mehrkosten und Mindereinnahmen an-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
gegeben werden, die das Gesetz voraussichtlich für das Land, die Gemeinden, die Landkreise und andere Träger öffentlicher Verwaltung mit sich bringen wird. Wenn der Landtag Maßnahmen mit Auswirkungen auf einen schon verabschiedeten Haushalt beschließt, ist er nach der genannten Vorschrift verpflichtet, gleichzeitig die notwendige Deckung zu schaffen. Eine entsprechende Bestimmung findet sich nur in ganz wenigen anderen Landesverfassungen. Sie hat zweifellos eine erhebliche Bremswirkung für kostenwirksame Landtagsgesetze und andere entsprechende Maßnahmen. Das insoweit zentrale Problem einer schlüssigen und handhabbaren verfassungsrechtlichen Grenzziehung für die Staatsverschuldung auf Länderebene löst aber auch die neue Niedersächsische Verfassung nicht. 8. Was schließlich die Übergangs- und Schlussvorschriften angeht, so muss ausdrücklich erwähnt werden, dass die bisherige Bestimmung über die besonderen kulturellen und historischen Belange sowie über die heimatgebundenen Einrichtungen der ehemaligen Länder Niedersachsens unverändert bestehen bleibt (Artikel 72). Sie hat – was häufig übersehen wird – erhebliche Bedeutung für das richtige Verständnis des deutschen Föderalismus. Denn die Einteilung der Länder muss m. E. in Deutschland streng unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und der Leistungsfähigkeit der Länder sowie raumordnerischer Gesichtspunkte geschehen. In den Ländern selbst sollten dann aber die regionalen Unterschiede wirksam geschützt werden, und zwar in der Weise, wie es in Artikel 72 ansatzweise geschieht und bisher auch faktisch geschehen ist. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass die neue Verfassung ausdrücklich Hannover zur Landeshauptstand (Artikel 1Abs. 3) und Bückeburg zum Sitz des Staatsgerichtshofs (Artikel 55 Abs. 5) erklärt.
III.
Der Kompromiss der neuen niedersächsischen Verfassung
Vergleicht man nun den soeben dargelegten Inhalt der neuen Niedersächsischen Verfassung mit den zuvor unter I. geschilderten Formen der Verfassungsgebung bzw. den dort genannten Herausforderungen an eine neue Verfassung, so kann das abschließende Ergebnis nur lauten, dass die neue Niedersächsische Verfassung in mehrfacher Form einen typischen politischen Kompromiss darstellt: - Das beginnt mit der Legitimation dieser Verfassung. Sie ist nicht vom Volk direkt beschlossen worden, sondern mit jener qualifizierten parlamentarischen Mehrheit, die sowohl in der alten Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung wie in der neuen Verfassung für Verfassungsänderungen vorgesehen ist. Das Volk als Träger der verfassungsgeben Gewalt ist also direkt nicht tätig geworden. Gesetzgebung und Verfassungsänderungen traut man ihm gemäß
8. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993
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Artikel 48 und 49 zu, nicht aber die Beschlussfassung über die Verfassung selbst – ein merkwürdiges Ergebnis! - Zu einer Vollverfassung mit einem ausführlichen Grundrechtskatalog und einem ausführlichen Katalog über Staatszielbestimmungen, wie er neuerlich in Mode gekommen ist, hat sich der niedersächsische Verfassungsgeber nicht durchringen können. Insoweit hat man – m. E. zu Recht – an der Ergänzungsfunktion einer Landesverfassung gegenüber der Bundesverfassung festgehalten. - Aber auch was die Frage nach den Korrektiven in unserer gegenwärtigen Parteienstaatsdemokratie betrifft, so bietet diese Verfassung lediglich Ansätze für eine Lösung, und das auch nur in einer Form. Denn sie spricht – mit halbem Herzen – allein das direkt-demokratische Korrektiv an: Wer wird schon 10 % der Wahlberechtigten für ein Volksbegehren zusammenbekommen? Und vor allem: Wem gelingt es, ein Viertel der Wahlberechtigten für einen positiven Volksentscheid über einen Gesetzentwurf zu mobilisieren? Die Schwellen sind einfach zu hoch angesetzt. Im Übrigen fehlen die anderen erwähnten Korrektive: Garantie eines effektiven, von parteipolitischem Einfluss freien öffentlichen Dienstes und Direktwahl der Exekutivspitze sowie ein Abgeordnetenrecht, das die Repräsentation der Wählerinteressen im Parlament garantiert. Die neue Niedersächsische Verfassung spiegelt damit im Ergebnis getreulich wider, was man als herrschendes politisches Klima in dieser Republik bezeichnen kann: Wir leben nicht in einer Zeit der großen, mutigen Entwürfe. Und es bestand trotz der vielfach zitierten Parteien- und Politikverdrossenheit offensichtlich weder im Bund noch in Niedersachsen ein ernsthafter politischer Wille, dem nunmehr augenscheinlich gewordenen alleinigen Zugriff der politischen Parteien auf die Verfassungsgebung selbst entgegenzuwirken. Dementsprechend beruhen sowohl die bisher bekanntgewordenen Ergebnisse der Beratungen über eine Reform des Bonner Grundgesetzes wie die neue Niedersächsische Verfassung durchweg auf Kompromissen, die zwischen parteipolitisch motivierten Gegensätzen gefunden werden mussten. Ein fundierter Sachbeitrag der Exekutive, Wissenschaft oder gar des Wahlvolkes selbst lässt sich dagegen kaum ausmachen. Berücksichtigt man diese Umstände, so wird man sagen müssen, dass die neue Niedersächsische Verfassung aufs Ganze gesehen eine brauchbare Grundlage für das staatliche Leben in diesem Lande schafft. Weitergehendes ist allerdings nicht zu vermelden.
9.
Die Entstehung der neuen Niedersächsischen Verfassung und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs und die Staatspraxis
I.
Die Verfassungsrechtslage in Niedersachsen in den Jahren 1991 – 1993
1.
Der Charakter der damals geltenden Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung und die Frage ihrer Weitergeltung nach der Wiedervereinigung Deutschlands
Vor dem Inkrafttreten der neuen Niedersächsischen Verfassung am 1. Juni 1993 galt in diesem Bundesland die Vorläufige Niedersächsische Verfassung (VNV) vom 13. April 1951. Sie hatte sich über all’ die Jahre in der Praxis vorzüglich bewährt, und zwar besonders deshalb, weil sie – ergangen nach Erlass des Grundgesetzes – sich nahtlos in die Regelungen unserer Bundesverfassung einfügte. Aus dieser Ergänzungsfunktion der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung folgte notwendig ein ganz bestimmtes Verständnis von der Aufgabe einer Landesverfassung überhaupt. Denn danach machen das Grundgesetz und die (seine Vorgaben beachtenden) Landesverfassungen erst gemeinsam das Verfassungsrecht des deutschen Bundesstaates aus; es ist also von zwei autonomen, aber erst zusammen ein Sinnganzes ergebenden Verfassungsräumen auszugehen1. Die inhaltliche Substanz der Verfassungsautonomie der Länder liegt bei dieser Sichtweise notwendig vor allem in der Organisation der Landesstaatsgewalt. So sah es zumindest die große Mehrheit des Niedersächsischen Landtags der 1. Wahlperiode, die mit Zweidrittelmehrheit diese Verfassung beschloss. Ihre Auffassung war maßgeblich durch einen Regierungsentwurf von
1 Zu diesem Verfassungsverständnis s. besonders: Henner Jörg Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, 1997, S. 183, 233 f. und aus der älteren Literatur zusammenfassend: Wolfgang Graf Vitztum, Die Bedeutung des gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart (1. Bericht), VVDStRL 46 (1988), S. 7 (11 ff.).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
19502 und die einschlägigen Stellungnahmen dazu von Werner Weber geprägt worden3. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands trat in Niedersachsen insofern eine neue verfassungsrechtliche Situation ein, als der Artikel 61 Abs. 2 VNV vorsah, dass »diese Verfassung ein Jahr nach Ablauf des Tages außer Kraft« tritt, »an dem das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschließt.« Die Frage, ob aufgrund dieser Vorschrift für das Land verfassungsrechtlicher Handlungsbedarf nach der Wiedervereinigung Deutschlands bestand, ist von der Literatur überwiegend verneint worden. Die Vereinigung Deutschlands habe sich – so ist durchweg argumentiert worden – ja nicht über den Weg des Artikel 146 GG, sondern durch Beitritt entsprechend Artikel 23 GG (jeweils in der bis zum 23. 09. 1990 geltenden Fassung) vollzogen4. Artikel 61 Abs. 2 VNV habe sich somit auf diese Weise »erledigt«. So sah es auch, wie noch zu schildern sein wird (II), die überwiegende Mehrheit im Verfassungsausschuss, der den Entwurf für die neue Niedersächsische Verfassung erarbeitete. Nun kann man aber schon unter Hinweis auf den Wortlaut des Artikel 61 Abs. 2 VNV mit Fug bezweifeln, ob diese Sicht wirklich so zwingend ist5. Auch der Sinn und Zweck dieser Vorschrift spricht wohl gegen die Annahme, dass das 2 LT-Drs. 1/2073. Zuletzt dazu mit weiteren Literaturangaben: Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung des Landes Niedersachsen und seiner Verfassung, in: Edmund Brandt/Manfred Carl Schinkel (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht in Niedersachsen, 2002, S. 23 (57 ff.). 3 Zu Werner Webers Einfluss auf die Verfassungsgebung in Niedersachsen s. die Stellungnahmen von: Hans-Jürgen Toews, Werner Weber und die Verfassungsentwicklung in Niedersachsen, DÖV 1974, S. 514 ff.; Bernd Rebe, in: Heinrich Korte/Bernd Rebe (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung des Landes Niedersachsen, 2. Aufl, 1986, S. 115 ff. und Christian Starck, Einleitung, in: Werner Weber, Zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (= Heft 7 einer vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages herausgegebenen Schriftenreihe), 1984, S. 3 ff. Werner Webers mündliche Stellungnahmen zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung sind in dem zuletzt genannten Heft der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages dokumentiert; s. daneben seinen Aufsatz: Die Verfassungsfrage in Niedersachsen, DVBl. 1950, S. 593 ff. und seine kurze Darstellung: Die Verfassung Niedersachsens, AöR 77 (1951/52), S. 362 ff. Zu seinem damaligen allgemeinen Föderalismusverständnis s. noch: ders. Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 37 ff. Später hat Werner Weber dem deutschen Föderalismus weitaus positivere Seiten abgewinnen können; s. ders. aaO., S. 288 ff., bes. S. 292 ff. 4 So etwa Edzard Blanke, Niedersächsische Verfassung 1993, in: Vertrauen in den Rechtsstaat (Festschrift für Walter Remmers) 1995, S. 113 (115, 117 f.) und Christian Starck, Die neue Niedersächsische Verfassung von 1993, NdsVBl. 1994, S. 1 sowie in Bd. 1, S. 504 f. und Bd. 2 S. 1049 des zweiteiligen Materialienbandes: Niedersächsische Verfassung vom 19. Mai 1993, zusammengestellt von der Landtagsverwaltung (1993). Im Ergebnis ebenso Jörn Ipsen, Eine Verfassungsbeschwerde für Niedersachsen!, NdsVBl. 1998 S. 129 f und Uwe Berlit, Die neue Niedersächsische Verfassung, NVwZ 1994, S. 11 (12). 5 Vor allem wenn man bedenkt, dass Artikel 61 Abs. 2 VNV i. V. m. der Verfassungsüberschrift (Vorläufige Niedersächsische Verfassung) zu lesen war, die Verfassung also nur für einen bestimmten Zeitraum erlassen werden sollte.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
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niedersächsische Volk den Landtag mit verfassungsgebender Gewalt für den Fall der Wiedervereinigung ausgestattet hat. Folgt man dieser Argumentation, so konnte sich der Artikel 61 Abs. 2 VNV letztlich nur durch den Erlass einer neuen Niedersächsischen Verfassung (und nicht – wie geschehen – durch Änderung der alten) »erledigen«. Aufgrund dieser Sichtweise durchaus berechtigte Zweifel an der hinreichenden demokratischen Legitimation der neuen Niedersächsischen Verfassung lassen sich m. E. allerdings mit dem Hinweis begegnen, dass die Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt auf die deutschen Landesverfassungen schon wegen der auch insoweit bestehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes nur in modifizierter Form Anwendung finden kann6. Wie dem auch sei, im Ergebnis war in jedem Fall die Wiedervereinigung Deutschlands – sei es faktisch, sei es rechtlich – Auslöser für die Ende 1990 begonnenen Beratungen über eine neue Verfassung im Niedersächsischen Landtag.
2.
Aus der Verfassungspraxis unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung folgende Notwendigkeiten für ihre Reform
Die Verfassungspraxis unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung bis zum Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahre 1993 zeigt einen ganz anderen verfassungsrechtlichen Reformbedarf als den, der in den noch zu schildernden Verfassungsberatungen über die neue Niedersächsische Verfassung artikuliert wurde: Werner Weber formulierte bereits im Jahre 1961 mit der ihm eigenen Hellsichtigkeit jene möglichen Entwicklungstendenzen, die in der niedersächsischen Verfassungspraxis im Jahre 1993 Wirklichkeit geworden waren. Er führte damals am Schluss seiner Rede zum 10. Jahrestag der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung aus: »Nach Wegfall oder Einschränkung der Gesetzgebungsaufgaben könnte es (= das Parlament) sich stärker der unmittelbaren Einwirkung auf die ausführende Verwaltung zuwenden wollen, zumal die Substanz der Länder sich ohnehin immer mehr auf die Verwaltung verlagert und die parteistaatlichen Tendenzen auch sonst längst ihr Interesse an der unmittelbaren Verwaltungsherrschaft bezeugt haben. Es braucht nicht so zu kommen, aber vieles spricht dafür, dass sich die Dinge nach 6 Dazu überzeugend Boehl (Anm. 1), S. 171 ff., 183 ff. (Zusammenfassung). Entsprechend dieser Sicht der Dinge heißt es in der durch das Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung vom 6. Juni 1994 (Nds. GVBl. S. 229) der Niedersächsischen Verfassung vorangestellten Präambel, dass »sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben« habe.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
dieser Richtung entwickeln werden, wenn man ihnen unreflektiert Lauf lässt. Dann allerdings würde die Verfassung in eine Krise geraten können; denn die spezifische Besonderung von Exekutive und Legislative, von Regierung und Verwaltung einerseits und des Parlaments andererseits, auf der sie fußt, würde dann entfallen. Damit wäre auch die fruchtbare Polarität von handelnder staatlicher Herrschaftsverantwortung und kontrollierender Volksrepräsentation in Frage gestellt«7.
Diese Sicht der Dinge ergänzt Webers bereits 1950 abgegebene Stellungnahme zur schon damals in Niedersachsen eingetretenen Umwandlung der überkommenen Verwaltungsorganisation. Er schrieb damals: »Der hannoversche Ministerialzentralismus hat die Mittel- und Unterbehörden in diesem weit gedehnten Land anscheinend mehr der Verantwortung entkleidet, als mit volksnaher Verwaltung und mit der Eigenständigkeit der acht historischen Regierungs- und Verwaltungsbezirke verträglich ist. Zwischen diesem Ministerialzentralismus einerseits und einer allzu bereitwillig vollzogenen Kommunalisierung andererseits, die das Land in eine Fülle scheinbar autonomer Gemeinde- und Kreisrepubliken aufgelöst hat, behaupten die staatlichen Mittelbehörden der Regierungs- und Verwaltungsbezirkspräsidien mühsam ihren Stand. Das alte Erbe eines institutionell und personell geschlossenen Systems allgemeiner Staatsverwaltung, von einem politisch neutralen Berufsbeamtentum getragen, scheint in Niedersachsen nicht mehr viel zu gelten und sieht sich vor der Gefahr, zwischen den spezialistisch aufgefächerten und politisierten Ministerien und ebenfalls, aber in anderer Weise politisierten Kommunalrepubliken zerrieben zu werden. Das sind Strukturwandlungen, die im Begriffe sind, den politischen Organismus Niedersachsens tief und nicht zu seinem Vorteil zu verändern«8.
Diese von Werner Weber vorausgesagten Entwicklungen waren – wie gesagt – beim Inkrafttreten der neuen Verfassung in Niedersachsen voll eingetreten: Wie in den anderen Bundesländern (und weitgehend auch im Bund) konnte man hier zu diesem Zeitpunkt für jedermann erkennbar nicht mehr von einer wirklichen Trennung zwischen Exekutive und Legislative im Sinne des verfassungsrechtlich verbürgten (und durch Artikel 79 Abs. 3 GG bzw. Artikel 37 VNV mit besonderem Schutz ausgestatteten) Gewaltenteilungsprinzips sprechen. Die Personalwirtschaft war bereits damals, zumindest was die Spitzenpositionen des höheren Dienstes in der allgemeinen Verwaltung und den Landesministerien betrifft, entgegen den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Artikel 3 Abs. 3 und 33 Abs. 2 GG weitgehend primär von parteipolitischen Überlegungen bestimmt9. Das auf Landesebene kraft Verfassung geltende Ressortprinzip musste 7 Weber, Vortrag aus Anlass des Staatsaktes zum 10. Jahrestag der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung am 13. April 1961 in Hannover, in: Zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (Anm. 3), S. 33 (erste Hervorhebung von Weber). 8 Die Verfassungsfrage in Niedersachsen (Anm. 3), S. 597 f. (Hervorhebungen vom Verfasser!). 9 s. dazu die von mir mitgeteilten Beobachtungen: Janssen, Die Infragestellung des Verfassungsstaates, Die Verwaltung 35 (2002, S. 117 (120 ff.) und: Bund der Steuerzahler. Nieder-
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angesichts schwindender Kompetenzen der Länder für Entscheidungen von politischem Gewicht in Frage gestellt werden. Schließlich war die (weitere) Zersplitterung der Verwaltung nicht nur – wie von Werner Weber befürchtet – durch Entmachtung der Bezirksregierungen aufgrund zunehmender Einmischung der Ministerialbürokratie in ihre Kompetenzen eingetreten, sondern diese Zersplitterung wurde seitens des Landes darüber hinaus durch Gründung privater Gesellschaften wie die (inzwischen wieder aufgelöste) Niedersächsische Hochschulbaugesellschaft mbH, die Niedersächsische Finanzierungsgesellschaft mbH10 u. a. und deren Betrauung mit Verwaltungsaufgaben befördert. Auch der Versuch, die Wirtschaftsförderung in Niedersachsen nicht mehr über den allgemeinen Landeshaushalt, sondern durch gesetzliche Begründung eines Sondervermögens (Wirtschaftsförderfonds) zu betreiben11, gehört in diesem Zusammenhang. Auf die Arbeit des Niedersächsischen Landtags wirkte sich die geschilderte Entwicklung wie folgt aus12 : Eine parlamentarische Kontrolle der Regierung fand beinah ausschließlich nur noch durch die jeweilige Opposition statt. Diese Kontrolle verzettelte sich im Übrigen häufig in bürokratischen Detailfragen oder griff Themen der »großen« Bundespolitik auf. Die Gesetzgebung des Niedersächsischen Landtags war zu einem großen Teil spätestens seit ca. 1970 überwiegend durch kurzfristige politische Überlegungen bedingte Änderungsgesetzgebung oder stellte sich als der Versuch dar, bisher ungeregelte Bereiche staatlicher Politik durch gesetzliche Regelung parlamentarisch mitzubestimmen. Bedingt durch die wachsende Staatsverschuldung, die in das Grundgesetz im Jahre 1969 aufgenommenen Artikel 91 a und 91b (wie auch Artikel 104a Abs. 3) GG und die kaum vorhandene Steuerautonomie der Länder konnte man sachsen und Bremen e.V., Vorschläge zur Begrenzung des Parteieinflusses auf den öffentlichen Dienst, 2002, S. 13 ff., 21 ff., 31 f. u. a. Wie im Bund so hat es auch in Niedersachsen zu Beginn seiner Nachkriegsgeschichte Versuche gegeben, durch ein weitgehend unabhängiges Personalamt eine geordnete Personalwirtschaft sicherzustellen, s. das Gesetz über das Personalamt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes vom 23. Juni 1948 (Gesetzund Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates, S. 57) und seine Fortentwicklung durch das Gesetz Nr. 15 der Militärregierung Deutschland – Britisches Kontrollgebiet – vom 5. März 1949 (Verordnungsblatt für die britische Zone S. 57). 10 Dazu bereits meine kurze Kritik: Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 232 Anm. 46. Der niedersächsische Landesrechnungshof hat sich in den letzten Jahren dieses Themas angenommen; darauf ist hier unter III 6 zurückzukommen. 11 s. dazu das Gesetz über ein Sonderprogramm zur Wirtschaftsförderung des Landes Niedersachsen vom 8. 11. 1977 (Nds. GVBl. S. 589), zuletzt geändert durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes über ein Sonderprogramm zur Wirtschaftsförderung des Landes Niedersachsen vom 9. März 1993 (Nds. GVBl, S. 65). 12 s. zum Folgenden mit Belegen für die behauptete Entwicklung genauer: Janssen, Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Rückblicke – Ausblicke (= Heft 19 einer vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages herausgegebenen Schriftenreihe), 1992, S. 15 ff.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
im Jahre 1993 von einer über bürokratische Detailfragen hinausgehenden selbstständigen Etatberatung (und von einer entsprechenden Beratung über die mehrjährige Finanzplanung) im Niedersächsischen Landtag auch nicht mehr sprechen. Es war so gesehen nur konsequent, dass der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag, der sich in der Vergangenheit praktisch zu jedem ernsthaften verfassungsrechtlichen Problem, das sich in Niedersachsen unter der Geltung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung stellte, gutachtlich geäußert hatte, nach der Wiedervereinigung Deutschlands auf die an ihn gerichtete Frage der Politik nach dem Reformbedarf der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung die Erörterung folgender Fragestellungen für besonders dringlich erachtete13 : - Lässt sich, wenn die Länder wie heute weitgehend zu »Verwaltungsprovinzen« degradiert sind, noch das aufwendige parlamentarische Regierungssystem, vor allem das für die Organisation der Regierung maßgebliche Ressortprinzip rechtfertigen? - Ist nicht wegen der Aufhebung des Gewaltenteilungsprinzips zwischen Exekutive und Legislative entweder an eine Direktwahl des Ministerpräsidenten, in jedem Fall aber an eine stärkere unmittelbare Beteiligung des Volkes an staatlichen Entscheidungen zu denken? - Müssen nicht die Bezirksregierungen verfassungsrechtlich geschützt und Bestimmungen geschaffen werden, die die (Organisations-)Privatisierung in der staatlichen Verwaltung an genau festgelegte Voraussetzungen binden? - Sind nicht wirksamere und rechtlich besser handhabbare verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Grenzen der Staatsverschuldung zu fordern? Dass die tatsächliche Problemerörterung in den Beratungen über die neue Niedersächsische Verfassung weitgehend eine völlig andere war, ist nunmehr unter II genauer zu schildern.
13 Die folgenden Themenkomplexe sind angesprochen in einem vollständigen Verfassungsentwurf mit Begründung, den Mitglieder des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag für die Verfassungsberatungen in Sachsen-Anhalt, an denen sie regelmäßig als Sachverständige teilnahmen, ausgearbeitet haben, sowie in verschiedenen Vermerken, die der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst auf Anfrage der Politik zu diesem Problembereich fertigte. Indirekt werden diese grundsätzlichen Fragen zum Teil bestätigt durch die Formulierungsvorschläge, die der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst für den parlamentarischen Sonderausschuss »Niedersächsische Verfassung« in den Jahren 1991 – 93 erarbeitete, s. insoweit besonders Materialienband (Anm. 4) II, S. 1459 f., 1467 f., 1491 und 1637.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
II.
253
Der Verlauf der Beratungen über die Niedersächsische Verfassung vom 19. 5. 1993
Mit Beschluss vom 10. Oktober 1990 wurde vom Niedersächsischen Landtag ein Sonderausschuss »Niedersächsische Verfassung« (im Folgenden abgekürzt: Verfassungsausschuss) mit dem Auftrag eingesetzt, »Vorschläge zur Änderung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung mit dem Ziel der Schaffung einer endgültigen Verfassung zu erarbeiten«14 : Dieser Ausschuss, dem ausschließlich Mitglieder aller vier Landtagsfraktionen angehörten, einigte sich nach ausführlichen Beratungen über einen Verfassungsentwurf der Fraktionen der SPD und Grünen15, einen entsprechenden Entwurf der Fraktion der CDU16 und einen Verfassungsentwurf der FDP17 auf einen gemeinsamen Entwurf für die Niedersächsische Verfassung18. Dieser Entwurf des Verfassungsausschusses wurde in der Plenarsitzung vom 18. Mai 1993 debattiert und zur Weiterberatung wiederum dem Verfassungsausschuss überwiesen. Der genannte Ausschuss legte dem Landtag zur zweiten (und dritten) Lesung einen nochmals überarbeiteten Verfassungsentwurf19 vor. Dieser Entwurf wurde mit der vom Landtag für erforderlich erachteten Zweidrittelmehrheit (nämlich mit nur einer Gegenstimme) in seiner Sitzung am 13. Mai 1993 angenommen20. Durch das aufgrund einer Volksinitiative ausgelöste Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung vom 6. Juni 199421 ist der Niedersächsischen Verfassung eine Präambel vorangestellt worden22. Eine weitere Ergänzung erfuhr die neue Verfassung 14 s. LT-Drs. 12/259 i. V. m. dem Protokoll über die 7. Landtagssitzung der 12. Wahlperiode vom 10. Oktober 1990, S. 480 ff. (486). 15 LT-Drs. 12/3008 und 12/3160. 16 LT-Drs. 12/3210. 17 LT-Drs. 12/3250. In der LT-Drs. 12/3350 sind die Vorläufige Niedersächsische Verfassung und die drei von den Fraktionen vorgelegten Verfassungsentwürfe einander gegenübergestellt. 18 Genauer gesagt den Gesetzentwurf der Mitglieder des Sonderausschusses »Niedersächsische Verfassung« – LT-Drs. 12/4650. 19 Beschlussempfehlung des Sonderausschusses »Niedersächsische Verfassung« LT-Drs. 12/ 4800 mit der Änderung LT-Drs. 12/4898. 20 Wörtlich stellte der Landtagspräsident nach dem Protokoll der 80. Landtagssitzung der 12. Wahlperiode vom 13. Mai 1993 (dort S. 7518) fest: »Damit sind die nach Artikel 38 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung erforderlichen Mehrheiten (erg.: die dort für Verfassungsänderungen vorgesehen waren) erfüllt, und der Gesetzentwurf in der Drucksache 4650 ist mit den beschlossenen Änderungen angenommen.« 21 Nds. GVBl. S. 229. Zur Volksinitiative s. genauer Hans-Georg Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung. Die Volksinitiative zur Novellierung der Niedersächsischen Verfassung, 1995. 22 s. die Plenardebatte darüber in der 106. Sitzung der 12. Wahlperiode vom 19. Mai 1994 (Protokoll S. 1001 ff.). Der entsprechende Gesetzentwurf findet sich in der LT-Drs. 12/5971, die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen in der LT-Drs. 12/6264.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung vom 21. November 199723. Mit dieser Änderung wurde der Text des Artikel 3 Abs. 3 GG wörtlich in die Niedersächsische Verfassung übernommen, diese daneben durch neue Staatsziele angereichert24 und schließlich räumte man mit dieser Novelle den kommunalen Spitzenverbänden ein Anhörungsrecht ein, »bevor durch Gesetz oder Verordnung allgemeine Fragen geregelt werden, welche die Gemeinden oder die Landkreise unmittelbar berühren« (Artikel 57 Abs. 6 NV). Die Arbeit des Verfassungsausschusses und die Plenardebatten über die Niedersächsische Verfassung können zusammenfassend als »Verfassungsgebung durch politische Parteien« charakterisiert werden25. Diese Feststellung besagt zunächst, dass im Gegensatz zu den Beratungen zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung von der Regierung und Ministerialbürokratie kein substanzieller Beitrag zu den Erörterungen des Verfassungsausschusses (und des Landtages) geleistet worden ist26. Sie besagt weiter, dass der Landtag sehr schnell zu der Überzeugung kam, dass er formal eine Verfassungsänderung 23 Nds. GVBl. S. 480. Zu den parlamentarischen Beratungen dieser Änderung s. Landtagsprotokoll der 88. Sitzung der 13. Wahlperiode vom 12. 11. 1997, S. 9403 ff. (2. und 3. Beratung). Zu den der Beratung zu Grunde liegenden Entwürfen s. die Angaben in der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Recht- und Verfassungsfragen: LTDrs. 13/3396. 24 Und zwar : den Schutz und die Förderung des Sports (Ergänzung des Artikel 6 NV), die Verpflichtung des Landes, darauf hinzuwirken, dass »jeder Mensch Arbeit finden und dadurch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und dass die Bevölkerung mit angemessenem Wohnraum versorgt ist« (Artikel 6a NV) und schließlich heißt es noch im neuen Artikel 6b NV: »Tiere werden als Lebewesen geachtet und geschützt.« 25 Dazu bereits kurz: Janssen, Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993 – Ein wirklicher Fortschritt? Neues Archiv für Niedersachsen 1994, S. 1 (9 f.). 26 Dazu kritisch bereits der Abgeordnete Möllring in der 1. Lesung des Verfassungsentwurfs im Plenum am 18. März 1993 (Plenarprotokoll S. 7365). Dort heißt es: »Ich muss noch etwas sagen: Dass die Frauenministerin jetzt noch eingegriffen hat, ist das erste Mal, dass die Regierung überhaupt zu dieser Verfassung Stellung nimmt. … Die Beamten der Landesregierung haben uns nur in einem Punkt ernsthaft begleitet, als es nämlich darum ging, wer nun letztlich die Gesetze veröffentlicht, ob das der Ministerpräsident ist oder der Präsident des Niedersächsischen Landtages.« Nimmt man die wenigen Beratungen des Verfassungsausschusses bis zur 2. Lesung und die Plenardebatten der 2. Und 3. Lesung des Verfassungsentwurfs hinzu, so lassen sich zwar kurze Beiträge der Landesregierung zu (redaktionellen) Detailfragen der Artikel 8, 24, 25, 33, 36, 39, 59 und 71 NV ausmachen (s. Schriftlicher Bericht zum Entwurf einer Niedersächsischen Verfassung: LT-Drs. 12/5840, S. 11, 19, 24, 25, 38, 42); es fehlt insoweit aber – wie gesagt – jeder wirklich substanzielle Beitrag seitens der Exekutive, was im Blick auf die hier unter I 2 geschilderten praktischen Erfahrungen mit der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung besonders nachdenklich stimmt. Denn die dort angesprochenen Probleme lagen trotz ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung den dem Verfassungsausschuss angehörenden Landtagsabgeordneten aufgrund ihrer zwangsläufig anderen Sichtweise naturgemäß fern. Zu der These, dass hier eine genuine Aufgabe von der Exekutive versäumt wurde, s. auch Janssen, Infragestellung (Anm. 9), S. 124, 126 f. 128.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
255
beriet – mit der Folge, dass der vom Verfassungsausschuss ausgearbeitete Entwurf nicht dem Volk zur Abstimmung vorzulegen war, sondern »nur« die von den politischen Parteien (Fraktionen) herbeizuführende parlamentarische Mehrheit von zwei Dritteln diesen zu beschließen hatte. Das Volk selbst konnte sich also wie bei jedem normalen Gesetz unmittelbar an den Verfassungsberatungen lediglich durch entsprechende Eingaben an den Landtag »beteiligen«. Die Abweichungen im Ablauf der Verfassungsberatungen vom Procedere der normalen parlamentarischen Gesetzesberatungen beschränken sich im Ergebnis damit darauf, dass ein vom Parlament eingesetzter (Sonder-)ausschuss von Abgeordneten des Landtags den Verfassungsentwurf für die erste parlamentarische Beratung erarbeitete und dieser Ausschuss seit seiner 7. Sitzung (von insgesamt 44 Sitzungen) öffentlich tagte27. Die so strukturierte »Verfassungsgebung durch politische Parteien« hatte natürlich Folgen für den Ablauf der Beratungen im Verfassungsausschuss wie im Landtag: Hielt man für die Annahme des Entwurfs eine parlamentarische Mehrheit von zwei Dritteln für erforderlich, so hatten nur gemeinsam von den beiden großen Fraktionen getragene Änderungsvorschläge eine Realisierungschance, was häufig zwangsläufig Kompromisslösungen mit sich brachte28. Aber auch inhaltlich waren die Beratungen im Verfassungsausschuss wie im Landtag fast ausschließlich durch die Sichtweise des parteilich gebundenen Abgeordneten bestimmt. Nur so kann man es m. E. erklären, dass die hier am Schluss unter I 2 genannten Probleme, die ja alle aus Erfahrungen der Verfassungspraxis unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung folgten, mit Ausnahme der Erörterung über Inhalt und Umfang einer unmittelbaren Beteiligung des Volkes 27 Aus m. E. guten Gründen sieht § 93 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtags Nichtöffentlichkeit der Ausschussberatungen in Niedersachsen vor. Denn nur auf diese Weise besteht zumindest die Chance, dass vorab fraktionsintern festgelegte Standpunkte argumentativ vertreten und möglicherweise auch aufgrund von Gegenargumenten modifiziert bzw. aufgegeben werden. Dass demgegenüber die beschlossene Öffentlichkeit der Sitzungen des Verfassungsausschusses Sinn machte, zeigt überzeugend die Begründung eines entsprechenden Antrags der Fraktionen der SPD und der Grünen: LT-Drs. 12/867; s. ergänzend auch den Bericht des Geschäftsordnungsausschusses, der seine Beratungen über diesen Antrag für das Plenum zusammenfasst: Plenarprotokoll vom 12. ›September 1991 über die 34. Sitzung des Niedersächsischen Landtages der 12. Wahlperiode, S. 3046. 28 In befremdlicher Weise bestimmte dieser Zwang zum Kompromiss besonders die Beratungen über das Zweite Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung vom 21. November 1997, soweit es um die Aufnahme von weiteren Staatszielen in die Niedersächsische Verfassung ging. Bisweilen gewinnt man bei der Lektüre der Ausschuss- und Plenarprotokolle über die Beratungen zu diesem Änderungsgesetz den Eindruck, dass keine inhaltliche Debatte, sondern ein »Kuhhandel« über die Aufnahme weiterer Staatszielbestimmungen in die Niedersächsische Verfassung stattfand. Welche Schwierigkeiten das Ergebnis dieser Beratungen einer schlüssigen juristischen Interpretation bereitet, zeigt KyrillA. Schwarz, Neue Staatsziele in der Niedersächsischen Verfassung, Nds VBl 1998, S. 225 (227 ff.).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
an der staatlichen Willensbildung kaum zur Sprache kamen. Die Diskussion über den zukünftigen Inhalt der Niedersächsischen Verfassung beschäftigte sich vielmehr im Schwerpunkt mit der Frage einer Aufnahme von Grundrechten und (weiteren) Staatszielen in die Niedersächsische Verfassung und daneben mit den Möglichkeiten einer Verbesserung der parlamentarischen Kontrollrechte. Was die zuletzt genannte Thematik betrifft, so gingen die Beratungen im Verfassungsausschuss wie im Landtag ganz offensichtlich davon aus, dass die parlamentarische Kontrolle der Regierung primär der Opposition zukommt und deren Status besonders aus diesem Grund auch verfassungsrechtlich abgesichert werden müsse. Diese Sichtweise lässt sich nun nicht nur abstrakt mit dem Hinweis auf das von der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung wie der jetzigen Verfassung bejahte parlamentarische Regierungssystem erklären, sondern dafür ist besonders auch der Umstand wesentlich, dass die Mitglieder der SPD-Fraktion erst 1990 ihren über mehr als drei Wahlperioden währenden Oppositionsstatus beendet hatten und (aufgrund einer Koalition mit der Fraktion der Grünen) soeben Regierungsfraktion geworden waren. Es verband also alle Abgeordneten des Niedersächsischen Landtags eine lebendige gemeinsame »Oppositionserfahrung«, die umso nachhaltiger ihr Bewusstsein bestimmte, als – basierend auf den Erfahrungen des Barschel-Untersuchungsausschusses – im Nachbarland Schleswig-Holstein 1990 eine umfassende Verfassungsreform in Kraft getreten war, die sich eben auch dem Status der Opposition und dem Ausbau der parlamentarischen Kontrollrechte mit besonderer Sorgfalt widmete29. Konsequent war es darum im Sinne des Gesagten, dass der Verfassungsausschuss des Niedersächsischen Landtags Ende Januar 1992 als einzige Infor29 Dass für die Verfassungsdebatte in Schleswig-Holstein die Barschel-Affäre eine besondere Bedeutung besaß, lässt sich dem Protokoll über den Informationsbesuch des niedersächsischen Verfassungsausschusses vom 27. 01. 1992 entnehmen, s. Materialienband (Anm. 4), I, S. 717; ähnlich etwa auch Stephan Rohn, Verfassungsreform in Schleswig-Holstein, NJW 1990, S. 2782 (2783). Die These, dass der Opposition in der parteistaatlichen Demokratie mit parlamentarischen Regierungssystem die entscheidende Kontrollfunktion zukommt, hat besonders Hans-Peter Schneider verfassungsrechtlich und staatstheoretisch begründet (m. E. exemplarisch sein Beitrag: Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 1055/1064 f., 1073 f.). Bekanntlich war Hans-Peter Schneider sowohl Mitglied der Enquete-Kommission des Schleswig-Holsteinischen Landtags, die sich besonders mit der Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle beschäftigte und 1989 ihren Schlussbericht vorlegte (s. dazu Rohn, aaO.), wie auch der von der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag für die Anhörung im Verfassungsausschuss benannte Sachverständige. Zum Verständnis der parlamentarischen Opposition s. sein dem Ausschuss vorgelegtes Thesenpapier : Materialienband (Anm. 4)II, S. 1063 f. und seine mündlichen Ausführungen im Verfassungsausschuss am 7. 2. 1991: Materialienband (Anm. 4), I, S. 502. Deutlich im Sinne der Thesen von Schneider auch der von der Fraktion der Grünen in Niedersachsen benannte Sachverständige Hartmut Bäumer, s. Materialienband (Anm. 4) I, S. 524 und II, S. 1060.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
257
mationsreise eine Reise zum Schleswig-Holsteinischen Landtag unternahm, um sich durch die Fraktionen und die Verwaltung des dortigen Landtages »über die Begründung, Zielsetzung und sonstigen Aspekte der 1990 neu in die SchleswigHolsteinische Verfassung aufgenommenen Regelungen sowie über die damit inzwischen gemachten Erfahrungen informieren zu lassen«30.
III.
Der wesentliche Inhalt der Verfassung vom 19. Mai 1993 und ihre Auslegung durch den Staatsgerichtshof und die Staatspraxis
1.
Grundrechte und Staatsziele
a) Anders als die Vorläufige Niedersächsische Verfassung enthält die jetzige Verfassung Vorschriften über Grundrechte und Staatsziele. Für die Grundrechte trifft Artikel 3 Abs. 2 S. 1 NV die zentrale Aussage. Er lautet: »Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung.« Die damit vollzogene Rezeption von Bundesgrundrechten u. a. in die Niedersächsische Verfassung, die ja keineswegs nur in Niedersachsen stattfand31, wirft manche dogmatischen Fragen auf32. Den Niedersächsischen Staatsgerichtshof hat insoweit die nach dem Grundrechtsbegriff der Rezeptionsklausel, der ja entscheidend für ihre Reichweite ist, beschäftigt. In seinem Urteil vom 08. 05. 1996 hat er festgestellt, dass die in Artikel 33 Abs. 5 GG geschützten hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums »über die generelle Bezugnahme in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 NV nicht durch die Landesverfassung garantiert werden«33. Diese Feststellung hat weitreichende Folgen für den verfassungsrechtlichen Rechtsschutz. Denn die Opposition im Niedersächsischen Landtag besitzt danach keine Möglichkeit, etwa gegen die zu beobachtende verstärkte gesetzliche Einführung der Funktionen auf Zeit in das Niedersächsische Beamtenrecht – um diese Frage ging es u. a. auch im vom Niedersächsischen Staatsgerichtshof entschiedenen Fall – im Wege der abstrakten Normenkontrolle vorzugehen, obwohl
30 So die Formulierung des Tagesordnungspunktes dieser Sitzung, s. das entsprechende Protokoll im Materialienband (Anm. 4)I, S. 717. 31 Entsprechende Bestimmungen finden sich in den Verfassungen von Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern. 32 Dazu übersichtlich Johannes Dietlein, Die Rezeption von Bundesgrundrechten durch Landesverfassungsrecht, AöR 120 (1995), S. 1 ff. 33 StGH 3/94 – NdsVBl. 1996, S. 1834 (189).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
bekanntlich gewichtige, gerade aus Artikel 33 Abs. 5 GG ableitbare Gründe dagegen sprechen34. b) Was die Staatsziele in der Niedersächsischen Verfassung betrifft, so enthält zunächst die Vorschrift über die Grundlagen der Staatsgewalt (Artikel 1 As. 2 NV) im Gegensatz zur Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung nunmehr auch die Aussage, dass das Land Niedersachsen ein »dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat« ist. Daneben bestimmt Artikel 4 NV, dass jeder Mensch das Recht auf Bildung hat und dass allgemeine Schulpflicht besteht. Außerdem wird im genannten Artikel den privaten Schulen, die Ersatz für öffentliche Schulen sind, im Falle ihrer Genehmigung eine staatliche Förderung zugesichert. Gemäß Artikel 5 NV »schützt und fördert« das Land die Wissenschaft. Die Unterhaltung und Förderung von Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen wird dort zur Landesaufgabe erklärt und den Hochschulen die Selbstverwaltung im Rahmen der Gesetze gewährleistet. Nach Artikel 6 NV schließlich »schützen und fördern« das Land, die Gemeinden und die Landkreise Kunst, Kultur und den Sport. Auf die Artikel 6 a (Arbeit und Wohnen) und 6 b (Tierschutz) NV wurde schon unter II. hingewiesen. Der in Artikel 3 Abs. 2 S. 3 NV enthaltende »Handlungsauftrag für den Staat«35 schließlich, der besagt, das »insbesondere die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern … eine ständige Aufgabe des Landes, der Gemeinden und Landkreise« ist, hat bereits in der Rechtsprechung des Niedersächsischen Staatsgerichtshof Bedeutung erlangt. Der Staatsgerichtshof hat nämlich in seinem Urteil vom 13. 03. 1996 ausgeführt, dass mit dieser Bestimmung u. a. den Gemeinden und Landkreisen »unmittelbar« von der Verfassung eine Aufgabe zugewiesen werde, die »mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 57 NVauf der gleichen normativen Stufe« stehe36. Er hat deshalb die den niedersächsischen Kommunen gesetzlich auferlegte Pflicht, hauptamtliche Frauenbeauftragte zu bestellen, grundsätzlich für zulässig erachtet37. 34 Zu diesen Gründen zuletzt: Rudolf Summer, Gehen wir vorwärts oder gehen wir zurück?, ZBR 2002, S. 109 (113 f. m.N.). Dass im Übrigen gute Gründe dafür sprechen, Artikel 33 Abs. 5 GG von der Rezeptionsklausel des Artikel 3 Abs. 2 S. 1 NV erfasst anzusehen, betont Dietlein, aaO. (Anm. 32), S. 13 f.; s. auch Hans D. Jarrass/Bodo Pieroth, Grundesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 6. Auflage 2002, Artikel 33 Rn. 32 (Pieroth). 35 So m. E. rechtlich korrekter als der allgemeine Begriff »Staatsziel«: Jarrass/Pieroth (Anm. 34), Artikel 3 Rn. 81 (Jarrass) für die ähnliche Formulierung des Artikel 3 Abs. 2 S. 2 GG. 36 StGH 1, 2, 4, 6 bis 20/94 – NdsVBl. 1996, S. 87 (88). 37 Nach dem Urteil des Staatsgerichtshofs wird dem Gesetzgeber aber für Gemeinden und Samtgemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern bis zu 20.000 Einwohnern auferlegt, eine Ausnahmeregelung zu schaffen. Ob tatsächlich – wie der Staatsgerichtshof meint – der normative Gehalt des Artikel 3 As. 2 S. 3 NV den Schluss zulässt, dass von den Kommunen
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
259
Allgemein lässt sich zu den Staatszielen der Niedersächsischen Verfassung schließlich Folgendes feststellen: Sieht man einmal von den 1994 durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung in die Verfassung aufgenommen Staatszielen (insbesondere Artikel 6a und 6b NV)38 ab, so benennen die übrigen Staatsziele m. E. zutreffend typische Landesaufgaben39, was für die Integrationsfunktion einer Landesverfassung sicherlich nicht ohne Bedeutung ist.
2.
Landtag und Gesetzgebung
Bezüglich der Vorschriften über den Landtag ist zunächst erwähnenswert, dass das Landesparlament jetzt für 5 Jahre gewählt wird (Artikel 9 Abs. 1 NV). Das passive Wahlalter hat man auf 18 Jahre herabgesetzt (Artikel 8 Abs. 2 NV). Die Verfassung selbst legt auch fest, dass auf Listen mit weniger als 5 % der abgegebenen Stimmen keine Mandate entfallen (Artikel 8 Abs. 3 NV). Damit wird zugleich das bisher lediglich gesetzlich fixierte Wahlsystem zum Teil verfassungsrechtlich festgeschrieben. angebotene und ihre Personal-, Organisations- und Finanzhoheit besser achtende »Ersatzlösungen« wie das »Personalratsmodell« oder das Modell »ehrenamtlicher Frauenbeauftragter« (s. dazu NdsVBl 1996, S. 89) nicht die »Vertretbarkeit« der gesetzgeberischen Lösung zu erschüttern vermögen, erscheint mir mehr als zweifelhaft, zumal jeder Verwaltungspraktiker weiß, wie problematisch – von der Effizienz her gesehen – schon das Institut der Beauftragten für die Frauenförderung ist. 38 Zur Beratung dieser Verfassungsnovelle bereits hier Anm. 28. 39 Ein bemerkenswerter Versuch, auf Verfassungsebene die zentralen Landesaufgaben zu benennen, findet sich für das Grundgesetz in der Anlage 3 zu dem Entwurf eines Beschlusses der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente. Diese Anlage ist abgedruckt in dem Sonderheft 2000 der Zeitschrift für Gesetzgebung, das den Titel »Stärkung des Föderalismus« trägt, dort S. 35 ff.; s. dazu auch meinen Kommentar, aaO., S. 41 (49 f.). Bedenkt man, dass richtigerweise von der Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im deutschen Bundesstaat auszugehen ist (s. dazu Markus Heintzen, Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat, DVBl. 1997, S. 689 ff.), dann erstaunt es, dass keine Landesverfassung in Deutschland den Versuch unternommen hat, die vom Grundgesetz unbenannten gesetzgeberischen Kompetenzen des jeweiligen Landes in ähnlicher Weise zu konkretisieren. Ein solcher Versuch hätte zunächst den Vorteil, dass – statt problematischer, neben den entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes rechtlich weitergehend bedeutungsloser Staatsziele in den Landesverfassungen – die Landesverfassungen durch einen solchen Kompetenzkatalog für den Landesgesetzgeber indirekt zumindest auch eine inhaltliche Aussage über die Aufgaben des jeweiligen Landes enthielten (sog. »Thematisierungsfunktion« der Kompetenznorm – zu diesem Begriff nach wie vor erhellend: Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 1977, S. 85 ff.). Daneben könnte die Landesregierung in diesem Fall im Bundesrat auf keine gesetzgeberischen Kompetenzen des Landes zugunsten des Bundes (oder der Europäischen Union) verzichten, bevor sie nicht eine entsprechende Änderung der Landesverfassung mit den dafür erforderlichen verfassungsändernden Mehrheiten im Landtag bewirkt hätte.
260
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Die Verfassung sieht nun auch ausdrücklich vor, dass sich Abgeordnete zu Fraktionen zusammenschließen können (Artikel 19 Abs. 1 NV). Der Opposition wird das »Recht auf Chancengleichheit« gewährleistet und ein verfassungsrechtlicher Anspruch »auf die zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche Ausstattung« zugesprochen (Artikel 19 Abs. 2 NV). Die Verfassung regelt außerdem besonders (Artikel 20 NV), dass der Landtag Ausschüsse und einen Ältestenrat bildet. Kleinen Fraktionen wird in den Ausschüssen ein Sitz mit beratender Stimme gesichert. Die meisten dieser Bestimmungen sind aus der Geschäftsordnung des Landtages bzw. aus Landesgesetzen in die Verfassung übernommen. Erwähnenswert ist noch im Hinblick auf die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten, dass nach dem neuen Artikel 24 die Abgeordneten künftig einen Rechtsanspruch auf Beantwortung ihrer Fragen im Plenum und in den Ausschüssen besitzen. Die Landesregierung hat nach der genannten Vorschrift den Ausschüssen Akten vorzulegen und Zugang zu öffentlichen Einrichtungen zu gewähren, wenn dies mindestens ein Fünftel der Ausschussmitglieder zum Beratungsgegenstand verlangt. Unter bestimmten, in der Verfassung (Artikel 24 Abs. 3 NV) näher geregelten Voraussetzungen kann die Landesregierung allerdings Auskunft, Aktenvorlage und Zugang verweigern. Nach Artikel 25 NV hat die Landesregierung von sich aus den Landtag über bestimmte wichtige Vorhaben zu unterrichten. Schließlich sind die Untersuchungsausschüsse in der neuen Verfassung ausführlicher, als das bisher in der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung geschah, geregelt (Artikel 27 NV). Neu ist insbesondere, dass schon ein Fünftel der Landtagsmitglieder die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen kann und dass ein Fünftel der Ausschussmitglieder, das politisch nicht mit der Einsetzungsminderheit identisch sein muss, ein Recht auf Beweiserhebung hat. Zu den Vorschriften über die Gesetzgebung bleibt noch anzumerken, dass die Gesetze nach der Niedersächsischen Verfassung nun vom Landtagspräsidenten ausgefertigt werden; die Verkündung obliegt dagegen nach wie vor dem Ministerpräsidenten (Artikel 45 Abs. 1 NV). In dieser Regelung drückt sich m. E. auch ein neues Amtsverständnis des Landtagspräsidenten aus, denn auf Bundesebene fertigt bekanntlich der Bundespräsident die Gesetze aus40. Die Rechtsprechung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs und die Staatspraxis in Niedersachsen haben im Berichtszeitraum folgende Probleme zum Thema »Landtag und Gesetzgebung« behandelt: 40 Zum gewandelten Amtsverständnis des Landtagspräsidenten im Übrigen genauer Janssen, Der Landtag im Leineschloss (Anm. 12), S. 28 f. Zum Umfang des (materiellen) Prüfungsrechts des Landtagspräsidenten bei der Ausfertigung von Gesetzen grundlegend: Matthias Hederich, Zum Recht des Landtagspräsidenten, die Gesetzesausfertigung zu verweigern, NdsVBl. 1999, S. 77 ff.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
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a) Was die einschlägigen Bestimmungen über die Landtagswahlen angeht, so hat der Staatsgerichtshof in insgesamt sieben Beschlüssen in Wahlprüfungssachen die Beschwerden gegen entsprechende Beschlüsse des Niedersächsischen Landtags verworfen41. Wichtiger als die in den genannten Beschlüssen behandelten mehr »technischen Fragen« des Wahlrechts ist das Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 24. 02. 2000, das die Rechtsmäßigkeit der Wahlkreiseinteilung in Niedersachsen z. Zt. der letzten Landtagswahl am 01. 03. 1998 betrifft42. Der Staatsgerichtshof hat in diesem Urteil in erfreulicher Deutlichkeit für das Niedersächsische Wahlrecht, das ja (aufgrund lediglich gesetzlicher Regelung) bekanntlich ein Verhältniswahlrecht mit eingegliedertem Mehrheitswahlrecht darstellt, die selbstständige Bedeutung der Wahl der Wahlkreiskandidaten mit der Erststimme nach dem Prinzip der relativen Mehrheit betont. Im konkreten Fall hat das Gericht aber trotz der Feststellung, dass der Zuschnitt einiger Wahlkreise nicht dem verfassungsrechtlich garantierten Prinzip der Wahlgleichheit bei der Landtagswahl entsprach, deshalb nicht die Ungültigkeit der Wahl festgestellt, weil es den Wahlfehler »in seiner möglichen Wirkung auf die Zusammensetzung des Landtags« für »nicht so gewichtig« hielt, dass der aus dem Demokratieprinzip ableitbare Gesichtspunkt des größtmöglichen Bestandschutzes des gewählten Landtags dahinter zurückzutreten hätte43. b) Der verfassungsrechtliche Status der Abgeordneten und Fraktionen ist vom Gesetzgeber im Berichtszeitraum genauer ausgeformt worden: Basierend auf den Berichten der Niedersächsischen Kommission zur Überprüfung der Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung (Diätenkommission) aus dem Jahre 199244 und vom 15. 01. 200245 hat er die Abgeordnetenentschädigung und das Verfahren ihrer Festsetzung neu geregelt. Daneben ist auch für die Fraktionsfinanzierung eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen worden. Die Reform der Abgeordnetenentschädigung beinhaltet – was ihre Struktur betrifft – vor allem die Festlegung eines (besoldungsrechtlichen) »Leitbildes« für die Höhe der Abgeordnetenentschädigung46, strengere Anrechnungsbestimmungen beim Übergangsgeld und eine konsequente – um nicht zu sagen rigide – Anrechnung von Einkommen aus öffentlichen Kassen bei
41 Es handelt sich um die Beschlüsse StGH 4 – 9/95 und 28/96. Sie sind bis auf den zuletzt genannten alle veröffentlicht in dem 3. (und – wie zu hören ist – leider letzten) Band der Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, S. 167 – 194. 42 StGH 2/99 – NVwZ 2000, S. 670 f. 43 Nds. StGH, aaO, S. 671. 44 Lt – Drs. 12/3640, S. 3 ff. 45 LT-Drs. 14/2984, S. 7. 46 s. genauer LT-Drs. 12/3640, S.. 5 ff. und zuletzt LT-Drs. 14/2984, S. 3.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
der Altersentschädigung47. Bezüglich des für die Diätenkommission geltenden Verfahrens, nach dem sie die Angemessenheit der im Niedersächsischen Abgeordnetengesetz festgelegten Entschädigungen zu überprüfen hat, gilt ab 2003 mit Beginn der neuen 15. Wahlperiode die Regelung, dass die Kommission zu Beginn einer jeden Wahlperiode ihre Empfehlung für die Höhe der Abgeordnetenentschädigung ausspricht, über deren Verbindlichkeit der Landtag entscheidet. Eine im Abgeordnetengesetz festgeschriebene Indexregelung ist dann maßgeblich für die jährlich vom Gesetzgeber bekannt zu machende konkrete Höhe der Abgeordnetenentschädigung während der Wahlperiode48. In den §§ 30 ff. des Niedersächsischen Abgeordnetengesetzes ist der Status der Fraktionen und ihre staatliche Finanzierung näher geregelt. Bemerkenswert ist zunächst insoweit die bewusste Offenlassung der umstrittenen (und wohl auch mehr theoretischen) Frage nach dem Rechtsstatus der Fraktionen. Das Gesetz (§ 30 Abs. 3) sagt aber, dass sie »am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen und unter ihrem Namen klagen und verklagt werden« können. Den Regelungen über die Fraktionsfinanzierung und die Rechnungslegung der Fraktionen (§§ 31 ff. des Niedersächsischen Abgeordnetengesetzes) liegt das »Modell« der Subvention (Zuwendung) zugrunde, woraus vor allem folgt, dass das Personal der Fraktionen aufgrund privatrechtlicher Verträge bei diesen tätig ist und das Prüfungsrecht des Landesrechnungshofs ähnlichen Beschränkungen unterliegt, wie sie aus dem (allgemeinen) Zuwendungsrecht bekannt sind. Auch die Festsetzung der staatlichen Zuschüsse an die Fraktionen soll ab Januar 2004 aufgrund einer Indexregelung erfolgen (§ 31 Abs. 4 Niedersächsisches Abgeordnetengesetz). c) Wie zu erwarten war, haben die in Artikel 24 NV genannten Kontrollrechte des Landtags in der parlamentarischen Praxis der vergangenen Jahre zahlreiche Streitfälle ausgelöst. Sie lassen aufs Ganze gesehen daran zweifeln, ob diese Regelung tatsächlich eine Stärkung der parlamentarischen Position gegenüber der Regierung bewirkt hat, wie es sich der Verfassungsausschuss und der Landtag der 13. Wahlperiode, der mit Zweidrittelmehrheit die Niedersächsische Verfassung beschloss, ja noch erhofft hatten. Unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung waren Abgeordnete, denen die Regierung eine Information verweigert hatte, auf eine politische Reaktion angewiesen: sie konnten der Regierung entgegenhalten, dass sie die Informationen nur deshalb zurückhalte, weil die Vorgänge für sie peinlich seien. 47 s. dazu LT-Drs. 12/3640, S. 8, 11 f. und zuletzt LT-Drs. 14/2984, S. 6. Die entsprechende gesetzliche Regelung findet sich in den §§ 17, 20 Abs. 5 des Niedersächsischen Abgeordnetengesetzes i. d. F. vom 20. Juni 2000 (Nds. GVBl, S. 129), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. 04. 2002 (Nds. GVBl, S. 140). 48 s. die Regelung des § 6 Abs. 4 und §§ 25 Abs. 1 und 3 des Niedersächsischen Abgeordnetengesetzes.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
263
Das war auch schon keine wirkungslose Waffe. Außerdem konnte mit dem großen Knüppel des Untersuchungsausschusses gedroht werden. Nunmehr haben die Fragesteller zwar die Möglichkeit, die Regierung auf Auskunft oder Aktenvorlage vor dem Staatsgerichtshof zu verklagen. Wie sich gezeigt hat, wurden aber durch diese Verrechtlichung des bisherigen rein politischen Kräftespiels häufig unnütz neue Kriegsschauplätze eröffnet und durch den Rechtsstreit die Auseinandersetzung in der Sache in den Hintergrund gedrängt49. Auch der Staatsgerichtshof hat sich in zwei Entscheidungen mit der Auslegung des Artikel 24 NV befasst. In der ersten Entscheidung ging es um die Voraussetzungen der der Landesregierung nach Artikel 24 Abs. 1 NV obliegenden Auskunftsverpflichtung und die konkreten Anforderungen an deren Erfüllung. Danach ist die Landesregierung verpflichtet, auch Zusatzfragen, die zur Sache gehören, zu beantworten und darf dies dann auch nicht »ausweichend im Sinne von unvollständig« tun50. Mit der zweiten Entscheidung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs zur Weigerungsbefugnis der Landesregierung, einem Ausschuss Akten vorzulegen (Artikel 24 Abs. 3 NV), hat das Gericht im Ergebnis der Landesregierung eine über den Wortlaut des Artikel 24 Abs. 3 NV hinausgehendes Verweigerungsrecht zugestanden, das dieses parlamentarische Kontrollrecht letztlich zu einem »stumpfen Schwert« macht. Denn der Staatsgerichtshof stellt für seine Grenzziehung zugunsten der Landesregierung auf ein »Mindestmaß der Gewaltentrennung«, »den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung« und darauf ab, ob »die daran Beteiligten (d. h. die Bediensteten der Exekutive) befürchten müssen, dass ihre Äußerungen in Parlamentsausschüssen publik werden«51. Dass Letzteres durchgehend der Fall sein wird, da es nun einmal keine »urheberlosen Akten« gibt, ist m. E. zu Recht kritisch zu diesem Beschluss des Staatsgerichtshofs u. a. bemerkt worden52.
49 Das waren auch schon die Bedenken, die die Minderheit einer Kommission formulierte, die die Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente 1991 mit dem Auftrag eingesetzt hatte, eine »Vorlage zur Frage der Zweckmäßigkeit und zum möglichen Inhalt eines Parlamentsinformationsgesetzes sowie eines Entwurfs entsprechender Vorschriften« zu erarbeiten, sie finden sich im Materialienband (Anm. 4)II, s. dort besonders S. 1337: »Die in allen Verfassungen vorgesehene Kontrolle der Exekutive durch das Parlament sei eine politische Kontrolle, ebenso wie auch die parlamentarische Verantwortung der Regierung eine politische sei. Die Vielzahl der (notwendig) unbestimmten Begriffe in einer verfassungsrechtlichen Regelung provoziere aber geradezu den rechtlichen Streit darüber, ob die Regierung den dort normierten verfassungsrechtlichen Pflichten nachgekommen sei, zu Lasten der politischen Auseinandersetzung in der Sache.« 50 StGH 1/97 – Nds. StGHE (Anm. 41), S. 322 (326). 51 StGH 12/95 – NdsVBl. 1996, S. 189 (190). 52 So Jörg-Detlef Kühne, Vom isolierten zum strangulierten Aktenvorlagerecht, NdsVBl. 1997, S. 1 ff. (1). Kühne liefert m. E. eine umfassende und überzeugende Kritik an dem genannten Beschluss des Staatsgerichtshofs, die vor allem zu Recht auf die Besonderheit der jeweiligen
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Beteiligung des Volkes an der staatlichen Willensbildung
Die wohl wichtigste Neuerung der Niedersächsischen Verfassung stellen ihre Regelungen im 5. Abschnitt über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Artikel 47 – 50 NV) dar. Nach Artikel 47 NV (Volksinitiative) können 70.000 Wahlberechtigte verlangen, dass sich der Landtag mit einem bestimmten Gegenstand befasst. Nach Artikel 48 NV kann dem Landtag durch Volksbegehren ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf vorgelegt werden. Ein erfolgreiches Volksbegehren setzt die Unterstützung von 10 % der Wahlberechtigten voraus. Nimmt der Landtag dann ein zustande gekommenes Volksbegehren nicht innerhalb von 6 Wochen im Wesentlichen unverändert an, so findet darüber ein Volksentscheid statt (Artikel 49 NV). Dabei kann der Landtag dem Volk einen eigenen Gegenentwurf vorlegen. Ein Gesetz kommt durch Volksentscheid zustande, wenn die Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer, jedoch mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten, zustimmt. Zu Verfassungsänderungen durch Volksentscheid ist die Zustimmung von mindestens der Hälfte der Wahlberechtigten erforderlich. Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, so haben die Initiatoren Anspruch auf Kostenerstattung (Artikel 50 NV). Als Ausführungsgesetz i. S. des Artikel 50 Abs. 2 NV hat der Niedersächsische Landtag das Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vom 23. 06. 199453 beschlossen. Es ist hier nicht der Ort, in eine kritische (aber m. E. im Ergebnis doch wohl positiv ausfallende) Würdigung dieser rechtlichen Grundlagen für die Beteiligung des niedersächsischen Volkes an der staatlichen Willensbildung einzugehen, zumal das bereits mehrfach geschehen ist54. Erwähnt werden muss aber noch das Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 23. 10. 2001 zum Volksbegehren »Kindertagesstättengesetz Niedersachsen«55. Denn der Staatsgerichtshof beschreibt dort die Anforderungen, denen ein im Rahmen eines Volksbegehrens zur Abstimmung gestellter Gesetzentwurf genügen muss, und macht nähere Ausführungen über den erforderlichen Inhalt der auch insoweit zu erbringenden Kostenermittlung nach Artikel 68 Abs. 1 NV. Da das zu beurteilandesverfassungsrechtlichen Regelung gegenüber nicht zwingenden bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben abstellt. 53 Nds. GVBl. S. 270. 54 s. besonders Jörg-Detlef Kühne, Gesetzgeberisches Neuland für Niedersachsen: Das Volksabstimmungsgesetz auf der Grundlage des Art. 50 Abs. 2 NV, NdsVBl. 1995, S. 25 ff. Daneben u. a.: Günter C. Burmeister, Verwaltungsorganisation und finanzwirksame Gesetze im Blickfeld plebiszitärer Gesetzgebungsschranken der Niedersächsischen Verfassung. Die Verwaltung 29 (1996), S. 181 (184 ff., 201 ff.); Dieter Birk/Rainer Wernsmann, Volksgesetzgebung über Finanzen, DVBl. 2000, S. 669 ff. und aus der Sicht der Politikwissenschaft: Otmar Jung, Wenn der Souverän sich räuspert …, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 9 (1996), S. 107 (122 ff.). 55 StGH 2/00 – NdsVBl. 2002, S. 11 ff.
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lende Gesetz dem Land nach den Ausführungen des Gerichts keine zusätzlichen Kosten aufbürdete, brauchte es zu der umstrittenen Frage, bis zu welcher Grenze das Parlament einen mit einem solchen geplanten Gesetz verbundenen Eingriff in seine Etathoheit hinnehmen muss, nicht zu entscheiden56.
4.
Regierung und Verwaltung
Nach dem hier unter II geschilderten Ablauf der parlamentarischen Beratungen über die Niedersächsische Verfassung erstaunt es nicht, dass die Vorschriften der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung über die Exekutive (Regierung und Verwaltung), abgesehen von einer neuen Bestimmung über die Gebietsänderung von Gemeinden und Landkreisen (Artikel 59 NV), im Wesentlichen unverändert in die jetzige Verfassung übernommen worden sind. Berücksichtigt man nun aber die hier anfangs (I 2) mitgeteilten praktischen Erfahrungen, die in über 40 Jahren mit dem Organisationsstatut der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung gemacht worden sind, so kann diese Erklärung nur schwerlich befriedigen. Das bestätigt nun besonders auch die entsprechende Staatspraxis im Berichtszeitrum. Denn sie zeigt, dass genau jene Probleme nach wie vor auf verfassungsrechtliche Antworten warten, die sich bereits unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung ergeben hatten. Dafür sollen im Folgenden einige signifikante Beispiele geschildert und daneben wiederum auf die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs zu diesem Themenbereich eingegangen werden: a) Wie der regionalen Presse vor einigen Jahren zu entnehmen war, hat der Niedersächsische Landesrechnungshof unter Hinweis auf den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 6 Abs. 1 HGrG u. a.) und das verfassungsrechtlich verankert Ressortprinzip (Artikel 37 Abs. 1 S. 2 NV) folgende Organisationsentscheidung der Landesregierung kritisiert: In die Staatskanzlei wird ein Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten »integriert«, der im Ergebnis nicht wie die anderen Landesminister einen Geschäftsbereich sachlich allein verantwortet. Er kann im Übrigen fachlich zwar auf eine Abteilung in der Staatskanzlei zugreifen, diese untersteht dienstrechtlich aber dem dortigen Staatssekretär. Ohne auf die rechtliche Stichhaltigkeit der vom Landesrechnungshof geäußerten verfassungsrechtlichen Kritik an dieser Entscheidung einzugehen (und abgesehen von seinen (partei-)politischen Implikationen), zeigt dieser Fall m. E. exemplarisch, das bestimmte Landesminister bzw. Ministerien wie etwa auch das in der 12. und in einigen Jahren der 13. Wahlperiode bestehende Frauen56 Zu diesem speziellen (aber dennoch wichtigen) Problem: Burmeister und Birk/Wernsmann, aaO. (Anm. 54).
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
ministerium neben ihrem teilweisen Charakter einer Verwaltungsbehörde kaum etwas anderes als politischen »Symbolwert« besitzen. Nimmt man zu dieser Feststellung hinzu, dass die Länder in der Bundesrepublik Deutschland sich wegen ihres ständig fortschreitenden Verlusts an sachlicher Autonomie57 immer stärker zu höheren Verwaltungseinheiten entwickeln58, so gehört m. E. in Zukunft unausweichlich das Ressortprinzip auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand59. Es ist aber nicht nur das Ressortprinzip als solches, das von der niedersächsischen Staatspraxis in Frage gestellt wird, sondern schwerer wiegt noch die in der Parteienstaatsdemokratie zwar unausweichliche, aber in Niedersachsen besonders deutliche Relativierung des Gewaltenteilungsprinzips zwischen Legislative und Exekutive durch das faktische Zusammenwirken zwischen der jeweiligen Regierungsfraktion bzw. –koalition im Landtag und der Landesregierung: Diese Entwicklung ist zunächst dadurch begünstigt worden, dass der Fraktionsvorsitzende der jeweiligen Regierungsfraktion (bzw. -koalition) in früheren Wahlperioden üblicherweise mit am Kabinettstisch saß. Beigetragen hat dazu 57 Dazu zusammenfassend Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.) Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU (2001), S. 59 ff. 58 Es ist ein ständiges Anliegen der Konferenz der deutschen Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten, diese Entwicklung durch konstruktive Reformvorschläge zu verhindern, s. insoweit zuletzt den Entwurf eines Beschlusses der Landtagspräsidentenkonferenz (Anm. 39), S. 5 ff. 59 Diese Entwicklung berücksichtigend ist bereits folgender Reformvorschlag gemacht worden: Es »ließe sich der Wegfall der Landesministerien mit einem einfachen und sparsamen organisatorischen Aufbau der Landesregierung verbinden. An die Stelle der Landesminister würden einfache Landesämter für die jeweiligen Aufgaben treten. An der Spitze der Landesämter könnten politische Beamte im rechtlichen Sinne stehen, die des Vertrauens des Ministerpräsidenten, von diesem ernannt, bedürften. Auf diese Weise würde eine ganz kostenaufwendige Ebene der Landesminister mit den diesbezüglichen Stäben vom Landtagsreferat bis zum Persönlichen Referenten eingespart werden. Zu Leitern der Landesämter sollten erfahrene Spitzenbeamte, aber durchaus auch befähigte Politiker ernannt werden … Weitere politische Beamte im rechtlichen Sinne (Staatssekretäre etc.) wären dann nicht notwendig. Dies würde zu einer erheblichen Vereinfachung und Kosteneinsparung auf der Länderebene führen, zumal gerade im Ministerialbereich der Personal- und Kostenanstieg überproportional war. Das Geld fehlte für Lehrer und Polizisten. Um dem Wortlaut des Artikels 51 Abs. 1 GG (»der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder«) formal Rechnung zu tragen, könnte man die Leiter der Landesämter als Regierungsmitglieder bezeichnen, deren Schicksale mit dem des (vom Volk gewählten) Regierungschefs verknüpft sein sollte. Diese Überlegungen gelten natürlich nur für die Landesebene. An der Beibehaltung des parlamentarischen Regierungssystems im Bund sollte kein Zweifel bestehen«, so Hans-Horst Giesing, Kritische Fragen zum Föderalismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für »gute« und bürgernahe Politik? (1999), S. 75 (86); zustimmend zu diesem Vorschlag: Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie (2002), S. 159 f.
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auch eine Personalpolitik des Landes, die zahlreiche Spitzenpositionen in den Ministerien mit ehemaligen Mitarbeitern der Regierungsfraktion bzw. der entsprechenden Parteizentrale besetzte. Schließlich ist die parteipolitische Durchdringung der Exekutive in Niedersachsen noch dadurch befördert worden, dass man hier verstärkt die Funktionen auf Zeit in das Landesbeamtenrecht eingeführt hat, womit ja bekanntlich der Verbleib des Beamten in dem höheren Amt entscheidend »von einem Beurteilungswohlwollen der politischen Spitze abhängig« gemacht wird60. Die geschilderte Entwicklung hat übrigens neben den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeiten augenscheinlich auch einen Qualitätsverlust der Exekutive in Niedersachsen zur Folge. b) Auch hinsichtlich der allgemeinen Landesverwaltung belegt die Entwicklung der Staatspraxis im Berichtszeitraum, dass es hier ähnliche – ungelöste – verfassungsrechtliche Probleme wie die hier für die Vorläufige Niedersächsische Verfassung unter I 2 angesprochenen gibt. Denn es ist inzwischen zur weiteren Zersplitterung der Verwaltung in einem Maße gekommen, dass die allgemeine verfassungsrechtliche Frage gestellt werden muss, ob die Regierung in Niedersachsen noch ihre parlamentarische Verantwortlichkeit für das Handeln der Exekutive wirksam wahrnehmen kann. Oder aus der Sicht des Landtags gefragt: Kann dieser noch wirklich Regierung (und Verwaltung) parlamentarisch kontrollieren und das Handeln der Exekutive durch den Haushalt wirksam steuern? Als Beleg für die behauptete Entwicklung ist zunächst auf die besonders in den letzten Jahren verstärkt erfolgte Gründung von sog. Landesbetrieben nach § 26 Abs. 1 LHO (§ 18 Abs. 1 HGrG) zu verweisen. Es gab nach dem Jahresbericht des Niedersächsischen Landesrechnungshofs 1999, der das Ergebnis der Rechnungsprüfung für das Haushaltsjahr 1997 schildert, 39 (!) Landesbetriebe in Niedersachsen61. Der Landesrechnungshof hat in dem genannten Bericht auch 60 So richtig Summer, (Anm. 34), S. 113. Ausführlich dazu mein im Heft 1 der ZBR von 2003 erscheinender Aufsatz: Die zunehmende Privatisierung des Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen. 61 LT-Drs. 14/750, S. 143. Inzwischen sind noch einige hinzugekommen – besonders alle Hochschulen in Niedersachsen. Im gerade (April 2002) vom Niedersächsischen Landtag beratenen Entwurf eines Gesetzes zur Hochschulreform in Niedersachsen (LT-Drs. 14/2541) ist sogar die Möglichkeit vorgesehen (§§ 1 Abs. 1, 50 ff. des Entwurfs), Hochschulen auf Antrag in Stiftungen zu überführen. Dass die Landesregierung ohne – wie ursprünglich vorgesehen – die Ergebnisse eines zehnjährigen Modellversuchs an drei Hochschulen mit der Rechtsform des Landesbetriebes abzuwarten, inzwischen alle niedersächsischen Hochschulen zu Landesbetrieben gemacht hat, ergibt sich aus der Unterrichtung des niedersächsischen Landtagspräsidenten vom 25. März 2002: LT-Drs. 14/3267. Das geschah auch unter Nichtbeachtung von Bedenken aus der Praxis gegenüber der generellen Überführung der Hochschulen in Landesbetriebe, s. insoweit nur Christoph Ehrenberg (Kanzler der Universität Osnabrück), Zum Modellversuch an drei niedersächsischen Hochschulen, Nds. VBl. 1996, S. 33 ff. (Ergebnis S. 36). Zur Rechtsform des Landesbetriebes heißt es zutreffend in dem genannten Prüfungsbericht des Niedersächsischen Landesrechnungshofs (aaO.,
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
dargelegt, warum diese Rechtsform im Prinzip nur »bei fiskalischen und – in Ausnahmefällen – bei schlichten Hoheitsaufgaben, nicht aber in der Eingriffsverwaltung zulässig« ist62. Und er hat dort die Grenzen für die Einrichtung von Landesbetrieben in dem »Budgetrecht des Parlaments«, der »Verantwortung des Finanzministeriums für den Gesamthaushalt« und in dem Gebot gesehen, dass die fragliche Einrichtung »wirtschaftlich und zweckmäßig« ist63. Aber nicht nur die (z. T. offensichtlich übereilte) Errichtung von Landesbetrieben stellt die Grundregel des Artikel 56 Abs. 1 NV für die Verwaltungsorganisation in Niedersachsen in Frage64. Das geschieht daneben noch nachdrücklicher, wenn Verwaltungsaufgaben verstärkt durch juristische Personen des öffentlichen und namentlich des privaten Rechts wahrgenommen werden, die lediglich der Aufsicht des Landes unterliegen. In den letzten Jahren ist auch in dieser Hinsicht eine deutliche Tendenz zur Verselbstständigung von Verwaltungseinheiten in Niedersachsen zu beobachten65. Nicht ohne Grund hatte deshalb der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst
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S. 144): »Das Haushaltsrecht enthält weder eine Legaldefinition des Begriffs ›Landesbetrieb‹ noch Kriterien für dessen Einrichtung. Es setzt die Tatsache der Einrichtung vielmehr voraus. Aus den Verwaltungsvorschriften ergibt sich, dass Landesbetriebe rechtlich unselbstständige abgesonderte Teile der Landesverwaltung sind, deren Haushalts- und Wirtschaftsführung außerhalb des Haushaltsplans des Landes abgewickelt wird.« So LT-Drs. 14/750, S. 143, genauer dazu S. 144 f. Zu Recht weist m. E. der Landesrechnungshof auch (S. 146) auf die für die kommunalen Gebietskörperschaften geltende Eigenbetriebsversordnung (vom 15. 08. 1989 – Nds. GVBl. S. 318) als Regelwerk hin, das namentlich bei der Aufstellung der Wirtschaftspläne für die Landesbetriebe hilfreich sein kann. LT-Drs. 14/750, S. 144. Eine ähnliche Grenzziehung nimmt der Niedersächsische Landesrechnungshof bereits in seinem Prüfungsbericht 1997 vor, s. LT-Drs. 13/2900, S. 132 ff. Artikel 56 Abs. 1 NV besitzt deshalb m. E. eine inhaltliche Leitbildfunktion für die Organisation der Landesverwaltung, weil er die grundsätzliche Voraussetzung für die parlamentarische Verantwortung der Landesregierung für das Handeln der Exekutive und – damit verbunden – für die Verantwortung des Finanzministers für den Gesamthaushalt schafft. Die Vielfalt der landeseigenen Verwaltung in Privatrechtsform zeigt exemplarisch der vom Niedersächsischen Finanzministerium herausgegebene »Beteiligungsbericht des Landes Niedersachsen 2001«, zumal er auch hundertprozentige »Beteiligungen« des Landes erfasst; s. ergänzend dazu den Geschäftsbericht 2000 der landeseigenen Hannoverschen Beteiligungsgesellschaft mbH, der einen Einblick in die in diesem Bereich bestehenden »Verschachtelungen« gewährt. Eine besonders beliebte Form der hier primär interessierenden Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Private ist die in Niedersachsen aufgrund des § 44 Abs. 3 LHO mehrfach erfolgte Beleihung privater, lediglich der Aufsicht des Landes unterliegender juristischer Personen zur Subventionierung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche, s. als Beispiel dafür etwa die »Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Niedersachsen (LAGS) e.V.«, der mit Beleihungsvertrag vom 16. 01. 1997 vom Land die Aufgabe übertragen wurde, Zuwendungen aus Landesmitteln an soziokulturelle Zentren zu gewähren; oder die »Nordmedia Fonds GmbH«, die im Bereich der Filmförderung tätig ist. Eine grundlegende (und leider viel zu wenig bekannte) verfassungsrechtliche Kritik an dieser Form der Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Private liefert das in der Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland (NordÖR 2002, S. 60 ff.) abgedruckte Urteil des StGH Bremen vom 15. 01. 2002.
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beim Niedersächsischen Landtag aufgrund seiner Erfahrungen im Umgang mit der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung im Verfassungsausschuss eine präzise verfassungsrechtliche Regelung für die Voraussetzungen der Übertragung staatlicher Aufgaben auf juristische Personen des öffentlichen Rechts und vor allem auf juristische Personen des Privatrechts (oder Einzelpersonen) – sog. Beliehene – vorgeschlagen66. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung hat aber der Verfassungsausschuss (wie auch später der Landtag) verneint67. Wie die Verwaltungsreformprojekte der Landesregierung im Berichtszeitraum zeigen68, sieht diese hier auch kein besonderes Problem. c) Was die kommunale Selbstverwaltung betrifft, so besteht die wesentliche Neuerung gegenüber der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung in der verfassungsprozessualen Regelung des Artikel 54 Nr. 5 NV, wonach der Staatsgerichtshof jetzt »über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung durch ein Landesgesetz« entscheidet69. Bisher mussten sich ja die Kommunen in Niedersachsen bei entsprechenden Verfassungsbeschwerden direkt an das Bundesverfassungsgericht wenden. Die nunmehr eröffnete Möglichkeit, in diesen Fällen den Staatsgerichtshof anrufen zu können, ist von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften in Niedersachsen im Berichtszeitraum reichlich genutzt worden, und es steht zu erwarten, dass sich gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 28 Abs. 1 und 2 GG eine in mancher Hinsicht durchaus eigenständige Interpretation der Artikel 57 und 58 NV durchsetzt. 66 s. den Formulierungsvorschlag mit Begründung im Materialienband (Anm. 4) II, S. 1467 f. 67 s. den schriftlichen Ausschussbericht LT-Drs. 12/5840, S. 35. Wie die einschlägigen Ausschussprotokolle zeigen, war der Verfassungsausschuss gar nicht an einer ernsthaften Erörterung dieser wesentlichen landesverfassungsrechtlichen Frage interessiert, und es lässt sich auch kein Beitrag der Landesregierung zu diesem gerade für sie so zentralen Problem ausmachen: s. Materialienband (Anm. 4) I, S. 806, 879 f., 937 f., 999, 1001. 68 s. dazu etwa: Wolfgang Meyerding: Auflösung des Landesverwaltungsamtes – vom Verwaltungskombinat zu neuen Steuerungsmodellen, Nds. VBl. 1998, S. 157 ff.; Heinz Thörmer, Leitbild – Zielvereinbarungen – mittelinstanzliche Aufgaben: Schwerpunkte der niedersächsischen Staatsmodernisierung 1999/2000, NdsVBl. 2000, S. 187 ff.; Thomas Böhme/Jutta Kremer, Und sie bewegt sich doch? Und sie bewegt sich doch! Staatsmodernisierung in Niedersachsen, Neues Archiv für Niedersachsen 2001, S. 31 ff. Einen zusammenfassenden allgemeinen Überblick über die Reformvorstellungen der Landesregierung bietet die von der Presse- und Informationsstelle der Nds. Staatskanzlei 1999 herausgegebene Broschüre mit dem Titel: Niedersachsen auf Gegenseitigkeit. Die Einführung der neuen Steuerung in der Landesverwaltung. 69 Im Einzelnen zu dieser Bestimmung: Jörn Ipsen, Die rechtliche Stellung der Gemeinden nach der neuen Niedersächsischen Verfassung (= Schriftenreihe ds Niedersächsischen Städtetages H. 24) 1994, s. 4 ff.; ders., Die kommunale Verfassungsbeschwerde nach Art. 54 Ziff. 5 der Niedersächsischen Verfassung, Nds.VBl. 1994, s. 9 ff. und: Guido Hüpper, Der Staatsgerichtshof des Landes Niedersachsen (2000), S. 246 ff.
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Das zeigt sich zwar weniger deutlich an der bereits erwähnten Entscheidung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs zur Frage, ob die niedersächsischen Kommunen durch den Landesgesetzgeber verpflichtet werden können, hauptberuflich tätige Frauenbeauftragte zu bestellen70. Dagegen aber hat seine Rechtsprechung zur in den Artikeln 57 As. 4 und 58 NV garantierten kommunalen Finanzausstattung wegen des Zugewinns an konkreter Erkenntnis über die finanzverfassungsrechtliche Position der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zu Recht besonderes Aufsehen erregt.71 Es kann nicht Aufgabe dieses Berichts sein, die dogmatischen Feinheiten dieser Rechtsprechung kommentierend nachzuzeichnen, zumal das in der Literatur hinreichend geschehen ist72. Hervorgehoben aber muss hier die allgemeine Bedeutung dieser Rechtsprechung für das Verständnis der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat. Sie liegt m. E. im Blick auf die Entscheidungen des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs zu den Artikeln 57 Abs. 4 und 58 NV in der Erkenntnis, dass die Landesverfassungsgerichte wegen ihrer Vertrautheit mit den spezifischen Regelungen des jeweiligen Landesverfassungsrechts und ihrer größeren Nähe zum strittigen »Fall« diesem besser gerecht werden können als das Bundesverfassungsgericht. Das gilt besonders dann, wenn – wie bei den vom Niedersächsischen Staatsgerichtshof überprüften Regelungen des niedersächsischen Finanzausgleichsgesetzes – die strittigen Bestimmungen in ein kompliziertes Geflecht von kommunalen und Landesinteressen eingreifen, das zudem in jedem Bundesland seine spezifische Ausprägung besitzt.
70 s. den Nachweis in Anm. 36 und ergänzend den Beschluss 5/94 des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs – NdsVBl. 1994, S. 36 f. zum Erlass einer einstweiligen Anordnung in dieser Sache. 71 Und zwar folgende Entscheidungen: Beschluss des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 15. 08. 1995 (StGH 2, 3, 6, 7, 8, 9, 10/93 – NdsVBl. 1995, S. 225 ff.); Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 25. 11. 1997 (StGH 14/95 u. a. – NdsVBl. 1998, S. 43 ff.) und Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 16. 05. 2001 (StGH 6/99 u. a. – Nds. VBl. 2001, S. 184 ff. Der Vollständigkeit halber sei schließlich auch noch der Beschluss des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 25. 01. 1996 (StGH 1/96 – Nds.Rpfl. 1996, S. 92 f.) genannt, der die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zum Zwecke der Erlangung von Zahlungen im Finanzausgleich betraf. Zum Echo in der Literatur s. nur: Hans-Günter Henneke, Landesfinanzpolitik und Verfassungsrecht (1998), S. 41 ff., auch S. 26 ff. mit zahlreichen Nachweisen; daneben ders., Jenseits von Bückeburg (Dritte und letzte Folge), NdsVBl. 2001, S. 233 ff. Bezüglich der dritten Entscheidung des Staatsgerichtshof s. noch die Gegenposition von Uwe Volkmann (Verfahrensbevollmächtigter des Landes Niedersachsen in diesem Prozess vor dem Staatsgerichtshof), Der Anspruch der Kommunen auf finanzielle Mindestausstattung, DÖV 2001, S. 497 ff. 72 S. die Nachweise in Anm. 71.
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5.
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Rechtsprechung
Erwähnenswert ist insoweit vor allem, dass die Niedersächsische Verfassung gegenüber ihrer Vorgängerin die Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs erweitert hat. Das Gericht kann neben der bereits behandelten kommunalen Verfassungsbeschwerde nun auch bei Streitigkeiten über Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden u. a. von den Initianten angerufen werden (Artikel 54 Nr. 2 NV). Geändert worden ist auch die Zusammensetzung des Staatsgerichtshofs: Es ist nicht mehr vorgesehen, dass dem Verfassungsgericht Berufsrichter im Nebenamt anzugehören haben (Artikel 55 Abs. 1 NV). Die Amtszeit der Mitglieder wird auf 7 Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl festgesetzt und für ihre Wahl jetzt eine qualifizierte Mehrheit in der Verfassung – wie bisher schon im Staatsgerichtshofgesetz – vorgeschrieben (Artikel 55 Abs. 3 NV). Die Literatur im Berichtszeitraum hat sich neben allgemeinen Stellungnahmen zur Zuständigkeit und zum Verfahren des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs73 und zu den Regelungen über die rechtsprechende Gewalt in der Niedersächsischen Verfassung überhaupt74 besonders mit der Frage befasst, ob die (schon durch eine entsprechende Änderung des Gesetzes über den Staatsgerichtshof mögliche) Einführung einer (allgemeinen) Landesverfassungsbeschwerde in Niedersachsen sinnvoll wäre75. Das ist zweifellos eine verfassungspolitische Fragestellung; sie besitzt aber nach meinem Dafürhalten umso größeres Gewicht, als die Einführung der (allgemeinen) Landesverfassungsbeschwerde in Niedersachsen der hier unter I 1 betonten notwendigen Ergänzungsfunktion der Landesverfassung gegenüber dem Grundgesetz entspräche und damit dieses Verständnis stützen würde. Auch das für die kommunale Verfassungsbeschwerde vorgetragene Argument der Sach- und Ortsnähe des jeweiligen Landesverfassungsgerichts zum zu entscheidenden Fall wäre hier einschlägig76. Darüber hinaus würde die Einführung einer (allgemeinen) Ver73 Grundlegend dazu Hüpper, (Anm. 69); s. daneben kurz zusammenfassend Uwe Berlit, Der Niedersächsische Staatsgerichtshof, NdsVBl. 1995, S. 97 ff. und den Erfahrungsbericht des ehemaligen Richters am Niedersächsischen Staatsgerichtshof: Rudolf Wassermann, Niedersächsischer Staatsgerichtshof. Ein Rückblick nach 23jähriger Zugehörigkeit, NdsVBl. 2000, S. 238 ff. 74 Dazu Wassermann, Die rechtsprechende Gewalt in der Niedersächsischen Verfassung, NdsVBl. 1997, S. 145 ff. 75 Für Niedersachsen s. insoweit: Hüpper (Anm. 69), S. 241 ff.; Günter C. Burmeister, Chancen und Risiken einer niedersächsischen Landesverfassungsbeschwerde, NdsVBl. 1998, S. 53 ff. und Jörn Ipsen, Eine Verfassungsbeschwerde für Niedersachsen! NdsVBl. 1998, S. 129 ff. 76 So ebenfalls Ipsen, Verfassungsbeschwerde (Anm. 75), S. 133 f. Da es in Niedersachsen ja bei der Landesverfassungsbeschwerde um die Auslegung rezipierter Bundesgrundrechte (Artikel 3 Abs. 2 NV) durch den Staatsgerichtshof geht, können auch – cum grano salis – viele Argumente, die für den Vollzug von Bundesgesetzen durch die Länder sprechen, hier er-
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
fassungsbeschwerde wie schon die der kommunalen Verfassungsbeschwerde im Ergebnis »einen Akt der Verselbstständigung des Landesverfassungsrechts« bedeuten77. Abschießend ist noch zu diesem Punkt auf das am 2. 7. 1996 in Kraft getretene Staatsgerichtshofsgesetz zu verweisen; es regelt »das Nähere über die Verfassung und das Verfahren des Staatsgerichtshofs und bestimmt, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben« (so Artikel 55 Abs. 4 NV)78.
6.
Finanzwesen
Hier ist es zu wesentlichen Änderungen gegenüber der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung gekommen, wenn auch – wie noch zu zeigen sein wird – die wirklich entscheidende verfassungsrechtliche Frage in diesem Bereich, nämlich die nach einer schlüssigen und handhabbaren Begrenzung der Staatsverschuldung in den Verfassungsberatungen gar nicht gestellt wurde. Hinzuweisen ist aber auf folgende Neuerungen: Artikel 64 NV schreibt jetzt ausdrücklich eine mehrjährige Finanz- und Investitionsplanung vor. Artikel 65 Abs. 1 NV, der den Landeshaushalt regelt, erwähnt nunmehr auch das Institut der Verpflichtungsermächtigung, das bekanntlich vorher nur in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen vorgesehen war. In Artikel 67 NV sind die Voraussetzungen für über- und außerplanmäßige Ausgaben im Anschluss an die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts präzisiert worden. Neu ist auch die Regelung des Artikels 68 Abs. 1 NV: Danach müssen zu Gesetzentwürfen, die von der Landesregierung, aus der Mitte des Landtags oder auch durch Volksbegehren vorgelegt werden, die Mehrkosten und Mindereinnahmen angegeben werden, die das Gesetz voraussichtlich für das Land, die Gemeinden, die Landkreise und andere Träger öffentlicher Verwaltung mit sich bringen wird. Eine entsprechende Bestimmung findet sich nur in ganz wenigen Landesverfassungen. Sie hat zweifellos eine erhebliche Bremswirkung für kostenwirksame Landesgesetze und andere Maßnahmen. Die Rechtsprechung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs und die Staatspraxis in Niedersachsen haben neben einigen speziellen Fragen des
gänzend gelten. Umfassend jetzt zu dieser »Parallele«: Christian Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder (2001). 77 So Ipsen, aaO., S. 134. 78 Zu den (letztlich nicht vorhandenen) Gründen für die verspätete Einbringung des Staatsgerichtshofgesetzes durch die Landesregierung, die m. E. auch ein Licht auf die Sorgfalt wirft, mit der sie damals »Verfassungsdinge« behandelte: Hüpper (Anm. 69), s. 50 f.
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Haushaltsrechts vor allem die dramatische Verschuldung des Landes beschäftigt79 : a) Zu den speziellen Fragen des Haushaltsrechts ist zunächst auf einen Beschluss des Staatsgerichtshofs zum für den Haushaltsplan geltenden Vorherigkeitsprinzip (Artikel 65 Abs. 4 NV) hinzuweisen80. Nach diesem Beschluss ist der genannten Vorschrift genügt, wenn die Landesregierung in Übereinstimmung mit ihrer bisherigen überwiegenden Praxis den Haushaltsplan so rechtzeitig vor Beginn des neuen Haushaltsjahres vorlegt, dass seine erste parlamentarische Beratung noch im alten Haushaltsjahr sattfinden kann. Ähnlich freundlich gegenüber einer eingefahrenen (aber durchaus abänderbaren) Praxis und unter erneuter Außerachtlassung der eigentlichen Ratio der einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmung hat der Niedersächsische Staatsgerichtshof das sog. Bepackungsverbot (Artikel 49 VNV – jetzt: Artikel 65 Abs. 5 NV) interpretiert81. Er hat nämlich den nach den genannten Vorschriften erforderlichen Bezug zu den Einnahmen und Ausgaben des Landes schon immer dann für gegeben angesehen, wenn eine »Bestimmung unmittelbar« auf diese »einwirkt, d. h. eine Einnahme oder Ausgabe ohne das Hinzutreten weiterer normativer Voraussetzungen bemisst«82. Unter diesen Voraussetzungen soll etwa die punktuelle Änderung eines Leistungsgesetzes durch das Haushaltsgesetz (auch wenn das schon mehrere Jahre hintereinander so geschieht) möglich sein. Meines Erachtens hat Starck in seiner »Abweichenden Meinung« dieser Argumentation zu Recht entgegengehalten, dass damit »jede finanzielle Regelung eines Fachgesetzes ungeachtet ihrer politischen Bedeutung und insbesondere ihrer Wirkung im Gesamtgefüge des Gesetzes auf einen reinen Haushaltsansatz herabgestuft« wird83. Es ist – so scheint mir – letztlich das unterschiedliche Verfahren, das für den Erlass des Haushaltsgesetzes mit dem Haushaltsplan einerseits und die »allgemeine« Gesetzgebung andererseits gilt84, das die Richtigkeit der Überlegung von Starck stützt. Die Haushaltspraxis hatte sich im Berichtszeitraum mehrfach mit der Frage zu beschäftigen, wie weit die Beteiligungsrechte des Haushaltsausschusses am Gesetzes- und Haushaltsvollzug reichen. Das insoweit hier allein interessierende verfassungsrechtliche Problem betrifft vor allem den Zustimmungsvorbehalt 79 Eine gute Übesicht gibt die Antwort der Landesregierung vom 13. 02. 2001 auf eine Kleine Anfrage: LT-Drs. 14/2235, S. 2 ff. 80 StGH 1/98 – NdsVBl. 1999, S. 38 f. 81 StGH 4/96 – NdsVBl. 1997, s. 37 ff. 82 aaO., S. 39. 83 Wie Anm. 82 – dieser abweichenden Meinung ist der Richter Hedergott beigetreten. 84 Dazu etwa Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 10), S. 90 ff. Es ist allerdings in der Literatur eine Mindermeinung, die diese »strenge« Auslegung des Artikel 65 Abs. 5 NV (bzw. des gleichlautenden Artikel 110 Abs. 4 GG) vertritt.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
des Landtages in den von Artikel 63 NV genannten Fällen, daneben die »Vorwegfreigabe« von Haushaltsmitteln, Verpflichtungsermächtigungen und Stellen durch den Haushaltsausschuss und schließlich (abgesehen von der wohl ausdiskutierten Sperrvermerkspraxis) den Zustimmungsvorbehalt in § 5 Abs. 1 S. 1 des Haushaltsgesetzes 2002/200385 zu haushaltsrechtlichen Modellversuchen wie die in § 4 Abs. 2 S. 1 des genannten Gesetzes vorgesehene Einwilligung des Haushaltsausschusses zur Übernahme bestimmter Garantien und Bürgschaften zu Lasten des Landes durch das Finanzministerium. Was die zuletzt genannten Fälle betrifft, so muss aus verfassungsrechtlicher Sicht die grundsätzliche Frage gestellt werden, ob damit letztlich nicht ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip i. S. der Niedersächsischen Verfassung (Artikel 2 Abs. 1, 7, 20 Abs. 1) vorliegt, weil insoweit nicht der Landtag als Organ, das über den Haushalt zu beschließen hat (Artikel 7 NV), tätig wird, sondern lediglich ein seine Beschlusse vorbereitendes Organ (Artikel 20 Abs. 1 NV). Dieses Bedenken gilt ebenfalls für den erwähnten Fall der Vorwegfreigabe, der sich im Übrigen zusätzlich als eine Umgehung der in Artikel 66, 67 NV getroffenen Regelungen darstellt. Der in Artikel 63 NV formulierte Zustimmungsvorbehalt schließlich erstreckt sich – wie in der Praxis inzwischen anerkannt wird – über den Wortlaut des diese Verfassungsbestimmung konkretisierenden § 65 Abs. 2 LHO hinausgehend auch auf die Einwilligung des Landtags zur Veräußerung von mittelbaren Landesbeteiligungen. Der Haushaltsausschuss kann allerdings in derartigen Fällen selbstverständlich ebenfalls nur als ein die Beschlüsse des Landtags vorbereitendes Organ tätig werden, was in der Praxis insoweit auch ordnungsgemäß geschieht. Die neu in die Niedersächsische Verfassung aufgenommene Regelung des Artikel 68 Abs. 1 NV schließlich, nach der jeder, der einen Gesetzentwurf einbringt, die dadurch voraussichtlich verursachten Mehrausgaben und Mindereinnahmen für Land und Kommunen darlegen muss, hat auch mehrfach die parlamentarische Praxis in Niedersachsen beschäftigt. Inzwischen besteht aber weitgehend Einigkeit darüber, dass ein Gesetzentwurf dann dagegen verstößt, wenn er nicht ausdrücklich die Höhe der Kosten und Mindereinnahmen oder diese nicht vollständig und nicht mit dem – voraussichtlich – zutreffenden Betrag angibt. b) Mit dem Problem der richtigen verfassungsrechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung hängt zunächst indirekt die vom Staatsgerichtshof entschiedene Frage zusammen, ob die Landesregierung von einer im betreffenden 85 Genauer Titel dieses Gesetzes: Gesetz über die Feststellung es Haushaltsplans für die Haushaltsjahre 2002 und 2003 vom 18. Dezember 2001 (Ns. GVBl. S. 792). Entsprechende Bestimmungen finden sich im Haushaltsgesetz 2001 vom 20. Dezember 2000 (Nds. GVBl. S. 365) und im Haushaltsgesetz 1999/2000 vom 18. März 1999 (Nds. GVBl. S. 82) u. a.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
275
Haushaltsgesetz vorgesehenen Kreditermächtigung nur Gebrauch machen darf, wenn sie zuvor dem Landtag (bzw. seinem Ausschuss für Haushalt und Finanzen) nachweist, dass eigenfinanzierte Investitionen aufgrund dieses Haushaltsgesetzes in entsprechender Höhe getätigt, bewilligt oder verbindlich zugesagt worden sind. Man kann ja durchaus die Meinung vertreten, dass durch eine Inanspruchnahme der haushaltsgesetzlichen Kreditermächtigung vor diesem Nachweis die Ratio des Artikel 71 S. 2 NV unterlaufen würde (sog. asymmetrischer Haushaltsvollzug). Denn die verfassungsrechtliche Begrenzung der Staatsverschuldung nach der genannten Vorschrift stellt doch nicht lediglich eine haushaltsgesetzliche Formalie dar, sondern geht von dem Grundgedanken aus, dass die Staatsverschuldung durch investive Ausgaben auch tatsächlich kompensiert wird. Der Niedersächsische Staatsgerichtshof hat allerdings eine solche Folgerung mit dem Argument abgelehnt, dass sich weder aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Artikel 71 S. 2 und 3 NV noch aus anderen verfassungsrechtlichen Kontrollrechten des Landtags die Pflicht der Landesregierung zum »Vorabnachweis von Investitionen vor Kreditaufnahmen« ableiten lasse86. Als problematisch erweist sich in mehrfacher Hinsicht zunehmend die in Artikel 71 S. 2 und 3 NV vorgenommene verfassungsrechtliche Begrenzung der Kreditaufnahme. Denn der von der Verfassung nicht näher eingegrenzte Investitionsbegriff ist offenbar ungeeignet, das gefährliche Anwachsen der Schulden des Landes zu verhüten. So übersteigen seit Jahren in Niedersachsen die Schuldzinsen, die das Land jährlich aufbringen muss, bei weitem die jährliche Investitionssumme. Problematisch ist daneben die genannte verfassungsrechtliche Begrenzung der Kreditaufnahme deshalb, weil aus der im Maastricht-Vertrag von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Verpflichtung zur »Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite« (Artikel 104 Abs. 1 EG-Vertrag) auch für die einzelnen Bundesländer eine genau zu beziffernde Verschuldensgrenze folgt. Das ist in er Literatur mehrfach ausführlich dargelegt worden87. Umso befremdlicher ist angesichts dieser Rechtslage das bisherige Untätigsein des Bundesgesetzgebers (und auch des Landesgesetzgebers bezüglich der wohl notwendigen Änderung des Artikel 71 NV)88. Im Blick auf diese schon bei den Beratungen über die Niedersächsische
86 StGH 11/95 – NdsVBl. 1997, S. 132 (133). Ganz entsprechend der hier vertretenen Meinung aber Josef Isensee (Staatsverschuldung im Haushaltsvollzug, DVBl. 1996, S. 17 ff.), der die Antragsteller in diesem Normenkontroll- und Organklageverfahren über den niedersächsischen Haushalt 1995 vor dem Staatsgerichtshof vertreten hat. 87 s. zusammenfassend Henneke, Landesfinanzpolitik (Anm. 71),S. 79 ff., bes. S. 86 ff. 88 Dazu wiederum Henneke, aaO., S. 88 ff., bes. S. 94 f.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
Verfassung erkennbaren Entwicklung erstaunt das gefundene Ergebnis89 : Der Artikel 71 S. 2 und 3 NV stimmt in seinem Wortlaut nicht nur weitgehend mit der entsprechenden Bestimmung in der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (und im Grundgesetz: Artikel 115 S. 2 GG) überein90, sondern er erklärt zusätzlich eine Kreditaufnahme unabhängig von den veranschlagten Investitionen dann für zulässig, wenn sie der »Abwehr einer akuten Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen« dient. Auch das einschlägige Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 07. 01. 1997 zu Artikel 71 S. 2 und 3 NV91 hat zu keiner befriedigenden verfassungsrechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung geführt. Das liegt zunächst natürlich an dem problematischen Wortlaut dieser Bestimmung. Daneben hat der Staatsgerichtshof sie aber auch nicht als eine inhaltlich stringente Grenzziehung interpretiert. Denn er hat zunächst – m. E. dogmatisch durchaus korrekt – an dem überkommenen (durch § 10 Abs. 3 Nr. 3 S. 2 HGrG geprägten) sog. »haushaltsverfassungsrechtlichen« Investitionsbegriff festgehalten und weiter für die Kreditaufnahme nach der Ausnahmeregelung des Artikel 71 S. 3 NV zwar (dogmatisch problematische) »Darlegungspflichten« des Haushaltsgesetzgebers statuiert92, aber dann bei der Überprüfung der Finalität zwischen erhöhter Kreditaufnahme und Abwehr einer diagnostizierten Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ihm einen (zu) weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eingeräumt93. c) Wenn das Land Niedersachsen nun aber selbst bei diesem durch den Text der Verfassung und die Rechtsprechung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs eröffneten weiten Kreditrahmen ihn in der Folgezeit nicht mehr einhalten zu können glaubte, so blieb dem Land, um weitere Kredite aufnehmen zu können, nur die Möglichkeit einer sich nicht direkt im Haushalt niederschlagenden »Umwegfinanzierung«. Von dieser Möglichkeit hat man in Niedersachsen dann auch mehrfach Gebrauch gemacht, und zwar besonders durch die Aufnahme von Krediten über die Niedersächsische Gesellschaft für öffentliche Finanzierungen mbH (NFG)94. Betrachtet man die Struktur dieser Gesellschaft 89 Zusammenfassend dazu: Schriftlicher Bericht zum Entwurf einer Niedersächsischen Verfassung (LT-Drs. 12/5840, S. 42). 90 Die Ausnahme besteht darin, dass Artikel 54 S. 2 VNV und Artikel 115 S. 2 GG die »Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts« zur Rechtfertigung einer erhöhten Kreditaufnahme genügen lassen, während Artikel 71 S. 3 NV insofern eine »nachhaltige Störung« voraussetzt. 91 StGH 10/95 – NdsVBl. 1997, S. 227 ff. 92 Zur grundsätzlichen Problematik von verfassungsrechtlichen Darlegungspflichten des Gesetzgebers, die ja weder das Grundgesetz noch die Niedersächsische Verfassung ihrem Wortlaut nach kennen, s. nur meine Urteilsanmerkung: DVBl. 1989, S. 618. 93 Genauer dazu die Kritik von Henneke, Landesfinanzpolitik (Anm. 71), S. 70 ff. 94 Die folgenden Ausführungen zur NFG stützen sich auf entsprechende Überlegungen des Ministerialdirigenten beim Niedersächsischen Landesrechnungshof Wolfgang Göke, s. be-
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
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näher, so gewinnt man den Eindruck, dass es sich hierbei letztlich um eine vom Niedersächsischen Finanzministerium beherrschte Gesellschaft handelt, die die angesprochene Umwegfinanzierung realisieren soll: Mehr als 70 % des Stammkapitals dieser Gesellschaft hält das Land; weitere Anteile halten die Norddeutsche Landesbank – Girozentrale – und die Bremer Landesbank Kreditanstalt Oldenburg – Girozentrale -, an denen das Land ebenfalls beteiligt ist. Im Aufsichtsrat hat das Land 4 von 6 Stimmen. Die vom Land, vertreten durch das Finanzministerium, entsandten Mitglieder des Aufsichtsrats sind Bedienstete des Landes, den Vorsitz hat ein Bediensteter aus dem Geschäftsbereich des Finanzministeriums inne. Die Geschäftsführung wird ebenfalls von zwei Bediensteten des Landes aus dem Geschäftsbereich des Finanzministeriums wahrgenommen. Das Land befreit die NFG von allen Lasten und Risiken. Es trägt den gesamten Schuldendienst. Gegenstand dieses »Unternehmens« ist nach dem vom Niedersächsischen Finanzministerium herausgegebenen Beteiligungsbericht des Landes Niedersachsen 2001 »die Finanzierung von Maßnahmen der Landesentwicklung, insbesondere der Verbesserung der Infrastruktur und der Förderung der Industrieansiedlung und die Übernahme sonstiger Finanzierungsaufgaben für das Land Niedersachsen«95. Und zur Bedeutung der NFG für das Land heißt es in dem genannten Bericht: »Die Gesellschaft finanziert wichtige, im Landesinteresse liegende Maßnahmen vor, die aus haushaltstechnischen Gründen erst in der Folgezeit durch originäre Haushaltsmittel abgelöst werden können«96. Nun sind es aber m. E. nicht lediglich »haushaltstechnische Gründe«, die ein entsprechendes Tätigwerden der NFG gebieten, sondern – worauf der Niedersächsische Landesrechnungshof ebenfalls ansatzweise hingewiesen hat97 – handfeste verfassungsrechtliche Gründe, die diese »Umwegfinanzierung« versonders ders., Empfiehlt es sich, die Befugnisse des Parlaments im Rahmen von Auslagerungen und Privatisierungen neu zu regeln?, in: Hermann Hill (Hrsg.), Parlamentarische Steuerungsordnung, 2001, S. 71 (78 ff.). Ein weiteres Beispiel für die angesprochene Umwegfinanzierung stellt die Finanzierung der Wohnungsbauprogramme des Landes durch Kreditaufnahme der Niedersächsischen Landestreuhandstelle (außerhalb des Landeshaushalts) dar, s. dazu die ausführliche Kritik des Niedersächsischen Landesrechnungshofs in seinem Jahresbericht 1998 (LT-Drs. 14/50, S. 73 ff.). Nach dem Geschäftsbericht 2000 der landeseigenen Hannoverschen Beteiligungsgesellschaft mbH hat die Gesellschaft »ihren Finanzbedarf, der sich im Geschäftsjahr im Wesentlichen aus Anschlussfinanzierungen ergab, durch Ausschüttungserlöse und die Aufnahme von Krediten am Kapitalmarkt gedeckt. Sie hat insofern Darlehen gegen Schuldscheine aufgenommen, die mit hundertprozentigen selbstschuldnerischen Bürgschaften des Landes Niedersachsen besichert sind« (dort S. 5). Zur grundsätzlichen Kritik zur damit mehr oder weniger deutlich vorliegenden »Leasing Finanzierung«: Henneke, Landesfinanzpolitik (Anm. 71),S. 75 ff. 95 S. 28 des genannten Beteiligungsberichts. 96 Wie Anm. 95 (Hervorhebungen vom Verfasser!). 97 s. nur Jahresbericht 1992 (LT-Drs. 12/3100, S. 125 f.) und Jahresbericht 1999 (LT-Drs. 14/750, S. 134 f.).
278
1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
bieten. Denn die Vorfinanzierung öffentlicher Aufgaben durch die NFG bewirkt eine Umgehung des Gebotes der Vollständigkeit des Haushalts nach Artikel 65 Abs. 1 S. 1 NV. Sie führt im Ergebnis zu folgenden, wegen Artikel 65 Abs. 1 S. 1 NV nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen der Etathoheit des Parlaments: (Vor-)Finanzierung großer Maßnahmen außerhalb des Landeshaushalts, mangelnde Transparenz der Prioritätensetzung, unzureichender Ausweis der Investitionen des Landes im Landeshaushalt, unzureichende Darstellung der Ausgaben des Landes für große Vorhaben und fehlende Kontrolle des Landtages zur Veranschlagungsreife und schließlich unzureichende Darstellung der tatsächlichen Krediteinnahmen des Landes und der künftigen Tilgungsausgaben im Kreditfinanzierungsplan sowie zu niedriger Ausweis der tatsächlichen Nettokreditaufnahme. Dieses Beispiel zeigt m. E. einmal mehr, wie notwendig eine verfassungsrechtliche Umorientierung für die Begrenzung der Staatsverschuldung ist. Lösungen dafür, die sich allesamt an den Maastrichtkriterien (Artikel 104 EGVertrag) orientieren, liegen seit längerem auf dem Tisch98. Die Antwort auf die Frage, warum sie nicht aufgegriffen werden, würde eine diesen Bericht sprengende Erörterung der Defizite unseres demokratischen Entscheidungssystems im Bund und in den Ländern erforderlich machen99.
7.
Ungelöste Probleme des niedersächsischen Verfassungsrechts
Der soeben unter 1 – 6 versuchte Überblick über die gegenwärtige Verfassungsrechtslage in Niedersachsen zeigt – besonders wenn man die Staatspraxis berücksichtigt -, dass nach wie vor folgende verfassungsrechtliche Probleme einer Lösung harren: Die Wiederherstellung des Gewaltenteilungsprinzips zwischen Legislative und Exekutive, daneben die Überprüfung des von der Niedersächsischen Verfassung bejahten Ressortprinzips, ferner die im Blick auf die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung (einschließlich ihrer Verantwortlichkeit für eine verfassungsgemäße Haushaltsführung) unbeantwortete Frage nach den Grenzen der Verselbstständigung von Verwaltungseinheiten und schließlich – und vor allem – das Problem einer verfassungsrechtlich einwandfreien Begrenzung der Staatsverschuldung, die die insoweit durch den Vertrag von Maastricht vorgegebenen und auch für die Länder verbindlichen Kriterien berücksichtigt. 98 s. etwa Wolfgang Göke, Staatsverschuldung. Finanzverfassungsrechtliche Ursachen und Lösungen zu ihrer Begrenzung, NdsVBl. 1996, S. 1 (5 ff.) sowie Friedrich Halstenberg, Staatsverschuldung ohne Tilgungsplanung, DVBl. 2001, S. 1405 ff. 99 Dazu ansatzweise Janssen, Reformbedürftigkeit (Anm. 57), S. 74 ff. und: Infragestellung (Anm. 9), S. 123 ff.
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
279
Bedenkt man abschließend, dass ein wesentlicher Teil der genannten Probleme – wie unter I 2 gezeigt – bereits von Werner Weber in den Jahren 1950 und 1961 angesprochen wurden, diese weiter vollständig zu Beginn der Verfassungsberatungen über die Niedersächsische Verfassung 1990 auch den daran Beteiligten bekannt waren, so ist die allgemeine Folgerung unumgänglich, dass in Niedersachsen die (ausschließliche) Verfassungsgebung durch politische Parteien und eine von den politischen Parteien beherrschte Staatspraxis ganz offensichtlich an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen sind100.
Thesen I. 1. Bis zum Inkrafttreten der neuen Niedersächsischen Verfassung am 1. Juni 1993 galt in Niedersachsen die Vorläufige Niedersächsische Verfassung vom 13. April 1951, die im Blick auf die damalige deutsche Teilung bewusst als eine vorläufige bezeichnet wurde und sich auf Regelungen zur Organisation der Landesstaatsgewalt beschränkte. Da nach ihrem Verständnis zudem das Grundgesetz und die (seine Vorgaben beachtenden) Landesverfassungen erst gemeinsam das Verfassungsrecht des deutschen Bundesstaates ausmachen, ist für die vorläufige Niedersächsische Verfassung die Frage nach der Notwendigkeit ihrer demokratischen Legitimation durch das niedersächsische Volk nie ernsthaft gestellt worden. Das gilt ebenfalls für die neue Niedersächsische Verfassung. Und zwar deshalb, weil man diese entweder nur als eine Änderung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung verstand, oder sich mit dem Hinweis begnügte, dass die Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt auf die deutschen Landesverfassungen schon wegen der auch insoweit bestehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes (wenn überhaupt) nur in modifizierter Form Anwendung finden könne. 2. Die Verfassungspraxis unter der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung hatte gezeigt, dass eine Verfassungsreform sich besonders mit folgenden, die Organisation des Landes betreffenden Fragen auseinandersetzen musste: Die weitere Existenzberechtigung des parlamentarischen Regierungssystems auf Landesebene, die (faktische) Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, die Begrenzung der (Organisatons-)privatisierung in der staatlichen Verwaltung, die Notwendigkeit von wirksamen verfassungsrechtli100 Ähnliches Gesamtergebnis schon bei Janssen, Niedersächsische Verfassung (Anm. 25), S. 9 f.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
chen Grenzen der Staatsverschuldung und eine stärkere unmittelbare Beteiligung des Volkes an staatlichen Entscheidungen.
II. Der Ablauf der Beratungen über die neue Niedersächsische Verfassung lässt sich allgemein als »Verfassungsgebung durch politische Parteien« charakterisieren. Denn es fehlte jede ernsthafte Beteiligung der Ministerialbürokratie an diesen Beratungen und vor allem die des (niedersächsischen) Volks daran; dieses konnte nur wie bei jeder normalen Gesetzesberatung durch entsprechende Eingaben inhaltlichen Einfluss auf die Verfassungsberatungen nehmen. Als mehr oder weniger zwingende Folge des insoweit bestehenden Meinungsmonopols der politischen Parteien wurden die hier unter I 2. genannten Themen in den Verfassungsberatungen (mit Ausnahme der – gründlichen – Erörterung über Inhalt und Umfang der unmittelbaren Beteiligung des Volkes an der staatlichen Willensbildung) nicht behandelt. Vielmehr beschränkten sich diese (im Schwerpunkt) auf die Diskussion über die Aufnahme von Staatszielbestimmungen und Grundrechten in die neue Verfassung und die Verbesserung des Oppositionsstatus.
III. Zum Inhalt der neuen Niedersächsischen Verfassung und zu ihrer Auslegung durch den Niedersächsischen Staatsgerichtshof und die Staatspraxis ist folgendes zu bemerken: 1. Während der Verfassungsgeber die Frage nach Aufnahme von Grundrechten in die neue Niedersächsische Verfassung pragmatisch dahin gehend entschieden hat, dass die Grundrechte (und staatsbürgerlichen Rechte) des Grundgesetzes »Bestandteil« der Niedersächsischen Verfassung sind, bejahte er die Aufnahme zahlreicher neuer, im Grundgesetz nicht enthaltenen Staatszielbestimmungen (Handlungsaufträge für den Staat) in die Landesverfassung. Sie benennen letztlich typische Aufgaben des Landes, was für die Integrationsfunktion der Landesverfassung wohl nicht ohne Bedeutung ist. 2. Bezüglich der Regelungen über den Landtag (und seine Gesetzgebung) sind in die neue Niedersächsischen Verfassung viele bisher in der Geschäftsordnung des Landtags bzw. in Landesgesetzen enthaltene Bestimmungen aufgenommen worden, so die für die Landtagswahlen geltende Fünfprozentklausel und den Fraktions- und Oppositionsstatus betreffende Vorschriften. Neu ist daneben die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre und die Herabsetzung des passiven
9. Entstehung und Auslegung der neuen Niedersächsischen Verfassung
281
Wahlalters auf achtzehn Jahre, die Ausfertigung der Gesetze durch den Landtagspräsidenten und vor allem die Regelungen der Artikel 24, 25 und 27 NV. Diese zuletzt genannten Bestimmungen laufen im Ergebnis auf eine (weitere) Verrechtlichung des bisher durchweg rein politischen Kräftespiels zwischen der Regierung und der sie tragenden Parteien einerseits, der parlamentarischen Opposition andererseits hinaus. Angesichts der bisherigen praktischen Erfahrungen mit ihnen und der insoweit einschlägigen Urteile des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob nicht durch diesen Ausbau der parlamentarischen Kontrollrechte unnütze neue »Kriegsschauplätze« eröffnet worden sind, die durch die damit zwangsläufig verbundenen Rechtsstreitigkeiten die notwendige (politische) Auseinandersetzung in der Sache immer mehr in den Hintergrund drängen. 3. Die wichtigste Neuerung der neuen Verfassung stellen ihre Regelungen über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid dar. In einem einschlägigen Urteil hat der Niedersächsische Staatsgerichtshof die Anforderungen, denen ein im Rahmen eines Volksbegehrens zur Abstimmung gestellter Gesetzentwurf genügen muss, genauer festgelegt. 4. Die Staatspraxis unter der neuen Niedersächsischen Verfassung hat die weiterhin bestehende Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Lösung für alle hier unter I 2. genannten verfassungsrechtlichen Probleme zur Organisationsstruktur von Regierung und Verwaltung überdeutlich gezeigt. Das gilt besonders für das weitere (unbegründete) Festhalten der Landesregierung am Ressortprinzip, die Relativierung des Gewaltenteilungsprinzips zwischen Legislative und Exekutive und die fortschreitende Zersplitterung der Landesverwaltung, die im Ergebnis inzwischen an der Möglichkeit einer wirklichen parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung für das Handeln der Exekutive zweifeln lässt. Hinzugekommen ist eine Forcierung der parteipolitischen Ämterpatronage, die besonders für die Spitzenpositionen in den Ministerien zu beobachten ist. Für die kommunale Selbstverwaltung besteht die wesentliche verfassungsrechtliche Neuerung in der Einführung einer kommunalen Verfassungsbeschwerde. Sie hat besonders zu einer viel beachteten Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs zur verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Finanzausstattung in Niedersachsen geführt. 5. Was den Niedersächsischen Staatsgerichtshof betrifft, so ist neben einigen Änderungen in seiner Zusammensetzung besonders die auch in Niedersachsen ausführlich geführte Diskussion über die Einführung einer (allgemeinen) Landesverfassungsbeschwerde erwähnenswert. Eine solche Erweiterung der dem Landesverfassungsgericht eingeräumten Kompetenzen würde durchaus der hier bejahten allgemeinen Ergänzungsfunktion der Niedersächsischen Verfassung gegenüber dem Grundgesetz entsprechen.
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1. Teil: Entwicklungen in den Bundesländern
6. Die wichtigste Neuerung des Haushaltsrechts stellt die Vorschrift des Artikel 68 NV dar, wonach bei Gesetzentwürfen die Mehrkosten und Mindereinnahmen angegeben werden müssen, die das entsprechende Gesetz voraussichtlich für die Verwaltung (einschließlich der Kommunen) mit sich bringen wird. Dagegen hat sich der Verfassungsgeber nicht zu einer Präzisierung der Vorschrift über die Begrenzung der Staatsverschuldung entschließen können, obwohl europarechtliche Vorgaben, die wachsende Staatsverschuldung des Landes und vielfältige Umwegfinanzierungen am Landeshaushalt vorbei das dringend geboten hätten. 7. Im Ergebnis sind die die Organisationsstruktur des Landes betreffenden Probleme weder durch die neue Niedersächsische Verfassung noch durch die Staatspraxis wirklich gelöst worden. Die (ausschließliche) Verfassungsgebung durch politische Parteien und eine von den politischen Parteien beherrschte Staatspraxis sind also ganz offensichtlich an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen.
2. Teil: Notwendige Reformen des deutschen Bundesstaates
10. Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht
I.
Einleitung: Der Verlust an sachlicher Autonomie der Länder als Grund für die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
1.
Der Verlust an sachlicher Autonomie der Länder und seine Ursachen
Es ist unübersehbar, dass die deutschen Bundesländer heute kaum noch eine wirkliche sachliche Autonomie besitzen. Für die Gesetzgebung der Länder ist insoweit auf die starke Abwanderung ursprünglicher Länderkompetenzen auf den Bund1 und die ständig zunehmende »Europäisierung« des Bundes- und Landesrechts zu verweisen2. Als weitere rechtliche Ursache für den Verlust an Gesetzgebungskompetenzen der Länder kommt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur alten Fassung des Artikel 72 Abs. 2 GG hinzu, da sie die dort formulierten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnisse durch den Bund letztlich nicht als justitiable Grenzziehung verstanden hat3. Schließlich sollte nicht übersehen werden, 1 Genauer dazu für den Zeitraum 1962 – 1992: Janssen, Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Rückblicke – Ausblicke (FS aus Anlass des 30. Jahrestages des Einzuges des Niedersächsischen Landtages in das hannoversche Leineschloss am 11. September 1992), S. 15 (S. 21 i. V. m. S. 38 – 40 und S. 23 f.) und allgemein: Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 411 ff., 423 ff. 2 s. zum Einfluss des Europarechts auf die Länderebene vor dem Vertrag von Maastricht von 1992 Teil I des Berichts der Kommission »Erhaltung und Fortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – auch in einem Vereinten Europa« 1990, S. 139 ff. und für die Zeit nach Erlass des Maastrichter Vertrages von 1992: T. Stein, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz? (2. Bericht), in: VVDStRL 53 (1994) 27 (32 ff.); Pernice, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, DVBl. 1993, 909 (910 ff.) und zuletzt Reich, Zum Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, 1 ff. 3 Über diese Rechtsprechung und die dazu ergangenen literarischen Stellungnahmen referieren zuverlässig folgende Monografien: M. D. Müller, Auswirkungen der Grundgesetzrevision von
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
dass ein Teil der Lehre mit der Begründung eines verfassungsrechtlichen Gebots zur Herstellung der Chancengleichheit, Gleichheit der Lebensbedingungen u. a. nicht nur ein Tätigwerden des Gesetzgebers überhaupt ausgelöst hat4, sondern daneben die Grundlage für eine Verfassungsinterpretation lieferte, die die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes nach Artikel 73 – 75 GG und seine Kompetenzen im Finanzwesen (Artikel 104a ff. GG) sehr großzügig zum Nachteil der Autonomie der Länder auslegte. Für die eingetretene Einengung der finanziellen Handlungsspielräume der Länder sind daneben vor allem die durch Bundesgesetze veranlassten Ausgaben für die Länder (s. besonders Artikel 104 a Abs. 3 GG) und ihre aufgrund der Artikel 91 a und 91 b GG zu erbringende Gegenfinanzierung ursächlich5. Der Verlust an Verwaltungskompetenzen der Länder schließlich ist (neben der zunehmenden Intensität der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Exekutive6 ) wohl primär auf ein extensives Gebrauchmachen des Bundes von seinen in Artikel 84 Abs. 1 und Abs. 2 GG eingeräumten Befugnissen und den gezielten Ausbau der bundeseigenen Verwaltung aufgrund des Artikel 87 Abs. 3 GG zurückzuführen7. Aber selbst in den Bereichen, in denen die Länder noch eigene Regelungskompetenzen besitzen, werden diese von ihnen häufig wegen verbindlicher Absprachen untereinander faktisch nur noch bedingt in eigener Verantwortung wahrgenommen. Das zeigen zunächst die zahlreichen Fälle freiwilliger Selbstkoordination der Länder im Bereich der Verwaltung wie die vielen durch die Landesregierungen abgestimmten Gesetzentwürfe, die die einzelnen Landesparlamente dann im Ergebnis nur noch (ähnlich wie die Staatsverträge) zu »ratifizieren« haben. Zu beachten bleibt auch, dass die geschilderten Kompetenzverluste der Länder durch entsprechende Ergänzungen und Änderungen des Grundgesetzes oder von Bundesgesetzen (bzw. den Erlass von Verwaltungsvorschriften des Bundes) eingetreten sind, denen die Landesregierungen gemäß Artikel 79 Abs. 2, 84 Abs. 1 und 2 sowie Artikel 87 Abs. 3 S. 2 GG im Bundesrat mit den erforderlichen Mehrheiten zugestimmt haben. Die sie kontrollierenden Landesparlamente wiederum, die insoweit ja – zumindest partiell
4 5 6 7
1994 auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, 1996, S. 48 ff.; Knorr, Die Justiziabilität der Erforderlichkeitsklausel i. S. d. Art. 72 II GG, 1998, S. 29 ff. und besonders Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG), 1999, S. 82 ff. Dazu Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 14 ff. Dazu konkret Janssen, Landtag im Leineschloss (Fn. 1), S. 24 f. i. V. m. S. 38 – 40; s. daneben die allgemeine Schilderung bei Oeter (Fn. 1), S. 272 ff., 456 ff., 507 ff. Dazu eindrücklich Oeter (Fn. 1), S. 429 ff. Dazu wiederum Oeter (Fn. 1), S. 159 ff., 166 ff., 441 ff. Dort auch (S. 446 ff.) der wichtige Hinweis auf das vom Bund für die Steuerverwaltung stark beanspruchte Institut der »allgemeinen Weisung«, das kaum als von Artikel 108 Abs. 3 GG i. V. m. Artikel 85 Abs. 3 GG mit umfasst angesehen werden kann.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
287
– korrigierend wirken könnten, haben das entsprechende Verhalten ihrer Regierungen deshalb so klaglos hingenommen, weil – wie jeder weiß – die parteipolitische Räson der jeweiligen Regierungsfraktion bzw. -koalition es scheinbar gebot, die von ihnen getragene Regierung nicht im Regen stehen zu lassen. Es ist also letztlich besonders das parlamentarische Regierungssystem in den Ländern, das diese Entwicklung maßgeblich befördert hat. Man kann es auch die parteipolitische Gleichschaltung zwischen Regierung und Parlament nennen und muss dann der Vollständigkeit halber nur noch hinzufügen, dass ebenfalls die Bundesparteien das Abstimmungsverhalten der Landesregierungen im Bundesrat nach wie vor entscheidend (mit-) bestimmen8. Ist das nun der Preis, den wir für die vom Grundgesetz gewollte Parteienstaatsdemokratie zu zahlen haben? Von der politischen Praxis wird das durchweg so gesehen, und viele Vertreter der Politik- und Staatsrechtswissenschaft argumentieren auch entsprechend. Sie übersehen damit aber geflissentlich, dass ein solches (faktisches) Entscheidungssystem nicht, wie gleich noch (2.) näher auszuführen ist, die Legitimität des Bundesstaates zu begründen vermag. Auch der bisweilen in diesem Zusammenhang gemachte Hinweis auf die ständige Erweiterung der Zustimmungsvorbehalte des Bundesrates kann hier nicht weiterhelfen. Denn diese Vorbehalte stellen ja keine wirkliche »Kompensation« für den eingetretenen Kompetenzverlust der Landesparlamente als wesentlichen Trägern der sachlichen Autonomie der Länder dar. Im übrigen hat sich ja – wie schon angedeutet – in der Vergangenheit wiederholt gezeigt, dass im Bundesrat die Vertretung der Länderinteressen durch die Landesregierungen bei politisch bedeutsamen Vorhaben häufig durch von den Bundesparteien bestimmte taktische Überlegungen überlagert wird.
2.
Die gefährdete Legitimität des deutschen Bundesstaates aufgrund dieser Entwicklung
Der geschilderte Verlust an sachlicher Autonomie der Länder ist deshalb von erheblicher Bedeutung, weil er die verfassungsrechtliche Legitimität des deutschen Bundesstaates infrage stellt. Denn diese beruht nun einmal letztlich auf der sachlichen Autonomie der Länder als Teilstaaten9. Das zeigen neben den 8 Zu diesem letzten Gesichtspunkt aus neuerer Zeit: Gramm, Gewaltenverschiebungen im Bundesstaat, AöR 124 (1999), 212 (214 f.) m. w. N. 9 Das hat mit besonderer Deutlichkeit wieder Volkmann herausgearbeitet: Bundesstaat in der Krise?, DÖV 1999, 613 (614 f., 620 ff.) m.,w. N.. Wenn nach Artikel 29 Abs. 1 S. 2 GG eine Neugliederung der Länder u. a. die »landsmannschaftliche Verbundenheit« und »die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge« zu »berücksichtigen« hat, so kann darin kaum die entscheidende Rechtfertigung für den deutschen Bundesstaat gesehen werden. Eine
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
konkreten Bestimmungen des Grundgesetzes über die Kompetenzen des Bundes und der Länder auch Regelungen wie der Artikel 28 Abs. 1 und Artikel 79 Abs. 3 GG10 sowie die vom Grundgesetz den Ländern im Rahmen des Artikel 28 Abs. 1, 31 und 142 GG u. a. eingeräumte Verfassungsautonomie11. Diese sachliche Autonomie der Länder ist bekanntlich auch nicht Selbstzweck, sondern findet nach überwiegender Ansicht ihre Rechtfertigung zunächst in der dadurch gegebenen Möglichkeit, ein sachnahes staatliches Handeln und Entscheiden sowie einen Wettbewerb zwischen den Ländern wie auch zwischen Bund und Ländern um die beste Lösung zu erreichen12. Der eigentliche verfassungsrechtliche Grund aber, in der sachlichen Autonomie von Bund und Ländern die Legitimität des deutschen Bundesstaates zu sehen, liegt noch in etwas anderem, und zwar in der im Begriff der Autonomie eingegangenen Verbindung von Demokratie und Freiheit. Diese Verbindung ist – wie richtig gesagt worden ist – »auf der Grundlage des modernen, auf die subjektive Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen bezogenen Freiheitsbegriffs« möglich. Freiheit wird dann verstanden als »Freiheit von Fremdbestimmung im Denken
solche weitgehende Folgerung lässt die Statuierung eines von mehreren verfassungsrechtlichen Maßstäben für eine mögliche Länderneugliederung nicht zu. Dass diese Regelung Bedeutung für den Inhalt der Gesetzgebungsbefugnisse, d. h. für die Konkretisierung der Länderstaatlichkeit besitzen kann, steht auf einem anderen Blatt. Im. Übrigen zeigt etwa die sogenannte »Traditionsklausel« in der niedersächsischen Verfassung, dass es Aufgabe der Länder ist, in ihnen vorhandene regionale Identitäten zu pflegen, s. dazu zuletzt Janssen, Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht, in: FS für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 707 (733 ff.). Insoweit darf es auch nicht zu gewaltsamen Teilungen regional geprägter Landschaften durch eine eventuelle Neugliederung des Bundesgebietes kommen, s. dazu auch hier Fn. 61. 10 Denn diese Bestimmungen — und namentlich Art. 79 Abs. 3 GG — setzen nach ganz h. M. . einen Bestand an eigenen Aufgaben und eine eigenständige Aufgabenerfüllung von substantiellem Gewicht voraus. 11 s. zur Verfassungsautonomie der Länder besonders die Monografien von Storr, Verfassungsgebung in den Ländern, 1995, S. 190 – 319; Stiens, Chancen und Grenzen der Landesverfassungen im deutschen Bundesstaat der Gegenwart, 1997, S. 27 —50 und Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat, 1997, S. 164 – 234. 12 Unabhängig von der Entscheidung für oder gegen einen sog. Wettbewerbsföderalismus als verfassungsrechtliches Leitbild des deutschen Bundesstaates ist das unbestritten eine wesentliche Rechtfertigung für die Forderung, die Kompetenzen zwischen dem Bund (sowie der Europäischen Union) einerseits und den Ländern andererseits nach dem Subsidiaritätsprinzip zu ordnen. Das hat jüngst am konsequentesten ein Diskussionspapier der deutschen Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten zur Reform. des Grundgesetzes versucht. Es ist unter dem Titel »Stärkung des Föderalismus« im Sonderheft 2000 der Zeitschrift für Gesetzgebung (dort S. 4 – 39) abgedruckt. In meinem Kommentar zu diesem Diskussionspapier (a. a. 0., S. 41 – 63) habe ich darauf nachdrücklich hingewiesen (s. daselbst S. 47 f., 50 f., 58, 61 f.). Genauer zum Wettbewerb in der Ländergesetzgebung: Oebbecke, Die unsichtbare Hand in der Ländergesetzgebung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1997, S. 461 (462 ff.). .
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
289
und Handeln« und eben für diesen Freiheitsbegriff »erscheint die Demokratie als die freiheitsgemäße Form politischer Herrschaft«13. Diese Verbindung von Demokratie und Freiheit ist es demnach, die letztlich die Forderung nach hinreichender sachlicher Autonomie der Bundesländer rechtfertigt. Sie rechtfertigt zugleich die Forderung, im Subsidiaritätsprinzip den entscheidenden Maßstab für die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern zu sehen. Es geht dem Bundesstaat des Grundgesetzes im Ergebnis also um möglichst weitgehende demokratische Teilhabe des Bürgers, und in diesem Sinne ist er freiheitlicher Bundesstaat. Richtig wird darum auch der Gedanke des Staatsaufbaus von unten nach oben in den Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip gestellt und besonders die allgemeine Kompetenzregel des Artikel 30 GG (neben Artikel 28 Abs. 2 GG) auch als Ausdruck dieses Gedankens verstanden14. Bejaht man diese verfassungsrechtliche Begründung für die Legitimität des deutschen Bundesstaates, so lässt sich seine augenscheinlich abhanden gekommene Legitimität nur zurückgewinnen, wenn man die für sie konstitutive 13 Alle Zitate bei Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: lsensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, § 22 Rn. 35 f. Ob man nun deshalb trotz mancher Probleme der systematischen Auslegung in der durch Artikel 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde die gemeinsame letzte verfassungsrechtliche Begründung für die grundrechtliche wie demokratische Freiheit sehen muss, braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die aufgezeigte Verbindung von Demokratie und Freiheit, die ja keinesfalls leugnet, dass es einen »Übergang von der individuell-autonomen Freiheit zur demokratischen Mitwirkungsfreiheit gibt«; das zeigen schon die demokratischen Grundrechte des Grundgesetzes (Wahlrecht und Recht des Zugangs zu öffentlichen Ämtern) wie die sog. Kommunikationsgrundrechte (Meinungsfreiheit mit Einschluss der Presse- und Informationsfreiheit), so wiederum Böckenförde, a. a. 0., Rn. 37 f. W. Henke (Demokratie als Rechtsbegriff, Der Staat 25 (1986), 157/165, vgl. auch S. 168) sagt zutreffend i. S. des Ausgeführten: Das »Materiale am Rechtsbegriff der Demokratie ist … die Personalität.« 14 Anders für Artikel 30 GG schon sehr früh F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz – Kommentar -, Bd. II, 2. Aufl. 1964, Artikel 30, Anm. III 3, der diese Vorschrift leidglich als eine »subsidiäre Zuständigkeits-Generalklausel« versteht. Dieses Verständnis dürfte sich wohl kaum mehr aufrechterhalten lassen, wenn — wie hier kurz angedeutet (s. Fn. 13) — die letzte verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die sachliche Autonomie der Länder in Art. 1 Abs. 1 GG zu sehen ist. Zum Verständnis des Art. 28 Abs. 2 GG als inhaltlicher Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips s. etwa Janssen, Zugriffsrecht (Fn. 4), S. 129 ff. Aus der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Europäischen Union auf den »Grundsatz der Subsidiarität« (Artikel 23 Abs. 1 S. 1 GG) folgert Th. Oppermann (Subsidiarität als Bestandteil des Grundgesetzes, JuS 1996, 569/571, 573) m. E. zu Recht eine (indirekte) Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips als allgemeinen Maßstab für die Verteilung der Kompetenzen im Bundesstaat durch das Grundgesetz. Oppermann (a. a. 0. S. 571) versteht auch ganz i. S. der hiesigen Darlegungen Artikel 30 GG als (indirekte) Garantie des Subsidiaritätsprinzips, das durch die Artikel 70, 72, 83 ff. und 92 GG konkretisiert wird. Eine ähnliche Folgerung zieht Kuttenkeuler (Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1999, 164, 169 f.) aus der Garantie des Subsidiaritätsgrundsatzes in Artikel 23 Abs. 1 S. I GG.
290
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
sachliche Autonomie der Länder als Teilstaaten in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Die Stärkung der Länderautonomie ist aus diesem Grund der einzige Weg, um die Krise des deutschen Bundesstaates zu überwinden. Welche verfassungsrechtlichen Lösungsmöglichkeiten sich dafür anbieten, soll im Folgenden näher dargestellt werden.
II.
Die Stärkung der Länderautonomie durch Änderung der Regelungen des Grundgesetzes über die Gesetzgebungskompetenzen
Die sachliche Autonomie der Länder und damit ihre Legitimität zeigt sich deshalb zu aller erst an dem Umfang ihrer Gesetzgebungsbefugnisse, weil allein das Gesetz neben der Verfassung kategorische Geltung besitzt. Das Grundgesetz weist – wie richtig gesagt worden ist – »die verbindliche Stiftung von Ordnungen durch kategorisch geltendes Recht den Gesetzgebern von Bund und Ländern zu«15. Es sind die Kompetenznormen des Grundgesetzes und nicht – wie fälschlicherweise so häufig behauptet – die (grundrechtlichen) Gesetzesvorbehalte, aus der die Gesetzgebung primär die Bestimmung ihrer Funktion und ihrer (inhaltlichen) Aufgaben schöpft16. Konkret lassen sich nun drei Ansatzpunkte ausmachen, die die Vermutung nahe legen, dass am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips im hier verstandenen Sinne gemessen die Regelungen des Grundgesetzes über die Gesetzgebungskompetenzen einer Korrektur bedürfen. Das gilt zunächst für die allgemeinen Grenzen der konkurrierenden und Rahmen-Gesetzgebung nach Artikel 72 Abs. 2 und 3 sowie 75 Abs. 2 GG, daneben für die konkreten Kompetenzkataloge der Artikel 73 – 75 GG und schließlich für die grundsätzliche Frage, ob nicht aufgrund der geschilderten Entwicklung in der Gesetzgebung der Länder ein besonderer Katalog für ihre wesentlichen Gesetzgebungskompetenzen in das Grundgesetz aufzunehmen ist:
15 So besonders klar Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, 1986, S. 37 (Hervorhebungen A.J.). 16 Dazu wiederum Barbey, a. a. O., s. 9 ff., s. auch erläuternd dazu S. 33: »Die Kompetenz zur rechtlichen Ordnung von Sachbereichen umschließt die Befugnis zur rechtlichen Gestaltung dieser Ordnung, soweit dem nicht verfassungsgesetzliche Zweckverwirklichungsverbote entgegenstehen.«
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
1.
291
Mögliche Änderungen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen für die konkurrierende und Rahmen-Gesetzgebung
Es besteht zunächst weitgehend Einigkeit darüber, dass die mit der Verfassungsreform 1994 in Kraft getretene Neuformulierung des Artikel 72 Abs. 2 GG, der ja die entscheidenden Voraussetzungen für die Wahrnehmung der zahlreichen, in Artikel 74 Abs. 1 GG aufgezählten Kompetenzen des Bundes zur konkurrierenden Gesetzgebung nennt, immer noch keine ihn wirklich begrenzenden, justitiablen Maßstäbe beinhaltet17. An der beschlossenen Formulierung wird vor allem kritisiert, dass sie nach wie vor einen erheblichen Interpretationsspielraum zugunsten des Bundes eröffnet. Dieser Spielraum ergibt sich – wie richtig gesehen wird – insbesondere aus dem Merkmal »Wahrung der Rechtseinheit«. Denn es besteht ja weiterhin eine Fehlgewichtung dieses Merkmals gegenüber den einschränkenden Merkmalen »im gesamtstaatlichen Interesse« und »erforderlich macht«, zumal das gleichsam tautologische Merkmal der »Rechtseinheit« Tendenzen fördern könnte, den Tatbestand weitgehend schon wegen des angestrebten Ergebnisses einer bundeseinheitlichen Regelung zu bejahen18. Da am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips gemessen zum Zeitpunkt der genannten Verfassungsreform auch schon weitaus präzisere Formulierungsvorschläge für Artikel 72 Abs. 2 GG vorlagen19, muss von dem damals nicht vorhandenen politischen Willen ausgegangen werden, entsprechende Grenzziehungen für den Bund anzuerkennen. Eben das ist aber vom hier gewählten verfassungsrechtlichen Ansatz aus nach wie vor zu fordern. Zugunsten der Gesetzgebungskompetenzen der Länder könnte sich auch ein mehrfach gemachter Reformvorschlag zu 72 Abs. 3 GG auswirken. Die gegenwärtige Fassung dieser Vorschrift stellt es ja in das Ermessen des Bundesgesetzgebers, ob er die Kompetenz für eine bundesgesetzliche Regelung, die im Sinne des Artikel 72 Abs. 2 GG nicht mehr erforderlich ist, auf den Landesge17 s. nur das Urteil von R. Scholz, Zehn Jahre Verfassungseinheit, DVBl. 2000, 1377 (1383). 18 So der Kommentar zum Diskussionspapier (Fn. 12), S. 45, wo die entsprechende Stellungnahme der Arbeitsgruppe, die das Diskussionspapier ausgearbeitet hat, wiedergegeben wird. 19 Siehe etwa den Vorschlag der Landtagspräsidentenkonferenz (abgedruckt u. a. in: Drs. 12/ 2797, S. 7 des Niedersächsischen Landtags), den sie am 24. September 1991 beschloss und danach (mit anderen Vorschlägen zur Reform des Grundgesetzes) der Verfassungskommission übermittelt hat. Er lautet: »Der Bund ist in diesem Bereich zur Gesetzgebung befugt, wenn die für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die Wirtschaftseinheit oder die geordnete Entwicklung des Bundesgebietes nur durch eine bundesgesetzliche Regelung zu erreichen ist. Bundesgesetze nach Satz 1 sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die dort genannten Ziele zu erreichen.« Diese Formulierung stimmt fast wörtlich mit dem Vorschlag im Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages vom 09. 12: 76 für einen neuen Artikel 72 Abs. 2 und Abs. 3 (= Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung 2/77, S. 48) überein.
292
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
setzgeber überträgt. Zu denken ist nun daran – und zwar ebenfalls für die entsprechende Übergangsregelung des Artikel 125 a Abs. 2 GG -, in diesen Fällen eine Verpflichtung des Bundes zur Freigabe zu begründen, zumindest aber eine dahingehende Sollvorschrift zu schaffen. Daneben kann man auch bei Wegfall der von Artikel 72 Abs. 2 GG vorausgesetzten »Erforderlichkeit« an ein Antragsrecht der Landtage auf Freigabe denken20. Was schließlich die inhaltlichen Anforderungen an Rahmenvorschriften nach Artikel 75 Abs. 2 GG betrifft, so lässt sich auch insoweit ein größerer Freiraum für die Ländergesetzgebung ohne bedenklichen Verlust an der in diesem Bereich erwünschten gesetzgeberischen Steuerungsmöglichkeit des Bundes erreichen, wenn die Befugnis des Bundes zur Rahmengesetzgebung dahingehend beschränkt wird, dass er keine unmittelbar gegenüber dem Bürger geltenden Vorschriften erlassen darf21. Das wäre ebenfalls eine sinnvolle Reform zur Stärkung der Länderautonomie im Bereich der Gesetzgebung.
2.
Systematische Gesichtspunkte für eine Änderung der Kompetenzkataloge der Artikel 73 – 75 GG
Neben den soeben kurz geschilderten möglichen Reformen für die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen von konkurrierender und Rahmen-Gesetzgebung des Bundes ergibt eine Durchsicht der Kataloge, die die einzelnen Kompetenzen des Bundes im Bereich der ausschließlichen (Artikel 73 GG), konkurrierenden (Artikel 74 Abs. 1 und 74 a Abs. 1 GG) und Rahmen-Gesetzgebung (Artikel 75 Abs. 1 GG) enthalten, vielfältige Möglichkeiten einer Änderung zu Gunsten der Gesetzgebungskompetenzen der Länder, wenn man das Subsidiaritätsprinzip wirklich ernst nimmt. Zum Beweis für diese Behauptung kann hier auf die 20 So bereits der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 28. 10. 1993 (= Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung 5/93), S. 66 f.; s. daneben den weiterführenden Vorschlag von Heinsen, in: Schlussbericht der Enquete-Kommission von 1976 (Fn. 19), S. 76 f. 21 Das war ebenfalls eine Forderung der Landtagspräsidentenkonferenz aus dem Jahre 1991 für die Verfassungskommission des Bundes, s. die Wiedergabe des entsprechenden Formulierungsvorschlags mit Begründung in: Drs. 12/2797, S. 18 des Niedersächsischen Landtags. Daneben sah man dort (a. a. 0., S. 20) in einem Formulierungsvorschlag für einen neuen Artikel 75 Abs. 3 GG vor, dass Rahmenvorschriften stets der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Zur Begründung für diesen Vorschlag wurde m. E. zutreffend ausgeführt: »Die Regelung der in Art. 75 aufgeführten Materien durch ein Rahmengesetz und dieses umsetzende Ländergesetze bedingt eine enge Verzahnung und Abstimmung beider Regelungen, so dass sich eine stärkere Einflussmöglichkeit der Länder auf die Rahmengesetzgebung empfiehlt. Im Übrigen kann über das Zustimmungserfordernis des Bundesrates erreicht werden, dass der Bund die in dem neuen Absatz 2 vorgeschlagenen Voraussetzungen für eine Rahmengesetzgebung auch tatsächlich einhält.«
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
293
inzwischen gedruckt vorliegenden Änderungsvorschläge zu Artikel 73 – 75 GG der Landtagspräsidenkonferenz vom Mai 2000 und die dort dafür gegebenen Begründungen verwiesen werden, zumal es in diesem Papier auch nicht an Hinweisen auf entsprechende Überlegungen anderer Kommissionen fehlt22. Ein Wort muss allerdings noch zu den aus dem Subsidiaritätsprinzip folgenden systematischen Gesichtspunkten gesagt werden, auf dem diese und ähnliche Änderungsvorschläge zu den genannten Vorschriften weitgehend aufbauen: Im Prinzip soll danach der Bund nur dann zur Gesetzgebung befugt sein, wenn es sich erstens um eindeutig gesamtstaatliche Aufgaben handelt, wie auf den Gebieten der Außenpolitik, Außenwirtschaft, Verteidigung und auch der Kriegsfolgelasten; wenn zweitens Probleme auf der Ebene eines Landes nicht gelöst werden können, wie die Abwehr länderübergreifender Gefahren; und wenn drittens unterschiedliche Ländergesetze den Rechtsverkehr, den Handel oder die Freizügigkeit beeinträchtigen oder den wirtschaftlichen Wettbewerb verzerren würden23. Die Realisierung dieser Maßstäbe könnte dann allerdings im Blick auf die europäische Rechtssetzung bedeuten, dass durch diese primär die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes in Frage gestellt würden. Denn gerade auf europäischer Ebene wird ja heute die (partielle) Rechtsvereinheitlichung vor allem für den Handel, wirtschaftlichen Wettbewerb und auch für die länderübergreifenden Gefahren angestrebt24. Unabhängig von dieser möglichen Entwicklung sollte nicht übersehen werden, dass mit solchen oder ähnlichen Versuchen einer inhaltlichen Systematisierung der in Artikel 73, 74 Abs. 1 und 75 Abs. 1 GG enthaltenen Kompetenzkataloge eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Aufgaben des Bundes einhergehen würde. Denn die Kompetenznormen des Grundgesetzes besitzen ja neben ihrer primären Funktion, die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu verteilen, die sekundäre »materielle« Funktion, konkrete Staatsaufgaben zu benennen. Dass eine solche Rückbesinnung auch nicht ohne Folgen für die inhaltliche Aufgabenbestimmung der Länder sein dürfte, wird unmittelbar einleuchten.
22 s. wiederum Diskussionspapier (Fn. 12), S. 9 – 20. 23 Einen entsprechenden Versuch zur Systematisierung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes hat schon vor 16 Jahren Wiechert (Gesetzgebungskompetenz für das Bau- und Bodenrecht, ZRP 1985, 235/241) vorgelegt. 24 Ähnlich schon Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 293 (304). Diese Folgerung wäre für die Gesetzgebungskornpetenzen des Bundes von weitaus geringerer Bedeutung, wenn man den primären Zweck der europäischen Rechtsordnung — entgegen der ganz h. M. — in der einheitlichen kollisionsrechtlichen Lösung der Konflikte, die durch das Zusammentreffen verschiedener nationalstaatlicher Rechtsordnungen entstehen, sehen würde, was in der augenblicklichen Übergangsphase der Europäischen Union m. E. zweckmäßig wäre (dazu hier VI 2 bei und in Fn. 76).
294 3.
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Zur Notwendigkeit eines besonderen Katalogs für die Gesetzgebungskompetenzen im Grundgesetz
Die soeben angesprochene Konkretisierung der Länderaufgaben würde daneben nun aber besonders dadurch erreicht, dass die typischen Gesetzgebungsgebiete der Länder in der Form eines besonderen Katalogs ausschließlicher Zuständigkeiten im Grundgesetz ausdrücklich genannt würden25. Es lässt sich insoweit an einen neuen Artikel 70 Abs. 3 GG denken, in dem das geschehen könnte, wobei zusätzlich – etwa in einem neuen Artikel 70 Abs. 4 GG – eine Bestimmung auch den Fall zu regeln hätte, unter welchen – erschwerten – Voraussetzungen der Bund für sich eine Zuständigkeit in diesen Fällen ausnahmsweise reklamieren kann26. Neben der weiteren inhaltlichen Konkretisierung der Länderzuständigkeiten im Bereich der Gesetzgebung und damit verbunden letztlich auch einer wesentlichen inhaltlichen Bestimmung dessen, was Länderstaatlichkeit heute überhaupt noch ausmacht, wären mit einem solchen besonderen Katalog für die Gesetzgebungskompetenzen der Länder noch folgende Vorteile für ihre sachliche Autonomie verbunden: Es ist zunächst ja eine alte Erfahrung im Streit um Kompetenzen, dass derjenige eine stärkere Position besitzt, der die von ihm beanspruchten ausdrücklich benennen kann27. Genau diese Position, die der Bund ja nach gel25 s. wiederum das Diskussionspapier (Fn. 12), S. 36 ff. 26 Ein entsprechender Formulierungsvorschlag liegt in dem Diskussionspapier der Landtagspräsidentenkonferenz (Fn. 12), S. 35 – 39 (= Anlage 3) vor. Danach haben die Länder, soweit sich aus den Artikeln 74 a, 75, 84, 85, 87 und 109 GG nichts anderes ergibt, insbesondere die ausschließliche Gesetzgebung- über: ihre eigene staatliche Organisation einschließlich des Rechts des öffentlichen Dienstes, des Haushaltsrechts und des Verwaltungsverfahrensrechts; das Kommunalrecht; das Schulwesen; das Hochschulwesen; die Medien einschließlich der Presse; das allgemeine Gefahrenabwehrrecht einschließlich des Versammlungsrechts; das Baurecht, das Bodenrecht und das Wohnungswesen; den Bergbau; das Straßenrecht (mit Ausnahme der Bundesstraßen) und den öffentlichen Personennahverkehr. Eine Kompetenz des Bundes auf diesen Gebieten tätig zu werden, wird in einem neuen Artikel 70 Abs. 4 unter folgenden Voraussetzungen. vorgesehen: »Vorschriften auf den in Absatz 3 bezeichneten Gebieten kann der Bund nur erlassen, wenn die Volksvertretungen der Mehrheit der Länder zustimmen. Die Volksvertretungen beschließen mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.« Mit diesen Vorschlägen würde auch einer der Hauptgründe für die Einmischung des Bundes in die Verwaltungskompetenzen der Länder (s. dazu bereits I.1) praktisch entfallen. Denn danach sollen ja die Länder grundsätzlich die Kompetenz zur eigenen staatlichen Organisation und zum Verwaltungsverfahren u. a. besitzen. Und der Bund könnte nach diesem Vorschlag von seinen Möglichkeiten nach Artikel 84 Abs. 1 GG nur unter den erschwerten Voraussetzungen des soeben zitierten neuen Artikel 70 Abs. 4 Gebrauch machen. Indirekt wird damit also auch die Gesetzesvollziehung als eigener und eigenständiger Handlungsbereich der Länder wesentlich befördert. 27 Selbst bei unbenannten Kompetenzen ist ihre Verteidigung dann um so wirksamer, wenn die betreffende Körperschaft in der Lage ist, diese rechtzeitig durch Konkretisierung ihrer
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
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tendem Recht schon besitzt, würde nun der vorgeschlagene Kompetenzkatalog ebenfalls den Ländern verschaffen. Der Rechtsanwender würde damit auch »auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Kompetenzfrage nicht allein anhand der Kompetenztitel des Bundes, sondern durch Abwägung mit den benannten Kompetenztiteln der Länder nach den geläufigen verfassungsgerichtlichen Grundsätzen der ›praktischen Konkordanz‹ zu beurteilen.« Im Bereich dieser Kompetenztitel würden zudem »die Anforderungen des Artikel 72 Abs. 2 GG - vor allem bezüglich der Frage, ob im gesamtstaatlichen Interesse eine einheitliche Regelung erforderlich ist – strenger auszulegen sein«28. Schließlich ließe sich durch einen solchen besonderen Katalog eine Konkretisierung des Artikel 79 Abs. 3 GG, der über Artikel 20 Abs. 1 GG auch »eine bleibende Garantie zugunsten des Föderalismus enthält«, erreichen29. Die Vorteile, die die Aufnahme eines solchen besonderen Katalogs für ihre Gesetzgebungskompetenzen und damit für den Zugewinn an sachlicher Autonomie der Länder bewirken würde, liegen damit auf der Hand. Auch die alte Streitfrage, ob bereits nach der geltenden Rechtslage von der »Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat« auszugehen ist30, wäre damit positiv entschieden. Diese ausdrückliche Entscheidung besäße auch insofern weitergehende Bedeutung, als sie die These zu stützen vermöchte, dass mit dem Grundgesetz die Kompetenzen des Bundes und der Länder konstituiert wurden. Darauf ist unter VI 1 zurückzukommen31.
28 29 30
31
Forderung geltend zu machen. Als einprägsames Beispiel für das Gesagte kann etwa die Verteidigung der (unbenannten) Planungshoheit der Gemeinden gegenüber Standortplanungen für (Kern-)Kraftwerke dienen; dazu schon sehr früh Wahl, Aktuelle Probleme im Verhältnis der Landesplanung zu den Gemeinden, DÖV 1981, 597 (605 f.). So richtig die Begründung für einen besonderen Kompetenzkatalog der Länder im Diskussionspapier (Fn. 12), S. 39. So zu Recht wiederum Diskussionspapier (Fn. 12), S. 39. Dazu M. Heintzen, Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat, DVBI. 1997, 689 ff. Dass diese These nicht ausschließt, Art. 30 GG (auch) im Sinne des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzvermutungsregelung zu verstehen, wurde gesagt (s. Fn. 14). Diese »zusätzliche« Bedeutung des Artikel 30 GG und der ihn konkretisierenden Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes beruht auf der letztlich in Artikel 1 Abs. 1 GG wurzelnden These vom Zusammenhang zwischen Demokratie und Freiheit im Sinne von Autonomie. s. dort besonders bei und in Fn. 64.
296
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
III.
Die Stärkung der Länderautonomie durch Änderung der Regelungen des Grundgesetzes über das Finanzwesen
1.
Mögliche Änderungen der Regelungen über die Bundes- und Landessteuern
Wie die Zunahme der den Ländern eingeräumten allgemeinen Gesetzgebungskompetenzen vermöchte natürlich auch ein Zugewinn an (bisher kaum vorhandenen) Länderkompetenzen in der Steuergesetzgebung ihre sachliche Autonomie zu stärken: Das ließe sich vor allem durch eine Neufassung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorschriften über die Einkommensteuer als der heute neben der Umsatzsteuer bedeutendsten Steuer erreichen. Und zwar in der Form, dass die neue verfassungsrechtliche Regelung es bewusst den Gesetzgebern von Bund und Ländern (und dem Satzungsgeber in den Gemeinden) überlassen würde, die Höhe der ihnen zukommenden Einkommensteuer in der Weise zu bestimmen, dass sie Hundertsätze der bundesgesetzlich geregelten Messbeträge festlegen32. Außer an das Hebesatzrecht der Länder und Gemeinden bei der Einkommensteuer kann man zur Stärkung der Länderkompetenzen in der Steuergesetzgebung besonders noch an ihre alleinige Zuständigkeit zur Regelung der Grundsteuer denken; zumal dann, wenn den Ländern – wie mehrfach vorgeschlagen – die »allgemeine« Gesetzeskompetenz für das Bau- und Bodenrecht ganz übertragen würde. Denn damit hängt die Besteuerung des Bodens sehr eng zusammen. Für eine solche Landes-(und Gemeinde-)Steuer würde auch sprechen, dass der Besteuerungsgegenstand der Grundsteuer ja »ortsfest« ist und folglich über die Ländergrenzen nicht hinausgreift33. 32 Zu einem entsprechenden Formulierungsvorschlag für einen neuen Artikel 106 s. S. 23 des Diskussionspapiers (Fn. 12): »(1) Der Bund, die Länder und die Gemeinden erheben eine Steuer auf das Einkommen. (2) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, werden Messbeträge entsprechend der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen bestimmt und die Steuererhebung geregelt. (3) Bund, Länder und Gemeinden bestimmen die Höhe der ihnen zukommenden Steuer, in dem sie Hundertsätze der Messbeträge festlegen. Der Bund und die Länder und im Rahmen der Landesgesetze die Gemeinden können vorsehen, dass die ihnen jeweils zukommende Steuer zu bestimmten Zwecken ermäßigt wird oder entfällt. Bund und Länder treffen die Bestimmungen nach Satz 1 und 2 durch Gesetz, die Gemeinden durch Satzung. (4)Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können die Hundertsätze für Bund, Länder und Gemeinden begrenzt werden.« Zur Erläuterung dieser Bestimmung s. a. a. 0., S. 29 f. und daselbst meinen Kommentar auf S. 52 f. 33 s.. zu diesem Vorschlag wiederum das Diskussionspapier (Fn. 12), S. 24, 31 mit einem entsprechenden Formulierungsvorschlag und der dazu gegebenen Begründung.
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Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch eine neue verfassungsrechtliche Bestimmung zur Diskussion gestellt worden, die es den Ländern ermöglicht, »eigene Steuern auf bestimmte Arten des Verbrauchs oder Aufwandes zu erheben, die entweder die Umwelt beeinträchtigen oder sonst der Allgemeinheit Lasten verursachen oder die als Formen des Luxuskonsums Anzeichen für eine besondere Leistungsfähigkeit sind«34. Dass sich eine solche Form der Besteuerung auch mit dem von der Verfassung vorausgesetzten Steuerbegriff vereinbaren ließe, hat man mehrfach festgestellt35.
2.
Die gebotene Streichung der Artikel 91 a und 91 b GG sowie die zu fordernde Neufassung des Artikel 104 a Abs. 2 – 3 GG
Neben der geschilderten möglichen Ausweitung der den Ländern zukommenden Regelungsautonomie im Steuerrecht kann ihre sachliche Autonomie im Finanzwesen auch dadurch entscheidend gestärkt werden, dass man ihnen zusätzliche Möglichkeiten eröffnet, finanzielle Handlungsspielräume (zurück) zugewinnen: Dafür ist zunächst die Streichung der Gemeinschaftsaufgaben (Artikel 91 a und 91 b GG) angeregt worden. Dadurch würde nun in der Tat eine im Sinne des Autonomiegedankens wünschenswerte Entflechtung der heute bestehenden Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern erreicht. Daneben gewönnen auf diese Weise die Landesparlamente einen bedeutenden finanziellen Handlungsspielraum zurück. Denn es handelt sich ja bei den Gemeinschaftsaufgaben um ein erhebliches Finanzvolumen36, dessen bisheriger Bundesanteil konsequenter Weise dann den Ländern vom Bund zur eigenen Verfügung – etwa durch eine entsprechende Erhöhung des Länderanteils an der Umsatzsteuer37 – bereitgestellt werden müsste. Zu vertreten wäre diese Streichung m. E. deshalb, weil »auf den Gebieten der Mischfinanzierung nach Artikel 91 a und 91 b … kein wirkliches Bedürfnis für eine zentrale Lenkung der Investitions- und Förderungstätigkeiten der Länder zu erkennen ist«38. Einen wesentlichen Beitrag zur Entflechtung der Finanzbeziehungen zwi34 So wiederum das Diskussionspapier (Fn. 12), S. 32, s. auch den entsprechenden Formulierungsvorschlag auf S. 24 (dort: Artikel 106 c Abs. 2). 35 s. zusammenfassend dazu: J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuches, 1993, S. 206 ff. und Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Aufl. 1998, S. 219 ff. i. V. m. S. 88 und 102. 36 s. dazu die Angaben für das Jahr 1998 auf S. 25 des Diskussionspapiers (Fn. 12). 37 So auch das Diskussionspapier (Fn. 12), S. 25. 38 So richtig das Diskussionspapier (Fn: 12), S. 25. Die Koordinierung, die die Artikel 91 a und 9Ib GG i. V. mit den zu Artikel 91a ergangenen gesetzlichen Bestimmungen dem Bund bisher — gleichsam im Nebeneffekt — bei Anträgen der Länder auf entsprechende Fördermittel der Europäischen Union ermöglichen, müsste durch eine andere, auf eben diese Aufgabe zugeschnittene gesetzliche Regelung sichergestellt werden.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
schen Bund und Ländern und – damit verbunden – zur Begründung einer eigenständigen Verantwortung für die Finanzierung von selbst veranlassten Ausgaben würde daneben eine Neufassung des Artikel 104 a Abs. 2 und 3 GG leisten. Sie hätte sicherzustellen, dass die zu einem wesentlichen Teil von den Ländern aufzubringenden Ausgaben, die ihnen aufgrund von Bundesgesetzen wie dem Wohngeldgesetz, dem Berufsausbildungsförderungsgesetz, dem Bundessozialhilfegesetz u. a. entstehen, der Bund grundsätzlich selbst zu tragen hat39. Bedenkt man das große Ausgabenvolumen, das diese Gesetze beinhalten40, so zeigt sich auch hier wie bei der vorgeschlagenen Streichung der Artikel 91 a und 91 b GG der bedeutende Zugewinn an finanzieller Handlungsfreiheit, der den Ländern auf diese Weise eröffnet wird41. Wesentlich befördert würden die Exekutivbefugnisse der Länder schließlich noch durch eine Streichung des Artikel 104 a Abs. 3 Satz 2 GG, nach dem eine vom Bund zu tragende Kostenquote von mindestens der Hälfte automatisch zur Auftragsverwaltung führt. Man kann m. E. diese Streichung deshalb befürworten, weil die genannten Leistungen ja durch Bundesgesetze durchnormiert sind und damit die Rechtsaufsicht des Bundes in Verbindung mit der ja stets gegebenen Prüfungsmöglichkeit der Rechnungshöfe einen ordnungsgemäßen Verwaltungsvollzug der Länder hinreichend sicherstellt42.
39 Der Formulierungsvorschlag des Diskussionspapiers (Fn. 12), S. 23 für einen neuen Artikel 104a Abs. 2, der den bisherigen Abs. 2 und Abs. 3 des Artikel 104a zusammenzieht, würde diesen Anforderungen gerecht. Er lautet: »Führen die Länder Bundesgesetze aus, die Zahlungen oder Sachleistungen oder die Herstellung oder Unterhaltung öffentlicher Einrichtungen vorsehen, so trägt der Bund die Ausgaben für diese Leistungen. Soweit die Leistungen im Ermessen der Länder stehen, können die Gesetze Abweichendes bestimmen.« s. auch die Begründung für diesen Formulierungsvorschlag a. a. 0., S. 25 f. 40 s. dazu für das Jahr 1996 die Angaben im Diskussionspapier (Fn. 12), S. 26. 41 Falls dem Bund nun aufgrund dieser Neufassung des Artikel 104 a Abs. 2 GG höhere Ausgaben als bisher entstehen, so muss natürlich sein Anteil am Steueraufkommen entsprechend erhöht werden, wobei dieser Ausgleich wiederum in erster Linie wohl bei der Umsatzsteuer vorzunehmen sein wird. Diese Überlegung zeigt einmal mehr, dass es den Reformvorschlägen zur Finanzverfassung nicht (primär) darum geht, den Ländern mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, sondern diese Vorschläge vor allem das Ziel verfolgen, den Ländern auch in diesem Bereich eigenständig zu verantwortende Handlungsspielräume zu eröffnen. Aus diesem gedanklichen Ansatz folgt im Grunde auch für die Frage eines gerechten Finanzausgleichs, auf die hier – da es sich um ein gesetzgeberisches (und kein verfassungsrechtliches) Problem handelt – nicht genauer einzugehen ist, dass nicht auf das tatsächliche Steueraufkommen des jeweiligen Landes beim Finanzausgleich abgestellt werden sollte, sondern auf das Aufkommen, das ein Land aufgrund seiner Wirtschaftskraft erzielen kann. Es sollte also das für den Grundsatz der Subsidiarität wesentliche Prinzip der (persönlichen) Verantwortung auch den Ausgleichsmechanismus der Finanzverfassung bestimmen. 42 So sieht es auch das Diskussionspapier (Fn. 12), S. 26; s. dazu auch meinen Kommentar, a.a.O, S. 57.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
IV.
299
Die Stärkung der Länderautonomie durch Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten
Aus der anfangs geäußerten These (I 1), dass der eingetretene Kompetenzverlust der Länder und namentlich der ihrer Parlamente wesentlich mit dem parlamentarischen Regierungssystem in den Ländern und dem Einfluss der Bundesparteien auf das Stimmverhalten der Länder im Bundesrat zusammenhängt, folgt, dass es für eine wirkliche Reform des deutschen Bundesstaates nicht ausreicht, gesetzgeberische und finanzielle Handlungsspielräume für die Landesparlamente (zurück-)zugewinnen. Denn die Gefahr, dass über kurz oder lang wiederum eine ausschließliche Inhaltsbestimmung des demokratischen Entscheidungsprozesses durch die politischen Parteien einsetzt, ist damit – weil es sich insoweit um ein strukturelles Problem des deutschen Bundesstaates handelt – nicht ausgeschlossen. Das angesprochene grundsätzliche Problem des deutschen Bundesstaates liegt genauer gesagt in der Nivellierung der (vom Grundgesetz gewollten) »strukturellen Gegenläufigkeit von Parteiensystem und Bundesstaat«43. Es kann demnach nur beseitigt bzw. minimiert werden, wenn der Einfluss des (unitarischen) Parteiensystems auf den Bundesstaat zurückgedrängt wird. Das wiederum lässt sich m. E. wirksam nur durch die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten erreichen. Folgende Überlegungen vermögen die Annahme zu stützen, dass sich auf diese Weise der erwünschte Erfolg einstellen könnte:
1.
Die Wiederherstellung einer wirklichen parlamentarischen Kontrolle der Landesregierung durch die Landtage
Zunächst würde die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten eine wirksame (echte) parlamentarische Kontrolle der Landesregierungen durch die Landesparlamente ermöglichen, die ja gerade wegen der weitgehenden Exekutivbefugnisse der Länder und der Mitgliedschaft der Landesregierungen im Bundesrat besondere Bedeutung besitzt. Denn im Sinne der eigentlichen Intention des verfassungsrechtlich garantierten Gewaltenteilungsprinzips stünde auf diese Weise häufiger als im bisherigen System, in dem ja weitgehend – zumindest in der Öffentlichkeit – diese Funktion nur noch der Opposition zu43 Diese These hat, vor allem Lehmbruch in seinem Buch: Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 2. Autl. 1998, näher entwickelt, s. dort besonders S. 136 ff., 170 ff. (Zitat: S. 180); sehr klar zu diesem Problem daneben Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie (1980), in: ders., Staat, Nation, Europa (1999), S. 183 ff., bes. S. 200 ff.; vgl. dazu schließlich auch von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, 2000, S. 105 ff. m. w. N.
300
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
kommt, das gesamte Parlament der Regierung als Kontrollorgan gegenüber44. Die Landesgesetzgebung wäre bei Realisierung dieses Vorschlags ebenfalls weniger als bisher durch den – auch durch das vorgängige Verhalten im Bundesrat geprägten – politischen Willen der Landesregierungen bestimmt, den gegenwärtig die sie tragenden Fraktionen bzw. Koalitionen durch Gesetze vielfach nur noch parlamentarisch umsetzen. Vielmehr träten dann die Landtage – namentlich wenn die hier unter II und III gemachten Vorschläge Realität würden – weitaus stärker als eigenständig entscheidende Gesetzgebungsorgane in Erscheinung. Rechtlich gesehen würde der Einführung einer Direktwahl des Ministerpräsidenten durch die jeweilige Landesverfassung nach ganz herrschender Meinung das sogenannte Homogenitätsprinzip des Artikel 28 Abs. 1 GG nicht entgegenstehen45 und m. E. auch nicht einer Regelung über die Abwahl des Ministerpräsidenten, die den entsprechenden Vorschriften in einigen Gemeindeordnungen nachgebildet wäre46. Auch lässt sich an eine Beschränkung ihrer Amtszeit auf zwei Wahlperioden denken. Im Übrigen beständen ja die heute in den Landesverfassungen mehr oder weniger ausführlich geregelten parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten der Landesregierung weiterhin fort, die eine völlige Abkoppelung der Politik des Ministerpräsidenten vom Willen des Parlaments verhindern würden. Umfangreiche Gesetzgebungskompetenzen und 44 So auch von Arnim (Fn. 43), S. 157 f. 45 s. dazu nur Herdegen, Strukturen und Institute des Verfassungsrechts der Länder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 97 Rn. 24. Für die Weimarer Reichsverfassung so schon Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Kommentar), 14. Aufl. 1933, S. 136 und Wenzel, Die reichsrechtlichen Grundlagen des Landesverfassungsrechts, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Erster Band, 1930, S. 616 u. a., obwohl Artikel 17 Abs. 1 Satz 2 WRV im Gegensatz zu Artikel 28 Abs. 1 GG noch zusätzlich bestimmte: »Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung«. 46 s. beispielsweise etwa § 61 a der NGO. Er lautet: »Die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister kann … von den Bürgerinnen und Bürgern der Gemeinde vor Ablauf der Amtszeit abgewählt werden. Zur Einleitung des Abwahlverfahrens bedarf es eines von mindestens drei Vierteln der Ratsmitglieder gestellten Antrags. Über ihn wird in einer besonderen Sitzung, die frühestens zwei Wochen nach Eingang des Antrags stattfindet, namentlich abgestimmt … Eine Aussprache findet nicht statt. Der Beschluss über den Antrag bedarf einer Mehrheit von drei Vierteln der Ratsmitglieder. Die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister scheidet mit Ablauf des Tages, an dem der Wahlausschuss die Abwahl feststellt, aus dem Amt aus.« Wenn man statt dessen die Lösung dieses Konflikts dem Parlament allein überlassen will, so könnte man auch an die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums gegen den regierenden Ministerpräsidenten denken, das allerdings eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landesparlaments voraussetzen sollte — jener Mehrheit also, die grundsätzlich auch für Verfassungsänderungen in den Landesverfassungen gilt. Denn auf diese Weise würde deutlich, dass eine Abweichung von dem eigentlichen, von der Verfassung gewollten Zustand vorliegt, die im Übrigen natürlich nur bis zum Ende der laufenden Wahlperiode dauern dürfte.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
301
das Vorhandensein echter finanzieller Handlungsspielräume der Landtage, wie sie hier unter II und III vorgeschlagen wurden, würden ebenfalls den parlamentarischen Einfluss auf das Handeln der Exekutive zusätzlich sicherstellen47.
2.
Die Zurückdrängung der Einflussnahme der (Bundes-)Parteien auf das Abstimmungsverhalten der Länder im Bundesrat
Die anfangs erwähnte »strukturelle Gegenläufigkeit von Parteiensystem und Bundesstaat« zeigt sich nun besonders deutlich im politischen Handeln und Entscheiden der Landesregierungen im Bundesrat. Die politischen Parteien in Deutschland sind und verstehen sich nun einmal – mit Ausnahme der CSU – primär als Bundesparteien und benutzen deshalb den Bundesrat entsprechend diesem Selbstverständnis über »ihre« Landesregierungen häufig zur Durchsetzung der eigenen bundespolitischen Ambitionen. Bisweilen ist es bekanntlich sogar der kleinere Koalitionspartner auf Länderebene, der unter Berufung auf entsprechende Koalitionsabsprachen das Stimmverhalten des betreffenden Landes im Bundesrat aus eben diesen parteipolitischen Gründen beeinflusst. Dieses Phänomen zeigt besonders deutlich die »faktische« Grenze auf, an die alle bisherigen Reformvorschläge zum Bundesstaatsrecht notwendig stoßen. Als einzig wirksame (landes-)verfassungsrechtliche Maßnahme, die diese Entwicklung aufhalten könnte, kommt m. E. wiederum nur die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten in Betracht. Denn ein direkt gewählter Ministerpräsident wird auch sein Verhalten im Bundesrat wohl primär an den Interessen des Landesvolkes als dem unmittelbaren Stifter seiner Legitimation ausrichten und nur sekundär an den Interessen der Bundesparteien. Er wird daneben auch aufgrund seiner von den Parteien in den Landtagen unabhängigeren Stellung in weit größerem Umfang als nach geltendem Recht zur Aushandlung und dem Eingehen von Kompromissen in der Lage sein – Elementen der Entscheidungsfindung also, die eine wesentliche, von der Verfassung gewollte Eigenart des Bundesratsverfahrens ausmachen (s. besonders auch das Verfahren des Vermittlungsausschusses)48. 47 Ein in unserem Zusammenhang weniger interessierender Vorteil einer Direktwahl des Ministerpräsidenten sei wegen seiner grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung nicht unerwähnt: Ein direkt gewählter Ministerpräsident wäre wegen dieser eigenen demokratischen Legitimation weniger dem Druck der ihn parlamentarisch unterstützenden Fraktion (bzw. Koalition) in seiner Personalauswahl und -führung ausgesetzt und hätte diese auch eigenständig zu verantworten. Wer um das Ausmaß der in Deutschland bestehenden parteipolitischen Ämterpatronage – namentlich in den Spitzenpositionen der Bürokratie – weiß, wird diesen Vorteil nicht als gering erachten. 48 Die Legitimation der Ministerpräsidenten für ihr Handeln im Bundesrat wäre damit übrigens strukturell die gleiche, wie sie die Vertreter der verbündeten Regierungen nach der
302 3.
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Die Gewährleistung einer hinreichenden demokratischen Legitimation des Bundesrates für seine Stellungnahmen nach Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG
Die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten würde nun auch ein von der bisherigen Literatur übersehenes Problem zumindest partiell lösen, das in der Frage nach der hinreichenden demokratischen Legitimation des Bundesrates für seine Beteiligung in Angelegenheiten der Europäischen Union nach Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG begründet liegt: Das dort vorgesehene Beteiligungsverfahren stellt ja ein Aliud gegenüber der Entscheidungsfindung des Bundesrates in Angelegenheiten des Bundes dar. Und zwar deshalb, weil die in Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG vorgesehene »Beteiligung« des Bundesrates im Ergebnis nicht in der wirklichen Teilhabe an der Entscheidung selbst besteht wie in den meisten sonst vom Grundgesetz vorgesehenen Fällen, über die der Bundesrat gemeinsam mit dem Bundestag oder der Bundesregierung beschließt49. Vielmehr können die in Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG vorgesehenen Mitwirkungsrechte letztlich nur als eine besonders intensive Form der Kontrolle verstanden werden, die dem Bundesrat damit am Verhalten der Bundesregierung als »Sachwalterin der Länderinteressen« in europäischen Angelegenheiten eingeräumt wird50. Der Bundesrat übt demnach durch die in Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG vorgesehenen Kontrollformen eine ähnliche Funktion aus wie der Bundestag gegenüber der Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union: Beide kontrollieren insoweit die Bundesregierung, und zwar jeder einen bestimmten, allein ihn betreffenden Tätigkeitsbereich der Bundesregierung in einer vom Grundgesetz für jeden besonders vorgesehenen Form. Das zeigt etwa auch die für das Gesamtverständnis des Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG entscheidende RegeReichsverfassung von 1871 besaßen. Denn diese waren ja auch »unmittelbar«, wenn auch nicht – wie heute verfassungsrechtlich nur möglich – unmittelbar demokratisch legitimiert. 49 Übersichtlich zu den einzelnen Mitwirkungsrechten des Bundesrates in Angelegenheiten des Bundes: Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, 1991, S. 186 ff. Dass man die lediglich mittelbare demokratische Legitimation des Bundesrates auch bereits im Blick auf die zustimmungsbedürftigen Gesetze in Frage stellen könnte, zeigt das Sondervotum von Schäfer, in: Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages vom 09. 12. 1976 (= Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung 3/76, S. 226 ff.). 50 So bekanntlich BVerfGE 92, 203 (236, genauer dazu 230 ff.) zur EG-Fernsehrichtlinie. Zu diesem Urteil weiterführend I. Winkelmann, Die Bundesregierung als Sachwalter von Länderrechten, DÖV 1996, 1 ff. Was den Inhalt des hier verwandten Kontrollbegriffs angeht, so umfasst er alle Beteiligungsformen des Bundesrates, soweit sie keine konstitutiven Zustimmungen zu verbindlichen Rechtsvorschriften (einschließlich Verfassungsänderungen) betreffen. Zu einem ähnlich weiten Begriff der parlamentarischen Kontrolle als einschlägiger Parallele: W. Krebs, Kontrolle an staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 134 ff.; Janssen, Zugriffsrecht (Fn. 4), S. 156 ff.; Masing, Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte, 1998, S. 102 ff., 105 ff.
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303
lung des Absatzes 4 der genannten Vorschrift, nach der der Bundesrat an der Willensbildung des Bundes in Angelegenheiten der Europäischen Union zu beteiligen ist, »soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären«51. Bundestag und Bundesrat gewähren also erst zusammen eine vollständige (demokratische) Kontrolle der Bundesregierung, wenn sie in Angelegenheiten der Europäischen Union tätig wird, und die demokratische Legitimation für die Kontrolle des Bundesrates kann dieser darum auch nur aus sich selbst heraus stiften52. Dieser Sicht der Dinge entspricht das schon in der Weimarer Staatsrechtslehre vertretene Postulat einer grundsätzlichen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber Reichstag und Reichsrat in bestimmten, nach der Weimarer Reichsverfassung auch in die Zuständigkeit des Reichsrats fallenden Entscheidungen. Diese auch gegenüber dem Reichsrat bestehende Verantwortlichkeit des Reichskanzlers wurde damals von Bilfinger zutreffend eine »politische« bzw. »quasi-parlamentarische« genannt53. In den Fällen des Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG übt der Bundesrat heute so gesehen dann ebenfalls eine »quasi-parlamentarische« Kontrolle der Bundesregierung aus. Es besteht inzwischen auch weitgehend Einigkeit darüber, dass die demokratische Legitimation der Europäischen Union eine doppelte Legitimationsbasis besitzt. Die hier allein interessierende nationale, vom deutschen Staatsvolk vermittelte Legitimation – das ist heute wohl ebenfalls herrschende Meinung – wurzelt in Artikel 20 Abs. 2 GG, der insoweit »ein einheitliches Legitimationsmodell, das für die Ausübung deutscher Staatsgewalt und europäischer Hoheitsgewalt gleichermaßen gilt«, beinhaltet54. Aufgrund dieser Prämissen ist dann aber zu fragen, ob eine nur mittelbar 51 Zum grundsätzlichen Charakter dieser Vorschrift für die Interpretation des Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG überzeugend: Halfmann, Entwicklungen des deutschen Staatsorganisationsrechts im Kraftfeld der europäischen Integration, 2000, bes. S. 99 ff., 355, 367 ff. Von diesem Ansatz aus ist auch seine restriktive »verfassungskonforme« Interpretation des Artikel 23 Abs. 5 S. 2 und Abs. 6 GG (a. a. 0., S. 367) möglich. 52 Das ist der richtige Gedanke aller Bemühungen, die demokratische Legitimation des Bundesrates — und besonders auch die für sein Tätigwerden nach Artikel 23 Abs. 6 GG – über den Bundesrat letztlich »auf die Landesparlamente und damit auf das Landesvolk« zurückzuführen, so etwa Müller-Terpitz, Die Beteiligung des Bundesrates am Willensbildungsprozess der Europäischen Union, 1999, S. 310 f., genauer zur Begründung dieser These: S. 309 ff. m. w. N. Allerdings reicht m. E. in diesen Fällen eine solche mittelbare demokratische Legitimation nicht aus — vgl. weiter den Text. 53 So Bilfinger, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Mitbericht), in: VVDStRL Bd. 1 (1924), S. 35 (54). 54 So m. E. richtig Brosius-Gersdorf; Die doppelte Legitimationsbasis der Europäischen Union, EuR 1999, 133 (169) – Hervorhebung A. J. Zur doppelten demokratischen Legitimation der Europäischen Union s. hier noch VI 1 mit Fn. 70 und 71.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
demokratisch legitimierte Kontrolle, wie sie nach gegenwärtigem Recht durch den Bundesrat allein möglich ist, der »quasi-parlamentarischen« Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union nach Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG gerecht wird. Genau das ist m. E. deshalb zu verneinen, weil parlamentarisch-demokratische Kontrolle ein echtes demokratisches Äquivalent im Vergleich zu verbindlichen Gesetzes- und anderen Beschlüssen des Parlaments in den Fällen darstellt, in denen es wegen der »Natur« des Regelungsgegenstandes in anderer Weise gar nicht tätig werden kann55. Das muss nun entsprechend für die Kontrolle der Bundesregierung durch den Bundesrat in den Fällen des Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG gelten. Denn im Gegensatz zum Informationsrecht und der Beteiligung des Bundesrates in auswärtigen Angelegenheiten56 sieht Artikel 23 Abs. 4 – 6 GG weitaus intensivere und genau beschriebene Beteiligungsformen des Bundesrates vor, und die Rechtsstellung der Länder wie ihrer Bürger wird durch Maßnahmen der Europäischen Union auch weitaus konkreter betroffen als in Fragen der (allgemeinen) Außenpolitik. Im Falle des Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG muss man m. E. aus diesen Gründen von einer wirklichen demokratischen Kontrolle sprechen, die folglich – als demokratische Äquivalent verstanden – wie die »echte« parlamentarisch-demokratische Kontrolle der unmittelbaren demokratischen Legitimation bedarf. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an seine Kontrolle kann der Bundesrat m. E. dann aber nur (oder zumindest: besser) gerecht werden, wenn die Vertreter der Landesregierungen im Bundesrat eine direkte demokratische Legitimation besitzen. Das ist die weitere Rechtfertigung für die hier vorgeschlagene Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Landesverfassungen. Die direkt gewählten Ministerpräsidenten wären daneben auch in Ausübung dieser Funktion weniger als nach geltendem Recht dem Druck der (Bundes-)Parteien ausgesetzt (und damit auch eher zu sinnvollen Kompromissen fähig); sie könnten sich aber umgekehrt insoweit wiederum nicht völlig von dem Willen ihrer Landesparlamente abkoppeln. Das ergibt sich aus den in diesen Fällen ebenfalls fortbestehenden Kontrollmöglichkeiten der jeweiligen Landesparlamente. Es zeigt sich im Ergebnis damit, dass die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten durch die Landesverfassungen eine systemkonforme, sinnvolle Ergänzung der hier unter II und III vorgeschlagenen Reformen des Grundgesetzes darstellt.
55 Diese These habe ich an anderer Stelle näher begründet, s. Janssen, Zugriffsrecht (Fn. 4), S. 157 ff., bes. S. 172 ff. 56 Dazu Reuter (Fn. 49), S. 172 ff.
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V.
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Die Stärkung der Länderautonomie durch Neugliederung des Bundesgebiets
Nach Artikel 29 Abs. 1 S. 1 GG »kann« das Bundesgebiet »neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können«. In der hier vertretenen Terminologie gesprochen bedeutet das: Eine wirkliche sachliche Autonomie der Länder besteht nicht allein in dem Innehaben von wesentlichen Kompetenzen, sondern auch darin, dass die Länder diese »wirksam« wahrnehmen, wozu nach dem bisher Gesagten dann sicherlich ebenfalls gehört, dass sie ihre Aufgaben eigenständig – in eigener Verantwortung – erfüllen57. Sieht man nun auf ein Bundesland wie das Saarland oder die Stadtstaaten Bremen und Hamburg u. a., so bestehen schon nach der gegenwärtigen Rechtslage berechtigte Zweifel, ob diese heute ihre Aufgaben entsprechend diesem verfassungsrechtlichen Maßstab zu erfüllen vermögen. Diese Bedenken beständen nun erst recht, wenn die hier unter II – IV gemachten Vorschläge für eine Reform des deutschen Bundesstaatsrechts Wirklichkeit würden. Denn der damit verbundene Aufgabenzuwachs für die Länder würde ganz offensichtlich gesteigerte Anforderungen besonders an ihre Verwaltungsorganisation und ihre Bediensteten stellen. Daneben sind in diesem Zusammenhang auch die Einflüsse der Europäischen Union auf die Staatstätigkeit der Länder zu beachten, weil sie ebenfalls verstärkt Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Exekutiven einiger Bundesländer im Sinne des Artikel 29 Abs. 1 S. 1 GG aufkommen lassen. Das gilt zunächst im Blick auf das Problem einer hinreichend wirksamen Interessenvertretung der kleinen Bundesländer und Stadtstaaten gegenüber der Europäischen Union durch den Bundesrat nach Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG, ihre direkte -faktische – Interessenvertretung in Brüssel und ihre Einflussnahme im Ausschuss der Regionen (Artikel 263 – 65 EG-Vertrag)58. Das gilt darüber hinaus aber auch für die Frage, ob alle deutschen Bundesländer wirklich in der Lage sind, das sie betreffende Recht der Europäischen Union durch entsprechende Rechtsvorschriften und im
57 Dieser Gesichtspunkt wird auch seit Frido Wageners großer Untersuchung: Neubau der Verwaltung, 1969 (dort zur Länderneugliederung besonders S. 527 ff.), immer wieder als Ziel einer Länderreform genannt; vgl. auch ders., Aufgaben der Länder im nächsten Jahrzehnt, in: Länderreform und Landschaften. Ein Cappenberger Gespräch, 1970, S. 32 (35 ff.) und zusammenfassend zu entsprechenden neueren Stellungnahmen: S. Greulich, Länderneugliederung und Grundgesetz, 1995, S. 173 ff. sowie Klatt, Länder-Neugliederung: Eine staatspolitische Notwendigkeit, ZBR 1997, 137 (148). Für die Kritik s. zuletzt Vondenhoff, Grundgesetzliche Begründung und Voraussetzung eines gleichgewichtigen Föderalismus, DÖV 2000, 949 (953 ff.). 58 Dazu nachdrücklich Greulich (Fn. 57), S. 197 ff. und Klatt (Fn. 57), S. 149.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Verwaltungsvollzug eigenständig umzusetzen, d. h. ob sie alle eine ausreichende »Transformationskompetenz« besitzen59. Von einer wirksamen Aufgabenerfüllung i. S. des Artikel 29 Abs. 1 S. 1 GG kann noch aus einem anderen Grund nicht für alle jetzigen Bundesländer gesprochen werden: Erwiesenermaßen sind bei Zugrundelegung der Einwohnerzahl die Kosten für die Erledigung der den Ländern obliegenden Aufgaben – und namentlich die ihres öffentlichen Dienstes und der Organisation ihrer Exekutiven – bei den kleinen Bundesländern (und Stadtstaaten) wesentlich höher als bei den großen. Da nun aber eine »wirksame« Aufgabenerfüllung mit Sicherheit voraussetzt, dass dem für alle staatliche Tätigkeit geltenden Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 6 Abs. 1 HGrG) Genüge getan wird, legt auch dieser (unter finanziellen Gesichtspunkten gesehen) bedeutsame Unterschied in der Aufgabenerfüllung der Länder eine Neugliederung des Bundesgebiets nahe60. Im Ergebnis scheinen mir darum gute verfassungsrechtliche Gründe für die Notwendigkeit zu sprechen, zur Sicherstellung der sachlichen Autonomie der Länder auch eine Neugliederung des Bundesgebietes ins Auge zu fassen61.
59 Diesen Gesichtspunkt hat vor allem Scharpf betont: (Fn. 24), S. 293 (304). 60 Dieses Argument für eine Neugliederung des Bundesgebiets kann zusätzlich die Überlegung stützen, dass die genannten Mehrkosten zumindest für die- Stadtstaaten zu einem wesentlichen Teil im Finanzausgleich berücksichtigt werden müssen (Stichwort: Einwohnerveredelung). Da die in Frage stehenden Stadtstaaten (und kleineren Bundesländer) allesamt ausgleichsberechtigte Länder im Sinne des Artikel 107 Abs. 2 GG sind, kommen letztlich die ausgleichspflichtigen Länder und ggf. der Bund für diese Mehrkosten bei der Aufgabenerfüllung auf. Ob insoweit eine Wahrnehmung der sachlichen Autonomie auf Kosten der anderen Bundesländer noch wirklich aus bundesstaatlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt werden kann, muss m. E. bezweifelt werden. Zum hier nicht interessierenden allgemeinen Zusammenhang zwischen dem Problem eines gerechten Finanzausgleichs und der Frage einer sinnvollen Neugliederung des Bundesgebietes: Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, S. 196 ff. Dass im Übrigen die augenblickliche finanzielle Schwäche einiger Bundesländer und der Stadtstaaten durchaus im Interesse des Bundes liegen kann, weil er dann ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat durch (auf legalem oder fragwürdigem Weg gemachte) Geldgeschenke in seinem Sinne zu bestimmen vermag, haben jüngst wieder die Geschehnisse gezeigt, die die Zustimmung des Bundesrates zur Unternehmenssteuerreform am 14. 07. 2000 begleitet haben, s. dazu nur von Münch, Föderalismus — Beweglichkeit oder Beton?, NJW 2000, 2644 (2645). 61 Zu der Frage, wie eine Neugliederung des Bundesgebiets konkret durchzuführen ist, liegen einige diskussionswürdige Vorschläge von Sachverständigen auf dem Tisch, s. dazu die ausführliche Schilderung von Greulich (Fn. 57), S. 43 ff. (bes. S. 84ff, 100 ff., 136 ff.). Man ist sich auch weitgehend einig darüber, dass eine solche Neugliederung möglichst bestehende Länder zusammenlegen, in jedem Falle keine regional geprägten Landschaften zerschneiden sollte (s. dazu noch einmal Greulich , a. a. 0. S. 186) und daneben besonders nachdrücklich Naunin in seiner Diskussionszusammenfassung, in: Länderreform und Landschaften. Ein Cappenberger Gespräch, 1970, S. 100 f.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
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VI.
Die Stärkung der Länderautonomie durch strikte Unterscheidung zwischen delegierten Hoheitsrechten der Europäischen Union und originären des deutschen Bundesstaates
1.
Das Verständnis des Artikel 23 Abs. 1 S. 2 GG als Delegationsnorm
Die zunehmende Europäisierung des deutschen Bundes- und Landesrechts – so wurde anfangs betont (I 1) – ist ebenfalls ein wesentlicher Grund für die Einbuße an sachlicher Autonomie der Länder. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich dagegen ein zusätzlicher Schutz aufgrund des hier vorgeschlagenen besonderen Katalogs für die zentralen Gesetzgebungskompetenzen der Länder. Denn dieser besäße neben seinem Modellcharakter für die Novellierung des europäischen Primärrechts erhebliche Bedeutung für »die Bemühungen des Bundes, auf europäischer Ebene die herkömmlichen Zuständigkeiten der Länder gegenüber dem Zugriff der europäischen Rechtssetzung zu behaupten«62. Das gilt um so mehr, als ein solcher Katalog auch als eine Konkretisierung des Artikel 79 Abs. 3 GG, der ja kraft Artikel 23 Abs. 1 S. 3 GG ebenfalls eine absolute Grenze für die Änderung der Kompetenzordnung des deutschen Bundesstaates durch die europäische Rechtssetzung beinhaltet, zu verstehen ist. Daneben ist zu beachten, dass die Beteiligung des Bundesrates an Entscheidungen der Europäischen Union gemäß Artikel 23 Abs. 2 und 4 – 6 GG wahrscheinlich an Effizienz gewönne, wenn sie – wie hier vorgeschlagen (s. IV 3) – von direkt gewählten Ministerpräsidenten wahrgenommen würde63. 62 So Diskussionspapier (Fn. 12), S. 39. Dass die genauere Bestimmung der der Europäischen Union selbst zustehenden Kompetenzen im europäischen Primärrecht auch einen zentralen Bestandsschutz für die Kompetenzen von Bund und Ländern bedeutet, betont K. Heckel, Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, 1998, S. 161 ff., 220 f. m. w. N. 63 Mit diesem Vorschlag verträgt sich durchaus die bisweilen erhobene Forderung (s. etwa den Formulierungsvorschlag der Landtagspräsidentenkonferenz aus dem Jahre 1991, abgedruckt in: Drs.-Nr. 12/2797 des Niedersächsischen Landtags, S. 5), die Mitglieder des Bundesrates bei der Entscheidung über die Frage der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (bzw. von Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf den Bund) an hierzu gefasste Beschlüsse der Landesparlamente zu binden. Denn insoweit handelt es sich größtenteils ja lediglich um die Fälle des Artikel 23 Abs. 5 S. 2 und Abs. 6 S. 1 GG, in denen — weil die Verfassungsordnung der Länder durch sie modifiziert wird — durchaus eine Beteiligung der Landesparlamente von der demokratischen Legitimation her gesehen sinnvoll ist. Über die insoweit seit 1973 im einzelnen diskutierten Reformvorschläge berichtet zuverlässig Schmalenbach, Föderalismus und Unitarismus in der Bundesrepublik Deutschland (Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen, Bd. 10) 1998, S. 58 ff. Eine »elastischere« Lösung stellt im Anschluss an frühere Beschlüsse der Landtagspräsidentenkonferenz M. Schweitzer zur Diskussion (BayVB1. 1992, 609/617): Die Landesregierungen sollen danach
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Doch ist damit nicht die entscheidende verfassungsrechtliche Grenze benannt, an die nach dem Grundgesetz jede zu weitgehende Europäisierung der sachlichen Autonomie von Bund und Ländern stößt. Sie besteht in der strikten Unterscheidung zwischen delegierten Hoheitsrechten der Europäischen Union und originären des deutschen Bundesstaates: Welche Bundesstaatstheorie auch immer man vertreten mag, so lässt sich doch nicht bezweifeln, dass die für Bund und Länder bestehenden Hoheitsrechte unmittelbar durch das Grundgesetz selbst begründet sind – sie sind durch eben diese Verfassung konstituiert64. Beim Primärrecht der Europäischen Union handelt es sich dagegen letztlich um eine »Verfassungsgebung« auf bündischer Grundlage durch Vertragsschluss der Mitgliedstaaten. Richtig wird darum auch das Leitbild für eine Fortentwicklung des europäischen Primärrechts heute in einem Verfassungsvertrag gesehen65. Wenn nun weiter Artikel 23 Abs. 1 S. 2 GG (wie Artikel 24 Abs. 1 GG) davon spricht, dass der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates auf die Europäische Union »Hoheitsrechte übertragen« kann, so ist der Begriff »übertragen« zwar missverständlich, aber sicherlich nicht mit der ganz herrschenden Lehre und Rechtsprechung lediglich »als Öffnung der deutschen Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle, das das deutsche Recht insoweit verdrängt«, zu deuten66. Denn dabei wird übersehen, dass diese Vorschrift als eine Delegationsnorm verstanden werden kann und eben allein dieses Verständnis der inhaltlichen Bedeutung des Ausdrucks »übertragen« gerecht wird67.
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»verpflichtet sein, die Landtage über alle Vorhaben im Rahmen der europäischen Gemeinschaften, die für das Land von Interesse sein könnten, zu unterrichten. Diese könnten insbesondere bei EG-Vorhaben, die ganz oder in einzelnen Bestimmungen in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Landes fallen oder dessen wesentliche Interessen berühren, rechtzeitig dazu Stellung nehmen. Die Landesregierungen sollen dann insoweit an diese Stellungnahme gebunden sein, als sie ein Abweichen davon den Landtagen gegenüber rechtfertigen müssen.« Schweitzer erörtert a. a. 0. auch die Frage zur Notwendigkeit einer entsprechenden »Öffnungsklausel« im Grundgesetz mit negativem Ergebnis Plastisch schon sehr früh im Anschluss an die entsprechende Interpretation des Artikel 31 GG durch Friedrich Klein dazu: Barbey, Bundesrecht bricht Landesrecht, DÖV 1960, 566 (570 ff.). So etwa der Richter am EUGH G. Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, NJW 2000, 46 (47). Ganz entsprechend auch das. Verfassungsverständnis von Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1998, S. 61 ff., 77 ff., bes. S. 85 ff., 92 ff. und Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, EuR 2000, 311 ff. (Zusammenfassung: S. 347 ff.). So die Wiedergabe der ganz herrschenden Lehre durch Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 1999, Artikel 24, Rn. 18, ganz entsprechend Artikel 23, Rn. 58 f. mit den einschlägigen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ausführlich dazu bereits im gleichen Sinne H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 48 ff. (= § 2 1—IV). Dazu genauer besonders Barbey, Rechtsübertragung und Delegation (Diss. jur. Münster 1962), S. 48 ff.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
309
Es ist das genannte Verständnis des Artikel 23 Abs. 1 S. 2 GG als Delegationsnorm, das auch die Richtigkeit der Unterscheidung zwischen abgeleiteter Hoheitsgewalt der Europäischen Union und originärer von Bund und Ländern genauer zu begründen vermag: Mit der Delegation wird – so heißt es in klassischer Kürze bei H. J. Wolff – »die Zuständigkeit des Deleganten zur außerordentlichen Regelung der Zuständigkeitsordnung« begründet68. Ganz entsprechend diesem Verständnis der Delegation hat nun Friedrich Klein bereits in einem Gutachten aus dem Jahre 1952 Artikel 24 Abs. 1 GG dahingehend gedeutet, dass diese Vorschrift »allein das Verhältnis der Staaten und Völker zueinander ändern, nicht aber die öffentliche Gewalt gegenüber den beteiligten Völkern und den Einzelnen vermehren« wolle. Bezweckt sei »ein Wechsel in den Organen, nicht eine Vermehrung ihrer Macht«69. Meines Erachtens hat Klein mit dem Hinweis auf die von Artikel 24 Abs. 1 GG nicht beabsichtigte Vermehrung der Macht gegenüber den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern das entscheidende Argument für die Richtigkeit seiner Auslegung dieser Vorschrift geliefert. Denn zumindest für die Europäische Union gilt, dass sie eine weitergehende Hoheitsgewalt als die, welche legitimer Weise ebenfalls ein (Mitglieds-)Staat als solcher auszuüben vermöchte, nicht für sich beanspruchen kann. Das zeigt besonders ein Blick auf ihre demokratische Legitimation. Denn diese Legitimation ist aus der Sicht des Grundgesetzes vor allem eine nationale, vom deutschen Staatsvolk vermittelte Legitimation. Sie wurzelt in Artikel 20 Abs. 2 GG, der insoweit ja – wie schon erwähnt – »ein einheitliches Legitimationsmodell … für die Ausübung deutscher und europäischer Hoheitsgewalt« beinhaltet70. Die daneben bestehenden einzelnen Zustimmungsvorbehalte des Europäischen Parlaments lassen sich als ergänzende »individualbezogene Legitimation« der europäischen Rechtssetzung verstehen, die die grundsätzliche Bedeutung der über Artikel 20 Abs. 2 GG vermittelten »staatsbezogenen Legitimation« nicht in Frage zu stellen vermag71.
68 Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht 2, erste (!) Auflage 1962, S. 18. 69 Das Gutachten ist abgedruckt in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2, 1953, S. 456 (472) unter Übernahme entsprechender Passagen aus einem Schriftsatz der SPD-Bundestagsfraktion vom 18. Oktober 1952 (Hervorhebungen A. J.). 70 s. noch einmal Brosius-Gersdorf (Fn. 54), S. 169 (Hervorhebungen A. J.). 71 Dazu grundlegend Hertel (Fn. 65), S. 155 ff., bes. S. 211 ff. und daneben Piris (Fn. 65), S. 327 f., 340 ff.
310 2.
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Folgerungen für die Grenzen einer Europäisierung des deutschen Bundes- und Landesrechts
Aus dem dargelegten Verständnis des Artikel 23 Abs. 1 S. 2 GG als Delegationsnorm folgen nun auch unabhängig von den durch das Grundgesetz ausdrücklich genannten Schranken für die Europäisierung des deutschen Bundesund Landesrechts (s. besonders Artikel 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG) weitere aus dem dargelegten Rechtscharakter der genannten Vorschrift selbst, die sich letztlich eben nicht als solche einer nationalstaatlichen Einzelverfassung, sondern nur als prinzipiell der Europäischen Union gesetzte verstehen lassen. Die Befugnis des Deleganten zur außerordentlichen Regelung der Zuständigkeitsordnung72 impliziert nämlich zunächst schon ein Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen nationaler und europäischer Rechtssetzungskompetenz. Und zu Recht ist daneben auch bereits aus dem Begriff der Delegation gefolgert worden, dass auf Mehrheitsentscheidungen der Europäischen Union beruhende Rechtssetzungsakte und andere Beschlüsse nicht fundamentale Verfassungsprinzipien des überstimmten Einzelstaates infrage zu stellen vermögen73. Natürlich lässt sich – wie abschließend zu diesen Überlegungen ausdrücklich zu betonen ist – nicht die tatsächliche gegenwärtige Rechtsstruktur der Europäischen Union lupenrein mit dem Modell der Delegation erklären74. Vor allem kann man nicht den Blick davor verschließen, dass sich schon aufgrund des ständig wachsenden Umfangs der europäischen Rechtsordnung, ihres geplanten Ausbaus und ihrer Fortentwicklung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (wie auch der nationalen Gerichte) die Unterschiede zwischen der sachlichen Autonomie von Bund und Ländern einerseits und der delegierten Rechtssetzungsmacht der Europäischen Union andererseits immer weiter verwischen, zumal wenn sich wirklich – was z. Z. noch nicht erkennbar ist – ein homogenes, die europäische Bevölkerung einigendes Europabewusstsein herausbilden sollte75. Dass in einem solchen Fall die Länder als Teilstaaten des 72 s. dazu noch einmal die Definition von Wolff (Fn. 68); ganz entsprechend Barbey, Delegation (Fn. 67), S. 92. 73 So besonders klar E. Heinz, Europäische Zukunft — Bundesstaat oder Staatengemeinschaft, DÖV 1994, 994 (998 f.). . 74 Überraschende Parallelen zur dargelegten Rechtsstruktur der Europäischen Union finden sich übrigens in der »Verfassung« des Deutschen Bundes (Deutsche Bundesakte) von 1815 (einschließlich ihrer Ergänzung durch die Wiener Schlussakte von 1820). s. dazu aus neuerer Zeit: Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996, S. 229 ff., 253 ff. 75 Zu dieser .Voraussetzung jeder eigenständigen Verfassungsgebung unübertroffen noch immer für die preußische Verfassungsfrage: Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, 1852 (Nachdruck, Darmstadt 1961, bes. S. 18 ff.). s. zu dieser Schrift v. Steins auch Koselleck, Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung (1965), in: ders., Vergangene Zukunft, 1984, S. 87 (100 ff.).
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
311
Bundes ihre Legitimation verlieren und nur noch als höhere Verwaltungseinheiten mit entsprechenden Folgerungen für ihre innere Organisation (einschließlich der der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften) verstanden werden können, erscheint mir dann nicht zweifelhaft. Die entscheidende heute zu stellende Frage lautet nun aber, ob man einer solchen möglichen tatsächlichen Entwicklung durch eine Interpretation des Grundgesetzes vorgreifen sollte, die den dargelegten Zweifeln unterliegt. Es gibt daneben übrigens gute Argumente an der Übergangsphase, in der sich die Europäische Union z. Z. befindet, als einem ihr prinzipiell zu wünschenden Rechtsstatus möglichst lange festzuhalten76. Eine entscheidende Rechtfertigung für ein solches Verhalten besteht m. E. darin, dass nur so die Legitimität des freiheitlichen deutschen Bundesstaates in einer Europäischen Union schlüssig zu begründen ist.
VII.
Ausblick: Der fehlende Mut zur Freiheit als entscheidendes Hindernis für eine Reform des deutschen Bundesstaatsrechts
Um die Durchsetzungschancen der vorgeschlagenen Reformen des deutschen Bundesstaatsrechts ist es schlecht bestellt. Zu aller erst wären es ja die Landesparlamente, die sich für solche Maßnahmen stark machen müssten. Denn sie haben ja in der Vergangenheit den nachhaltigsten Kompetenzverlust erlitten und würden besonders durch die unter II und III dargestellten Vorschläge zur Reform des Grundgesetzes wesentlich an sachlicher Autonomie hinzugewinnen. Aber schon die bisherige Behandlung des Diskussionspapiers, dem diese Vorschläge ja entlehnt sind, zeigt nun, dass kein wirkliches Interesse an entsprechenden Reformen von dieser Seite zu erwarten ist. Die Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten etwa als maßgebliche Repräsentanten der Landtage haben nach quälenden Debatten über dieses Papier auf ihrer Konferenz im Mai 2000 lediglich folgenden allgemeinen und unverbindlichen Beschluss gefasst: 76 Das scheint mir das wesentliche — richtige — Ergebnis der Überlegungen von Hertel (Fn. 65) u. a. zu sein; ähnlich Piris (Fn. 65) S. 311 ff. u. a. Zumindest sollte man m. E. in dieser Phase des Übergangs der Europäischen Union ihrer Deutung als Zweckverband (H. P. Ipsen) und den Gedanken, dass ihre Rechtsordnung heute primär noch Kollisionsrechtsordnung sein müsste, mehr Aufmerksamkeit widmen. Zum letzten Gesichtspunkt s. Janssen, Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa?, in: FS für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 145 ff., bes. S. 155 ff.; vgl. auch S. 161 Fn. 87, wo die von Ipsen bis zuletzt vertretene Deutung der Europäischen Gemeinschaft als Zweckverband wieder aufgegriffen wird.
312
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
»Die Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten hat das in ihrem Auftrag von den Direktoren erarbeitete Papier ausführlich erörtert. Unbeschadet unterschiedlicher Auffassungen in einzelnen Fragen sieht die Präsidentenkonferenz darin bedenkenswerte Anregungen für weiterführende Diskussionen in den Parlamenten«77.
Die in dem Beschluss angemahnte Diskussion in den Landesparlamenten hat bisher – mit Ausnahme von Schleswig-Holstein – auch nicht stattgefunden, obwohl den meisten Landtagen das genannte Diskussionspapier als Drucksache vorlag. Wie erklärt sich das, und wie erklärt sich überhaupt, dass sich die Länder auch nicht ansatzweise mit Reformvorschlägen wie den hier vorgetragenen trotz ihres offensichtlichen Verlustes an sachlicher Autonomie und ihres damit einhergehenden Legitimationsverlusts umfassend auseinandergesetzt haben? Es gibt dafür aus meiner Sicht eine sehr einfache, aber durchschlagende Erklärung: Wie vielen Menschen in der Moderne ist besonders den Deutschen aus hier nicht näher darzulegenden Gründen78 ganz offensichtlich der Mut zur Freiheit abhanden gekommen, weil sie Freiheit als menschliche Freiheit nicht mehr zu denken und zu erfahren vermögen. Diese menschliche Freiheit kann nun einmal deshalb keine absolute Freiheit sein, weil der Mensch nicht Schöpfer der Welt und auch nicht sein eigener Schöpfer ist. Das aber heißt: Eben das durch diese Erkenntnis bedingte »schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl« des Menschen (wie Schleiermacher sagen würde) ist die Voraussetzung für menschliche Freiheit und begründet zugleich den Mut, sie wahrzunehmen79. So gesehen ist der fehlende Mut zur Freiheit Ausdruck eines Denkens (und Fühlens), welches die Einsicht verdrängt hat, dass – und dieser Gedanke findet sich bekanntlich besonders ausgeprägt schon bei Luther – säkulare menschliche Freiheit und der Mut, sie wahrzunehmen, ohne die religiöse Dimension als eine außerhalb des Politischen liegende nicht vorstellbar sind80. Dass der deutsche
77 Diskussionspapier (Fn. 12), S. 4. 78 Die genaue Darlegung dieser Gründe wäre eine besondere Betrachtung wert. Sie hätte vor allem von einer spezifisch deutschen Krankheit des 20. Jahrhunderts (und besonders seit dem Ende des 2. Weltkriegs), nämlich der Theologisierung des Politischen, zu handeln, an der ganz offensichtlich auch die deutsche Staatsrechtswissenschaft in vielfacher Hinsicht bis heute leidet. Denn eben diese »Krankheit« verhindert es, Freiheit als menschliche Freiheit zu denken und zu erfahren (s. dazu den folgenden Text). 79 Zu diesem Freiheitsverständnis, dem besonders der bedeutendste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts und große Philosoph Friedrich Schleiermacher verpflichtet war, s. nur G. Ebeling, Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis (1973), in: ders., Wort und Glaube, Bd. 3, 1975, S. 96 ff. Philosophisch wird dieser Freiheitsbegriff überzeugend durchdekliniert in der Aufsatzsammlung von Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, 1977 (s. besonders die Einleitung S. VII—XII). 80 Diesem Gedanken habe ich im Anschluss an die (von Luther geprägte) Theologie Gerhard Ebelings und das Rechtsdenken Wilhelm Henkes mehrfach Ausdruck zu geben versucht, s.
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
313
Bundesstaat in eine ernsthafte und wohl dauerhafte Krise geraten ist, spiegelt darum m. E. auch getreulich diese geistige Situation unserer Zeit wider.
Thesen I. 1. Der dramatische Rückgang der Länderkompetenzen im Bereich der Gesetzgebung, die eingetretene Einengung ihrer finanziellen Handlungsspielräume und ihr Verlust an Verwaltungskompetenzen lässt sich in der These zusammenfassen, dass die deutschen Bundesländer heute kaum noch eine wirkliche sachliche Autonomie besitzen. Diese Entwicklung haben sie zu einem wesentlichen Teil selbst mitzuverantworten, wie u. a. die zahlreichen Fälle freiwilliger Selbstkoordination im Bereich der Verwaltung, die vielen durch die Landesregierungen abgestimmten Gesetzentwürfe und vor allem ihre (mehrheitliche) Zustimmung im Bundesrat zu die Kompetenzen der Länder beschränkenden Ergänzungen und Änderungen des Grundgesetzes oder der Erlass von entsprechenden Bundesgesetzen zeigen. 2. Der eingetretene Verlust an sachlicher Autonomie der Länder stellt die verfassungsrechtliche Legitimität des deutschen Bundesstaates in Frage, sofern man die Länder als Teilstaaten versteht. Letztlich ist es aber die im Begriff der Autonomie eingegangene Verbindung von Demokratie und Freiheit, die wegen des eingetretenen Kompetenzverlusts der Länder die verfassungsrechtliche Forderung nach grundlegenden Reformen des deutschen Bundesstaates rechtfertigt. Denn sie verlangt im Kern eine möglichst weitgehende demokratische Teilhabe seiner Bürger an der staatlichen Entscheidungsfindung.
II. Als wohl wichtigste Reformmaßnahme kommt eine Änderung der Regelungen des Grundgesetzes über die Gesetzgebungskompetenzen in Betracht. Insoweit muss zunächst eine Präzisierung der allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen für die konkurrierende Gesetzgebung (und Rahmengesetzgebung) des Bundes gefordert werden. Daneben ist eine Durchmusterung der Kataloge des Grundgesetzes, die die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes begründen, unter Beachtung des für den freiheitlichen Bundesstaat konstitutiven Subsidiaritätsnur Janssen, Historisch-kritische Theologie und evangelisches Kirchenrecht, ZevKR 26 (1981), S. 1 (20 ff.) und zuletzt Staatskirchenrecht (Fn. 9), S. 726 ff.
314
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
prinzips geboten. Vor allem aber sollte erwogen werden, einen besonderen Katalog über die Gesetzgebungskompetenzen der Länder in das Grundgesetz aufzunehmen. Denn ein solcher Katalog würde einen zusätzlichen verfassungsrechtlichen Schutz für die Gesetzgebungskompetenzen der Länder vor ihrer Abwanderung auf den Bund oder die EU bedeuten. Im Übrigen wäre damit für den Bereich der Gesetzgebung ausdrücklich klargestellt, dass durch das Grundgesetz die entsprechenden Kompetenzen des Bundes und der Länder konstituiert werden.
III. 1. Für die Stärkung der Länderautonomie durch Änderung der Bestimmungen des Grundgesetzes über das Finanzwesen kommt vor allem eine Neufassung der Bestimmungen über die Einkommenssteuer in Betracht und zwar in der Weise, dass es bewusst den Gesetzgebern von Bund und Ländern (und den Satzungsgebern in den Gemeinden) überlassen wird, die Höhe der ihnen zukommenden Einkommenssteuer so zu bestimmen, dass sie Hundertsätze der bundesgesetzlich geregelten Messbeträge festlegen. Weiter ist an eine alleinige Länderzuständigkeit für die Regelung der Grundsteuer zu denken, und schließlich auch an eine Kompetenz der Länder zur Einführung eigener Steuern auf bestimmte Arten des Verbrauchs oder Aufwandes in ihrem Gebiet. 2. Zur Stärkung der Finanzautonomie der Länder können daneben besonders eine Streichung der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a und 91 b GG) und eine Neufassung des Art. 104a Abs 2 – 3 GG beitragen. Für die Abschaffung der zuerst genannten Regelungen spricht, dass auf diesen Gebieten der Mischfinanzierung ein wirkliches Bedürfnis für eine zentrale Lenkung nicht mehr besteht. Die daneben geforderte Neufassung des Artikel 104 a Abs. 2 – 3 GG entspricht dem auch aus dem Autonomiegedanken folgenden Grundsatz, dass die Körperschaft, die öffentliche Aufgaben veranlasst, dafür finanziell aufzukommen hat (Konnexitätsprinzip).
IV. Die (verfassungsrechtlich gewollte) »strukturelle Gegenläufigkeit von Parteiensystem und Bundesstaat« (Lehmbruch) legt die Forderung nach Einführung der Direktwahl der Ministerpräsidenten nahe. Denn damit würde der Einfluss der (Bundes-)parteien auf das Abstimmungsverhalten der Länder im Bundesrat mit Sicherheit abnehmen. Im Übrigen spricht für diese Reformmaßnahme, dass sie eine wirksame (echte) parlamentarische Kontrolle der Landesregierungen
10. Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates
315
durch die Landesparlamente ermöglichen würde und weiter auch, dass damit eine (bis heute fehlende) hinreichende demokratische Legitimation des Bundesrates für seine Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 2, 4 – 6 GG gewährleistet wäre.
V. Die geforderten Reformmaßnahmen werfen auch die Frage nach der Notwendigkeit einer Neugliederung des Bundesgebietes auf. Denn eine wirkliche sachliche Autonomie der Länder besteht nicht allein in dem Innehaben von wesentlichen Kompetenzen, sondern ebenfalls darin, dass die Länder diese »wirksam« i. S. des Art. 29 Abs. 1 S. 1 GG wahrzunehmen in der Lage sind; wozu auch gehört, dass sie ihre Aufgaben eigenständig – in eigener Verantwortung – erfüllen können. Dass dies die kleineren Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere die Stadtstaaten – selbst bei ihrem heutigen geringen Aufgabenbestand vermögen, muss besonders im Blick auf die für sie mit der fortschreitenden europäischen Integration verbundenen Herausforderungen (Transformationskompetenz u. a.) bezweifelt werden.
VI. Eine Stärkung der Länderautonomie würde schließlich die (strengere) Beachtung der (fast) vergessenen verfassungsrechtlichen Unterscheidung zwischen delegierten Hoheitsrechten der EU und originären des deutschen Bundesstaates bewirken. Denn die zunehmende Europäisierung der sachlichen Autonomie von Bund und Ländern stößt unabhängig von den besonders in Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 3 GG genannten Schranken dort an ihre schon aus dem Begriff der Delegation folgenden Grenzen, wo auf Mehrheitsentscheidungen beruhende Rechtssetzungsakte und andere Beschlüsse der EU zentrale Verfassungsprinzipien der überstimmten Einzelstaaten in Frage stellen. Die Befugnis des Deleganten zur außerordentlichen Regelung der Zuständigkeitsordnung impliziert nämlich bereits ein Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen nationaler und europäischer Rechtssetzungskompetenz.
VII. Um die Durchsetzungschancen der hier gemachten Vorschläge ist es letztlich deshalb schlecht bestellt, weil den Deutschen (aus historisch erklärlichen
316
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Gründen) der Mut zur Freiheit weitgehend abhanden gekommen ist. Insofern spiegelt die Krise des deutschen Bundesstaates getreulich diese geistige Situation unserer Zeit wider.
11. Die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen und einer Bundesratsreform mit einem Nachtrag
A.
Einleitung
Bekanntlich sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts der große französische Staatsdenker de Tocqueville nicht nur für Amerika, sondern ebenfalls für die europäischen Staaten ein auf Grund ihrer fortschreitenden Demokratisierung bevorstehendes Zeitalter der (formalen) Gleichheit voraus1. Diese Entwicklung ist inzwischen auch weitgehend für die europäischen Staaten, in jedem Fall aber für die Bundesrepublik Deutschland eingetreten. Als Beleg dafür kann aus rechtlicher Sicht m. E. zunächst die in den letzten Jahrzehnten in großem Umfang erreichte Nivellierung der bis dahin bestehenden wesentlichen Unterschiede zwischen den nationalen Rechtsordnungen durch die praktisch alle Lebensbereiche durchdringende europäische Rechtssetzung dienen. Aber nicht nur die auf diese Weise für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingetretene (weitgehende) Gleichheit ihrer Rechtsordnungen ist insofern bedeutsam, sondern daneben zumindest für die Bundesrepublik Deutschland die von den politischen (Bundes-)Parteien unseres Landes bewirkte faktische Aufhebung der Unterschiede zwischen den verschiedenen demokratischen Entscheidungsebenen, d. h. ihr Außerkraftsetzen der verfassungsrechtlich gewollten vertikalen (wie auch horizontalen) Gewaltenteilung. Sind das nun die zwangsläufigen Folgen des »offenen« demokratischen Parteienstaates, wie er vom Grundgesetz konstituiert wurde? Diese Frage ist, wie ich meine, dann zu verneinen, wenn man die einschlägigen Aussagen unserer Verfassung zur Struktur des deutschen Bundesstaates (und Föderalismus) 1 de Tocqueville entwickelte diese These aufgrund seiner praktischen Erfahrungen mit der damaligen Demokratie in Amerika und seinem theoretischen Nachdenken darüber in seinem 1835 (und 1840) erschienenen Werk »Über die Demokratie in Amerika«. Hegels Auseinandersetzung mit dem durch die französische Revolution eingeleiteten Auseinandertreten von Herkunftswelt und Zukunftswelt (dazu nach wie vor grundlegend: Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, 1956, in: ders., Methaphysik und Politik, 1977, S. 183 ff.) läuft letztlich auf das gleiche Ergebnis hinaus.
318
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
hinreichend ernst nimmt, was vor allem auch die Beachtung ihrer ursprünglichen Regelungsintention mit einschließt. Der deutsche Bundesstaat, ist – so meine allgemeine Ausgangsthese, die ich im Folgenden exemplarisch an den beiden mir aufgegebenen Themenkomplexen zu verifizieren suche – das »Widerlager«, auf dem der offene demokratische Parteienstaat aufruht2. Muss man nun an der Stabilität dieses Widerlagers zweifeln – und das ist auf den heutigen Zustand des deutschen Bundesstaates gesehen der Fall –, dann sind auch die Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Offenheit und seiner Prägung durch die Parteienstaatsdemokratie nicht mehr zu unterdrücken. Das macht für mich den Ernst unserer Themenstellung aus. Um ihr gerecht zu werden, sollte man m. E. wiederum an de Tocqueville anknüpfen: Wie er vor allem in der Dezentralisation des politischen Lebens und der Erledigung lokaler und regionaler Aufgaben durch Organe der Selbstverwaltung einen wirksamen institutionellen Schutz der individuellen Freiheit gegen den Totalitätsanspruch der demokratischen Gleichheit erblickte, so können auch die Institutionen des heutigen deutschen Bundesstaates daraufhin befragt werden, inwieweit sie diesen in die Lage zu versetzen vermögen, angesichts der zunehmenden europäischen Rechtsgleichheit und des Absolutheitsanspruchs der deutschen Parteienstaatsdemokratie (Stichwort »Allparteienbundesstaat«3) etwas zur Bewahrung der Individualität seiner Bürger – ihrer Menschenwürde – beizutragen.
B.
Hauptteil
I.
Verfassungsrechtlich bedenkliche Wandlungen in der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und der Entscheidungsfindung des Bundesrates
Der Umfang der Regelungsautonomie von Bund und Ländern, der namentlich durch ihre jeweiligen Gesetzgebungskompetenzen bestimmt ist, und die Eindeutigkeit der Landesinteressen, von der die Mitglieder der Landesregierungen im Bundesrat sich leiten lassen, sagen Entscheidendes über die Struktur des Bundesstaates aus. In beiden genannten Bereichen ist es nun zu verfassungs2 Das heißt der »massive Bauteil, auf dem ein Bogen, Gewölbe oder eine Brücke aufliegt« (so DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 8, 2. Aufl. 1995, S. 3912. 3 Immer noch aufschlussreich insoweit Ernst-Wolfgang Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie (1986), in: ders., Staat, Nation, Europa (1999), S. 183 (201 ff.).Vertiefend und weiterführend dazu Rainer Eckertz, Bundesstaat und Demokratie, in: Offene Staatlichkeit (Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag), 1995, S. 13 ff.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
319
rechtlich bedenklichen Entwicklungen gekommen, die jetzt kurz zu schildern sind. 1.
Der für den Bund und die Länder eingetretene wesentliche Verlust von Gesetzgebungskompetenzen
a) Was zunächst den Einfluss des europäischen Rechts auf die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern betrifft, so lässt sich dieser deshalb so schwer quantifizieren, weil nach dem Urteil eines Kenners der Materie »niemand recht durchschaut, welche Kompetenzen (erg.: konkret) der EG übertragen sind«4. Das liegt auch daran, dass das europäische Recht häufig nicht die einzelnen Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern völlig verdrängt, sondern lediglich modifiziert bzw. überlagert. Eindeutig lässt sich allerdings feststellen, dass die im geltenden europäischen Primärrecht (und weiter auch im Entwurf des Europäischen Konvents für einen »Vertrag über eine Verfassung für Europa«5) genannten Politikfelder, die einer rechtlichen Regelung der Europäischen Union zugänglich sind, eine sehr weitgehende Thematik beinhalten und dass diese sich vielfach mit den nach deutschem Verfassungsrecht vorhandenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder kreuzt. So bestehen nach geltendem europäischen Primärrecht (und nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages für die Europäische Union) besonders in folgenden, die deutschen Gesetzgebungskompetenzen berührenden Politikfeldern europäische Rechtssetzungskompetenzen6 : Regeln über die Freiheiten des Binnenmarktes; Wettbewerbsregeln; steuerliche Vorschriften; Rechtsangleichung im Binnenmarkt; Wirtschafts- und Währungspolitik; Beschäftigung und Sozialpolitik; wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt; Landwirtschaft und Fischerei; Umwelt; Verbraucherschutz; Verkehr und Transeuropäische Netze; Forschung und technologische Entwicklung; sowie für »Ergänzungsmaßnahmen« i. S. von Artikel I–16 des Verfassungsentwurfs in den Bereichen: Gesundheitswesen, Industrie, Kultur, Allgemeine und Berufliche Bildung, Jugend und Sport, Katastrophenschutz und die Verwaltungszusammenarbeit. 4 So richtig Ingolf Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, 866 (873). 5 So der genaue Titel des »Verfassungs«-Entwurfs, der am 18. Juli 2003 dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom vom Europäischen Konvent überreicht wurde. 6 Zum Folgenden s. Thomas Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union (2. Teil), DVB1. 2003, 1234 (1243). Daneben gute allgemeine Übersichten in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Europa aktuell (Materialien Nr. 129 vom März 1999), S. 29 ff. und in dem ungedruckten Papier : Vorschläge von CDU und CSU für einen europäischen Verfassungsvertrag (vorgelegt von der CDU-CSU Arbeitsgruppe »Europäischer Verfassungsvertrag« unter Leitung von Wolfgang Schäuble und Reinhold Bohlet) vom 26. 11. 2001, dort S. 14 ff.
320
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Speziell für die Bundesländer sind insbesondere aus den genannten und aus anderen Bestimmungen des europäischen Primärrechts gefolgerte (und daneben im Entwurf zum europ ä ischen Verfassungsvertrag enthaltene) Regelungskompetenzen der Europ ä ischen Union in folgenden Bereichen von Bedeutung 7: Bildung (einschlie ß lich der beruflichen Bildung), Kultur, Jugend, Sport, Rundfunk, Umweltschutz, Regionale Strukturpolitik und Wirtschaftsf ö rderung, Daseinsvorsorge, Beamtenrecht und Zivilschutz. b) Für die Bundesländer kommt daneben noch die Abgabe wesentlicher Gesetzgebungskompetenzen an den Bund hinzu, die vor allem durch die Erweiterung der Kataloge für die konkurrierende- und Rahmengesetzgebung des Bundes bedingt war8. Da der Bund zudem unabhängig von der Schranke des Artikels 72 Abs. 2 GG, die ja selbst vom Bundesverfassungsgericht erst seit kurzem wirklich Ernst genommen wird9, seine entsprechenden Kompetenzen vielfach so weit ausgeschöpft hat, dass der konkurrierenden – und Rahmengesetzgebung neben der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes kaum noch eine eigenständige, die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auch begrenzende Funktion zukommt, ist es durch diese Entwicklung zusätzlich zu einem erheblichen substantiellen Verlust der den Ländern ursprünglich zustehenden Gesetzgebungskompetenzen gekommen. c) So richtig das ist, so darf dennoch nicht übersehen werden, dass diese 7 Siehe zum Folgenden die Übersicht von Dietmar O. Reich, Zum Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, 1 (3 ff.) und zu den insoweit besonders einschlägigen Regelungen im Entwurf zum europäischen Verfassungsvertrag die Quedlinburger Erklärung der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente vom 17./18. Mai 2004 (= Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Drs. Nr. 0051, S. 6). 8 Die bisherigen Änderungen des Grundgesetzes (s. dazu die Übersicht bei Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Aufl. 2004, Einleitung Rn. 3) betrafen zur Hälfte etwa die Gesetzgebung des Bundes, so Markus Heintzen, Kommentierung des Artikel 70 (2003), in: Dolzer/Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 32 Anm. 65; gute Übersicht über die insoweit einschlägigen Änderungen des Grundgesetzes bis 1996 bei v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Bd. 8, 3. Aufl. 1996 (bearbeitet von Christian Pestalozza), Artikel 70 Rn. 84 f.; für die Folgezeit bis heute sind im vorliegenden Zusammenhang noch die Änderungen des Artikels 28 Abs. 2 Satz 3; Artikel 106 Abs. 3, 5 a (Einfügung), 6 und Artikel 108 erwähnenswert (s. zu den Fundstellen wiederum Jarass/Pieroth, a. a.0., Einleitung Rn. 3 – dort die Ziffern (44) und (49). 9 Siehe BVerfGE 106, S. 62 (104 ff., bes. 132 ff.). Dazu aus der Literatur : Michael Brenner, Die Neuregelung der Altenpflege – BVerfG, NJW 2003, 41, JuS 2003, S. 852 ff.; Christian Callies, Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa: Ein Lehrstück für die Europäische Verfassung, EuGRZ 2003, 181 ff.; Otto Depenheuer, Vom »Bedürfnis« zur »Erforderlichkeit«, ZG 2003, 177 ff.; Kurt Faßbender, Eine Absichtserklärung aus Karlsruhe zur legislativen Kompetenzverteilung im Bundesstaat, JZ 2003, 332 ff. Markus Kenntner, Der Föderalismus ist (doch) justitiabel! Anmerkungen zum »Altenpflegegesetz-Urteil« des BVerfG, NVwZ 2003, 821 ff. u. a.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
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Kompetenzverluste von den Ländern weitgehend hätten verhindert werden können. Zunächst ist zu beachten, dass die Landesregierungen im Bundesrat mit den notwendigen Mehrheiten den entsprechenden Grundgesetzänderungen zugestimmt haben. Das wiederum konnten sie allerdings deshalb umso leichter tun, weil ihnen im Gegenzug zu diesen Kompetenzverlusten häufig ein Machtzuwachs durch erweiterte Zustimmungsrechte des Bundesrates zur Bundesgesetzgebung beschert wurde10. Sieht man aus diesem Grund die Landesparlamente als die eigentlichen Verlierer bei der Abwanderung der Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund an, so ist das formal gesehen zwar richtig; berücksichtigt aber zu wenig die politische Wirklichkeit. Denn die jeweilige parlamentarische Mehrheit in den einzelnen Bundesländern hätte zwar nicht rechtlich, wohl aber durch entsprechenden politischen Druck auf »ihre« Landesregierung deren Abstimmungsverhalten im Bundesrat i. S. der parlamentarischen Interessen auf Landesebene lenken können. Im Übrigen war es den Landesverfassungsgebern durch das Grundgesetz ja auch nicht verboten, die den Ländern zustehenden Gesetzgebungskompetenzen in ihren Verfassungen ausdrücklich positiv zu benennen, was dann ja den Landesregierungen im Bundesrat einen Verzicht auf Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu Gunsten des Bundes ohne eine entsprechende vorherige Änderung der jeweiligen Landesverfassung unmöglich gemacht hätte. Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass gemäß dem seit fast 14 Jahren neu gefassten Artikel 23 GG die Länder der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union über den Bundesrat zustimmen müssen (Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 GG), der durch Artikel 79 Abs. 3 GG gewährte Schutz des Kernbereichs ihrer Gesetzgebungskompetenzen auch gegenüber der Europäischen Union greift und ihnen darüber hinaus wesentliche Mitwirkungsrechte an der europäischen Rechtssetzung eingeräumt sind (Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG). So gesehen, kann man im Ergebnis schwerlich von einer für die Länder unbeeinflussbaren, schicksalhaften Entwicklung sprechen, die zu dem erwähnten substantiellen Verlust ihrer Gesetzgebungskompetenzen geführt hat. d) Diese Untätigkeit der Länder ändert allerdings nichts an der Feststellung, dass dieser Verlust durch die aufgezeigten Entwicklungen des europäischen Rechts und deutschen Bundesrechts inzwischen ein solches Maß erreicht hat, dass die Frage einer dadurch bewirkten Verletzung des Artikels 79 Abs. 3 GG nicht von der Hand zu weisen ist11. Es ist richtig festgestellt worden, dass »im 10 Sehr plastisch dazu: Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Sein der Demokratie (2. Auflage 2002), S. 85 ff. 11 Dass Artikel 79 Abs. 3 GG einen entsprechenden Schutz gewährt, weil ein bestimmter Umfang an Gesetzgebungskompetenzen für die Länderstaatlichkeit konstitutiv ist, ist unbestritten, s. dazu schon sehr früh Martin Bullinger, Die Zuständigkeit der Länder zur Gesetzgebung, DÖV 1970, 761 (767) und Konrad Hesse, Bundesstaatsreform und Grenzen der
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Wesentlichen … die Gesetzgebungskompetenz der Länder heute auf das interne Organisations- und Verfahrensrecht, das Gemeinde(Kommunal)recht, das Polizei- und Ordnungsrecht sowie das Kulturrecht beschränkt« ist12. Berücksichtigt man dann noch, dass das Verwaltungsverfahren weitgehend bundesrechtlich und daneben wichtige Materien des besonderen Polizei- und Ordnungsrechts und des Kulturrechts durch den Bund bzw. die Europäische Union geregelt worden sind (oder noch geregelt werden können)13, so stellt sich nun in der Tat die Frage nach einer bereits eingetretenen Verletzung des Artikels 79 Abs. 3 GG durch den Kompetenzverlust der Länder im Bereich der Gesetzgebung mit besonderer Dringlichkeit.
2.
Die Infragestellung der Gesetzgebungskategorien »konkurrierende Gesetzgebung« und »Rahmengesetzgebung«
a) Betrachtet man zunächst die Entwicklung der genannten Gesetzgebungskategorien unter dem Grundgesetz, so zeigt schon die Entstehungsgeschichte des Artikel 72 Abs. 2 GG, wie wichtig dem Verfassungsgeber die am Subsidiaritätsprinzip orientierte Koordinierungsfunktion der genannten Vorschrift war. Bereits im Herrenchiemsee-Entwurf vom August 1948 hieß es demgemäß in der entsprechenden Vorschrift (Artikel 34 Satz 2) kurz und knapp: »Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muss«14. Später wurde dann auch die prinzipielle Bedeutung des Artikels 72 Abs. 2 GG für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern betont. Seine »Bedürfnisklausel« könne, so hat man damals argumentiert, »über ihre unmittelbare Bedeutung hinaus zu einem Gesichtspunkt der Auslegung aller Bundeskompetenzen werden, auch für die auslegende Abgrenzung der ausschließlichen Verfassungsänderung, AöR 98 (1972) 1 (16 ff.); zur heutigen Rechtslage Hartmut Maurer, Der Bereich der Landesgesetzgebung, in: Völkerrecht und deutsches Recht (Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag), 2001, 337 (353); Heintzen, Kommentierung Artikel 70 (Anm. 8), Rn. 74; Brun-Otto Bryde, Kommentierung des Artikel 79, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 3 (5. Aufl. 2003), Artikel 79 Rn. 31 m.w.N. 12 So Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Anm. 8), Artikel 70 Rn. 11. Zu den einzelnen, den Ländern verbliebenen Kompetenzen genauer : Philip Kunig, in: von Münch/Kunig (Anm. 11), Artikel 70 Rn. 8 und Hans Schneider, Gesetzgebung (3. Aufl. 2002), 123 f. 13 Siehe zunächst Reich (Anm. 7), 3 ff., 6 und 7 sowie Maurer (Anm. 11), 352. Speziell für das »Kulturrecht« s. die Abhandlungen von Martin Nettesheim, Das Kulturverfassungsrcht der Europäischen Union, JZ 2002, 157 ff.; Ingo Hochbaum, Kohäsion und Subsidiarität. Maastricht und die Länderkulturhoheit, DÖV 1992, 285 ff.; Ansgar Hense, Bundeskulturhoheit als verfassungs- und verwaltungsrechtliches Problem, DVBl. 2000, 367 ff. und Claus Eiselstein, Verlust der Bundesstaatlichkeit? Kompetenzverluste der Länder im kulturellen Sektor vor dem Hintergrund von Artikel 79 III GG, NVwZ 1989, 323 ff. 14 Zitiert bei Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (1953),Artikel 72 Anm. 1, dort auch genauer zur Entstehungsgeschichte des Artikels 72 Abs. 2 GG.
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Bundeskompetenzen zu den benachbarten Landeskompetenzen«15. Noch weitergehender ist bald danach unter Rückgriff auf die Formulierungen des Artikels 72 Abs. 2 GG eine aus dem verfassungsrechtlich garantierten Subsidiaritätsprinzip folgende Inhaltsbestimmung der Bundesgesetzgebung als solcher versucht worden. Der Bund sollte, wie demgemäß gefordert worden ist, nur dann zur Gesetzgebung befugt sein, wenn es sich erstens um eindeutig gesamtstaatliche Aufgaben handelt, wie auf den Gebieten der Außenpolitik, Außenwirtschaft, Verteidigung und auch der Kriegsfolgelasten; wenn zweitens Probleme auf der Ebene eines Landes nicht gelöst werden können, wie die Abwehr länderübergreifender Gefahren; und wenn drittens unterschiedliche Ländergesetze den Rechtsverkehr, den Handel oder die Freizügigkeit beeinträchtigen oder den wirtschaftlichen Wettbewerb verzerren würden16. Diesem Verständnis von der Koordinierungsfunktion der Bundesgesetzgebung, das sich, wie gezeigt, besonders an den Aussagen des Artikels 72 Abs. 2 GG festmachen lässt, ist nun weitgehend durch die Entwicklung des europäischen (Primär-)Rechts der Boden entzogen worden. Dieses kennt zunächst einmal neben anderen Kompetenzkategorien ja auch (und besonders) ausschließliche und konkurrierende Gemeinschaftskompetenzen, und diese Unterscheidung wird bekanntlich im Entwurf des Verfassungsvertrages fortgeführt und verfeinert17. Daneben ist insoweit die durch das geltende europäische Primärrecht aufgegebene allgemeine Koordinierungsfunktion des gesamten EG-Rechts nicht zu übersehen. Dass aufgrund dieser Zielsetzung das europäische Recht eine für den deutschen Bundesstaat z. T. problematische thematische Breite und Regelungstiefe erreicht hat, konnte schon deshalb nicht ausbleiben, weil die Europäische Union ja diese Koordinierungsfunktion auch gegenüber vielen, im 15 So Bullinger (Anm. 11), 799 Anm. 177 (zweite Hervorhebung A.J.). 16 So Reinald Wiechert, Gesetzgebungskompetenz für das Bau- und Bodenrecht, ZRP 1985, 239 (241). 17 Siehe insoweit zum geltenden europäischen Primärrecht übersichtlich Rudolf Streinz, Kommentierung des Artikels 5 EGV, Rn. 16 ff., in: Streinz (Hrsg.), EUV/EVG. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (2003) und daneben Hans D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), 174 (185 ff.). Für eine weitergehende Konkretisierung des insoweit einschlägigen Artikels 5 Abs. 2 EGV, die sich an Artikel 72 Abs. 2 GG in der jüngsten Auslegung des Bundesverfassungsgerichts orientiert (s. den Nachweis in Anm. 9): Callies, (Anm. 9), S. 196 f. Zu den entsprechenden Regelungen im Entwurf des Verfassungsvertrages s. etwa: Volker Epping, Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (827 f.); Walter Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa (Teil II), europa blätter 2004, 4 ff.; Thomas Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union (1. Teil), DVB1. 2003, 1165 (1172 f.); Meinhard Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität im Konventsentwurf für eine europäische Verfassung, JZ 2004, 8 ff. und besonders gründlich: Markus Ludwigs, Die Kompetenzordnung der Europäischen Union im Vertragsentwurf über eine Verfassung für Europa, Zeitschrift für Europarechtliche Studien (ZEuS) 7 (2004), 212 (225 ff.).
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Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland weitaus kleineren Mitgliedstaaten, die zudem keine entsprechenden föderalen Strukturen besitzen, wahrzunehmen hatte. Und ausbleiben konnte auch nicht angesichts dieser Entwicklung die grundsätzliche Kritik am uneingeschränkten Festhalten des deutschen Verfassungsrechts an der Koordinierungsfunktion des Artikel 72 Abs. 2 GG. So hat man etwa im Blick auf den Auftrag der genannten Vorschrift zur Wahrung »der Rechts- oder Wirtschaftseinheit« durch den Bund festgestellt, »dass das GG … keine Gesetzgebungszuständigkeiten im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG … mehr gewährt, um eine – als solche schon aufgehobene – Wirtschaftseinheit der Bundesrepublik innerhalb des Binnenmarktes oder gegen ihn zu wahren. Ohne Gesetzgebungszuständigkeiten, die man verteilen könnte, ist die Subsidiaritäts- bzw. Kompetenzverteilungsnorm des Art. 72 Abs. 2 GG … insoweit ohne Regelungsgehalt und hat daher letztlich keinen Normcharakter«18.
Und im Blick auf die spezielle Koordinierungsfunktion der EG-Richtlinien ist dementsprechend festgestellt worden, dass diese Richtlinien (weitgehend) an die Stelle der Rahmengesetzgebung des Bundes getreten seien. Nach erfolgter Umsetzung einer solchen Richtlinie durch die Bundesländer sei »ein harmonisierter Rechtszustand innerhalb der Länder gewährleistet«, und es fehle damit »für eine zusätzliche Maßnahme des Bundes die Erforderlichkeit im Sinne des Art. 75 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 72 Abs. 2 GG«19. 18 So Gerold Schmidt, Die neue Subsidiaritätsprinzipregelung des Art. 72 GG in der deutschen und europäischen Wirtschaftsverfassung, DÖV 1995, 657 (664, ähnlich 666 f.). Ganz entsprechend heißt es bei Fritz W. Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus (Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 293, 304 f. – Hervorhebung dort): »In dem Maße … wie die wirtschaftsrelevanten Regelungskompetenzen auf die europäische Union übergehen, verändern sich auch die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gemäß Art. 72 Absatz 2 GG. Was unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftseinheit einheitlich geregelt werden muss, wird künftig europäisch geregelt werden müssen. Dann aber braucht das, was nicht europäisch geregelt werden muss, auch nicht mehr bundeseinheitlich geregelt zu werden – es kann wieder den Ländern überlassen werden, die nach durchgeführter Neugliederung ja durchweg mit respektablen EG-Mitgliedstaaten wie Dänemark, Belgien oder den Niederlanden zu vergleichen wären. Dies würde insbesondere bedeuten, dass jedenfalls die Transformationskompetenz für die Umsetzung von EG-Richtlinien in innerstaatliches Recht in der Regel von den Ländern – und damit auch von den Landtagen – in Anspruch genommen werden könnte.« 19 So Christian Haslach, Zuständigkeitskonflikte bei der Umsetzung von EG-Richtlinien?, DOV 2004, 12 (18). Erläuternd zu dem Zitat heißt es dort: »Die Funktion des Art. 75 GG besteht unter anderem darin, dem Bund in einigen Rechtsbereichen die Möglichkeit zu eröffnen, durch einheitliche Vorgaben einen rechtlichen Rahmen für die Gesetzgebung der Länder zu schaffen. Hierdurch soll eine Annäherung der Lebens-und Wirtschaftsverhältnisse unter den Ländern erreicht und dauerhaft gesichert werden. Dieses gesamtstaatliche Interesse, durch verbindliches Rahmenrecht eine Harmonisierung des Rechts der Gliedstaaten zu bewirken, bedarf jedoch dann keines exipliziten Rechtsakts des Bundes, wenn die Harmonisierung auf rechtlich verbindliche Weise bereits gesichert ist. Dies ist bei Erlass einer EG-Richtlinie der
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b) Die Schwierigkeiten, die insbesondere bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in verbindliches deutsches Recht wegen der unterschiedlichen Gesetzgebungskategorien des Grundgesetzes bestehen, sind für den Bereich der Rahmengesetzgebung des Bundes vielfach nachgewiesen worden20. Aber entsprechende Schwierigkeiten bestehen auch aufgrund der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Es stellen sich hier (wie übrigens insoweit ebenfalls bei der Rahmengesetzgebung) besondere Fragen, wie richtig gesagt worden ist, »in Bezug auf die in Art. 72 Abs. 2 GG … normierten Voraussetzungen für das Tätigwerden des Bundes. Am ehesten kommt hier die Alternative ›Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit‹ in Betracht. Diesem Kriterium wird im Wege der bundesgesetzlichen Durchführung von Gemeinschaftsrecht i. d. R. entsprochen. Ferner verlangt das GG jedoch noch, dass ›im gesamtstaatlichen Interesse‹ eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich ist. Während das wegen des gesamtstaatlichen Charakters der Durchführungsverpflichtung gegeben sein wird, ist gesondert zu prüfen, ob dazu die Rechtsaktform des Bundesgesetzes erforderlich ist. Probleme können dann auftreten, wenn ein bestimmter Rechtsakt der EU Sachbezüge zu Kompetenzen der Länder wie des Bundes aufweist und eine eindeutige Zuordnung zu Bund oder Ländern trotz dahingehender Verpflichtung durch das GG nicht möglich ist. Während in rein innerstaatlichen Fällen auf den Erlass eines solchen Gesetzes verzichtet werden kann, ist die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der an den Gesamtstaat gerichteten Durchführungsverpflichtung gehalten, einen Weg der Durchführung zu finden. Zum einen kommt die Aufspaltung des Rechtsaktes der EU in einen von Bundes- und einen von Landesorganen durchzuführenden Teil in Betracht. Zum anderen ist in extremis sogar die Verfassung zu ändern, um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, wie neue Kompetenztitel oder beschleunigte Verfahren«21.
c) Wenn nun im Ergebnis die Koordinierungsfunktion der konkurrierenden Gesetzgebung und Rahmengesetzgebung weitgehend durch das europäische Recht geleistet wird und die genannten Gesetzgebungskategorien für kaum zu überwindende praktische Schwierigkeiten besonders bei der Umsetzung von EG-Richtlinien ursächlich sind, dann muss an der verfassungsrechtlichen Berechtigung ihres Fortbestandes gezweifelt werden. Das gilt um so mehr, als auch Fall. Denn selbst wenn die EG-Richtlinie nur ausnahmsweise unmittelbar geltendes Recht setzt, beinhaltet sie doch einen zwingenden rechtlichen Rahmen und ist in dieser Hinsicht dem nationalen Rahmenrecht vergleichbar.« 20 Siehe etwa Eckard Rehbinder/Rainer Wahl, Kompetenzprobleme bei der Umsetzung europäischer Richtlinien, NVwZ 2002, 21 ff. 21 So richtig Alexander Egger, Bundesstaat und EU-Recht: Verfassungsrechtliche Probleme der Durchführung in Deutschland, Der Staat (1999) 449 (466 f. – Hervorhebung A. J.). Im Übrigen kompliziert sich die Lage bei der konkurrierenden Gesetzgebung noch dadurch, dass der Bund in dem Falle, in dem ein Land EU-Recht umgesetzt hat, »das Recht (nicht die Pflicht) zur Umsetzung (erg.: beanspruchen kann), sofern er die Kompetenz zum Erlass von entsprechendem Bundesrecht besitzt« (so Hans D. Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 61).
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
die bereits erwähnte bisherige Gesetzgebungspraxis des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und Rahmengesetzgebung zu einer weitgehenden Nivellierung zwischen den im Grundgesetz geregelten drei Gesetzgebungskategorien geführt hat22. 3.
Die Entwicklung zum Allparteienbundesstaat als Legitimationsproblem der Zustimmungsgesetze
Die Schöpfer des Grundgesetzes wollten ursprünglich dem Bundesrat »eine funktionsorientierte Teilhabe an der Macht« des Bundes einräumen23. Klar war man sich allerdings von Anfang an darüber, dass das Grundgesetz nicht »hinreichend Vorsorge getroffen« habe, dass entsprechend dieser Absicht »im Bundesrat ausschließlich die Länderinteressen und der Sachverstand der Landesregierungen Ausdruck finden«24. Diese Einschränkung sollte sich alsbald bestätigen. Denn namentlich aufgrund des ständig zunehmenden Einflusses der (Bundes-)Parteien auch auf die Meinungsbildung im Bundesrat ist es schließlich, wie man schon vor fast 25 Jahren feststellte, zum »Allparteienbundesstaat25 gekommen. Die angedeutete Entwicklung ist in der Literatur vielfach geschildert worden26. Dabei hat man auch nachdrücklich auf die damit verbundene Verwi22 Roman Herzog hat bereits 1991 die Sinnhaftigkeit der Gesetzgebungskategorien »konkurrierende Gesetzgebung« und »Rahmengesetzgebung« mit folgendem Argument in Zweifel gezogen: »Man mag darüber streiten, ob es für den Bund noch von wesentlichem Interesse sein kann, ein Gesetz zu erlassen, wenn er bei jeder einzelnen Vorschrift die verfassungsgerichtliche Nichtigkeitserklärung wegen fehlenden Bedürfnisses erwarten müsste. Gerade diese Ungewissheit lässt aber Zweifel aufkommen, ob die Aufrechterhaltung der ganzen Rechtsfigur überhaupt noch Sinn macht und ob es nicht besser und vor allem ehrlicher wäre, sie ganz aufzugeben und die von ihr erfassten Sachgebiete zwischen der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes und der Länder aufzuteilen«, s. ders., Mängel des deutschen Föderalismus, BayVBI. 1991, S. 513 (515). So gesehen kann man allerdings nicht, wie es durchweg geschehen ist, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Altenpflegegesetz als einen Fortschritt verstehen. (s. die Nachweise hier in Anm. 9), da sie ja gerade eine genauere rechtliche Begrenzung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes durch Artikel 72 Abs. 2 GG postuliert, die dann ja jene von Herzog kritisierte »Ungewissheit« für den Bundesgesetzgeber notwendig zur Folge hat. 23 So richtig Rudolf Dolzer, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat (1. Bericht), VVDStRL 58 (1999), 7 (22). s. im Einzelnen zur insoweit einschlägigen Entstehungsgeschichte der Bestimmungen des Grundgesetzes über den Bundesrat: v. Mangoldt (Anm. 14), Vorbemerkung Nr. 4 zu Artikel 50 ff.; Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat (2. Aufl. 1998), S. 77 ff. 24 So v. Mangoldt, a. a. O., Vorbemerkung Nr. 4 (= S. 271). 25 Begriff von Böckenförde (Anm. 3), S. 201 f. Dolzer (Anm. 23), S. 14 ff. fasst diese Entwicklung unter der Überschrift »Föderalismus der mehrheitsbezogenen Verbundsbeteiligung« zusammen. 26 Besonders deutlich Lehmbruch (Anm. 23), S. 65 ff.
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schung der (demokratischen) Verantwortlichkeiten hingewiesen27, die bekanntlich u. a. dazu geführt hat, dass in zahlreichen Landtagswahlkämpfen bundespolitische Themen so stark dominierten, dass von einer Landtagswahl im eigentlichen Sinne kaum noch gesprochen werden konnte28. Übersehen werden sollte auch nicht, dass die Entwicklung hin zum Allparteienbundesstaat bereits vor In-Kraft-Treten des Grundgesetzes unter Hinweis auf entsprechende Erfahrungen unter der Weimarer Reichsverfassung klar vorausgesehen wurde29. Steht damit fest, dass der Bundesrat durch den dominierenden Einfluss der (Bundes-)Parteien auf seine Entscheidungsfindung heute nicht mehr die ihm vom Grundgesetz ursprünglich zugedachte Aufgabe, die »strukturelle Gegenläufigkeit von Parteiensystem und Bundesstaat« zu gewährleisten30, zu erfüllen 27 Zuletzt dazu Peter M. Huber, Klare Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? (Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag, Bonn 2004), D 36. 28 Dazu nur Diether Posser, Der Bundesrat und seine Bedeutung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (2. Auflage 1994), S. 1145 (1194 f.). Im niedersächsischen Landtagswahlkampf von 1998 hat der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder bekanntlich sogar seine Bereitschaft, als Kanzlerkandidat für die SPD bei den nächsten Bundestagswahlen zur Verfügung zu stehen, öffentlich zu wiederholtem Male von dem Abschneiden der SPD bei den bevorstehenden niedersächsischen Landtagswahlen abhängig gemacht. 29 So hat etwa Wilhelm G. Grewe bereits 1947 ausgeführt: »Die Weimarer Demokratie gründete sich auf ein pluralistisches System straff organisierter und zentralistischer Reichsparteien, das in sehr wirksamer Weise geeignet war, die gliedstaatliche Selbständigkeit der Länder zu unterhöhlen. Mächtige und keiner verfassungsgemäßen Verantwortung unterliegende Parteibürokratien waren in der Lage, die Länderregierungen zu überspielen und auf diesem Wege einem verfassungsmäßig nicht vorgesehenen, unkontrollierbaren Einfluss der Zentralgewalt des Reiches zu dienen. Aber auch das Umgekehrte war möglich: Wenn in den Ländern eine von der Parteigruppierung im Reich verschiedene Parteienkoalition am Ruder war, konnten die Länder und ihre föderalistischen Verfassungsrechte als eine parteipolitische Machtposition im Kampfe gegen die in der Reichsregierung herrschenden feindlichen Parteien genutzt werden. Der Reichsrat konnte zu einem Glacis des versteckten parteipolitischen Kampfes werden… Es ist nicht meine Aufgabe, hier irgendwelche Reformvorschläge über die Stellung der politischen Parteien im Staat zu machen. Wohl aber scheint es mir dringend angebracht, auf die Gefahren eines solchen parteipolitisch verfälschten PseudoFöderalismus hinzuweisen, in dem sich vor allem die Nachteile des Parteienstaates und des Bundesstaates kumulieren und gegenseitig steigern«, s. Greve, Antinomien des Föderalismus (1947), in: ders., Machtprojektionen und Rechtsschranken (1991), S. 15 (24 f.). 30 So Lehmbruch (Anm. 23), S. 180, genauer dazu S. 77 ff. Im Ergebnis geht es insoweit um ein Stück Gewaltenteilung innerhalb der Legislative. Richtig gesehen von Ernst Rudolf Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte (1970), in: ders., Bewahrung und Wandlung (1975), S. 62 (83): »Der Bundesstaat deutscher Prägung hat seine eigentliche Funktion und Legitimation seit dem Wegfall seiner monarchisch-dynastischen Grundlagen im unitarisch-föderativen Dualismus, der neben die klassische Trennung von Exekutive und Legislative eine zusätzliche Art von Gewaltenteilung, nämlich einen Dualismus innerhalb der Legislative selbst, stellt. Die im Bundesrat verkörperte Föderativgewalt war schon im Bismarckschen Verfassungssystem, nicht anders als heute, eine Modifikation der klassischen Gewaltenteilung, zugleich aber selbst von spezifischem Gewaltenteilungseffekt. … Zum Schutz von Freiheit und Recht wurde damit das
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
vermag, so kann das nicht ohne Folgen für die verfassungsrechtliche Legitimation der Zustimmungsgesetze bleiben. Denn durch die insoweit bestehenden Zustimmungsrechte des Bundesrates sollten ursprünglich ja die »Landesbezogenheit« derartiger Gesetze und der für ihre praktische Handhabung wichtige »Vollzugssachverstand der Länder« Berücksichtigung finden31. Die Gewähr dafür, dass dies so auch geschehen würde, erblickte man eben in dem Umstand, dass nach dem Willen des Grundgesetzes »nur im Bundestag das Volk nach Parteien gegliedert auftritt, während der Bundesrat nach Ländern gegliedert in Tätigkeit tritt«32. So gesehen ist m. E. auch zu Recht betont worden, dass die ja sogar durch Artikel 79 Abs. 3 GG (grundsätzlich) garantierte »Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung« nicht »das Volk in den Ländern sondern die Länder als eigenständige politische Entscheidungszentren, d. h. aber auch wohl nur als Gebietskörperschaften meinen kann.« Und richtig ist daraus auch gefolgert worden: »Eine effektive Mitwirkung der Länder erfordert, dass die Mitglieder des föderalen Organs die politische Auffassung des Landes, wie sie sich nach Landesverfassungsrecht formiert und artikuliert, in den Entscheidungsprozess des Bundes einbringen; sie erfordert daher eine landesbezogene und landesgebundene Stimmabgabe«33
Wenn diese Voraussetzungen heute nun augenscheinlich durch die Entwicklung zum Allparteienbundesstaat entfallen sind, so entfällt damit im Ergebnis auch die innere Rechtfertigung für die »gemischte« demokratische Legitimation der Zustimmungsgesetze. Nimmt man zu dieser Feststellung hinzu, dass inzwischen ca. 60 % der gesamten Bundesgesetzgebung (und zeitweise 90 % der politisch wirklich relevanten) der Zustimmung des Bundesrates bedürfen34, dann ist m. E.
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Aufkommen des ›Parlamentsabsolutismus‹ verhindert.« Setzt man statt »Parlamentsabsolutismus«: »Parteienabsolutismus«, so kann man die Aktualität dieser Aussage schwerlich bestreiten. So Dolzer (Anm. 23), S. 26. So Theodor Maunz, Erstkommentierung des Artikel 50, Rn. 25 (1959), in: Maunz/ Dürig u. a., Grundgesetz, Kommentar. Ganz entsprechend argumentiert Maunz in seinem Aufsatz: Mandatsträger im Bundesrat, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft (1974), S. 193 (209 f.), dort auch (S. 209) die interessante Argumentation, der Bundesrat bringe kein »parteipolitisches Kräfteverhältnis zum Ausdruck. Wäre das gewollt gewesen, dann hätte das Grundgesetz der Senatslösung den Vorzug geben müssen«. Damit übereinstimmend auch Dolzer (Anm. 23), S. 31: »Die Prämisse einer solchen Argumentation (erg.: für die Senatslösung) freilich besteht in der Akzeptanz der Verbundsbeteiligung und der Wünschbarkeit ihrer Konsolidierung.« Eine vertiefte neuere Begründung für die These, dass die Länder Mitglieder des Bundesrates sind, findet sich bei Hartmut Maurer, Mitgliedschaft und Stimmrecht im Bundesrat, in: Recht im Pluralismus (Festschrift für Walter Schmitt-Glaeser zum 70. Geburtstag) 2003, S. 157 (159 ff.). So Hans-Ulrich Evers, Kommentierung des Artikels 79 Abs. 3 GG (1982), in: Bonner Kommentar (Anm. 8), Rn. 220 (Hervorhebungen dort). So Dolzer (Anm. 23), S. 15. Das vom Bundesrat herausgegebene »Handbuch des Bundesrates« für das Geschäftsjahr 2003/2004 weist auf S. 307 für die Zeit von 1949 – 2002 einen
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die verfassungsrechtliche Relevanz dieses Legitimationsproblems nicht mehr von der Hand zu weisen35.
II.
Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die damit erforderlichen Reformen
Wie sich gezeigt hat, haben durch die europäische Rechtsentwicklung die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern starke Einbußen erlitten; daneben wurde deutlich, dass die Gesetzgebungskompetenzen der Länder darüber hinaus ganz wesentlich durch entsprechende Eingriffe des Bundes zurückgegangen sind. Der auf diese Weise namentlich bei den Ländern eingetretene Verlust an sachlicher Autonomie stellt schon im Blick auf Artikel 79 Abs. 3 GG die verfassungsrechtliche Legitimität des deutschen Bundesstaates in Frage. Dessen Legitimität ist aber auch deshalb in Frage gestellt, weil die ihm durch die Beteiligung des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung aufgegebene gemischte demokratische Legitimation faktisch nicht mehr stattfindet, sondern es insofern im Wesentlichen nur noch eine einheitliche, durch die politischen (Bundes-) durchschnittlichen Prozentsatz von 55,6 für die Zustimmungsgesetze aus. Zu diesen Zahlen hat Hans Meyer festgestellt: »Bei 50,6 % aller vom Bundesrat zwischen 1981 und 2001 für zustimmungsbedürftig gehaltenen Gesetzen beruht die Zustimmungsbedürftigkeit auf Artikel 84 Abs. 1 GG, bei 5,6 % weiteren auf Artikel 80 Abs. 2 GG, der in einem wesentlichen Punkt eine Folgenorm des Artikels 84 Abs. 1 GG ist. Nimmt man die 24,2 % hinzu, die auf Artikel 105 Abs. 3 GG beruhen, dann hat man den allergrößten Teil der Vetopositionen des Bundesrates und damit der Landesregierungen gegenüber der Bundespolitik, soweit sie der Gesetzgebung bedarf. Noch weitreichender ist die Vetoposition des Bundesrates im Bereich der exekutivischen Rechtssetzung. Artikel 80 Abs. 2 GG macht nicht nur alle gesetzesausführenden Bundesverordnungen, wenn die Gesetze wie im Normalfall durch die Länder auszuführen sind, zustimmungspflichtig, sondern auch alle Verordnungen, die Zustimmungsgesetze ausführen«, s. ders., Wozu braucht man und wie kommt man zu einer sinnvollen Bundesstaatsreform (Entwurf Erster Teil, Stand 10. 12. 2003, S. 2 f. – es handelt sich um ein Papier, das Meyer den Mitgliedern der zur Zeit tagenden Bundesstaatskommission zugänglich gemacht hat). 35 Im Blick auf die dem Bundesrat durch Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG zugesprochenen neuen Aufgaben ist auch die überkommene verfassungsrechtliche Ausformung seiner demokratischen Legitimation problematisch. Denn die in der genannten Vorschrift vorgesehenen Mitwirkungsrechte des Bundesrates können im Gegensatz zu seinen meisten sonst im Grundgesetz genannten (älteren) Beteiligungsrechten letztlich nur als eine besonders intensive Form einer quasi-parlamentarischen Kontrolle durch die nur mittelbar demokratisch legitimierten Mitglieder der Landesregierungen im Bundesrat verstanden werden. Das aber genügt kaum den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine hinreichende demokratische Legitimation der Europäischen Union, soweit ihre durch das deutsche Staatsvolk nach den Maßstäben des Grundgesetzes vermittelte zur Diskussion steht. Zu diesem Problem, das hier aus Raumgründen nur angedeutet werden kann, genauer: Albert Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: H. G. Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommune, Ländern, Bund und Europäischer Union (2001), S. 59 (77 ff.).
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Parteien gestiftete demokratische Legitimation gibt. Bedenkt man, dass als Folge davon klare, zurechenbare Verantwortlichkeiten für die getroffenen staatlichen Entscheidungen nicht mehr möglich sind, so lässt sich auch unter diesem Blickwinkel von einem Verlust an Autonomie sprechen. Wichtiger ist insoweit aber noch, dass aufgrund einer solchen Entwicklung nicht die landesspezifischen, regionalen Gesichtspunkte für die Entscheidungsfindung des Bundesrates leitend sind. Erweist sich damit der Grad an Autonomie und deren auch durch regionale Aspekte geprägter Inhalt als für die Legitimation des deutschen Bundesstaates entscheidend, so stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieses Maßstabs. Diese ist m. E. in zweifacher Form gegeben: 4.
Die Gewährleistung autonomer demokratischer Freiheit als allgemeine Legitimation des deutschen Bundesstaates und Maßstab für seine Entwicklung
Der wesentliche verfassungsrechtliche Grund, in der (sachlichen) Autonomie von Bund und Ländern die (allgemeine) Legitimität des deutschen Bundesstaates zu sehen, liegt in der im Begriff der Autonomie eingegangenen Verbindung von Demokratie und Freiheit. Diese Verbindung ist – wie richtig gesagt worden ist – »auf der Grundlage des modernen, auf die subjektive Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen bezogenen Freiheitsbegriffs« möglich. Freiheit wird dann verstanden als »Freiheit von Fremdbestimmung im Denken und Handeln« und für eben diesen Freiheitsbegriff »erscheint die Demokratie als die freiheitsgemäße Form politischer Herrschaft«36. Die angesprochene Verbindung von Demokratie und Freiheit ist es also, die letztlich die Forderung nach hinreichender (sachlicher) Autonomie von Bund und Ländern rechtfertigt. Sie rechtfertigt zugleich die Forderung, im Subsidiaritätsprinzip den entscheidenden Maßstab für die Abgrenzung der Kompeten36 Alle Zitate bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II (3. Aufl. 2004), § 24 Rn. 35 f. Ob man nun deshalb trotz mancher Probleme der systematischen Auslegung in der durch Artikel 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde die gemeinsame letzte verfassungsrechtliche Begründung für die grundrechtliche wie demokratische Freiheit sehen muss, braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die aufgezeigte Verbindung von Demokratie und Freiheit, die ja keinesfalls leugnet, dass es einen »Übergang von der individuell-autonomen Freiheit zur demokratischen Mitwirkungsfreiheit gibt«; das zeigen schon die demokratischen Grundrechte des Grundgesetzes (Wahlrecht und Recht des Zugangs zu öffentlichen Ämtern) wie die sog. Kommunikationsgrundrechte (Meinungsfreiheit mit Einschluss der Presse- und Informationsfreiheit), so wiederum Böckenförde, a. a. O., Rn. 37 f. Wilhelm Henke, Demokratie als Rechtsbegriff, Der Staat 25 (1986), S. 157 (165, vgl. auch S. 168) sagt zutreffend i. S. des Ausgeführten: Das »Materiale am Rechtsbegriff der Demokratie ist … die Personalität«
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zen zwischen Bund und Ländern zu sehen. Es geht dem Bundesstaat des Grundgesetzes danach also um möglichst weitgehende demokratische Teilhabe des Bürgers, und in diesem Sinne ist er freiheitlicher Bundesstaat. Richtig wird darum ebenfalls der Gedanke des Staatsaufbaus von unten nach oben in den Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip gestellt und besonders die allgemeine Kompetenzregel des Artikel 30 GG (neben Artikel 28 Abs. 2 GG) auch als Ausdruck dieses Gedankens verstanden37. Nicht die fruchtlose Alternative: Wettbewerbsföderalismus oder unitarischer Bundesstaat, die im Übrigen letztlich mit an das Grundgesetz herangetragenen generellen Begriffen (Deutungen) arbeitet, liefert darum den entscheidenden verfassungsrechtlichen Maßstab für eine offensichtlich erforderliche Bundesstaatsreform, sondern – wie hier nur kurz gezeigt werden konnte38 – der vom Grundgesetz gewollte freiheitliche Bundesstaat. 5.
Die Gewährleistung der Freiheit unseres Daseins in kontingenter geschichtlicher Identität als besondere Legitimation des deutschen Bundesstaates und Maßstab für seine Entwicklung
Eine genauere verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Autonomiegedankens und damit auch ein weitergehender Maßstab für jede Bundesstaatsreform folgt aus der Tatsache, dass gemäß Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG für den Zuschnitt der Länder u. a. »die landsmannschaftliche Verbundenheit« sowie die »geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge« zu »berücksichtigen« sind. Denn damit bringt die Verfassung auch ein bestimmtes Föderalismusverständnis zum 37 Anders für Artikel 30 GG schon sehr früh Friedrich Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. II (2. Aufl. 1964), Artikel 30, Anm. III.3, der diese Vorschrift lediglich als eine »subsidiäre« Zuständigkeits-Generalklausel verstand. Dieses Verständnis dürfte sich wohl kaum mehr aufrechterhalten lassen, wenn – wie hier kurz angedeutet (s. Anm. 36) – die letzte verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die sachliche Autonomie der Länder in Artikel 1 Abs. 1 GG zu sehen ist. Zum Verständnis des Artikels 28 Abs. 2 GG als inhaltlicher Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips s. etwa Albert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts (1990), S. 129 ff. Aus der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Europäischen Union auf den »Grundsatz der Subsidiarität« (Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 GG) folgert Thomas Oppermann (Subsidiarität als Bestandteil des Grundgesetzes, JuS 1996, S. 569/571, 573) m. E. zu Recht eine (indirekte) Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips als allgemeinen Maßstab für die Verteilung der Kompetenzen im Bundesstaat durch das Grundgesetz. Oppermann (a. a.0., S. 571) versteht auch ganz i. S. der hiesigen Darlegungen Artikel 30 GG als (indirekte) Garantie des Subsidiaritätsprinzips, das durch die Artikel 70, 72, 83 ff. und 92 GG konkretisiert wird. Eine ähnliche Folgerung zieht Benedikt P Kuttenkeuler (Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1999, S. 164, 169 f.) aus der Garantie des Subsidiaritätsgrundsatzes in Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 GG. 38 Zusammenfassend zum Begriff der Autonomie als auch für die Deutung des deutschen Bundesstaates entscheidender »verfassungstheoretischer Basiswert«: Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes (2002), S. 7 ff., 340 ff., 452 ff., 562 f., 594 f., 597.
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Ausdruck39. Um die Länder »als selbständige Zentren demokratisch legitimierter politischer Entscheidung« zu rechtfertigen, bedarf es eben, wie besonders Scheuner wiederholt hervorgehoben hat, »im Bundesstaat des Moments regionaler oder gruppenmäßiger Individualität, ohne das die eigentlichen Spannungen des föderativen Gefüges nicht bestehen können. Sieht man im Bundesstaat nur mehr ein Mittel der Gewaltenteilung des Gesamtstaates, so rückt er dem dezentralistischen Einheitsstaat schon sehr nahe«40.
Auf eine Kurzformel gebracht, kann gesagt werden, dass durch Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG »Integration als Rechtswert auf Landesebene« anerkannt wird41. Dass in diesem Kontext die in Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG ebenfalls genannten »Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung« auch interpretiert werden können und müssen42, zeigt schon die Überlegung, dass die Maßstäbe der »landsmannschaftlichen Verbundenheit« sowie der »geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge« im Wesentlichen auf »raumabhängige Kriterien« abstellen, die es nahe legen, »bodenständige Staatsaufgaben« wie »Landschaftspflege, Naturschutz, Denkmalschutz, Bewahren städtischer Ensembles, Musealisierung wie Entwicklung der Kultur vor Ort«43 als genuine Landesaufgaben anzuerkennen. Denn der
39 So etwa auch: Peter Häberle, Rezension, in: AöR 122 (1997), 320 (321 – Hervorhebung dort), wo er von einer (notwendigen) »Auslotung des Art. 29 GG von einer Bundesstaatstheorie her« spricht und davon, »dass die Richtbegriffe des Art. 29 eine ›Philosophie‹ des Föderalismus enthalten.« Vertiefend dazu ders.: Die Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen im Kontext Deutschlands und Europas, JZ 1998, 57 (61 ff.). Daneben Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV (1990), S. 517 (687): Die Zielvorgaben der Neugliederung des Bundesgebietes schließen »eine Teleologie des Föderalismus« ein; sie enthalten »ein Programm radizierter Legitimation aus der Vielfalt und Besonderheit der Länder.« 40 So Ulrich Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart (1962), in ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften (1978), S. 415 (427); ähnlich ders., Wandlungen im Föderalismus der Bundesrepublik (1966), a. a. O., S. 435 (437 mit Anm. 8, 452). Siehe aber auch den Hinweis von Jürgen Salzwedel (Diskussionsbeitrag in VVDStRL 21, 1964, 132 f.), dass der Gesichtspunkt der vertikalen Gewaltenteilung, der den Föderalismus/Bundesstaat (auch) zu rechtfertigen vermag, durchaus mit dem Gedanken zu vereinbaren ist, dass »es Föderalismus ohne einen politisch-historischen Ausgangspunkt nicht geben kann.« Der »Sinn der Gliedstaatlichkeit« sei es gerade, dass »die nationalen Eigenarten der Bevölkerungsgruppen vor zentralstaatlicher Gleichmacherei bewahrt werden.« 41 So Wolfgang Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und gemeindliche Gebietsgestaltung (1976), S. 83, genauer dazu S. 71 ff., 80 ff. 42 Zu ihrem allgemeinen Inhalt: Johannes Dietlein, Kommentierung des Artikel 29 GG (2002), in: Bonner Kommentar (Anm. 8), Rn. 41. 43 So richtig Isensee, Idee (Anm. 39), S. 687.
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»Föderalismus institutionalisiert in den Ländern einen Minderheitenschutz eigener Art, der als raumgebundene Freiheit das Recht umhegt, ›anders zu bleiben‹. Überhaupt gewinnt die Freiheit, die in den Grundrechten und im Rechtsstaat abstraktuniversales Prinzip ist, im Bundesstaat die konkrete Dimension des Raumes, der die föderative Freiheit prägt und bedingt«44.
Bedenkt man, dass in Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG neben dieser »raumgebundenen Freiheit« auch die Kulturhoheit der Länder als solche als für ihre Identität (und damit auch für das Verständnis der regionalen Freiheit) konstitutiv angesprochen wird45, so sind damit schon wesentliche verfassungsrechtliche Maßstäbe für die (Gesetzgebungs-)Kompetenzen der Länder benannt. Darauf ist unter 7. noch genauer einzugehen. Zur hier behandelten Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Bundesstaates und dem für ihn verbindlichen Maßstab lässt sich aber schon jetzt zusammenfassend sagen, dass seine Aufgabe nicht nur in der Gewährleistung autonomer demokratischer Freiheit besteht, sondern auch (und aus der Sicht der Länder : besonders) in der Gewährleistung der entscheidenden Voraussetzung für autonome Entscheidungen, die eben in der Bewahrung »der Freiheit unseres Daseins in kontingenter geschichtlicher Identität«46 besteht. Dass so gesehen primär die deutschen Bundesländer ebenfalls Bewahrer eines richtig verstandenen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls sind, weil ja bekanntermaßen der deutsche Nationalbegriff historisch gesehen (und auch heute angesichts der europäischen Entwicklung wieder) kein politischer, sondern grundsätzlich ein geschichtlichkultureller ist47, sei nur am Rande erwähnt48. 44 So Isensee, Idee (Anm. 39), S. 652 (Hervorhebung A. J.); s. auch noch einmal das hier in Anm. 40 wiedergegebene Zitat aus einem Diskussionsbeitrag von Jürgen Salzwedel. 45 Siehe dazu besonders Häberle, Zukunft der Landesverfassung (Anm. 39), S. 60, 61; vgl. daneben ders.,Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten – in Europa, Die Verwaltung 25 (1992), S. 1(8 – Hervorhebung dort): »die Kulturhoheit bildet das Reservat der Gliedstaaten – ›Kultur‹ … Gerade weil sich die Wirtschaftsräume heute immer mehr vergrößern, egalisieren, ja globalisieren, lebt die räumliche Gliederung aus den kulturellen Identitäten, Eigenheiten und Entwicklungen vor Ort im Kleineren, wurzeln hier die Kräfte und Bereiche, in denen sich die Bürger wiedererkennen und selbst finden.« 46 So Hermann Lübbe, Politischer Historismus. Zur Philosophie des Regionalismus (1979) in: ders., Philosophie nach der Aufklärung (1980), S. 143 (156). 47 Siehe dazu zusammenfassend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert (1963), S. 75 ff. und weiterführend ders., Die Nation. Identität und Differenz, Universitas 10 (1995), S. 974 ff.; s. daneben Ernst-Rudolf Huber, Nationalstaat und supranationale Ordnung (1964), in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat (1965) S. 277 (278 – Hervorhebungen dort): »Das Wesentliche am Nationalbewusstsein ist das nationale Geschichtsbewusstsein und das nationale Kulturbewusstsein«. 48 Man hat dann aber zu beachten, dass die Länder Idee und Begriff der Nation nicht auf eine in ihnen selbst liegende Eigenschaft zurückführen können; sie aber gleichwohl bei ihrer Rechtssetzung wie bei jeder anderen Ausübung staatlicher Gewalt von einer nationalen
334
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
III.
Reformvorschläge zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern
6.
Die notwendige Verabschiedung der Gesetzgebungskategorien »konkurrierende Gesetzgebung« und »Rahmengesetzgebung«
a) Nachdem, wie gezeigt (s. 2.), die Rechtssetzung der Europäischen Union in weitem Umfang namentlich in der Form von Richtlinien jene Koordinierungsfunktion übernommen hat, die hier als wesentliche Aufgabe des Artikel 72 Abs. 2 GG angesehen wurde, und nachdem die Gesetzgebungspraxis des Bundes unter dem Grundgesetz – durch eine entsprechende Verfassungsrechtsprechung bis vor kurzer Zeit kaum wirksam begrenzt – die vom Grundgesetz gewollten Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesetzgebungskategorien weitgehend verwischt hat, ist es m. E. an der Zeit, für die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes nur noch einen Katalog der ihm ausschließlich zustehenden Gesetzgebungskompetenzen zu fordern49. Aus europäischer Sicht spricht dafür auch – das wurde ebenfalls bereits erwähnt –, dass die Europäische Union mit Rücksicht auf viele kleinere Mitgliedsstaaten dieser Koordinierungsfunktion mit einer (aus der Sicht Deutschlands z. T. problematischen) erheblichen Regelungstiefe ihrer Rechtssetzung und deren ständiger thematischer Ausweitung nachkommt. Dass die bei der Bindung ausgehen müssen. Das ist m. E. auch der wesentliche Inhalt der aus dem Rechtsgrundsatz der »Bundestreue« ableitbaren Pflichten der Länder (wie des Bundes). Zum kirchenrechtlichen Versuch, das Verhältnis von Partikularkirche und Universalkirche weitgehend dementsprechend zu bestimmen, s. Dietrich Pirson, Universalität und Partikularität der Kirche (1965), bes. S. 268 ff. und ders., Die protestantischen Kirchen im universalkirchlichen Zusammenhang, in: Universalität und Partikularität in der Kirche (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 37) 2003, S. 23 (28 ff.). In diesem Kontext lässt sich auch eine bleibende Bedeutung der Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes ausmachen, s. dazu meinen 2005 in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanist. Abt.) erscheinenden Aufsatz: Die bleibende Bedeutung des Genossenschaftsrechts Otto von Gierkes für die Rechtswissenschaft (dort unter III.3.). 49 So zuletzt auch die von Jörg-Uwe Hahn (MdL) der Bundesstaatskommission vorgelegten Vorschläge der FDP-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen zur Föderalismusreform »Motor für Wettbewerb und Subsidiarität« (= Kommissionsdrucksache 0058), S. 3 ff., 6 ff. Dem Vorwurf der »Rigidität und fehlenden Flexibilität« eines solchen Modells begegnen die FDP-Fraktionsvorsitzenden mit dem Argument (S. 4 f.), dass »in seltenen Fällen berechtigten Strebens nach länderübergreifenden Regelungen – z. B. dem Interesse der Küstenländer an inhaltsgleichen Gesetzen zum Küstenschutz – das Instrument des Staatsvertrages oder auch die Vereinbarung von Mustergesetzentwürfen zur Verfügung stehen«. Auch der ebenfalls der Bundesstaatskommission zugeleitete Beschluss der Fraktionsvorsitzenden von CDU und CSU der deutschen Landesparlamente (= Kommissionsdrucksache 0048, S. 11) stimmt weitgehend mit der hier vertretenen Forderung überein, behält den Ländern aber grundsätzlich ein »Zugriffsrecht« für bestimmte Materien vor (dagegen hier sogleich im Text) und ist deshalb in den hier unter 8. gemachten Vorschlägen für eine Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen nicht berücksichtigt.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
335
Umsetzung europäischen Rechts auftauchenden innerstaatlichen Kompetenzfragen ebenfalls für die hier vertretene Lösung sprechen, sei auch noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. b) Gegen die so stark in der gegenwärtig tagenden Bundesstaatskommission favorisierte Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung als einer letztlich neuen Gesetzgebungskategorie50 ist zunächst die Systematik des Artikels 72 Abs. 1 und 2 GG ins Feld geführt worden. Dieser Vorschlag, so hat man argumentiert, »stellt die Regel des Art. 72 Abs. 1 GG auf den Kopf; geschaffen wird ein Bereich der Rechtsordnung, in dem Landesrecht in Umkehrung des Art. 31 GG Vorrang vor parallelem Bundesrecht erhält; die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG verliert ihren Sinn, denn in dem Maße, in dem die Länder das Recht zur jederzeitigen Abweichung von Bundesrecht erhalten, kann vom Bundesgesetzgeber nicht mehr verlangt werden, dass er die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung darlegt«51.
Entscheidender noch als dieses Argument spricht m. E. gegen die Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung, dass Artikel 72 GG als Ausdruck des für die Kompetenzabgrenzung im Grundgesetz verbindlichen Subsidiaritätsprinzips zu verstehen ist. Dementsprechend geht die genannte Vorschrift für die konkurrierende Gesetzgebung von alternativen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern aus: entweder der Bund oder die Länder besitzen im konkreten Fall die Kompetenz zur Gesetzgebung nach Artikel 72 GG. Der Bund kann insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht – wie es nach der Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung ja möglich wäre – für sich Gesetzgebungskompetenzen beanspruchen, die die Länder allein sinnvoll wahrzunehmen in der Lage sind. Dieses insofern »starre Prinzip« des Artikels 72 GG belegt auch der Umstand, dass im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nicht im Hinblick auf die insoweit möglicherweise unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Länder differenziert wird. Indirekt bestätigt der Wortlaut des Artikels 29 Abs. 1 Satz 1 GG diese Sichtweise. Denn er hält ja eine Neugliederung des Bundesgebietes dann für angezeigt (und unter Umständen für geboten52), wenn die Länder »nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben« – und damit auch die Aufgabe der Gesetzgebung – nicht (mehr) »wirksam erfüllen können«53. 50 So auch Markus Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern – Hintergrund, Stand und Bewertung der aktuellen Reformdiskussion, ZG 18 (2003), 297 (303) und Volker Haug, Die Föderalismusreform, DÖV 2004, S.190 (194). 51 So Möstl, a. a.0., 303; ganz ähnlich wiederum Haug, a. a.0., 194 und das Papier der FDPFraktionsvorsitzenden in den Landtagen (Anm. 49), S. 5 f. 52 So zumindest Christoph Degenhart, Verfassungsfragen der deutschen Einheit, DVB1. 1990, 973 (980) für besondere Fallkonstellationen. 53 Dietlein (Anm. 42), Rn. 36 stellt demgemäß fest: »Eine weitere Facette des Begriffs der Leistungsfähigkeit stellt nach h. M. schließlich die ›politische‹ sowie die ›administrative‹ Leistungsfähigkeit dar«.
336
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Eine Länderneugliederung und nicht die Einführung einer Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung wäre also so gesehen i. S. des Grundgesetzes die richtige Antwort auf das eventuelle Unvermögen einzelner Bundesländer, ihre entsprechenden gesetzgeberischen Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen. Man müsste deshalb die Einführung dieser neuen Gesetzgebungskategorie als einen Versuch bewerten, sich um die Frage der Länderneugliederung »herumzudrücken«. Zuzugeben ist allerdings, dass ein entsprechender »Umgehungstatbestand« schon heute in der Regelung des § 11 Abs. 4 FAG vorliegt. Denn nach dieser Vorschrift erhalten ja Länder mit einer besonders geringen Bevölkerungszahl Bundeszahlungen für die Kosten »politischer Führung«, d. h. die (eventuellen) »Mehrkosten der Kleinheit« werden durch Bundesergänzungszuweisungen aufgefangen, statt u. a. auch aus diesem Grund über die Notwendigkeit einer Neugliederung nachzudenken»54. Auf dieses Problem ist später noch genauer einzugehen (10.). Neben diesen dogmatischen Argumenten sprechen gegen eine Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung auch wesentliche rechtspraktische Gründe55. Denn der teilweise und zudem wohl unterschiedlich intensive entsprechende gesetzgeberische Zugriff der einzelnen Länder hätte ein unsystematisches Nebeneinander von bundes- und landesrechtlichen Regelungen (ohne die Möglichkeit einer klaren Zurechenbarkeit für diese unerfreuliche Rechtslage) zur Folge. Das würde natürlich auch die Umsetzung der thematisch einschlägigen europäischen Richtlinien weiter erschweren. c) Ist demnach diese neue Gesetzgebungskategorie grundsätzlich abzulehnen, so bleibt die Frage, wie denn eine gewisse Elastizität der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich der Gesetzgebung gewährleistet werden kann. Dazu ist auch unter Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip vorgeschlagen worden, in den Fällen des Artikel 72 Abs. 3 und Artikel 125 a Abs. 2 GG den Ländern ein entsprechendes Zugriffsrecht zuzusprechen und die weitgehende Einräumung von einfachgesetzlichen Öffnungs- und Experimentierklauseln dem Bundesgesetzgeber möglicherweise sogar verfassungsrechtlich aufzugeben56. 54 Deutlich gesehen wird dieser Zusammenhang von Hans Herbert v. Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 10), S. 82 ff., vgl. auch S. 56 ff. Im Übrigen empfiehlt sich m. E. aus den genannten Gründen zwar nicht für den deutschen Bundesstaat, wohl aber für die Europäische Union die Gesetzgebungskategorie der Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung. Denn dort lassen sich die Leistungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in der Rechtssetzung und das unterschiedliche Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung nicht durch Neugliederungsmaßnahmen beseitigen. Die Einführung der genannten Gesetzgebungskategorie auf europäischer Ebene könnte m. E. sogar unter Hinweis auf das auch in der Europäischen Union geltende Subsidiaritätsprinzip gefordert werden. 55 Zum Folgenden Möstl (Anm. 50), S. 303 ff. und Haug (Anm. 50), S. 194. 56 So auch Möstl (Anm. 50), S. 305 ff.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
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Gegen beide Vorschläge sprechen nun allerdings wiederum zumindest die rechtspraktischen Gründe, die hier gegen die Vorrang- oder Zugriffsgesetzgebung ins Feld geführt wurden57. Sieht man – wie hier geschehen – besonders wegen der Entwicklung des europäischen Rechts die Klarheit und Einfachheit der Kompetenzverteilung im Bereich der deutschen Gesetzgebung als ein entscheidendes Reformziel an, so wird man auch deshalb derartigen Vorschlägen mit grundsätzlicher Skepsis begegnen.
7.
Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat als wesentlicher Grund für die Forderung nach einem Katalog für die besonderen Gesetzgebungskompetenzen der Länder
a) Für die die These von der Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat58 haben die bisherigen Erörterungen einige Argumente geliefert. Zunächst wurde deutlich, dass durch Artikel 79 Abs. 3 GG bestimmte, auch inhaltlich fixierbare Gesetzgebungskompetenzen der Länder geschützt sind (1.). Daneben zeigten die Überlegungen zum aus Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Föderalismusverständnis (5.), dass diese Vorschrift von einem bestimmten »bodenständigen« und auf die Pflege der Kultur ausgerichteten Aufgabenbereich der Länder ausgeht, der auch einer entsprechenden Landesgesetzgebung offen steht. Weiter ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die Kernaufgaben der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften Rückschlüsse auf den Ländern sinnvoller Weise zustehende Gesetzgebungskompetenzen zulassen59. Es ist aber nicht nur die insoweit vorhandene thematische Fixierung der den Ländern zustehenden Gesetzgebungskompetenzen, die die These von den sog. Residualkompetenzen der Länder in diesem Bereich fragwürdig macht. Hinzu kommen nämlich vereinzelte Bestimmungen des Grundgesetzes, die »ausdrücklich von gegenständlich bestimmten Gesetzgebungskompetenzen der Länder sprechen«60. Als 57 So auch P. M. Huber, Gutachten (Anm. 27),D 57. 58 Sie wird in neuerer Zeit explizit namentlich von Markus Heintzen vertreten, s. ders.: Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat (Manuskript 1993), S. 349 ff.; Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat, DVBI. 1997, 689 ff.; Kommentierung des Artikels 70 GG (Anm. 8), Rn. 69 ff. 59 Das zeigen übersichtlich die Ausführungen von Hubert Meyer, Klare Verantwortungsverteilung von Bund, Ländern und Kommunen? (Manuskript des Referats zum 65. Deutschen Juristentag) dort unter III 3. b. (S. 16 ff.). 60 So Heintzen, Kommentierung des Artikels 70 (Anm. 8), Rn. 74 unter Hinweis auf »Artikel 23 Abs. 4, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 Satz 1, Artikel 98 Abs. 3 Satz 1, Artikel 105 Abs. 2 a, Artikel 106 Abs. 6 Sätze 4 und 6 sowie Abs. 7, Artikel 135 Abs. 7, Artikel 140 (i. V. m. Artikel 137 Abs. 8 und Artikel 138 Abs. 1 Satz 1 WRV) und, besonders deutlich, Artikel 115 c Abs. 1.«
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
»ausdrückliche Kompetenzzuweisungen an die Landesgesetzgeber sind daneben die Vorschriften über Rahmen- und Grundsatzgesetzgebung des Bundes und, im Hinblick auf eine Untätigkeit des Bundesgesetzgebers, mittelbar auch diejenigen über die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes« zu verstehen, »denn bei ihnen allen wird eine Gesetzgebung der Länder in gegenständlich bestimmten Bereichen zugelassen, zum Teil sogar gefordert«61.
Schließlich unterstützt der schon erwähnte Artikel 79 Abs. 3 GG auch deshalb diese Sicht, weil aus dem in Artikel 20 Abs. 1 GG und dieser Vorschrift niedergelegten Bundesstaatsprinzip folgt, dass Bund und Länder Staaten sind und die Länder als Staaten nur dann »Identität … gewinnen« können, wenn »sie mit der Wahrnehmung bestimmter Staatsaufgaben dauerhaft und aus eigenem Recht betraut sind. Folglich muss den Ländern ein bestimmtes Maß an eigenen Gesetzgebungszuständigkeiten zukommen, und muss dieses Maß eine gewisse Stabilität und Typzität aufweisen. Die Länder dürfen nicht auf nackte Organisationseinheiten reduziert werden, denen der Bund jede beliebige Aufgabe überlassen darf, vorausgesetzt, er überlässt ihnen überhaupt ein Minimum an Aufgaben. Eine reine Residualkompetenz, die jedes Betätigungsfeld der Landesstaatsgewalt der Kompetenz – Kompetenz des Bundes unterstellt, ist mit der verfassungskräftigen Gewährleistung der Ländereigenstaatlichkeit unvereinbar«62.
So richtig diese gesamte Argumentation ist, so darf m. E. doch nicht übersehen werden, dass ihr ein ganz bestimmtes Verfassungsverständnis zugrunde liegt, nach dem das Grundgesetz als verbindliche Verfassung des Bundes und der Länder anzusehen ist, – mit der Folge, dass die für Bund und Länder bestehenden Hoheitsrechte als unmittelbar durch das Grundgesetz selbst begründet verstanden werden müssen63. b) Kann man nun aber nach dem Gesagten davon ausgehen, dass die Kompetenzzuweisungen des Grundgesetzes im Bereich der Gesetzgebung beidseitig erfolgt sind, so stellt sich angesichts des geschilderten starken Verlusts an Gesetzgebungskompetenzen, den die Länder dennoch insoweit erlitten haben (s. dazu 1.), die (Reform-)Frage, ob das Grundgesetz nicht zumindest die Kernkompetenzen der Länder ausdrücklich (und nicht nur – wie bisher – indirekt) in einem besonderen Katalog benennen sollte. Es ist ja eine alte Erfahrung im Streit um Kompetenzen, dass derjenige eine stärkere Position besitzt, der die von ihm 61 So wiederum Heintzen, a. a. O. (Anm. 60). 62 So Heintzen, Beidseitigkeit (Anm. 58), S. 692. 63 So m. E. nach wie vor überzeugend Günther Barbey, Bundesrecht bricht Landesrecht, DÖV 1960, S. 566 ff. Dementsprechend ist für die Landesgesetzgebung festgestellt worden, dass »Geltungsgrundlage gesetzgeberischer Tätigkeit auf Landesebene, was Umfang und Inhalt der einer Regelung zugänglichen Materien angeht, nicht die Landesverfassung, sondern das Grundgesetz ist«, so Jochen Rotzek, Das Grundgesetz als Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte (1993), S. 132, vertiefend – auch zur verfassungsgebenden Gewalt der Länder –: S. 33 ff., 133 ff.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
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beanspruchten ausdrücklich benennen kann64. Der Rechtsanwender wird damit auch, wie richtig gesagt worden ist, »auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Kompetenzfrage nicht allein anhand der Kompetenztitel des Bundes, sondern durch Abwägung mit den benannten Kompetenztiteln der Länder nach den geläufigen verfassungsgerichtlichen Grundsätzen der ›praktischen Konkordanz‹ zu beurteilen«65.
Gerade für die durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Gesetzgebungskompetenzen der Länder liegt eine solche Konkretisierung in einem besonderen Katalog deshalb nahe, weil dann ja gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 GG dieser so konkretisierte Schutz des Artikels 79 Abs. 3 GG zugunsten der Länder auch gegenüber bestimmten Änderungen oder Ergänzungen des europäischen Primärrechts greifen würde. Für die Beschränkung eines solchen Katalogs auf die durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Kernkompetenzen der Länder im Bereich der Gesetzgebung spräche m. E., dass auf diese Weise die Offenheit der den Ländern zustehenden Gesetzgebungskompetenzen für neuere Entwicklungen grundsätzlich gewahrt bleibt66. 8.
Der Inhalt der beiden verbleibenden Kataloge für die Gesetzgebungskompetenzen
Die vielen, besonders in der zur Zeit tagenden Bundesstaatskommission diskutierten Vorschläge zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern beruhen nach meinem Eindruck häufig auf sehr kurzfristigen, unter dem Druck der gegenwärtigen Probleme bestimmten Überlegungen. Ich orientiere mich deshalb bei den folgenden inhaltlichen Vorschlägen für die beiden hier geforderten Kompetenzkataloge vor allem an entsprechenden Vorarbeiten der Konferenz der deutschen Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten. Sie besitzen nämlich den Vorteil, dass sie das Ergebnis einer schon über 20 Jahre währenden kontinuierlichen Diskussion auf der Basis praktischer parlamentarischer Erfahrungen sind und darum nicht nur auf die aktuelle Problemlage bezogene, sondern dauerhafte Lösungen anstreben. a) Was nun den Inhalt des die (ausschließlichen) Gesetzgebungskompetenzen 64 Darauf weist zurecht Heintzen hin: Beidseitigkeit (Anm. 58), S. 689 f.; Kommentierung des Artikels 70 (Anm. 8), Rn. 73. 65 So Albert Janssen, Wege aus der Krise des deutschen Bundesstaates, ZG Sonderheft 2000, S. 41 (49) mit Nachweisen. 66 Ein Regelungsmodell für einen solchen Katalog findet sich in einem Diskussionspapier der Präsidenten der deutschen Landesparlamente, es ist veröffentlicht in: Stärkung des Föderalismus (Sonderheft der ZG 2000), S 35 ff.; daselbst auch mein Kommentar dazu auf S. 49 f. Allerdings beschränkt sich dieser Katalog letztlich wohl nicht auf die durch Artikel 79 Abs. 3 geschützten Kernkompetenzen der Länder.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
des Bundes betreffenden Katalogs betrifft, so geht es im Folgenden allein darum, jene Gesetzgebungsmaterien aus den Katalogen der Artikel 74 Abs. 1, Artikel 74 a Abs. 1 und Artikel 75 Abs. 1 GG zu benennen, die nicht mehr dem Bund zustehen sollen, sondern ganz oder z. T. in die Kompetenz der Länder zu überführen sind. Durchmustert man unter dieser Fragestellung die genannten Kataloge, so führt das im Ergebnis zu einem starken Rückgang der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes mit z. T. positiven Auswirkungen auf die Gesetzgebungskompetenzen der Länder. Das ist eine notwendige Folge des geschilderten weitgehenden Übergangs der bisher von der Bundesgesetzgebung geleisteten Koordinierungsfunktion auf die Rechtssetzung der Europäischen Union und der hier dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, die ja auch eine genauere inhaltliche Fixierung der den Ländern zukommenden Gesetzgebungskompetenzen durch das Grundgesetz (s. besonders 7. a) zuließen. Konkret sollten folgende, bisher der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterstehende Materien mindestens z. T. in die Gesetzgebungskompetenz der Länder übergehen: (1) Materien des besonderen (Polizei-) und Ordnungsrechts: das Versammlungsrecht67 und aus dem Recht der Abfallbeseitigung die Regelung zur Beseitigung von gewöhnlichem Hausmüll, Gartenabfällen und Bauschutt68. (2) Raumbezogene bzw. »bodenständige Staatsaufgaben« (Isensee)69 : die Raumordnung70 ; das Jagdwesen71; der Naturschutz und die Landschaftspflege (mit
67 Artikel 74 Abs. 1 Nr. 3 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 12; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; das der Bundesstaatskommission vorgelegte Positionspapier der Ministerpräsidenten (= Kommissionsdrucksache 0045), S. 12 und das der Bundesstaatskommission zugeleitete Papier der Landtagspräsidenten: Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern (Kommissionsdrucksache 0038), S. 5. 68 Artikel 74 Abs. 1 Nr. 24 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 17 i. V. m. S. 19; FDPFraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; Bundesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen (BACDJ), Berliner Programm zur Reform des Föderalismus vom 13. 06. 2003, abgedruckt in: Hrbek/Eppler (Hrsg.), Deutschland vor der Föderalismusreform (2003), S. 65 (69, 70, 73 f.); Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 14 f. 69 Siehe den Nachweis in Anm. 43. 70 Artikel 75 Abs. 1 Nr. 4 GG. Siehe dazu den Vorschlag der FDP-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; ähnlich: Berliner Programm zur Reform des Föderalismus (Anm. 68), S. 69, 71, 74: Verneinung der Bundeskompetenz für die Raumordnung nach Artikel 75 Abs. 1 Nr. 4 GG mit dem ergänzenden Hinweis (S. 74), »Ob die Länder weiterhin Raumordnung betreiben wollen, bleibt ihnen überlassen. Die in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit diesem Instrument verbundenen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Gute Fachplanungen reichen aus.« 71 Artikel 75 Abs. 1 Nr. 3 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 19; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 71; Po-
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Ausnahme des Artenschutzes)72 ; das Baurecht, das Bodenrecht und das Wohnungswesen«;73 der Bergbau74 ; das Straßenrecht (mit Ausnahme der Bundesstraßen des Fernverkehrs)75. (3) Schul- und Hochschulwesen: Hochschulrecht76 ; die außerschulische berufliche Bildung77; die Ausbildungsbeihilfen78 ; die Förderung der nicht länderübergreifenden Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung79. (4) Soziales/Daseinsvorsorge: der öffentliche Personennahverkehr80 ; Recht der öffentlichen Fürsorge81; die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze82.
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sitionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 12; Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 19 f. FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 20. Im Diskussionspapier (Anm. 66) heißt es insoweit einschränkend (und zugleich den hiesigen Standpunkt indirekt bestätigend) auf S. 19: »Diese Materie gänzlich aus der Rahmenkompetenz herauszunehmen, stößt deshalb auf Bedenken, weil es bestimmte Bereiche wie z. B. den allgemeinen Artenschutz gibt, die bundeseinheitliche Vorgaben verlangen.« Artikel 74 Abs. 1 Nr. 18 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 15 und die vertiefende Begründung durch Wiechert (Anm. 16), S. 241 ff.; daneben FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; weitgehend ebenso Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 11 f. und für das Wohnungswesen auch Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 6. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 13; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 7. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 22 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 16 i. V. m. S. 11; FDPFraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7. Artikel 75 Abs. 1 Nr. 1 a GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 18 f.; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; Berliner Programm (Anm. 68), S. 68, 71, 74; teilweise so auch: Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 8 und Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 18. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG. Nicht so deutlich Diskussionspapier (Anm. 66), S. 13 i. V. m. S. 19 (Rahmenkompetenz des Bundes); wie hier etwa: Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 70, 73; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 9 und Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 8. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 13 GG. Siehe dazu auch: Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 70, 73; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 8 f. und Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 10. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 13 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 14; FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 70, 73; Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 10. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 22 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 66), S. 16. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Siehe dazu auch Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 70, 73; FDPFraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 6; Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 6 f. und Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 6 f. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 a GG. Siehe dazu auch Berliner Programm (Anm. 68), S. 69, 70, 73 und FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7. Im Diskussionspapier
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
(5) Öffentliches Dienstrecht: das für die Länder geltende öffentliche Dienstrecht (einschließlich des Besoldungs- und Versorgungsrechts der Landesbeamten)83. (6) Medien: die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse84.
b) Was die durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Kernkompetenzen der Länder im Bereich der Gesetzgebung betrifft, so müssen zunächst jene Materien dazu gezählt werden, die für ihre verfassungsrechtlich garantierte Staatlichkeit konstitutiv sind. Daneben legen unsere Überlegungen zur Bedeutung des Artikels 29 Abs. 1 Satz 2 GG für das Föderalismusverständnis des Grundgesetzes (s. 5.) die Folgerung nahe, dass die sich daraus ergebenden wesentlichen »raumbezogenen« Aufgaben der Länder (und ihrer kommunalen Selbstvewaltungskörperschaften) ebenfalls zum Kernbereich der durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu zählen sind. Folgende Materien sollten m. E. demnach in den vorgeschlagenen Katalog über die wichtigsten Gesetzgebungskompetenzen der Länder aufgenommen werden: die Regelungskompetenz für die eigene Staatsorganisation, das Kommunalrecht, das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, das Schul- und Hochschulwesen, die Medien (einschließlich der Presse) sowie das Bau- und Bodenrecht. 9.
Forderungen für eine erweiterte Steuergesetzgebungskompetenz der Länder
Da in einem besonderen Referat die Reformbedürftigkeit der Finanzverfassung genauer untersucht wird, beschränke ich mich insoweit auf Hinweise, die sich aus dem hier dargelegten Autonomiegedanken für die Kompetenz der Länder zur Steuergesetzgebung ergeben85. (Anm. 66), S. 16 i. V. m. 20 wird nur »die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser« in eine Rahmenkompetenz überführt, während das Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67, S. 12) sich insoweit für eine Verlagerung in die Gesetzgebungskompetenz der Länder ausspricht. 83 Artikel 74 a Abs. 1 und Abs. 4 GG, Artikel 75 Abs. 1 Nr. 1 GG. Siehe dazu Berliner Programm (Anm. 68), S. 67 f., 71, 74; teilweise so auch: FDP-Fraktionsvorsitzende in den Landtagen (Anm. 49), S. 7; Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 5 f. und Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 17 f. 84 Artikel 75 Abs. 1 Nr. 2 GG. Siehe dazu Diskussionspapier (Anm. 82), S. 19; Berliner Programm (Anm. 74), S. 68 f., 71, 74; Positionspapier der Ministerpräsidenten (Anm. 67), S. 10; Papier der Landtagspräsidenten (Anm. 67), S. 19. 85 Zu den vielen entsprechenden Vorschlägen s. zuletzt P. M. Huber, Gutachten (Anm. 27), D 75 f. und Stefan Korioth, Klare Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen in der Finanzverfassung (2004), Manuskript, S. 15 ff. (= III. 4.); s. daneben Stefan Homburg, Stellungnahme zur Anhörung der Bundesstaatskommission am 11. 3. 2004 (= Kommissionsdrucksache 0024), dort bes. S. 10 ff. Im Jahr 2000 hat die Landtagspräsidentenkonferenz
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Der verfassungsrechtlich fundierte Autonomiegedanke (s. 4.) ist nicht nur für die Verteilung der »allgemeinen« Gesetzgebungskompetenzen verbindlich, sondern in gleicher Weise für die Kompetenzverteilung in der Steuergesetzgebung86. Besonders für die Länder gilt nach heutigem Recht in diesem Bereich nun aber nicht der aus dem Autonomiegedanken folgende Grundsatz, dass »die Körperschaft, die öffentliche Ausgaben veranlasst, (erg.: möglichst) auch selbst über die Steuern und sonstigen Abgaben beschließen sollte, die zur Deckung dieser Ausgaben erforderlich sind«87. Auf die Frage, wie man nun diesem Leitbild durch entsprechende verfassungsrechtliche Reformen gerecht werden kann, gibt es zahlreiche Antworten88. Über deren Richtigkeit – auch unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und Durchsetzbarkeit gesehen – soll hier nicht entschieden werden. Als vorläufiges Ergebnis der bisherigen Diskussion lässt sich allerdings wohl Folgendes festhalten: Sinnvoll wäre zunächst eine verfassungsrechtliche Regelung, nach der die Länder die Höhe ihres Anteils an der Lohn- und Einkommenssteuer (einschließlich der Körperschaftssteuer) innerhalb bundesrechtlich festgelegter Grenzen selbst bestimmen können, zumal der insoweit zu erzielende Steuerertrag ganz wesentlich von der Wirtschaftskraft eines Landes (und seiner Kommunen) abhängt89. Daneben ist zu fordern, dass die Länder in Zukunft auch (mehr) Steuern in eigener Verantwortung regeln sollten, wobei dafür wohl am ehesten die örtlichen Aufwand- und Verbrauchssteuern sowie Steuern, deren Ertrag den Ländern ausschließlich zusteht, in Betracht kommen90. Dass im Grunde aber darüber hinaus besonders die Arti-
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90
einen vollständigen Reformentwurf zur Finanzverfassung des Grundgesetzes vorgelegt, s. Diskussionspapier (Anm. 66), S. 23 ff. und meinen Kommentar dazu (a. a. O., S. 50 ff.). Den Gedanken, dass deshalb aus demokratischen Gründen die beschränkte Finanzautonomie der Länder zu kritisieren ist, hat in neuerer Zeit etwa wieder Konrad Kruis (Finanzautonomie und Demokratie im Bundesstaat, DÖV 2003, S. 10 ff.) nachdrücklich betont. So das Diskussionspapier der Landtagspräsidenten (Anm. 66), S. 6, s. auch S. 21 f. und meinen Kommentar dazu: a. a. O., S. 50 f. Für die neuere Zeit s. die Belege in Anm. 85. Das wird auch von Finanzwissenschaftlern bejaht, s. z. B. Klaus-Dirk Henke, Möglichkeiten zur Stärkung der Länderautonomie, in: Die Stärkung der Finanzautonomie im föderativen System der Bundesrepublik Deutschland (Heft 24 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages) 1995, S. 36 (40 ff.) und daselbst Horst Zimmermann, Stärkung der kommunalen Finanzautonomie, S. 14 (31 f.); Gisela Färber, Finanzverfassung, in: Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herren Chiemseer Verfassungskonvent (1998), S. 89 (128 f.). Aus juristischer Sicht dazu: Irene Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung (1998), S. 338; Korioth (Anm. 85), S. 17 (= III. 4. b); Diskussionspapier (Anm. 66), S. 23, 29 f. und mein Kommentar dazu (a. a. O., S. 52 f.). Gegen ein Zuschlagsrecht der Länder ausdrücklich: P M. Huber, Gutachten (Anm. 27), D. 75; die gleiche Ansicht folgt aus den Ausführungen von Homburg (Anm. 85), S. 15 f. So der Vorschlag von Korioth (Anm. 85), S. 17 f. (= III. 4. b). Weitergehend Diskussionspapier (Anm. 66), S. 32 i. V. m. S. 24, das es den Ländern ermöglichen will, »eigene Steuern auf bestimmte Arten des Verbrauchs oder Aufwandes zu erheben, die entweder die Umwelt beeinträchtigen oder sonst der Allgemeinheit Lasten verursachen oder die als Form des
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
kel 105 und 106 GG auch aus Transparenzgründen dringend einer systematischen Überarbeitung bedürften, sei zumindest als bleibendes, aber in dem mir gesetzten Rahmen hier nicht zu lösendes Problem der deutschen Finanzverfassung erneut in Erinnerung gerufen91.
10.
Die aus der Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen folgende Notwendigkeit einer Länderneugliederung
Die Realisierung der hier gemachten Vorschläge zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen würde erhöhte Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Länder im Bereich der Gesetzgebung – und im Blick auf das europäische Recht – auch an ihre Transformationskompetenz stellen. Diese Feststellung besitzt deshalb verfassungsrechtliche Bedeutung, weil eine wirkliche sachliche Autonomie der Länder schon von ihrem (Wort-)Sinn her nicht nur das Innehaben von wesentlichen (Gesetzgebungs-)Kompetenzen beinhaltet, sondern auch die Fähigkeit voraussetzt, diese selbstständig und effektiv wahrnehmen zu können. Ein solches Verständnis der sachlichen Autonomie legt nun ebenfalls der Wortlaut des Artikel 29 Abs. 1 Satz 1 GG nahe, wenn er für die Neugliederungsfrage darauf abstellt, ob die Länder »nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können«92. Denn gemeint ist damit auch, dass sie ihre Aufgaben eigenständig – in eigener Verantwortung – wahrzunehmen in der Lage sind93. Wie dargelegt, müssen bei Zugrundelegung dieses Maßstabs schon heute gegen die Regelung des § 11 Abs. 4 FAG verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht werden, da diese Vorschrift für die Luxuskonsums Anzeichen für eine besondere Leistungsfähigkeit sind.« Solche landesgesetzlichen Steuern brauchen nicht mehr nur »örtlich« zu sein. 91 Ein insoweit nach wie vor beachtlicher Versuch ist m. E. in dem Diskussionspapier der Landtagspräsidenten (Anm. 66) gemacht worden; s. dort S. 23 f. i. V. m. S. 27 ff. und daselbst meinen Kommentar zu diesem Versuch auf S. 50 ff. 92 Richtig stellt insoweit Klaus-Georg Meyer-Teschendorf (Kommentierung des Artikels 29 GG, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 2000, Rn. 28) fest: »Größe« und »Leistungsfähigkeit« bilden »keine eigenständigen Richtbegriffe bzw. Planungsziele der Neugliederung. Es handelt sich um bloße Hilfskriterien zur näheren Beurteilung der Frage, ob die neu zu schaffenden Länder geeignet sind, die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam zu erfüllen; im Blick auf dieses eigentliche und zentrale Neugliederungsanliegen kommt ihnen eine allein dienende Funktion zu« (Hervorhebung A. J.). 93 Dieser Gesichtspunkt wird seit Frido Wageners großer Untersuchung: Neubau der Verwaltung, 1969 (dort zur Länderneugliederung besonders S. 527 ff.), immer wieder als Ziel einer Länderreform genannt; vgl. auch ders., Aufgaben der Länder im nächsten Jahrzehnt, in: Länderreform und Landschaften. Ein Cappenberger Gespräch (1970) S. 32 (35 ff.) und zusammenfassend zu entsprechenden neueren Stellungnahmen: Susanne Greulich, Länderneugliederung und Grundgesetz (1995), S. 173 ff. sowie Hartmut Klatt, Länder-Neugliederung: Eine staatspolitische Notwendigkeit, ZBR 1997, 137 (148).
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
345
Kosten »politischer Führung« in den kleineren Bundesländern Ausgleichszahlungen des Bundes vorsieht, anstatt eben die durch Artikel 29 Abs. 1 Satz 1 GG aufgegebene Frage nach der hinreichenden Fähigkeit zur »wirksamen« Aufgabenerfüllung der so begünstigten Länder zu stellen94. Genau diese Frage muss nun erst recht gestellt werden, wenn es um die Realisierung der aus dem verfassungsrechtlich fundierten Autonomiegedanken ableitbaren Kompetenzzuweisungen an die Länder im Bereich der Gesetzgebung geht. Und schon jetzt lässt sich daran ernsthaft zweifeln, ob ein Bundesland wie das Saarland oder die Stadtstaaten Bremen und Hamburg u. a. die aus den Reformvorschlägen folgenden neuen Kompetenzzuweisungen (einschließlich der damit verbundenen größeren Transformationskompetenzen für das europäische Recht) tatsächlich »wirksam« i. S. des Artikels 29 Abs. 1 Satz 1 GG wahrnehmen können95. Aus diesem Grund kommt man nicht um die Feststellung herum, dass mit der Durchführung der hier geforderten Reformmaßnahmen im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen die Notwendigkeit, dem Gedanken einer Neugliederung der Bundesrepublik Deutschland näher zu treten, nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Eine solche Maßnahme müsste allerdings nach dem hier unter 5. zum Föderalismusverständnis Gesagten möglichst bestehende Länder zusammenlegen und dürfte auf keinen Fall regional geprägte Landschaften zerschneiden96.
IV.
Reformvorschläge zur Entscheidungsfindung des Bundesrates
Unter 3. wurde gezeigt, dass die vom Grundgesetz ursprünglich gewollte »gemischte« demokratische Legitimation für die Zustimmungsgesetze durch die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zum »Altparteienbundesstaat« nicht mehr gewährleistet ist. Zu fragen ist deshalb, welche Möglichkeiten in Betracht kommen, um eine entsprechende verfassungsrechtlich geforderte Legitimation (wieder) herzustellen. Nach dem Gesagten kommt dafür vor allem eine Zurückdrängung des von den politischen (Bundes-)Parteien geprägten Einflusses auf die Entscheidungsfindung im Bundesrat in Betracht:
94 So hier 6 b). 95 Siehe auch Meyer-Teschendorf(Anm. 92), Rn. 30 zur durch Artikel 29 Abs. 1 Satz 1 GG begründeten Forderung an die Länder, »auch im europäischen Gesamtrahmen zu wettbewerbsfähigen Einheiten und Größen zu gelangen«. 96 Siehe insoweit noch einmal Greulich (Anm. 93), S. 186 und daneben besonders die Diskussionszusammenfassung von Helmut Naunin, in: Länderreform und Landschaften (Anm. 93), S. 100 f.
346 11.
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Denkbare Einzelmaßnahmen gegen den bestimmenden Einfluss der (Bundes-)Parteien auf die Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes
a) Die genannte Einflussnahme verlöre nun besonders an Bedeutung, wenn die Zahl der Zustimmungsgesetze wesentlich reduziert würde. Das lässt sich besonders durch die Streichung des letzten Halbsatzes von Artikel 84 Abs. 1 (und von Artikel 85 Abs. 1) GG erreichen. Denn die genannten Regelungen sind ja der Grund für zahlreiche Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen97. Daneben wäre es sicherlich sinnvoll, wenn »eine Statuierung neuer Zustimmungserfordernisse – etwa für alle finanzwirksamen Regelungen – tunlichst vermieden« würde98. Allerdings kann man einer solchen Forderung wie auch dem Reformvorschlag zu Artikel 84 Abs. 1 und Artikel 85 Abs. 1 GG nur unter der Bedingung zustimmen, dass in Abweichung von der geltenden Fassung des Artikels 104 a Abs. 3 GG grundsätzlich die Kostentragungspflicht des Bundes eingreift, wenn die Länder Bundesgesetze vollziehen (oder andere Maßnahmen des Bundes ausführen), die ohne Ermessensspielräume für die Länder Zahlungen, Sachleistungen oder die Herstellung öffentlicher Einrichtungen vorsehen. Eine solche Regelung würde sich – wie ausdrücklich zu betonen ist – mit der Ratio der Vollzugskausalität, die aus durchaus nachvollziehbaren Gründen dem Artikel 104 a GG zugrunde liegt, vereinbaren lassen. Denn »wenn die Behörden der Länder nur unselbstständige ausführende Stellen des Bundes sind, gibt es letztlich nur den Bund als Verursacher der Kosten«99. Da in den Landesverfassungen inzwischen das Konnexitätsprinzip zugunsten der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften weitgehend verankert ist100, sprechen bei einer
97 Das belegen die Angaben in Anm. 34. Im Übrigen besteht über diesen Reformvorschlag (bzw. weniger stringente Alternativen) weitgehend Einigkeit. Eine Alternative wird etwa darin gesehen, es bei der jetzigen Regelung des Artikels 84 Abs. 1 und Artikel 85 Abs. 1 GG zu belassen und den Ländern insoweit einen gesetzgeberischen »Zugriff« auf diese Materie zu eröffnen, s. zum Ganzen zusammenfassend: P M. Huber, Gutachten (Anm. 27), D. 77 ff., 113 ff. und aus der älteren Literatur Christof Gramm, Gewaltenverschiebung im Bundesstaat, AöR 124 (1999), S. 212 (221 ff.). 98 So P M. Huber, Gutachten (Anm. 27), D 117. Dort auch (D 117 f.) ein sinnvoller Katalog über die beizubehaltenden Zustimmungserfordernisse des Bundesrates. 99 So richtig Korioth (Anm. 85), S. 91 (= III. 1. b). Auch die zugunsten der Länder z. T. weitergehende Lösung des Diskussionspapiers (Anm. 66), S. 23, 25 f. (s. besonders S. 26 zu den Kosten nach dem Bundessozialhilfegesetz) verträgt sich m. E. noch durchaus mit diesem Grundsatz, (s. dazu auch meinen Kommentar, a. a. O., S. 56 f.). 100 Siehe die Zusammenfassung von Hans-Günter Henneke, Durchbruch bei Verankerung des Konnexitätsprinzips im Landesverfassungsrecht, Der Landkreis 2004, S.152 ff.
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
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solchen Reform des Artikels 104 a Abs. 3 GG gute Argumente für die vorgeschlagene Änderung des Artikels 84 Abs. 1 und Artikel 85 Abs. 1 GG101. b) Was die weiteren Reformvorschläge zur Entscheidungsfindung des Bundesrates angeht, so scheint mir im Blick auf das hier vertretene Anliegen, aus grundsätzlichen Erwägungen (s. 3.) den Einfluss der politischen (Bundes)Parteien auf die Entscheidungsfindung im Bundesrat zurück zu drängen, besonders noch der Gedanke erwägenswert, durch eine entsprechende Änderung des Artikels 52 Abs. 3 Satz 1 GG eine Umstellung der Abstimmungsregel im Bundesrat von der zurzeit geltenden absoluten auf die einfache Mehrheit durchzuführen. Das würde es nämlich den »Landesregierungen, insbesondere den Koalitionsregierungen«, ermöglichen, sich zur Vermeidung von parteipolitischen Streitigkeiten »unter Berücksichtigung ihrer kontroversen Auffassungen im Bundesrat zurück zu halten«102. Dagegen ist m. E. der ebenfalls gemachte Vorschlag, ein Splitting der Landesstimmen zuzulassen, abzulehnen. Denn diese Möglichkeit würde ja »den traditionellen Charakter des Bundesrates als Landesvertretung, in der die Länder mit unterschiedlichem Gewicht entsprechend ihrer Größe auftreten, wesentlich beeinträchtigen und den Bundesrat in Richtung eines halbparlamentarischen Gremiums (Mixtum zwischen Bundesrat und Senat und damit weder das eine noch das andere) weiter entwickeln«103.
12.
Die Einführung der Direktwahl der Ministerpräsidenten als besonders geeignete Maßnahme gegen den bestimmenden Einfluss der (Bundes-) Parteien auf die Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes.
Die soeben (11.) gemachten Vorschläge sind insofern unbefriedigend, als damit eine hinreichende Gewährleistung dafür, dass die Landesinteressen im Bundesrat auch wirklich zur Sprache kommen, noch nicht gegeben ist. Das Fehlen
101 Zum aufgrund der gegenwärtigen Rechtslage gravierenden finanziellen Problem u. a., das für die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften durch unmittelbare Aufgabenübertragung des Bundes auf die Kommunen entsteht, zuletzt: Hans-Günter Henneke, Darf der Bund künftig den Kommunen keine Aufgaben mehr übertragen?, Der Landkreis 2004, S. 355 ff. 102 So richtig Maurer, Mitgliedschaft (Anm. 32), S. 178; ganz entsprechend etwa Hans Meyer in seinem für die zurzeit tagende Bundesstaatskommission bestimmten Papier : Überlegungen zur Abstimmungsregel des Artikels 52 Abs. 3 Satz 1 GG für den Bundesrat (= Kommissionsdrucksache 0026). 103 So wiederum Maurer, a. a. O. (Hervorhebung A.J.). Für diese Lösung demgegenüber etwa P.M. Huber, Gutachten (Anm. 27), D. 122 f.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
einer solchen Gewährleistung wurde ja schon früh nach In-Kraft-Treten des Grundgesetzes erkannt104. a) Richtig ist, was dieses Defizit betrifft, resümierend festgestellt worden: »Alle bisher eingetretenen Änderungen in der Entscheidungsfindung des Bundesrates weg vom historischen Willen des ursprünglichen Verfassungsgebers waren punktuell gewollt. Keine der genannten Reformen bzw. Elemente der Praxis standen im Widerspruch zum Grundgesetz. In ihrer Summe freilich haben die genannten Modifikationen eine Rechtslage geschaffen, deren Gesamtwirkung die Gestalt des deutschen Föderalismus nicht nur marginal, sondern auch in seinem Wesen verändert hat, verändert in Richtung auf die mehrheitsorientierte Verbundsbeteiligung … Dieser Sprung hat sich als Summe der Änderungen ergeben, seine qualitativen Implikationen sind jedoch nicht reflektiert oder gewollt worden; eine entsprechende Entscheidung zugunsten des veränderten Konzepts ist erkennbar nirgendwo getroffen worden, weder vom Bund noch von den Ländern«105.
Nicht aber die bisher versäumte Entscheidung »zugunsten des veränderten Konzepts« ist damit m. E. heute fällig, sondern nach dem bisher Gesagten eine Entscheidung zugunsten des ursprünglich vom Grundgesetz gewollten Konzepts. Der allgemeine Grund dafür, dass diese Notwendigkeit von der deutschen Staatsrechtswissenschaft kaum gesehen wird, ist leicht auszumachen: Als ausreichende Kontrolle der parlamentarischen Parteienstaatsdemokratie sah man bisher von dieser Seite neben den regelmäßig wiederkehrenden Wahlen, den Medien und der öffentlichen Meinung letztlich und besonders die Verfassungsgerichtsbarkeit an (und verwandte den ganzen juristischen Scharfsinn primär auf die Ausformung der genannten Kontrollmöglichkeiten). Es ist schon erstaunlich, dass die Staatsrechtslehre nach dem Zweiten Weltkrieg daneben systematisch die entscheidende Rolle der Bürokratie (Exekutive) als notwendigen Gegenspieler im demokratischen Parteienstaat ausgeblendet hat106. Zeigen nun aber der allgemeine Reformstau in Deutschland und besonders die im 104 Siehe hier 3. 105 So Dolzer (Anm. 23), S. 19, s. auch S. 36. 106 Zur in diesem Kontext nicht zu leistenden Begründung für diese Behauptung s. folgende Arbeiten von mir : Die Infragestellung des Verfassungsstaates, Die Verwaltung 35 (2002), S. 117 (124, 126 f., 128); Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen, ZBR 2003, S. 113 (123 ff., 127 ff., 130 f.) und demnächst: Mehr direkte Demokratie als Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus?, in: Festschrift für Hans Herbert v. Arnim zum 65. Geburtstag (2005), dort unter II. 2 c). Für die ähnlich gelagerte Problematik auf kommunaler Ebene s. bes. meine Arbeiten: Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem (= H. 17 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages) 1988 und: Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem (= H. 28 der genannten Schriftenreihe) 1999. Unglaublich hellsichtig zu diesem Problem schon 1949 Werner Weber: Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (1949), in: ders. Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem (3. Aufl. 1970), S. 9 (27 ff.).
11. Gesetzgebungskompetenzen und Bundesrat
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»Konsens« aller politischen Parteien herbeigeführte Staatsverschuldung der Bundesrepublik (bzw. ihr bevorstehender Staatsbankrott), dass die so ausschließlich betrachteten Kontrollmöglichkeiten nicht mehr ausreichen, um eine Wende herbei zu führen, so wird man sich notwendigerweise vor allem auf die Rolle der Bürokratie als »Hüter des Gemeinwohls« zurück besinnen müssen. Sie braucht dann allerdings einen »Patron«, der ihre Argumente in den politischen Prozess einbringt. Und das können nach Lage der Dinge für die Landesebene nur direkt gewählte Ministerpräsidenten sein107, die dann auch im Bundesrat – wie vom Grundgesetz ursprünglich vorgesehen – die landesspezifischen Interessen zu artikulieren vermöchten. Konkret spricht neben diesem allgemeinen Argument für die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten in unserem Zusammenhang, dass ein direkt gewählter Ministerpräsident auch sein Verhalten im Bundesrat wohl primär an den Interessen des Landesvolkes als dem unmittelbaren Stifter seiner Legitimation ausrichten wird, und nur sekundär an den Interessen der Bundesparteien. Er wird im Übrigen auch aufgrund seiner von den Parteien in den Landtagen unabhängigeren Stellung in weit größerem Umfang als nach geltendem Recht zur Aushandlung und dem Eingehen von Kompromissen in der Lage sein – Elemente der Entscheidungsfindung also, die eine wesentliche, von der Verfassung gewollte Eigenart des Bundesratsverfahrens ausmachen (s. besonders auch das Verfahren des Vermittlungsausschusses)108. Dass es damit in den Landtagen voraussichtlich zu einer (heute nicht existierenden) wirklichen par107 Den Ausdruck »Partron« gebraucht Werner Weber, nach dessen Auffassung das deutsche Beamtentum eines solchen bedarf, »wie ihn das englische Beamtentum in der Krone, das amerikanische im Präsidenten hat«: s. ders., Das politische Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie (1956), in: Spannungen und Kräfte (Anm. 106), S. 121 (140 f.). Werner Weber (a. a. 0.) kann sich für die Bundesrepublik Deutschland den (vom Volk dann direkt zu wählenden) Bundespräsidenten in einer entsprechenden Rolle vorstellen. Das wäre in der Tat für die Bundesebene (um die es hier nur indirekt geht) die richtige Lösung. Sein Schüler Wilhelm Henke hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1966 (Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, DVBI.1966, S. 723 ff.) diesen Gedanken konstruktiv weitergeführt, indem er für Kontrollbefugnisse eines direkt gewählten Bundespräsidenten im Bereich der Personalpolitik »bezüglich der Richter, Beamten und Soldaten des Bundes« und auf dem Gebiet des Haushalts (d. h. eine dem Artikel 113 GG entsprechende Kompetenz) eintritt und daneben vor allem noch ein »förmliches Vetorecht« für den Bundespräsidenten, »wie es dem Präsidenten der USA zusteht«, für die Gesetzgebung vorschlägt (a. a.0., S. 728 f.). Dieser Vorschlag macht auch Sinn im Blick auf das hier unter 7 a) angedeutete Verfassungsverständnis des Grundgesetzes als Verfassung des aus Zentralstaat und Gliedstaaten zusammengesetzten Gesamtstaates. Denn ein Bundespräsident mit einer solchen Legitimation und solchen Befugnissen wäre die geeignete Integrationsfigur des deutschen Bundesstaates schlechthin. 108 Die Legitimation der Ministerpräsidenten für ihr Handeln im Bundesrat ist damit übrigens strukturell die gleiche, wie sie die Vertreter der verbündeten Regierungen nach der Reichsverfassung von 1871 besaßen. Denn diese waren ja auch »unmittelbar«, wenn auch nicht – wie heute verfassungsrechtlich nur möglich – unmittelbar demokratisch legitimiert.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
lamentarischen Kontrolle der Landesregierungen käme und grundsätzlich auch schon die vorhandenen Kompetenzen der Landtage eine völlige Abkopplung der Politik des direkt gewählten Ministerpräsidenten vom Willen des Parlaments zu verhindern vermögen, sei nur am Rande erwähnt109. b) Die direkt gewählten Ministerpräsidenten sollten allerdings, wenn sie ihr Land im Bundesrat vertreten, in den Fällen an das Votum ihrer Landtage gebunden sein, in denen dem Bund durch Änderung des Grundgesetzes Landesgesetzgebungskompetenzen übertragen werden oder auf die Europäische Union Hoheitsrechte der Länder im Sinne des Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 GG übergehen sollen, für deren Wahrnehmung nach der innerstaatlichen Kompetenzordnung primär die Landesparlamente zuständig sind. Denn in beiden Fällen geht es ja um den Verlust fundamentaler parlamentarischer Rechte, auf die sinnvollerweise wegen der fehlenden parlamentarischen Legitimation der direkt gewählten Ministerpräsidenten und ihrer dadurch bedingten relativen Unabhängigkeit von ihren Landtagen die Volksvertretungen in den Ländern selbst verzichten müssten110. Diese Forderung unterstützt auch die hier vertretene These, dass dem Bundesrat Zustimmungsrechte zur Bundesgesetzgebung (ursprünglich) deshalb vom Grundgesetz eingeräumt worden sind, weil die »Landesbezogenheit« derartiger Gesetze bzw. der »Vollzugssachverstand« der Länder hinreichend Be109 Im Einzelnen hierzu: Janssen (Anm. 35), S. 74 ff. Zuletzt für eine solche Lösung aus z. T. anderen Gründen: Hans Herbert v. Arnim, Systemwechsel durch Direktwahl des Ministerpräsidenten?, in: Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung (Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag), 2004, S. 371 ff. Mit der Einführung der Direktwahl der Ministerpräsidenten würde sich übrigens das hier in Anm. 35 angesprochene Legitimationsproblem für die Rechte des Bundesrates nach Artikel 23 Abs. 2, 4 – 6 GG erledigen, dazu Janssen, a. a. 0., S. 79 f. 110 Einen Formulierungsvorschlag, der der hier vertretenen Ansicht nahe kommt, findet sich in einem Beschluss der Landtagspräsidentenkonferenz von 1991 (= Drs. 12/2797 des Niedersächsischen Landtages). Er sieht einen neuen Absatz 4 für Artikel 51 GG vor, der wie folgt lauten soll: »Soweit dem Bund durch Änderung des Grundgesetzes Gegenstände zur Gesetzgebung übertragen werden, sind die Mitglieder des Bundesrates bei der Stimmabgabe an hierzu gefasste Beschlüsse der Landesparlamente gebunden. Dasselbe gilt, wenn nach Artikel 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte der Länder auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden.« s. zu diesem Formulierungsvorschlag, der ja vor Einfügung des neuen Artikels 23 GG in das Grundgesetz entstand, meinen Kommentar, in: Diskussionspapier (Anm. 66), S. 59 f. Es ist im Übrigen das Grundgesetz selbst, das schon jetzt diesen Weg für die Länder (Landtage) eröffnet. Denn wenn die Länder als Mitglieder des Bundesrates »in solcher Weise tätig werden, geht es nicht an, zwischen den beiden Verfassungsorganen Landesregierung und Landesparlament hinsichtlich ihrer Einwirkungsbefugnis auf die Landesvertreter im Bundesrat zu unterscheiden«, so m. E. richtig schon Friedrich Klein, Kommentierung des Artikel 51, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2 (1964), Anm. IV 3 b) (= S. 1029). Zuverlässiger Bericht über die einschlägigen Reformvorschläge und den Streitstand in dieser Frage bei: Kirsten Schmalenbach, Föderalismus und Unitarismus in der Bundesrepublik Deutschland (1998), S. 58 ff., bes. S. 67 ff.
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rücksichtigung finden sollten. Denn auch dieser These liegt wie den beiden soeben behandelten Fällen die Überlegung zugrunde, dass die Ministerpräsidenten die ihnen eingeräumten Kompetenzen im Bundesrat grundsätzlich nur in Übereinstimmung mit ihrer verfassungsrechtlich legitimierten Stellung als Spitze der jeweiligen (Landes-)exekutive auszuüben haben. Im Ergebnis würde damit m. E. die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten – sei es durch das Grundgesetz, sei es durch die Landesverfassungen – mit der hier zuletzt geforderten Einschränkung ihrer Kompetenzen im Bundesrat eine systemkonforme, sinnvolle Ergänzung der unter 11. vorgeschlagenen Reformen für die Entscheidungsfindung des Bundesrates darstellen.
C.
Schluss
Die vorstehenden Darlegungen verstehe ich nicht als abstrakte gedankliche Spielerei, sondern als einen von praktischen Erfahrungen bestimmten Versuch, durch Verfassungsauslegung der anfangs beschriebenen Gefahr einer ungesteuerten europäischen Nivellierung unserer Rechtsordnung und namentlich der einer Außer-Kraft-Setzung der vom Grundgesetz intendierten bundesstaatlichen Strukturen aufgrund der Allmacht der politischen Parteien zu begegnen. Im Blick auf die in mancher Hinsicht introvertierten Auseinandersetzungen in der z. Z. in Berlin tagenden Kommission zur Reform des deutschen Bundesstaates hat dieses Bemühen allerdings keine Chance irgendeiner Realisierung. Der Allparteienbundesstaat deutscher Prägung ist nun einmal – das ist die Quintessenz meiner Erfahrungen nach über 30 Jahren praktischer Tätigkeit als Verwaltungs- und Parlamentsjurist – zu einer wirklichen Verfassungsreform und schon gar nicht zu einer Verfassungsgebung in der Lage; das haben zuletzt die Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands überdeutlich gezeigt. Was die Chancen für eine Bundesstaatsreform, die diesen Namen verdient, betrifft, so bleibt m. E. demnach nur – um mit Hegel zu reden – die Hoffnung auf die »List der Vernunft«111. Das ist zugegebenermaßen (wie so oft bei Hegel) letztlich eine in säkularer Terminologie vorgetragene theologische Aussage. Und dennoch (oder gerade deshalb) will mir jeder Einsatz für den deutschen Föderalismus in der geistigen und politischen Situation unserer Zeit ohne eine entsprechende Hoffnung sinnlos erscheinen.
111 Siehe Georg W. Hegel, Wissenschaft der Logik II (1832), in: Moldenhauer/Michel (Hrsg.), Werke, Bd. 6 (1996), S. 452 u. a.
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Thesen I.
Verfassungsrechtlich bedenkliche Wandlungen in der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und der Entscheidungsfindung des Bundesrates
1. Bund und Länder haben zahlreiche Gesetzgebungskompetenzen an die Europäische Union abgeben müssen. Bei den Ländern kommt die Abwanderung von wichtigen Gesetzgebungskompetenzen zum Bund in einem so großen Umfang hinzu, dass die Frage nach einer möglichen Verletzung des Artikels 79 Abs. 3 GG gestellt werden muss. 2. Die bisherige Entwicklung des europäischen Rechts und der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents zeigen, dass die Koordinierungsfunktion der Bundesgesetzgebung, wie sie besonders in Artikel 72 Abs. 2 GG für die konkurrierende Gesetzgebung und gemäß Artikel 75 Abs. 1 Satz 1 GG auch für die Rahmengesetzgebung u. a. angesprochen wird, weitgehend auf die Europäische Union übergegangen ist. Nimmt man die Gesetzgebungspraxis des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und Rahmengesetzgebung hinzu, so muss kritisch nach der weiteren Existenzberechtigung dieser Gesetzgebungskategorien gefragt werden. Das gilt umso mehr, als sich aufgrund der gegenwärtigen Rechtslage besonders bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien schwierige innerstaatliche Kompetenzfragen ergeben. 3. Die vom Grundgesetz gewollte Sicherstellung der »strukturellen Gegenläufigkeit von Parteiensystem und Bundesstaat« (Lehmbruch) durch den Bundesrat, die letztlich allein die von der Verfassung vorgesehene »gemischte« demokratische Legitimation für die Zustimmungsgesetze zu rechtfertigen vermag, ist inzwischen deshalb gefährdet, weil der dominierende Einfluss der politischen (Bundes-)Parteien auf die Entscheidungsfindung im Bundestag und Bundesrat sie weitgehend außer Kraft gesetzt hat. Diese Entwicklung ist angesichts der Tatsache verfassungsrechtlich bedenklich, dass inzwischen ca. sechzig Prozent der Bundesgesetzgebung der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
II.
Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die damit erforderlichen Reformen
4. Die im Begriff der Autonomie eingegangene gedankliche Verbindung von Demokratie und Freiheit, die in den demokratischen Teilhaberechten auf den verschiedenen staatlichen Ebenen ihre verfassungsrechtliche Ausformung erfahren hat, stellt den entscheidenden Grund für die Forderung nach hinreichenden Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern dar, zumal damit das vom Grundgesetz anerkannte Subsidiaritätsprinzip als Maßstab für die
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Abgrenzung der entsprechenden Kompetenzen zwischen Europäischer Union, Bund und Ländern in unmittelbarem Zusammenhang steht. Auch die im Grundgesetz vorgesehene Beteiligung des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung entspricht nur dann dem auf dem Begriff der Autonomie fußenden Demokratieprinzip des Grundgesetzes, wenn sie klare, zurechenbare Verantwortlichkeiten für die getroffenen gesetzgeberischen Entscheidungen nicht ausschließt. 5. Aus Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG lässt sich – indirekt – für die Länder eine weitere inhaltliche Bestimmung für den Kernbereich ihrer (Gesetzgebungs-) Kompetenzen ableiten, da er den genannten verfassungsrechtlichen Autonomiegedanken dahingehend präzisiert, dass die Bundesländer (besonders) »die Freiheit unseres Daseins in kontingenter geschichtlicher Identität« (Lübbe) zu gewährleisten haben.
III.
Reformvorschläge zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern
6. Die unter 2. benannte Entwicklung legt die Verabschiedung der im Grundgesetz geregelten Gesetzgebungskategorien »konkurrierende Gesetzgebung« und »Rahmengesetzgebung« und die Zusammenfassung aller (damit ausschließlichen) Gesetzgebungskompetenzen des Bundes in einem Katalog nahe. Die namentlich in der noch tagenden Bundesstaatskommission stark favorisierte Möglichkeit, die konkurrierende Gesetzgebung des Grundgesetzes durch das Modell einer sog. Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung der Länder zu ergänzen, widerspricht diesem Vorschlag. Sie ist im Übrigen schon deshalb abzulehnen, weil der teilweise (und zudem wohl unterschiedlich intensive) entsprechende gesetzgeberische Zugriff der einzelnen Länder ein unsystematisches Nebeneinander von bundes- und landesrechtlichen Regelungen, das auch die Umsetzung der thematisch einschlägigen europäischen Richtlinien weiter erschweren würde, zur Folge hätte. Im Ergebnis würden dem Bund damit außerdem in einem Bereich Gesetzgebungskompetenzen belassen, der nach dem Maßstab des Subsidiaritätsprinzips allein der Gesetzgebung der Länder offen steht. 7. Im Gegensatz zur wohl herrschenden Meinung ist daneben für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern nach dem Grundgesetz davon auszugehen, dass die Kompetenzzuweisungen dort beidseitig sowohl an den Bund wie an die Länder erfolgt sind. Bund und Länder besitzen also nach geltendem Verfassungsrecht keine unbenannten sog. Residualkompetenzen, sondern gegenständlich umschriebene Gesetzgebungskompetenzen, die für die Länder allerdings durch Auslegung des Grundgesetzes
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
besonders zu ermitteln sind. Diese Form der Kompetenzzuweisungen durch das Grundgesetz legt den Gedanken nahe, neben dem geforderten einheitlichen Katalog für die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zumindest den durch Artikel 79 Abs. 3 GG geschützten Kernbestand der den Ländern zukommenden Gesetzgebungskompetenzen in einem besonderen Katalog ausdrücklich im Grundgesetz zu benennen, zumal diese thematische Fixierung einen zusätzlichen verfassungsrechtlichen Schutz vor einer Abwanderung der entsprechenden Länderkompetenzen auf den Bund oder die Europäische Union bedeuten würde. 8. Für den Inhalt der beiden vorgeschlagenen Kompetenzkataloge gilt Folgendes: a) Nach dem eingetretenen weitgehenden Verlust der für die Bundesgesetzgebung typischen Koordinierungsfunktion und bei strenger Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sollten dem Bund folgende, ihm bisher nach Artikel 74, 74 a und 75 GG zustehende Gesetzgebungskompetenzen zugunsten der Länder entzogen werden: Das Versammlungsrecht, Teilmaterien der Abfallbeseitigung, die Raumordnung, das Jagdwesen, der Naturschutz und die Landschaftspflege (mit Ausnahme des Artenschutzes), das Baurecht, das Bodenrecht und das Wohnungswesen, der Bergbau, der öffentliche Personennahverkehr, das Straßenrecht (mit Ausnahme der Bundesstraßen), das Hochschulrecht, die außerschulische berufliche Bildung, die Ausbildungsbeihilfen, die Förderung der nicht länderübergreifenden Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung, das Recht der öffentlichen Fürsorge, die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze, das für die Länder geltende öffentliche Dienstrecht (einschließlich des Besoldungsund Versorgungsrechts der Landesbeamten) und die allgemeinen Rechtverhältnisse der Presse. b) Der geforderte besondere Katalog für die zentralen Gesetzgebungskompetenzen der Länder, der ja vor allem eine Konkretisierung der durch Artikel 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen bewirken soll, könnte sich auf die Materien konzentrieren, die für ihre verfassungsrechtlich garantierte Staatlichkeit konstitutiv sind oder die Erfüllung ihrer aus Artikel 29 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Aufgaben sicherstellen. Dazu zählen etwa die Gesetzgebungskompetenz für die eigene Staatsorganisation, das Kommunalrecht, das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, das Schul- und Hochschulwesen, die Medien (einschließlich der Presse) sowie das Bau- und Bodenrecht. 9. Der verfassungsrechtlich fundierte Autonomiegedanke gilt auch für die bundesstaatliche Finanzverfassung. Leitbild der damit gebotenen Entflechtung der gegenwärtigen Finanzverantwortung müsste der Grundsatz sein, dass die Körperschaft, die öffentliche Ausgaben veranlasst, (möglichst) auch selbst über die Steuern und sonstigen Abgaben beschließen sollte, die zur Deckung dieser Ausgaben erforderlich sind. Konkret sollten die Länder in erster Linie die Höhe
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ihres Anteils an der Lohn- und Einkommensteuer (einschließlich der Körperschaftssteuer) innerhalb bundesrechtlich festgelegter Grenzen selbst bestimmen können. Darüber hinaus ist daran zu denken, dass sie auch weitere Steuern in eigener Verantwortung regeln und ggf. neu einführen dürfen; dies müsste insbesondere wohl für die örtlichen Aufwand- und Verbrauchssteuern gelten sowie für diejenigen Steuern, deren Aufkommen ausschließlich den Ländern zusteht. 10. Der hier postulierte Zugewinn an Gesetzgebungskompetenzen für die Länder macht die Frage unumgänglich, ob sie alle gegenwärtig in der Lage sind, i. S. des Artikels 29 Abs. 1 Satz 1 GG »nach Größe und Leistungsfähigkeit« die ihnen damit neu gestellten Aufgaben »wirksam« zu erfüllen. Denn nicht allein das Innehaben von substantiellen (Gesetzgebungs-)Kompetenzen, sondern daneben auch die Fähigkeit, diese effektiv in eigener Verantwortung wahrzunehmen, ist vom Autonomiegedanken des Grundgesetzes gefordert. So gesehen kann bei Realisierung der vorgeschlagenen Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen, die ja auch eine Erweiterung der Kompetenzen zur Umsetzung des europäischen Rechts für die Länder zur Folge hätte, kein Zweifel an der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit, dem Gedanken einer Länderneugliederung in Deutschland näher zu treten, bestehen. Sie müsste gemäß dem hier vertretenen Maßstab (s. 5.) möglichst bestehende Länder zusammenlegen und dürfte in keinem Fall regional geprägte Landschaften zerschneiden.
IV.
Reformvorschläge zur Entscheidungsfindung des Bundesrates
11. Die durch die starke Einflussnahme der politischen (Bundes-)Parteien bewirkte faktische Nivellierung der verfassungsrechtlich relevanten Unterschiede zwischen Bundesrat und Bundestag in der Entscheidungsfindung (s. 3.) verlöre an Bedeutung, wenn die Zahl der Zustimmungsgesetze wesentlich reduziert würde. Das lässt sich durch die Streichung des letzten Halbsatzes von Artikel 84 Abs. 1 GG und des letzten Halbsatzes von Artikel 85 Abs. 1 GG erreichen. Denn die genannten Regelungen sind der Grund für zahlreiche Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen. Eine wirksame Reduzierung der Zustimmungsgesetze auf diesem Weg setzt allerdings zum Schutz der Länder vor ungerechtfertigter finanzieller Belastung die bisher nicht erfolgte Verankerung eines wirklichen Konnexitätsprinzips in Artikel 104 a Abs. 3 GG voraus. Eine Reduzierung des parteipolitischen Einflusses im Bundesrat könnte daneben auch dadurch erreicht werden, dass aufgrund einer entsprechenden Änderung des Artikels 52 Abs. 3 Satz 1 GG echte »Enthaltungen« bei der Abstimmung im Bundesrat möglich wären. 12. Eine dauerhafte effektive Sicherstellung der nach dem Willen des Grundgesetzes vom Bundesrat zu gewährleistenden Gegenläufigkeit von Par-
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teiensystem und Bundesstaat ließe sich allerdings nur erreichen, wenn in den Landesverfassungen oder im Grundgesetz die Direktwahl der Ministerpräsidenten der Länder vorgesehen würde. Um zu bewirken, dass die direkt gewählten Ministerpräsidenten die ihnen eingeräumten Kompetenzen im Bundesrat grundsätzlich nur in Übereinstimmung mit ihrer verfassungsrechtlich legitimierten Stellung als Spitze der jeweiligen (Landes-)exekutive ausüben, sollten sie allerdings dann an das Votum der Landtage gebunden sein, wenn im Bundesrat über den Übergang von Landesgesetzgebungskompetenzen auf den Bund oder die Übertragung von (den Landtagen zustehenden) Hoheitsrechten der Länder auf die Europäische Union entschieden wird.
Nachtrag zu Nr. 11 Der vorstehende Text ist aus einem Vortrag hervorgegangen. In der Diskussion über diesen Vortrag habe ich u. a. ausgeführt: Ich habe nun zunächst in meinem Referat zeigen wollen, dass der Bund die Erforderlichkeitsklausel des Artikel 72 Abs. 2 GG im Ergebnis nie wirklich ernst genommen hat und wir dadurch zu einer Nivellierung der verschiedenen Gesetzgebungskategorien gekommen sind. Ich wollte zweitens deutlich machen, dass die Koordinierungsfunktion des Artikel 72 Abs. 2 GG inzwischen weitestgehend auf das europäische Recht übergegangen ist. Das war deshalb in meinen Augen eine zwangsläufige Entwicklung, weil es eben in der EU Mitgliedstaaten von erheblich unterschiedlicher Größe gibt und deshalb besonders für die kleineren Mitgliedstaaten ein rechtlich detaillierter Koordinierungsbedarf besteht. Das haben wir zur Kenntnis zu nehmen. Wenn es aber nun so ist, dass die »Geschäftsgrundlage« für die verschiedenen Gesetzgebungskategorien des Grundgesetzes durch die Entwicklung des europäischen Rechts entfallen ist, dann scheint es mir sinnvoll, die konkurrierende Gesetzgebung und die Rahmengesetzgebung zu verabschieden. Ein europatauglicher Föderalismus fordert dann aber m. E. weiter, dass Bund und Länder nur ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen besitzen. Als verfassungstheoretischer Ansatz für diese These kommt für mich die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Grundgesetz in Betracht. Bund und Länder haben beide durch das Grundgesetz ihre Kompetenzen zugesprochen bekommen. Und beide haben dann auch die Transformationskompetenz für das europäische Recht, soweit dieses für sie einschlägig ist. Nach meinem Konzept erhalten die Länder wesentliche neue Aufgaben, und es muss darum drittens die Frage erlaubt sein, ob namentlich die kleineren Bundesländer und Stadtstaaten diesen neuen Aufgaben überhaupt noch gerecht werden können. Damit ist man zwangsläufig bei der weiteren Frage nach der Notwendigkeit einer Länderneugliederung angelangt, wobei ich insoweit primär an die
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Zusammenlegung bestehender Länder denke. Die Länder können doch nicht nur zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen einfordern, ohne die Frage zu beantworten, ob sie diese auch »wirksam« ausüben können, wie es in Artikel 29 GG heißt. Was schließlich die Möglichkeit einer Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung betrifft, so käme diese Gesetzgebungskategorie meiner Meinung nach eventuell auf europäischer Ebene in Betracht, nicht aber für das deutsche Verfassungsrecht. Wen nach dem Gesagten immer noch Sorgen befallen, was die Einheitlichkeit der Gesetzgebung und das koordinierte Vorgehen Deutschlands gegenüber der EU betrifft, so ließe sich m. E. allenfalls noch an eine Grundsatzgesetzgebung als weiteren Typus denken. Es gibt ja nach meinem Konzept für bestimmte Gesetzgebungsmaterien – was die Inhalte betrifft – »Parallelkompetenzen«, die sowohl der Bund wie die Länder besitzen, z. B. für das Haushaltsrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht, das Beamtenrecht und das Recht der Raumordnung. Bei diesen für die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland konstitutiven Materien erscheint es mir durchaus sinnvoll, dass sie in ihren Grundzügen für Bund und Länder verbindlich festgelegt werden, und zwar in der Form, wie sie schon jetzt im Grundgesetz nach Artikel 91a Abs. 2 und 109 As. 3 vorgesehen ist. Ich will nun noch ganz kurz zur Diskussion über die Artikel 84 und 85 GG und meinen Vorschlag, die Direktwahl des Ministerpräsidenten einzuführen, Stellung nehmen. Zunächst zu den Artikeln 84 und 85 GG: In der Diskussion wurde gesagt, man dürfe das Verwaltungsverfahren und die Organisation der Behörden seitens des Bundes nicht völlig aus der Hand geben. Meiner Meinung nach sollte man genau das tun. Denn der deutsche Föderalismus ist nun einmal seit der Paulskirchenverfassung zu einem wesentlichenTeil ein Exekutiv-Föderalismus. Schon deshalb gehört die Kompetenz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens und der Verwaltungsorganisation primär in die Hand der Länder. Das ist u. a. der Grund für meinen Vorschlag, Artikel 84 Abs. 1 (2. Halbs.) und Artikel 85 Abs. 1 (2. Halbs.) zu streichen. Gleiches hat nach meiner Erinnerung schon vor einem Jahr der Bundesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen in seinem Berliner Programm zur Reform des Föderalismus vorgeschlagen. Die grundrechtliche Argumentation, die für eine Kompetenz des Bundes zur (teilweisen) Regelung des Verwaltungsverfahrens sprechen soll, leuchtet mir nicht ein. Denn die Länder sind ja bei der gesetzlichen Ausgestaltung ihrer Verwaltungsverfahren ebenfalls an die Grundrechte gebunden; diese sorgen hinreichend für die erforderliche Homogenität in den verschiedenen verfahrensrechtlichen Regelungen. Natürlich kann man meinem Vorschlag nur folgen, wenn gleichzeitig der Artikel 104a GG in der von mir vorgetragenen Weise reformiert wird. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der vorgeschlagenen Direktwahl der Ministerpräsidenten. Meine Ausgangsthese lautet insoweit: Wenn man die Entstehungsgeschichte der verfassungsrechtlichen Regelungen über den Bun-
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desrat berücksichtigt, so kann man heute nicht mehr von einer demokratischen Legitimation der Zustimmungsgesetze i. S. des Grundgesetzes sprechen. Und wenn ich mir dann die Frage vorlege, wie denn gewährleistet werden kann, dass in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Regelungsintention des Grundgesetzes im Bundesrat primär über die Landesbezogenheit derartiger Gesetze aufgrund des Vollzugssachverstands der Landesexekutiven diskutiert und befunden wird, und wie weiter die Kompromissfähigkeit des Bundesrates sichergestellt werden kann, dann legt sich für mich auch der Gedanke der Direktwahl der Ministerpräsidenten nahe. Aber ich gestehe Ihnen gerne zu, dass hinter diesem Vorschlag auch meine grundsätzliche Skepsis bezüglich der hinreichenden Leistungsfähigkeit unserer heutigen Parteienstaatsdemokratie steht. Bernhard Vogel, der ehemalige Ministerpräsident von Thüringen, hat vor einigen Monaten in der Göttinger Rechtswissenschaftlichen Gesellschaft einen Vortrag über die gegenwärtige Bundesstaatsdiskussion gehalten und dabei die (bundes-)parteipolitisch bestimmte Entscheidungsfindung des Bundesrates u. a. mit dem Argument verteidigt, dass die wesentlichen politischen Entscheidungen in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte über die Wiederbewaffnung, Ostpolitik etc. auf diese Weise im Konsens aller tragenden politischen Kräfte getroffen seien. Das ist sicher richtig, und dennoch würde ich folgende Überlegung zu bedenken geben: Im Konsens aller politischen Parteien ist ja auch die heutige immense Staatsverschuldung herbeigeführt worden. Und meine Frage lautet insoweit: Warum hat der Artikel 113 GG nie gegriffen, um diese Staatsverschuldung zu verhindern? Die Antwort kann doch nur lauten: Weil die Regierung nicht die dafür nötige Selbstständigkeit gegenüber den politischen Parteien besitzt. Ich weite mit dieser Überlegung meine Argumentation bewusst aus. Aber wir müssen meines Erachtens nun einmal langfristig darüber nachdenken, ob Demokratie immer mit Parteienstaatsdemokratie gleichzusetzen ist. Ich gehe insoweit immer noch mit Aristoteles u. a. von der Weisheit einer gemischten Verfassung aus, und genau die haben wir heute auch wegen der (bundes-)parteipolitischen Durchdringung des Bundesrates nicht mehr. Bei der Vorbereitung dieses Referats habe ich begleitend noch einmal Tocquevilles berühmtes Werk »Über die Demokratie in Amerika« gelesen. Was dort zu den Gefahren einer unbegrenzten Massendemokratie gesagt wird, gilt auch heute noch: Auch die faktische Monopolisierung der staatlichen Meinungsbildung bei den politischen (Bundes-)parteien (und ebenfalls die drohende totale Nivellierung der einzelstaatlichen Rechtsordnungen durch die EU) üben meines Erachtens einen entsprechenden Homogenitätsdruck aus, dem man mit Tocqueville mit einer Wiederbelebung des föderalen Gedankens begegnen sollte. Das zumindest war die Absicht meiner Darlegungen.
12. Mehr direkte Demokratie als Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus? Zugleich eine Stellungnahme zu dem Buch von Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie
Hans Herbert v. Arnim hat in seinem wissenschaftlichen Werk ständig die Frage beschäftigt, ob unsere Parteienstaatsdemokratie bereit und in der Lage ist, jene staatlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, die das Gemeinwohl erfordert.1 Man greift auch bei seinen zahlreichen, häufig aus aktuellem Anlass entstandenen Stellungnahmen zu finanziellen Fragen des Abgeordneten- und Parteienrechts zu kurz, wenn man sie nicht in dem Kontext dieser allgemeinen Fragestellung sieht. Ein besonders deutlicher Beleg für diese Behauptung stellt m. E. sein 2001 in 2. Auflage erschienenes Buch »Vom schönen Schein der Demokratie« dar. Dieses Buch wird darum nach meinem Dafürhalten falsch verstanden, wenn man darin lediglich eine verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Kritik am gegenwärtigen Zustand des deutschen Föderalismus sieht und ein (einseitiges) Plädoyer für mehr direkte Demokratie in unserem Land. Vielmehr will v. Arnim nach meinem Eindruck mit diesem Buch exemplarisch an der Entwicklung des deutschen Föderalismus zeigen, dass die deutsche Parteienstaatsdemokratie an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen ist und nach Wegen gesucht werden muss, um aus dieser Sackgasse herauszukommen. Oder anders gesagt: der Niedergang des deutschen Föderalismus beweist nach v. Arnim, dass man in Deutschland von einer »Regierung durch und für das Volk« und damit von einer lebensfähigen Demokratie kaum noch sprechen kann. Deshalb ist – wie er sagt – »die Aktivierung der mündig gewordenen Bürger selbst und die Schaffung der dazu erforderlichen Institutionen« vonnöten2. 1 Zu dieser Frage zuletzt: Hans Herbert v. Arnim, Wer kümmert sich um das Gemeinwohl?, ZRP 2002, 223 ff. Zu seinem (prozeduralen) Verständnis des Gemeinwohls s. bes. folgende Bücher v. Arnims: Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie (1977) und: Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland (1984), bes. S. 103 ff. (Kapitel 3); vgl. ergänzend auch v. Arnim, Volkswirtschaftspolitik (6. Aufl. 1998), S. 19 ff., 27 ff. 2 So v. Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie (2. Aufl. 2001), S. 13 (Vorwort), daneben ganz entsprechend: S. 45, 166, 304 f., 309 f. u. a.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Diese These des Buches soll im Folgenden kurz nachgezeichnet (I.) und im Anschluss daran v. Arnims Analyse des gegenwärtigen parlamentarisch-demokratischen Entscheidungssystems auf Landesebene kritisch beleuchtet werden (II.). Schließen will ich mit einer Stellungnahme zu seiner grundsätzlichen These, dass am Gemeinwohl orientiertes staatliches Entscheiden und Handeln primär durch die Zuerkennung von mehr direkter Demokratie auf allen Entscheidungsebenen unseres Staates befördert werden kann (III.), wobei ich mich auch insoweit auf die mir in Theorie und Praxis vertraute verfassungsrechtliche Argumentation beschränke.
I.
Die Argumentation v. Arnims
1.
Der Niedergang des deutschen Föderalismus
Es gibt nach v. Arnim mehrere Symptome, die deutlich zeigen, dass heute die Frage nach der Existenzberechtigung der Bundesländer ernsthaft gestellt werden muss: a) Zunächst ist, was die Kompetenzen der Länder betrifft, bei den Gesetzgebungskompetenzen nicht nur ein starker Rückgang zu konstatieren3, sondern darüber hinaus die ungenügende Wahrnehmung der verbliebenen Kompetenzen durch die Länder in diesem Bereich. Letzteres zeigt sich besonders an den vielen, von den Vertretern der Landesbürokratien abgesprochenen Mustergesetzentwürfen, die dann von den jeweiligen Landesparlamenten allenfalls noch mit kleinen Änderungen – ähnlich wie die parlamentarische Billigung der Staatsverträge – »ratifiziert« werden; es zeigt sich aber auch an der mangelnden Qualität dieser Gesetzgebung, wofür das »Desaster« der Landesgrunderwerbsteuer und das rheinland-pfälzische Transplantationsgesetz als Belege von v. Arnim genannt werden4. Die bekanntlich geringen finanziellen Handlungsspielräume der Länder werden zusätzlich durch die ihnen in den Artikeln 91a und 91b GG auferlegte Teilfinanzierung für die entsprechenden Gemeinschaftsaufgaben eingeengt. Das Gleiche gilt für die faktische Abwicklung der Investitionszuschüsse nach Artikel 104a Abs. 4 GG5. Die genannten Förderinstrumente zeigen die »Eigenheiten der bundesdeutschen Politikverflechtung« besonders deutlich6. Im Übrigen können diese finanziellen Fördermaßnahmen als »Alternative« zur Länder3 4 5 6
Zum folgenden: v. Arnim, a. a. O., S. 60 ff. So v. Arnim, a. a. O., S. 128 ff., 152 f. So v. Arnim, a. a. O., S. 100. So v. Arnim, a. a. O., S. 78.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
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neugliederung, die ja im Grunde für einen lebensfähigen Föderalismus in Deutschland unverzichtbar ist, verstanden werden7, – sie machen es also möglich, die Lösung dieser wichtigen Frage auf die lange Bank zu schieben8. Ferner tragen zur Einengung der finanziellen Handlungsspielräume der Länder natürlich auch die Zinsen für ihre ständig wachsende Verschuldung, die von ihnen selbst kaum beeinflussbare Höhe der Besoldung ihrer zahlreichen Beamten und Angestellten und endlich auch die Kosten für den Vollzug der vom Bund erlassenen Leistungsgesetze nach Artikel 104a Abs. 3 GG bei9. Was schließlich die Verwaltungskompetenzen der Länder betrifft, so sieht v. Arnim diese hinsichtlich der vielen von den Ländern zu vollziehenden Bundesgesetze als gering an. Denn insoweit lässt »die Verwaltungsbefugnis« der Länder, wie er sagt, »jedenfalls in dem ganz dominierenden Bereich der gesetzesgebundenen Verwaltung … kaum Spielräume zur politischen Gestaltung und ist deshalb im Vergleich zur Häufung der Gesetzgebung beim Bund von geringem politischen Gewicht (bringt allerdings – wegen der Personalintensität der Verwaltung – hohe Kosten und ein gewaltiges Patronagepotential mit sich). Die Gestaltungsmöglichkeiten der Länder bei der Steuerverwaltung, also der Erhebung der Einnahmen, sind noch geringer, weil diese bundesgesetzlich geradezu perfektionistisch geregelt ist. Aber auch in den übrigen Bereichen hat der Bund seine Einflussmöglichkeiten auf die Landesverwaltung (mit Zustimmung des Bundesrats) immer stärker in Anspruch genommen, wofür ihm das Grundgesetz die verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte bot (Artikel 84 Abs. 1 und 2, Artikel 85 Abs. 2 GG)«10. b) Neben dem geschilderten Rückgang der Länderkompetenzen hat die Verformung der politischen Entscheidungsstruktur in den Ländern maßgeblich zum Niedergang des deutschen Föderalismus beigetragen. Die auffälligste Veränderung ist insoweit, dass die Landesparlamente inzwischen bis hin zur politischen Bedeutungslosigkeit entmachtet sind und umgekehrt die Landesregierungen namentlich durch die erweiterten Beteiligungsrechte im Bundesrat an politischem Gewicht gewonnen haben. Hinzu kommt als weitere wesentliche Veränderung, dass besonders durch die zuletzt genannte Vermehrung der Beteiligungsrechte eine Verwischung der Verantwortlichkeiten für zahlreiche politische Entscheidungen des Bundes und der Länder eingetreten ist. Befördert worden ist diese Entwicklung daneben durch die bereits erwähnten Gemeinschaftsaufgaben (Artikel 91a und 91b GG) und die Kompetenzen des Bundes nach Artikel 104a Abs. 3 und 4 GG, – alles Regelungen, die ja erst 1969 in das 7 8 9 10
So v. Arnim, a. a. O., S. 78 f., s. auch S. 83. Allgemein zur unterlassenen Länderneugliederung: v. Arnim, a. a. O., S. 54 ff., 309. v. Arnim, a. a. O., S. 100. v. Arnim, a. a. O., S. 68.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Grundgesetz aufgenommen wurden. Schließlich haben auch die schon erwähnten zahlreichen Absprachen zwischen den Ländern einerseits sowie zwischen Bund und Ländern andererseits auf allen wichtigen Politikfeldern zur Verwischung der Verantwortlichkeiten maßgeblich beigetragen. Zusammenfassend kann diese Entwicklung, vor allem wenn man sich noch einmal die erweiterten Zustimmungsrechte der Landesregierungen im Bundesrat und daneben die weitgehende Rücksichtnahme ihres Abstimmungsverhaltens dort auf die Wünsche der sie tragenden (Bundes-)Parteien in Erinnerung ruft, am Treffendsten heute darum mit dem Stichwort »kooperativer Föderalismus« gekennzeichnet werden11.
2.
Die Ursachen für diese Entwicklung
Die entscheidende Ursache für diese Entwicklung sieht v. Arnim darin, »dass Berufspolitiker sich vorwiegend von ihren Eigeninteressen steuern lassen«, was u. a. zur Folge hat, dass dieser Personenkreis auch versucht, die »vorgegebenen Strukturen … nach … (erg.: seinen) Bedürfnissen zu verformen«. Das gilt nun, wie er sagt, »nicht nur bei der Gestaltung des Wahlrechts, der Parteien- und Politikfinanzierung und der Ämterpatronage, die unmittelbar den Erwerb von Macht, Geld und Posten betreffen, es gilt auch beim Schaffen und Verändern anderer Regeln und Verfassungsinstitutionen, bei denen der Zusammenhang mit den Eigeninteressen sehr viel indirekter und deshalb schwerer zu durchschauen ist«. Genau dafür ist seiner Ansicht nach der heutige Zustand des deutschen Bundesstaates ein herausragendes Beispiel12. Inwiefern liegt dieser Zustand nun aber im »Eigeninteresse« der Berufspolitiker? v. Arnim gibt auf diese Frage eine bisher in dieser Eindeutigkeit kaum gegebene Antwort13 : Der heutige kooperative Föderalismus ermöglicht es vielen Berufspolitikern in den Ländern von der Politik (gut) zu leben, ohne dabei eigene Verantwortung für ihre politischen Entscheidungen übernehmen zu müssen. Jede Veränderung dieses Zustands würde die Zahl derer, für die heute diese angenehme Möglichkeit der Berufsausübung besteht, (stark) vermindern. Genau das ist – wie v. Arnim sagt – von der »politischen Klasse« unerwünscht. Sucht man nach dem tieferen Grund für diese Erklärung v. Arnims, so stößt man neben von ihm dargelegten strukturellen, in dem augenblicklichen Zustand der politischen Institutionen gelegenen Gründen auf eine verblüffende Antwort: 11 Zum Ganzen v. Arnim, a. a. O., S. 69 ff., 80 ff., 85 ff., 104 ff. 12 v. Arnim, a. a. O., S. 14, s. daneben S. 148: Die Entwicklung des deutschen Föderalismus »lag und liegt in den Händen von Akteuren, die ihr Eigeninteresse verfolgen und dabei die Institutionen pervertiert haben«; ganz entsprechend S. 306 f. 13 Zum Folgenden v. Arnim, a. a. O., S. 41 ff., 144 ff., 306 f. u. a.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
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sein pessimistisches Menschenbild von »den« Politikern und sein im Gegensatz dazu bestehendes positives Menschenbild vom Bürger, der sein politisches Wollen in Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden artikuliert. Deshalb fehlt nach v. Arnim für die repräsentative Demokratie die »innere Rechtfertigung«. Diesen Standpunkt erläutert er genauer wie folgt: »Wenn es zutrifft, dass Politiker primär eigennützige Interessen verfolgen und dies umso besser möglich ist, je größer jener (erg.: durch die repräsentative Demokratie gewährte) Freiraum ist, und wenn umgekehrt die Bürger gemeinsinnig handeln (und zugleich relativ aufgeklärt sind), liegt es um so näher, eine enge Rückbindung der Politik und der Politiker an die Bürger zu postulieren und so jenen Freiraum möglichst klein zu halten. Für angebliche Gemeinwohlorientierung repräsentativer Politik – neben dem und unabhängig vom unmittelbaren, empirischen Volkswillen – ist dann kein Platz mehr. Anders ausgedrückt: Der Gedanke eines selbständigen (unabhängig vom Wollen und von den Präferenzen der Bürger zu ermittelnden) Gemeinwohls wird überhaupt nur dann relevant, wenn andere als die Bürger entscheiden (und dabei einen Freiraum besitzen). Wenn die ›Repräsentanten‹ aber primär ›schlecht‹, die Bürger, wenn nur die entsprechenden Verfahren stimmen, dagegen primär ›gut‹ entscheiden, entfällt die Rechtfertigung für einen eigenen Freiraum und damit auch die innere Rechtfertigung für repräsentative Demokratien überhaupt«. Vielen bisherigen Analysen des deutschen Föderalismus liegt, wie v. Arnim kritisch ergänzend bemerkt, weil sie diese Realitäten übersehen, letztlich »eine gewisse Naivität des Menschenbildes« zu Grunde14.
3.
Die Lösung: Mehr direkte Demokratie
Mit diesen Zitaten ist auch schon der Lösungsweg angedeutet, der nach v. Arnim den Niedergang des deutschen Föderalismus aufhalten, ja diese Entwicklung umkehren kann. Denn es muss nach dem Gesagten notwendigerweise zu einer »möglichst engen Rückbindung der politischen Willensbildung an die Präferenzen des Volkes« kommen, um das die Willensbildung der »politischen Klasse« beherrschende Eigeninteresse überwinden zu können. Das wiederum vermögen nach v. Arnim nur »zwei Arten von Institutionen: direkte Demokratie und – jedenfalls der Idee nach – wettbewerbliche Wahlen«15. In der heutigen 14 v. Arnim, a. a. O., S. 293 f., 307 (Hervorhebung A.J.); ähnlich S. 291, 300. 15 v. Arnim, a.a.O., S. 294. Erläuternd heißt es dort: »Wenn die Rückbindung an die Präferenzen der Bürger das zentrale Ziel für gute demokratische Institutionen ist, kommt es – neben Verbesserungen der direkten Demokratie – auch zentral auf die Herstellung echten, fairen – personellen und sachlichen – Wettbewerbs bei Wahlen an. Ja, es wäre sogar möglich, dass auf diesem Wege gewisse Einwände gegen die direkte Demokratie eher zurücktreten, weil
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Situation allerdings – das ergeben seine weiteren Ausführungen eindeutig16 – kann man sich nur von dem sinnvollen Ausbau der teilweise bestehenden Formen direkter Demokratie auf Landesebene bzw. der Einführung entsprechender Verfahren in allen Bundesländern, dem Bund (und auch Europa) wirkliche Verbesserungen erhoffen. Besondere Kritik übt er – was die bestehenden direktdemokratischen Entscheidungsverfahren betrifft – an den viel zu hohen Quoren für die einzelnen Formen der direkten Demokratie und – was ihren Gegenstandsbereich angeht – an dem mehr oder weniger strikt für sie geltenden sog. »Finanztabu«17. Nach v. Arnim belegen nun auch empirische Untersuchungen hinreichend die größere Leistungsfähigkeit direktdemokratischer Verfahren gegenüber der repräsentativen Demokratie18. Nimmt man dann noch ihren von ihm besonders hervorgehobenen »demokratischen Mehrwert« hinzu19 und beachtet die innovative Funktion direktdemokratischer Verfahren, durch die sie notwendige Reformen unserer parteistaatlichen Demokratie anzustoßen in der Lage sind20, dann scheinen in der Tat viele gute Argumente für diesen Reformvorschlag v. Arnims zu sprechen.
II.
Defizite in v. Arnims Analyse des gegenwärtigen parlamentarisch-demokratischen Entscheidungssystems auf Landesebene
Um die Hauptthese v. Arnims in seinem hier zu behandelnden Buch, die Notwendigkeit von mehr direkter Demokratie in unserem Staat, richtig zu würdigen, ist es zunächst erforderlich, die Frage zu klären, ob und inwieweit das bestehende parlamentarisch-demokratische Entscheidungssystem auf Landesebene nach wie vor einen Beitrag zur Realisierung des Gemeinwohls leistet (1.) und weiter, inwieweit das durch das konsequente Verständnis der demokratisch legitimierten Staatsgewalt als Ämterherrschaft geschehen kann (2.). Denn wenn unsere Ausgangsthese richtig ist, dass es v. Arnim mit seinen Arbeiten letztlich um die Durchsetzung des Gemeinwohls in der heutigen Parteienstaatsdemokratie geht, dann besitzen seine Vorschläge zur Realisierung von mehr direkter Demokratie in Deutschland (und Europa) insofern allein verfassungsrechtliche
16 17 18 19 20
›verantwortliche‹ Parteien oder persönliche Repräsentanten noch zwischen die Entscheidungen und das Volk treten.« s. bes. v. Arnim, a. a. O., S. 167 ff. (Teil 3). s. besonders v. Arnim, a. a. O., S. 210 ff., daneben auch S. 201 f., 242 u. a. s. besonders v. Arnim, a. a. O., S. 287 ff. Dazu besonders v. Arnim, a. a. O., S. 191 f., 311. s. etwa v. Arnim, a. a. O., S. 154 f., 160 f., 309 f., 312, 314.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
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Relevanz, als sie dazu einen eigenständigen Beitrag im Kontext der übrigen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zur Erreichung dieses Zieles zu leisten vermögen21.
1.
Der Beitrag des parlamentarisch-demokratischen Verfahrens der Entscheidungsfindung auf Landesebene zur Realisierung des Gemeinwohls
Zunächst fordert die Realität parlamentarischer Entscheidungsverfahren auf Landesebene zu einigen Korrekturen des Bildes, wie es v. Arnim in seinem Buch über den gegenwärtigen Zustand des Landesparlamentarismus zeichnet, heraus: a) Was zunächst die Landesgesetzgebung betrifft, so können wohl kaum die beiden von ihm herangezogenen Beispiele (Grunderwerbsteuergesetz und rheinland-pfälzisches Transplantationsgesetz22) sein allgemeines Urteil, dass die Landesparlamente zur ordentlichen Gesetzgebung nicht (mehr) in der Lage seien23, rechtfertigen. Wenn man sich konkret jahrelang u. a. mit der gesetzgeberischen Umsetzung des gesetzestechnisch z. T. miserablen Bundesrahmenrechts herumschlagen musste und daneben im Vergleich die Probleme beim Vollzug vom Bundes- und Landesrecht hautnah kennengelernt hat, so kann man ein solches Urteil v. Arnims nur mit mangelnder praktischer Erfahrung in diesem Bereich erklären. Für das niedersächsische Recht zumindest trifft eine solche Einschätzung – und darüber kann ich mir aufgrund einer mehr als dreißigjährigen einschlägigen praktischen Berufserfahrung ein Urteil erlauben – nicht zu. In den Schubladen des hiesigen Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag liegen im Übrigen manche ausformulierten gesetzgeberischen Lösungen, die viele Ungereimtheiten, die der Bund sich auch im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung geleistet hat, beseitigen würden. Wichtiger noch als diese zu pauschale qualitative Fehleinschätzung der Landesgesetzgebung durch v. Arnim ist mir in diesem Zusammenhang noch der Hinweis auf die von ihm praktisch übersehene, aber nach wie vor feststellbare Legitimation, die gerade das parlamentarische Verfahren der Landesgesetzgebung stiftet24. In welchem anderen Beratungsverfahren kommt es zu einer solch’ 21 Zur Erhellung dieses Kontextes hat v. Arnim selbst einen grundlegenden Beitrag gleistet, s. etwa ders., Gemeinwohl (Anm. 1), S. 212 ff. (§§ 29 – 49). 22 s. v. Arnim, Vom schönen Schein (Anm. 2), S. 128 ff. 23 s. insoweit nur v. Arnim, a.a.O., S. 67 (Hervorhebung A.J.): Man müsse »von einem Niedergang der parlamentarischen Landesgesetzgebung« sprechen, und zwar »sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht.« 24 Die folgenden Ausführungen stützen sich besonders auf das z. Zt. erst als Manuskript vorliegende Gutachten für den 65. Deutschen Juristentag (22./23. September 2004) von Minis-
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
rationalen und umfassenden Auseinandersetzung über die gesetzliche Regelung der anstehenden Probleme, wie sie für die Landesgesetzgebung durch die politische Diskussion im Parlament und in den mehr fachlich und gesetzestechnisch orientierten Ausschussberatungen stattfindet? In letzteren werden ja bekanntlich häufig auch (nochmals) Anhörungen von betroffenen Verbänden u. a. zum zu beratenden Gesetzentwurf durchgeführt und eine Fülle einschlägiger (häufig sehr sachkundiger) Eingaben dazu behandelt25. Die aufgeworfene Frage stellt sich umso mehr, wenn – wie in Niedersachsen – die Mitglieder des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag, die richterliche Unabhängigkeit besitzen und keiner politischen Partei angehören, an den Ausschussberatungen mit jederzeitigem Rederecht teilnehmen und auch den Ausschussbericht für das Plenum, d. h. im Grunde die »offizielle« parlamentarische Begründung für den Gesetzentwurf26, abfassen. b) Ähnlich verkürzt wie die »verbliebene« Vernunft in den Gesetzesberatungen der Landtage sieht v. Arnim nach meinem Eindruck die nach wie vor ansatzweise bestehende und die Güte der Regierungsarbeit befördernde parlamentarische Kontrolle der Landtage. Bei allen Vorwürfen, die man insoweit wegen der häufig zu großen Detailliertheit oder der allein politisch-taktisch motivierten Fragestellungen u. a. machen kann27, ist doch nicht zu übersehen, dass bei wesentlichen, die Bevölkerung betreffenden Entscheidungen eine richtige parlamentarische Kontrolle eine erhebliche Aufklärung über die Hintergründe solcher Entscheidungen zu leisten und darüber hinaus in ganz besonderer Weise friedensstiftend zu wirken vermag. Ich habe das an anderer Stelle ausführlich beispielhaft an der Beschäftigung des Bundestages wie des Niedersächsischen Landtags mit gravierenden atomrechtlichen Fragen deutlich terialdirigent Peter Blum (Mitglied des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes beim Niedersächsischen Landtag): Wege zur besseren Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle, 4. Abschnitt (besonders unter III.). P. Blum hat dieses Gutachten in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Mitgliedern des seit über 45 Jahren in Niedersachsen bestehenden Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes verfasst. Es deckt sich weitestgehend mit meinen Erfahrungen, die ich in den Jahren 1977 – 1990 während meiner Tätigkeit dort gemacht habe. 25 So zumindest in Niedersachsen, wo bekanntlich im Gegensatz zu allen anderen Landesparlamenten und dem Bundestag durchweg nach wie vor der zuständige Fachausschuss mit der jeweiligen Eingabe befasst wird. Das gilt auch für solche, die sich auf Gesetzentwürfe beziehen; sie werden im Zuge der Gesetzesberatungen in den jeweils zuständigen Ausschüssen »miterledigt«. 26 Zur Funktion des Ausschussberichts s. insoweit neben dem in Anm. 24 genannten Gutachten (dort 4. Abschnitt III. 5.) noch Albert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts (1990), S. 195 f. 27 s. dazu A. Janssen, Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Der Präsident des Niedersächsischen Landtages (Hrsg.), Rückblicke – Ausblicke. Festschrift aus Anlass des 30. Jahrestages des Einzuges des Niedersächsischen Landtages in das hannoversche Leineschloss am 11. September 1992 (1992), S. 15 (25 ff.).
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
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gemacht und muss hier aus Raumgründen darauf verweisen28. Auch insoweit kann gesagt werden, dass diese Form parlamentarischer Befassung kaum durch ein anderes Verfahren – auch nicht durch das der schlichten Anhörung im (gestuften) Verwaltungsverfahren – zu ersetzen ist. c) In den weiteren Zusammenhang mit der parlamentarischen Kontrolle gehört auch die Rolle, die gerade der einzelne Landtagsabgeordnete außerhalb des Parlaments bedingt durch die weitreichenden Exekutivbefugnisse der Länder als quasi Ombudsmann für die Bewohner seines Wahlkreises wahrnimmt. Er stellt häufig sogar die direkten Kontakte zwischen Regierenden und Regierten her bzw. wird er – soweit er zugleich ein kommunales Mandat wahrnimmt – als Verbindungsmann »seiner« kommunalen Körperschaft zur Landesebene tätig. Insofern leisten die Landtagsabgeordneten m. E. nach wie vor einen ganz wesentlichen Beitrag zur Integration der Bürger in den Staat, die trotz der um sich greifenden allgemeinen Staatsverdrossenheit und der Tatsache immer noch gelingt, dass die politischen Parteien als solche, denen der einzelne Abgeordnete ja auch angehört, insoweit ganz augenscheinlich versagen und daneben Bürgerinitiativen und andere Gruppierungen, die sich häufig ad hoc aus einem konkreten politischen Anlass bilden, an ihre Seite getreten sind.
2.
Demokratische Ämterherrschaft als Beitrag zur Realisierung des Gemeinwohls
Die (verbliebene) Vernunft des parlamentarisch-demokratischen Entscheidungsverfahrens erschließt sich aber nicht nur aus den soeben kurz geschilderten konkreten Verfahrensabläufen, sondern man muss m. E. insoweit darüber hinaus – schon weil das bei v. Arnim nicht geschieht – genauer auf den Umstand eingehen, dass das Grundgesetz und die Landesverfassungen die Befugnis, demokratisch legitimierte Staatsgewalt auszuüben, für alle drei Gewalten an die Innehabung eines entsprechenden »Amtes« knüpft: a) Den Abgeordneten hat die Lehre schon sehr bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes als »Statusinhaber«29 verstanden und in seiner Stellung als Parlamentsmitglied ein öffentliches Amt gesehen30. Dementsprechend ist auch betont worden, dass »das Gewissen des Art. 38 nicht dasselbe (erg.: sei) wie das des Art. 4, nämlich die absolut unabhängige innere Stimme, sondern das gebundene ›Amtsgewissen‹, das an das Amtsethos, an die Pflicht, das Amt des 28 Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 26), S. 162 ff. 29 Arnold Köttgen, Abgeordnete und Minister als Statusinhaber, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek (1955), S. 195 ff. 30 Wilhelm Hennies, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Festschrift für Rudolf Smend (1962), S. 51 (55 ff.).
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Parlamentsmitglieds ›nach bestem Wissen und Gewissen‹ oder ›gewissenhaft‹ wahrzunehmen, gebunden« sei31. Die in diesem Zusammenhang aus verschiedenen Vorschriften des Grundgesetzes (und der Landesverfassungen) sowie den einschlägigen Abgeordnetengesetzen abgeleiteten Begründungen für diese Ansicht sind hier nicht zu wiederholen32 ; allerdings interessieren die Folgen, die sich aus dieser Rechtsstellung des Abgeordneten ergeben. Zunächst wird bei einer konsequenten Interpretation des Abgeordnetenstatus als öffentliches Amt rechtlich gesehen der Repräsentationsbegriff letztlich hinfällig, weil er »die gebundene Gewaltausübung des Abgeordneten in seinem Amt und sein rechtliches Verhältnis zu den anderen Bürgern nicht zutreffend« wiederzugeben vermag33. Artikel 38 Abs. 1 S. 2 GG (und die Parallelvorschriften in den Landesverfassungen) begründet daneben das »freie Mandat des parteigebundenen Abgeordneten«34. Der so verstandene Abgeordnetenstatus ermöglicht es schließlich, an ein (strengeres) »Disziplinarrecht« für die Abgeordneten zu denken35, unterstützt das richtige Verständnis der Abgeordnetenentschädigung36 und vermag auch schlüssig den Tatbestand der Abgeordnetenbestechung zu erklären37. 31 Wilhelm Henke, Zweitkommentierung des Artikel 21 GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (1991), Rdnr. 80 und 85; daneben Erk Volkmar Heyen, Über Gewissen und Vertrauen des Abgeordneten, Der Staat 25 (1986), 35 ff. (Ergebnis S. 49). 32 So besonders Henke, a.a.O., Rdnr. 78 ff., 83 ff. m. N. 33 Henke, a. a. 0., Rdnr. 83. s. daneben Peter Graf Kielmannsegg, »Die Quadratur des Zirkels«. Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: U. Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie (1985), S. 9 (35): »Das Amtsprinzip kommt ohne das Konstrukt des hypothetischen Volkswillens aus. Die Pflicht dessen, der für alle entscheidet, die Belange aller zu bedenken, braucht nicht auf einen hypothetischen Volkswillen gegründet zu werden. Man wird also wohl sagen dürfen, dass, wer nicht von plebiszitärer und repräsentativer Komponente spricht, sondern von Amtsprinzip und Demokratieprinzip, die sich im demokratischen Verfassungsstaat verbinde, mit größerer Präzision und Klarheit formuliert.« 34 Henke, a. a. O., Rdnr. 85 unter Hinweis auf Badura. 35 W. Henke, Das demokratische Amt der Parlamentsmitglieder, DVB1. 1973, 553 (560 Anm. 51) und ausführlich Walter Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), 549 (561 ff.). 36 Richtig heißt es insoweit bei Wiese, a. a. 0., 551 f.: »An die Stelle des Ersatzes der Erwerbsausfälle und notwendigen Barauslagen, der früher die Bezeichnung (Aufwands-) Entschädigung rechtfertigte, ist der ›Sold des Politikers‹ getreten, das heißt Leistungen, die nach ihrer Art und Höhe keinen Zweifel mehr daran lassen, dass die Besoldungs- und Versorgungsansprüche der Abgeordneten die – öffentlich-rechtliche – Gegenleistung des Staates für die Übernahme des Abgeordnetenamtes sind, um den Parlamentarier in die Lage zu versetzen, ohne Sorge für den Unterhalt für sich und seine Familie mit voller Kraft seine Aufgabe als Repräsentant des ganzen Volkes wahrnehmen zu können … Der heutigen staatlichen Besoldung der Parlamentarier liegt die richtige Erkenntnis zugrunde, dass diese Art der wirtschaftlichen Sicherung eine – zu vermeidende – direkte Beziehung zwischen Verdienen (und Verdiensthöhe) und Berufstätigkeit am ehesten ausschließt und eine größere Entschließungsfreiheit gewährleistet als eine ›freiberufliche‹ Stellung, die häufig nur die verstärkte Abhängigkeit von irgendwelchen Gruppen oder Interessen verdeckt. Das staat-
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
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b) Alle die genannten, letztlich aus dem Verständnis des Abgeordnetenstatus als öffentliches Amt schon heute folgenden (und auch die denkbaren, die darüber hinausgehen,) entfallen für die Bürger, die in direktdemokratischen Verfahren Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen versuchen. Zwar wird aufgrund prinzipieller demokratietheoretischer Überlegungen zu Recht betont, dass das Demokratieprinzip grundsätzlich der Ergänzung durch das Amtsprinzip bedarf38 ; nur ergeben sich aus diesem allgemeinen Gedanken allenfalls ethische, aber keine verbindlichen rechtlichen Pflichten, wie das bei dem entsprechenden Verständnis des Abgeordnetenstatus der Fall ist. v. Arnim stützt – wie hier unter I 2. ausgeführt wurde – seine These vom »besseren« direktdemokratischen Verfahren ja auch nicht auf die rechtliche Pflichtenbindung der in diesem Verfahren tätigen Bürger, sondern rechtfertigt liche Entgelt für die Ausübung des Mandats muss demgemäß selbstverständlich gesichert, aber zugleich selbstverständlich gesichert sein, ohne dass daraus irgendwelche Forderungen hinsichtlich der Art und Weise erwachsen dürfen, wie der Parlamentarier seine Tätigkeit gestaltet.« Auch wenn man gemäß Artikel 48 Abs. 3 S. 1 GG auf den Entschädigungscharakter der Abgeordnetendiäten abstellt, kann man zu einem Verständnis ihrer Diäten kommen, das mit dem Amtscharakter des Abgeordnetenstatus durchaus vereinbar ist. Das zeigt etwa Lothar Determann (Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Entschädigung von Abgeordneten, BayVB1. 1997, 385, 393 f.) und für die Versorgungsleistungen der demnächst als Landtagsdrucksache erscheinende Bericht der Diätenkommission des Niedersächsischen Landtags. 37 Dazu nach wie vor erhellend: Jörg-Detlef Kühne, Die Abgeordnetenbestechung. Möglichkeiten einer gesetzlichen Gegenmaßnahme unter dem Grundgesetz (1971). Daneben könnte selbst ein so weitgehender Reformvorschlag, das Amtsverhältnis des Abgeordneten als ein »Zeitbeamtenverhältnis« in dem Sinne zu verstehen, dass seine Wiederwahl grundsätzlich ausgeschlossen ist, im Blick auf den entwickelten Rechtsstatus des Abgeordneten vor allem dann noch als systemkonform verstanden werden, wenn man eine einmalige Wahl des Abgeordneten auf ca. 8 Jahre vorsehen würde, – ergänzt durch einen Wahlmodus, nach dem alle 4 Jahre die Hälfte der Parlamentsmitglieder neu gewählt wird, s. zu diesem Vorschlag Anonymus, Der Fall Barschel. Zur Legitimationskrise unserer Parteienstaatsdemokratie, ZRP 1988, 62 (65 f.) und Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 26), S. 265 f. 38 s. besonders Kielmannsegg, »Quadratur« (Anm. 33), dort heißt es auf S. 25 f. (Hervorhebungen A. J.): »Wenn aber auch dort, wo alle Bürger mit gleichem Recht an der Regierung des Gemeinwesens teilhaben, notwendig Menschen Entscheidungen treffen, die für andere verbindlich sind, und Entscheidungen als für sich verbindlich gelten lassen müssen, die andere gefällt haben; wenn die Metapher Selbstregierung des Volkes also nicht für Selbstbestimmung aller Bürger steht, dann heißt das: das Demokratieprinzip ist nicht nur offen für die Ergänzung durch das Amtsprinzip, das alle Befugnis, für andere zu entscheiden, als rechtlich umgrenzte Vollmacht begreift und die Verantwortlichkeit dessen, dem solche Befugnis übertragen ist, postuliert – es bedarf dieser Ergänzung zwingend. Denn ohne diese Ergänzung würde das Recht des Bürgers auf Mitentscheidung der gemeinsamen Angelegenheiten zum Recht auf verantwortungsfreie Verfügung über Dritte. Ein solches Recht aber ist nicht begründbar. Es ist insbesondere auch aus dem Demokratieprinzip nicht herleitbar. Vielmehr fordert das Demokratieprinzip selbst, sobald es den Einzelnen als einen von kollektiven Entscheidungen Betroffenen erkennt, dass diese Entscheidungen vor den Betroffenen verantwortet werden müssen. Mit anderen Worten – es mündet in das Amtsprinzip ein.«
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sie letztlich mit seinem pessimistischen Menschenbild von »den« Politikern und seinem positiven von den an direktdemokratischen Verfahren Beteiligten. Bei aller nur relativen Vergleichbarkeit von durch die Verwaltung abzuwickelnden Massenverfahren für industrielle Großvorhaben u. a. mit den nach v. Arnim nachhaltig zu fördernden direktdemokratischen Verfahren wird derjenige, der in solchen Verwaltungsverfahren u. a. öffentliche Anhörungen von Bürgerinitiativen etc. als Verwaltungsbeamter durchzuführen hatte, an solcher positiven Einschätzung des in direktdemokratischen Verfahren aktiven Personenkreises seine Zweifel haben. v. Arnim beachtet insoweit auch nicht hinreichend, wie mir scheint, eine nach wie vor verfassungstheoretisch erhebliche Unterscheidung, die schon Hans Liermann 1927 für die Weimarer Reichsverfassung reklamiert hat – die an Ferdinand Tönnies angelehnte Unterscheidung zwischen Gesellschaftsvolk und Gemeinschaftsvolk39. Sie besagt u. a., dass sich die Bürger, sofern sie als Staatsorgan handeln – und das tun sie auch, wenn sie sich der verfassungsrechtlich vorgesehenen direktdemokratischen Verfahren bedienen40 – häufig ebenfalls primär von Eigeninteressen leiten lassen. Genau dieses Phänomen wird von Liermann mit dem Begriff »Gesellschaftsvolk« präzise beschrieben. Da man die Menschen nun insoweit eben nicht besser machen kann, als sie sind, scheint mir nach wie vor eher noch als das Vertrauen v. Arnims auf die lautere Gesinnung der in direktdemokratischen Verfahren tätigen Bürger das konsequente Verständnis des Abgeordnetenstatus als öffentliches Amt eine Gewährleistung dafür zu sein, dass das Gemeinwohl bei staatlichen Entscheidungen nicht aus dem Blick gerät. c) Das zuletzt Gesagte gilt allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass auch die aufseiten der Exekutive politisch Entscheidenden und die Bediensteten, welche die dort getroffenen Entscheidungen »vollziehen«, ihre entsprechenden – bzw. 39 So Hans Liermann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart (1927), bes. S. 83 ff., S. 102 ff. (= 3. Abschnitt) und Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (8. Auflage 1935 – Neudruck: Darmstadt 1963). Zu beachten ist, dass Liermann immer vom neuzeitlichen »Not- und Verstandesstaat« ausgegangen ist und sein Demokratieverständnis folgerichtig nichts mit identitärer Demokratie bzw. »advokativer Volkssouveränität« i. S. Carl Schmitts gemein hat (s. zu diesem Verständnis Carl Schmitts nunmehr : Ulrich Thiele, Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer ›demokratischen‹ Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung, 2003). Welche Bedeutung für die Interpretation des (demgegenüber von Liermann als Gegensatz zum Gesellschaftsvolk verstandenen) Gemeinschaftsvolkes die Genossenschafttheorie Otto von Gierkes, bzw. allgemein gesprochen: der »Gedanke der Staatsgenossenschaft« (so J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Auflage 1998, S. 168 ff.), besitzen könnte, habe ich genauer dargelegt: A. Janssen, Die bleibende Bedeutung des Genossenschaftsrechts Otto von Gierkes für die Rechtswissenschaft, s. II. 3. dieses demnächst in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germanist.Abt. erscheinenden Aufsatzes. 40 Dazu schon Liermann, Deutsches Volk (Anm. 39), S. 83 ff., 111 ff. und besonders S. 140 ff.
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was den für den Vollzug verantwortlichen Personenkreis angeht, noch strengeren – »amtsrechtlichen« Bindungen beachten. Die einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (einschließlich des dort vorgesehenen Wortlauts des Eides, den die Mitglieder der Regierung vor dem Parlament schwören) und die Vorschriften des Beamtenrechts (und des BAT) enthalten insoweit klare Regelungen, deren Nichtbefolgung auch – namentlich für die Beamten durch das Disziplinarrecht und bestimmte Straftatbestände – Sanktionen nach sich ziehen41. Es ist erstaunlich, dass v. Arnim in allen seinen Arbeiten – soweit mir bekannt – gerade den besonderen Beitrag von Beamtentum und Bürokratie zur Realisierung des Gemeinwohls praktisch nicht gewürdigt hat42. Dabei kommen als Garant für am Gemeinwohl orientierte staatliche Entscheidungen nach meinem Dafürhalten primär die bürokratisch organisierte Verwaltung und ihre Bediensteten in Betracht43. Denn das Bundesverfassungsgericht kann diese Aufgabe deshalb nicht erfüllen, weil es lediglich mit (eventuellen) Verfassungsverstößen und auch nur auf Antrag befasst wird. Und ähnlich steht es mit der Funktion des Bundespräsidenten als weiterem Hüter der Verfassung bei der Ausfertigung von Gesetzen und der Ernennung von Bundesrichtern, Bundesbeamten, Offizieren und Unteroffizieren. Um die große Bedeutung dieser Rolle der Bürokratie richtig zu würdigen, ist vor allem daran zu erinnern, dass ihr Verständnis als reine »Vollzugsbürokratie« zu kurz greift. Denn sie konzipiert ja – ggf. unter Beachtung politischer Vorgaben durch die dazu befugten Entscheidungsträger – alle entscheidenden längerfristigen Planungen staatlicher Tätigkeit. Für die Länder ist als Beleg für diese Behauptung nur (und ähnlich sieht es im Bund aus) an die mittelfristige Finanz- und Aufgabenplanung und die daraus zu entwickelnden, alljährlich (bzw. im Zwei-Jahres-Rhythmus) zu erstellenden Haushaltspläne hinzuweisen oder auf die Landesraumordnungsprogramme, die etwa für alle wirtschaftlich bedeutsamen Standortentscheidungen und die von den Gemeinden aufzustellenden Flächennutzungs- und Bebauungspläne Vorgaben enthalten. Wohl gemerkt: Das sind alles im Wesentlichen von der Bürokratie entwickelte Konzepte für die Politik. Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass die 41 Übersehen werden sollte daneben nicht die in verschiedenen Landesverfassungen vorgesehene Möglichkeit der Ministeranklage, s. dazu übersichtlich: Guido Hüpper, Der Staatsgerichtshof des Landes Niedersachsen (2000), S. 234 ff. 42 Besonders deutlicher Beleg für diese These ist in meinen Augen v. Arnims Buch: Gemeinwohl und Gruppeninteressen (1977), in dem Beamtentum und Bürokratie als Garanten des Gemeinwohls nicht vorkommen. 43 s. dazu A. Janssen, Die Infragestellung des Verfassungsstaates, Die Verwaltung 35 (2002), 117 (124, 126 f., 128) und ders., Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen, ZBR 2003, 113 (123 ff., 127 ff., 130 f.).
372
2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
Verfassung ausdrücklich ein Gesetzesinitiativrecht der Regierung vorsieht und auch im Bundesrat die Landesregierungen (und nicht die Landesparlamente) bzw. im Ministerrat auf europäischer Ebene die Bundesregierung (und nicht der Bundestag) agieren, d. h. im Ergebnis wiederum, dass auch insoweit die sogenannte »Vollzugs«-Bürokratie ganz entscheidend ihre Hand mit im Spiel hat. Nimmt man alle hier unter a)–c) angestellten Überlegungen zusammen, so ist der Feststellung Isensees zuzustimmen, dass die »Transformation von Macht in Recht« durch das Amt geschieht44 und eben diese Transformation in direktdemokratischen Verfahren nur schwerlich zu leisten ist.
III.
Die verbleibende Rolle der direkten Demokratie in der Parteienstaatsdemokratie des Grundgesetzes
Die soeben unter II. angestellten Überlegungen wären falsch verstanden, wenn man in ihnen eine Bestätigung der These v. Arnims erblicken würde, dass »der rein postulative Ansatz, der immer noch großen Teilen der Staatsrechtslehre eigen ist, … regelmäßig an der Klagemauer« ende45. Denn sie wollten (primär) auf Defizite im verfassungsrechtlichen Denken aufmerksam machen, das m. E. – mehr als gewöhnlich bewusst – indirekt nicht nur die Verfassungsrechtsprechung, sondern in erheblichem Maße auch das Handeln (bzw. Unterlassen) der politischen Akteure bestimmt. Dennoch ist es legitim (und notwendig), darüber hinaus nach Möglichkeiten einer wirksamen Reform unseres demokratischen Entscheidungssystems zu fragen, zumal dieses ja augenscheinlich zum Niedergang des deutschen Föderalismus entscheidend beigetragen hat. Insofern haben die Überlegungen v. Arnims, die er vor allem im dritten Teil seines Buches anstellt, ihren guten Sinn. Danach können vor allem die Einführung einer Direktwahl der Ministerpräsidenten in den Bundesländern und die Einführung bzw. Verbesserung bestehender direktdemokratischer Verfahren dem Niedergang des deutschen Föderalismus entgegenwirken. Auf diese Vorschläge ist nunmehr noch genauer einzugehen.
44 Josef Isensee, Transformation von Macht in Recht – das Amt, ZBR 2004, 3 ff. 45 v. Arnim, Vom schönen Schein, (Anm. 2), S. 309.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
1.
373
Die Direktwahl der Ministerpräsidenten und weitere Möglichkeiten der Direktwahl
a) Was zunächst die Direktwahl der Ministerpräsidenten betrifft, so sieht v. Arnim darin m. E. zu Recht eine begrüßenswerte Beschränkung rein parteipolitischer Überlegungen bei der Auswahl des betreffenden Kandidaten, eine mögliche Stärkung der Eigenständigkeit der Exekutive gegenüber dem Parlament und damit verbunden eine Aufwertung des Parlaments als Kontrollorgan46. Er betont auch, wie ich meine, richtig, dass in diesem Fall »der Bundesrat sich – bei vom Bundestag abweichenden Mehrheitsverhältnissen – weniger leicht zur parteipolitischen Blockade instrumentalisieren ließe«, was der erklärten »Intention der Väter des Grundgesetzes« entspräche, die »im Bundesrat ein Widerlager zur Parteipolitik« hätten schaffen wollen47. Schließlich spricht nach v. Arnim für diese Regelung, dass »ein direkt gewählter Ministerpräsident … vermutlich auch eher bereit« wäre, »aus dem lähmenden Länderverbund auszubrechen und (im Rahmen der Landeskompetenzen) eigenständige Politik zu machen«48. Nimmt man zu diesen Argumenten v. Arnims schließlich noch die Überlegung hinzu, dass die Direktwahl der Ministerpräsidenten die demokratische Legitimation des Bundesrates in europäischen Angelegenheiten nach Artikel 23 GG befördern würde49, so scheint dieser Reformvorschlag in der Tat einen Beitrag zur Wiederbelebung des deutschen Föderalismus leisten zu können. Denn alle wiedergegebenen Argumente für diesen Reformvorschlag lassen sich ja auf den sie verbindenden Grundgedanken zurückführen, das Monopol der »politischen Klasse«, wie v. Arnim sagen würde, in der Ausübung der Staatsgewalt zu durchbrechen, oder anders ausgedrückt: die politischen Parteien entsprechend ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag (Artikel 21 Abs. 1 S. 1 GG) auf eine Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu beschränken. b) Ganz entsprechend dieser letzten Überlegung hat schon Max Weber 1919 vor Erlass der Weimarer Reichsverfassung zur Diskussion über die zukünftige Stellung des Reichspräsidenten bemerkt50 :
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v. Arnim, a. a. O.,S. 156 ff. v. Arnim, a. a. O.,S. 159; dazu auch: S. 105 f., 112 f. v. Arnim, a. a. O.,S. 159. Dazu genauer A. Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: H.-G. Henneke, (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU (2001), S. 59 (77 ff.); s. daneben auch kurz dazu Hartmut Maurer, Volkswahl des Ministerpräsidenten?, in: Demokratie in Staat und Wirtschaft. Festschrift für Ekkehart Stein zum 70. Geburtstag (2002), S. 142 (155). 50 Max Weber, Der Reichspräsident (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften (5. Aufl. 1988), S. 498 (500).
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
»Früher, im Obrigkeitsstaat, musste man für die Steigerung der Macht der Parlamentsmehrheit eintreten, damit endlich die Bedeutung und damit das Niveau des Parlaments gehoben würde. Heute ist die Lage die, dass alle Verfassungsentwürfe einem geradezu blinden Köhlerglauben an die Unfehlbarkeit und Allmacht der Mehrheit – nicht etwa des Volkes, sondern der Parlamentarier – verfallen sind: das entgegengesetzte, ganz ebenso undemokratische Extrem. Man schränke die Macht des volksgewählten Präsidenten ein wie immer und sorge dafür, dass er nur in zeitweilig unlösbaren Krisenfällen (durch suspensives Veto und Berufung von Beamtenministerien), im Übrigen nur durch Anrufung des Referendums in die Reichsmaschine eingreifen kann. Aber man gebe ihm durch die Volkswahl einen eigenen Boden unter die Füße.«
Dieses Zitat belegt zunächst, dass Max Weber eine andere Vorstellung von der zukünftigen Stellung des Reichspräsidenten besaß als die dann in der Weimarer Reichsverfassung (und der Staatspraxis unter der Weimarer Reichsverfassung) Wirklichkeit gewordene51. Es zeigt daneben aber auch – und das ist im vorliegenden Zusammenhang entscheidend –, in welcher Richtung man vertieft auch heute über andere Möglichkeiten einer Direktwahl nachdenken könnte, wenn man am parlamentarischen Regierungssystem auf Bundes- und Landesebene festhalten wollte. Das kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Verwiesen sei insoweit aber ausdrücklich auf den vor fast vierzig Jahren erschienenen Aufsatz von Wilhelm Henke zum Thema »Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt«52, in dem er für Kontrollbefugnisse eines direkt gewählten Bundespräsidenten im Bereich der Personalpolitik »bezüglich der Richter, Beamten und Soldaten des Bundes« und auf dem Gebiet des Haushalts (d. h. eine dem Artikel 113 GG entsprechende Kompetenz) eintritt und daneben vor allem noch ein »förmliches Vetorecht« für den Bundespräsidenten, »wie es dem Präsidenten der USA zusteht« für die Gesetzgebung vorschlägt53. Diese Überlegungen Henkes sind für die hier ja primär interessierende Landesebene deshalb interessant, weil sich dort, wenn man die Rechtsstellung des Landtagspräsidenten näher betrachtet, ein direkt gewählter Parlamentspräsident mit entsprechenden Befugnissen vorstellen lässt. Dafür spricht auch, dass sich dessen Rolle ja im Verhältnis zum Parlament »als Widerpart … charakterisieren lässt« 51 Liermann, (Deutsches Volk, Anm. 40, S. 194) kennzeichnet die Stellung des Reichspräsidenten unter der Weimarer Reichsverfassung allerdings durchaus im Sinne von Max Weber wie folgt: »Auf diese Weise ist die Stellung des Reichspräsidenten in Wahrheit eine tribunizische. Er übt die passiv kontrollierende Volksgewalt für das Volk in rechtlichen Formen als Staatsorgan aus. Wie schon in Rom die tribuni plebis kein positives imperium wie die Konsuln, sondern lediglich ein negatives jus auxilii besaßen, so wirkt auch der Reichspräsident nicht positiv regierend, sondern negativ kontrollierend für das Volk.« Zusammenfassend zu der dieser Sichtweise widersprechenden Stellung des Reichspräsidenten in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik: Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (1997), S. 98 ff., auch S. 139 ff. 52 DVB1. 1966, 723 ff. 53 Henke, a. a. O.,S. 728 f.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
375
und er insofern »eigene Rechte wahrnimmt«, ohne dabei »den Weisungen des Parlaments … unterworfen« zu sein54.
2.
Die verbleibende Aufgabe direktdemokratischer Verfahren
Der Schwerpunkt der Reformüberlegungen v. Arnims betrifft aber die direktdemokratischen Verfahren. Was er insoweit kritisch zur Höhe der Quoren für die bestehenden einschlägigen Regelungen und dem für sie (in dieser Ausschließlichkeit problematischen) Finanztabu ausführt, kann man nur nachhaltig unterstützen. Denn auch die hier unter II. und die soeben unter III 1. angestellten Überlegungen vermögen nicht in der Frage weiterzuhelfen, woher der konkrete, direkte Anstoß zu entsprechenden notwendigen Reformen unseres demokratischen Entscheidungssystems kommen soll. Und was diesen Punkt betrifft, so halte ich die These v. Arnims für unwiderleglich, dass dieser Anstoß in der augenblicklichen verfahrenen politischen Situation allein von den Bürgern selbst in – seinen Vorschlägen weitgehend entsprechenden – direktdemokratischen Verfahren ausgehen kann. Mir kommt es aus den dargelegten verfassungssystematischen Überlegungen auf eben diese Anstoßfunktion der direktdemokratischen Verfahren an. Darin sind sie unersetzlich. Im Übrigen muss aber nach den hier unter II. vorgetragenen Bedenken gelten, dass sie keine solche Gemeinwohlbindung der Entscheidungsträger, wie sie für das öffentliche Amt des Abgeordneten, Ministers, Beamten u. a. gilt, begründen. Und diese Verfahren verbürgen auch nicht jene Rationalität und Offenheit der Diskussion über zu regelnde Probleme, die hier für das parlamentarische Entscheidungsverfahren reklamiert wurden. Aus diesem Grund muss man m. E. vor allem die hohen Quoren und das rigide Finanztabu, soweit sie für Volksinitiativen und Volksbegehren gelten, für besonders problematisch halten. Denn diese beiden Möglichkeiten konkretisieren ja in besonderer Weise die für unser parlamentarisch-demokratisches Entscheidungssystem unverzichtbare Anstoßfunktion der direktdemokratischen Verfahren. v. Arnim hat also Recht, wenn er insoweit mehr direkte Demokratie fordert. Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes und der Landesverfassungen »lebt« so gesehen eben auch wie der Staat selbst von »Voraussetzungen«, die sie
54 So richtig Harald Hemmer, Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen. Amt, Funktion und Kompetenzen (2000), S. 80 f., s. auch S. 65 f. Übersehen werden sollte bei diesem Vorschlag nicht, dass auch nach verschiedenen Gemeindeordnungen das Amt des Ratsvorsitzenden mit dem des direkt gewählten Bürgermeisters zusammenfallen kann. Dass auf diese Weise die Länder ein wirkliches Staatsoberhaupt besäßen, könnte im Blick auf ihr bisweilen problematisches Selbstverständnis ebenfalls für eine solche Lösung sprechen.
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
»selbst nicht garantieren kann«55. Diese Voraussetzungen wiederum – das zeigten die kurzen Andeutungen hier unter II 2 b) – kommen allerdings mit der alleinigen Forderung nach mehr direkter Demokratie nur verkürzt in den Blick. Aber das ist ein neues, von der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Dogmatik stark vernachlässigtes Thema56.
Thesen I. Die Kritik v. Arnims am gegenwärtigen deutschen Föderalismus vollzieht sich in drei gedanklichen Schritten: 1. Für den Niedergang des deutschen Föderalismus ist zunächst der Verlust der Gesetzgebungskompetenzen der Länder und die mangelhafte Wahrnehmung der ihnen verbliebenen (Rest-)kompetenzen im Bereich der Gesetzgebung ursächlich. Hinzu kommt die fortschreitende Einengung ihrer finanziellen Handlungsspielräume, die sich besonders auf die Regelungen der Artikel 91 a, 91 b und 104 a Abs. 3 und Abs. 4 GG zurückführen lässt und daneben auf die sich ständig steigernden Zinszahlungen für die wachsende Verschuldung der Bundesländer. Schließlich werden die Verwaltungskompetenzen der Länder besonders durch die Detailliertheit der von ihnen zu vollziehenden bundesgesetzlichen Regelungen erheblich eingeschränkt. Diese Entwicklung geht nach v. Arnim mit einer Entmachtung der Landesparlamente einher. Sie führt daneben zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern, wofür natürlich auch die ständige 55 So die bekannte, auf den säkularen Rechtsstaat gemünzte Sentenz von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Sie findet sich in seinem Aufsatz: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (112). Diese Sentenz zitiert in ähnlichem Zusammenhang auch H. Maurer (Plebiszitäre Elemente in der repräsentativen Demokratie, 1997, S. 33). Überhaupt stimmen die Ausführungen Maurers (a.a.O., S. 24, 31 ff.) weitestgehend mit der hier versuchten Einordnung direktdemokratischer Verfahren in die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes und der Landesverfassungen überein. 56 Als Beleg für die Notwendigkeit eines entsprechenden Weiterdenkens kann schon die nach wie vor nicht befriedigend gelöste Frage nach dem Inhalt und der rechtlichen Bedeutung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes dienen. Im Ansatz richtig insoweit i. S. der hier getroffenen Unterscheidung sagt W. Henke (Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 10 – Hervorhebung A. J.): »Es gibt eine Gewalt, die in der Hand des Volkes liegt, und zwar unveräußerlich, das ist die verfassungsgebende Gewalt. Aber es gibt eine andere Gewalt, die das Volk nicht hat und nicht haben kann, das ist die Staatsgewalt. Der Begriff der Volkssouveränität vermischt diese beiden Gewalten in der unglücklichsten Weise und hat so eine heillose Verwirrung gestiftet.« Es kommt deshalb auf »ihre Unterscheidung« an.
12. Direkte Demokratie als Reformalternative?
377
Vermehrung der den Landesregierungen in ihrer Eigenschaft als Mitgliedern des Bundesrates eingeräumten Beteiligungsrechte in Bundesangelegenheiten ursächlich ist. 2. Der Grund für diese Entwicklung ist nach v. Arnim primär in dem von Eigeninteresse bestimmten Verhalten der Berufspolitiker auf Landesebene zu suchen. Der den heutigen deutschen Bundesstaat prägende kooperative Föderalismus ermöglicht es ihnen nämlich, von der Politik (gut) zu leben, ohne eine eigene (zurechenbare) Verantwortung für ihre politischen Entscheidungen übernehmen zu müssen. Deshalb sind von dieser Seite keine Initiativen für eine Änderung des bestehenden Zustandes zu erwarten. 3. Das Problem lässt sich nach v. Arnim folglich nur durch die Einführung von mehr direkter Demokratie lösen. Denn im Gegensatz zu den Berufspolitikern auf Landesebene (und im Bund) handeln die Bürger durchweg »gemeinsinnig«. Auch wegen des »demokratischen Mehrwerts« der direktdemokratischen Verfahren ist ihr weiterer Ausbau die richtige Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus.
II. Die Analyse v. Arnims leidet an folgenden Defiziten: 1. Zunächst verkennt er den Beitrag des parlamentarisch-demokratischen Verfahrens auf Landesebene zur Realisierung des Gemeinwohls deshalb, weil er – was die Gesetzesberatung betrifft – insbesondere den mehr fachlich und gesetzestechnisch orientierten Charakter der Ausschussberatungen über die Gesetzesentwürfe nicht hinreichend würdigt. Auf die parlamentarische Kontrolle der Landtage als wesentliches Mittel zur Aufklärung politischer Sachverhalte geht v. Arnim gar nicht ein; und er übersieht auch die friedensstiftende Rolle, die vielfach der einzelne Landtagsabgeordnete außerhalb des Parlaments als quasi Ombudsmann für die Bewohner seines Wahlkreises wahrnimmt. 2. Unberücksichtigt wird von v. Arnim auch der Beitrag, den die vom Grundgesetz und den Landesverfassungen geforderte demokratische Ämterherrschaft zur Realisierung des Gemeinwohls leistet. Denn dadurch wird es ja erst möglich, von einer »Transformation von Macht in Recht« (Isensee) zu sprechen. Für die These v. Arnims, dass die Bürger in direkt demokratischen Verfahren sich nicht bzw. weniger von Eigeninteressen bei ihren Entscheidungen leiten lassen, sprechen im Übrigen schon im Blick auf die Erfahrungen mit Bürgerbeteiligungen in von der Verwaltung abzuwickelnden Massenverfahren keine zwingenden Gründe. Die mit dem öffentlichen Amt des (Landtags-)abgeordneten verbundene rechtliche Pflichtenbindung, die ja für die an direktdemokratischen Verfahren beteiligten Bürgern nicht existiert, muss auch des-
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2. Teil: Notwendige Bundesstaatsreformen
halb als eine wesentliche Gewährleistung für sachgemäße staatliche Entscheidungen angesehen werden.
III. Für die unverzichtbare Rolle der direkten Demokratie in der Parteienstaatsdemokratie des Grundgesetzes ergibt sich aus dem Gesagten folgendes: Der wirksame konkrete Anstoß zu den notwendigen Reformen des deutschen Bundesstaates wird schwerlich, wie v. Arnim richtig sieht (s. I.), von den auf Landes- und Bundesebene tätigen politischen Parteien und den von ihnen dominierten Landesregierungen kommen. Dieser Impuls kann nur von den Bürgern selbst in direkt demokratischen Verfahren ausgehen. Deshalb sind diese Verfahren für die Durchsetung entsprechender Reformen (wie überhaupt für die notwendigen Korrekturen unserer demokratischen Entscheidungssystems) unersetzlich. Aus diesem Grund kann man auch der Kritik v. Arnims an den zu hohen Quoren, die durchweg für direkt demokratische Verfahren gelten, und das sie betreffende rigide Finanztabu ihre gewisse Berechtigung nicht absprechen.
3. Teil: Abschied von der Exekutive als eigenständiger Staatsgewalt
13. Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen
I.
Einleitung: Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung der Fragestellung
Den Deutschen des 21. Jahrhunderts ist offensichtlich weitgehend eine klare Vorstellung vom Sinn und von der Aufgabe ihres Staates abhanden gekommen. Dafür ist m. E. primär ein seit 1945 gebrochenes (und in der Folgezeit in dieser Form kultiviertes) Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte ursächlich.1 Neben diesem hier nicht näher zu vertiefenden Grund haben aber auch die fortschreitende Integration Deutschlands in internationale Organisationen und vor allem in die Europäische Union den Verlust des Staatsbewusstseins in unserem Lande deshalb besonders gefördert, weil damit ja das prägende Kennzeichen (deutscher) Staatlichkeit – die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland – in ihrem überkommenen Verständnis in Frage gestellt wurde und weiterhin wird. Was diese zuletzt genannte Entwicklung betrifft, so ist schon vor Jahren als Antwort darauf die Vermutung geäußert worden, »dass der Staat als Amtsgewalt den Verlust der Souveränität überdauert«.2 Ist das richtig gesehen, so liegt die Aktualität des hier zu behandelnden Themas auf der Hand. Denn unbestritten ist ja der Beamtenstatus die verfassungsrechtlich und gesetzlich am klarsten ausgeprägte Form (demokratischer) Ämterherrschaft. Wird diese nun zunehmend privatisiert, so steht damit folglich die Staatlichkeit der Bundesrepublik
1 Erhellend insoweit m. E. besonders die zweibändige Deutsche Geschichte von Heinrich August Winkler, die unter dem bezeichnenden Titel »Der lange Weg nach Westen« 2000 erschienen ist. Worauf Winkler als Historiker allerdings nicht eingehen konnte und was mir dennoch als die eigentliche Ursache für ein nach wie vor anormales Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit erscheint, ist die in meinen Augen in kaum einem anderen westlichen Land so ausgeprägte Theologisierung des Politischen, die eigentlich nach dem zwischen 1914 und 1945 stattgefundenen zweiten »Dreißigjährigen Krieg« (Toynbee) ein Ende haben sollte. 2 So W. Henke, Die Lehre vom Staat, in: Der Staat 12 (1973), S. 219 (227 Anm. 14). Zu seinem Verständnis der staatlichen Souveränität vgl. Henke, Recht und Staat (1988), S. 286 Anm. 31 und S. 579.
382
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Deutschland als solche auf dem Spiel. Es lohnt sich also, zunächst den verschiedenen neueren Formen der Privatisierung des deutschen Beamtenrechts nachzugehen (II.) und weiter nach dem Kontext zu fragen, in dem diese Entwicklung steht (III.). Im Anschluss daran bleibt dann noch die Aufgabe, die verfassungsrechtlichen Grenzen für die geschilderte Rechtsentwicklung herauszuarbeiten und nach Möglichkeiten einer Reform Ausschau zu halten, die eine Entwicklung des Beamtenrechts im Sinne der verfassungsrechtlichen Vorgaben sicherstellt (III.). Schließlich soll in einem kurzen Ausblick auf die verbleibende Aufgabe der Politik zum Schutz von Beamtentum und Bürokratie hingewiesen werden (V.).
II.
Erscheinungsformen der zunehmenden Privatisierung des Beamtenrechts
Privatrechtliche Anleihen lassen sich in neuerer Zeit im Beamtenrecht vor allem im Blick auf das Individualarbeitsrecht (und Sozialversicherungsrecht) (1.) sowie das kollektive Arbeitsrecht (2.) ausmachen. Daneben gibt es noch weitergehende rechtspolitische Forderungen nach einer Privatisierung des Beamtenrechts (3.).
1.
Die Angleichung des Beamtenrechts an das Individualarbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht
a) Das überkommene Verständnis von der Arbeitszeit des Beamten orientierte sich an der grundsätzlichen Regelung des Beamtenrechts, nach der sich der Beamte »mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen« habe (§ 36 S. 1 BRRG). Demgemäß wurde von den Beamten in zeitlicher Hinsicht ein Diensteinsatz in dem Umfang erwartet, wie das heute etwa noch in § 55 Abs. 2 des Kirchenbeamtengesetzes der Evangelischen Kirche in Deutschland3geschieht. Diese Vorschrift lautet: »Die Amtskraft im Kirchenbeamtenverhältnis ist verpflichtet, auch über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus ohne Entschädigung Dienst zu leisten, wenn zwingende dienstliche Verhältnisse es erfordern und sich die Mehrarbeit auf Ausnahmefälle beschränkt. Wird sie dadurch erheblich mehr
3 Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2001, S. 353 (362). Zur gerade für das öffentliche Dienstrecht exemplarischen Bedeutung des (evangelischen) Kirchenrechts s. A. Janssen, Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen (1982), bes. S. 59 f.
13. Privatisierung des Beamtenrechts
383
beansprucht, so ist ihr innerhalb angemessener Zeit Dienstbefreiung in entsprechendem Umfang zu gewähren.« Ein ganz anderes Verständnis von der Arbeitszeit der Beamten kommt dagegen in dem heutigen § 44 BRRG zum Ausdruck, wo es heißt: Wird der Beamte »durch eine dienstlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit mehr als fünf Stunden im Monat über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beansprucht, so ist ihm innerhalb eines Jahres für die über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Mehrarbeit entsprechende Dienstbefreiung zu gewähren.« Im praktischen Ergebnis wird danach heute im öffentlichen Dienst wie in der Privatwirtschaft kaum Mehrarbeit ohne einen entsprechenden Ausgleich geleistet.4 Daneben ist zu beachten, dass aufgrund der einschlägigen Arbeitszeitverordnungen in Bund und Ländern i. V. m. den zwischen den Spitzenorganisationen der Gewerkschaften und den jeweiligen Regierungen vereinbarten Grundsätzen für die gleitende Arbeitszeit dem einzelnen Bediensteten ein zum Teil noch über die Möglichkeiten in der Privatwirtschaft hinausgehender Freiraum für die Gestaltung seiner Arbeitszeit eingeräumt wird.5 Bereits diese Regelungen machen es dem Interpreten schwer, den eigenständigen, über entsprechende arbeitsrechtliche Regelungen hinausweisenden Sinn des anfangs zitierten Satzes, dass sich der Beamte »mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen« habe, zu verstehen. b) Noch schwieriger wird es, den Sinn des § 36 S. 1 BRRG zu verstehen, wenn die Zwangsteilzeit, deren gesetzliche Einführung auf Landesebene mehrfach versucht und von einem Teil der Literatur auch gebilligt wurde,6 uneingeschränkte Zustimmung in Theorie und Praxis fände. Denn »das geteilte Amt fordert und ermöglicht nicht die ungeteilte berufliche Hingabe«. Und es bietet daneben »auch nicht den Unterhalt in der Höhe, die zur beruflichen Unabhängigkeit erforderlich ist«,7 d. h. es verstößt gegen das dem privaten Arbeitsrecht unbekannte, aber durch Artikel 33 Abs. 5 GG geschützte Alimentationsprinzip. 4 B. Ziemske (Alimentation und Arbeitszeit, ZBR 2001, S. 1, 4 f.) weist insoweit auf die m. E. durchaus nicht zwingende (aber wohl herrschende) Interpretation der genannten Vorschrift hin, nach der die »Gewährung von Freizeitausgleich bzw. hilfsweise Mehrarbeitsvergütung … unabhängig davon« zu gewährleisten ist, »ob die gesetzliche Fünf-Stunden-Grenze im Monat über- oder unterschritten wird« (Hervorhebungen A. J.). 5 s. ergänzend dazu P. Hanau, Arbeitszeitflexibilisierung im öffentlichen Dienst, ZBR 1996, S. 199 f., 201. 6 s. zu den entsprechenden Initiativen nur BR-Drs. 89/88 und BT-Drs. 13/3994, S. 55. Zur Literatur s. den Nachweis bei: I. Franke, Teilzeitbeschäftigung im Wandel, in: Franke/Summer/ Weiß (Hrsg.), Öffentliches Dienstrecht im Wandel (FS für Walter Fürst zum 90. Geburtstag) 2002, S. 119 Anm. 77. 7 So J. Isensee, Affekte gegen eine Institution – überlebt das Berufsbeamtentum? (Verantwortung und Leistung H.34) 1998, S. 19.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Im Ergebnis würde also mit der Einführung der Zwangsteilzeit bewusst verhindert, dass sich der Beamte mit voller Hingabe seinem Beruf widmet. Daneben läge dann in der Tat »eine ›Verzeitlichung‹ des Austauschverhältnisses der Leistungen von Beamten und Dienstherrn«8 vor – ganz im Sinne einer Entwicklung, die sich ansatzweise schon bei den soeben geschilderten Grundsätzen der beamtenrechtlichen Arbeitszeitregelungen zeigte.9 c) Neben der dargelegten »Verzeitlichung« des Beamtenverhältnisses hat die neuere Entwicklung im Beamtenrecht in einigen Fällen auch zu einer mehr im 8 So W. Leisner, Am Ende der Alimentation, DÖV 2002, S. 763 (767). Auf S. 769 spricht Leisner noch drastischer davon, dass die Leistung der Beamten damit »verstündlicht« wird. 9 Die mehrfach in der Literatur geäußerten Bedenken gegen die »voraussetzungslose Antragsteilzeit« vermag ich im Anschluss an folgende Überlegungen von Franke (Anm. 6) S. 109 ff. nicht zu teilen. Danach ist diese Form der Teilzeitbeschäftigung »grundsätzlich noch hinnehmbar, weil sie zugleich institutionellen Erfordernissen des Berufsbeamtentums zu dienen vermag. Sie erlaubt eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und erhöht vor allem für qualifizierte Antragsteller die Attraktivität des Beamtenverhältnisses. Sie kann dazu dienen, das Berufsbeamtentum in einer ständig sich verändernden Arbeitswelt aufgrund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse durch eine zukunftsoffene Fortentwicklung konkurrenz-, leistungs- und funktionsfähig zu erhalten. Das für das Berufsbeamtentum unverzichtbare Lebenszeitprinzip wird dabei nicht angetastet. Auch der Grundsatz der Hauptberuflichkeit kann noch als gewahrt angesehen werden. Denn dem Antrag darf nach § 72a Abs. 2 BBG nur entsprochen werden, wenn der Beamte sich verpflichtet, während des Bewilligungszeitraumes außerhalb des Beamtenverhältnisses berufliche Aufgaben allein in dem Umfang zu übernehmen, in dem vollzeitbeschäftigten Beamten die Ausübung von Nebentätigkeiten gestattet ist. Diese Regelung ist … verfassungsgemäß und – auch im Bereich des Beamtenrechtsrahmengesetzes – geboten, um dem Ausnahmecharakter der voraussetzungslosen Antragsteilzeit Rechnung zu tragen. Die Beschränkbarkeit der Nebentätigkeit wird als Ausprägung der Hauptberuflichkeit angesehen. Damit wird verhindert, dass das Teilzeitbeamtenverhältnis zum Zweitberuf wird, der Beamte morgens in einer Behörde und nachmittags bei einem Freiberufler oder in einem Gewerbe tätig ist. Auf diese Weise wird auch erreicht, dass das Dienst- und Treueverhältnis aufrechterhalten bleibt. Die Begrenzung des Nebenerwerbs, die den aufgrund der Teilzeitbeschäftigung eingeschränkten Alimentationsgrundsatz berührt und die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG betrifft, ist haltbar, weil auch diese Teilzeitbeschäftigung nur auf Antrag gewährt wird. Der Beamte kann auch selbst abwägen, ob und wie lange er auf eine volle Alimentation verzichten kann. Der Gesetzgeber kann davon ausgehen, dass diese Grundsätze nicht in Frage gestellt sind, wenn die Teilzeitbeschäftigung keiner zweiten Erwerbstätigkeit dient und der Beamte selbstverantwortlich zwischen voller und teilweiser Beschäftigung und Alimentation wählen kann. Bei dieser Ausgestaltung der voraussetzungslosen Antragsteilzeitbeschäftigung, die als Ausnahme von der Hauptberuflichkeit normiert ist, bleibt noch gewährleistet, dass der Teilzeitbeamte nicht als gleichrangig neben den vollbeschäftigten Lebenszeitbeamten tritt. Das setzt voraus, dass der jeweilige Dienstherr sorgfältig prüft, ob dienstliche Belange überhaupt, ihrem zeitlichen Umfang nach oder nach ihrer Dauer entgegenstehen, z. B. bei einem nicht auf andere Weise zu behebenden Personalmangel. Die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und die Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags müssen stets gewährleistet bleiben. Erst danach setzt das pflichtgemäß auszuübende Ermessen des Dienstherrn ein. Immerhin hat der Beamte auch dann noch keinen Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, wenn dienstliche Belange nicht entgegenstehen. Es ist zu beachten, dass die voraussetzungslose Antragsteilzeit auch in der Praxis nicht zu einer strukturellen Veränderung des Berufsbeamtentums führen darf.«
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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Sinne des Privatrechts leistungsorientierten Bezahlung wie auch zu einer entsprechenden Leistungsbeurteilung des Beamten überhaupt geführt. Als ersten. Schritt in diese Richtung lassen sich Regelungen über eine mehr leistungsorientierte Bezahlung verstehen, die durch die neuere Besoldungsgesetzgebung eingeführt worden sind (s. etwa §§ 45, 46 BBesG).10 Man wird zwar grundsätzlich kaum bezweifeln können, dass etwa »eine widerruflich anzulegende Leistungszulage wichtige Elemente der Leistungsmotivation in das Besoldungsrecht« einbringt und insoweit keine dem Besoldungsrecht systemfremde Regelung darstellt.11 Wie stark aber bei den erwähnten Bestimmungen aus neuerer Zeit das privatrechtliche (marktwirtschaftliche) Denken als gesetzgeberisches Motiv leitend war, zeigt folgende Begründung für den jetzigen § 45 BBesG im Gesetzentwurf für ein Besoldungsstrukturgesetz. Dort heißt es: »Hierdurch wird die Möglichkeit geschaffen, mit der nur zeitweisen Übertragung von Aufgaben verbundene Managementstrukturen, z. B. Projektarbeit, finanziell zu flankieren. Darüber hinaus können typischerweise vom jeweiligen Funktionsträger nur für einen gewissen Zeitraum wahrgenommene Daueraufgaben, die mit erhöhten besonderen Belastungen verbunden sind, z. B. Stabsaufgaben, angemessen honoriert werden, ohne den vorübergehenden Charakter dieser Belastungen außer Acht zu lassen«:12 Und in den Beratungen über den neuen § 46 BBesG im Innenausschuss des Bundestages ist herausge-
10 Der (entscheidende) § 46 Abs. 1 S. I BBesG wurde mit dem Reformgesetz von 1997, der § 45 BBesG in der jetzigen Fassung mit dem Besoldungsstrukturgesetz von 2002 geschaffen. s. zu beiden. Vorschriften nunmehr die Bekanntmachung der Neufassung des Bundesbesoldungsgesetzes vom 6. August 2002 (BGBl. I S. 3020). Die ursprünglich im Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Besoldungsstruktur vom 21. Juni 2001 (BT-Drs. 14/6390) vorgesehene sog. Bandbreitenregelung (s. dort § 24 a), übergehe ich hier, da sie im Gesetzgebungsverfahren auf Intervention des Bundesrates gestrichen worden ist. Zur grundsätzlichen Kritik an dieser Regelung s. aus der Literatur besonders J. Lorse, Das Gesetz zur Modernisierung der Besoldungsstruktur – Baustein für ein zukunftsorientiertes Personalmanagement?, ZBR 2001, S. 73 (74, 76 ff.) und R. Summer, Modernisierung der Besoldungstechniken?, ZBR 2000, S. 29 ff. Allgemeiner Überblick über die neuen Regelungen bei: B. Slowik/N. Wagener, Das Besoldungsstrukturgesetz, ZBR 2002, S. 409 ff. 11 So m. E. zu Recht R. Summer, Leistungsanreize/Unleistungssanktionen, ZBR 1995, 125 (134 f.) mit genauer Begründung und Hinweisen für eine verfassungsgemäße Ausgestaltung einer solchen Zulage. Eine entsprechende Regelung findet sich in § 42 a des Bundesbesoldungsgesetzes. Es ist übrigens auffallend, dass das Beamtenrecht der Evangelischen Kirche Deutschlands in der einschlägigen Vorschrift (§ 5b des Kirchengesetzes über die Besoldung und Versorgung der Amtskräfte im Kirchenbeamtenverhältnis – Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2001, S. 360) nicht auf die gleich – kritisch – zu besprechenden §§ 45, 46 BBesG, sondern allein auf § 42 a BBesG als für das kirchliche Recht verbindlich verweist. 12 BT-Drs. 14/6390, S. 16 (Hervorhebungen A.J.).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
stellt worden, dass man mit dieser Vorschrift eine »Annäherung an das Tarifrecht« beabsichtige.13 Man muss daneben in den §§ 45, 46 BBesG auch – vor allem in der Zusammenschau mit dem gleich noch zu behandelnden § 12b BRRG – eine weitere, gesetzlich eingeräumte Möglichkeit sehen, »die im System des Beamtenrechts angelegte Amtsverleihung zu umgehen«.14 Zu beachten ist schließlich noch, dass mit den §§ 45, 46 BBesG die Möglichkeit eröffnet wird, dem persönlichen Referenten des Ministers, seinem Pressesprecher, dem Leiter des Ministerbüros etc. entsprechende Zulagen zukommen zu lassen. Es gibt also durchaus (unausgesprochene) politische Absichten, die ebenfalls hinter solchen Regelungen zu vermuten sind.15 d) Dieser zuletzt mitgeteilte Eindruck verstärkt sich, wenn man die im Jahre 1997 in das Beamtenrechtsrahmengesetz eingeführte Möglichkeit, Führungsfunktionen auf Zeit zu vergeben (s. dort § 12b BRRG), die ja vorher bereits ohne rahmenrechtliche Absicherung im Niedersächsischen Beamtenrecht seinen Niederschlag gefunden hatte16 und ebenfalls für den Bund in der 14. Wahlperi-
13 Das berichtet Summer, Modernisierung der Besoldungstechniken? (Anm. 10), S. 302. Dort auch eine kritische Würdigung dieser Vorschrift. 14 So wiederum Summer, a. a. O. (Hervorhebungen dort!). Noch deutlicher heißt es bei J. Lorse (Entwurf eines Führungskräftegesetzes – Stärkung oder Erosion individueller Führungsverantwortung?, ZBR 2002, S. 162, 170): »Die Zulage für die befristete Wahrnehmung herausgehobener Führungsfunktionen erweitert funktionell und mit vergleichbarer besoldungsrechtlicher Wirkung den im Führungskräftegesetz (erg.: in dem eine dem § 12b BRRG nachgebildete Regelung vorgesehen war) festgelegten personellen Anwendungsbereich für die befristete Übertragung von Führungsfunktionen in den Bereich des unteren Führungsmanagements und ermöglicht im Ergebnis die Implementierung von ›Kettenführungsfunktionen‹. Zusätzlich zu Leitungsfunktionen auf Zeit und Leitungsfunktionen auf Probe sowie zu Leitungsfunktionen auf der Zulagenbasis des § 46 BBesG wird durch die beabsichtigte Regelung des § 45 BBesG … eine weitere Möglichkeit geschaffen, die in den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums angelegte dauerhafte Ämterverleihung planvoll zu umgehen.« 15 Deutlich in diesem Sinne Lorse, Besoldungsstruktur (Anm. 10), S. 84 und S. 86: »Die Gewährung einer Zulage für die befristete Wahrnehmung herausgehobener Führungsfunktionen erscheint in diesem latenten Machtkampf zunächst als ›Punktgewinn‹ des Beamten. Die Aussicht auf eine spürbare Belohnung für die Übernahme befristeter Führungsverantwortung ist – bei individueller Betrachtungsweise – ein Leistungsanreiz. Strukturell betrachtet handelt es sich bei jener Zulage um ein Danaer-Geschenk, stellt es doch eine besonders reizvolle Umgehungsmöglichkeit für das planmäßige Durchlaufen der Ämter dar. Die geringen tatbestandlichen Voraussetzungen, die die Zuerkennung dieser Zulage in das faktisch nichtjustitiable Ermessen des Dienstherrn stellen, schaffen die rechtlichen Voraussetzungen für einen systematischen Missbrauch zugunsten politisierter Beamter und sind damit ein idealer Nährboden für Günstlingswirtschaft und Patronage in Spitzenfunktionen der Verwaltung.« 16 Zum niedersächsischen Zeitbeamtenmodell s. G. Bochmann, Führungsfunktionen auf Zeit gemäß § 12b BRRG und ihre Bedeutung für Berufsbeamtentum und Verwaltung unter be-
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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ode ernsthaft erwogen wurde,17 näher betrachtet. Denn mit dieser Bestimmung wird im Ergebnis – wie auch in der Literatur erkannt worden ist18 – praktisch durch die Hintertür der »politische Beamte im weiteren Sinne« auch für die niedrigeren Besoldungsstufen eingeführt. Diese Feststellung gilt umso mehr, wenn man zu dieser Vorschrift dann weiter noch die Einfügung des § 36a in das Bundesbeamtengesetz durch das Besoldungsstrukturgesetz von 2002 hinzunimmt. Denn damit werden ja zusätzliche Möglichkeiten der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand geschaffen:19 Die offizielle Begründung für die Einführung der Führungsämter auf Zeit ist dagegen eine ganz andere. Es werden vor allem verwaltungsorganisatorische Argumente, die primär auf entsprechende Modelle in der Privatwirtschaft verweisen, dafür ins Feld geführt.20 Im Blick auf den Leistungsbegriff, der dem § 12 BRRG zu Grunde liegt, ist wegen der genannten unterschiedlichen Motive für die Einführung dieser Vorschrift m. E. zutreffend festgestellt worden: »Fachliche und politisch interpretierte Leistungsbegriffe vermengen sich mit einem pri-
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sonderer Berücksichtigung des Problems der Ämterpatronage (2000) S. 11 f. sowie Lorse. Führungskräftegesetz (Anm. 14), S. 167 f. Dazu wiederum Lorse, a. a. O., S. 163 ff. So etwa Isensee, Affekte (Anm. 7), S. 18: »Im Ergebnis nähert sich die Stellung des leitenden Beamten der des politischen Beamten an, freilich unter schlechteren dienstrechtlichen Bedingungen.« § 36a BBG erfasst im Gegensatz zum 1997 eingeführten (und im Übrigen weitgehend gleichlautenden) § 20 BRRG allein die Beamten in der Besoldungsordnung B (genauer dazu Lorse, Besoldungsstruktur, Anm. 10, S. 82 f.). Zu dieser Vorschrift bemerkt Lorse ganz im Sinne des hier Gesagten (Führungskräftegesetz, Anm. 14, S. 169): Durch § 36a BBG kann »der Kreis der Führungskräfte, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können, sprunghaft erhöht werden. In Fällen von Organisationsänderungen, also Auflösung, wesentlicher Änderung des Aufbaus oder Verschmelzung, können zukünftig Beamte der BesO B, deren Aufgabengebiet von diesen Organisationsmaßnahmen betroffen sind und bei denen die in dieser Regelung genannten Voraussetzungen für eine anderweitige Unterbringung scheitern, in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Zielgruppe dieser Regelung sind angesichts der Ämterqualitäten die Führungskräfte vorzugsweise in den obersten Bundesbehörden.. Diese Regelung schneidet tief in das beamtenrechtliche Fleisch des Lebenzeitprinzips und bringt die bisher gängige Rechtfertigung der Rechtsfigur des politischen Beamten, es handle sich bei dieser Abweichung vom Lebenszeitprinzip nur um ›eine kleine Gruppe von Beamten‹, die die Institution des Berufsbeamtentums als solche nicht tangiert, ins Wanken.« Zur insoweit übereinstimmenden Argumentation aller entsprechenden Vorschläge seit dem Minderheitsvotum im Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (1973) bis heute s. nur Lorse (Führungskräftegesetz, Anm. 14, S. 166 ff.). Eine damit im Ergebnis zwiespältige Begründung für den § 12b BRRG findet sich in ähnlicher Form schon im Entwurf des Besoldungsstrukturgesetzes. Dort wird als allgemeiner Grund für die angestrebte Flexibilisierung des Besoldungsrechts genannt: »Der Bund will deshalb mit dem Gesetzentwurf den Dienstherren größere Gestaltungsspielräume an die Hand geben, um im Personalbereich differenzierter handeln zu können. Darüber hinaus werden den Mitarbeitern neue Perspektiven eröffnet und ihr Leistungswille gefördert« (BT-Drs. 14/ 6390, S. 11).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
vatrechtlichen, unternehmerischen Leistungsverständnis.«21 Und genau diese Gemengelage ist es letztlich, die § 12b BRRG nicht nur in die Nähe der Regelung über den politischen Beamten (§ 31 BRRG) rückt, sondern auch Parallelen zwischen dem Dienstherrn und dem privaten Arbeitgeber nahe legt, wenn man seine rechtlich weitgehend ungebundene Befugnis, über eine weitere Amtszeit des betroffenen Beamten nach § 12 b Abs. 2 BRRG bzw. über die Umwandlung seines Zeitbeamtenverhältnisses in ein solches auf Lebenszeit (§ 12b Abs. 3 BRRG) zu entscheiden, betrachtet.. Nimmt man dies alles zusammen, so, ist m. E. zutreffend festgestellt worden, dass die Einführung der Führungsfunktionen auf Zeit »den vorläufigen Schlusspunkt einer Entwicklung« markiert, »an deren Ende zwar keine ›Entbeamtung‹, wohl aber ein Verlust an berufsethischer Substanz und Identität beamteter Führungskräfte steht«.22 e) Was das Beamtenversorgungsrecht betrifft, so ist für unser Thema zunächst auf die mit dem Versorgungsreformgesetz von 1998 begründete Verpflichtung des Staates einzugehen, Versorgungsrücklagen für die Beamten zu bilden, die aus den »Eigenbeträgen« des aktiven Beamten und der Versorgungsberechtigten gespeist werden sollen (§ 14a BBesG). Denn die damit gegebenen Parallelen zur Rentenversicherung als dem für den privaten Arbeitnehmer einschlägigen Sicherungssystem liegen auf der Hand. Und es gibt bekanntlich Stimmen in der Literatur, die schon allein aus diesem Grund eine solche »Beitragszahlung« des Beamten für verfassungswidrig halten.23 Der Eindruck einer zunehmenden Angleichung der von Verfassungs wegen unterschiedlichen Systeme der Beamtenversorgung und der Rentenversicherung verstärkt sich, wenn man weiter berücksichtigt, dass ebenfalls 1998 in § 5 Abs. 3 BeamtVG geregelt wurde, dass der Beamte vor Eintritt in den Ruhestand das für die Versorgungsbezüge maßgebliche Amt zumindest drei Jahre bekleidet haben muss, und der neue § 15 a Abs. 4 BeamtVG dem Beamten auf Zeit in leitender Funktion einen Anspruch auf Versorgung nach den Bezügen des Leitungsamtes sogar erst dann zubilligt, wenn es ihm mindestens fünf Jahre übertragen war. Denn unbestritten stellt ja der zum Teil aus Artikel 33 Abs. 5 GG gefolgerte »Grundsatz der Versorgung aus dem letzten Amt … auch eine klare Grenze für die Annäherung der Beamtenversorgung an die Gesetzliche Rentenversicherung« dar.24 21 Lorse, Führungskräftegesetz (Anm. 14), S. 171. 22 Lorse, a. a. O., S. 176. 23 s. etwa H. Lecheler/L. Determann, Verfassungswidrigkeit einer Beitragspflicht zur Beamtenversorgung, ZBR 1998, S. 1 ff.; F. v. Zeschwitz, Versorgungsbeiträge der Beamtenschaft, ZBR 1998, S. 115 ff. Dagegen aber Isensee, Affekte (Anm. 7), S. 15 und B. Ziemske, Öffentlicher Dienst zwischen Bewahrung und Umbruch, DÖV 1997, S. 605 (614) u. a. . 24 So richtig M. Pechstein, Die Versorgung aus dem letzten Amt: Eine Grenze für die Annäherung der Beamtenversorgung an die Rentenversicherung, in: Franke/Summer/Weiß
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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Schließlich ist auch mit dem Versorgungsänderungsgesetz vom 26. Dezember 200125 eine weitere Angleichung des Beamtenversorgungsrechts an die gesetzliche Rentenversicherung vollzogen worden. Nach der Absicht des Reformgesetzgebers ging es mit diesem Gesetzesvorhaben um die »wirkungsgleiche Übertragung« der Rentenreform 2001 auf die Beamtenversorgung; das sei »auch im Interesse sozialer Symmetrie« geboten.26 Ob diese Begründung letztlich ausreicht, um die im Veränderungsgesetz vorgesehene Absenkung des Versorgungshöchstsatzes um 3,25 Punkte sowie die entsprechende Absenkung der jährlichen Steigerungssätze hinreichend zu rechtfertigen, darf vor allem deshalb bezweifelt werden, weil diese Absenkung unter Einbeziehung der Bestandspensionäre geschieht und sie weiter im Zusammenhang mit den bereits geschilderten Modifikationen der Beamtenversorgung, die 1998 in Kraft traten, gesehen werden muss.27
2.
Die Angleichung des Beamtenrechts an das kollektive Arbeitsrecht
Insoweit hat eine Angleichung besonders dadurch stattgefunden, dass die grundgesetzlich statuierte und ausgeformte demokratische Legitimation für das Handeln der Exekutive im Blick auf grundrechtliche Positionen öffentlicher Bediensteter augenscheinlich als nicht hinreichend erachtet wird: a) Das belegt zunächst mit aller Deutlichkeit ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1993 zu der Frage, ob vom Dienstherrn der Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen angeordnet werden kann.28 Für eine entsprechende Befugnis des Dienstherrn ist nach Ansicht des Gerichts29 in jedem Fall wegen des nach Artikel 9 Abs. 3 GG den Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst zustehenden Streikrechts eine besondere gesetzliche Er-
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(Hrsg.), Öffentliches Dienstrecht im Wandel (FS für Walter Fürst zum 90. Geburtstag) 2002, S. 249 (260) mit dem richtigen Hinweis (a. a. O.), dass dem Gesetzgeber »ein Ausgestaltungsspielraum bezüglich dieses Grundsatzes« zustehe, der allerdings nunmehr »zu beträchtlichen Teilen ausgeschöpft« worden sei. BGBl. I S. 3926 ff. BT-Drs. 14/7064, S. 30. s. dazu die genauere Begründung bei M. Pechstein, Die Verfassunsmäßigkeit des Entwurfs für das Versorgungsänderungsgesetz 2001, ZBR 2002, S. 1 ff. und H. Strötz/H.Stadler/P. Wilhelm, Versorgungsänderungsgesetz 2001, ZBR 2002, S. 149 (152 f.). Übersichtlich zu den durch die bisherige Rechtsprechung insoweit aufgezeigten Grenzen: D. Bayer, Beamtenversorgung und Verfassungsrecht, DVBI. 2002, S. 73 ff. s. BVerfGE 88, 103 ff. und aus der Literatur dazu mit zahlreichen Nachweisen: M. Jachmann, Der Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen; ZBR 1994, S. 1 ff. und J. Isensee, Streikeinsatz unter Gesetzesvorbehalt – Gesetzesvollzug unter Streikvorbehalt, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1994, S. 309 ff.; St. Fuhrmann, Beamteneinsatz bei Streiks von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst (1999). A.a.O., S. 114 ff.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
mächtigung erforderlich.30 Damit erscheint ,,die Staatsfunktion, die der streikende Arbeitnehmer, dem sie anvertraut ist, im Streikfall lahmlegt … als ein Stück Privateigentum, das sich dem Zugriff des Dienstherrn und der zeitweiligen Wahrnehmung durch nichtstreikendes Personal von Rechts wegen verschließt«?31 Es ist diese »privatrechtliche« Sicht staatlicher Tätigkeit, die dem Gericht den Grund dafür liefert, dass »eine organisationsinterne Aufgabenzuweisung unter einen der Rechtsordnung sonst unbekannten spezifischen Gesetzesvorbehalt« gerät und damit »die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags der Verwaltung … von einem weiteren Gesetz abhängig gemacht« wird.32 Oder noch allgemeiner gesagt: Die vom Bundesverfassungsgericht nicht konsequent vollzogene Trennung zwischen parlamentarisch-demokratisch legitimierter staatlicher Tätigkeit und privatem gesellschaftlichen Handeln erklärt letztlich das Erfordernis einer (grundrechtlich begründeten) zusätzlichen demokratischen Legitimation. b) Die Frage, ob die parlamentarisch-demokratische Legitimation staatlichen Handelns (bzw. des entsprechend legitimierten kommunalen Handelns) von Verfassungs wegen aus demokratischen und grundrechtlichen Gründen der Ergänzung bedarf, steht nach dem Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs vom 22. Februar 200133 für einen Großteil der Fälle zur Diskussion, für die in den Personalvertretungsgesetzen von Bund und Ländern eine Mitbestimmung des Personalrats vorgesehen ist. Denn es ist in der Literatur richtig betont worden, dass entgegen der insoweit zurückhaltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts34 mit diesem Urteil eine »verfassungsrechtliche Rematerialisierung der Diskussion um Grund und Grenzen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst« zwangsläufig verbunden ist.35 Zur Begründung dieser These wird etwa gesagt: »Indem aber der SächsVerfGH auf das Sozialstaatsprinzip und auf das Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten rekurrierte, hat er 30 Anders mit erfreulicher Deutlichkeit die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in einem ähnlichen Fall, s. BVerwGE 69, 208 (213 ff.). Artikel 9 Abs. 3 GG ist m. E. im vorliegenden Fall schon deshalb nicht tangiert, weil selbst die für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst geltende Tarifautonomie anders als im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich »außerhalb des Grundrechtshorizonts (erg.: des Artikel 9 Abs. 3 GG) … im Bereich materieller Staatshoheit« zu orten ist, so J. Isensee, Der Tarifvertrag als GewerkschaftsStaats-Vertrag, in: .W. Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat (1975), S. 23 (39). Diese These habe ich an anderer Stelle ausführlich begründet, s. Janssen, Streikrecht (Anm. 3), S. 1 ff., 41 ff. 31 Isensee, Affekte (Anm. 7), S. 5 (Hervorhebungen A.J.). 32 Isensee, a. a. O., S. 5 f. (Hervorhebung A.J.). 33 Abgedruckt u. a. in: ZBR 2002, s. 37 ff. 34 So besonders BVerfGE 93, 37 ff. 35 So J. Kersten, Die verfassungsrechtliche Rematerialisierung der Diskussion um Grund und Grenzen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, ZBR 2002, S. 28 (bes. S. 33 f., wo auch von der »föderalen Ausstrahlungswirkung« des Urteils gesprochen wird).
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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einen ganz entscheidenden Schritt zu einer verfassungsrechtlichen Rematerialisierung der Debatte um die Begründung und Grenzen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst vollzogen. Hierin unterscheidet sich das Sächsische Urteil fundamental von der letzten Leitentscheidung des BVerfG zum Personalvertretungsrecht aus dem Jahre 1995: Das BVerfG hat den Grund der Mitbestimmung schlicht offen gelassen. Es hat sich mit einer funktionalen Betrachtung der Mitbestimmung für den öffentlichen Dienst begnügt. Es hat dementsprechend auch nicht im Fall jeder einzelnen Mitbestimmungskompetenz zwischen dem demokratischen und rechtsstaatlichen Gebot einer effektiven Verwaltung einerseits und der sozialstaatlich wie grundrechtlich radizierten Selbstbestimmung des einzelnen Beschäftigten im Arbeitsleben abgewogen. Vielmehr wurden die Grenzen der Mitbestimmung im Rahmen einer rein funktionalen Betrachtung einseitig zu Lasten der Personalvertretung gezogen. Diese Abwägung im Einzelfall leistet aber gerade das Urteil des SächsVerfGH.«36 Nun kann man mit Fug darüber streiten, ob es tatsächlich, wie in dem Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs ausgeführt, letztlich grundrechtliche Gründe sind, die in bestimmten Fällen das Gebot der Mitbestimmung des Personalrats rechtfertigen, oder aber dieses Gebot – wie von anderer Seite behauptet wird37 – (primär) aus demokratischen Gründen folgt.38 Dieser Streit kann hier allerdings offen bleiben, weil beide Alternativen gleichermaßen aus verfassungsrechtlichen Überlegungen von einer Ergänzungsbedürftigkeit der parlamentarisch-demokratischen Legitimation des Verwaltungshandelns ausgehen, und zwar – und das ist im vorliegenden Zusammenhang wesentlich – ähnlich wie im privatrechtlichen kollektiven Arbeitsrecht wegen einer im Ergebnis nur grundrechtlich zu begründenden »Betroffenheit« eines bestimmten Personenkreises von der konkreten Verwaltungsentscheidung.39 Dass die parlamenta36 Kersten, a. a. O., S. 34. 37 So etwa G. Schuppert, Zur Legitimation der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, Der Personalrat 1993, S. 1 (8 ff., bes. 13 f.). Schuppert hatte in ähnlicher Form vorher bereits die Partizipation an Verwaltungsentscheidungen zu begründen versucht, s. ders., Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, AöR 102 (1977), S. 369 (392 ff.). Nach seiner Stellungnahme zur Mitbestimmung im öffentlichen Dienst hat Schuppert später mit entsprechenden Argumenten die Teilhabe Privater an Verwaltungsentscheidungen gerechtfertigt, s. etwa ders., Verfassungsrecht und Verwaltungsorganisation, Der Staat 32 (1993), S. 581 (608 ff.). 38 Bejaht man diese letzte Alternative, so wäre – prinzipiell gesehen – die Argumentation eine ähnliche wie die des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Forderung eines »besonderen« Gesetzesvorbehalts als Voraussetzung für den Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen (s. dazu hier bei Anm. 31 f.). 39 s. deutlich insoweit Kersten, Rematerialisierung (Anm. 35), S. 36: »Das Sozialstaatsprinzip und das Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten gebieten im Fall der Einschränkung der Selbstbestimmung im Arbeitsleben auch im öffentlichen Dienst eine Kompensation durch kollektive Interessenvertretung« (Hervorhebung A. J.).
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risch-demokratische Legitimation verfassungsrechtlich gesehen einen (grundsätzlichen) Ausschließlichkeitscharakter gegenüber letztlich privatrechtlichen Legitimationsformen besitzt, die unter Berufung auf scheinbar grundrechtliche Positionen geltend gemacht werden, wird dabei glatt übersehen.40
3.
Weiter gehende rechtspolitische Forderungen
Neben den geschilderten Reformen zur Privatisierung des Beamtenrechts hat es in den vergangenen Jahren auch zahlreiche weitergehende Forderungen in dieser Hinsicht gegeben, die entweder parteipolitisch motiviert waren oder aus gewerkschaftlicher Sicht vorgetragen wurden. a) So ist – was die entsprechenden Stellungnahmen der politischen Parteien betrifft – bereits 1990 unmittelbar nach der Wiedervereinigung in einem »Grundsatzpapier für den SPD-Vorstand«41 gefordert worden, dass Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG »zu streichen« seien, um – wie es in dem genannten Papier heißt – »die Entwicklung des Dienstrechts gesetzlich so regeln zu können, wie es den gegenwärtigen und zukünftigen Erfordernissen entspricht«. Auch die Mitbestimmung in den Dienststellen u. a. sei »verfassungsrechtlich zu garantieren«.42 In einem u. a. von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1996 eingebrachten Gesetzentwurf wird ebenfalls unter Hinweis auf notwendige Reformen des Beamtenrechts eine Neufassung des Artikel 33 Abs. 5 GG gefordert, die letztlich auf eine Streichung der jetzigen Bestimmung hinausläuft. Denn – so wird gesagt – »bürgergesellschaftliche Reformmaßnahmen, die die Anpassung des Beamtenrechts an ein gewandeltes Staatsverständnis nachvollziehen«, dürften »nicht länger an den hergebrachten Grundsätzen des Beamtenrechts scheitern«.43 40 Grundrechtliche Betroffenheit kann m. E. nur ein aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Artikel 19 Abs. 4 GG) ableitbares Beteiligungsrecht des Einzelnen begründen (s. dazu ausführlich: A. Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, bes. S. 153 ff., 207 ff.). Der Ausschließlichkeitscharakter der im Grundgesetz vorgesehenen demokratischen Legitimationsform ist der Grundgedanke der überzeugenden Studie von M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung (1993), s. zur Mitbestimmung dort besonders S. 52 ff. Der Grund dafür, dass dieser grundsätzliche Ausschließlichkeitscharakter der parlamentarisch-demokratischen Legitimation der Verwaltung von der Literatur gerade in der Diskussion über die Zulässigkeit der sog. funktionalen Privatisierung der Verwaltung immer wieder in Zweifel gezogen wird (s. dazu hier unter III 2.) scheint mir darin zu liegen, dass es bisher nicht gelungen ist, eine überzeugende materielle Rechtfertigung für diese These zu bieten (s. insoweit hier den Versuch unter IV 1.). 41 Abgedruckt in: Recht und Politik (H. 26, 1990), S. 207 ff. 42 A.a.O., S. 209 (Hervorhebung A.J.). 43 BT-Drs. 13/4730, S. 1, 3; s. daneben auch den noch weitergehenden Antrag der Fraktion »Die Grünen« u. a. »Kein Berufsbeamtentum in einem vereinigten Deutschland« vom 1. Juni 1990
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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Ähnlich argumentiert schließlich ein Gesetzesantrag des Landes SchleswigHolstein, der den »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 33 GG« (konkret allein des Artikel 33 Abs. 5 GG) betrifft.44 b) Die gegenwärtige gewerkschaftliche Position zur Reformbedürftigkeit des Beamtenrechts hat sich konkret besonders in einem von der ÖTV vorgelegten »Entwurf eines Beamtengesetzes für Bund und Länder« aus dem Jahre 200045 niedergeschlagen. Unter Ausschöpfung des gesetzgeberischen Freiraums, den die geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen – insbesondere Artikel 33 Abs. 4 und 5 GG – nach Auffassung des Entwurfs gewähren, verfolgt dieser vor allem folgende Ziele: Er »entscheidet sich für das Modell eines öffentlichrechtlichen Vertrages als Grundlage des einzelnen Beamtenverhältnisses … Damit ist die grundsätzliche Gleichordnung von Beamten und Arbeitgebern verbunden, die hinsichtlich der Amtsführung das Weisungsrecht des Arbeitgebers wie im Arbeitsrecht einschließt und damit dessen Verantwortung für den Dienstbetrieb wie die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben nach außen festschreibt. Die Entscheidung für die dem Arbeitsrecht angenäherte Vertragslösung ermöglicht es zugleich, die Richtlinien der EU zum Arbeitsrecht hinsichtlich des Nachweises der wesentlichen Arbeitsbedingungen wie zum Übergang von Betrieben (Privatisierungen etc.) in das Beamtenrecht zu übernehmen und insoweit zu einer Gleichbehandlung von Arbeitnehmern in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen und Beamten zu gelangen. Das künftige Beamtenrecht soll durch die maßvolle Öffnung für kollektivrechtliche Gestaltungs- und Regelungsmöglichkeiten flexibler werden, besonderen Bedürfnissen – ggf. vorübergehend – leichter angepasst werden können. Einerseits wird dadurch die einheitliche Behandlung aller Beschäftigungsgruppen im öffentlichen Dienst (BT-Drs. 11/7328). Auch ein im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 1990 im Druck erschienenes Rechtsgutachten kommt zu dem Ergebnis einer notwendigen Änderung der Artikel 33 Abs. 4 und 5 GG, die letztlich eine Aufhebung der geltenden Regelungen bedeutet, s. E. Denninger/G. Frankenberg, Grundsätze zur Reform des öffentlichen Dienstrechts (1997), S. 106. Im Übrigen werden dort mehr oder weniger u. a. alle hier unter 1. und 2. dargestellten Entwicklungen des Beamtenrechts als rechtlich geboten begründet, s. besonders S. 26 ff., 51 ff., 74 ff., 90 ff. 44 BR-Drs. 298/96. Damit übereinstimmend hat nach Presseberichten (s. etwa Süddeutsche Zeitung vom 5. Mai 1997) Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis festgestellt: »Unser Beamtenrecht ist total veraltet … Deshalb werde ich immer wieder über den Bundesrat den Versuch unternehmen, durch eine Grundgesetzänderung das Beamtenrecht gründlich zu reformieren.« In Schleswig-Holstein würden darum schon jetzt – 1997 – keine Lehrer mehr als Beamte eingestellt, sondern ausschließlich als Angestellte. Nach einem Bericht im »Behörden-Spiegel« vom September 2002 (18. Jahrgang S. 1) soll ganz in diesem Sinne der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster im Blick auf die ca. 22.000 Beamten seiner Behörde geäußert haben, er wolle, um notwendige Reformen zu realisieren, »die Grenzen des Dienstrechts erproben«. 45 Abgedruckt ist dieser Entwurf bei: M. Pechstein, Die Vereinbarkeit eines ÖTV-Entwurfs für ein neues Bundesbeamtengesetz (»neu BBG«) mit dem Grundgesetz (2002), S. 63 ff.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
erleichtert. Andererseits wird die einheitliche Begleitung von Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung und -umgestaltung durch verbindliche kollektivrechtliche Vereinbarungen auf der Ebene von Gewerkschaften und Arbeitgebern wie auf der Ebene von Dienststellen durch Dienstvereinbarungen ermöglicht. Dies erleichtert einerseits die Geltendmachung der kollektiven Interessen aller jeweils betroffenen Beschäftigten, andererseits erhalten auch die Arbeitgeber Instrumente, die notwendige Einbeziehung von Beschäftigten in Maßnahmen der Modernisierung verbindlich regeln zu können. Damit wird die bislang bestehende Rechtsunsicherheit ebenso beseitigt wie die Lücken in der qualifizierten Vertretung von Beschäftigungsinteressen.«46 Mit dem ÖTV-Entwurf wird danach also die weitest gehende Angleichung an das individuelle wie kollektive Arbeitsrecht vollzogen und damit gewissermaßen der mögliche Endpunkt einer zunehmenden Privatisierung des Beamtenrechts markiert.47
III.
Der Kontext: Die zunehmende Privatisierung der Verwaltung und die Verlagerung der Entscheidung über den Inhalt wesentlicher Staatsaufgaben auf Private
Der Rechtsstatus des Beamten ist kein Selbstzweck, sondern legitimiert sich aus seiner Aufgabe.48 Diese Folgerung ergibt sich, wie unter IV. noch näher darzulegen ist, zwingend aus Artikel 33 Abs. 4 GG. Jede Form einer Verwaltungsprivatisierung und der Definition der Staatsaufgaben durch Private wirft damit zwangsläufig auch die Frage nach der Legitimation des Beamtenstatus auf. Das 46 A.a.O., S. 64 (Hervorhebungen dort). Auf S. 62 wird zusammenfassend gesagt: Der Entwurf möchte »die Vertragsidee für das Beamtenrecht nutzen und damit - die Koalitionsrechte der Beamtinnen und Beamten stärken, - das Beamtenrecht für notwendige Veränderungen flexibler machen, - eine einheitliche Entwicklung von Tarif- und Beamtenbereich ermöglichen, - das deutsche Beamtenrecht an Standards, die in anderen EU-Staaten üblich und bewährt sind, anpassen sowie - eine Grundsatzentscheidung zugunsten von Vereinbarungsmodellen auch im Rahmen der europäischen Entwicklung (sektoraler sozialer Dialog für den öffentlichen Dienst) treffen.« 47 In die gleiche Richtung wie der besprochene ÖTV-Entwurf zielen übrigens besonders die Überlegungen von H.P. Bull: Umsteuern im Beamtenrecht – aber wie?, DÖV 1995, S. 592 ff. (bes. S. 595 f.) und ders., Sind die Tarifparteien bereit, den BAT grundlegend zu ändern?, ZRP 2002, S. 388 ff. (bes. S. 390 f.). In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal an das Gesetz-/ Tarif-Modell zu erinnern, das bereits im 1973 erschienenen Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts von der Minderheit dieser Kommission vorgeschlagen wird, s. dort: S. 356 ff. 48 Grundlegend dazu W. Leisner, Legitimation des Beamtentums aus der Aufgabenerfüllung (1988), in: ders., Beamtentum (1995), S. 163 ff.
13. Privatisierung des Beamtenrechts
395
ist der Grund, warum im Folgenden genauer die verschiedenen Formen der gerade in jüngster Zeit verstärkt betriebenen Verwaltungsprivatisierung und der Aufgabendefinition durch Private auf eben diese Frage nach ihrem Einfluss auf die Stellung des öffentlichen Dienstes und seine daraus folgende Legitimation untersucht werden müssen. Es lassen sich insoweit drei relevante Entwicklungen ausmachen, auf die hier darum auch näher eingegangen werden soll: Zunächst ist der Abschied von dem überkommenen Leitbild einer staatlichen Verwaltungsstruktur zugunsten eines Verständnisses der Verwaltung als – grob gesehen – privatwirtschaftlichem Marktgeschehen zu schildern, wie es sich besonders in neueren Reformen des Haushaltsrechts (Stichwort: Budgetierung) niederschlägt (dazu 1.). Daneben sind genauer die Formen der Organisationsprivatisierung und funktionalen Privatisierung der Verwaltung zu betrachten, da sie den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit in der Beantwortung der Frage, ob eine staatliche Aufgabe durch den öffentlichen Dienst oder von Privaten erledigt wird, nahe legen (dazu 2.). Schließlich ist noch im Blick auf die Tatsache, dass zunehmend private Gremien oder Gutachter den Inhalt der staatlichen Aufgaben bestimmen, nach der Rolle von Beamtentum und Bürokratie in einem solchen »staatlichen« Entscheidungsprozess genauer zu fragen (3.).
1.
Das neue Leitbild der Verwaltung und seine Umsetzung durch Reformen des Haushaltsrechts
a) Wie die auf Bundes- und Landesebene und auch die von den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften eingeleiteten Reformmaßnahmen zeigen, wird die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung auf allen drei Ebenen »im Sinne ihrer Umgestaltung als Dienstleistungsunternehmen« angestrebt.49 Aus 49 Für die komnunalen Selbstverwaltungskörperschaften s. besonders die kritische Stellungnahme von U. Penski (Staatlichkeit öffentlicher Verwaltung und ihre marktmäßige Modernisierung, DOV 1999, S. 85 ff., dort das Zitat des Textes auf S. 96 – Hervorhebung A. J.) zu den von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGST) veröffentlichten einschlägigen Äußerungen (Nachweis bei Penski, a. a. O., S. 86 Anm. 11). Für die Bundesländer s. zuletzt den vom Bundesminister des Innern herausgegebenen Bericht: Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Aktivitäten zur Staats- und Verwaltungsmodernisierung in Bund und Ländern 2000 (2000), bes.: S. 9 f., 11 (Baden-Württemberg); S. 27 ff. (Bremen); S. 32 ff. (Hamburg); S. 47 ff. (Niedersachsen); S. 67 ff. (Rheinland-Pfalz); S. 79 ff., 82 f., 84 ff. (Sachsen); S. 97 ff., vor allem: S. 100 f. (Schleswig-Holstein). Für den Bund s. zuletzt den vom Bundesminister des Innern herausgegebenen Bericht: Moderner Staat – Moderne Verwaltung. Das Programm der Bundesregierung (1999), bes. S. 8 f. 13 ff., 16 ff. Zu den zahlreichen wissenschaftlichen Stellungnahmen s. zusammenfassend: V. Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip (2000), bes. S. 61 ff. (= 1. Kapitel III – VI) und daneben: R. Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch. 91 (2000), S. 149 (bes. S. 154 ff.); A. Voßkuhle, »Schlüsselbegriffe« der Verwaltungsreform,
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
diesem neuen Leitbild der Verwaltung folgt, »dass der einzelne Verwaltungsbetroffene nicht mehr als Bürger, d. h. als Mitglied des Gemeinwesens gesehen wird, sondern als Kunde, d. h. als Nachfrager auf dem Markt von Verwaltungsleistungen«50. Die Verwaltung als Organisation soll also »marktmäßig gestaltet werden«.51 Schon an diesem grundsätzlichen Reformansatz ist manche (begründete) Kritik vor allem unter Betonung der »Staatlichkeit« der Verwaltung geäußert worden.52 In unserem Zusammenhang ist diese Kritik insofern interessant, als sie deutlich macht, dass der geschilderte gedankliche Ansatz der Verwaltungsreform – konsequent zu Ende gedacht – darauf abzielt, »die staatliche Beziehungsstruktur überhaupt zugunsten der Marktstruktur zu überwinden«.53 Dass
50 51 52
53
VerwArch. 92 (2001), S. 184 (196 ff., 203 ff.); K. Lüder, »Triumph des Marktes im öffentlichen Sektor?«, DÖV 1996, S. 93 ff.; M. Wallerath, Der ökonomisierte Staat, JZ 2001, S. 209 (bes. 211 ff., 216 ff.); M. Göbel/G. Lauen, Die Modernisierung der modernen Verwaltung, Die Verwaltung 35 (2002), S. 263 ff. und folgende Arbeiten von K. König: Unternehmerisches oder exekutives Management – die Perspektive der klassischen Verwaltung, VerwArch. 87 (1996), S. 19 (bes. S. 25 ff., 32 ff.); Markt und Wettbewerb als Staats- und Verwaltungsprinzipien, DVBI. 1997, S. 239 ff. So Penski (Anm. 49), S. 86 (letzte Hervorhebung A.J.). Penski, a. a. O., s. 86; s. daneben insoweit die in Anm. 49 zitierte wissenschaftliche Literatur. Zusammenfassende Darstellung dieser Kritik bei Mehde (Anm. 49), S. 137 ff.; daneben besonders Penski (Anm. 99), S. 87 ff.; Lüder (Anm. 49), S. 96 ff.; H. Helsper, Die Kollision der Gedankenwelten »Rechtsstaat« und »Schlanker Staat«, Betriebs-Berater (BB) 1999, S. 20 (25 ff.). Eine gute Schilderung der überkommenen (staatlichen) Verwaltungsorganisation findet sich bei H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat (1991), bes. S. 121 ff., 159 ff. Penski, a. a. O., S. 95. Eine ähnliche Nivellierung lässt sich z. T. im Verhältnis von Staat und Parteien feststellen, s. insoweit nur W. Henke, Geld, Parteien, Parlamente, Der Staat 31 (1992), S. 98 .f., dort heißt es: »Die Entwicklung des Parteienrechts« begann in Deutschland nach dem Krieg »auf einer verfehlten Grundlage«. Herrschend wurde die »Lehre vom Parteienstaat …, in dem nicht mehr das Volk und nicht seine Repräsentanten im Parlament, sondern allein die Parteien den politischen Gemeinwillen und damit zugleich den Staatswillen bilden … In Abkehr von jeder ›Staatsverherrlichung‹ bekämpfte man die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, Staat und Parteien, Volk und Parteien … Im Eifer der Abkehr … übersah man, dass nicht eine Trennung des ›Obrigkeitstaates‹ von der Gesellschaft und seine ›metaphysische Überhöhung‹ das totalitäre Herrschaftssystem heraufgeführt hatten – mochten sie auch die Bereitschaft, es anzunehmen, gefördert haben – , sondern die ideologische Identifikation von Volk, Partei und Staat mit der Folge einer bedingungslosen faktischen Unterwerfung der staatlichen Organe und Ämter unter den Willen der Partei oder ihres Führers. Gerade nicht die Einebnung der Unterscheidungen zugunsten eines durchgängigen politischen Prozesses musste darum die Antwort auf das NS-Regime sein, sondern die Unterscheidung und – bei aller politischen Verknüpfung und gerade ihretwegen – rechtliche Trennung von Staat und Parteien und die Einsicht, dass sie im politischen Gesamtprozess Mittler zwischen zwei getrennten Bereichen sind, dem der Organe und Ämter des Staates und dem der Gesellschaft … Heute geht es vor allem darum, dass die Parteien sich den Staat nicht ›zur Beute machen‹ … Ihre Nichtidentität mit dem Staat, ihre grundsätzliche Unterscheidung und rechtliche Trennung von seinen Organen und Ämtern ist die erste Voraussetzung für die Verhinderung solcher Beutezüge.« Vgl. daneben insoweit H. P. Vierhaus, Die
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daraus geradezu zwingend eine Veränderung des Beamtenrechts im Sinne des privaten Arbeitsrechts folgen würde, dürfte unmittelbar einleuchten. Richtet man weiter das Augenmerk auf die Steuerungsstruktur einer mit dieser Zielsetzung reformierten Verwaltung, so ist für sie der Grundsatz des Kontraktmanagements, das u. a. in sog. »Zielvereinbarungen« seinen förmlichen Ausdruck findet, kennzeichnend. Und stellt man schließlich auf ihre Wirksamkeits- und Kontrollmechanismen ab, so gerät die Forderung nach Produktorientierung und Ressourcenverantwortung ins Blickfeld. Eine »Vertraglichung« der Organisationsstruktur der Verwaltung im Sinne des Kontraktmanagements steht wiederum grundsätzlich in Widerspruch zur Struktur einer staatlichen Verwaltungsorganisation. Es können zwar »insofern als die jeweils leitenden Einheiten für die Zielsetzung und Entscheidung der politischen Gemeinschaft verantwortlich sind, … Entscheidungsspielräume für die Durchführung eröffnet werden, doch verbieten sich Vereinbarungen im eigentlichen Sinne als Grundlage der Handlungssteuerung, da diese der Verbindlichkeit der vorgegebenen Zielsetzungen und Entscheidungen widersprechen, auch wenn das Kontraktmanagement nur ›Quasi-Vereinbarungen‹ meinen sollte«.54 Und auch die Forderungen nach Produktorientierung und Ressourcenverantwortung verkennen erneut den Charakter der Verwaltung als staatlicher Verwaltung. Denn »Produktorientierung und produktbezogene Ressourcenverantwortung, die mit begrifflicher Anlehnung an produzierende Unternehmen am Markt gefordert werden, sind für die Bestimmung der Zielverwirklichung politischer Gemeinschaften unangemessen, da die Zielsetzungen am Markt grundsätzlich konkreterer Art sind als die gemeinwohlorientierten Zielsetzungen politischer Gemeinschaften. Deren Gesamtziel, als Gemeinwohl Identifizierung von Staat und Parteien – eine moderne Form der Parteiendiktatur?, ZRP 1991, S. 468 ff. sowie abwägender J.-D. Kühne, Parteienstaat als Herausforderung des Verfassungsstaats, in: H. Neuhaus (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung (FS für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geb.) 1994, S. 309 ff. 54 So wiederum Penski, a. a. O., S. 95. Ähnlich dort S. 91: »Das Kontraktmanagement zwischen Politik und Verwaltung, verstanden als einseitige Entscheidungen vermeidende oder ausschließende Steuerungsform, ist demnach bei der vorgesehenen Aufteilung von Verantwortlichkeiten schlecht durchführbar. Diese enthält eine hierarchische Struktur, in dem die Zielsetzung der Politik und die Erfüllung der Ziele der Verwaltung zukommt, was dem Charakter von Vereinbarungen entgegensteht, die jedenfalls in Bezug auf das zu Vereinbarende eine Gleichstellung bei der Entscheidung voraussetzen.« Penski betont im Anschluss daran (a. a. O., S. 92) auch zu Recht, dass »in der Beziehung zwischen leitenden Verwaltungseinheiten und den jeweils geleiteten Einheiten … nun eine ähnliche Aufteilung der Verantwortlichkeit wie zwischen Politik und Verwaltung« besteht. Im Übrigen ist – wie Penski hierzu ergänzend bemerkt (a. a. O., S. 95) – »nicht erkennbar, dass nur ein Kontraktmanagement Eigenständigkeit der nachgeordneten Beteiligten zu vermitteln geeignet ist. Diese kann ebenso durch die Ausgestaltung der dienstrechtlichen Stellung und der Grundsätze der Zusammenarbeit, insbesondere der gegenseitigen Informations- und Beratungspraxis gewährleistet und gestärkt werden.«
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
bezeichnet, das grundsätzlich in der Abwägung von vielfach widerstreitenden Teilzielen verwirklicht werden muss, kann durch die Festlegung einer Produktmenge kaum hinreichend repräsentiert werden. Insofern bewirkt die Produktorientierung strukturell die Gefahr, dass die Produkte als Mittel für die Verwirklichung des Gemeinwohlziels zu ›letzten‹ Zielen werden und das ›letzte‹ Ziel aus dem Blick gerät. Es findet eine Zielverschiebung statt.«55 Eine nach diesen Grundsätzen organisierte Verwaltung besitzt im Ergebnis also »osmotischen Charakter«56 und muss darum auch zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen dem Recht der Arbeitnehmer und dem Beamtenrecht führen. b) Eine Umsetzung des geschilderten Leitbildes in die Verwaltungspraxis ist besonders auf dem Weg einer schrittweise vollzogenen Reform des Haushaltsrechts realisiert worden.57 Am Anfang stand die (durchaus berechtigte) Forderung nach der »Zusammenführung von inhaltlicher und finanzieller Programmierung«,58 um auf diese Weise eine (stärkere) Output-Orientierung der Haushaltsplanung zu erreichen. Zum Teil wurde die sich daraus ergebende Verpflichtung des Staates zur Aufstellung eines Programmbudgets bereits vorher aus Artikel 114 Abs. 2 GG abgeleitet; in der Praxis geschah dies dann zunächst durch den (partiellen) Ausbau der im Grundgesetz vorgesehenen Finanzplanung (Artikel 109 Abs. 3 GG) zu einer (integrierten) Aufgaben- und Finanzplanung. Allerdings fehlte es insoweit dann häufig an jeder systematischen Verknüpfung einer so verstandenen Finanzplanung mit dem jährlich (bzw. alle 2 Jahre) zu erlassenden Haushaltsplan, obwohl praktikable Reformvorschläge zur Beseitigung dieses Mangels auf dem Tisch lagen.59 Diesen im Grunde folgerichtigen Ansatz für eine systemimmanente Reform des Haushaltsrechts mit dem Ziel einer (stärkeren) Output-Orientierung hat man in der Folgezeit nicht weiter verfolgt. Vielmehr lassen sich die weiteren praktischen Reformen des Haushaltsrechts bescheidener mit dem Stichwort »Lockerungstendenzen« im System der Kameralistik60 kennzeichnen, d. h. die 55 Penski, a. a. O.; s. daneben die Kritik bei Isensee, Affekte (Anm. 7), S. 10. 56 So Lorse, Führungskräftegesetz (Anm. 14), S. 162. 57 Zusammenfassend dazu Chr. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform (2001), S. 199 ff. Kurzer prägnanter Überblick im Bericht der Enquete-Kommission zur künftigen Arbeit des Niedersächsischen Landtages am Beginn des 21. Jahrhundert vom 30. September 2002 (LTDrs. 14/3730, S. 47 ff.). Aus der neueren Literatur s. daneben: H. Kube, Neuere Steuerung im Haushaltsrecht – Ein Kompetenzgefüge außer Balance?, DÖV 2000, S. 810 ff.; T. Hebeler, Die Budgetierung und das Budgetrecht, Verwaltungsrundschau 2002, S. 76 ff.; St. Brink/H. Reinemann, Parlamente im Prozess der Verwaltungsmodernisierung, Verwaltung und Management 2002, S. 265 (bes. S. 268 ff.). 58 Brink/Reinemann (Anm. 57), S. 569; genauer dazu mit Nachweisen aus der älteren Literatur Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 103 f. 59 s. zum Ganzen noch einmal Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 103 f. 60 So auch der in Anm. 57 genannte Bericht der Enquete-Kommission (dort S. 48).
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haushaltsrechtlichen Reformen, die zu einer Umsetzung des geschilderten Leitbildes der Verwaltung führten, setzen nicht auf der Ebene der Finanzplanung, sondern auf der des konkreten Haushaltsplans an.61 Das ist umso bemerkenswerter, als der Haushaltsplan ja aus dem Finanzplan zu entwickeln ist (§ 50 Abs. 1 HGrG). Die angesprochenen Lockerungstendenzen sind nun vor allem durch den Einsatz von Titelgruppen, die gesetzliche Erweiterung der Deckungsfähigkeit und den Ausbau der Möglichkeit, im Haushaltsplan Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen für gegenseitig oder einseitig deckungsfähig zu erklären,62 erreicht worden. Dazu beigetragen hat daneben die Möglichkeit, bestimmte Haushaltsmittel in das nächste Haushaltsjahr zu übertragen63 und damit den kameralistischen Grundsatz der zeitlichen Bindung (partiell) außer Kraft zu setzen. Schließlich beförderte natürlich auch die verstärkte Anordnung globaler Minderausgaben64 und die Möglichkeit, auf Bundesund Landesebene »Betriebe« mit eigenen Wirtschaftsplänen zu begründen, diese Tendenz.65 Alle genannten Maßnahmen führten aber erst dann zu einer wirklichen Umorientierung der Verwaltung im Sinne des geschilderten Leitbildes, als mit dem Ende 1997 in Kraft getretenen § 6 a HGrG die Möglichkeit der flächendeckenden dezentralen leistungsorientierten Mittelzuweisung und Bewirtschaftung geschaffen wurde. Denn danach hielt das Verständnis der auf diese Weise haushaltsrechtlich verselbstständigten Verwaltungsbereiche, die mit Produkten Kunden zu bedienen haben, sich durch Zielvereinbarungen mit den Ministerien zur Erbringung bestimmter Leistungen (Produkte, Projekte) verpflichten, sich einem Controlling aufgrund einer Kosten- und Leistungsrechnung u. a. unterwerfen, Effizienzrendite erwirtschaften etc., seinen endgültigen Einzug in die Verwaltung.66 Die daraus resultierenden neuen Anforderungen an die Füh61 Ähnliches also wie für die Verwaltungsprivatisierung insgesamt, die bis heute ja nicht zu einer wirklichen Aufgabenprivatisierung vorgedrungen ist, sondern sich immer noch auf eine (problematische) Vollzugsprivatisierung beschränkt, gilt also auch für den Verlauf der Haushaltsreform. 62 s. dazu etwa §§ 15 Abs. 2 HGrG; 20 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 BHO und – besonders deutlich – 20 Abs. 1 Nrm. 1 und 2 sowie Abs. 3 der Niedersächsischen Landeshaushaltsordnung. 63 §§ 15 Abs. 1 HGrG; 19 BHO. 64 Dazu Gröpl (Anm. 57), s. 16 ff. 65 s. zur niedersächsischen Entwicklung etwa Bericht der Enquete-Kommission (Anm. 57), S. 49 und demnächst: A. Janssen, in: A. Janssen/U. Winkelmann, Die Entwicklung des Niedersächsischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts in den Jahren 1990 – 2002, JOR NF 51 (2003), dort Erster Teil: Niedersächsisches Verfassungsrecht, bei Anm. 61 ff. Nach der von der Niedersächsischen Staatskanzlei und dem Niedersächsischen Finanzministerium gemeinsam herausgegebenen Mittelfristigen Planung Niedersachsen 2000 – 2006 soll ein Teil der Landesbetriebe zukünftig sogar »aufgrund vermuteter ›Marktfähigkeit‹ voll- oder teilprivatisiert werden« (a. a. O., S. 25). 66 s. dazu etwa die allgemeine Schilderung bei Gröpl (Anm. 57), S. 226 ff. und als konkreter
400
3. Teil: Abschied von der Exekutive
rungskräfte im öffentlichen Dienst werden in der »Mittelfristigen Planung Niedersachsen 2002 – 2006« unter dem Stichwort »Veränderungen im Führungsverhalten« wie folgt umschrieben: »Das Selbstverständnis als Steuermann/-frau statt als nur fachlich Verantwortliche(r) bedeutet, Leistungen und Ergebnisse des Verantwortungsbereichs unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Ziel ist, mit gegebenem Mitteleinsatz eine maximale Wertschöpfung zu erreichen.«67 Das aufgegebene Ziel der »maximalen Wertschöpfung« beinhaltet, wie der Kontext des wiedergegebenen Zitats beweist, im Ergebnis die Aufforderung an die Bediensteten, sich (primär) an ökonomischen Kriterien in ihrem Verwaltungshandeln zu orientieren.68 Wie das mit dem in Artikel 33 Abs. 5 GG wurzelnden Gebot zu vereinbaren ist, dass der Beamte »seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen« hat (§ 35 Abs. 1 BRRG), ist hier nicht zu entscheiden. In jedem Fall ist es – allgemein gesprochen – dieses (ausschließliche) Leitbild des »ökonomisierten Staates«,69 das m. E. nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis des öffentlichen Dienstes und dann auch für die Regelungen des Beamtenrechts bleiben kann. Es hat – das bedarf abschließend der besonderen Erwähnung – seine besondere Ausprägung durch die wachsende, staatlicherseits kaum noch steuerbare Verschuldung der öffentlichen Hand erhalten.
2.
Die Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung der Verwaltung
Der ökonomisierte Staat hat aber nicht nur in Reformen des Haushaltsrechts seinen Niederschlag gefunden. Das ist vielmehr daneben besonders durch die verstärkte Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung der Beleg für die entsprechende Entwicklung in Niedersachsen, die im Vergleich zum Bund und einigen anderen Bundesländern noch eher als »bescheiden« zu bezeichnen ist: den Bericht der Enquete-Kommission (Anm. 57), S. 49 ff.; die Mittelfristige Planung 2002 – 2006 (Anm. 57), S. 32 und besonders Ziffer 1 des sich z. Zt. in der Anhörung befindlichen Entwurfs für einen »Anwendungserlass zu § 17 a Landeshaushaltsordnung (LHO)«, der im Wortlaut mit § 6a HGrG übereinstimmt. 67 A.a.O. (Anm. 65), S. 32 (Hervorhebungen A.J.). 68 Es geht, so heißt es etwa, darum »Reformrendite« zu erwirtschaften, die »auch einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung« leisten sollen: Mittelfristige Planung (Anm. 65), S. 32, 33. 69 s. dazu M. Wallerath, Der ökonomisierte Staat (Anm. 49), S. 209 ff.; s. daneben nur die grundsätzlichen Überlegungen von Helsper (Anm. 52), S. 20 ff. Unbestritten bleibt natürlich, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot ein das Verwaltungshandeln verpflichtender Rechtsgrundsatz und auch ein »abwägungsfähiges Rechtsprinzip« ist: dazu zuletzt A. Peters, Die Ausfüllung von Spielräumen der Verwaltung durch Wirtschaftlichkeitserwägungen, DÖV 2001, S. 749 ff. (Zitat: S. 749).
13. Privatisierung des Beamtenrechts
401
staatlichen Verwaltung geschehen,70 deren Charakter als staatlicher Verwaltung auf diese Weise ebenfalls grundsätzlich in Frage gestellt wird. Diese Entwicklung konnte natürlich ebenfalls nicht ohne Folgen für das Verständnis des Beamtenrechts bleiben. Bedenkt man, dass eine verstärkte Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung inzwischen auf allen drei Verwaltungsebenen in Deutschland zu beobachten ist und praktisch alle Staatsaufgaben bis hin zu denen der inneren Sicherheit erfasst haben,71 so lässt sich an der Relevanz dieser Entwicklung für unser Thema kaum zweifeln. a) Zunächst zeigt sich das an der Tatsache, dass bei der Organisationsprivatisierung und funktionalen Privatisierung staatliche Aufgaben in privatrechtlichen Organisations- und Handlungsformen vollzogen werden und – was in unserem Zusammenhang besonders interessiert – durch private Arbeitnehmer. Es gelten dann natürlich für diesen Personenkreis grundsätzlich auch privates Arbeitsrecht und die sozialversicherungsrechtlichen Versorgungssys70 Mit der inzwischen wohl herrschenden Meinung wird im Folgenden unter »Organisationsprivatisierung« die Erledigung von Aufgaben der staatlichen Verwaltung in privatrechtlichen Organisationsformen verstanden und unter dem Stichwort »funktionale Privatisierung« sollen jene Fälle erfasst werden, in denen Privaten zwar nicht die Aufgabe selbst, wohl aber ihre Erfüllung überlassen wird; Private im Ergebnis also staatliche Macht ausüben, s. dazu den zusammenfassenden Überblick bei B. Kempen, Schranken der Privatisierung (Verantwortung und Leistung H. 38) 2002, S. 4 ff. 71 Für die kommunale Ebene s. etwa A. Janssen, Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem (H. 28 der Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages) 1999, S. 9 ff.; für die Landesebene zusammenfassend J. A. Kämmerer, Privatisierung (2001), S. 377 ff. und besonders S. 408 ff.; daneben ergänzend am Beispiel Niedersachsens: Bericht der Enquete Kommission (Anm. 57), S. 69 f., 71 ff. und Mittelfristige Planung Niedersachsen (Anm. 65), S. 28 ff., 59 f. sowie speziell zur Niedersächsischen Gesellschaft für öffentliche Finanzierungen m.b.H. Janssen, in: Janssen/Winkelmann (Anm. 65) Teil 1 bei Anm. 95 ff.; für die Bundesebene: Kämmerer, a. a. O., S. 282 ff. (= I – III). Allgemeiner Überblick daneben bei M. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe (1999), S. 100 ff. (§ 5) und Chr. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben (2001), S. 114 ff. (= IV – VIII). Speziell zur Privatisierung der öffentlichen Sicherheit: G. Nitz, Private und öffentliche Sicherheit (2000) S. 57 ff. und daneben im Blick auf die besonderen Sicherheits-(Ordnungs-)Aufgaben des Staates etwa noch: Chr. Gusy, Polizei und private Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum, VerwArch 92 (2001), S. 344 ff.; F. Hammer, Private Sicherheitsdienste, staatliches Gewaltmonopol, Rechtsstaatsprinzip und »schlanker Staat«, DÖV 2000, S. 613 ff.; P. M. Huber, Entsorgung als Staatsaufgabe und Betreiberpflicht, DVBI. 2001, S. 239 ff. und ders., Weniger Staat im Umweltschutz, DVBI. 1999 S. 489 ff.; B. Kempen (Anm. 70), S. 22 ff. zur Lebensmittelüberwachung; J. K. Menzer, Privatisierung der atomaren Endlagerung, DVBI. 1998 S. 820 ff.; A. Saipa/H. Wahlers/K. Germer, Gewaltmonopol, Gefahrenabwehrauftrag und private Sicherheitsdienste: Ergänzung oder Beeinträchtigung staatlicher Kernaufgaben; NdsVBI. 2000 S. 285 ff.; R. Stober, Private Sicherheitsdienste als Dienstleister für die öffentliche Sicherheit?, ZRP 2001 S. 260 ff.; F. Stollmann, Aufgabenerledigung durch Dritte im öffentlichen Gesundheitsdienst, DÖV 1999, S. 183 (186 ff.) und schließlich zur damit im Zusammenhang stehenden Frage der Reichweite einer Privatisierung der Bundeswehr : J. Lorse, Ist die Bundeswehr privatisierbar?, Recht im Amt 2002, S. 16 ff.
402
3. Teil: Abschied von der Exekutive
teme. Welche dienstrechtlichen Übergangsprobleme mit solchen Verwaltungsprivatisierungen verbunden sind, haben in jüngster Zeit anschaulich die Fragen gezeigt, die bei der Privatisierung von Bahn und Post hinsichtlich der Rechtsstellung ihrer Beamten auftauchten (s. Artikel 143 a Abs. 1 S. 3 und Artikel 143 b Abs. 3 S. 1 GG);72 sie stellen sich aber daneben verstärkt auch in anderen Fällen der (Organisations-)privatisierung aufgrund des § 123a Abs. 2 BRRG.73 Da es sich in allen Fällen der Organisations- und funktionalen Privatisierung ja nicht um eine (reine) Aufgaben-, sondern primär um eine Vollzugsprivatisierung handelt, wird durch diese Privatisierungsmaßnahmen im Ergebnis auch der bisher wenigstens für einen Teil entsprechender Verwaltungstätigkeiten als zwingend erachtete Zusammenhang zwischen staatlichen Aufgaben und deren Erledigung durch den öffentlichen Dienst geleugnet. Spätestens bei der Feststellung, dass selbst wesentliche Aufgaben der öffentlichen Sicherheit von der Organisations- und funktionalen Privatisierung erfasst werden;74 muss dann aber die Frage auftauchen, welche Bedeutung denn dem Artikel 33 Abs. 4 GG insoweit noch als verfassungsrechtliche Grenze zukommt.75 72 Dazu überzeugend H. A. Wolff, Die Wahrung der Rechtsstellung von Beamten, die bei privatisierten Unternehmen von Bahn und Post beschäftigt sind, AöR 127 (2002), S. 72 ff. 73 Ausführlich werden diese Fragen behandelt von T. Blanke/D. Sterzel, Privatisierungsrecht für Beamte (1999): 74 s. die Nachweise in Anm. 71. 75 Dazu genauer hier unter IV. Neben der möglichen verfassungsrechtlichen Begrenzung der Organisations- und funktionalen Privatisierung durch Artikel 33 Abs. 4 GG folgen weitere verfassungsrechtliche Grenzen für derartige Privatisierungen (unabhängig von der gleich noch näher zu behandelnden Frage nach der hinreichenden demokratischen Legitimation einer solchen privatisierten Verwaltungstätigkeit) m. E. aus der Tatsache, dass auf diese Weise das staatliche (z. T. verfassungsrechtlich ausgeformte) Entschädigungsrecht keine Anwendung findet und vor allem die Bindung an das Verwaltungsverfahrensgesetz (weitgehend) entfällt. Auch der Wegfall dieser zuletzt genannten Bindung besitzt deshalb verfassungsrechtliche Relevanz, weil die Verwaltung ebenfalls gemäß Artikel 1 Abs. 3 GG an Artikel 19 Abs. 4 GG gebunden ist und das Verwaltungsverfahrensgesetz diesen Rechtswahrungsauftrag konkretisiert. Es ist m. E. das besondere Verdienst von Joachim Martens, diese Zusammenhänge deutlich gemacht zu haben, s. etwa ders., Der Bürger als Verwaltungsuntertan, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 1986, S. 104 ff. (bes. S. 117, 119, 128 ff.) und daneben: Die Praxis des Verwaltungsverfahrens (1985); s. ergänzend insoweit M. Zuleeg, Die Anwendungsbereiche des öffentlichen Rechts und des Privatrechts, VerwArch. 73 (1982), S. 384 (395 ff.) und Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 207 ff. Wenn man einmal bedenkt, welch’ strenge strukturelle Anforderungen an die Religionsgesellschaften, die keinen Körperschaftsstatus i. S. des Artikel 137 Abs. 5 WRV besitzen, gestellt werden, bevor ihnen die Erlaubnis zum Religionsunterricht in der Schule erteilt wird, und dies erst recht für die Erteilung des Körperschaftsstatus nach Artikel 137 Abs. 5 S. 2 WRV gilt, dann erstaunt schon das Vertrauen der inzwischen wohl herrschenden Lehre zum rechtsstaatlichen Verwaltungsvollzug durch Private, s. zu dieser kirchenrechtlichen Parallele: A. Janssen, Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht, in: Verfassung – Philosophie – Kirche (FS für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag) 2001, S. 707 (bes. S. 730 ff.).
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b) Die Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung der Verwaltung werfen aber nicht nur die Frage auf, inwieweit im Blick auf Artikel 33 Abs. 4 GG statt Beamter Private Verwaltungsaufgaben erfüllen können, sondern diese Formen der Privatisierung (und besonders die funktionale Privatisierung) lassen zugleich an dem Vorliegen einer hinreichenden demokratischen Legitimation für ein entsprechendes Verwaltungshandeln zweifeln. Denn durch die funktionale Privatisierung wird inzwischen ja vielfach die Aufgabenerledigung in einem solchen substanziellen Umfang auf Private übertragen, dass zur Rechtfertigung dieser Übertragungen die überkommenen Rechtsfiguren wie die des Verwaltungshelfers und des verwaltungsrechtlichen Kooperationsvertrages nicht mehr ausreichen.76 Aber auch die Organisationsprivatisierung durch Gründung privater Stiftungen, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften genügt deshalb nicht der nach bisherigem Verständnis verfassungsrechtlich erforderlichen demokratischen Legitimation für das entsprechende Verwaltungshandeln, weil auf diese Weise u. a. die parlamentarische Verantwortlichkeit des zuständigen Ministers relativiert und die besonderen verfassungsrechtlichen Ausprägungen des Demokratieprinzips durch die Grundsätze des Haushaltsrechts außer Kraft gesetzt werden.77 c) Die genannten Formen der Verwaltungsprivatisierung sind früher in aller Offenheit damit begründet worden, dass mit ihnen um der größeren Flexibilität des Verwaltungshandelns willen eine Umgehung der durch das öffentliche Organisationsrecht geschaffenen Verwaltungsstrukturen, des öffentlichen Dienstund Besoldungsrechts, des Haushaltsrechts (einschließlich der mit ihm verbundenen Kontrollmechanismen) erreicht werden solle.78 Weniger ausdrücklich 76 Das habe ich an dem Beispiel der funktionalen Privatisierung der kommunalen Abwasserentsorgung zu zeigen versucht und dabei zugleich dargelegt, welche praktischen Probleme durch eine solche Privatisierung im konkreten Fall auftauchen und wie diese besser mit den genannten überkommenen Rechtsfiguren gelöst werden könnten, s. Janssen, Privatisierung (Anm. 71), S. 15 ff. m. w. N. aus der Literatur. 77 Genauer hierzu für die von den Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge betriebenen Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaften: Janssen, Privatisierung (Anm. 71), S. 9 ff. und für entsprechende Bestrebungen auf Landesebene (insbesondere zu den Problemen der Stiftungen des privaten Rechts): Enquete-Kommission (Anm. 57), S. 69 ff. Allgemein dazu mit weiteren Nachweisen Kempen (Anm. 70), S. 5 f. und die Beispiele auf S. 23 ff., 25 ff. sowie Burgi (Anm. 71), S. 76 ff., 210 ff., 314 ff. Erinnert sei hier auch noch einmal daran, dass die Gründung von Landesbetrieben seitens der Niedersächsischen Landesregierung z. T. als erster Schritt in Richtung auf eine »vollständige« Organisationsprivatisierung verstanden wird (s. den Nachweis hier in Anm. 65). Nach wie vor überzeugend die grundsätzliche Kritik an der Organisationsprivatisierung durch E. Heuer (ehemaliger Vizepräsident des Bundesrechnungshofs): Privatwirtschaftliche Wege und Modelle zu einem modernen (anderen?) Staat, DÖV 1995, S. 5 ff. 78 s. dazu zusammenfassend: P. Unruh, Kritik des privatrechtlichen Verwaltungshandelns, DÖV 1997, S. 653 (654 ff.) und daneben ausführlich D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform (1984) S. 292 ff. (bes. S. 299 ff., 303 ff., 309 ff.). Entsprechend heißt es in einer ein-
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genannt, aber die Staatspraxis bestimmendes Motiv für in privatrechtlichen Handlungs- und Organisationsformen vollzogene (Kredit)finanzierungen ist daneben die damit gegebene Möglichkeit, die Höhe der Staatsverschuldung zu verschleiern bzw. – was auf das Gleiche hinausläuft – an den bestehenden verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung vorbei Großprojekte zu realisieren, deren Finanzierung dann künftigen Haushaltsjahren vorbehalten bleibt.79 Es erstaunt angesichts dieser Sachlage, wenn jüngst unter Zugrundelegung einer von den Sozialwissenschaften interpretierten Verwaltungswirklichkeit mit großem theoretischen Aufwand der Versuch unternommen worden ist, die hinreichende demokratische Legitimation eines entsprechenden Verwaltungshandelns mit dem Hinweis auf das »Gebot effizienter Aufgabenerfüllung« zu begründen. Dabei wird der »verfassungsrechtlich-dogmatische Ansatzpunkt« für diese These »im Modus der funktionellen und institutionellen Legitimation« gesehen. »Die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften«, so heißt es weiter, »erfordert auch differenzierte Organisationsformen öffentlicher Aufgabenerfüllung. Dabei kann die eindimensionale Vorschrift des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, nach der Staatsgewalt nur entweder vorliegt oder nicht, die gesamte Komplexität nicht ›einfangen‹. Ihre Anwendung muss daher auf den staatlichen Anteil beschränkt werden, nicht aber auch das Gesamtergebnis des Zusammenwirkens von Staat und Privaten betreffen. Alles andere würde eine stimmig gefassten Entschließung des Präsidiums des Deutschen Landkreistages aus dem Jahre 1994 (abgedruckt in: der landkreis 1994, S. 244, 249): »Die meisten Privatisierungsüberlegungen auf kommunaler Ebene werden gegenwärtig vorrangig durch Umgehungsund Vermeidungsmotive bestimmt, mit denen versucht wird, sich zur Erreichung einer effizienten Aufgabenwahrnehmung aus den Fesseln des – sich zumindest partiell hinderlich erweisenden – öffentlichen Rechts zu befreien.« 79 s. insoweit zur (beispielhaften) privaten Finanzierung des Straßenbaus die Nachweise bei Janssen, Privatisierung (Anm. 71), S. 17 Anm. 63 und ergänzend: S. Schmitt, Bau, Erhaltung, Betrieb und Finanzierung von Bundesfernstraßen durch Private nach dem FStrPrivFinG (1999). In Niedersachsen gibt es im Übrigen seit längerem allgemein für Kreditfinanzierungen eine Niedersächsische Gesellschaft für öffentliche Finanzierungen mbH (NFG), bei der 70 % des Stammkapitals das Land hält; im Aufsichtsrat hat das Land vier von sechs Stimmen. Die vom Land, vertreten durch das Finanzministerium, entsandten Mitglieder des Aufsichtsrats sind Bedienstete des Landes, den Vorsitz hat ein Bediensteter aus dem Geschäftsbereich des Finanzministeriums inne. Die Geschäftsführung wird ebenfalls von zwei Bediensteten des Landes aus dem Geschäftsbereich des Finanzministeriums wahrgenommen. Das Land befreit die NFG von allen Lasten und Risiken. Es trägt den gesamten Schuldendienst. Gegenstand dieses »Unternehmens« ist nach dem vom Niedersächsischen Finanzministerium herausgegebenen Beteiligungsbericht des Landes Niedersachsen 2001 »die Finanzierung von Maßnahmen der Landesentwicklung, insbesondere der Verbesserung der Infrastruktur und der Förderung der Industrieansiedlung und die Übernahme sonstiger Finanzierungsaufgaben für das Land Niedersachsen«. Und zur Bedeutung der NFG für das Land heißt es in dem genannten Bericht: »Die Gesellschalt finanziert wichtige, im Landesinteresse liegende Maßnahmen vor, die aus haushaltstechnischen Gründen erst in der Folgezeit durch originäre Haushaltsmittel abgelöst werden können« (Hervorhebungen A. J.).
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Mehrdimensionalität der Norm voraussetzen, die tatsächlich nicht gegeben ist.«80 Diese primär für die funktionale Privatisierung geltende (aber auch die Organisationsprivatisierung stützende) Begründung soll hier nicht auf ihre dogmatische Tragfähigkeit hin untersucht werden.81 Was aber festzuhalten bleibt, ist wiederum wie bei den bereits besprochenen Fällen der Streikarbeit und Mitbestimmung im öffentlichen Dienst (s. II 2.) die auch hier geltende Ausgangsthese, dass die durch Artikel 20 Abs. 2 GG gestiftete demokratische Legitimation der Verwaltung keinen verfassungsrechtlichen Ausschließlichkeitscharakter besitzt. Zu diesem Ergebnis kann man daneben nur bei Ausblendung der Frage kommen, ob denn im Blick auf die Verwaltungspraxis »die sachgerechte Erfüllung des öffentlichen Auftrags«82 tatsächlich die Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung der Verwaltung erfordert. Eben daran lässt sich nun m. E. mit Fug zweifeln, wenn man konkrete Organisations- und funktionale Privatisierungen der Verwaltung daraufhin untersucht, ob die Erledigung der entsprechenden Verwaltungsaufgaben nicht zumindest ebenso »sachgerecht« und ebenso wirtschaftlich durch die überkommenen öffentlich-rechtlichen Organisations- und Handlungsformen der Verwaltung hätte bewirkt werden können.83 Damit wird dann ebenfalls die Gleichsetzung sozialwissenschaftlich 80 So V. Mehde, Ausübung von Staatsgewalt und Public Private Partnership, VerwArch 91 (2000), S. 540 (562, 565 – Hervorhebung A. J.). Von seinem Ansatz her konsequent versucht Mehde auch »Die Ministerverantwortlichkeit nach dem Grundgesetz« (s. seinen so betitelten Aufsatz in DVBI. 2001, S. 13 ff.) zu relativieren. Dass damit zugleich die für die Bewahrung des Rechtsstaats nicht zu unterschätzende (und in fast allen »alten« Bundesländern bestehende) Möglichkeit der Ministeranklage (dazu demnächst: J.-D. Kühne, Verfassungsklagen gegen Gubernativspitzen – rechtstatsächliche und vergleichende Brauchbarkeitserwägungen, in FS für Dimitris Th. Tsatsos zum 70. Geburtstag, dort bes. bei Anm. 104 ff.) wesentlich eingeschränkt wird, sollte nicht übersehen werden. Mehdes Argumentation besitzt verblüffende Parallelen zu dem Versuch, die Zulässigkeit und Notwendigkeit des Maßnahmegesetzes aus der Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zu rechtfertigen; s. dazu genauer mit Nachweisen: Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 60 ff., 238 ff. In beiden Fällen bricht man nach meinem Eindruck im Blick auf scheinbar zwingende Gebote der Staatspraxis die juristisch-dogmatische Reflexion all zu schnell ab. 81 Besonders Jaestedt (Anm. 40) hat m. E. überzeugend das zwingende verfassungsrechtliche Gebot der demokratischen Legitimation für jedes dem Staat zurechenbare Verwaltungshandeln nachgewiesen. 82 Mehde, a. a. O., S. 563. 83 Schon die Lektüre der einschlägigen Berichte des Bundesrechnungshofs und der Landesrechnungshöfe sowie die entsprechenden Berichte von Wirtschaftsprüfern, die etwa kommunale »Betreibermodelle« der Abwasserentsorgung geprüft haben (dazu Janssen, Privatisierung, Anm. 71, S. 15 ff:), hätte darüber belehren können, dass die Verwaltungspraxis insoweit ganz anders aussieht und die entsprechenden Verwaltungsaufgaben in den überkommenen öffentlich-rechtlichen Organisations- und Handlungsformen besser hätten erledigt werden können. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt unter dogmatischem Blick-
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begründeter »Vernunft« der Verwaltungspraxis mit den normativen Anforderungen an diese Praxis fragwürdig – eine Gleichsetzung, die ja letztlich hinter der These von der nicht zwingenden parlamentarisch-demokratischen Legitimation für bestimmte, dem Staat zuzurechnende materielle Verwaltungshandlungen steht. Für unsere Fragestellung ergibt sich daraus die weitere Folgerung, dass es ohne die genannte Gleichsetzung sicherlich nicht in dem bisher geschehenen Umfang zu einer (leichtfertigen) Zurückdrängung des öffentlichen Dienstes aus genuinen Verwaltungsaufgaben gekommen wäre.
3.
Die Verlagerung der Entscheidung über den Inhalt wesentlicher Staatsaufgaben auf Private
Für das Beamtenrecht kann schließlich nicht folgenlos bleiben, dass neuerdings zunehmend mit Privatleuten besetzte Gremien oder private Gutachter – und nicht die Politik unter Beteiligung der (Spitzen-)Bürokratie – über Grundfragen des Staates entscheiden. Denn wenn deren Vorschläge dann von Regierung und Parlament praktisch unverändert übernommen und nur noch in verbindliche Rechtsformen gegossen werden, bleibt dem öffentlichen Dienst im Ergebnis lediglich die Aufgabe, die von diesen Privatleuten definierten »öffentlichen« Interessen zu vollziehen. Diese Entwicklung ist nunmehr genauer zu schildern. a) Ein gutes Beispiel für das Gesagte stellt die ca. 7 Monate vor den Bundestagswahlen vom September 2002 eingesetzte Regierungskommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (sog. Hartz-Kommission84) dar. Diese Kommission befasste sich nicht nur, wie ursprünglich beabsichtigt, mit Vorschlägen zur Modernisierung der Bundesanstalt für Arbeit, sondern machte in ihrem am 16. August 2002, also wenige Wochen vor der Bundestagswahl vorgelegten Bericht auch materielle Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigwinkel auch Unruh (Anm. 78), S. 654 ff. m.w. N. Was die zur Verfügung stehenden öffentlichrechtlichen Organisationsformen betrifft, so ist insoweit vor allem noch auf die besonders auf kommunaler Ebene in verschiedenen Bundesländern (Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt) eingeführten »Kommunalunternehmen« (selbstständige Unternehmen in der Rechtsform einer öffentlichen Anstalt) zu verweisen. Eine Übertragung dieses Modells auf die Landesebene ist ebenfalls schon erwogen worden, s. M. König, Die Privatisierung im Landesorganisationsrecht, DOV 1999, S. 322 (327 ff.). Was übrigens das im Text nur angedeutete grundsätzliche Problem des für die Jurisprudenz verbindlichen Wissenschaftsbegriffs angeht, so erscheint mir nach wie vor beachtenswert: W. Henke, Sozialtechnologie und Rechtswissenschaft, Der Staat 8 (1969), S. 1 ff.; vgl. daneben – diesen Ansatz weiterführend – A. Janssen, Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur (FS für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag) 1997, S. 467 (478 ff.; 488 ff., 490 ff.). 84 So genannt nach dem Vorsitzenden der Kommission: dem VW Vorstandsmitglied Peter Hartz.
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keit und zur Neuausrichtung der Arbeitsmarkpolitik der Bundesregierung85 Die Bundesregierung beschloss bereits sechs Tage nach Vorlage des Berichts die »dort erarbeiteten Ergebnisse unverwässert« umzusetzen.86 In der Folgezeit sind dann diese Ergebnisse doch »verwässert« worden, und zwar nicht wegen dagegen geäußerter Bedenken der fachlich zuständigen Spitzenbürokratie in den Ministerien oder aufgrund parlamentarischer Einflussnahme, sondern durch massive Intervention der Gewerkschaften. Dem Bundestag blieb dann nur noch das so von der Hartz-Kommission und den Gewerkschaften als privaten Verbänden gefundene Ergebnis87 in dieser für Staat und Gesellschaft zentralen Frage mehrheitlich abzusegnen. Das ist (teilweise) durch die vom Bundestag am 15. November 2002 beschlossenen Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geschehen. Erst im Bundesrat kam es dann bekanntlich zu einer wirklichen Beratung und – daraus folgend – zu einer gewissen Modifikation der Gesetzentwürfe, und zwar nur deshalb, weil die Opposition im Bundestag dank »ihrer« Landesregierungen im Bundesrat dort die Mehrheit besaß.88 Verblüfft an diesem Beispiel vor allem die faktische Ausschaltung des Parlaments bei einem so zentralen politischen Thema wie der Reform des Arbeitsmarkts,89 so zeigt ein weiteres Beispiel aus jüngster Zeit, das sich in Nie85 s. im Einzelnen den Bericht der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom August 2002. Schilderung des wesentlichen Inhalts des Berichts und Stellungnahme dazu aus der Sicht des Deutschen Landkreistags durch: U. Friedrich, Vorschläge der sog. Hartz-Kommission stoßen auf kommunale Bedenken, Der Landkreis 2002, S. 620 ff. 86 So die inhaltliche Wiedergabe dieses Beschlusses in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vom 29. Oktober 2002 (abgedruckt in der Zeitschrift »Das Parlament« 52. Jg. Nr. 44 vom 4. November 2002, S. 17). 87 Von diesem Ergebnis hat sich – wie der Presse zu entnehmen war – Peter Hartz als Vorsitzender der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« öffentlich distanziert. 88 s. zu den Gesetzentwürfen BT-Drs. 15/25 (Entwurf eines Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) und BT-Drs. 15/26 (Entwurf eines Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) und zu den vom Bundestag zunächst allein beschlossenen Gesetzen den Kommentar von: B. Gaul/B. Otto, Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Der Betrieb 2002, S. 2486 ff. Endgültig beschlossen und zu einem wesentlichen Teil in Kraft getreten ist bisher (Januar 2003): Erstes und Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl. I, S. 4607 bzw. S. 4621). 89 Dieses Beispiel besitzt übrigens – was das Entscheidungsverfahren betrifft – eine fast zeitgleiche signifikante Parallele: Die Fraktion der Grünen im Bundestag erklärte sich im November 2002 mit einer Erhöhung der Rentenbeiträge nur unter der »Bedingung« einverstanden, dass eine externe, natürlich primär von privaten Fachleuten besetzte Kommission (die Rürup-Kommission) den Auftrag bekommt zu prüfen, wie man eben diese Erhöhung hätte verhindern können. In einem von M. Koch in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 13. November 2002 verfassten Kurzkommentar zu diesem Geschehen heißt es u. a.: »Das ist Politik paradox: Die frei gewählten Abgeordneten der Regierungsfraktionen wollen am Freitag den Arm heben für eine Steigerung der Lohnnebenkosten. Und wie man diese Lohnnebenkosten irgendwann einmal wieder senken kann, soll dann eine Runde von
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dersachsen ereignete, wie eine genuine, wesentliche Aufgabe der Ministerialbürokratie, mit der dann auch der Landtag zu befassen ist, von Privaten erledigt wurde. Der Sachverhalt wird in einer Dringlichen Anfrage der CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag richtig wie folgt beschrieben: »Die Landesregierung hat nach eigenen Angaben im Rahmen ihrer Vorarbeiten für die Mittelfristige Planung die Unternehmensberatungsgesellschaft Roland Berger & Partner für ein Honorarvolumen von 600.000 Euro mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, in welchem für die dringend gebotene Sanierung des Landeshaushaltes mit einem jährlichen Handlungsbedarf von ca. 1.000 Mio. Euro erste Aussagen für die notwendigen Sanierungsschwerpunkte gemacht werden sollten. Dieses Gutachten ist sodann am 27. August 2002 in Gestalt eines 19-seitigen ›Konsolidierungskonzeptes 2003 bis 2007‹ der Öffentlichkeit präsentiert worden … die veröffentlichte Unterlage (erg.: zeichnet sich) durch ein beachtliches Maß an Wiederholung von längst anderweitig vorgeschlagenen Konsolidierungsideen aus.«90 An diesem Auftrag erstaunt zunächst, dass die Landesregierung mit den darin aufgeworfenen Fragen nicht den Niedersächsischen Landesrechnungshof befasst hat, zumal sich in dessen jährlich vorgelegten Prüfungsberichten bereits viele sachliche Antworten darauf finden lassen. Besonders erstaunlich aber ist daneben, dass sie in dieser Angelegenheit nicht auf das Fachwissen der Ministerialbürokratie, die seit Jahren die »Mittelfristige Planung« ausarbeitet, zurückgriff.91 Denn »bei Gutachten zur Effizienzsteigerung der Landesverwaltung, zur Staatsmodernisierung, zu Personalfragen und Organisationsfragen etc. ist Fachleuten prüfen, dafür ist das Parlament nicht zuständig. Zu besichtigen ist einmal mehr, wie sich der Deutsche Bundestag von seiner eigentlichen Aufgabe verabschiedet. Der Bundestag löst leider die Probleme dieses Landes nicht. Dies wird ihm auch von der Regierung nicht zugetraut. Die setzt lieber, wenn es Probleme gibt, eine bunt gemischte Runde von Privatleuten ein, die sich mit dem Thema auskennen und zweitens dem Bundeskanzler oder dem Minister bekannt und angenehm sind. Auf diese Weise haben sich – Stichwort Hartz – die Abgeordneten bereits das Thema Arbeitsmarkt aus der Hand nehmen lassen, immerhin das zentrale Problem dieses Landes. ›Eins zu eins‹, so hieß es anschließend feierlich, sollten die Pläne eines demokratisch nicht legitimierten Gremiums von Konzernabteilungsleitern und Verbandsfunktionären umgesetzt werden. Warum eigentlich? Der Deutsche Bundestag, man muss gelegentlich daran erinnern, ist das einzige unmittelbar vorn Volk gewählte Entscheidungsgremium dieser Nation. Von der Verfassung her haben es seine Abgeordneten nicht nötig, sich herumschubsen zu lassen.« In beiden Beispielen ist daneben übrigens verwunderlich, dass augenscheinlich auch nicht auf den Sachverstand des jeweiligen Fachressorts (der Bürokratie) zur Entscheidungsfindung in der Sache zurückgegriffen wurde. 90 s. Landtagsdrucksache 14/3710. 91 Bürokratie ist eben nicht nur Vollzugsbürokratie, sondern konzipiert – ggf. unter Beachtung politischer Vorgaben durch die dazu befugten Entscheidungsträger – alle entscheidenden längerfristigen Planungen staatlicher Tätigkeit. In dem Verlust dieses Gedankens liegt eine der Ursachen für die Gefährdung des deutschen Verfassungsstaates, s. dazu A. Janssen, Die Infragestellung des Verfassungsstaates, Die Verwaltung 35 (2002), S. 116 (S. 126 f., auch S. 124 f. und S. 128).
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… grundsätzlich hinreichender eigener Sachverstand in den Reihen der niedersächsischen Landesverwaltung vorhanden«.92 Wie dem auch sei, in jedem Fall bleibt festzuhalten, dass die Vorschläge der Firma Roland Berger & Partner praktisch weitgehend »unverwässert« in die »Mittelfristige Planung Niedersachsen 2002 – 2006« übernommen wurden und diese Planung dann insoweit auch in den parlamentarischen Beratungen unverändert geblieben ist. Im Übrigen gibt es – was abschließend zu betonen ist – viele von der Landesregierung in den vergangenen Jahren eingeholte Gutachten,93 die in ähnlicher Form das politische Geschehen in Niedersachsen maßgeblich beeinflusst haben. b) Was sind die Gründe für diese in Deutschland nunmehr eingetretene Wandlung der Parteienstaatsdemokratie zur »Präsentationsdemokratie«?94 Und vor allem: Welche Gründe haben zum bewussten Übergehen der Bürokratie bei der Entscheidungsfindung über Inhalt und Erledigung wesentlicher staatlicher Aufgaben geführt? Besonders diese zuletzt gestellte Frage interessiert hier deshalb, weil sie ja an das Selbstverständnis des öffentlichen Dienstes unmittelbar rührt. Seit langem hat man – was zunächst das augenscheinliche Versagen der parlamentarischen Parteienstaatsdemokratie in der Lösung wesentlicher längerfristiger Staatsaufgaben betrifft – als Grund dafür die primäre Orientierung der politischen Parteien an »langfristig angelegten Machtinteressen« genannt.95 92 So m. E. zu Recht die Große Anfrage der Fraktion der CDU vom 18. Oktober 2000 (LTDrs. 14/3812). Im Übrigen wird dort auch richtig betont, dass daneben unbestritten in Einzelfragen »externer Sachverstand für technische Gutachten im Straßenbau, bei Kraftwerken, im Umweltschutz, Verbraucherschutz usw. eingesetzt werde kann und sollte.« 93 Eine gute Übersicht über die in den Jahren 1994 – 2002 eingeholten Gutachten enthält die Antwort der Landesregierung auf die in Anm. 92 genannte Große Anfrage: LT-Drs. 14/3927, S. 5 – 43. Danach hat allein die Firma Roland Berger & Partner in dem fraglichen Zeitraum 17 Gutachten zu einem Gesamtpreis von (abgerundet) 1.930.000 Euro erstellt. Die Gesamtzahl der in der Antwort der Landesregierung aufgelisteten Gutachten beträgt 368 (!) mit einem Gesamtvolumen von (abgerundet) 28.285.000 (!) Euro. 94 Zur Erläuterung dieses Begriffs hier nur folgender Auszug aus dem Artikel »In der Präsentationsdemokratie« von K.-R. Korte in der FAZ vom 26. Juli 2002: »Schröders Demokratie ist eine Verhandlungsdemokratie. Interessengruppen werden zusammengebracht und auf einen Konsens verpflichtet – außerhalb des Bundestages. Netzwerke sollen verhindern, dass Entscheidungen blockiert werden. Wer einen solchen Konsens zustande bringt, der übt seine Macht auf sanfte Weise aus. Der Kanzler befriedigt Sehnsüchte der Bevölkerung; mit runden Tischen, Bündnissen für Arbeit oder auf Zeit, Ethikräten und Kanzlerrunden pflegt und intensiviert er den korporatistischen Stil seines Vorgängers. Denn der SPD-Kanzler hat eine Vielzahl von Sonderbeauftragten ernannt (von der Zuwanderungsfrage über Entschädigung der Zwangsarbeiter bis zum MKS-Krisenstab), die mit Bedacht nicht den Regierungsparteien entstammen. Immer neue Konsensrunden stellen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages vor vollendete Tatsachen. Selbstverpflichtungen der Verbände wie im Gesundheitswesen tun ihr Übriges. So verringern sich die Spielräume der Mehrheitsfraktionen im Parlament auf Nachbesserungen im Detail.« 95 s. etwa W. Schmidt, Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts (1982), S. 103.
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Und erläuternd ist dazu gesagt worden: »Die Mitwirkung der politischen Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 GG) ist primär auf die Besetzung und den Ausbau von Herrschaftspositionen im Staatsapparat auf der Grundlage von Wahlergebnissen ausgerichtet. Diesem Ziel sind alle anderen Ziele untergeordnet. Mit Rücksicht auf die Wählermeinung und im Hinblick auf die Programmierung von Regierung und Verwaltung müssen zwar die von den Parteien in den politischen Willensbildungsprozess eingebrachten Interessen breiter gestreut sein als die von Gewerkschaften und Verbänden, doch sind eben ihres Einsatzes im Wahlkampf wegen die zu Gemeinwohlprogrammen gebündelten unterschiedlichen Interessen so abgeschliffen«, dass sie kaum noch »zur Entwicklung erschöpfender Entscheidungsalternativen« taugen.96 Aufgrund der hier geschilderten Entscheidungsabläufe wäre diese Analyse nur noch um den Hinweis auf die augenscheinlich heute in der parlamentarischen Parteienstaatsdemokratie ebenfalls bestehende Durchsetzungsschwäche der politischen Parteien – ihren fehlenden Willen, die eigenen Programme (sofern solche überhaupt vorhanden sind) zu realisieren – zu ergänzen. Die Gründe für die dargestellte heutige Entscheidungsschwäche der Exekutive sind weitgehend die gleichen wie die soeben für die politischen Parteien genannten. Erklären lässt sich das mit der seit langem zu beobachtenden starken Nivellierung der für die Exekutive verbindlichen dualen Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie97 in dem Sinne, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Verwaltung ihr Handeln primär an (partei)politischen Maßstäben orientiert.98 Diese Entwicklung ist m. E. bei Verzicht auf notwendige 96 So wiederum W. Schmidt, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung (1. Bericht), VVDStRL 33 (1975), S. 183 (206). 97 Dazu J. Isensee, Beamtentum – Sonderstatus in der Gleichheitsgesellschaft, ZBR 1988, S. 141 (149). Zum damit einhergehenden neuen inhaltlichen Verständnis des verfassungsrechtlich verbürgten Gewaltenteilungsprinzips nach wie vor grundlegend: H. D. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung (1975). Für die inhaltliche Bestimmung der hier postulierten Unterscheidung scheint mir folgende Überlegung hilfreich, wenn man die dort angesprochene »Rechtsordnung« als verbindliche inhaltliche Vorgabe für die Bürokratie versteht: »Offenbar besteht die ganze Rechtsordnung aus Entscheidungen, die etwas Ungewisses aufgrund einer allgemeineren vorentschiedenen Gewissheit festsetzen, sei es die Sache selbst (materielles Recht), sei es, wer in welcher Weise und unter welchen Voraussetzungen die Ungewissheit entscheiden soll (formelles Recht). Somit wäre die Politik der Bereich der Einigung im Ungewissen und das Recht der Bereich der Entscheidung in vorentschiedener Gewissheit … So eng Politik und Recht danach verbunden scheinen, so unterscheiden sie sich doch wesentlich. Die bleibenden Ungewissheiten der Rechtsordnung dürfen nicht darüber täuschen, dass der Sinn der Rechtsordnung, d. h. der Gesamtheit der Normen, der Rechtsprechung, der Lehre und der Rechtsgrundsätze und aller dem Recht dienenden Einrichtungen, die teilweise und zeitweilige Festlegung dessen ist, was als gerecht und richtig gelten soll, damit aber wenigstens der teilweise und zeitweilige Ausschluss von Politik«, so W. Henke, Wider die Politisierung der Justiz, DRiZ 1974, S. 173 (175). 98 Demgegenüber wird die Forderung nach Aufrechterhaltung der dualen Gewaltenteilung
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Reformen99 unumkehrbar. Denn die Intensivierung der parteipolitischen Ämterpatronage100 sowie die Ausweitung der Funktion des politischen Beamten101 und der neben der hierarchischen Verwaltung operierenden »Stäbe« in den Ministerien102 muss man trotz der verfassungsrechtlichen Grenzen der Artikel 3
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innerhalb der Exekutive von der Überzeugung getragen, dass gerade im (kritischen) Dialog zwischen Politik und Bürokratie die richtigen Antworten auf die wesentlichen Herausforderungen des Staates gefunden werden, s. dazu Jarrass, (Anm. 97), S. 120 ff., 145 ff und ergänzend Janssen, Verfassungsstaat (Anm. 91), S. 126 f., 128. Dazu hier noch unter IV 3 c). Neuere Literatur dazu: R. Wassermann, Ämterpatronage durch politische Parteien, NJW 1999, S. 2330 ff.; M. Kloepfer, Politische Klasse und Ämterpatronage, ZBR 2001, S. 189 ff.; H.-U. Derlien, Öffentlicher Dienst im Wandel, DOV 2001, S. 322 (325); Bund der Steuerzahler Niedersachsen und Bremen e. V. (Hrsg.), Vorschläge zur Begrenzung des Parteieneinflusses auf den öffentlichen Dienst (2002), S. 6 ff. Entscheidend ist insoweit nicht nur die Vielzahl der Fälle, sondern auch die Tatsache, dass bezüglich des auf diese Weise begünstigten Personenkreises insofern ein »Paradigmenwechsel« stattgefunden hat, als er sich durchweg nicht aus erfahrenen Bürokraten (und nicht einmal aus bisher in zivilen Berufen tätigen Frauen und Männern) zusammensetzt. Vielmehr haben die so Begünstigten ihre bisherigen »Berufs«-Erfahrungen häufig allein als Fraktionsmitarbeiter, persönliche Referenten eines Ministers, Assistent eines Bundestagsabgeordneten, Mitarbeiter im Ministerbüro etc. gemacht. Konkrete Beispiele für das Gesagte schildert G. Biehler (Ämterpatronage im diplomatischen Dienst?, NJW 2000, S. 2400 ff.) und Janssen (Verfassungsstaat, Anm. 91, S. 121 f.). Richtig dazu M. Neumann, Zum Ansehensverlust der öffentlichen Verwaltung, DÖD 1999, S. 145 (150): »Das ausgeweitete Institut des sog. politischen Beamten … wird zur Politisierung der öffentlichen Verwaltung erheblich beigetragen haben. Dieser Grenzbereich von Regierung und Verwaltung, der die fortdauernde Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Absichten und Zielen der Regierung sichern soll, ist wohl eher geeignet, parteipolitische Hörigkeitsbeziehungen zu stiften, die Amtsloyalität zu überlagern und die Ämterpatronage weiter auszudehnen.« Zur im Vergleich zum normalen Beamten modifizierten Bindung des Dienstherrn bei Einstellung, Beförderung und Entlassung des politischen Beamten aufgrund des in ihn gesetzten Vertrauens bezüglich seiner politischen Anschauungen und persönlichen Loyalität s. nur: D. Leuze. Die politischen Pflichten des Beamten in Theorie und Praxis, DÖD 1994, S. 125 ff.; Chr.-D. Bracher, Vertrauen in politische Anschauungen und persönliche Loyalität bei beamtenrechtlichen Auswahlentscheidungen, DVBI. 2001, S. 19 ff. Mit erfreulicher Deutlichkeit werden die Unterschiede zwischen dem Status des normalen Beamten und dem des politischen Beamten in einem Beschluss des OVG Koblenz vom 28. Juni 2002 (abgedruckt u. a. in: ZBR 2002, S. 366 f. – mit Anmerkung von R. Summer) herausgearbeitet. s. im Übrigen zur Entwicklung der Ämterbesetzung mit politischen Beamten allgemein für die Jahre 1949 – 1983: H.-U. Derlien, Einstweiliger Ruhestand politischer Beamter. des Bundes 1949 bis 1983, DÖV 1984, S. 689 ff. und für einen speziellen Fall beim Regierungswechsel 1998: W. Otremba, Der Personalaustausch bei den politischen Beamten nach dem Regierungswechsel im Oktober 1998 – eine Analyse, DÖD 1999, S. 265 ff. Es ist damit der in Anmerkung 100 genannte Personenkreis gemeint. Richtig heißt es dazu bei Bochmann (Anm. 16), S. 178: »So entsteht … ein System parteipolitischer Absicherung von Verwaltungsabläufen als Ersatz von Kontrollinstanzen«, und auf S. 194 wird ebenso richtig festgestellt: »Die mit der Patronage einhergehende Parteipolitisierung führt zur Fraktionsbildung innerhalb der Behörden.« Gerade der besondere »Stab« in den Ministerien, der sich aus persönlichem Referenten des Ministers, dem Personal im Ministerbüro,
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Abs. 3 S. 1 und 33 Abs. 2 GG u. a. als »selbstläufig« (systemimmanent) verstehen, die im Übrigen noch längst nicht ihren denkbaren »Höhepunkt« erreicht haben. Die wesentliche Folge dieser faktischen Aufhebung der dualen Gewaltenteilung bestand nun bisher in der ausschließlichen (d. h. ohne Beteiligung der neutralen Fachbürokratie bewirkten) inhaltlichen Festlegung der wesentlichen Staatsaufgaben durch die von den politischen Parteien getragenen parlamentarischen Mehrheiten und ihrer weitgehend unkritischen Umsetzung durch die Verwaltung. Ist aber heute, wie die geschilderten Beispiele der maßgeblichen Einflussnahme auf die politische Meinungsbildung durch die Hartz-Kommission und diverse Berger-Gutachten zeigen, die Parteienstaatsdemokratie augenscheinlich vielfach zur eigenen Meinungsbildung in diesen Fragen auch nicht mehr in der Lage, so »partizipiert« folglich jetzt die Bürokratie aufgrund ihrer parteipolitischen Durchdringung notwendigerweise an diesem Unvermögen und degeneriert damit zum Vollzugsorgan für von Privaten definierte »öffentliche« Interessen.103 In diesem Kontext ist das hier unter III 1. charakterisierte neue Leitbild der Verwaltung zu sehen. Und erst dieser Hintergrund macht die ganze Tragweite deutlich, die eine praktisch maßstabslose Verwaltungsprivatisierung für das Beamtenrecht besitzt.
IV.
Der verfassungsrechtliche Maßstab des Artikel 33 Abs. 4 GG
Der Artikel 33 Abs. 4 GG ist zunächst als entscheidende verfassungsrechtliche Grenze für die hier unter II. geschilderten Formen der Privatisierung des Beamtenrechts einschlägig. Denn der Inhalt des »Dienst- und Treueverhältnisses« i. S. des Artikel 33 Abs. 4 ist ja vor allem unter Berücksichtigung der durch Artikel 33 Abs. 5 GG geschützten »hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums« zu bestimmen – Artikel 33 Abs. 5 GG entfaltet also seine Rechtswirkung im Rahmen des Artikel 33 Abs. 4 GG.104 So gesehen lassen sich die ebenfalls Pressesprecher, Sonderbeauftragten etc. zusammensetzt, befördert diese »Fraktionsbildung«. Für die genannte Entwicklung besonders kennzeichnend sind wohl verschiedene Organisationsentscheidungen im Auswärtigen Amt, s. dazu nur den Artikel von E. Lohse in der FAZ vom 15. Mai 2002, S. 12 mit dem kennzeichnenden Titel: Mit Sonderauftrag. Im Auswärtigen Amt gibt es immer mehr »Koordinatoren« und »Botschafter«. 103 Bereits 1969 stellt W. Weber fest (Die Bundesrepublik und ihre Verfassung im dritten Jahrzehnt, in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 344, 354): »So ist doch nicht zu verkennen, dass sich die Beamten immer mehr als Arbeitnehmer oder Beschäftigte wie alle anderen verstehen, denen der Dienstinhalt von anderer Seite her vorgegeben ist, d. h. durch die jeweils zuständigen Gremien der politischen Parteien.« Zu ergänzen wäre dieses Zitat nach dem hier Gesagten nur um die Feststellung, dass die »andere Seite«, die den »Dienstinhalt« vorgibt, zunehmend eben private Gutachter, Kommissionen oder private Interessenverbände sind. 104 Die inhaltlichen Vorgaben des Artikel 33 Abs. 4 GG für das Beamtenrecht gehen aber über
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unter II. genannten Bedenken der Literatur gegen die zunehmende Privatisierung des Beamtenrechts, die ja primär unter Hinweis auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums geäußert wurden, letztlich als durch Artikel 33 Abs. 4 GG gerechtfertigt verstehen. Die Frage, warum diese durchweg berechtigten verfassungsrechtlichen Bedenken die geschilderte Entwicklung des Beamtenrechts nicht aufzuhalten vermocht haben, lässt sich aufgrund des unter III. beschriebenen Kontextes, in dem diese Entwicklung stand, dahingehend beantworten, dass sich die Praxis heute in der Entscheidung, ob Beamte oder im öffentlichen Dienst tätige Angestellte oder gar Private eine öffentliche Aufgabe erfüllen, letztlich an keinen verbindlichen verfassungsrechtlichen Maßstab mehr gebunden fühlt. Diesen Maßstab stellt m. E. nun aber Artikel 33 Abs. 4 GG dar. Ihm kommt deshalb so großes Gewicht zu, weil der Rechtsstatus des Beamten ja kein Selbstzweck ist, sondern sich aus der ihm obliegenden Aufgabe legitimiert.105 Wie nunmehr näher darzulegen ist, vermag eben Artikel 33 Abs. 4 GG eine derartige Legitimation zu stiften. Und gerade diese fast vergessene grundsätzliche Bedeutung des Artikel 33 Abs. 4 GG ist es deshalb auch, die die hier unter II. vorgetragene Kritik gegen die zunehmende Privatisierung des Beamtenrechts in entscheidender Weise zu stützen vermag. Um die behauptete Rechtswirkung des Artikel 33 Abs. 4 GG näher zu begründen, ist zunächst (1.) das grundsätzliche Problem zu klären, welche verfassungsrechtlich verbindlichen Maßstäbe für die Ausübung der Staatsgewalt neben ihrer inhaltlichen Bindung an die Grundrechte (Artikel I Abs. 3 GG) nach dem Grundgesetz gelten. Erst danach (2.) kann die Frage beantwortet werden, ob die von der Verwaltung ausgeübte Staatsgewalt mit der »Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse« i. S. des Artikel 33 Abs. 4 GG gleichzusetzen ist. Schließlich (3.) bleibt die Aufgabe, jene Reformmaßnahmen zumindest anzudeuten, die angesichts der eingetretenen tatsächlichen Entwicklung erforderlich sind, um dem aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstab in der Verwaltungswirklichkeit Geltung zu verschaffen.
1.
Demokratische Ämterherrschaft als verfassungsgemäße Wahrnehmung der Staatsgewalt
a) Nach Artikel 20 Abs. 2 GG muss alle Staatsgewalt demokratisch legitimiert sein, und zwar in der Form der repräsentativen Demokratie. Die genannte die durch Artikel 33 Abs. 5 GG vermittelten Inhalte hinaus. s. dazu für einen besonders wichtigen Fall R. Summer, Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums – ein Torso, ZBR 1992, S. 1 (5). 105 s. dazu den Nachweis in Anm. 48.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Vorschrift besagt daneben, dass die Staatsgewalt »durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird. Diese letzte Aussage impliziert, dass »die durch die Kompetenz zugewiesene Aufgabe … (erg.: kraft Verfassung) eine aufgabengerechte Entscheidungsstruktur und damit auch eine aufgabengerechte Organisation und ein aufgabengerechtes Verfahren der Staatsorgane« verlangt. Gefordert ist mit der Kompetenzzuweisung durch Artikel 20 Abs. 2 S. 2 GG also zugleich eine bestimmte Organisation und ein bestimmtes Verfahren des jeweiligen Staatsorgans für die Aufgabenerledigung.106 Für die Annahme, dass insoweit auch eine bestimmte »dienstrechtliche« Stellung des für das entsprechende Organ tätigen »Personals« verfassungsrechtlich garantiert ist, spricht die Tatsache, dass das Grundgesetz die Befugnis, demokratisch legitimierte, Staatsgewalt auszuüben, für alle drei Gewalten an die Innehabung eines entsprechenden »Amtes« knüpft. Das zeigt Artikel 48 Abs. 2 S. 1 GG für die Abgeordneten.107 Auch der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister üben nach der Terminologie des Grundgesetzes öffentliche Ämter aus.108 Entsprechendes gilt für die Richter.109 Schließlich findet »die Kategorie des Amtes … ihre prototypische und verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 4 GG auch als Regel-Status aufgerichtete Ausformung in der Stellung des Beamten«.110 Die Landesverfassungen enthalten für die Abgeordneten, die Mitglieder der Landesregierung, die Richter und Beamten durchweg ähnliche Regelungen. Der verfassungsrechtliche Status des »Amtswalters« folgt nun nicht nur indirekt aus der jeweiligen Garantie des öffentlichen Amtes; er ist darüber hinaus nach dem Grundgesetz durch besondere Vorschriften inhaltlich näher bestimmt. Das zeigen für den Abgeordneten etwa Regelungen wie Artikel 38 Abs. 1 S. 2 GG und – was seine »Entschädigung« betrifft – Artikel 48 Abs. 3 S. 1 GG.111 Ähnliche ergänzende verfassungsrechtliche Bestimmungen finden sich auch für den
106 So richtig G. Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz (1986), S. 20 Anm. 34, genauer dazu S. 7 f. 107 s. insoweit BVerfGE 76, 256 (341) und daneben BVerfGE 4, 296 (316); 56, 396 (405) sowie aus der Literatur: W. Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S. 548 ff.; W. Henke, Das demokratische Amt der Parlamentsmitglieder, DVBI. 1973, S. 553 ff. 108 Vgl. die Artikel: 54 Abs. 2 S. 1; 55 Abs: 2; 56 S. 1; 57, 61 Abs. 2 GG für den Bundespräsidenten. Für die Mitglieder der Bundesregierung: Artikel 64 Abs. 2; 66; 69 Abs. 2 GG. 109 Vgl. die Artikel 97 Abs. 2 und 98 Abs. 2 GG. 110 So zutreffend Jestaedt. Demokratieprinzip (Anm. 40), S. 332. 111 Dass im Grunde aus dem in Artikel 48 Abs. 3 S. 1 GG gebrauchten Begriff »Entschädigung« ein ganz bestimmtes, vielen gesetzlichen Regelungen des geltenden Abgeordnetenrechts widersprechendes System der Abgeordnetenentschädigung folgt, zeigt etwa L. Determann, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Entschädigung von Abgeordneten, BayVBI. 1997, S. 358 ff., bes. S. 393 f.
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Bundespräsidenten, den Bundeskanzler, die Bundesminister, die Richter und vor allem für den Beamtenstatus.112 Aufgrund der genannten einschlägigen Regelungen des Grundgesetzes kann der mehrfach geäußerten These, dass »die Qualifizierung einer Handlung als Ausübung von Staatsgewalt … unabhängig von der Wahl einer öffentlichrechtlichen oder privatrechtlichen Ausgestaltung« sei,113 in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Das Grundgesetz kennt eben nicht die Ausübung von Staatsgewalt als solcher, sondern nur die von demokratisch legitimierter Staatsgewalt114 in der Form der Ämterherrschaft. Schon dieses Ergebnis lässt auch Zweifel an der Richtigkeit der unter 2. noch näher zu untersuchenden These aufkommen, dass Artikel 33 Abs. 4 GG keine die Verwaltungsprivatisierung begrenzende Funktion zukommen könne und diese Vorschrift weiter nur einen Teilausschnitt der Ausübung von Staatsgewalt im Bereich der Verwaltung erfasse. b) Die m. E. insoweit eindeutige Rechtslage ist wohl deshalb gerade in jüngster Zeit so häufig in Zweifel gezogen worden, weil zu selten nach dem Sinn der entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes gefragt worden ist. Die genannten Regelungen sind ja nicht Selbstzweck, sondern haben wie jede Rechtsnorm die Aufgabe, bestimmte Interessenkonflikte zu lösen bzw. – wenn insoweit keine inhaltlichen Vorgaben gemacht werden sollen – ein sinnvolles Verfahren zu deren Lösung bereitzustellen. Das gilt auch für die Ausübung demokratischer Ämterherrschaft in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen. Die vom Grundgesetz statuierten Verfahrensvorschriften zur Entscheidungsfindung der Legislative und Exekutive erweisen sich nun deshalb als unverzichtbar, weil im 112 Vgl. für den Bundespräsidenten etwa: Artikel 54 Abs. 2; 55, 61 GG. Für die Bundesregierung etwa: Artikel 64 Abs. 2; 65; 67 Abs. 1; 68 Abs. 1; 69 Abs. 2 GG. Für die Richter etwa: Artikel 94 Abs. 1 S. 3; 97; 98 Abs. 2 und Abs. 5 GG. Entsprechende konkretisierende Regelungen finden sich ähnlich auch in den Landesverfassungen für die Abgeordneten, Mitglieder der Landesregierung, Richter und Beamten. 113 So V. Mehde, Ausübung von Staatsgewalt (Anm. 80), S. 550 f. m.N. (Hervorhebung A. J.), vgl. auch S. 555. 114 Darum kann den Zeugen Jehovas m. E. auch nicht der von ihnen beantragte Körperschaftstatus nach Artikel 137 Abs. 5 WRV erteilt werden. Denn die Zeugen Jehovas stellen mit dem Verbot an ihre Mitglieder, sich an staatlichen Wahlen zu beteiligen, im Grundsatz die Legitimationskette der von ihnen beanspruchten staatlichen Hoheitsgewalt als für sich verbindlich infrage – oder anders gesprochen: sie beanspruchen nicht säkulare, demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt, sondern Hoheitsgewalt als solche, und genau das steht letztlich mit Artikel 79 Abs. 3 GG, der Fundamentalnorm unserer Verfassung, im Widerspruch. Genauer dazu, Janssen, Staatskirchenrecht (Anm. 75), S. 730 f. Richtig ist schon für den verfassungsrechtlich verbindlichen Demokratiebegriff festgestellt worden, dass für das Grundgesetz die repräsentative Demokratie »die eigentliche und volle Demokratie« sei; man solle ihr deshalb »jene einen uneigentlichen Charakter plakatierenden Zusätze, die im politischen Sprachgebrauch ihren Sinn haben mögen, nicht beifügen«, so. W. Henke, Das demokratische Amt (Anm. 107), S. 559.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Gegensatz zum Privatrecht im öffentlichen Recht nicht die Konflikte zwischen einzelnen Personen, sondern die zwischen Gruppen überwiegen115 – so etwa zwischen den Gruppen der Steuerzahler und der Empfänger staatlicher Leistungen oder im Umweltbereich zwischen den Betreibern von industriellen Großanlagen und den in der Nähe davon wohnenden Bürgern bzw. zwischen den Autofahrern, die mehr Straßen fordern, und den Naturschützern usw. Richtig ist insofern zum Verfahren, in dem der heutige demokratische Staat (und auch die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften) derartige Konflikte lösen, exemplarisch für das Steuerrecht gesagt worden: »Heute beruht (erg.: im Gegensatz zum Konstitutionalismus) das Steuergesetz nicht mehr auf der Zustimmung der Steuerpflichtigen zu ihrer eigenen Belastung, sondern auf einer Entscheidung des gesamten Volkes darüber, wie Lasten und Vorteile zwischen den einzelnen Gruppen des Volkes angemessen zu verteilen sind. Mit dieser Entscheidung verfügen nicht Eigentümer über ihr Eigentum, es entscheidet vielmehr ein Schiedsrichter über Rechte und Pflichten von Gruppen in ihrem Verhältnis zueinander.«116
Genau diese schiedsrichterliche Funktion nehmen auf der Ebene von Bund und Ländern Parlament und Exekutive (und auf der kommunalen Ebene Rat und Verwaltung) wahr. Wegen ihrer Organisationsstruktur und des für sie geltenden Entscheidungsverfahrens können das etwa Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung auch gar nicht leisten. Der Staat und die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften handeln aus eben diesem Grund auf der Basis von verfassungsrechtlich oder gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen und nicht wie der Privatmann aufgrund der durch die Grundrechte garantierten bürgerlichen Freiheit.117 Die Wahrnehmung der staatlichen (wie
115 Zum Folgenden s. besonders J. Schapp, Zum Verhältnis von Recht und Staat, JZ 1993, S. 974 (977 f.) und ders., Freiheit; Moral und Recht (1994), S. 213 ff., 239 ff., 243 ff. 116 So Schapp, Zum Verhältnis (Anm. 115), S. 980. Schapp hat an anderer Stelle für die Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Nachbarrecht ganz ähnlich auf die unterschiedliche Konfliktsituation im klein-nachbarlichen Raum (Nutzungskonflikte) einerseits und die Raumordnungskonflikte, die staatliche Steuerung erfordern, andererseits abgestellt, s. ders.: Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht (1978). Die von Schapp begründete Unterscheidung zwischen Einzel- und Gruppenkonflikten liefert aber nicht nur die innere Rechtfertigung für die verfassungsrechtliche Forderung nach hinreichender demokratischer Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt; sie lässt m. E. auch eine genauere Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Recht als bisher üblich zu, weil sie als Präzisierung der sog. Interessentheorie, auf die ja in Zweifelsfällen üblicherweise zurückgegriffen wird, verstanden werden kann (s. zur Interessentheorie nur 0. Bachof, Über öffentliches Recht, 1978, in: ders., Wege zum Rechtsstaat, 1979, S. 359 ff., 370 ff.). 117 Grundlegend dazu G. Barbey, Wahrnehmung staatlicher, und gemeindlicher Aufgaben in privatrechtlichen Handlungs- und Entscheidungsformen, Wirtschaft und Verwaltung
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kommunalen) Kompetenzen geschieht schließlich – wie gezeigt – in Ämtern, weil sie ein Handeln in förmlichen Verfahren nach Rechtsregeln beinhaltet. Es besteht demnach ein notwendiger (aber häufig geleugneter) Zusammenhang zwischen dem Inhalt der zu lösenden Aufgabe und der Art ihrer Wahrnehmung.118 Natürlich – das sei ausdrücklich zu der hier eingeführten Unterscheidung betont – gibt es auch im Privatrecht Gruppenkonflikte, die etwa nicht durch normalen Vertragsschluss aus der Welt zu schaffen sind, sondern beispielsweise durch Tarifverträge oder – allgemein gesprochen – durch sog. »institutionelle Wahlnormen«, wie sie z. B. für die Vereinsnormen, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder die Eingliederung des Arbeitnehmers in den »normierten Bereich des Betriebes« typisch sind.119 Demgegenüber zeichnen sich allerdings die hier angesprochenen Gruppenkonflikte dadurch aus, dass sie im öffentlichen Interesse zu lösen sind. Richtig verstanden sind für das Vorliegen öffentlicher Interessen allerdings »nicht die Interessen einer irgendwie gearteten Allgemeinheit, sondern eben die Kompetenzen des jeweiligen Entscheidungsträgers« entscheidend, d. h. »Kompetenzerwägungen« müssen »die Konkretisierung des öffentlichen Interesses leiten«.120 Für eben diese »Kompetenzerwägungen« enthält das Grundgesetz weniger – worauf gleich noch (2.) näher einzugehen ist – inhaltliche Vorgaben, sondern vor allem – wie hier zu zeigen war – strenge Verfahrensvorschriften für die Ausübung der Staatsgewalt durch die Legislative und Exekutive. (Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv) 1978, S. 77 f.; ders., Bundesverfassungsgericht (Anm. 106), S. 20 ff. 118 Deutlich zum Erfordernis demokratischer Entscheidung bei der Lösung von Gruppenkonflikten Schapp, Zum Verhältnis (Anm. 115), S. 979: »Die Geschichte des modernen Staates seit seiner Begründung in den konfessionellen Bürgerkriegen ist dann vor allem auch eine Geschichte der Sicherung dieser Unparteilichkeit. Das entscheidende Sicherungsmittel liegt in der Überantwortung der Souveränität an das Volk im System der repräsentativen Demokratie … Das Recht wurde jetzt nicht mehr zwischen einzelnen Gruppen ausgehandelt oder von einer Gruppe gegen die andere festgesetzt; sondern durch die Gesamtheit aller Mitglieder des Gemeinwesens beschlossen. Die Neutralität der Entscheidung war so am besten gesichert. Das Volk nahm die Schiedsrichterrolle zwischen den Gruppen in die eigenen Hände. Man kann die Gesamtheit der Mitglieder des Volkes selbst wieder als rechtssetzende Gruppe auffassen. Der Gedanke liegt den Gesellschaftsvertragstheorien der Neuzeit mehr oder weniger zugrunde. Dabei darf aber die besondere Qualität dieser Gruppe nicht aus dem Blick geraten. Sie ist gerade nicht durch die Partikularität eines Interesses charakterisiert, sondern dadurch, dass sie die Befugnis in Anspruch nimmt, über partikuläre Interessen von Gruppen zu entscheiden. Der Staat steht damit grundsätzlich auf einer anderen Ebene als die Gruppen, was ja auch in der Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat zum Ausdruck kommt.« 119 Dazu m. E. nach wie vor überzeugend: U. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), bes. S. 83 ff., 89 ff., 97 ff. 120 So das wesentliche Ergebnis bei: R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse (1999), S. 317, genauer dazu S. 141 ff.
418 2.
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Die grundsätzlich den Beamten obliegende »Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse« als verfassungsgemäße Wahrnehmung demokratischer Ämterherrschaft durch die Verwaltung
a) Was die Struktur des Artikel 33 Abs. 4 GG betrifft, so ist zunächst noch einmal besonders hervorzuheben, dass diese Vorschrift einen Zusammenhang zwischen den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beamtenrechts (»Dienst- und Treueverhältnis«) und den von den Beamten zu erledigenden Aufgaben (»hoheitsrechtliche Befugnisse«) herstellt.121 Damit übereinstimmend ist richtig gesagt worden: »Gerade an der verfassungsrechtlichen Einbindung des Berufsbeamtentums in die staatliche Aufgabenerfüllung bilden sich … wesentliche Grundsätze der staatlichen Verwaltungsorganisation ab.«122 Schon aus diesem Grund kann man m. E. die Aussage des Artikel 33 Abs. 4 GG nicht dahingehend relativieren, dass diese Bestimmung lediglich »die personellen Konsequenzen« aus den organisationsrechtlichen Regelungen des Gesetzgebers ziehe, der insoweit andere verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten habe.123 121 Dementsprechend unterscheiden der Gesetzgeber und die Dogmatik des Beamtenrechts folgerichtig zwei Rechtsverhältnisse, die zwischen dem Beamten und seinem Dienstherrn bestehen: dem Dienstverhältnis und dem Amtswalterverhältnis. Letzteres meint »die Verbindung eines Amtswalters mit einem Amt der Art, dass ihm die Versehung gerade der in diesem Amt zusammengefassten Aufgaben »obliegt« (so F. E. Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht, 1977, S. 129). Den »Verknüpfungspunkt« des damit gegebenen Amtsrechts mit dem Beamtenrecht stellt »die Amtswahrungspflicht als ›Einbruchstelle‹ des Organisationsrechts« dar (so wiederum Schnapp, a. a. O., S. 266, genauer dazu S. 130 ff.) Jede Veränderung der Verwaltungsorganisation und der Verwaltungsaufgaben berührt damit notwendig auch das Beamtenverhältnis. Denn die Amtswahrungspflicht ist ja, wie gesagt, der »Katalysator« (Ausdruck von Schnapp: Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR 105/1980, S. 243, 251), über den für den Beamten die im Organisations- und Verfahrensrecht wie im materiellen Verwaltungsrecht (einschließlich der entsprechenden Verwaltungsvorschriften und Haushaltsansätze etc.) wurzelnden Inhalte seiner Verwaltungstätigkeit konkrete Verbindlichkeit gewinnen (§ 37 BRRG). 122 So M. Jachmann, Zu den Anforderungen an die Verwaltungsorganisation im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes: Die verfassungsrechtliche Funktion des Berufsbeamtentums, VR 2001, S. 106. Ähnlich Kempen, Privatisierung (Anm. 70), S. 1 f., 19 ff.; W. Loschelder, Amt und Status – oder: Warum sollen Professoren Beamte sein?, in: Öffentliches Dienstrecht im Wandel (FS für Walther Fürst zum 90. Geburtstag), 2002, S. 219 (223 ff.) und J. Isensee, Affekte (Anm. 7), S. 12. Genau diese Bedenken müsste m. E. eine konsequente Lehre vom Verwaltungsprivatrecht in dem Sinne berücksichtigen, dass sie für das gesamte öffentliche Dienstrecht – also auch für das Recht der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst – in bestimmtem Umfang eine verfassungsrechtliche Bindung an die vom Grundgesetz namentlich durch Artikel 33 Absätze 2, 4 und 5 statuierte Amtsverfassung anerkennt; s. dazu genauer Janssen, Streikrecht (Anm. 3), S. 41 ff. 123 So Burgi, Funktionale Privatisierung (Anm. .71), S. 223 f.; ganz entsprechend: U. Di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, JZ 1999, S. 585 (590 f.); Kämmerer, Privatisierung (Anm. 71), S. 215 f.; Th. Strauß, Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum (2000), S. 201; H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz (2. Aufl. 1977), S. 100 f.
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Die aufgezeigte Struktur des Artikel 33 Abs. 4 GG ist nun auch für die Inhaltsbestimmung des Begriffs »hoheitsrechtlich« in dem Sinne entscheidend, als sich die verfassungsrechtlichen Garantien des Beamtenrechts als notwendig für die die ordnungsgemäße Erfüllung der in Artikel 33 Abs. 4 GG angesprochenen hoheitsrechtlichen Befugnisse erweisen müssen. Dass diese Notwendigkeit zu bejahen ist, haben im Ansatz schon die Überlegungen unter 1. zu den letztlich aus Artikel 20 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen des Grundgesetzes an die verfassungsgemäße Ausübung der Staatsgewalt gezeigt, zumal als inhaltliche Rechtfertigung für diese Anforderungen ihre Gewährleistung eines gerechten Entscheidungsverfahrens zur Lösung der im öffentlichen Recht typischen Gruppenkonflikte benannt werden konnte. Bedenkt man, dass der Verwaltung »eine eigenständige Kompetenz zur Konkretisierung des öffentlichen Interesses« zukommt,124 so wird man auch – wie bereits früher angedeutet – Artikel 33 Abs. 4 GG im Verhältnis zu Artikel 20 Abs. 2 GG als Spezialregelung dahingehend zu verstehen haben, dass die Ausübung der demokratischen Ämterherrschaft im Bereich der Verwaltung durch diese Vorschrift bestimmt wird. Die Struktur des Artikel 33 Abs. 4 GG und sein Verhältnis zu Artikel 20 Abs. 2 GG sprechen so daneben bereits für die Vermutung, dass die von ihm genannten »hoheitsrechtlichen Befugnisse« mit der Ausübung der demokratischen Ämterherrschaft durch die Verwaltung gleichzusetzen ist. b) Da die Entstehungsgeschichte des Artikel 33 Abs. 4 GG keinen weiterführenden Beitrag zur verbindlichen Inhaltsbestimmung der in dieser Vorschrift genannten » hoheitsrechtlichen Befugnisse« zu leisten vermag,125 kann das nur durch eine Auslegung jener Bestimmungen des Grundgesetzes geschehen, die für den Aufgabeninhalt der Exekutive einschlägig sind. Auffallend ist nun insoweit, dass sich das Grundgesetz neben der ausdrücklichen Bindung des Verwaltungshandelns an die Grundrechte (Artikel 1 Abs. 3 GG) letztlich auf allgemeine Andeutungen beschränkt, die im Grunde kaum mehr als »Impulse« für das Verwaltungshandeln sein können. Als herausragendes Beispiel hierfür ist das Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Abs. 1; 28 Abs. 1 S. 1 GG) zu nennen, dem allerdings nur dann konkretere Aussagen abzugewinnen sind, wenn man dessen Inhaltsbestimmung an den Grundrechten orientiert.126 Ergänzend wären 124 So richtig Uerpmann, Öffentliches Interesse (Anm. 120), S. 318, genauer dazu S. 186 ff. 125 Siehe dazu allgemein nur Kempen, Privatisierung (Anm. 70), S. 17 ff. R Summer weist zutreffend darauf hin, dass der Begriff »hoheitsrechtlich« aus der einfachgesetzlichen Rechtslage der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts stammt und »die Verwehrung des Beamtenstatus für Hilfstätigkeiten der Verwaltung und insbesondere kommunale Betriebsbedienstete« intendierte, s. ders., Das Prinzip Verantwortung als Grundlage des Beamtenrechts, ZBR 1999, S. 181 (189 f.). 126 s. dazu meinen Versuch: Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 16 ff. besonders im Anschluss an die Arbeiten von Karl Doehring.
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Staatszielbestimmungen wie die Artikel 3 Abs. 2 S. 2; 20a; 23 Abs. 1 S. 1; 87 e Abs. 4; 87 f Abs. 1 GG127 und m. E. auch Artikel 109 Abs. 4 GG128 anzuführen. Daneben ist in diesem Zusammenhang auch auf die einschlägigen Kompetenzkataloge für den Gesetzgeber, wie sie insbesondere die Artikel 73; 74 Abs. 1; 74a Abs. 1 und 75 Abs. 1 GG enthalten, hinzuweisen. Denn sie thematisieren zumindest indirekt mögliche Staatsaufgaben der Verwaltung.129 Das gilt schließlich auch für die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes über die Bundesverwaltung wie die Artikel 87, 87 a, 87 b; 87 d; 88; 89; 90 und 91 GG sowie die Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 91a; 91 b GG und endlich ebenfalls für Artikel 104a Abs. 4 GG u. a. Eine wirkliche Inhaltsbestimmung des Begriffs »hoheitlich« i. S. des Artikel 33 Abs. 4 GG ist aufgrund der genannten Einzelbestimmungen allerdings nur dann möglich, wenn sie sich als Ausfluss einer einheitlichen übergeordneten Staatsaufgabe verstehen lassen, für deren Erfüllung sich der Einsatz von Beamten nahe legt. Eine solche Aussage lässt sich nun – und das ist weitgehend unbestritten – allein unter Rückgriff auf die dem Grundgesetz zu Grunde liegende sog. »materielle Verfassung«130 gewinnen, und zwar konkret aus folgenden verfassungsrechtlichen Überlegungen: Auszugehen ist von der fundamentalen Unterscheidung des Grundgesetzes zwischen der grundrechtlich geschützten Privatautonomie einerseits und dem parlamentarisch-demokratisch legitimierten und (aufgrund von zugewiesenen Kompetenzen) in öffentlichen Ämtern sich vollziehenden staatlichen Handeln andererseits. Es ist nicht nur die Freiheit des Einzelnen, in die der Staat regelnd »eingreift«, sondern das geschieht ebenfalls (und vor allem) hinsichtlich des Verhaltens gesellschaftlicher Gruppen, Verbände und von ihnen beherrschte Bereiche wie den der Wirtschaft bzw. des Marktes.131 Eben diese verfassungsrechtlich vorgegebene Fundamen127 So etwa Kempen, Privatisierung (Anm. 70), S. 13 m.N. 128 Zur Begründung s. bereits U. Scheuner, Staatszielbestimmungen (1972), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht (1978), S. 223 (233 f.). 129 Diese Funktion besitzen die für den Gesetzgeber geltenden Kompetenznormen nach dem Grundgesetz unabhängig von ihrer primären Aufgabe, die gesetzgeberischen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu verteilen. Sie ist für die Rückbesinnung auf die wesentlichen Aufgaben des Bundes (bzw. – falls man einem entsprechenden inzwischen gemachten Reformvorschlag folgen würde – auch für die Länder) nicht zu unterschätzen. Dazu genauer A. Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Henneke, (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU (= Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht) 2001, S. 59 (67 ff.). Zur »Thematisierungsfunktion« der Verfassung allgemein: D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat (1977), S. 85 ff. 130 Zur Rechtfertigung dieses methodischen Vorgehens s. nur Kempen, Privatisierung (Anm. 70), S. 10 f. m. w. N. 131 Für den (nach wie vor umstrittenen) Bereich der Wirtschaft bzw. des Marktes s. insoweit besonders einprägsam H. Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsver-
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talunterscheidung war es ja auch, die die hier unter III 1. geäußerten Bedenken gegen eine zu weitgehende Angleichung des Verwaltungshandelns an das Marktgeschehen letztlich begründete. Was ist nun die materielle Rechtfertigung für die Notwendigkeit dieser Unterscheidung? Sie liegt darin, dass der neuzeitliche Verfassungsstaat die Voraussetzungen für die Realisierung der Individual- wie Gruppenfreiheit und damit auch des Marktes deshalb schaffen muss, weil der Einzelne und die Gesellschaft das aus sich heraus nicht zu leisten vermögen. Die Erfüllung eben dieser (m. E. letztlich im Sozialstaatsprinzip angesprochenen) Aufgabe begründet darum seine Legitimation; sie verlangt ein Staatshandeln, das sich dem »Wohl der Allgemeinheit« (§ 35 Abs. 1 BRRG) verpflichtet fühlt und damit notwendigerweise eine ausschließliche Orientierung an ökonomischen Maßstäben verbietet. Für die geforderten Entscheidungsinhalte gilt vielmehr zunächst, was hier unter 1 b) zur Entscheidung über Gruppenkonflikte gesagt wurde, und daneben haben in diesem Kontext die aufgeführten inhaltlichen »Impulse« des Grundgesetzes für das Staatshandeln ihren guten Sinn.132 Wenig Sinn macht es nun aber, für die Erfüllung dieser übergeordneten verfassungsrechtlichen Aufgabe durch die Verwaltung danach zu fragen, ob diese in den Bereich der Eingriffsverwaltung fällt oder den der Leistungs- und Planungsverwaltung; und wenn weiter im letzteren Fall etwa danach differenziert wird, ob der Erfüllung der genannten Aufgabe eine »intensive Grundrechtsrelevanz« zukommt oder sie eine »hohe Gemeinschaftsbedeutung« besitzt.133 So oder ähnlich wird aber ja bekanntlich bei der üblichen Bestimmung des Begriffs »hoheitlich« in Artikel 33 Abs. 4 GG verfahren. Entscheidend für die fassung, DÖV 2000, S. 361 ff. und F. Ossenbühl, Staat und Markt in der Verfassungsordnung, in: Staat – Souveränität – Verfassung (FS für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag) 2000, S. 235 ff. 132 Die hier versuchte inhaltliche Bestimmung der übergeordneten verfassungsrechtlichen Staatsaufgabe liegt durchaus im recht verstandenen Eigeninteresse des einzelnen Bürgers, s. dazu prägnant A. Engländer, Rechtsbegründung durch aufgeklärtes Eigeninteresse, JuS 2002, S. 535 ff., bes. S. 539 f. Genauere systematische Begründung dieses gedanklichen Ansatzes bei 0. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999), S. 40 ff., 95 ff. und zur Geschichte dieses Gedankens W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages (1994). Im Übrigen scheint mir die hier versuchte Aufgabenbestimmung des Staates (einschließlich der aufgezeigten inhaltlichen »verfassungsrechtlichen Impulse«, die ja in diesem Rahmen Bedeutung erlangen) ein sinnvoller Anknüpfungspunkt für die schon angesichts der staatlichen Finanznot unumgängliche Aufgabenkritik (und daraus folgenden echten Aufgabenprivatisierung) zu sein. Dass diese zentrale Frage ausblendende abstrakte Konzepte wie die der Personalkostenreduzierung oder der Verwaltungsprivatisierung als Vollzugsprivatisierung wenig Sinn machen, zeigt überzeugend W. Leisner in seinem Aufsatz: Personaleinsparungen ohne Aufgabenreduktion?, ZBR 1998, S. 73 ff. 133 So das Ergebnis der Auslegung von: V. Haug, Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum als Privatisierungsschranken, NVwZ 1999, S. 816 (820). Ähnlich ein großer Teil der Literatur, s. dazu übersichtlich: M. Jachmann, Kommentierung des Artikel 33, Rdnrn. 31 ff., in: v. Mangoldt-Klein-Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2 (4. Aufl. 2000).
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hier vertretene Gegenansicht spricht auch, dass der Vollzug der soeben unter Rückgriff auf die materielle Verfassung entwickelten zentralen Staatsaufgabe gerade die Entscheidung über für das öffentliche Recht typische Gruppenkonflikte unter Orientierung am Gemeinwohl (öffentliche Interessen) erfordert. Und gerade dafür – so sahen wir unter 1. – ist nun einmal die demokratische Ämterherrschaft, die in der Verwaltung durch Beamte ausgeübt wird, besonders geeignet.134 Im Ergebnis sind also in der Tat für die Verwaltung die »hoheitsrechtlichen Befugnisse« nach Artikel 33 Abs. 4 GG mit der Ausübung demokratischer Ämterherrschaft durch Beamte gleichzusetzen. Es ist m. E. letztlich die Zusammengehörigkeit von formellen und inhaltlichen Momenten im verfassungsrechtlichen Begriff der Staatsgewalt, wie sie sich in Artikel 33 Abs. 4 GG niederschlägt, die das gefundene Ergebnis stützt. Dieser Interpretationsansatz wiederum rechtfertigt sich auch – das bleibt abschließend besonders zu betonen – aus der systematischen Stellung des Artikel 1 GG. Denn diese Fundamentalnorm unserer Verfassung (s. nur Artikel 79 Abs. 3 GG), nach deren Absatz 1 Satz 2 es ja die »Verpflichtung aller Staatsgewalt« ist, die Würde des Menschen »zu achten und zu schützen«, »bindet« – wie richtig gesagt worden ist – ganz im Sinne des hier gewählten Interpretationsansatzes für Artikel 33 Abs. 4 GG »Art. 2 – 19 einerseits und Art. 20 GG andererseits zusammen«. Darum werden auch gemäß Artikel 1 Abs. 3 GG »nicht die Menschenwürde, sondern erst die nachfolgenden Rechte als Grundrechte bezeichnet«.135 c) Die Einschränkungen des Artikel 33 Abs. 4 GG, wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse nur als »ständige Aufgabe« und » in der Regel« Beamten obliegt, unterstützen die Praktikabilität der hier vertretenen Interpretation des Begriffs »hoheitlich« in der genannten Vorschrift. Denn damit bleibt es ja zunächst möglich, zeitlich begrenzte (Vollzugs-)Aufgaben wie etwa die Bekämpfung einer unerwarteten Naturkatastrophe oder die Vertretung plötzlich erkrankter Kollegen durch Arbeitnehmer vornehmen zu lassen, zumal dann, wenn für solche Sonderfälle der Aufbau eines eigenen Beamtenstabes aus staatsorganisatorischen Gründen, zu denen durchaus der Gesichtspunkt der »Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit« (§ 6 Abs. 1 HGrG) zählen kann, nicht verantwortbar ist.136 134 So gesehen ist m. E. auch richtig gesagt worden, Artikel 33 Abs. 4 GG »ergänzt …. wenngleich in deutlich abgeschwächter Form, die personelle Garantie des Art. 92 GG und sichert staatliche Identität auch im Bereich der Verwaltung«, so Chr. Gramm, Schranken der Personalprivatisierung bei der inneren Sicherheit, VerwArch. 90 (1999), S. 329 (359). 135 So richtig: J. Schapp, Grundrechte als Wertordnung, JZ 1998, S. 913 (918). Die verfassungstheoretische Bedeutung dieser Aussage ist m. E. noch längst nicht hinreichend behandelt worden. 136 Ähnlich im Ergebnis Jachmann, Kommentierung des Artikel 33 GG (Anm. 133), Rdnr. 37 und Th. Strauß, Funktionsvorbehalt (Anm. 123), S. 142 f. Nach dem geltenden Codex Juris Canonici (CIC) von 1983 (Can. 145 § 1) ist übrigens auch das Kirchenamt »auf Dauer
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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Was weiter das in Artikel 33 Abs. 4 GG angesprochene Regel-AusnahmeVerhältnis angeht, so spricht viel dafür, als Maßstab für eine zulässige Ausnahme das Verhältnismäßigkeitsprinzip137 anzuerkennen, oder insoweit zumindest eine »Argumentationslastregel«138 in dem Sinne anzunehmen, dass Ausnahmen vom Beamteneinsatz auf gute Gründe gestützt werden müssen. Da beide Grenzziehungen m. E. aber überzeugend nur grundrechtlich fundiert werden können,139 Artikel 33 Abs. 4 GG dagegen letztlich Grundsätze für die Verwaltungsorganisation aufstellt, scheint es mir zutreffender, insoweit als Maßstab das Subsidiaritätsprinzip anzuerkennen.140 Das würde im vorliegenden Fall bedeuten, dass solange Beamte verfügbar und in der Lage sind, »hoheitsrechtliche Befugnisse« auszuüben, sie dies nach Artikel 33 Abs. 4 GG auch tun müssen. Dieser Gedanke bedürfte allerdings noch der im vorliegenden Zusammenhang nicht zu leistenden theoretischen Vertiefung, wobei sicherlich die Diskussion über das Verständnis von öffentlichem und privatem Recht als Teilrechtsordnungen hilfreich sein könnte, – vor allem dann, wenn man von einem im Verhältnis zum öffentlichen Amtsrecht als Sonderrecht lediglich subsidiär geltenden Privatrecht für das Handeln des Staates ausgeht.141 Wie dem auch sei, in jedem Fall würde eine solche Grenzziehung die Praktikabilität der hier vertretenen Interpretation des Funktionsvorbehalts nachhaltig stützen.
3.
Notwendige Reformmaßnahmen
Die eingetretene Entwicklung des Beamtenrechts und der Verwaltungsorganisation, wie sie hier unter II. und III. geschildert wurde, lässt Zweifel an der Wirksamkeit ihrer verfassungsrechtlichen Begrenzung durch Artikel 33 Abs. 4
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141
eingerichtet«. So ebenfalls Can. 145 § 1 CIC von 1918, daselbst auch eine so präzise Beschreibung der weiteren Voraussetzungen des kirchlichen Amtes, wie sie sich im weltlichen Recht in dieser Form nicht finden lässt. Das ist einmal mehr (s. bereits hier Anm. 3 und Anm. 11) ein Beleg dafür, welch’ vielfältige (unausgeschöpfte) Anregungen das staatliche Dienstrecht (und Organisationsrecht) aus dem entsprechenden Recht der beiden großen christlichen Kirchen gewinnen könnte. So besonders Strauß, a. a. O., S. 143 ff. Zu diesem von einem Teil der Grundrechtsinterpreten benutzten Begriff, s. Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 18 ff. s. dazu Janssen, Zugriffsrecht (Anm. 40), S. 12 ff., 18 ff. Zum Grundsatz der Subsidiarität als verbindlichen Maßstab für die Kompetenzen der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften (Janssen, Zugriffsrecht, Anm. 40, S. 133 ff.) und als Maßstab für die den Bundesländern zukommenden Kompetenzen: Janssen, Reformbedürftigkeit.(Anm. 129), S. 63 f. Insoweit wären besonders die entsprechenden Überlegungen von Chr. Pestalozza einschlägig, s. ders., Formenmissbrauch des Staates (1973), bes. S. 174 ff., 178, 181 f., 184, 185 f. und: Kollisionsrechtliche Aspekte der Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht, DÖV 1974, S. 188 (190, 191).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
GG in seiner soeben dargelegten Bedeutung aufkommen. Deshalb werden hier zur Abrundung des Gedankengangs noch einige Reformmaßnahmen aufgeführt, die diese wünschenswerte Wirksamkeit der vorgeschlagenen Grenzziehung evtl. sicherstellen könnten. Das soll – da solche rechtspolitischen Vorschläge nur mittelbar mit dem aufgegebenen dogmatischen Thema zusammenhängen – allerdings nur verkürzt und ohne erschöpfende Begründung geschehen: a) Die erste zentrale Gefahr für das Beamtenrecht besteht – wie unter II. dargestellt – in seiner zunehmenden Angleichung an den Rechtsstatus der privaten Arbeitnehmer. Konkrete Reformmodelle, die noch weitergehend ein einheitliches Dienstrecht fordern, in dem tarifvertragliche Regelungen eine zentrale Rolle spielen, liegen bereits auf dem Tisch oder werden in mehr allgemeiner Form eingefordert.142 Nun hat aber die vorgelegte Interpretation des Artikel 33 Abs. 4 GG gezeigt, dass genau in umgekehrter Richtung argumentiert werden muss, d. h. es ist ein einheitliches Dienstrecht zu fordern, nach der »das Berufsbeamtentum als das Regelbeschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst zu fungieren hat«.143 Für die genauere Ausformung eines solchen Modells kann an dieser Stelle auf die ausführliche Begründung verwiesen werden, die die Mehrheit der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts in ihrem 1973 erschienenen Bericht für einen entsprechenden Vorschlag gegeben hat.144 Es sprechen aber nicht nur verfassungsrechtliche, aus Artikel 33 Abs. 4 GG ableitbare Gründe für diesen Vorschlag, sondern auch die Tatsache, dass es faktisch bereits jetzt zu einer weitgehenden Angleichung im Sinne des hier geforderten einheitlichen Dienstrechts zwischen dem Beamtenrecht einerseits und dem Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst andererseits vor allem hinsichtlich der jeweils bestehenden Pflichten gekommen ist.145 142 s. die Nachweise hier in Anm. 45 und 47 sowie daneben aus der älteren Literatur: F. Mertens, Auf dem Wege zu einem Einheitsdienstrecht?, ZBR 1971 S. 1 ff. 143 So zu Recht Ziemske, Öffentlicher Dienst (Anm. 23), S. 615. 144 s. dort S. 342 ff. Ähnlich besonders H. Quaritsch, in: Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages 1970, Bd. 2 (Sitzungsberichte) S. 034 (052 f.). Dort auch der zutreffende Hinweis, dass Artikel 33 Abs. 4 GG einem solchen einheitlichen Dienstrecht nicht entgegenstehen würde (gleicher Ansicht insoweit auch die Mehrheit der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts: Bericht, S. 354). Woran sich die Besoldung der Beamten bei Wegfall der faktisch durch die Tarifpolitik geschaffenen Daten zu orientieren hätte, legt umfassend N. Günther (Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987) dar. 145 Übersichtlich dazu H. Stamer, Die Pflichten der Beamten sowie der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst im Vergleich (2000). Zu weiteren Angleichungen: H.-J. Bauschke, Arbeitnehmer und Beamte – traditionelle Trennung und aktuelle Berührung, in: Öffentliches Dienstrecht im Wandel (FS für Walter Fürst zum 90. Geburtstag) 2002, S. 57 (59 f., 61 ff.).
13. Privatisierung des Beamtenrechts
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Die auffallende Gleichstellung beider Berufsgruppen im Personalvertretungsrecht und das praktisch jeden Unterschied nivellierende Recht, das für die sog. Dienstordnungsangestellten der Sozialversicherungsträger gilt, sind daneben in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben.146 Was die Auslegung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in Artikel 33 Abs. 4 GG betrifft, so ist von Befürwortern eines einheitlichen »gesetzlichen« Dienstrechts die These vertreten worden, dass in einem derartigen Dienstrecht »für das Arbeitnehmerrecht … dort Raum« bleibe, »wo es in begründeten Fällen die im Beamtenrecht systemangelegten Lücken zu schließen geeignet ist«.147 Dieser These kann m. E. wegen der hier vertretenen Auslegung des Regel-AusnahmeVerhältnisses in der geäußerten Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Vielmehr sollten für derartige Fälle in einem einheitlichen Dienstrecht primär gesetzliche Ermächtigungen zum Abschluss verwaltungsrechtlicher Verträge vorgesehen werden.148 Das entspräche eher der hier geforderten, nur subsidiär zulässigen Inanspruchnahme privater Arbeitnehmer für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, gewährleistete weitestgehend den einheitlichen Rechtsweg in dienstrechtlichen Streitigkeiten und hielt schließlich die Erinnerung daran wach, dass das Beamtenrecht von jeher »unterlagerte vertragliche Elemente« besitzt.149 b) Die weitere hier unter III 2. geschilderte Gefahr für das Beamtenrecht und seine verfassungsrechtlichen Grundlagen besteht in der namentlich durch die fortschreitende funktionale Privatisierung der Verwaltung beförderte Tendenz, entgegen der dargelegten Interpretation des Artikel 33 Abs. 4 GG Verwaltungsaufgaben durch Private erledigen zu lassen, womit auch die Legitimation des öffentlichen Dienstes, die sich ja aus seiner Aufgabe speist, infrage gestellt wird. Es lassen sich zwar – wie gezeigt (IV 1.) – neben Artikel 33 Abs. 4 GG bereits – indirekt – aus Artikel 20 Abs. 2 GG verfassungsrechtliche Bedenken gegen die kritisierte Entwicklung ableiten, aber die aufgezeigten Grenzziehungen haben augenscheinlich diese nicht aufzuhalten vermocht. Deshalb ist m. E. zumindest eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung zur Verwaltungsorganisation zu fordern, die besonders die Übertragung staatlicher Aufgaben (und deren Erfüllung) auf juristische Personen des Privatrechts oder Einzelpersonen an Voraussetzungen knüpft, die die prinzipielle Verantwortlichkeit der Regierung für das Verwaltungshandeln und – daraus folgend – eine wirksame parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns sicherstellen. Wie wenig allerdings seitens der Politik die Bereitschaft besteht, einen sol146 s. Zum Ganzen: Janssen, Streikrecht (Anm. 3), S. 36 Anm. 150 und S. 45 f., 55 f., 58 f. 147 So etwa Ziemske, Öffentlicher Dienst (Anm. 23), S. 615. 148 So schon der Vorschlag der Mehrheit der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts in dem 1973 erschienenen Bericht der Kommisson (dort S. 35 f.). 149 So m. E. zutreffend Meyer-Cording, Rechtsnormen (Anm. 119), S. 126 f. (genauer dazu S. 127 ff.).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
chen Gedanken aufzugreifen, haben die Beratungen zur neuen Niedersächsischen Verfassung vom 19. Mai 1993 gezeigt: Im Verfassungsausschuss, der sich ausschließlich aus Landtagsabgeordneten zusammensetzte, hatte der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst beim Niedersächsischen Landtag aufgrund seiner Erfahrungen im Umgang mit der alten Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung eine entsprechende Regelung in Vorschlag gebracht;150 die Mitglieder des Verfassungsausschusses sahen nun aber trotz der allseits bekannten fortschreitenden Zersplitterung der Verwaltungsorganisation in Niedersachsen keinen Anlass, diesen Vorschlag aufzugreifen. c) Die dritte Gefahr für das Beamtentum besteht, wie unter III 3. näher dargelegt, in dem zunehmenden – prägenden – Einfluss von Privaten auf die staatliche Entscheidungsfindung, weil damit nicht nur eine Verdrängung der Politik, sondern auch der (Spitzen-)Bürokratie aus diesem Entscheidungsprozess mit der Folge einhergeht, dass der öffentliche Dienst zum reinen Vollzugsorgan der primär von Privaten definierten »öffentlichen« Interessen degeneriert. Wesentliche Ursache für diesen Funktionsverlust der Bürokratie ist, wie gezeigt, die von der Politik bewusst betriebene faktische Aufhebung der dualen Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie innerhalb der Exekutive. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, scheinen mir besonders zwei Maßnah-
150 Unter der Artikel-Überschrift »Andere Träger der öffentlichen Verwaltung« heißt es nach diesem Formulierungsvorschlag in dessen Absatz 2: »Durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes können einzelne Aufgaben der öffentlichen Verwaltung auf rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts sowie auf Einzelpersonen oder Körperschaften des Privatrechts zur Erfüllung nach Weisung übertragen werden.« Und begründet wird dieser Formulierungsvorschlag in der Vorlage an den Verfassungsausschuss wie folgt: »Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch selbstständige Anstalten des öffentlichen Rechts (als Beispiel seien die Harzwasserwerke genannt) und durch sog. Beliehene (TUV, Prüfingenieure usw.) war in der bisherigen Verfassung überhaupt nicht vorgesehen. Die vorgeschlagene Bestimmung würde der Überantwortung von Verwaltungsaufgaben auf solche Träger nunmehr eine einwandfreie verfassungsrechtliche Grundlage verschaffen und sie zugleich begrenzen. Da den Trägern selbst die demokratische Legitimation fehlt; müssen sie bei der Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung den Weisungen der Landesregierung unterstehen, damit diese für deren Tätigkeit verantwortlich bleibt. Nicht berührt wird die unternehmerische Betätigung von öffentlich-rechtlichen Bank- und Versicherungsanstalten. Für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ergibt sich Abweichendes aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ihre ›Staatsferne‹ für geboten hält. Das sollte ggf. noch in den Schlussvorschriften der neuen. Verfassung klargestellt werden.« An anderer Stelle des Formulierungsvorschlags wird ergänzend gesagt, dass das Land durch seine Aufsicht sicherstellt, dass die Gesetze beachtet und die übertragenen Aufgaben weisungsgemäß erfüllt werden. s. zum Ganzen den von der Niedersächsischen Landtagsverwaltung zusammengestellten und 1993 herausgegebenen zweiten Materialienband: Niedersächsische Verfassung vom 19. Mai 1993, S. 1467 f. i. V. m. S. 1461.
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men geeignet, und zwar die (weitere) rechtliche Begrenzung der parteipolitischen Ämterpatronage und die Abschaffung der Institution des politischen Beamten:151 Aufgrund eigener, gut dreißigjähriger Erfahrungen im Dienst eines Bundeslandes besteht m. E., was die Zurückdrängung der Ämterpatronage durch die politischen Parteien betrifft, deshalb ein Regelungsbedarf, weil – wie schon bemerkt – diese Entwicklung trotz entgegenstehender verfassungsrechtlicher Regelungen selbstläufig ist und sie daneben augenscheinlich auch einen erheblichen Verlust an fachlichem Niveau der (Spitzen-)Bürokratie nach sich gezogen hat. Nach meinem Eindruck kann hier nur ein Mittel helfen, – das rechtliche Gebot für den Beamten, mit Eintritt in den öffentlichen Dienst seine Parteimitgliedschaft – sofern eine solche besteht – ruhen zu lassen.152 Gerade die durch die (partei-)mitgliedschaftlichen Rechte und Pflichten bedingte faktische Abhängigkeit des betroffenen Beamten ist es ja, die zwar von den Parteien um ihrer wirksamen Einflussnahme auf die Verwaltung willen gewollt ist; die aber dem eigenständigen Auftrag der Verwaltung zur sachgemäßen, objektiven Konkretisierung des öffentlichen Interesses widerspricht. Die Abschaffung des politischen Beamten ist m. E. deshalb besonders geboten, weil gerade dieses Institut, das ja in den vergangenen Jahren in Bund und Ländern ständig ausgeweitet wurde, die duale Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie in der Exekutive in besonderer Weise infrage stellt. Seine sachliche Rechtfertigung damit, dass der politische Beamte zwischen Politik und Bürokratie vermitteln solle, kann deshalb nicht überzeugen, weil schon der Rechtsstatus des politischen Beamten insoweit keine echte Vermittlung zulässt, sondern eine einseitige politische Einflussnahme auf die Verwaltung begünstigt. Im Übrigen geht ja besonders die Personalpolitik von Koalitionsregierungen bei der Auswahl der politischen Beamten (und der Forderung nach Ausweis zusätzlicher entsprechender Stellen) überwiegend nicht mehr von dieser Vermittlungsfunktion des politischen Beamten aus, sondern ihm kommt nach dem Verständnis der diese Regierungen tragenden Parteien häufig schlicht und einfach die Rolle des »Aufpassers« für seine Partei mit der organisatorischen Folge zu, dass bei Besetzung eines Ministerpostens mit einem Angehörigen der Mehrheitspartei der kleinere Koalitionspartner den Posten des (beamteten) Staatssekretärs in diesem Ministerium für sich einfordert, was natürlich dann auch für die umgekehrte Konstellation gilt. Inzwischen werden daneben auch 151 Zur neueren Entwicklung der parteipolitischen Ämterpatronage und zur gegenwärtigen Problematik des politischen Beamten s. hier die Nachweise in Anm. 100 und Anm. 101. 152 So schon Janssen, Verfassungsstaat (Anm. 91), S. 128 i. V. m. S. 120 ff., 123 ff. Dass übrigens mit einer solchen Regelung der Kreis der sachverständigen potenziellen Wechselwähler, der ja für eine lebendige Demokratie unverzichtbar ist, wahrscheinlich ausgeweitet würde, dürfte ein erfreulicher Nebeneffekt einer entsprechenden Vorschrift, die m. E. keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, sein.
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solche Dienstposten in Stellen für politische Beamte umgewandelt, in denen es deshalb nichts zu »vermitteln« gibt, weil die Aufgabe der betroffenen Beamten primär in der Entscheidungsfindung und -durchsetzung aufgrund rechtlich vorgegebener Maßstäbe besteht, es sich also um eine typische Aufgabe der Bürokratie handelt.153 Unabhängig von dieser Entwicklung sprechen gewichtige, aus Artikel 33 Abs. 5 GG ableitbare Gründe gegen das Institut des politischen Beamten. Sie sind in einer einschlägigen Abhandlung zutreffend wie folgt beschrieben worden: »Dem politischen Beamten sucht vor allem ein ganz elementares Gebot, das der Neutralität des Beamten, den Boden zu entziehen. Ein Institut, das gerade die politische Ausrichtung auf die Regierung und damit die parteipolitische Ausrichtung … zum Wesens- und Rechtfertigungsmerkmal hat, das zumindest faktisch eine bestimmte politische Gesinnung vorschreibt, muss sich schlecht mit einem hergebrachten Grundsatz vertragen, der den Beamten auf die Rolle eines Dieners des Volkes, nicht einer Partei verpflichtet. Wer allerdings den Staat nicht mehr … als außerhalb der gesellschaftlichen Kräfte stehende objektive Instanz zu begreifen gewillt ist und Parteiwille und Staatswille in eins setzen zu können glaubt, wird den Kontrast kaum empfinden … Ein anderer hergebrachter Grundsatz tritt der parteipolitischen Unabhängigkeit, die im Wesen der öffentlichen Verwaltung angelegt ist, zur Seite, wendet sich ebenfalls gegen das Institut des politischen Beamten: die grundsätzlich auf Lebenszeit gerichtete Anstellung des Beamten und die mit ihr verbundene Garantie vor willkürlicher Entlassung … Kann ein Beamter auf Lebenszeit bereits wegen Imponderabilien aus seinem Rechtsverhältnis verstoßen werden, bedarf keiner näheren Begründung, dass das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit entwertet, ja ausgehöhlt wird. Die Affinität zwischen Beamten und Richtertum geht in der Person des politischen Beamten verloren.«154 Bestehen nun neben Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Instituts des politischen Beamten auch verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, so ist seine Ab153 Herausragendes Beispiel dafür aus jüngster Zeit ist die zunehmende Tendenz, die Landtagsdirektoren in Deutschland entgegen dem zwingenden Rahmenrecht (§ 31 Abs. 1 BRRG) in den Kreis der politischen Beamten einzubeziehen; dagegen mit aller wünschenswerten Klarheit: M. Oldiges/R. Brinktine, Der Landtagsdirektor als »politischer Beamter«, DÖV 2002, S. 943 ff. 154 So W. Juncker, Der politische Beamte – ein Widerspruch in sich, ZBR 1974, S. 205 (206). Richtig führt Juncker auch ergänzend aus (a. a. O., S. 209): »Der politische Beamte ist … der Gesetz gewordene Zweifel an der Loyalität der Beamtenschaft schlechthin. Beamte, die nicht bereit sind, unter wechselnden Regierungen loyal zu dienen, heben die Tugenden auf, die sie von Arbeitnehmern unterscheiden …. Der politische Beamte ist … auch … eine Antwort auf die Kapitulation vor der Ämterpatronage … Wer ein Beamtenverhältnis erst einmal als disponibel ausweist – und das geschieht mit der Anerkennung des Instituts des politischen Beamten –, wird den Hunger schwer stillen können.«
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schaffung zu fordern, zumal eben das eine zweifellos geeignete Maßnahme zur Wiederherstellung der hier postulierten dualen Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie innerhalb der Exekutive wäre. Es sollte darum, falls man etwa für die Ministerien eine »politische Verbindungsstelle« zwischen dem Minister und seiner Behörde nach wie vor für erforderlich erachtet, nur noch den Parlamentarischen Staatssekretär geben, dessen Rechtsstatus ja bekanntlich dem eines Regierungsmitglieds weitgehend ähnlich ist.155 Wenn es darüber hinaus richtig ist, dass im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes und der Landesverfassungen nicht die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive entscheidende inhaltliche Bedeutung besitzt, sondern eben die duale Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie innerhalb der Exekutive, so müsste das letztlich auch Konsequenzen für das »Dienst«- und Versorgungsrecht des Regierungschefs und seiner Minister (einschließlich der Parlamentarischen Staatssekretäre) haben. Genauer nachzudenken wäre in Konsequenz dieses Ansatzes darum besonders im Hinblick auf das Versorgungsrecht der Regierungsmitglieder und Parlamentarischen Staatssekretäre über eine weitergehende Angleichung an das insoweit für die Abgeordneten geltende Recht als das bisher der Fall ist.
V.
Ausblick: Die verbleibende politische Aufgabe zum Schutz von Beamtentum und Bürokratie
Die anfangs (I.) geäußerte Vermutung, dass angesichts eines gewandelten Souveränitätsverständnisses156 die (demokratische) Ämterherrschaft und insbesondere ihre spezifische Ausprägung im Beamtenrecht ein wesentliches Kennzeichen heutiger (deutscher) Verfassungsstaatlichkeit ausmachen, hat sich bestätigt. Und damit gewinnt die Forderung, die hier aufgezeigten verfassungsrechtlichen Grenzen einer Privatisierung des Beamtenrechts wie der Verwaltungsprivatisierung überhaupt ernst zu nehmen, ihre eigentliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Dass insoweit kein völlig neuer Gesichtspunkt betont wird, beweist die entsprechende Diskussion in der Weimarer Republik:157 Es waren damals ja ebenfalls besonders die knappen finanziellen Mittel des Staates, die Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts den Ruf nach einer 155 Im Ergebnis ähnlich Juncker, a. a. O., S. 209. 156 Dazu neuestens: Chr. Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2002, S. 1672 ff. und besonders H. Staiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, Der Staat 41 (2002), S. 331 (bes. S. 337 ff.). 157 Zum Folgenden s. nur 0. Hintze, Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform (1927), in: ders., Soziologie und Geschichte (Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2) 3. (unveränderte) Aufl. 1982, S. 205 ff.
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Verwaltungsreform und damit verbunden das Verständnis des Staates als »Betrieb« begründeten. Allerdings – und das ist im vorliegenden Zusammenhang entscheidend – bestand angesichts der damaligen Lage kein Zweifel an dem gerade deshalb unverzichtbaren Beitrag der Bürokratie zur Bewältigung der Staatsaufgaben. »Die Organisation der Bürokratie ist«, so schrieb etwa 1927 der große Verwaltungs- und Verfassungshistoriker Otto Hintze, »ein soziologisches Kunstwerk ersten Ranges, an dem viele Jahrhunderte gearbeitet haben … Es ist die unentbehrliche Maschinerie einer schriftlichen, am formalen Recht orientierten Verwaltung; ihr Schematismus, ihre Versachlichung alles Persönlichen ist eine zwangsläufige Begleiterscheinung des unaufhaltsamen Fortschritts zum Großbetrieb. Der früher vielfach vorhandene Obrigkeitsdünkel, die gelegentliche Begünstigung des Interesses der herrschenden Klassen wird in dem Maße verschwinden, wie der einem rationellen Betrieb eigene Geist der Sachlichkeit durchdringt. Diese Bürokratie stellt die Stützen und Träger dar, die das wankende Staatsgebäude in der Zeit des Umsturzes aufrechterhalten haben. Ihre Erhaltung und Vervollkommnung ist ein Staatsinteresse allerobersten Ranges«.158 Wenn nun auch heute seitens der politischen Führung offensichtlich kein wirkliches Interesse mehr an der »Erhaltung und Vervollkommnung« von Beamtentum und Bürokratie zu bestehen scheint, so kommt dem Verfassungsjuristen dennoch die Aufgabe zu, aufgrund eigener Wahrnehmung der Verwaltungspraxis die damit verbundenen Gefahren für unser Gemeinwesen aufzuzeigen, wobei er seiner Beurteilung jene Maßstäbe zugrunde legen muss, die die Jurisprudenz selbstständig aus sich heraus in einer gut zweitausendjährigen Tradition entwickelt hat.159 Genau das ist hier für unser Thema versucht worden. Darüber hinaus verbleibt aus verfassungsrechtlicher Sicht nur der Hinweis auf 158 A.a.O, S. 208 (Hervorhebungen A.J.). 159 Vertiefend zu dieser Forderung Janssen, Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik (Anm. 83), S. 476 ff., 488 ff. Der inzwischen verstorbene Wilhelm Henke hat in einem mir vorliegenden Vortrag am Beispiel des Spannungsverhältnisses von Umwelt und Technik die insoweit einschlägige Aufgabe der Jurisprudenz ganz i. S. des hier Gemeinten wie folgt beschrieben: »Die Jurisprudenz hat in langer Zeit einen fast unerschöpflichen Vorrat an Begriffen, Normen, Institutionen und Verfahrensweisen angesammelt und in systematische Ordnung gebracht, und sie hat ein dazu gehöriges spezifisches Denken ausgebildet, das auf dem obersten Grundsatz beruht, dass auch der anderen Seite ihr Recht gebührt. Ich verkenne nicht die Mängel dieser Kunst und dieser Wissenschaft, aber ihr Mangel ist jedenfalls nicht, dass sie keine Technik ist. Im Gegenteil ist es in unserem Zusammenhang das Bedeutungsvolle an ihr, dass sie nicht wie die Technik einbahnig-gradlinig, in unendlichen Progressionen und Maximierungen denkt, sondern einerseits-andererseits, abwägend, balancierend, in kleinen Schritten und vorläufigen Lösungen bis auf weiteres. Das hat sie mit der Kultur, dem Bebauen und Pflegen gemein, und darum könnte ein Denken sie zum Vorbild und Anhaltspunkt nehmen, das über dem Widerstreit von Natur und Technik stehen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ihnen schaffen will.« Die Fragen, wann dieser Vortrag verfasst und ob er publiziert worden ist, habe ich trotz intensiver Bemühungen bis heute nicht beantworten können.
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den fehlenden »Patron« für das Beamtentum in der »Präsentationsdemokratie« unserer Tage. Dem Bundespräsidenten könnte man eine solche Rolle zusprechen, wenn er nach dem Grundgesetz auch wohl schwerlich die Kompetenz eines wirklichen Staatsoberhaupts besitzt.160 Ihm käme es m. E. auch zu – und damit schließt sich der Kreis –, das Notwendige zum hier anfangs konstatierten gebrochenen Geschichtsverständnis der Deutschen öffentlich auszusprechen.
Thesen I. Die Erkenntnis, dass »der Staat als Amtsgewalt den Verlust der Souveränität überdauern wird«(W. Henke), liefert die eigentliche Begründung für die Notwendigkeit, sich mit der zunehmenden Privatisierung des deutschen Beamtenrechts kritisch auseinanderzusetzen. Denn unbestritten ist ja der Beamtenstatus die verfassungsrechtlich und gesetzlich am klarsten ausgeprägte Form (demokratischer) Ämterherrschaft.
II. Folgende Erscheinungsformen einer Privatisierung des Beamtenrechts sind gerade in jüngster Zeit verstärkt zu beobachten: 1. Zunächst lässt sich eine auffallende Angleichung des Beamtenrechts an das Individualarbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht feststellen. So ist es durch neuere Entwicklungen zu einer »Verzeitlichung« des Beamtenverhältnisses gekommen und daneben in den Spitzenpositionen zu einer Leistungsorientierung, die sich letztlich der in der Privatwirtschaft bzw. der für den politischen Beamten geltenden annähert. Auch sind weitere Angleichungen der Beamtenversorgung an das für die privaten Arbeitnehmer einschlägige Sicherungssystem der Sozialversicherung festzustellen. Als Anlass für die Neuerungen werden explizit durchweg am marktwirtschaftlichen Denken orientierte Gründe genannt. Implizit folgt aus vielen der besprochenen Regelungen aber eine verstärkte (partei-)politische Abhängigkeit des Beamten von seinem 160 So sah schon W. Weber 1956 das Problem: Das politische Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie, in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem (3. Aufl. 1970), S. 120 (140 f.). Zum fehlenden Charakter des Amtes des Bundespräsidenten als dem eines Staatsoberhaupts s. ergänzend noch W. Henke, Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, DVBI. 1966, S. 723 ff. Dort auf S. 728 auch eine Bestätigung der These Webers.
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Dienstherrn, die augenscheinlich das leitende unausgesprochene Motiv entsprechender Reformvorschläge und durchgeführter Reformen ist. 2. Daneben ist eine Angleichung des Beamtenrechts an das kollektive Arbeitsrecht zu beobachten. So zeigen die Ablehnung des Einsatzes von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen durch das Bundesverfassungsgericht beim Fehlen einer entsprechenden besonderen gesetzlichen Regelung sowie das neue Verständnis der Mitbestimmungsrechte des Personalrats, dass das grundgesetzliche Demokratieprinzip als hinreichende Legitimationsform für bestimmte Entscheidungen der Verwaltung unter Hinweis auf verfassungsrechtlich begründete kollektive Rechte der Bediensteten in Frage gestellt wird. 3. Weitergehende rechtspolitische Forderungen, die u. a. die Streichung des Art. 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG beinhalten, sind besonders von den politischen Parteien und Gewerkschaften erhoben worden. Sie verwischen im Ergebnis noch stärker den strukturellen Unterschied zwischen Beamtenrecht und privatem Arbeitsrecht unter teilweiser Verwendung der für die bereits vollzogenen gesetzlichen Reformen des Beamtenrechts benutzten Argumentationsmuster.
III. Die aufgezeigten Tendenzen in der Entwicklung des Beamtenrechts lassen sich vor allem mit der zunehmenden Privatisierung der Verwaltungsorganisation und der z. T. eingetretenen inhaltlichen Bestimmung der Staatsaufgaben durch Private erklären. Das zeigen drei relevante Entwicklungen der Exekutive: 1. Das neue Leitbild der Verwaltung, wie es besonders in Reformen des Haushaltsrechts seinen Niederschlag gefunden hat, orientiert sich an dem am Markt tätigen privaten Dienstleistungsunternehmen. Es sind folglich auch vor allem ökonomische Maßstäbe und Ziele (die »Produktorientierung«), die inhaltlich mit der Gemeinwohlbindung des öffentlichen Dienstes gleichgesetzt werden. 2. Die verstärkte Organisationsprivatisierung und funktionale Privatisierung der staatlichen und kommunalen Verwaltung in jüngster Zeit, die selbst wesentliche Vollzugsaufgaben im Bereich der öffentlichen Sicherheit betreffen, verabschieden in den einschlägigen Fällen den durch Artikel 33 Abs. 4 GG gestifteten Zusammenhang zwischen staatlichen Aufgaben und deren Erledigung durch den öffentlichen Dienst. Sie stellen zugleich – und das gilt in besonderem Maße für die funktionale Privatisierung der Verwaltung – den Ausschließlichkeitscharakter der durch Artikel 20 Abs. 2 GG gestifteten demokratischen Legitimation der Verwaltung in Frage, wobei die theoretische Begründung dafür letztlich in scheinbaren »Sachzwängen« einer verkürzt wahrgenommenen Verwaltungspraxis gefunden wird.
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3. In der »Präsentationsdemokratie« unserer Tage entscheiden letztlich Private häufig über den Inhalt wesentlicher Staatsaufgaben. Neben dem auf diese Weise eingetretenen Machtverlust der Parlamente in Bund und Ländern ist die (weitgehend) fehlende Beteiligung der (Spitzen-)bürokratie an der Entscheidungsfindung in derartigen Fällen beachtenswert. Denn auf diese Weise degeneriert der öffentliche Dienst zum Vollzugsorgan der von Privaten definierten »öffentlichen« Interessen. Die Nivellierung der verfassungsrechtlich gebotenen Unterscheidung zwischen Politik und Bürokratie innerhalb der Exekutive durch parteipolitische Ämterpatronage, die Ausweitung der politischen Beamten und der bewusste Ausbau der neben der hierarchischen Verwaltung operierenden »Stäbe« in den Ministerien sind wesentliche Ursachen dafür, dass die Bürokratie an dem Funktionsverlust der Politik unmittelbar »partizipiert«.
IV. Der entscheidende verfassungsrechtliche Maßstab für die Privatisierung des Beamtenrechts wie die Privatisierung der Verwaltung überhaupt ist in Art. 33 Abs. 4 GG zu sehen: 1. Gedanklicher Ausgangspunkt für diese These ist die Erkenntnis dass nach dem Grundgesetz die verbindliche Form für die Ausübung der Staatsgewalt die demokratisch legitimierte Ämterherrschaft ist, wobei die Verfassung auch für den Status des jeweiligen Amtswalters besondere Regelungen enthält. Die inhaltliche Rechtfertigung für diese Form der Ausübung von Staatsgewalt liegt darin, dass so von der Verfassung ein geeignetes Verfahren bereitgestellt wird, um die für das öffentliche Recht typischen Gruppenkonflikte gerecht lösen zu können. 2. Artikel 33 Abs. 4 konkretisiert die für die Verwaltung verbindliche Form demokratischer Ämterherrschaft in der Weise, dass er die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Beamtenrecht mit den grundsätzlich von Beamten zu erledigenden Aufgaben verknüpft. Dieser Aussagegehalt des Artikel 33 Abs. 4 GG begründet sein Verständnis als Spezialregelung zu den letztlich aus Artikel 20 Abs. 2 GG ableitbaren allgemeinen Anforderungen an die verfassungsgemäße Ausübung der Staatsgewalt. Die weitere, sich nahelegende Folgerung, dass deshalb die in Artikel 33 Abs. 4 GG genannten »hoheitsrechtlichen Befugnisse« mit der Ausübung demokratischer Ämterherrschaft durch die Verwaltung gleichzusetzen sind, bestätigt die verfassungsrechtliche Inhaltsbestimmung der wesentlichen Aufgabe des Staates. Denn die der Verwaltung obliegende Erfüllung dieser Aufgabe berührt zwangsläufig alle Verwaltungsbereiche, was wiederum dem bereits genannten allgemeinen Auftrag des öffentlichen Rechts zur Lösung von typischen Gruppenkonflikten entspricht. Die
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Ausübung der so verstandenen »hoheitsrechtlichen Befugnisse« lässt ihre Erledigung durch Private nur dann zu, wenn es sich um eine Sondersituation handelt bzw. um eine solche, in der Beamte nicht verfügbar oder in der Lage sind, die entsprechende Aufgabe zu erfüllen. 3. Als notwendige Reformmaßnahmen, die den unter II. und III. aufgezeigten Gefährdungen von Beamtentum und Bürokratie begegnen und damit die hier versuchte verfassungsrechtliche Grenzziehung durch Artikel 33 Abs. 4 GG sicherstellen können, kommen in Betracht: Zunächst ein einheitliches, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Artikel 33 GG beachtendes Dienstrecht; daneben eine verfassungsrechtliche Vorschrift zur Gewährleistung einer prinzipiell hierarchischen, öffentlich-rechtlichen Organisationsstruktur der Verwaltung und schließlich Maßnahmen, die der schleichenden Aushöhlung der dualen Gewaltenteilung zwischen Politik und Bürokratie innerhalb der Exekutive begegnen. V. Während unter der Weimarer Reichsverfassung die »Erhaltung und Vervollkommnung« der Bürokratie »als ein Staatsinteresse allerersten Ranges« bezeichnet wurde (Otto Hintze), wird diese Ansicht heute von der politischen Klasse kaum noch geteilt. Das aber ist nach dem hier Ausgeführten (auch) aus verfassungsrechtlicher Sicht bedenklich. Politisch gesehen wäre es deshalb wohl vor allem die Aufgabe des Bundespräsidenten, sich als »Patron« der Beamtenschaft in Bund und Ländern zu verstehen und die hier aufgezeigten Gefahren öffentlich zu benennen.
14. Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen
I.
Zum Thema
1.
Der Diskussionsstand zum Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst
Die Positionen scheinen durch Rechtsprechung und Lehre festgeschrieben: Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst dürfen streiken, Beamte dagegen nicht1. Ist nun aber das Für und Wider eines Streikrechts der Beamten vor dieser »Festschreibung« in der Literatur ausführlich diskutiert worden, so fehlt es an einer entsprechend intensiven Diskussion über die Zulässigkeit eines Streikrechts der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst2. Die Gründe 1 Nachweise aus Rechtsprechung und Literatur bei Scholz, Artikel 9, Rdnr. 375 ff., 316, 318 f., in Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Kommentar zum Grundgesetz (1979). Vgl. daneben zum Verbot des Beamtenstreiks aus der Rechtsprechung: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. 11. 1979, in: ZBR 1980, S. 147 (147 f.) und vom 31. 12. 1980, in: JZ 1981, S. 220 (221) sowie aus der Literatur : Hattenhauer, Sollen die Beamten streiken?, in: ZBR 1980, S. 233 ff; v. Münch, Beamtenrecht und Beamtenpolitik – Bestand und Wandel, in: ZBR 1981, 157 (159 f.); Tettinger, Zur Verfassungswidrigkeit des Lehrerstreiks, in: ZBR 1981, S. 357 ff. Für die Mindermeinung, die ein Streikrecht der Beamten bejaht, zuletzt: Blanke, Der Beamtenstreik im demokratischen Rechtsstaat, in: KJ 1980, S. 237 ff. und Blanke/Sterzel, Beamtenstreikrecht. Demokratische Verfassung und Beamtenstreik (1980) 2 Nach 1945 haben ein solches Streikrecht allerdings besonders Wacke (Grundlagen des öffentlichen Dienstrechts, 1957, S. 90 ff.); Nikisch (Arbeitsrecht, 2. Bd., 2. Aufl. 1959, S. 142 ff); Klein (von Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1966, S. 332, 334) und Dietel (Vereinheitlichung der Grundsätze des Dienstrechts – Dissertation, Würzburg 1968 -, S. 100 ff.) in Frage gestellt. In die gleiche Richtung weisen die Ausführungen von: Forsthoff (in: Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Bd. 5. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Reform des öffentlichen Dienstrechts 1973, S. 50 ff.); Isensee (Der Tarifvertrag als Gewerkschafts-Staats-Vertrag, in: Leisner – Hrsg. – , Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 23 – 28 ff. -); des Berichts der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (1973, S. 343 ff.); der von der Kammer der EKD für soziale Ordnung herausgegebenen Denkschrift: Sozialethische Überlegungen zum Öffentlichen Dienstrecht (1975, S. 30 ff.); Starck (Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
für dieses unterschiedliche literarische Interesse scheinen naheliegend. Da Angestellte und Arbeiter auch im öffentlichen Dienst auf Grund privatrechtlicher Arbeitsverträge tätig werden, muss ihnen wie den Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft gemäß Artikel 9 Abs. 3 GG das Recht auf Abschluss von Tarifverträgen und damit verbunden auch ein Streikrecht3 zuerkannt werden. Diese anscheinend so eindeutige Rechtslage erfährt nun insofern eine Einschränkung, als von der herrschenden Meinung aus der Gemeinwohlbildung bzw. der Sozialpflichtigkeit der Tarifvertragsparteien für bestimmte Tätigkeitsbereiche im öffentlichen Dienst ein grundsätzliches Streikverbot wegen des Schadens, der für unbeteiligte Dritte und die Allgemeinheit durch einen Arbeitskampf entstehen würde, gefolgert wird. So sind beispielsweise Streiks in öffentlichen Versorgungsbetrieben und Krankenhäusern prinzipiell unzulässig4. Es handelt sich dabei aber wie gesagt um (punktuelle) Ausnahmen von der Regel: der nach herrschender Meinung generellen Zulässigkeit eines Streikrechts der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst. Diese herrschende Meinung haben weder der Streik im öffentlichen Dienst zu Beginn des Jahres 1974 noch der Ende November 1980 ausgetragene Arbeitskampf bei der Post zu erschüttern vermocht. Das bedarf deshalb der Erwähnung, als Hilfen zu Grundrechtsverwirklichungen?, in: Starck – Hrsg. – , Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 480 – 508 ff. -) und von Arnim (Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 108 ff.).Vorsichtige Zweifel an der Berechtigung des Streiks nichtbeamteter Bediensteter auch bei Schlaich, Der »Dritte Weg« – eine kirchliche Alternative zum Tarifvertragssystem?, in: JZ 1980, S. 209 (216). Die herrschende Meinung, die für ein Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst eintritt, wird zusammenfassend dargestellt von: Otto, Das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst (1973), S. 58, 85 ff. (Literaturhinweise auf S. 14 f. und bei Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 248 Anm. 94). Zur Wirkungslosigkeit eines Streikrechts der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst bei entsprechenden (zulässigen) Reaktionen des Staates wie verstärktem Einsatz von Beamten und kurzfristiger Anwerbung von Ersatzkräften aus der Privatwirtschaft: Leisner, Arbeitskampf gegen den allmächtigen Steuerstaat, in: ZBR 1975, S. 69 ff. 3 Diese Kausalität zwischen Tarifvertrag und Streikrecht gilt nach einer Mindermeinung allerdings nicht für kirchliche Bedienstete, soweit sie auf Grund eines Tarifvertrages tätig werden, vgl. dazu: G. Müller, Staatskirchenrecht und normatives Arbeitsrecht – Eine Problemskizze –, in: RdA 1979, S. 72 (77 f.) und H. Dietz: (1) Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche und die Tarifautonomie, in: RdA 1979, S. 79 (82 ff.); (2)Die Aufgabe der Kirche bei der Beilegung sozialer Konflikte, in: BB 1979, S. 1205 ff.; (3)Das Tarifwerk der Nordelbischen Kirche, in: BB 1980, S. 1107 ff. 4 Zu den insoweit fließenden Grenzziehungen genauer : Seiter (Anm. 2), S. 542 ff.; Reuß, Grenzen der Streikfreiheit im öffentlichen Dienst, in: König/Laubinger/Wagener (Hrsg.), Öffentlicher Dienst. Festschrift für Carl Hermann Ule (1977), S. 417 (427 ff.) und Scholz (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 274 ff., 318 f. Weitaus enger wird die Streikfreiheit im öffentlichen Dienst in den USA von der dortigen Rechtsprechung und Lehre gesehen, vgl. dazu: Löwisch/ Schüren, Der Streik im öffentlichen Dienst in den USA: Gegenwärtige Lage und Entwicklungstendenzen, in: ZBR 1981, S. 293 ff.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
437
weil in beiden Fällen die Erpressbarkeit des Staates durch eine Minderheit und die damit verbundene verfassungsrechtliche Problematik augenfällig wurde. Der Streik von 1974 zwang den damaligen Bundeskanzler Brandt, Lohnerhöhungen anzuerkennen, die er kurz zuvor als unverantwortlich und inflationsträchtig bezeichnet hatte5. Der im Poststreik 1980 erkämpfte Schichtdienstausgleich wird wegen seiner Auswirkungen auf den gesamten öffentlichen Dienst schätzungsweise etwa doppelt so viel Geld verschlingen wie die kurz vor diesem Arbeitskampf nach längerem Koalitionsstreit erreichte Einsparung bei den Agrarausgaben und weitaus mehr als die umstrittene Kürzung der Bausparförderung, die vom Kabinett ebenfalls kurz vor Ende des Poststreiks beschlossen worden war6. Bei den genannten Streiks im öffentlichen Dienst sind auch die finanziellen Folgewirkungen, die die erzwungenen Lohnabschlüsse nach sich zogen bzw. noch zu erwarten sind, nicht zu übersehen, So folgten 1974 bald nach Beendigung des Streiks Besoldungserhöhungen für die Beamten in Bund und Ländern7 und beim Poststreik kommt neben seinen möglichen Auswirkungen auf andere Schichtdienste bei Bund, Ländern und Gemeinden8 noch der Umstand hinzu, dass mit ihm offensichtlich der Einstieg in die 35-StundenWoche gelungen ist9. Die politische Wirksamkeit derartiger Streiks gewinnt schließlich für die Bundesländer und kommunalen Gebietskörperschaften noch dadurch an Bedeutung, dass in ihren Haushalten die Personalkosten bekanntlich einen besonders hohen Teil der Gesamtausgaben ausmachen. Die hier nur kurz angedeuteten Folgen der Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst von 1974 und 1980 müssen die Aufmerksamkeit zwangsläufig auch auf die verfassungsrechtliche Problematik, die mit der Anerkennung eines grundsätzlich unbeschränkten Streikrechts der dort tätigen Angestellten und Arbeiter verbunden ist, lenken. Sie liegt im Hinblick auf die geschilderten Streiks weniger 5 Dazu der Kommentar von Rüthers, in: FAZ Nr. 46 vom 23.2. 1974, S. 9; die Bemerkungen Haffners im »Stern« Nr. 40 vom 26.9. 1974 sowie die Stellungnahme bei von Arnim (Anm. 2), S. 111. 6 Dazu der Kommentar von Piel, in: »Die Zeit« Nr. 49 vom 28. 11. 1980, S. 18 und der Bericht der FAZ Nr. 273 vom 24. 11. 1980, S. 1 f. 7 Als rechtlicher Anknüpfungspunkt dafür bot sich § 14 Bundesbesoldungsgesetz bzw. – allgemeiner – das Alimentationsprinzip an; so wohl auch Moeser, Die Beteiligung des Bundestages an der staatlichen Haushaltsgewalt (1978), S. 161. Es mussten deshalb, worauf Moeser hinweist (a. a. 0. S. 161 Anm. 186), »Personalverstärkungsmittel« im Haushaltsplan 1974 eingesetzt werden, weil die Gewerkschaft eine entgegen allen Erwartungen hohe Gehaltssteigerung erkämpft hatte. 8 Für die Schichtdienstbediensteten bei der Deutschen Bundesbahn sind entsprechende Folgerungen schon gezogen worden: Vgl. FAZ Nr. 274 vom 25. 11. 1980, S. 1. Bundesinnenminister Baum hat sie bereits allgemein für den öffentlichen Dienst, und damit auch für Beamte im Schichtdienst gezogen: vgl. seine Rede auf der 22. Beamtenpolitischen Arbeitstagung des Deutschen Beamtenbundes vom 8. 1. 1981, abgedruckt in: Der Landkreis 1981, S. 122 (126). 9 So zumindest der in Anm. 6 genannte Kommentar von Piel.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
in der Frage, ob das Ergebnis der erkämpften Tarifabschlüsse gesamtwirtschaftlich (Artikel 109 Abs. 2 GG) zu verantworten ist10 ; verfassungsrechtlich problematisch erscheint vielmehr besonders der Weg – das Verfahren, das zu den Vereinbarungen führte: nicht das Parlament entscheidet, wie es das Grundgesetz vorsieht, über den gesamten Haushalt, sondern das geschieht zu einem wesentlichen Teil (Personalkosten der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst) durch die Tarifparteien. Dieser Verlust an parlamentarischer Steuerung11 wird nun auch nicht durch einen wirksamen Einfluss der parlamentarisch verantwortlichen Regierung auf die Tarifverhandlungen »kompensiert«. Denn es fehlt bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst an den wesentlichen, die Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft kennzeichnenden Merkmalen: dem Gegensatz von Kapital und Arbeit, einem zu verteilender Gewinn und vor allem an der Gegnerfreiheit – der Staat mit seiner Ämterorganisation ist kein sozialer Gegenspieler seiner Bediensteten, er vertritt kein Gruppeninteresse.
2.
Gründe für das unbeirrte Festhalten der h. M. an einem Streikrecht der Dienstnehmer
Diese Argumente, die um so schwerer wiegen, als Parlament und Regierung nach Artikel 109 Abs. 2 GG mit dem Haushalt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bewahren und fördern sollen, sind von den Gegnern eines Streikrechts für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst häufig vorgetragen worden12. Die Gründe, die die herrschende Meinung dennoch unbeirrt an einem
10 Darum geht es besonders in der Diskussion über das Problem, ob der Staat den Tarifvertragsparteien in der Privatwirtschaft verbindliche Lohnleitlinien setzen darf. Vgl. dazu etwa: Schachtschneider, Imperative Lohnleitlinien unter dem Grundgesetz, in: Der Staat 16 (1977), S. 493 ff.; Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen (1977), S. 105 ff., 183 ff.; Knebel, Koalitionsrecht und Gemeinwohl (1978), S. 128 ff.; Badura, Die Tarifautonomie im Spannungsfeld von Gemeinwohlerfordernissen und kollektiver Interessenwahrung, in: AöR 104 (1979), S. 246 (257 ff.). Einschlägige Überlegungen dazu auch im Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 7. 7. 81 (Bundestagsdrucksache 9/641 unter Ziffer 26). 11 Dazu deutlich Moeser (Anm. 7), S. 161; ähnlich Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz (1976), S. 250 f. 12 Vgl. die Nachweise in Anm. 2. Eine gute Zusammenfassung dieser Gesichtspunkte auch bei Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht im Bereich der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland (1979), S. 77 ff. Daneben finden sich die gleichen Argumente häufig in den ablehnenden Stellungnahmen zu einem Streikrecht der Beamten, beispielhaft insoweit: Isensee, Beamtenstreik. Zur rechtlichen Zulässigkeit des Dienstkampfes (1971), S. 108 ff.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
439
Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlicher Dienst festhalten lassen, sind mehrschichtig und nicht ausschließlich rechtlicher Natur. Zunächst sind die Erfahrungen wesentlich, die im Bereich der Privatwirtschaft mit den staatlichen Zwangsschlichtungen in den letzten Jahren der Weimarer Republik und den Tarifordnungen in der Zeit des Nationalsozialismus, die ja eine völlige Außerkraftsetzung des Tarifvertragssystems bedeuteten, gemacht wurden13. Löwisch hat wohl nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass eben diese Erfahrungen insbesondere auf gewerkschaftlicher Seite zu einem Trauma geführt hätten, das in ihren Augen etwa eine Modifizierung des Tarifvertragssystems durch eine verbindliche Schlichtung schnell »als Anfang vom Ende der Tarifautonomie« erscheinen lasse14. Hier muss wohl in der Tat auch eine wesentliche Ursache für das starre Festhalten der herrschenden Meinung an einem Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gesehen werden15. Als weiterer Grund für diese Haltung kommt aber hinzu, dass auch keine rechte Vorstellung darüber zu bestehen scheint, was für eine Regelung denn im öffentlichen Dienst praktisch an die Stelle des mit dem Tarifvertragssystem gegebenen Streikrechts treten könnte, ohne dass eine Verkürzung der auch den Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst durch Artikel 9 Abs. 3 GG verbrieften Rechte eintritt. Schließlich dürfen auch die dogmatischen Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die sich aus Artikel 9 Abs. 3 GG für eine überzeugende Begründung gegen ein Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst ergeben. Es besteht zwar, wie noch zu zeigen sein wird, besonders auf Grund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchweg Einigkeit darüber, dass Artikel 9 Abs. 3 GG die Tarifautonomie als funktionstypisches Koalitionsmittel »ganz allgemein« gewährleistet und nicht »die besondere Ausprägung, die das Tarifvertragssystem in dem zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes geltenden Tarifvertragsgesetzes erhalten hat«16, doch ist damit nicht die für unsere Fragestellung entscheidende weitere Folgerung verbunden, dass eine Alternative zum geltenden Tarifvertragsgesetz und des durch die Rechtsprechung entwickelten Arbeitskampfrechts für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst verfassungsrechtlich geboten ist. 13 Zur in mancher Hinsicht parallelen Entwicklung in der DDR: Rüthers, Arbeitsrecht und politisches System (1973), S. 127 ff. 14 Löwisch, in: FAZ Nr. 274 vom 25. 11. 1980, S. 13 f. 15 Inwiefern es heute »nach über 30 Jahren demokratischen und sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland« an der Zeit ist, »dieses Trauma zu überwinden« (so Löwisch a.a.O.), mag hier für die Frage einer Modifizierung des Arbeitskampfrechtes in der Privatwirtschaft dahinstehen. 16 So BVerfGE 20, 312 (317); vgl. vorläufig dazu Scholz (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 299 ff. Was die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft, gilt diese Erkenntnis also nicht erst seit dem Mitbestimmungsurteil (BVerfGE 50, 290 – 369 -).
440
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Ein solches Gebot ließe sich aber aus den angedeuteten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Streikrecht dieser Bediensteten ableiten, wenn gezeigt werden könnte, dass die Tarifautonomie im öffentlichen Dienst anders als im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich »außerhalb des Grundrechtshorizonts (sc. des Artikels 9 Abs. 3 GG) … im Bereich materieller Staatshoheit« zu orten ist17. Denn in diesem Fall wäre der Gesetzgeber aufgrund der (letztlich im demokratischen Prinzip wurzelnden) verfassungsrechtlichen Zweifel an der unbeschränkten Geltung des durch die Rechtsprechung entwickelten Arbeitskampfrechts oder gar des Tarifvertragsgesetzes für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst verpflichtet, für diesen Personenkreis ein Verfahren zur Regelung der »Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen« (Artikel 9 Abs. 3 GG) zu schaffen18, das sowohl den verbleibenden Rechten der nichtbeamteten Bediensteten aus Artikel 9 Abs. 3 GG genügt als auch den erwähnten verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Artikel 20 Abs. 2 GG und Artikel 109 ff. GG Rechnung trägt.
3.
Mögliche Widerlegung dieser Gründe durch den »Dritten Weg« der Kirchen
Im Blick auf die aufgezeigten Gründe für das Festhalten der herrschenden Meinung an einem Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst trifft es sich, dass die Kirchen seit kurzem für ihre nichtbeamteten Bediensteten größtenteils mit dem »Dritten Weg«, dem Erlass sogenannter Arbeitsrechtsregelungsgesetze19, eine Alternative zum geltenden Tarifvertragssystem geschaffen haben20. Denn eben jene Gründe, die nach unserem Eindruck 17 So die Meinung von Isensee, Der Tarifvertrag als Gewerkschafts-Staats-Vertrag (Anm. 2), S. 39. Dass die Tarifautonomie im gesellschaftlichen Bereich vom Schutz des Artikel 9 Abs. 3 GG mit erfasst wird, bedeutet, wie gesagt, nicht den Schutz seiner gegenwärtigen gesetzlichen (und richterlichen) Ausprägung. 18 Solche Zweifel klingen deutlich bei Isensee (a. a. 0., S. 33) an, wenn er schreibt, dass »die Grundrechte keine Rechtstitel zur Privatisierung der demokratisch verfassten Öffentlichen Gewalt« geben. 19 So zumindest durchweg die Bezeichnung im evangelischen Bereich. Für die katholische Kirche ist die »Ordnung zur Mitwirkung bei der Gestaltung des Arbeitsvertragsrechts durch eine Kommission für den diözesanen Bereich (Bistums-KODA oder Regional-KODA)« und die »Ordnung zur Mitwirkung bei der Gestaltung des Arbeitsvertragsrechts durch eine Kommission für den überdiözesanen Bereich (Zentral-KODA)« einschlägig. Für den deutschen Caritas-Verband gilt daneben eine besondere Regelung: Dazu Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht in der katholischen Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 10 (1976), S. 57 (92 f.). Im Folgenden wird der Begriff Arbeitsrechtsregelungsgesetz einheitlich für alle diese Gesetze benutzt. 20 Die Bezeichnung »Dritter Weg« für die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze wird of-
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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eine ernsthafte Diskussion über das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst bis heute nicht haben aufkommen lassen, werden durch den »Dritten Weg« der Kirchen widerlegt. Das zeigt zunächst das Verhalten der kirchlichen Mitarbeiter bei der Beratung der sie betreffenden Arbeitsrechtsregelungsgesetze. Sie haben sich über ihre Vereinigungen an diesen Beratungen im Gegensatz zu den insoweit zuständigen Einzelgewerkschaften nüchtern und unbefangen beteiligt21. Das konnten sie allerdings auch um so leichter, als ihnen mit den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen ja Rechte eingeräumt wurden, die sie in vergleichbarer Form in der Vergangenheit nie besessen hatten22 ; folglich waren bei den kirchlichen Mitarbeitern die u. a. auf Grund einschlägiger geschichtlicher Erfahrungen von vornherein existierenden Vorbehalte der Gewerkschaften23 gegen den »Dritten Weg« in gleicher Form wohl kaum vorhanden. Doch kann diese Frage für das hier zu verhandelnde verfassungsrechtliche Problem letztlich dahinstehen. Dafür ist nun allerdings die weitere Tatsache wesentlich, dass die Kirchen mit ihrem »Dritten Weg« dem geltenden staatlichen Tarifvertrags-und Arbeitskampfrecht eine konkrete gesetzliche Alternative entgegengestellt haben und seit einiger Zeit praktizieren. Denn diese kirchliche Gesetzgebung erlaubt die Frage, ob im staatlichen Bereich eine ähnliche Regelung für die dort tätigen Angestellten und Arbeiter gelten könnte. Die dogmatischen Überlegungen schließlich, die zu den fiziell etwa in der 1978 von der EKD (Kirchenkanzlei) herausgegeben Informationsschrift »Der Dritte Weg. Arbeitsrechtsregelungsgesetz in der Evangelischen Kirche« durchgehend gebraucht und näher erläutert. Im Bereich der EKD haben sich bis auf die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin West), die Evangelische Kirche der Pfalz und die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche alle Landeskirchen der Richtlinie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland über das Verfahren zur Regelung der Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter im kirchlichen Dienst (Arbeitsrechtsregelungsgesetz – ARRG) vom 8. 10. 1976 (EKD Abl 1976, S. 398) mit einigen Modifikationen angeschlossen. Einen vollständigen Überblick über den Gesetzesstand in den einzelnen evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche mit Quellenbelegen geben Grethein/ Spengler, Der Dritte Weg der Kirchen, in: BB 1980, Beilage Nr. 10. Zur Rechtslage in der katholischen Kirche daneben: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 66 ff., 86 ff., 162 ff.; Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie der Kirchen, in: Gamillscheg/ Hueck/Wiedemann (Hrsg.), 25 Jahre Bundesarbeitsgericht (1979) S. 429 (445 f.) und: Kuper, Betriebliche und überbetriebliche Mitwirkung im kirchlichen Dienst, in: RdA 1979, S. 93 ff. 21 Dazu allgemein Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 1 ff. und für die Beratungen in der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen: von Tiling, Neues Recht für kirchliche Arbeitsverhältnisse in Niedersachsen, in: RdA 1979, S. 103 (105). Gesprächsbereit zeigte sich allerdings die Deutsche Angestelltengewerkschaft. 22 Das zeigt deutlich die Geschichte der Beteiligung kirchlicher Mitarbeiter an der Gestaltung kirchlicher Ordnung im evangelischen Bereich; vgl. dazu Bauersachs, Die Beteiligung kirchlicher Mitarbeiter an der Gestaltung kirchlicher Ordnung in den deutschen evangelischen Landeskirchen und ihren Zusammenschlüssen, unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, Dissertation Köln 1969, S. 10 ff., 50 ff., 134 ff., 145 f., 155 ff. 23 Vgl. bei Anm. 13 ff.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Kirchen geführt haben, befassen sich zu einem großen Teil mit dem Problem, inwieweit sich aus dem auch für die Kirchen grundsätzlich verbindlichen Artikel 9 Abs. 3 GG Grenzen für ihre gewöhnlich aus Artikel 137 Abs. 3 WRV gefolgerte24 arbeitsrechtliche Regelungsautonomie ergeben. Dabei fließen in die Versuche, die Regelungsbereiche der beiden genannten Vorschriften sinnvoll gegeneinander abzugrenzen, Gedanken ein, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Überlegungen zum Maß inhaltlicher Bindung des Gesetzgebers (und der rechtsfortbildenden Gerichte) bei der Ausgestaltung des »öffentlichen Dienstrechts der Arbeitnehmer«25 an Artikel 9 Abs. 3 einerseits, die Artikel 20 Abs. 2, 109 ff. andererseits, Anlass zu der Hoffnung geben, dass durch die nähere Beschäftigung mit dieser staatskirchenrechtlichen Diskussion Lösungsansätze für das zuletzt genannte Problem zu gewinnen sind. Es scheint demnach lohnend, für eine nähere Beschäftigung mit dem Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst zunächst auf den Inhalt des »Dritten Weges« und die ihn begleitenden dogmatischen Überlegungen genauer einzugehen (II.) und sich danach die Frage vorzulegen, welche neuen Aspekte sich daraus für die These der herrschenden Meinung ergeben, dass ein Streikrecht der Dienstnehmer26 grundsätzlich zu bejahen sei (III.). Der damit eingeschlagene Weg der Problemerörterung soll zugleich als praktisches Beispiel dafür dienen, worin die oft betonte exemplarische Bedeutung des Kirchenrechts insbesondere für das öffentliche Recht liegen könnte (IV.).
II.
Rechtliche Würdigung des »Dritten Weges«
Da nach dem Gesagten der »Dritte Weg« der Kirchen hier nur als denkbare gesetzliche Alternative zum Streikrecht der Angestellten und Arbeiter in öffentlichen Dienst interessiert und auch seine dogmatische Rechtfertigung allein im Blick auf parallele – weiterführende – Gedankengänge zur verfassungsrechtlichen Diskussion über das Arbeitskampfrecht der Dienstnehmer von dem gestellten Thema her unsere Aufmerksamkeit verdient, betreffen die folgenden Erörterungen notwendigerweise nur einen Teilaspekt der im Zusammenhang 24 Vgl. etwa Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 112), S. 30 ff., 57 ff., 66 ff.; Richardi (Anm. 20), S. 432 ff. und: derselbe, Das Betätigungsrecht der Koalitionen in kirchlichen Einrichtungen, in: Sandrock (Hrsg.), Festschrift für Günther Beitzke (1979), S. 873 (887 f.). 25 Begriff im Anschluss an Otto (Anm. 2), S. 22 f., der diese Begriffswahl a. a. O. auch genauer begründet. 26 Dieser Begriff wird hier und im Folgenden im Anschluss an Otto (Anm. 2, S. 23) als gemeinsamer Oberbegriff für die Angestellten und Arbeiter in öffentlichen Dienst gebraucht.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
443
mit den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetzen erörterten Probleme27. Wenn die Darstellung sich zudem auf die Arbeitsrechtsregelungsgesetze im Bereich der evangelischen Kirche beschränkt, so geschieht das aus der Überlegung, dass nach unserem Eindruck in diesen Gesetzen die Bezüge zur parallelen Problematik im weltlichen Recht deutlicher als in den entsprechenden Regelungen der katholischen Kirche erkennbar sind28 und auch die Sekundärliteratur vor allem die in der evangelischen Kirche geltenden Arbeitsrechtsregelungsgesetze näher erörtert hat29.
4.
Die Rechtsstellung der kirchlichen Arbeitnehmer nach dem »Dritten Weg« im Vergleich zur Rechtsstellung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst
Die Arbeitsrechtsregelungsgesetze der Kirchen haben bekanntlich zum Ziel, ein Verfahren zu gewährleisten, nach dem unter gleichberechtigter Beteiligung der 27 Eine gute Zusammenfassung der gesamten Regelungen liefern, wie schon bemerkt, Grethlein und Spengler (Anm. 20), wobei sie in ihren Erläuterungen vom Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelisch-Lutherischen-Kirche in Bayern ausgehen. Dietz (Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche – Anm. 3 -) dagegen legt seinen Darlegungen den gemeinsamen Entwurf eines Arbeitsrechtsregelungsgesetzes für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen und die Lippische Landeskirche zugrunde. Auf das Kirchengesetz der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen geht besonders von Tiling (Anm. 21) ein. Allgemein zu den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen im evangelischen Bereich noch: Schlaich (Anm. 2), S. 209 ff.; Pirson, Kirchliches Arbeitsvertragsrecht, in: RdA 1979, S. 66 ff.; G. Müller (Anm. 3), S. 71 ff.; Rothländer, Arbeitsrecht in der Kirche – kirchliches Arbeitsrecht?, in: RdA 1979, S. 99 ff. 28 Das gilt besonders wegen des Letztentscheidungsrechts des Schlichtungsausschusses oder der Synode für den Fall, dass in der paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission ein Mehrheitsbeschluss nicht zustande kommt. Im katholischen Bereich ist dagegen bei Beschlüssen der KODA-Kommissionen und der Vermittlungsausschüsse stets das Letztentscheidungsrecht des Bischofs gesichert (vgl. dazu: Kuper – Anm. 20 -, S. 98 f.; Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie – Anm. 20 -, S. 441 f.; Grethlein/Spengler – Anm. 20 -, S. 12 und: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht – Anm. 12 -, S. 88). Allein im Bereich der Evangelischen Kirche können auch die Gewerkschaften direkt Mitarbeiter in die Arbeitsrechtliche Kommission entsenden (zu den Modifikationen im Einzelnen: Grethlein/Spengler – Anm. 20 -, S. 5 Anm. 31 a und hier bei Anm. 36 ff. Zur Regelung im katholischen Bereich: Kuper – Anm. 20 -, S. 95) und nur hier wird, und zwar in der Nordelbischen Landeskirche, als Alternative zum »Dritten Weg« ein wenn auch gegenüber dem weltlichen Recht stark modifiziertes Tarifvertragsrecht praktiziert (vgl. zum Tarifvertragssystem der Nordelbischen Kirche die Darstellung von: Dietz, Das Tarifwerk der Nordelbischen Kirche – Anm. 3 – und: Rothländer, Tarifverträge mit der Nordelbischen Kirche, in: RdA 1980, S. 260 ff. Zu früheren kirchlichen Tarifverträgen: Birk, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie im Bereich der Kirchen und ihrer Einrichtungen, in: RdA 1979, Sonderheft: Kirche und Arbeitsrecht, S. 9 – 12 f.-). 29 Vgl. die Nachweise in Anm. 27.
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kirchlichen Mitarbeiter und gleichzeitiger Vermeidung von Arbeitskämpfen allgemein verbindliche Regelungen für die einzelnen Arbeitsverträge der kirchlichen Mitarbeiter geschaffen werden können. Gegen diese Lösung ist mehrfach geltend gemacht worden, dass die kirchlichen Bediensteten durch den »Dritten Weg« Nachteile in Kauf nehmen müssten, die bei Abschluss eines Tarifvertrages vermieden würden, und zwar unabhängig von der Frage, ob man ein mit dem Abschluss eines Tarifvertrages verbundenes Streikrecht der kirchlichen Angestellten und Arbeiter anerkenne oder nicht30. a) Zur Begründung dieser Behauptung wird besonders darauf verwiesen dass die Wahrung der Arbeitnehmerinteressen beim »Dritten Weg« durch kirchlichen Bediensteten selbst erfolgt, während beim Abschluss eines Tarifvertrages Vertragspartei auf Seiten der Arbeitnehmer die von der Gegnerseite tatsächlich und rechtlich unabhängigen Gewerkschaften seien (§ 2 Abs. 1 TVG). Die tatsächliche Abhängigkeit der kirchlichen Arbeitnehmer von ihrem Arbeitgeber, den Kirchen, sei es, die eine ebenso wirkungsvolle Vertretung ihrer Interessen wie bei den von den Gewerkschaften für sie geführten Tarifverhandlungen verhindere31. Dieses Argument ist nicht leichtzunehmen. Doch lässt sich dagegen zunächst geltend machen, dass in den meisten Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Kirchen die Unabhängigkeit der Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission und des Schlichtungsausschusses durch besondere Vorschriften abgesichert ist32. So führen die Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission ihr Amt unentgeltlich und weisungsungebunden durch. Sie sind für diese Tätigkeit, soweit erforderlich, vom Dienst freizustellen, und erhalten Unfallfürsorge. Weiter dürfen sie bei der Ausübung ihrer Befugnisse nicht behindert und auch nicht wegen ihres Verhaltens benachteiligt oder begünstigt werden. Schließlich genießen die Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission einen besonderen Schutz vor Kündigungen, Abordnungen und Versetzungen. Entsprechende Regelungen gelten durchweg für die Mitglieder des Schlichtungsausschusses33. 30 So: G. Müller, (Anm. 3), S. 79; Dietz, Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche (Anm. 3), S. 84 ff.; Naendrup, Tarifverträge mit kirchlichen Einrichtungen, in: BlStSozArbR 1979, S. 353 (354, 359, 362 f.). Eventuelle rechtliche Nachteile der Arbeitnehmer auf Grund des »Dritten Weges« werden diskutiert von: Pirson (Anm. 27), S. 69 f.; von Tiling (Anm. 21), S. 107 f. und: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 13 ff. 31 So besonders deutlich Dietz, Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche (Anm. 3), S. 84 f. Angedeutet auch bei Herschel, Arbeitsrecht für den Dienst an den Kirchen, in: Sozialer Fortschritt 1980, S. 49 (51, 52) und Naendrup (Anm. 30), S. 362 f. Allgemeine Befürworter eines Tarifvertragssystems für die Kirchen werden nachgewiesen bei: Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 445 Anm. 51; vgl. daneben die Nachweise hier in Anm. 3. 32 Zum folgenden Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 7, 11 f. mit vollständigen Nachweisen. 33 Dazu genauer Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 10 f., 12.
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Neben diesen Bestimmungen sind in unserem Zusammenhang die Vorschriften über die Besetzung der Arbeitsrechtlichen Kommission und des Schlichtungsausschusses wesentlich. Nach den meisten Arbeitsrechtsregelungsgesetzen werden die Vertreter der Arbeitnehmer für die arbeitsrechtliche Kommission von den Mitarbeitervereinigungen, einschließlich der Gewerkschaften, nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der in ihnen zusammengeschlossenen kirchlichen Arbeitnehmer entsandt34. Es liegt also an der Anziehungskraft der Gewerkschaften, wie viele ihrer Mitglieder in der Arbeitsrechtlichen Kommission vertreten sind. Einige Arbeitsrechtsregelungsgesetze bestimmen daneben, dass nur die Hälfte35 bzw. zwei Drittel36 der von den einzelnen Vereinigungen zu entsendenden Vertreter hauptberuflich im kirchlichen oder diakonischen Dienst tätig sein müssen, d. h. dass die übrigen Vertreter der kirchlichen Mitarbeiter in der Arbeitsrechtlichen Kommission hauptberuflich Angestellte der Gewerkschaften und anderer Verbände sein können37. Besonders mit dieser letzten Regelung wird den Gewerkschaften bei entsprechendem Mitgliederbestand die Möglichkeit geschaffen, auf die Meinungsbildung in der Arbeitsrechtlichen Kommission wirksam Einfluss zu nehmen. Außerdem garantiert sie, wie wohl zu Recht bemerkt worden ist38, eben durch die Tatsache, dass die kirchlichen Mitarbeiter zum Teil durch hauptberufliche Verbandsfunktionäre vertreten werden dürfen, auch die sachliche Unabhängigkeit der Arbeitnehmerseite gegenüber ihrem kirchlichen Arbeitgeber und damit letztlich eine wirkliche Parität in der Arbeitsrechtlichen Kommission. Für die Besetzung des Schlichtungsausschusses gelten entsprechende Vorschriften39. Seine Mitglieder werden mit Ausnahme der badischen und niedersächsischen Regelung von den in der Arbeitsrechtlichen Kommission vertretenen Gruppen bestimmt. Persönliche Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Schlichtungsausschuss ist allein, dass man zu kirchlichen Ämtern wählbar ist40. Ein rechtliches Hindernis, für die kirchlichen Mitarbeiter hauptberufliche Ver34 Zu den Ausnahmen: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 5 f. mit Anm. 31 a und – zusammenfassend – S. 11 f. sowie: Schlaich (Anm. 2), S. 210 mit Anm. 7. 35 So § 6 Abs. 2 der Richtlinie des Rates der EKD (EKD ABl. 1976, S. 398). 36 So § 13 Abs. 2 des Niedersächsischen (EKD ABl. 1978, S. 153), § 6 Abs. 2 des Bayerischen (EKD ABl. 1977, S. 277) und § 8 Abs. 4 des Württembergischen (EKD ABl. 1980, S. 440) Gesetzes 37 In Niedersachsen können das aber nur Personen sein, die früher einmal im kirchlichen Dienst gestanden haben: § 13 Abs. 2 des Niedersächsischen Mitarbeitergesetzes (a. a. O.). 38 Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 6, 12; Schlaich (Anm. 2), S. 210 f. 39 Zum folgenden: Grethlein/Spengler, S. 10 mit Nachweisen. 40 Nur in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck wird daneben zur Voraussetzung gemacht, dass die Mitglieder des Schlichtungsausschusses – mit Ausnahme des Vorsitzenden – »mindestens drei Jahre lang haupt- oder nebenberuflich im Dienst der Kirche oder der Diakonie stehen« (§ 13 Abs. 1 des Arbeitsrechtsregelungsgesetzes der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, abgedruckt in: EKD ABI. 1979, S. 471).
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bandsvertreter in die Schlichtungskommission zu entsenden, besteht also nicht41. Die Vorschriften über die Bestimmung des Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses in den einzelnen Arbeitsrechtsregelungsgesetzen begründen ebenfalls nicht die Behauptung einer Gefährdung der Arbeitnehmerinteressen durch den »Dritten Weg«. Denn diese Person muss entweder von der Arbeitsrechtlichen Kommission mit einer Dreiviertelmehrheit gewählt werden oder sie wird durch übereinstimmende Beschlüsse der entsendenden Stellen bestimmt42. Kommt auf diese Weise keine Entscheidung zustande, so entscheidet nach den meisten Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Vorsitzende eines kirchlichen Gerichts, nach einigen anderen der Präsident der Landessynode43. Die damit gegebene Gewährleistung einer »neutralen« Letztentscheidung über die Person des den Schlichtungsausschuss leitender Vorsitzenden wird noch dadurch erhöht, dass dieser die Befähigung zur Richteramt oder höheren Verwaltungsdienst besitzen muss und weder haupt- noch nebenberuflich im kirchlichen oder diakonischen Dienst stehen oder einem Leitungsorgan in Kirche oder Diakonie angehören darf44. Der entscheidende Einwand gegen das Argument, dass durch den »Dritten Weg« eine wirkungsvolle Vertretung der Arbeitnehmerinteressen verhindert werde, ergibt sich aber aus der Beantwortung der Frage, ob denn tatsächlich die auf andere Weise als durch Tarifvertrag, nämlich durch Beschluss der Arbeitsrechtlichen Kommission zustande gekommene Regelung zu sozial weniger günstigen Ergebnissen führt als der Abschluss eines Tarifvertrages. Gerade das wird man nämlich verneinen müssen. Denn »indem die Kirche ein besonderes Organ für die Aufgabe des Interessenausgleichs vorsieht, nimmt sie nicht Einfluss auf die materielle Entscheidung des Organs, sondern gewährleistet nur das sichere Funktionieren eines dem Interessenausgleich dienenden Verfahrens«45. Dafür kann auch sprechen, dass die letzte Entscheidung ja nach allen geltenden Arbeitsrechtsregelungsgesetzen einer unabhängigen Schlichtungsinstanz und nicht dem kirchlichen Arbeitgeber zukommt46. Übersehen werden darf in diesem Zusammenhang auch nicht, dass die Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommission durchweg mit qualifizierten Mehrheiten47 gefasst werden müssen, 41 Dazu Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 10 mit ausdrücklichem Hinweis auf die abweichende Regelung in Niedersachsen in Anm. 82 e. 42 Nachweise bei Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 10. 43 In Württemberg geschieht dies allerdings genau genommen durch den Landeskirchenausschuss, also durch ein synodales Organ. Dazu wiederum Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 10, wo sich auch die Belege für die einzelkirchlichen Regelungen finden. 44 Nachweise Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 10 mit Anm. 82 c. 45 Pirson (Anm. 27), S. 70; ähnlich von Tiling (Anm. 21), S. 107. 46 von Tiling (Anm. 21), S. 107. Zu den einschlägigen Vorschriften der Arbeitsrechtsregelungsgesetze im Einzelnen: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 9 ff. und 12 f. 47 Dazu im einzelnen Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 8 f.
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so dass keine Seite überstimmt werden kann. Da weiter im Schlichtungsausschuss eine Seite der anderen nur mit der Stimme des neutralen Schlichters eine Abstimmungsniederlage zufügen kann48, beruht das Ergebnis der Verhandlungen auch hier nicht auf dem »Recht des Stärkeren«. Es gibt also keinen einleuchtenden Grund für die These, dass allein der nach Verhandlungen zweier formal unabhängiger Partner (und notfalls nach Arbeitskampfmaßnahmen) abgeschlossene Tarifvertrag ein sozial gerechteres Ergebnis garantiert als das nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen vorgesehene Verfahren der Beschlussfassung, in dem die gegenteiligen Interessen ja ebenfalls voll zum Austrag kommen können49. Das Gegenteil könnte sogar der Fall sein, wenn einmal die Streikkassen und/oder das private Durchhaltevermögen der Arbeitnehmer im Arbeitskampf erschöpft sein sollten50. Aus der inhaltlichen Gleichwertigkeit des Beschlussverfahrens nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen gegenüber dem Tarifvertrag ist deshalb wohl zu Recht gefolgert worden, dass auch die gerichtliche Billigkeitskontrolle der auf diese Weise zustande gekommenen Dienstvertragsordnungen ähnlich wie beim Tarifvertrag nur beschränkt zulässig ist. Der Grund für dieses Postulat ist ja in beiden Fällen der gleiche: die hohe Gerechtigkeitsgewähr des den getroffenen Entscheidungen vorausliegenden Verfahrens51. b) Als weiterer Vorteil des Tarifvertrages gegenüber dem »Dritten Weg« wird dessen Ordnungsfunktion, die in seiner normativen Wirkung begründet liegt, genannt52. Überhaupt glaubt man, dass die Rechtswirkungen des Tarifvertrages wie seine feste Laufzeit, seine Bedeutung bei dem zunehmenden tarifdispositivem Gesetzes-(und Richter-) Recht, der besondere Schutz für tarifliche Ansprüche53, die Nachwirkung u. a. diesen gegenüber dem »Dritten Weg« auszeichnen54. Man kann insoweit jedoch, wie die Erörterung dieser Fragen in der Literatur zum »Dritten Weg« zeigt, kaum von wirklichen Vorteilen des Tarifvertrages gegenüber den nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Kirchen be48 Dazu wiederum Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 11. Dort wird auch in Anm. 87 auf die Modifikationen, die in den Landeskirchen Baden und Kurhessen Waldeck gelten, verwiesen. 49 So richtig Pirson (Anm. 27), S. 69 f. 50 Darauf weist zu Recht von Tiling (Anm. 21, S. 107 f.) hin. 51 So auch Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 440 ff.; Pirson (Anm. 27), S. 69 f.; Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 14 f. und: von Tiling (Anm. 21),S. 107. Dagegen Herschel (Anm. 31), S. 32 und derselbe, Kirche und Koalitionsrecht. Ein Rechtsgutachten (1978), S. 10 f. 52 So besonders deutlich Dietz (Anm. 3), S. 86; vgl. daneben G. Müller (Anm. 3), S. 79. 53 Sie können nicht verjähren und verwirkt werden; auf sie kann auch nicht verzichtet werden: Vgl. dazu Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch (3. Aufl. 1977),S. 943 f. (= § 204 VIII). 54 Zusammenfassend Dietz, Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche (Anm. 3), S. 85 f.
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schlossenen Dienstvertragsordnungen sprechen. So lassen sich für die normative Wirkung der von der Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossenen Regelungen im kirchlichen und – innerhalb der Schranken des Artikel 137 Abs. 3 WRV – auch im weltlichen Bereich mehrere verfassungsrechtliche Argumente finden. Anknüpfungspunkte wären einmal, wie besonders von Tiling gezeigt hat, der Artikel 9 Abs. 3 GG und Artikel 137 Abs. 5 WRV55 ; denkbar ist aber auch eine direkte Ableitung des normativen Charakters dieser allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen aus der durch Artikel 137 Abs. 3 WRV garantierten Regelungsautonomie der Kirchen56. Auf eine weitere Begründungsmöglichkeit für den normativen Charakter der Dienstvertragsordnungen zumindest für den innerkirchlichen Bereich sei noch hingewiesen. Sie ergibt sich aus entsprechenden Überlegungen von Scholz zum Geltungsgrund der tariflichen Normen als Rechtsnormen. Seiner Ansicht nach folgt insoweit »der maßgebende Akt der Autorisierung … auf der Ebene unterhalb des Verfassungsrechts durch das Tarifvertragsgesetz.« Tarifnormen sind danach »Rechtsnormen kraft staatlicher Anerkennung«57. Das Tarifvertragsgesetz ist als »offener Tatbestand« zu verstehen, dessen »normativer Regelungsanspruch sich erst in dem Augenblick vollendet, in dem ein Tarifvertrag konkrete Tatbestandsmerkmale setzt, die mit normativer Kraft gelten sollen«58. Das Tarifvertragsgesetz enthält also – normstrukturell gesehen – eine dynamische Verweisung auf die jeweils beschlossenen Tarifverträge. Die rechtsstaatlichen (und demokratischen) Bedenken gegen eine solche gesetzliche Verweisung werden nun für das Tarifvertragsgesetz durch Artikel 9 Abs. 3 GG ausgeräumt; aus seiner Garantie »funktionsmäßig originärer und initiärer Regelungsmacht« der Tarifvertragsparteien folgt in diesem Fall die Zulässigkeit der dynamischen Verweisung59. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Artikel 9 Abs. 3 GG liegt für unser Problem also allein darin, dass er dem Gesetzgeber ermöglicht (und zugleich auch gebietet)60, »die der koalitionsrechtlichen Ordnungsfunktion entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen«61. Es besteht 55 von Tiling (Anm. 21), S. 105 f. 56 So besonders deutlich: Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 68 ff. mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die normativen Wirkungen im staatlichen und kirchlichen Bereich. Gegen eine normative Wirkung der von der Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossenen Regelungen: Schlaich (Anm. 2), S. 213 f. Zu den praktischen – überwindbaren – Problemen, die sich aus einer solchen Sicht für die Handhabung des »Dritten Weges« ergeben: von Tiling (Anm. 21), S. 106 ff. 57 Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 301; ähnlich derselbe, Rechtsfragen zur Verweisung zwischen Gesetz und Tarifvertrag, in: Mayer-Maly/Richardi/Schambeck/Zöllner (Hrsg.), Arbeitsleben und Rechtspflege. Festschrift für Gerhard Müller (1981), S. 509 (528 f.). 58 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem (1971), S. 59. 59 Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 301 und: Rechtsfragen (Anm. 57), S. 529, 530. 60 Dazu Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 297 ff. 61 Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 301; ähnlich derselbe, Rechtsfragen (Anm. 57), S. 529 f.
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nun kein Hinderungsgrund, auf gleiche Weise die normative Wirkung der auf Grund der Arbeitsrechtsregelungsgesetze zustande gekommenen Dienstvertragsordnungen und damit ihre Ordnungsfunktion zu begründen. Diese Gesetze lassen sich ebenfalls dahin auslegen, dass sie eine dynamische Verweisung auf die zu beschließenden Dienstvertragsordnungen enthalten. Die Zulässigkeit solcher dynamischen Verweisungen im Kirchenrecht kann man schon aus dem letztlich wohl in Artikel 137 Abs. 3 WRV wurzelnden Recht der Kirchen folgern, insoweit eigene Wege zu gehen62. Unabhängig von der Frage, ob und aus welchem Grund den nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen beschlossenen Dienstvertragsordnungen normative Wirkung zukommt, müssen sie die gleiche Nachwirkung wie die Tarifverträge besitzen. Denn die Bestandskräftigkeit der Nachwirkung beruht ja beim Tarifvertrag nach herrschender Meinung nicht auf diesem selbst, sondern auf der Bestandskräftigkeit des jeweiligen Einzelvertrages und reicht darum nur soweit wie dieser63. Auch im Blick auf das ständig zunehmende tarifdispositive Gesetzesrecht bedarf es nicht der allgemeinen Anerkennung einer normativen Wirkung der Dienstvertragsordnungen; vielmehr lässt sich ihre Gleichsetzung mit dem Tarifvertrag insoweit schon mit der hohen Gerechtigkeitsgewähr des geschilderten Verfahrens, das zu diesen Regelungen führt, rechtfertigen64. Wenn schließlich noch auf die mit dem »Dritten Weg« verbundenen Rechtsschutzdefizite verwiesen wird65, so kann das zumindest nicht – und das interessiert hier ja allein – bei einer Übertragung dieses Regelungsmodells auf den staatlichen Bereich gelten, wie überhaupt bei einer entsprechenden gesetzgeberischen Ausgestaltung des »Dritten Weges« kaum von Vorteilen des Tarifvertragssystems gegenüber dieser Lösung für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gesprochen werden kann66. 62 So auch von Tiling (Anm. 21), S. 106. 63 Das betont zu Recht von Tiling (Anm. 21), S. 108; ebenso Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 15. Überzeugende Begründung für dieseAnsicht bei Nikisch (Anm. 2), S. 390 f. 64 So wiederum von Tiling (Anm. 21), S. 107 f. Grethlein/Spengler (Anm. 20, S. 14) regen insoweit eine Klärung durch den staatlichen Gesetzgeber an, zu der dieser verpflichtet sei, da andernfalls die Kirchen in verfassungswidriger Weise benachteiligt wären. 65 Naendrup (Anm. 30), S. 363, im Anschluss an: Nell-Breuning, Arbeitnehmer in kirchlichem Dienst, in: AuR 1979, S. 1 ff. 66 Das gilt etwa für die Unwirksamkeit eines Verzichts auf die durch die Dienstvertragsordnung geschaffenen Rechte; ebenso muss gesetzlich verhindert werden, dass diese verjähren oder verwirkt werden können. Was die feste Laufzeit des Tarifvertrages betrifft, so lässt sich darin schwerlich ein wirklicher Vorteil gegenüber den nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen beschlossenen Dienstvertragsordnungen erblicken; können diese doch nur dann abgeändert werden, wenn die entsprechenden qualifizierten Mehrheiten zustimmen (vgl. dazu hier bei Anm. 47 f.). Ein wesentlicher Vorteil des »Dritten Weges« gegenüber dem Tarifvertrag sei nicht unerwähnt: Die auf Grund des »Dritten Weges« beschlossenen Dienstvertragsordnungen bedürfen nicht wie der Tarifvertrag erst der Allgemeinverbindlichkeitserklärung,
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Kirchenverfassungsrechtliche Gründe gegen Tarifverträge der Kirche und ein damit verbundenes Streikrecht kirchlicher Arbeitnehmer
Ist damit schon die Überlegenheit des Tarifvertrages gegenüber der Dienstvertragsordnung nach den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetzen vom positiven Gesetzesrecht her gesehen zweifelhaft, so lässt sich daneben keine Verpflichtung der Kirchen zum Abschluss von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsgesetz begründen; es sprechen sogar wesentliche kirchenverfassungsrechtliche Gründe gegen den Abschluss von Tarifverträgen durch die Kirchen, in jedem Fall aber gegen ein damit verbundenes Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im kirchlichen Dienst: a) Zunächst ist zu beachten, dass das Tarifvertragsgesetz keine Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen ausspricht, sondern insoweit nur ein Angebot enthält. Es bedurfte deshalb schon aus diesem Grund keiner ausdrücklichen Freistellung der Kirchen vom Tarifvertragsgesetz, wie sie in den §§ 96 BPersVG und 118 Abs. 2 BetrVG für den Bereich des Mitarbeitervertretungsrechts vorgenommen worden ist67. Für eine Verpflichtung der Kirchen zum Abschluss von Tarifverträgen könnte nun aber sprechen, dass ihre Übernahme des staatlichen Individualarbeitsrechts unter gleichzeitiger Ablehnung des geltenden kollektiven Arbeitsrechts eine rechtlich bedenkliche Inkonsequenz darstellt68. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Kirchen für diese »Inkonsequenz« keine sich aus ihren Aufgaben und Funktionen folgenden Gründe geltend machen können. Solche Gründe sind aber vorhanden69 : Die geistlichen Aufgaben der Kirchen fallen nicht in den Verantwortungs-
um auch gegenüber den nichtorganisierten kirchlichen Arbeitnehmern Rechtsgeltung zu besitzen. Die Frage nach der Zulässigkeit möglicher Differenzierungen zwischen organisierten und nichtorganisierten kirchlichen Arbeitnehmern taucht also gar nicht auf (so zu Recht: von Tiling – Anm. 21 –, S. 108). In vielem ähneln die nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen beschlossenen Dienstvertragsordnungen den sog. »Wahlnormen«, d. h. solchen Vorschriften, die keinen Zwangsstatus, sondern nur einen Wahlstatus, in den man sich freiwillig begibt, regeln; ausführlich dazu: Meyer-Cording, Die Rechtsnormen (1971), S. 47 ff. 74 ff. und besonders S. 89 ff., 101 ff., 151 ff. zur Unterwerfung unter diese Normen durch Statusvertrag und zum »Übergang vom contract zum Status.« 67 So die ganz herrschende Meinung, vgl. mit Nachweisen: Grethlein/Spengler (Anm. 20), 5.13 und S. 14 Anm. 110; von Tiling (Anm. 21), S. 109; Richardi, Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 447;J. Frank, Entwicklungen und Probleme des kollektiven Arbeitsrechts in der Evangelischen Kirche, in: RdA 1979, S. 86 (93); Zöllner, Arbeitsrecht (2. Aufl. 1979), S. 243. 68 Dazu besonders Schwerdtner, Kirchenautonomie und Betriebsverfassung, in: AuR 1979, Sonderheft: Kirche und Arbeitsrecht, S. 21 (23 f.) und Naendrup (Anm. 30), S. 362 mit weiteren Nachweisen. 69 Zum folgenden insbesondere: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 22, 30 ff., 40 ff., 53 ff., 76 ff.
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bereich des weltanschaulich (religiös) neutralen Staates70. Mit diesen Aufgaben der Kirchen stehen nun die Tätigkeiten ihrer Angestellten und Arbeiter zumindest in einem mittelbaren Zusammenhang71. Folgerichtig werden darum auch von der Rechtsprechung und Lehre die karitativen kirchlichen Aktivitäten in den Schutz des Artikels 4 Abs. 2 GG einbezogen72. Der besondere kirchliche Auftrag ist es also, der eine Dienstgemeinschaft zwischen allen Mitarbeitern der Kirche begründet, die im weltlichen Recht – zumindest in den Arbeitsverhältnissen der Privatwirtschaft – keine Parallele hat73. Die inhaltliche Gestaltung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse kann darum nicht ohne Rücksicht auf den Auftrag der Kirche geschehen. Dieses Postulat verbietet es, die Festlegung der allgemeinen Arbeitsbedingungen vorwiegend in die Hände von Personen zu legen, die keine innere Beziehung zur Kirche besitzen. Wenn in den Kirchengesetzen die Erwartung ausgesprochen wird, dass die Mitarbeiter selbst den spezifischen kirchlichen Auftrag als ihre persönliche Angelegenheit betrachten74, so folgt daraus umgekehrt sogar ein Anspruch der Mitarbeiter, von Personen mit entsprechender persönlicher Bindung vertreten zu werden75. Mit den geschilderten Charakteristika des kirchlichen Dienstes verträgt sich kaum eine Regelung wie die des § 2 Abs. 1 TVG. Denn danach sind auf Seiten der Arbeitnehmer ausschließlich die Gewerkschaften, die außerhalb der Kirche, neutral und ohne innere Bindung zu ihr stehen, Tarifvertragspartei76. Man wird sogar noch einen Schritt weiter gehen müssen und im Blick auf die Geschichte 70 Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten (1972), S. 59 ff. und: Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 24 ff. 71 Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 53 f.; Richardi, Das Betätigungsrecht der Koalitionen (Anm. 24), S. 888. 72 Dazu mit weiteren Nachweisen: Leisner, Karitas – innere Angelegenheit der Kirchen, in: DÖV 1977, S. 475 (478 f.). Aus der Rechtsprechung zuletzt: BVerfGE 53, 366 (387 f., 392 f., 401 ff.). 73 Vgl. auch von Tiling (Anm. 21), S. 109 f.; Schlaich (Anm. 2), S. 211 f.; Grethlein, Die Autonomie der Kirche, in: ZevKR 24 (1979), S. 270 (284) und: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 3. Inwiefern hier Parallelen zum öffentlichen Dienst bestehen, wird noch zu behandeln sein (vgl. bei Anm. 240 ff.). 74 Vgl. etwa § 1 des »Kirchengesetzes der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen über die Rechtsstellung der Mitarbeiter« (EKD ABI. 1978, S. 153): »(1) Der kirchliche Mitarbeiter ist in seinem dienstlichen Handeln und in seiner Lebensführung dem Auftrag des Herrn verpflichtet, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Diese Verpflichtung bildet die Grundlage der Pflichten und Rechte von Dienstherrn, Anstellungsträgern und Mitarbeitern und bestimmt auch deren Zusammenwirken bei der Feststellung und Wahrnehmung dieser Pflichten und Rechte. (2) Dienstherrn, Anstellungsträger und Mitarbeiter sind an Bekenntnis und Recht der beteiligten Kirchen gebunden.« Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher über das Arbeitsverhältnis in der Privatwirtschaft hinausgehenden Pflichten: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12),, S. 34, 41 f., 59 f., 114 ff. 75 Ähnlich Pirson (Anm. 27), S. 71. 76 So auch Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 83; Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 3.
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und heutige Funktion des Tarifvertragssystems feststellen, dass dieses seiner gesamten Anlage nach den Eigenheiten des kirchlichen Dienstes und damit letztlich dem kirchlichen Auftrag nicht gerecht wird77: Das Tarifvertragssystem hat sich wie die anderen Rechtsinstitute des Arbeitsrechts auf dem Boden der Privatwirtschaft ausgebildet und ist dann nachträglich in den staatlichen Bereich übernommen worden. In Deutschland war es die namentlich im 19. Jahrhundert deutlicher hervortretende soziale Ungerechtigkeit der Arbeitsbedingungen in der Privatwirtschaft, die zur Gründung von Gewerkschaften in dem Bestreben führte, auf die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse wirksamen Einfluss zu nehmen. Historisch gesehen und auch heute noch sind darum die Gegenpole von Kapital und Arbeit und der Interessengegensatz der sozialen Gegenspieler (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) wesentliche Kennzeichen des Tarifvertragssystems. Mit Hilfe von Druck und Gegendruck als den die Tarifverhandlungen wegen der möglichen Kampfmittel von Streik und Aussperrung prägenden Merkmalen soll ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiss zwischen den verschiedenartigen Interessen erzielt werden. Ein solches kontradiktorisches Verfahren garantiert aber nur dann gerechte Ergebnisse, wenn zwischen den Tarifparteien Kampfparität (Waffengleichheit) besteht und die Gegnerfreiheit gewahrt ist. Diese Voraussetzungen sind darum verfassungsrechtlich durch Artikel 9 Abs. 3 GG geboten78. Im kirchlichen Bereich fehlt es nun, wie dargelegt, wegen der einheitlichen Ausrichtung aller Dienste auf den Auftrag der Kirche an einem in gleicher Weise ausgeprägten Interessengegensatz79. Es fehlt auch, da es keinen gemeinsam erwirtschafteten und zu verteilenden Gewinn gibt, an dem Gegensatz von Kapital und Arbeit. Schließlich fehlt es an den Gewährleistungen für ein gerechtes kontradiktorisches Verfahren: der Kampfparität und Gegnerfreiheit. Denn die Kirche kann etwa ihre Angestellten und Arbeiter nicht aussperren, ohne die von ihrem Auftrag her unverzichtbaren Aufgaben für die Welt und damit sich selbst zu verleugnen80 ; zudem würden eventuelle Tarifverhandlungen auf beiden Seiten von kirchlichen Bediensteten, also nicht gegnerfrei geführt81. Die Kampfparität ist auch deshalb nicht gegeben, weil im Gegensatz zur Privatwirtschaft 77 Prägnante Kennzeichnung der wesentlichen Merkmale des Tarifvertragssystems bei: Isensee, Der Tarifvertrag (Anm. 2), S. 26 f.; Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 78 ff.; von Arnim (Anm. 2), S. 101 ff. Aus der Rechtsprechung zuletzt: BVerfGE 50, 290 (371). 78 Scholz (Anm. 1), Artikel 9,Rdnr. 287 ff. mit Nachweisen und: Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (1971), S. 112 ff. 79 Anders dagegen: Herschel, Kirche und Koalitionsrecht (Anm. 51), S. 31 ff.; Naendrup (Anm. 30), S. 360; Birk (Anm. 28), S. 14 f. und: Schwerdtner (Anm. 68), S. 23 f. 80 Gleiches Ergebnis bei: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 84 f.; Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 48; Grethlein (Anm. 73), S. 285 und: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 3. 81 Richtig insoweit von Tiling (Anm. 21), S. 109.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
453
»die Bremswirkung des Arbeitsplatzrisikos gegen überhöhte Tarifabschlüsse«82 im kirchlichen Bereich praktisch nicht existiert. Während dort die Arbeitnehmer bei zu hohen Tarifabschlüssen mit Entlassungen u. a. rechnen müssen, würde dieses Risiko für die kirchlichen Angestellten und Arbeiter in den Tarifverhandlungen praktisch nicht bestehen. Denn die Kirchen finanzieren sich bekanntlich aus ihrem Steueraufkommen und sind deshalb kaum konkursfähig; hinzukommt, dass die Dienstnehmer im kirchlichen Bereich ähnlich wie im Staatsdienst zu einem größeren Teil als in der Privatwirtschaft rechtlich unkündbar sind83. Für die Kirchen hätten dann auch besonders überhöhte Tarifabschlüsse die mit ihrer verfassungsmäßig abgesicherten Regelungsautonomie (Artikel 137 Abs. 3 WRV) kaum zu vereinbarende Folge, dass sie sich auf Grund der dadurch eingetretenen Beschränkung ihres finanziellen Spielraums praktisch »von außen vorschreiben lassen (müssten), welchen Stellenwert etwa der kirchliche Entwicklungsdienst in der Dritten Welt, die kirchliche Publizistik oder die Denkmalspflege gegenüber dem Niveau der allgemeinen kirchlichen Vergütungen haben sollen«84. Die Struktur des kirchlichen Dienstes und die Eigenheit kirchlicher Aufgaben sind also die entscheidenden kirchenverfassungsrechtlichen Gründe, die den Schluss zulassen, dass die Kirchen auch unter Berufung auf Artikel 137 Abs. 3 WRV das Tarifvertragssystem als für ihre Angestellten und Arbeiter verbindliche Regelung des kollektiven Arbeitsrecht ablehnen können85. Auf diese verfassungsrechtliche Frage ist im folgenden (7.) noch näher einzugehen. b) Dem Abschluss von Tarifverträgen durch die Kirchen widerspricht aber vor allem, dass ein wirksames Tarifvertragssystem ohne die Anerkennung eines Streikrechts schwer vorstellbar ist. Das ergibt sich aus dem geschilderten kon82 So von Arnim (Anm. 2, S. 110) für den öffentlichen Dienst. 83 Das gleiche Argument wird gegen ein Streikrecht öffentlicher Dienstnehmer angeführt von: Isensee (Der Tarifvertrag – Anm. 2 –, S. 27) und von Arnim (Anm. 2, S. 110 f.). 84 So zu Recht von Tiling (Anm. 21), S. 109. 85 Gleiches Ergebnis bei: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 82 f.; Grethlein/ Spengler (Anm. 20), S. 3 f., 13; Richardi, Das Betätigungsrecht der Koalitionen (Anm. 24), S. 888. Wenn nun demgegenüber auf das Tarifvertragssystem im öffentlichen Dienst mit dem Argument verwiesen wird, dass dieser strukturell in vielem dem kirchlichen Dienst ähnele (Dietz, Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche – Anm. 3 –, S. 85; Herschel, Kirche und Koalitionsrecht – Anm. 51 –, S. 31; Birk – Anm. 28 –, S. 14 f.; Naendrup – Anm. 30 –, S. 360), so widerlegt dieser Hinweis nicht das hier vertretene Ergebnis. Einmal muss schon das Funktionieren des Tarifvertragssystems im öffentlichen Dienst zumindest für das daraus folgende Arbeitskampfrecht nach den geschilderten jüngsten Erfahrungen mit den Arbeitskämpfen von 1974 und 1980 bezweifelt werden; zum anderen schließt die gegenwärtige faktische Rechtslage die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit und Angemessenheit des Tarifvertragssystems für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst nicht aus. Um in dieser Frage zu einer Entscheidung zu kommen, vermag aber, wie noch zu zeigen sein wird (= III.), die zunächst bewusst auf den »Dritten Weg« beschränkte Betrachtung vielfältige dogmatische Hilfestellung zu leisten.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
tradiktorischen Verfahren der Tarifverhandlungen86. Folgerichtig wird darum auch von gewerkschaftlicher Seite aus betont, dass der Verzicht auf ein Streikrecht im Tarifvertrag mit der Nordelbischen Kirche – dem bisher einzigen im kirchlichen Bereich – nicht das letzte Wort sein kann; ein von der Nordelbischen Kirche bei den Tarifverhandlungen angestrebtes unbefristetes Streikverbot wurde eben deshalb von den beteiligten Gewerkschaften abgelehnt87. Der Zusammenhang zwischen Tarifvertrag und Arbeitskampf ist das wohl überzeugendste Argument gegen die Übernahme des Tarifvertragssystems durch die Kirchen. Denn ein Streikrecht der kirchlichen Dienstnehmer würde erst recht der dargelegten Struktur des kirchlichen Dienstes widersprechen und mit dem Auftrag der Kirche nicht zu vereinbaren sein. Alle gegen den Tarifvertrag als solchen vorgetragenen Argumente sprechen also verstärkt gegen die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen in der Kirche88 ; sie werden darum insoweit auch von jenen Autoren übernommen, die für die Anwendung des Tarifvertragsgesetzes auf die Kirchen aber gegen ein Streikrecht der kirchlichen Angestellten und Arbeiter eintreten89.
6.
Notwendige Korrekturen des »Dritten Weges«
Kritisch bleibt somit nur noch zum »Dritten Weg« selbst zu fragen, ob das von ihm vorgesehene Verfahren für den Erlass der Dienstvertragsordnungen der Struktur des kirchlichen Dienstes und – damit verbunden – dem Selbstverständnis der Kirchen entspricht. Das die Tarifverhandlungen bestimmende streng kontradiktorische Verfahren ist, wie es scheint, durch die besonderen persönlichen Voraussetzungen, die in den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen an 86 Die Kausalität zwischen Tarifvertrag und Streikrecht wird darum auch in der Literatur zum »Dritten Weg« mehrfach betont. Vgl. etwa: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 3 f., 13; von Tiling (Anm. 21), S. 109; Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 83, 84; Richardi, Das Betätigungsrecht der Koalitionen (Anm. 20), S. 449. Zur Gegenmeinung vgl. die Nachweise in Anm. 3. 87 Vgl. dazu die Stellungnahme von Rothländer (Mitglied des Hauptvorstandes der Gewerkschaft ÖTV): Tarifverträge mit der Nordelbischen Kirche (Anm. 28), S. 261 f.; daneben derselbe, Kirche und Arbeitsrecht – Zur Einleitung, in: AuR 1979, Sonderheft: Kirche und Arbeitsrecht, S. 1 f. Allgemeine Würdigung des Tarifvertrages mit der Nordelbischen Kirche auch durch: Dietz, Das Tarifwerk der Nordelbischen Kirche (Anm. 3), S. 1107 ff 88 So die ganz herrschende Meinung. Vgl. etwa: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 83 ff.; Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 3, 13; Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 447 f. mit weiteren Nachweisen. Für ein Streikrecht der kirchlichen Dienstnehmer vor allem: Naendrup (Anm. 30), S. 367 f. mit weiteren Nachweisen in Anm. 229. 89 Vgl. Dietz, Das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Evangelischen Kirche (Anm. 3), S. 83 und: G. Müller (Anm. 3), S. 77 f.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
455
die Mitglieder der Arbeitsrechtlichen Kommission und des Schlichtungsausschusses gestellt werden, und durch den Umstand ausgeschlossen, dass nicht eine Einigung durch Vertrag, sondern ein mehrheitlich gefasster Beschluss am Ende der Verhandlungen steht90. Die Argumente, die Rechtsprechung und Lehre u. a. aus dem dualistischen System des Betriebsverfassungsgesetzes gegen dessen Anwendbarkeit auf die Kirchen abgeleitet haben91 und die nach unseren Ausführungen erst recht gegen die Übernahme des Tarifvertragsgesetzes in den kirchlichen Bereich sprechen92, gelten demnach allem Anschein nach nicht für den »Dritten Weg«. Und doch scheinen uns zwei kritische Fragen zu dessen Ausgestaltung angebracht, die sich aus dem Rechtscharakter der nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen erlassenen Dienstvertragsordnung als einer für alle kirchlichen Dienstnehmer unmittelbar geltenden Regelung und weiter aus dem Letztentscheidungsrecht des Schlichters ergeben. Für problematisch halten wir zunächst die Regelung, die nach den meisten Arbeitsrechtsregelungsgesetzen für die Besetzung der Arbeitsrechtlichen Kommission und – mit Modifikationen – auch für den Schlichtungsausschuss gilt. Die diesen Gremien angehörenden Vertreter der Arbeitnehmer werden, wie dargelegt93, von den Mitarbeitervereinigungen (einschließlich der Gewerkschaften) nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der in ihnen zusammengeschlossenen Dienstnehmer entsandt. Nun ist aber davon auszugehen, dass ein wesentlicher Teil der kirchlichen Arbeitnehmer keiner dieser Vereinigungen angehört. Dieser Personenkreis ist folglich nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen weder in der Arbeitsrechtlichen Kommission noch im Schlichtungsausschuss vertreten. Eine Gesamtvertretung der Arbeitnehmerinteressen liegt also gar nicht vor, so dass im Grunde die materielle Legitimation für die kraft Gesetzes eintretende Rechtswirkung fehlt, nach der gemäß den einschlägigen Vorschriften in den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen die beschlossenen Dienstvertragsordnungen für alle kirchlichen Dienstnehmer gelten94. 90 Das betonen zu Recht: von Tiling (Anm. 21), S. 105 und Schlaich, Der »Dritte Weg« (Anm. 2), S. 210. Allgemein zum Unterschied zwischen vertraglicher Einigung und Entscheidung durch Beschluss: Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts (5. Aufl. 1980) S. 288 (= § 28 II a) 91 Vgl. dazu G. Müller (Anm. 3), S. 73 ff.; Richardi, Kirchenautonomie und gesetzliche Betriebsverfassung, in: ZevKR 22 (1978), S. 367 ff.; Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 151 ff. und die Kritik an dieser Argumentation bei: Herschel, Kirchliche Einrichtungen und Betriebsverfassung, in: AuR 1978, S. 172 ff.; Schwerdtner (Anm. 68), S. 21 ff. u. a. 92 Diesen »Erst-Recht-Schluss« ziehen: Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie (Anm. 20), S. 448 f. und Grethlein (Anm. 73), S. 285. 93 Vgl. bei Anm. 34 ff. 94 In Ansätzen die gleiche Kritik bei Pirson (Anm. 27), S. 71 und bei Schlaich, Der »Dritte Weg (Anm. 2), S. 210. Anknüpfungspunkt für eine mögliche gesetzliche Lösung dieses Problems könnte § 7 des Arbeitsrechtsregelungsgesetzes der Evangelischen Kirche in Württemberg
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Das weitere Bedenken zum »Dritten Weg« aus kirchenverfassungsrechtlicher Sicht betrifft das Letztentscheidungsrecht des unparteilichen Schlichters. Muss die Kirche, so lautet insoweit die Frage, bei fehlenden Mehrheiten in der Arbeitsrechtlichen Kommission bzw. im Schlichtungsausschuss nicht die Entscheidung selbst in die Hand nehmen, d. h. dasjenige kirchliche Organ nunmehr verbindlich beschließen, dem nach kirchlichem Verfassungsrecht insoweit im Grunde die Entscheidung zukommt? Nun mag man gegenüber diesem Einwand auf entsprechende Regelungen in den kirchlichen Mitarbeitervertretungsgesetzen verweisen; auch dort entscheidet im Zweifelsfall letztlich ja der Vorsitvom 27. 6. 1980 (EKD ABI. S. 44) sein, wonach die den Betriebs- und Personalräten vergleichbare landeskirchliche Mitarbeitervertretung zur Wahl der Arbeitnehmervertreter in der Arbeitsrechtlichen Kommission aus dem Kreis der kirchlichen Mitarbeiter befugt ist. Gemäß § 16 des genannten Gesetzes gilt das allerdings nicht für die Bestimmung der Mitglieder des Schlichtungsausschusses. Eine dem § 7 Arbeitsrechtsregelungsgesetz Württemberg entsprechende Regelung existiert in der Katholischen Kirche (vgl. dazu Kuper – Anm. 20 -, S. 98 und Richardi, Die arbeitsrechtliche Regelungsautonomie – Anm. 20 –, S. 443 f.). Eine Kompromisslösung enthält § 7 Abs. 1 des Arbeitsrechtsregelungsgesetzes der Badischen Landeskirche vom 5. April 1978 (EKD ABI. S. 365): »Die Vertreter der Mitarbeiter …. werden durch Vereinigungen, in denen mindestens 200 Mitarbeiter im kirchlichen und diakonischen Dienst zusammengeschlossen und die nach ihrer Satzung allen diesen Mitgliedern zugänglich sind sowie für die nicht einer solchen Vereinigung angehörenden Mitarbeiter von der Gesamtvertretung nach dem Mitarbeitervertretungsgesetz entsandt.« Diese letzte Lösung besitzt den Vorzug, dass sie theoretisch die Möglichkeit offenlässt, dass auch die sachliche Parität in der Arbeitsrechtlichen Kommission (vgl. dazu hier bei Anm. 38) gewahrt bleibt. Das Bemühen um eine wirkliche Gesamtvertretung der Arbeitnehmerinteressen wird nach dem Arbeitsrechtsregelungsgesetz Baden auch für die Zusammensetzung des Schlichtungsausschusses durchgehalten. Die der Arbeitnehmerseite zuzurechnenden Mitglieder des Schlichtungsausschusses werden danach (vgl. § 13 des genannten Gesetzes i. V. m. § 42 Abs. 3 des Mitarbeitervertretungsgesetzes Baden vom 5. 4. 1978 – EKD ABI. S. 355 –) auf Vorschlag der Mitarbeitervertreter in der Arbeitsrechtlichen Kommission von eben dieser Kommission gewählt. (Das entsprechende Verfahren gilt für die Wahl der Vertreter des Dienstherrn im Schlichtungsausschuss: Sie werden ebenfalls von der Arbeitsrechtlichen Kommission auf Vorschlag der Vertreter des Dienstherrn in dieser Kommission gewählt). Die verbleibenden Bedenken gegen die badische Regelung unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen Gesamtvertretung der Arbeitnehmerinteressen könnten einmal darin liegen, dass in der zur Entsendung der Arbeitnehmervertreter in die Arbeitsrechtliche Kommission befugten Mitarbeitervertretung auch Verbandsvertreter sitzen, und zum anderen darin, dass dieser Mitarbeitervertretung neben Angestellten und Arbeitern auch Beamte angehören – Personen also, die von dem nach dem Arbeitsrechtsregelungsgesetz Baden beschlossenen Dienstvertragsordnungen nicht betroffen sind. Wenn im Text von einer ungenügenden Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss die Rede war, nicht aber von der mangelnden demokratischen Legitimation der diesen Gremien angehörenden Arbeitnehmervertreter, so geschah das aus der Überlegung, dass es hier um die Gewährleistung einer »freiheitlichen Kommunikationsverfassung« geht, oder anders gesprochen: um eine »kommunikationsrechtliche Verbandsorganisation«, deren Gegensatz etwa eine »demokratische Verbandsorganisation« im Sinne des Artikel 21 Abs. 1 Satz 3 GG darstellt, dazu genauer : Scholz, Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 374 ff.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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zende des Schlichtungsausschusses95. Dieser Einwand übersieht aber u. a. die gravierenden finanziellen (haushaltsrechtlichen) Folgen, die mit der Entscheidung des Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses über den Inhalt der einzelnen Dienstvertragsordnung u. a. verbunden sein können96. Derartige finanzielle Folgen bestimmen ja, wie schon bemerkt, wesentlich Art und Umfang der kirchlichen Aufgaben und präjudizieren damit den Inhalt kirchlicher Tätigkeit. Einige Arbeitsrechtsregelungsgesetze haben sich diesen Bedenken auch nicht völlig verschlossen97, doch in keiner Landeskirche ist die im Entwurf der EKD vorgeschlagene Alternativlösung realisiert worden, nach der das Letztentscheidungsrecht nicht bei einem neutralen Schlichter, sondern bei der Synode als dem für den Haushalt zuständigen und die gesamtkirchliche Leitung wesentlich mitbestimmenden Organ liegt. Allein diese Lösung will uns aber konsequent scheinen, – zumindest genauso konsequent wie die Ansicht derer, die ihre Forderung nach Tarifverträgen im kirchlichen Bereich mit dem Argument stützen, daß ein Letztentscheidungsrecht der Synode schon wegen ihrer Ver95 Dazu mag der Hinweis auf §§ 37 ff. des »Musters für ein Kirchengesetz über Mitarbeitervertretungen in kirchlichen und diakonischen Dienststellen und Einrichtungen – Richtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland gemäß Artikel 9 b der Grundordnung – vom 26. Mai 1972« (EKD ABI. S. 298) genügen. 96 Vgl. besonders das Zitat bei Anm. 84. 97 So das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen vom 14. 3. 1978 (EKD ABI., S. 153), nach dem (§ 23 Abs. 1 und 2) die Mitglieder des Schlichtungsausschusses Synodale sein müssen, die nicht »im haupt- oder nebenberuflichen kirchlichen Dienst oder im haupt- oder nebenberuflichen Dienst einer beruflichen Vereinigung« stehen dürfen und »außer einem synodalen Organ weder einem Leitungsorgan noch einem Rechtsprechungs- oder Schiedsorgan« der Kirche angehören können. von Tiling (Anm. 21, S. 105; ähnlich Grethlein/Spengler – Anm. 20 –, S. 12) bemerkt zu Recht, dass diese Regelung »Elemente der beiden ursprünglichen EKD-Vorschläge« (Letztentscheidungsrecht des Schlichters oder der Synode) verwendet. Er betont auch (a. a. 0.), dass während der Verhandlungen mit den Mitarbeitervereinigungen über die einzelnen Formulierungen dieses Gesetzes lange Zeit von Seiten der kirchenleitenden Organe darauf bestanden worden sei, dass »es jenseits der Schlichtungskommission für die Landessynoden (!), wenigstens für den Fall der äußersten finanziellen Notlage, die Möglichkeit geben (müsse), das Wirksamwerden einer Dienstvertragsordnung zu verhindern«; eine solche Regelung sei schließlich aber unterblieben. Sie findet sich aber im ARRG Baden vom 5. 4. 1978 (EKD ABl. S. 365). Dessen § 14 sieht vor, dass die Landessynode in bestimmten Fällen unter Hinweis auf ihre Haushaltsverantwortung Regelungen der Arbeitsrechtlichen Kommission bzw. des Schlichtungsausschusses mit verfassungsändernder Mehrheit aufheben und selbst entscheiden kann. In diesen Zusammenhang gehört schließlich § 14 des Arbeitsrechtsregelungsgesetzes der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck vom 25. 4. 1979 (EKD ABl. S. 471). Er erkennt ein Letztentscheidungsrecht der Synode an, wenn die Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommission oder des Schlichtungsausschusses »die Grundordnung verletzen, insbesondere die Erfüllung des kirchlichen Auftrages gefährden.« Zu der badischen und dieser letzten Regelung ist richtig bemerkt worden, dass es sich »in beiden Fällen um Angelegenheiten handelt, die die Kompetenz (!) der Arbeitsrechtlichen Kommission überschreiten« (Grethlein/Spengler – Anm. 20 –, S. 13). Gilt das über die genannten Fälle hinaus nicht entsprechend für das Letztentscheidungsrecht des Schlichters überhaupt?
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
antwortung für den kirchlichen Gesamthaushalt nicht in Betracht kommen könne98. Gegen das Letztentscheidungsrecht des neutralen Schlichters spricht u. E. auch, dass – strukturell gesehen – Aufgabe des Schlichters die Einigung zweier divergierender (Vertrags-) Parteien, kaum aber die Herbeiführung bzw. Ersetzung eines Beschlusses ist. Die Kompetenz für Beschlüsse sollte man beim Scheitern der Gespräche in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss dem nach kirchlichem Verfassungsrecht dann dafür zuständigen Organ übertragen; das aber ist in der Evangelischen Kirche die Synode99.
7.
Die Vereinbarkeit des »Dritten Weges« mit dem Grundesetz
Sprechen damit nach kirchlichem Verfassungsrecht die Argumente für den »Dritten Weg« – besonders bei Beachtung der vorgetragenen Modifikationen –, so bleibt die weitere Frage zu klären, ob das Grundgesetz den Kirchen den von ihnen insoweit beanspruchten Freiraum auch tatsächlich einräumt. a) Eine unmittelbare Verbindlichkeit des Tarifvertragsgesetzes für die Kirchen scheitert schon, wie bemerkt100, an der Tatsache, dass dieses Gesetz nur Angebotscharakter besitzt und es damit der Entscheidung der Kirchen überlassen bleibt, ob sie Tarifverträge abschließen oder nicht. Unabhängig davon sahen wir bereits, dass auch kirchenverfassungsrechtliche Gründe entscheidend gegen eine Verpflichtung der Kirchen zur Übernahme des Tarifvertragssystems sprechen würden101. Diese Gründe besitzen für die nunmehr zu behandelnde Frage ebenfalls Relevanz. Denn für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der durch Artikel 137 Abs. 3 WRV den Kirchen garantierten Regelungsautonomie, die ja allein das Recht der Kirchen zur selbständigen Regelung ihres 98 So besonders G. Müller (Anm. 3), S. 79 und Naendrup (Anm. 30), S. 362. Diese Argumentation übersieht – was hier allein entscheidend ist –, daß »der gemeinsam verpflichtende kirchliche Auftrag«, an dem die Beschlüsse der Synode ausgerichtet sind, »nicht mit spezifischen Arbeitgeberinteressen identisch« ist (so zu Recht: Pirson – Anm. 27 –, S. 70). 99 Besonders einsichtig wird diese Forderung unseres Erachtens im Blick auf die niedersächsische Regelung. Wenn danach (vgl. den Nachweis in Anm. 97) neben einem neutralen Schlichter als Vorsitzenden nur Synodale dem Schlichtungsausschuss angehören, die nicht im kirchlichen Dienst stehen und keinem Berufsverband angehören, so lässt sich der Schlichtungsausschuss als ein besonderer Ausschuss der Synode verstehen, wenn diese auch auf seine Zusammensetzung keinen Einfluss hat. Die verbleibende personelle Verklammerung des Schlichtungsausschusses mit der Synode, die seinen Charakter als Beschlussorgan unterstreicht, legt – so meinen wir – die Forderung nach einem Letztentscheidungsrecht der Synode nahe. 100 Vgl. bei Anm. 67. 101 Vgl. bei Anm. 69 ff.
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Dienst- und Arbeitsrechts zu begründen vermag, kommt es entscheidend darauf an, ob eine vom kirchlichen Auftrag geprägte »geistliche Aufgabe« vorliegt, die nicht zum Verantwortungsbereich eines weltanschaulich-religiös neutralen Staates zählt102. Wenn hier festgestellt wurde, dass die Tätigkeit der kirchlichen Dienstnehmer zumindest in einer mittelbaren Beziehung zum kirchlichen Auftrag steht, so muss, da eben dieser Auftrag ja mit den geistlichen Aufgaben der Kirchen identisch ist, auch der kirchliche Dienst zu den eigenen Angelegenheiten der Kirche im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV gezählt werden103. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des »Dritten Weges« ist damit aber noch nicht abschließend beantwortet. Denn zum einen wird vom Bundesverfassungsgericht aus Artikel 9 Abs. 3 GG der Schluss gezogen, dass das Grundgesetz zwar nicht den Tarifvertrag als einzig mögliches Koalitionsmittel betrachtet, es jedoch grundsätzlich eine entsprechende gesetzgeberische Lösung »intendiert«104. Entscheidender für unsere Fragestellung aber ist noch, dass ein Teil der Lehre den Angebotscharakter des Tarifvertragsgesetzes dadurch modifiziert, dass sie zumindest eine Pflicht jeder tariffähigen Partei und damit auch der Kirchen anerkennt, »sich mit dem tarifzuständigen sozialen Gegenspieler auf Tarifverhandlungen bona fide einzulassen«105. Ohne über die Richtigkeit dieser Meinungen entscheiden zu müssen, können die genannten Bindungen des Tarifvertragsgesetzes für die Kirchen dann verneint werden, wenn sich zeigen sollte, dass das Tarifvertragsgesetz nicht unter den Schrankenvorbehalt des Artikel 137 Abs. 3 WRV fällt, d. h. kein »für alle geltendes Gesetz« (Artikel 137 Abs. 3, Satz 1 WRV) darstellt. Das ist im Folgenden darum noch zu prüfen. Über die Auslegung der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV besteht bekanntlich in der Literatur Streit. Einig ist man sich hier durchweg106 allein 102 Die Frage, ob die Kirchen selbst darüber bestimmen, wann eine solche Aufgabe vorliegt, oder ob diese Entscheidung immer schon von der staatlichen Verfassung getroffen ist, kann hier noch offenbleiben. Dazu besonders die Auseinandersetzung zwischen Hesse und Jurina: K. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Friesenbahn/Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 (1974), S. 409 (427 ff.); Jurina, Rechtsstatus der Kirchen (Anm. 70), S. 60 ff. und: Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 23 ff. Vgl. daneben noch: Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (1980), S. 12 ff., 32, 60 ff. 103 Vgl. bei Anm. 70 ff. Gleiche Begründung bei Jurina, Dienst und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 22 u. a. 104 So BVerfGE 28, 295 (305). Zur Relativität dieses verfassungsrechtlichen Schutzes aber zuletzt BVerfGE 50, 290 (369, 371). 105 So gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts: Wiedemann/Stumpf, Tarifvertragsgesetz (5. Aufl. 1977) § 1 TVG Rdnr. 80 und auch der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts G. Müller (Anm. 3), S. 78 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 106 Zu den Ausnahmen: H. Weber, Rechtsprobleme eines Anschlusses der Pfarrer und Kirchenbeamten an die gesetzliche Rentenversicherung der Angestellten, in: ZevKR 22 (1977), S. 346 (354).
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darüber, dass begrifflich mit dem »für alle geltenden Gesetz« ein solches gemeint ist, das »die Kirchen nicht speziell als Religionsgemeinschaften, sondern in ihrer Eigenschaft als statusunterworfene Rechtssubjekte anspricht«107. Auch wird allgemein anerkannt, dass die Bindung der Kirchen an das in diesem Sinne »allgemeine« Gesetz nicht losgelöst von dem ihnen durch Artikel 137 Abs. 3 WRV eingeräumten Freiheitsraum konkretisiert werden kann, insoweit also keine strikte, schematische Gesetzesbindung der Kirchen besteht. Wie nun aber die Differenzierung zu geschehen hat, welche Kriterien dafür maßgebend sind, darüber vor allem gibt es kontroverse Ansichten. Im Wesentlichen stehen sich hier zwei Meinungen gegenüber : Nach der einen ist zwischen einem dem allgemeinen Gesetz absolut unzugänglichen Innenbereich kirchlicher Tätigkeit und dem uneingeschränkt an das allgemeine Gesetz gebundenen Handeln der Kirche im Bereich weltlicher Rechtsordnung zu unterscheiden108 ; die andere, wohl herrschende Auffassung betont die Unmöglichkeit einer scharfen Trennung zwischen einem im Innenbereich der Kirche verbleibenden Handeln und dem nach außen wirkenden und versteht deshalb die Schrankenklausel als Zuordnungsregelung, die eine Güterabwägung zwischen kirchlicher Freiheit und staatlicher Gemeinwohlverantwortung verlangt109. Für diese letzte Deutung der Schrankenklausel spricht wegen ihrer Elastizität und des Bemühens, der Einheit der Verfassung als maßgeblichem Prinzip der Verfassungsinterpretation gerecht zu werden, einiges; sie besitzt aber zwei nicht zu übersehende Nachteile. Einmal den der schwierigen juristischen Handhabung der Abwägungsformel. Damit wird die Kritik angesprochen, die allgemein gegen einen zu freien undifferenzierten Gebrauch dieser dogmatischen Figur erhoben wird. Ihr ist wohl nur zu begegnen, wenn man das Gebot der Abwägung als ein Auslegungsproblem, etwa das der Abgrenzung zweier verschiedener Normbereiche, versteht110. Wichtiger als dieser mehrfach, besonders von den 107 So H. Weber a. a. O. mit Nachweisen. 108 So vor allem H. Weber, zuletzt: A. a. 0., S. 355 und Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat 1 (1962), S. 289 (294 f.). Zu entsprechenden Lehren in der Weimarer Zeit auch: Hesse (Anm. 102), S. 430. 109 Vgl. etwa M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL 26 (1968), S. 12 (42 ff.); Schlaich, Neutralität (Anm. 78), S. 174 ff; W. Weber, »Allgemeines Gesetz« und »für alle geltendes Gesetz« (1973), in: derselbe, Staat und Kirche in der Gegenwart (1978), S. 340 (357 ff.); Hesse (Anm. 104), S. 435 ff.; Kästner, Die Geltung von Grundrechten in kirchlichen Angelegenheiten, in: Jus 1977, S. 715 (717 f.); Meyer-Teschendorf, Staat und Kirchen im pluralistischen Gemeinwesen (1979), S. 103 ff., auch S. 190 f., 198 ff. und zuletzt: Scheuner, Begründung, Gestaltung und Grenzen kirchlicher Autonomie in: Jung/von Schlotheim/Weispfennig (Hrsg.), Autonomie der Kirche. Symposium für Armin Füllkrug (1979), S. 1 (20 ff.). 110 Dazu besonders die Arbeiten von F. Müller : (1) Normstruktur Normativität (1966), S. 208 ff.; (2) Juristische Methodik (2. Aufl. 1976), S. 52 ff.; (3), Die Einheit der Verfassung (1979), S. 199 ff. u. a.
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zuerst genannten Vertretern des »Trennungsdenkens« erhobene Einwand gegen die Abwägungsformel der herrschenden Meinung111 scheint uns ein systematischer zu sein, der sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt: Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich in einer Entscheidung aus dem Jahr 1976 den Inhalt der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV wie folgt bestimmt: »Zu den ›für alle geltenden Gesetzen‹ können nur solche Gesetze rechnen, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für den Jedermann. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig-religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke«112. Es lohnt sich, für unsere Fragestellung auf die Begründung, die das Bundesverfassungsgericht für diese Auslegung liefert, genauer einzugehen, zumal auch auf Grund einer neueren Entscheidung des Gerichts zu diesem Problem zu vermuten ist, dass es -wohl etwas vorschnell – diese Interpretation wieder aufgeben und in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung zu einer (allgemeinen) Abwägungsformel übergehen will113. Das Bundesverfassungsgericht lehnt es in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1976 ausdrücklich ab, die Schrankenklausel »im Sinne des allgemeinen Gesetzesvorbehalts in einigen Grundrechtsgarantien oder im Sinne des ›allgemeinen Gesetzes‹, das eine Schranke der Meinungsfreiheit bildet (Artikel 5 Abs. 2 GG) oder im Sinne der Formel ›im Rahmen der Gesetze‹ bei der Gewährleistung des Rechts der Gemeinden, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln,« zu verstehen114. Wenn man bedenkt, dass die von der herrschenden Lehre bejahte Abwägungsformel sich bewusst an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung der grund111 So hält H. Weber (Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970, S. 45) dieser Interpretation der Schrankenklausel vor, dass sie »Zuflucht zu dem juristischen Offenbarungseid vager Abwägungsformeln« nehme. 112 BVerfGE 42, 312 (334). So nunmehr auch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. 11. 1980, in: DVB1. 1981, 492 f. (492). Zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuletzt: Hollerbach, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (II), in: AöR 106 (1981), S. 218 (236 ff.) und: W. Geiger, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, in: ZevKR 26 (1981), S. 156 (165 ff.). 113 BVerfGE 53, 366 (400 f.). Die Differenz zur in Anm. 112 genannten Entscheidung hebt ausdrücklich auch die abweichende Meinung des Richters Dr. Rottmann hervor (a. a. O., S. 413). Betont wird diese Differenz auch in dem Bericht von Hollerbach, a. a. O., S. 244 ff. Kritisch zu dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen ihrer (erneuten) Verwendung des Güterabwägungsprinzips bei der Interpretation des Art. 137 Abs. 3 WRV: Geiger (Anm. 112), S. 167 ff. 114 BVerfGE 42, 333.
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rechtlichen Gesetzesvorbehalte, insbesondere an der Auslegung des Artikel 5 Abs. 2 GG orientiert, und weiter berücksichtigt, dass auch der Schrankenklausel des Artikel 28 Abs. 2 GG eine andere Bedeutung zukommt als der wiedergegebenen Interpretation des »für alle geltenden Gesetzes« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV durch das Bundesverfassungsgericht115, so lässt das den Schluss zu, dass der vom Grundgesetz garantierte besondere Rechtsstatus der Kirchen dem Gericht das entscheidende Kriterium für die wiedergegebene Interpretation des »Gesetzesvorbehalts« in Artikel 137 Abs. 3 WRV liefert. Eben weil der Rechtsstatus der Kirchen nicht mit dem anderer Grundrechtsträger und auch nicht mit dem der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften identisch ist, bedarf die Schrankenklausel im Artikel 137 Abs. 3 WRV entsprechend ihrem besonderen Wortlaut auch einer besonderen Inhaltsbestimmung. Dieser Zusammenhang zwischen dem spezifischen Rechtsstatus der Kirchen und der Inhaltsbestimmung der Schrankenklausel zeigt sich deutlich in der Begründung, die das Bundesverfassungsgericht für seine Ansicht liefert, dass weder die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte noch die Vorbehaltsklausel des Artikel 28 Abs. 2 GG maßgebend für eben diese Inhaltsbestimmung sein können. Denn das entscheidende Argument des Gerichts hierfür ist einmal das im Vergleich zu den übrigen »gesellschaftlichen Großgruppen« nicht zu übersehende »qualitativ andere Verhältnis« der Kirchen zum Staat116 und weiter das »Spezifikum des geistig-religiösen Auftrags der Kirchen«117. Ist es vor allem der besondere verfassungsrechtliche Status der Kirchen, der die Interpretation der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV bestimmt, so muss auf diesen, um zu einer Antwort auf unsere Ausgangsfrage nach der Verbindlichkeit des Tarifvertragsgesetzes für die Kirchen zu kommen, noch näher eingegangen werden. Zwei Abgrenzungen sind dafür vor allem wesentlich. Einmal ist nach den Unterschieden zwischen der in Artikel 28 Abs. 2 GG garantierten kommunalen Selbstverwaltung und der kirchlichen Regelungsautonomie nach Artikel 137 Abs. 3 WRV zu fragen; zum anderen sind die Unter115 Vgl. zusammenfassend mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur: Grawert, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart (Mitbericht), in: VVDStRL 36 (1978), S. 277 (288 ff.) und: J. Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (1977), S. 27 ff. 116 Der Grund für die Andersartigkeit dieses Verhältnisses liegt nach dem Bundesverfassungsgericht darin, dass »jene gesellschaftlichen Verbände partielle Interessen vertreten, während die Kirche ähnlich wie der Staat den Menschen als Ganzes in allen Feldern seiner Betätigung und seines Verhaltens anspricht.« (BVerfGE 42, 333). 117 Bundesverfassungsgericht a. a. 0. Dem Bundesverfassungsgericht gelingt damit eine Inhaltsbestimmung der kirchlichen Stellung im Staat, die sich auch rechtstheologisch – zumindest aus protestantischer Sicht – rechtfertigen lässt; dazu der Beitrag von A. Janssen, Historisch-kritische Theologie und evangelisches Kirchenrecht, in: ZevKR 26 (1981), S. 1 (34 ff., 45 ff.)
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schiede zu beachten, die zwischen dem Rechtsstatus der Kirchen und dem der Juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die ebenfalls Träger von Grundrechten sein können, bestehen. Was die Unterschiede zur Garantie der kommunalen Selbstverwaltung betrifft, so liegt der entscheidende darin, dass die Kirchen nicht wie die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften staatliche Aufgabenträger bzw. Organe der mittelbaren Staatsverwaltung sind; ihre durch Artikel 137 Abs. 3 WRV garantierte Regelungsautonomie besitzt darum auch anders als die kommunale Selbstverwaltungsgarantie nach ganz herrschender Meinung heute vorstaatlichen, originären Charakter und untersteht keiner staatlichen Aufsicht. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum »politischen Öffentlichkeitsbezug« der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften die Kirchen eine »Öffentlichkeit besonderer Art« verkörpern, die »nicht-politisch ist und deshalb im weiteren Sinne zur Sphäre sozialer Öffentlichkeit« gerechnet werden muss118. Zu dieser »Sphäre sozialer Öffentlichkeit« (i. w. S.) gehören dann aber u. a. auch – und damit kommen wir zur zweiten notwendigen Abgrenzung – die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre und weiter, zumindest nach einem Teil der Literatur, auch die Meinungs- und Pressefreiheit119. Diese Feststellung besitzt in unserem Zusammenhang deshalb Bedeutung, weil neben den Kirchen nach ganz herrschender Meinung ebenfalls die Universitäten und Rundfunkanstalten als Juristische Personen des öffentlichen Rechts Träger von Grundrechten sein können120. Ihr in den Artikeln 5 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 3 GG und Artikel 4 GG i. V. m. Artikel 137 WRV umschriebener Grundrechtsstatus enthält auch eine institutionelle Garantie i. w. S.121. Diese ist nun wegen des unterschiedlichen Öffentlichkeitsbezugs nicht wie bei den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften kompetenzrechtlicher, sondern organisationsrechtlicher Art, d. h. ihre öffentlich-rechtliche Organisationsform »folgt … keinem staatlichen Kompetenzakt, sondern nur einem formalen Organisationsakt«122. Während nun 118 Scholz, Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 210 ff. 119 Scholz, a. a. O. 120 Vgl. von Mutius, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Artikel 19 Abs. 3 Rdnr. 78 ff. (Zweitbearbeitung von 1974); Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Anm. 1), Artikel 19 Abs. 3 Rdnr. 33 ff. (Kommentierung von 1977) sowie Bethge, Grundrechtsträgerschaft Juristischer Personen – Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –, in: AöR 104 (1979), S. 54 (86 ff.), 265 (280 ff.). 121 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Anm. 1), Artikel 5 Abs. 3 Rdnr. 131 ff. (Kommentierung von 1977); derselbe, Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 245 ff. Zum institutionellen Element der Rundfunkfreiheit ausführlich: G. Herrmann, Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (1975), S. 356 ff. Allgemein zur »grundrechtgeschützten Selbstverwaltung« von Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten: Bethge (Anm. 120), S. 282 ff. 122 Scholz, Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 244 f. (Hervorhebung dort!) und: derselbe, (Anm. 121) Artikel 5 Abs. 3 Rdnr. 132 f. mit Nachweisen.
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die kompetenzrechtliche Institutionsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung »ihren typischen Ausgangspunkt im Bereich der Grundrechtsausübung findet,« gilt das nicht für die organisationsrechtliche Institutionsgarantie, der ja nach dem Gesagten die Kirchen, Rundfunkanstalten und Hochschulen zuzurechnen sind. Denn sie bleibt ähnlich wie die (privatrechtliche) Institutsgarantie »im Verhältnis zum staatlich organisierten Freiheitsrecht bloße Komplementärgewährleistung«123. Darin ist folglich auch der rechtliche Gehalt des Artikel 137 Abs. 5 WRV zu sehen124. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Rechtsstatus der Kirchen und dem der Rundfunkanstalten und Universitäten liegt darin, dass die institutionellen Elemente der Rundfunk- und Wissenschaftsfreiheit in Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 und Artikel 5 Abs. 3 GG »hineingelesen« werden müssen, während die Kirchen in Artikel 137 WRV ausdrücklich eine entsprechende verfassungsrechtliche Garantie besitzen. Sie reicht darum auch, wie gerade an der in Artikel 137 Abs. 3 WRV garantierten kirchlichen Regelungsautonomie deutlich wird, weiter als die der Rundfunkanstalten und Universitäten. Entsprechend detaillierte Regelungen, wie sie Landesrundfunkgesetze (bzw. entsprechende Staatsverträge) und Hochschulgesetze der Länder über Aufgabe und Verfassung dieser Juristischen Personen enthalten, sind für die Kirchen eben wegen Artikel 137 Abs. 3 WRV undenkbar. Es macht den gegenüber Artikel 4 GG selbständigen Gehalt dieser Vorschrift aus, dass sie eine besondere Garantie für die Kirchen zur rechtlichen Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten enthält125. Gerade an der Vorschrift des Artikel 137 Abs. 3 WRV werden also die entscheidenden Unterschiede der kirchlichen Rechtsstellung gegenüber dem Rechtsstatus der Rundfunkanstalten und Universitäten einerseits, der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie andererseits deutlich. Artikel 137 Abs. 3 WRV bewirkt die grundsätzliche Trennung der Rechtssphären von Staat und Kirche. Er knüpft, wie Jurina richtig feststellt, »an die in der Religionsfreiheit und im Verfassungsprinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ausgesagte Scheidung der Sachzuständigkeiten von Staat und Kirche an und verselbständigt die Kirchen und Religionsgemeinschaften als rechtlich geordnete Gemeinschaften überall dort, wo dies um der religiösen Prägung der innerkirchlichen Rechtsordnung willen geboten ist«126. 123 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 247 (Hervorhebung dort!) und: (Anm. 121) Artikel 5 Abs. 3 Rdnr. 133. 124 So auch Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 245. 125 Vgl. dazu Jurina, Rechtsstatus (Anm. 70), S. 51 ff. und ergänzend seinen Diskussionsbeitrag in: Essener Gespräche 3 (1969), S. 179 f.; Hesse (Anm. 102), S. 411 ff. Aus der Rechtsprechung nunmehr : Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.2. 1981, in: JZ 1981, S. 531 (532). 126 Jurina, Rechtsstatus (Anm. 70), S. 166; vgl. auch Scheuner (Anm. 109, S. 14), der Arti-
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Beachtet man diesen zentralen Bedeutungsgehalt des Artikel 137 Abs. 3 WRV für die eigenständige Rechtsstellung der Kirchen und weiter den genannten Anknüpfungspunkt dieser Vorschrift, so wird die Berechtigung einer von den Gesetzesvorbehalten der Grundrechte und dem in Artikel 28 Abs. 2 GG enthaltenen gesetzlichen Regelungsvorbehalt losgelösten selbständigen Auslegung der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV vollends deutlich. Und weiter spricht dann einiges für die dazu vom Bundesverfassungsgericht vertretene Interpretation127. Die eigenständige, nicht vom Staat abgeleitete kirchliche Gewalt erstreckt sich ja auf den geistig-religiösen Bereich; hier liegt die vom Bundesverfassungsgericht angesprochene »Besonderheit der Kirche«, die zu der Folgerung berechtigt, dass zu dem »für alle geltenden Gesetz« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV nur ein solches zu rechnen ist, das auf die Kirchen wie auf den »Jedermann« einwirkt. Gesetze dagegen, die sie in ihrem geistig-religiösen Auftrag beschränken und sie damit härter als den normalen Adressaten treffen, können keine Schranke für die kirchliche Tätigkeit bilden128. Hermann Weber hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass mit dieser Definition der Schrankenklausel die Grenze kirchlicher Regelungsautonomie in den Begriff des für alle geltenden Gesetzes zurückverlegt würde129. Das ist richtig und, wie wir meinen, auch allein die wirkliche Alternative zur Abwägungsformel und der namentlich von Quaritsch und H. Weber vertretenen strengen Trennung zwischen einem gesetzesfesten Innenbereich der Kirchen und der uneingekel 137 Abs. 3 WRV »als Element der institutionellen Relation zwischen Staat und Kirche« versteht. Behält man den von Jurina genannten Anknüpfungspunkt im Auge, so wird man auch den Artikel 137 Abs. 5 WRV schwerlich als »Pionier eines Verbände-Verfassungsrechts« verstehen können (so aber besonders: Meyer-Teschendorf, Der Körperschaftsstatus der Kirchen, in: AöR 103 – 1978 -, S. 289 – 306 ff. – und derselbe, Staat und Kirche – Anm. 109 -, S. 119 ff.). Will man schon Parallelen zum weltlichen Recht ziehen, so sind für uns solche etwa in auffallender Weise zum Rechtsstatus der Landschaften in Niedersachsen vorhanden, die ja unter den besonderen Bestandschutz des Artikel 56 Abs. 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung fallen. Dieser Vergleich bedürfte dringend verfassungsrechtlicher Vertiefung, vgl. vorläufig: W. R. Reinicke, Landstände im Verfassungsstaat (1975), S. 235 ff. und A. Janssen, Zur Rechtsnatur und zum Aufgabenbereich der Ostfriesischen Landschaft, in: Emder Jahrbuch 49 (1969), S. 179 (182 f., 187, 191 ff.). 127 Vgl. das Zitat bei Anm. 112. 128 Wenn das Bundesverfassungsgericht (Bd. 42, S. 334) weiter solche Regelungen, die rechtlich nur mittelbar in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hineinreichen, von vornherein als eine »innere kirchliche Angelegenheit« betrachtet, so kann das als Versuch einer inhaltlichen Bestimmung dessen bewertet werden, was unabhängig von der Schrankenklausel in jedem Fall zur kirchlichen Regelungsautonomie zu rechnen ist. Grenzen dafür können sich darum nicht aus Gesetzen, sondern nur aus anderen Bestimmungen der Verfassung selbst ergeben. 129 H. Weber, Rechtsprobleme (Anm. 106), S. 356. Vgl. daneben W. Lorenz, Datenschutz im kirchlichen Bereich, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 15 (1981), S. 84 (98) und die Diskussionsbeiträge von Lorenz und Frank: a. a. 0., S, 128, 132 f., 137 f. sowie Leisner (Anm. 72), S. 481.
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schränkten Bindung ihres Handelns an das allgemeine Gesetz im Bereich der weltlichen Rechtsordnung130. Denn auf diese Weise wird einerseits der mit jeder Abwägungsformel einhergehenden Rechtsunsicherheit und den verfassungsystematischen Einwänden gegen die Übertragung dieser Formel auf Artikel 137 Abs. 3 WRV begegnet und zum anderen dem Bedenken Rechnung getragen, dass die scharfe Trennung zwischen innerkirchlichem Bereich und dem nach außen, in die Welt wirkenden Handeln der Kirchen häufig in der Sache Zusammengehöriges willkürlich auseinanderreißt. Das zeigt sich, wie wir meinen, gerade bei der Prüfung der Frage, ob das Tarifvertragsgesetz ein »für alle geltendes Gesetz« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV darstellt131. Die bereits dargelegten kirchenverfassungsrechtlichen Gründe, die gegen eine Verpflichtung der Kirchen zum Abschluss von Tarifverträgen und weiter gegen ein Streikrecht kirchlicher Dienstnehmer sprechen132, verdeutlichen hinreichend, dass sich die Argumente gegen eine solche Verpflichtung allein aus dem spezifischen Auftrag der Kirche, ihrer »Besonderheit« gegenüber dem »Jedermann« ergeben. Die Kirche würde also bei Anerkennung des Tarifvertragsgesetzes (und des richterlichen Arbeitskampfrechts) als verbindliche Schranke für ihre Regelungsautonomie eben in ihrem »geistig-religiösen Auftrag« beschränkt und damit anders als die »normalen Adressaten« von dieser gesetzlichen Regelung betroffen133. Nun ist zu der Interpretation der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV durch das Bundesverfassungsgericht kritisch bemerkt worden, dass damit letztlich »das kirchliche Recht selbst definieren (kann), wann die Kirche sich durch ein staatliches Gesetz härter oder nicht härter, anders oder nicht anders getroffen fühlt und damit ob das staatliche Gesetz für sie gilt«134. Diese Kritik würde aber nur dann greifen, wenn es in der Tat keinen verfassungsrechtlichen Maßstab für die Entscheidung der Frage, was zu den »eigenen Angelegenheiten« im Sinne von Artikel 137 Abs. 3 WRV zählt, geben würde. Das ist jedoch, wie 130 Vgl. die Nachweise in Anm. 108 und 109. 131 Ein weiteres Beispiel dafür, wie im Gegensatz zur allgemeinen Abwägungsformel die dargelegte Interpretation der Schrankenklausel durch das Bundesverfassungsgericht (Bd. 43, S. 333 f.) zu einer genaueren (und bisweilen auch gegensätzlichen) Begrenzung der kirchlichen Regelungsautonomie führt, stellt u. E. das Sondervotum des Richters Dr. Rottmann in BVerfGE 53, 408 (411 ff.) dar. Ähnliches Ergebnis auch bei Friesenhahn, Kirchliche Wohlfahrtspflege unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Adamovich/ Pernthaler (Hrsg.), Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit. Festschrift für Hans R. Klecatsky. Erster Teilband (1980), S. 247 (264 ff.). 132 Vgl. hier 5 b) und c) (= bei Anm. 69 ff.). 133 Gleiches Ergebnis bei: Grethlein/Spengler (Anm. 20), S. 13 in Verbindung mit S. 3 f.; Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 82 f.; Richardi, Das Betätigungsrecht der Koalitionen (Anm. 24), S. 887 f. u. a. 134 Schlaich, Der »Dritte Weg« (Anm. 2), S. 214; ähnlich Hollerbach, Staatskirchenrecht (Anm. 112), S. 238 f., vgl. auch 226 f., 245 f.
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besonders Jurina in Auseinandersetzung mit Hesse gezeigt hat135, der Fall. Den gesuchten Maßstab liefert der Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates136. Man wird dieser These um so eher zustimmen können, als der genannte Verfassungsgrundsatz ja nicht die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Kirche ausschließt. Denn es ist die ambivalente Bedeutung zu beachten, die das verfassungsrechtliche Prinzip der Neutralität besitzt: seine begrenzende Funktion einerseits, die notwendige inhaltliche Offenheit dieses Prinzips wie etwa seine Angewiesenheit auf ein bestimmtes Selbstverständnis der Kirchen andererseits137. An unserer Antwort auf die Frage nach der Verbindlichkeit des Tarifvertragsgesetzes für die Kirchen ändert sich durch diese ergänzende Klarstellung der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Interpretation der Schrankenklausel nichts. Denn die Zuordnung des kollektiven Arbeitsrechts zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV erfolgte ja auf Grund der Feststellung, dass der gesamte kirchliche Dienst zumindest in einem mittelbaren Zusammenhang zum geistig-religiösen Auftrag der Kirche steht138 ; sie tritt folglich mit einem (verfassungsrechtlichen) Neutralitätsverständnis, das den Staat »als Haus« versteht, »in dem jeder nach seiner Fasson leben kann«139, nicht in Widerspruch. b) Nun können sich aber nicht nur aus dem »für alle geltenden Gesetz« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV, sondern auch aus Bestimmungen der Verfassung selbst Grenzen für die rechtliche Freiheit der Kirchen ergeben140. Im 135 Jurina, Dienst- u. Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 23 ff. und derselbe, Rechtsstatus (Anm. 70), S. 59 ff. Ähnlich: Scheuner, System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 1 (Anm. 102), S. 5 (80 f.) und: derselbe, Begründung, Gestaltung und Grenzen kirchlicher Autonomie (Anm. 109), S. 19 f. mit weiteren Nachweisen sowie Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (Anm. 102), S. 60 ff. 136 Dazu mit Nachweisen Jurina, a. a. 0. Negiert man diesen Maßstab für die inhaltliche Begrenzung der kirchlichen Regelungsautonomie, dann kommt es, wie besonders deutlich das Beispiel der kirchlichen und staatlichen Bestimmungen über die Ehe zeigt, in den Fällen, in denen die gleiche Materie sowohl vom Staat wie von der Kirche geregelt wird, zu kaum lösbaren rechtlichen Konflikten. Dazu: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 26 f., 28 f., 119 f. und: Der Rechtsstatus (Anm. 70), S. 61 f. und S. 63 sowie der Diskussionsbeitrag von E.-W. Böckenförde, in: VVDStRL 26 (1968), S. 123 f. 137 Dazu grundlegend: Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (Anm. 78), für das Staatskirchenrecht besonders S. 202 ff., 210 ff. Ergänzend nun: Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche (Anm. 109), S. 145 ff.; E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat (1978), besonders S. 31 ff. und der Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Hollerbach (Staatskirchenrecht – Anm. 112 –, S. 234 f., 261 ff., 268 f.) 138 Vgl. hier bei Anm. 104 f. 139 So Böckenförde, Diskussionsbeitrag (Anm. 136), S. 124. Zum damit nur angedeuteten Neutralitätsverständnis zusammenfassend Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche (Anm. 109), S. 173 ff. 140 Solche Grenzen können nicht als Teil der Schrankenklausel des Artikel 137 Abs. 3 WRV verstanden werden: Vgl. Hesse (Anm. 102), S. 441 f. und D. Neumann, Zum Schrankenvorbehalt der Kirchenautonomie, in: Mayer-Maly/Richardi/Schambeck/Zöllner (Hrsg.),
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vorliegenden Zusammenhang ist dabei besonders an eine Einschränkung der kirchlichen Regelungsautonomie durch Artikel 9 Abs. 3 GG zu denken. Damit ist das Problem der Grundrechtsbindung der Kirchen angesprochen. Die herrschende Meinung leitet unabhängig von sonstigen divergierenden Ansichten zu diesem Fragenkreis einmütig eine direkte Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG aus dessen ausdrücklich geregelter (Artikel 9 Abs. 3 Satz 2) Drittwirkung ab141. Dabei wird von einem Teil der Literatur aber besonders betont, dass Artikel 9 Abs. 3 GG wiederum durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Artikel 137 Abs. 3 WRV) unmittelbar begrenzt werden kann, also auch insoweit eine »Abwägung« stattfinden muss142. Beachtet man nun, dass Hermann Weber etwa dagegen jede Grundrechtsbindung der Kirchen in ihrem internen Bereich ablehnt, eine uneingeschränkte Bindung an Artikel 9 Abs. 3 GG dagegen bejaht, wenn die Kirche »nach außen« tätig wird und sich der weltlichen Rechtsordnung bedient143, so zeigt sich hier der gleiche Interpretationsgegensatz wie bei der Deutung der Schrankenklausel in Artikel 137 Abs. 3 WRV. Auch in diesem Fall spricht nun der dargelegte besondere Rechtsstatus der Kirchen dafür, die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Auslegung des »für alle geltenden Gesetzes« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV zur Lösung der Frage nach dem Verbindlichkeitsgrad des Artikel 9 Abs. 3 GG für das Recht der kirchlichen Angestellten und Arbeiter heranzuziehen. Denn einmal wird damit dem Verfassungsgrundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Rechnung getragen; zum anderen berücksichtigt diese Formel auch, dass die Kirchen – namentlich durch ihre in Artikel 137 Abs. 3 WRV garantierte Regelungsautonomie – im Gegensatz zu den privatrechtlichen Juristischen Personen nur einer modifizierten Bindung an Artikel 9 Abs. 3 GG unterliegen. Eine von vornherein bestehende und nicht erst durch Abwägung herzustellende modifizierte Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG würde auch dem im Vergleich zu den gesellschaftlichen (privatrechtlichen) Verbänden »qualitativ anderen Verhältnis« der Kirchen zum Staat entsprechen144, für die der verfas-
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Arbeitsleben und Rechtspflege, Festschrift für Gerhard Müller (1981), S. 353 (363 f.) mit weiteren Nachweisen. Anders aber Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.2. 1981, in: JZ 1981, S. 531(532). Vgl. etwa K. Hesse: Grundrechtsbindung der Kirchen?, in: Schneider/Götz (Hrsg.), Im Dienst von Recht und Staat. Festschrift für Werner Weber zum 70. Geburtstag (1974), S. 447 (460, 462) und: derselbe (Anm. 102), S. 442; Rüfner, Die Geltung von Grundrechten im kirchlichen Bereich, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 7 (1972), S. 9 (20, 22 f.); H. Weber, Die Grundrechtsbindung der Kirchen, in: ZevKR 17 (1972), S. 386 (406); Kästner (Anm. 109), S. 720 und das soeben (Anm. 140) genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts a. a. 0. So vor allem Hesse: Grundrechtsbindung (Anm. 141), S. 462 und: Selbstbestimmungsrecht (Anm. 104), S. 442; ebenso Rüfner (Anm. 141), S. 21 f. und Kästner (Anm. 109), S. 720. H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 141), S. 406 und allgemein S. 394 ff., 404 ff. So, wie schon erwähnt (vgl. hier bei Anm. 116 f.), das Bundesverfassungsgericht im Zu-
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sungsrechtlich garantierte Körperschaftsstatus der Kirchen (Artikel 137 Abs. 5 WRV) und die damit verbundene öffentlich-rechtliche Struktur der kirchlichen Rechtsordnung adäquater Ausdruck sind145. Diese Position der Kirchen lässt im Grunde schon die Ansicht der herrschenden Meinung zweifelhaft erscheinen, dass gerade die in Artikel 9 Abs. 3 Satz 2 geregelte Drittwirkung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit eine entsprechende Grundrechtsbindung der Kirchen begründet. Denn wenn man die Verklammerung des kirchlichen Dienstrechts mit dem kirchlichen Auftrag, bzw. genauer : seine Komplementärfunktion im Hinblick auf diesen Auftrag anerkennt und weiter berücksichtigt, dass den Kirchen zur wirkungsvollen Erfüllung ihres Auftrags von Verfassungs wegen der öffentliche Körperschaftsstatus – und damit die Dienstherrenfähigkeit! – 146 verliehen wurde, so liegt die Folgerung nahe, dass die Anwendung des privatrechtlichen Arbeitsrechts auf die kirchlichen Dienstnehmer die Kirche nicht aus ihrer besonderen Bindung an den kirchlichen Auftrag herauslösen kann. Vor allem wegen ihres Körperschaftsstatus muss man vielmehr annehmen, dass zwischen der Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG und ihrer Bindung an die übrigen Grundrechte kein wesentlicher Unterschied besteht. Es gelten insofern für das Recht der Angestellten und Arbeiter im kirchlichen Dienst unter dem Vorbehalt des Artikel 137 Abs. 3 WRV ähnliche verfassungsrechtliche Grenzen wie im staatlichen Recht für das sogenannte Verwaltungsprivatrecht. Die damit betonte vorrangige Einbindung des privaten Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich in die sich aus dem Körperschaftsstatus der Kirchen ergebenden verfassungsrechtlichen Schranken würde auch mit der These Jurinas konform gehen, dass die kirchlichen Dienstverhältnisse der »Laien«, d. h. die der Arbeiter, Angestellten und Beamten (mit Ausnahme der Geistlichen) Rechtsverhältnisse des staatlichen Rechtskreises sind, die von der Kirche kraft ihrer nach staatlichem Recht bestehenden Rechtssubjektivität begründet werden147 Denn diese verfassungsrechtliche sammenhang mit der hier übernommenen Interpretation der Schrankenklausel (BVerf GE 43, 333). 145 Auf eine genauere Begründung dieser These, die wir bereits an anderer Stelle geliefert haben (vgl. Janssen, Historisch-kritische Theologie und evangelisches Kirchenrecht – Anm. 117 -, S. 43 ff.), muss hier verzichtet werden (vgl. aber auch hier Anm. 126). Insoweit ist auch die Kritik Friesenhahns (Diskussionsbeitrag in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 10 – 1976 -, S. 164) an der scharfen Trennung zwischen Artikel 137 Abs. 3 WRV und Artikel 137 Abs. 5 WRV zutreffend. Ähnliche Kritik bei Kästner (Anm. 109), S. 719 f. mit weiteren Nachweisen. 146 Dass die Dienstherrenfähigkeit der Kirche aus ihrem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus folgt, ist ganz herrschende Meinung. Vgl. dazu nur : J. Frank, Das Dienstrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Handbuch des Staatskirchenrechts (Anm. 102), Bd. 1, S. 669 (680 f.) und H. Weber, Rechtsprobleme (Anm. 106), S. 362 f. mit Nachweisen. 147 Jurina, Rechtsstatus (Anm. 70), S. 127 ff. in Verbindung mit S. 64 f. und S. 122.
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Einordnung des kirchlichen Dienstrechts ermöglicht es, dem staatlichen Verfassungsgeber die Kompetenz zur Bestimmung der Grundstruktur kirchlichen Dienstrechts zuzuerkennen. Das ist besonders durch die Vorschrift des Artikel 137 Abs. 5 WRV mit der damit verbundenen Dienstherrenfähigkeit der Kirchen geschehen. Dieses verfassungsrechtliche Sonderrecht der Kirchen schließt das für alle Juristischen Personen geltende Verfassungsrecht (Artikel 9 Abs. 3 GG) insoweit aus148. Die von den Kirchen getroffene Entscheidung für das private Arbeitsrecht dispensiert also nicht von den grundgesetzlichen Bindungen, denen auch das kirchliche Beamtenrecht – das Recht der Geistlichen ausgenommen – unterliegt149 ; sie kann umgekehrt aber auch keine zusätzlichen verfassungsrechtlichen Grenzen, die sonst für Arbeitsverhältnisse in der Privatwirtschaft gelten, begründen. Das Recht der Kirche, zwischen Beamtenrecht und Arbeitsrecht zu wählen, wird demnach nicht bestritten, wohl aber ihr Recht, sich durch die Wahl des privaten Arbeitsrechts ihrer besonderen verfassungsrechtlichen Bindungen zu begeben. Das kann, wie gesagt, mit dem Hinweis auf die Parallele des staatlichen Verwaltungsprivatrechts verdeutlicht werden150. 148 Diese These lehnt sich an die Ausführungen von Pestalozza (Formenmissbrauch des Staates, 1973, S. 170 ff.) zur »Wahl« des Staates zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht an. Das gleiche Ergebnis folgt aus der Ansicht Pirsons, daß mit der Gewährleistung der Eigenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Kirchen die Freistellung vom staatlichen Arbeitsrecht verbunden sei (vgl. Pirson, Kirchliches Recht in der weltlichen Rechtsordnung, in: Brunotte/Müller/Smend – Hrsg. -, Festschrift für Erich Ruppel zum 65. Geburtstag – 1968 -, S. 277 – 301 ff. -). Denn damit wird – implizite – Artikel 137 Abs. 5 WRV als Spezialvorschrift gegenüber Artikel 9 Abs. 3 GG anerkannt. 149 Zur Grundrechtsbindung insoweit differenzierend: Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht (Anm. 12), S. 99 ff. mit gutem Überblick über den Meinungsstand; daneben Frank, Das Dienstrecht der Kirchen (Anm. 146), S. 686 ff., vgl. auch S. 699 ff. zur eventuellen Bindung der Kirchen an Artikel 33 Abs. 5 GG. Zur – modifizierten – Bindung des kirchlichen Beamtenrechts an Artikel 33 Abs. 5 GG ausführlich: H. Weber, Rechtsprobleme (Anm. 106), S. 364 ff. 150 H. Weber weist auf die Dienstordnungsangestellten der Sozialversicherungsträger als Beleg dafür hin, dass die »Ämterverfassung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auch im weltlichen Bereich nicht ohne weiteres die Annahme, dass der Inhaber eines solchen Amtes in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen muss,« rechtfertige (Rechtsprobleme – Anm. 106 -, S. 370 mit Anm. 87). Gerade dieses Beispiel legt aber auch die entsprechende Anwendung unserer These, dass die Wahl des privaten Arbeitsrechts nicht von den grundgesetzlichen Bindungen dispensieren kann, denen das kirchliche Beamtenrecht (mit Ausnahme der Geistlichen) unterliegt, auf das weltliche Recht nahe (dazu noch genauer bei Anm. 174 ff., 181 ff., 228). Denn der privatrechtliche Charakter des für die Dienstordnungsangestellten der Sozialversicherungsträger geltenden Rechts besteht häufig allein darin, dass durch Vertragsschluss das jeweils geltende Beamtenrecht des betreffenden Bundeslandes praktisch in toto für anwendbar erklärt wird; vgl. z. B. die im Niedersächsischen Ministerialblatt 1973, S. 1118 ff. abgedruckte »Musterdienstordnung für dienstordnungsmäßige Krankenkassenangestellte – MDONdS –« und aus der Rechtsprechung zuletzt Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. 3. 1981, in DOV 1981, S. 678 f. Ein Vergleich des geltenden Rechts der kirchlichen Angestellten und Arbeiter mit dem der
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Erlaubt folglich schon der verfassungsrechtliche Status der Kirchen die Vermutung einer nur modifizierten kirchlichen Bindung an Artikel 9 Abs. 3 GG bei ihrer Anwendung des privaten Arbeitsrechts, so wird sie bestätigt durch die Grundstruktur des Artikel 9 Abs. 3 GG selbst. Der durch Artikel 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionszweck ist, wie insbesondere Scholz gezeigt hat151, inhaltlich primär durch Artikel 12 und Artikel 14 GG festgelegt. »Die Koalitionsfreiheit«, so führt er aus, »bildet ein besonderes Mittel zur Durchsetzung und Ausbildung der in diesen Rechten (sc.: der Artikel 12 und 14) angelegten und von diesen gedeckten (Individual-)Interessen. Das Grundrecht des Artikel 9 Abs. 3 GG steht daher mit diesen Grundrechten im Wirkungszusammenhang. Artikel 9 Abs. 3 GG ist Artikel 12, 14 GG gegenüber Ausübungsrecht«152. Diese Struktur des Artikel 9 Abs. 3 GG bestimmt natürlich auch seine Grenzen. Für die kirchlichen Dienstnehmer folgen diese insoweit vor allem aus Artikel 12 GG »als der maßgebenden Verfassungsgewährleistung … des arbeitnehmerischen Freiheitsstatus«153. Es ist also, was den Umfang der Grundrechtsberechtigung aus Artikel 9 Abs. 3 GG betrifft, »dem Tatbestandsmerkmal der ›Berufe‹ gemäß zu differenzieren«154. Damit zeigt sich auch hier : Aufgabe und Struktur des kirchlichen Dienstes allein, seine inhaltliche Ausrichtung am kirchlichen Auftrag setzen der Koalitionsfreiheit Grenzen155.
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kirchlichen Beamten, der hier aus Raumgründen unterbleiben muss, würde ebenfalls vielfältige inhaltliche Übereinstimmungen zutage fördern. Aus der Literatur vgl. hierzu die Referate von Frank und Jurina, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 10 (1976), S. 9 ff., S. 57 ff. sowie: Frank, Das Dienstrecht der Kirchen (Anm. 146), besonders S. 722 ff. Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 145 ff., 330 f. und: Kommentierung von Artikel 9 (Anm. 1) Rdnr. 3, 174 f., 178 f., 183, 192, 268 u. a. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 146 (Hervorhebung dort!); ähnlich: (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 192 (letzter Absatz). Scholz betont aber ausdrücklich, dass man Artikel 9 Abs. 3 GG nicht »als bloße Addition der Rechte aus Artikel 9 Abs. 1, 12, 14 GG« verstehen dürfe; die Koalitionsfreiheit ordne vielmehr »jene Rechte zu einem auch in materiell-rechtlicher Hinsicht eigenständigen Wirkungszusammenhang« und »verfasse« auch die »Berufs- und Eigentumsfreiheit inhaltlich, indem sie diese an eine spezifisch assoziationsrechtliche Ausübungsform« binde (Koalitionsfreiheit, S. 146 f.). Scholz, (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 178. Scholz, (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 352; daneben allgemein: Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 329 ff. Für das Kollektivgrundrecht der Koalitionsfreiheit, das hier ja in Betracht kommt und nach herrschender Meinung wie das Individualgrundrecht der positiven und negativen Koalitionsfreiheit direkt aus Artikel 9 Abs. 3 GG abgeleitet wird, ergibt sich die Forderung, auf die Struktur dieses Grundrechts für seine Inhalts- und Schrankenbestimmung abzustellen, dann besonders, wenn man entgegen der genannten herrschenden Meinung mit Scholz davon ausgeht, dass »das Kollektivgrundrecht … (sc.: des Artikel 9 Abs. 3 GG) erst nach Maßgabe des Artikel 19 Abs. 3« besteht; es sich »inhaltlich also an der individual-grundrechtlichen Basis« orientiert (Artikel 9 Rdnr. 240; ausführliche Begründung: Artikel 9 Rdnr. 21 ff. und: Koalitionsfreiheit, S. 69 ff., 135 ff.). Denn gemäß Artikel 19 Abs. 3 GG können die kirchlichen Mitarbeiter-Vereinigungen und Gewerkschaften ja nur insoweit
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Die vorstehenden Überlegungen rechtfertigen unseres Erachtens hinreichend die entsprechende Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Interpretation der Schrankenklausel auf das Problem kirchlicher Grundrechtsbindung. Die damit in unserem Zusammenhang zunächst zu prüfende Frage, ob die Kirchen in gleicher Weise wie ein normaler Arbeitgeber an Artikel 9 Abs. 3 GG gebunden sind oder ob das wegen ihres »geistig-religiösen« Auftrags abgelehnt werden muss, ist mit dem Hinweis auf die grundsätzlich modifizierte Bindung der Kirchen an diese Bestimmung schon beantwortet. Auch die Antwort auf die weitere Frage nach der verfassungsrechtlichen Verbindlichkeit des Tarifvertragsgesetzes und des Arbeitskampfrechts für die Kirchen ist praktisch schon gegeben. Denn es müssen insoweit die gleichen Argumente gelten, die gegen den Versuch sprachen, eine solche Verbindlichkeit aus der Schrankenklausel des Artikel 137 Abs. 3 WRV abzuleiten156. c) Nun liegt es aber nahe, zumindest dann eine besondere inhaltliche Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG zu postulieren, wenn sie selbst im Wege des Kirchengesetzes ein kollektives Verfahren zur Festlegung der allgemeinen Arbeitsbedingungen für ihre Dienstnehmer schaffen wollen. Lässt nun jedoch eine solche gesetzliche Regelung die Beziehung zum kirchlichen Auftrag deutlich erkennen157, so wird man diesem Postulat schwerlich zustimmen können. Denn entsprechende kirchliche Gesetze sind ja reine Verfahrensgesetze, die keine materielle Änderung des staatlichen Arbeitsrechts bewirken158. Das gilt zumindest für die geltenden Arbeitsrechtsregelungsgesetze. Ihr primäres Ziel ist es, zu gewährleisten, »dass das Handeln der kirchlichen Organe beim Abschluss von Arbeitsverträgen in sachlicher Beziehung zum besonderen Auftrag der Kirche verbleibt«159. Pirson hat aus dieser Zielsetzung der Arbeitsrechtsregelungsgesetze zu Recht gefolgert, dass sie »gar nicht in der Lage (sind), den Anwendungsbereich der staatlichen Rechtsordnung zurückzudrängen, weil die staatliche Rechtsordnung ihrerseits in solchen Angelegenheiten gar nicht normierend wirken kann«160. Diese These impliziert dann aber auch die Freistellung
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Träger von Grundrechten sein, als es mit dem »Wesen« des betreffenden Grundrechts – hier also mit dem »Wesen« des Artikel 9 Abs. 3 GG – vereinbar ist. Vgl. hier bei Anm. 132 f. und bei Anm. 138. Für das geltende Recht ist das der Fall, wie § 1 des EKD-Entwurfs und die Parallelen in den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der einzelnen Landeskirchen zeigen. Das wird zu Recht betont von Pirson, Kirchliches Arbeitsvertragsrecht (Anm. 27), S. 68. Pirson, a. a. O. Wie Anm. 158. Es besteht insoweit also ein »beziehungsloses Nebeneinander« von staatlichen und kirchlichen Rechtsvorschriften. Kirchliches Recht kann eben nur »insoweit Bestandteil der Rechtsordnung sein, die durch den Staat gewährleistet wird, soweit die kirchliche Rechtsordnung im staatlichen Recht als Rechtserzeugungsmöglichkeit vorgesehen ist und soweit das kirchliche Recht durch staatliche Rechtsanwendungsorgane angewendet und dabei gegebenenfalls unter Rückgriff auf die für das staatliche Recht verpflichtenden Auslegungsgrundsätze interpretiert werden kann« (Pirson, a. a. 0., S. 67,
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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der Kirchen von Artikel 9 Abs. 3 GG bei dem Erlass der Arbeitsrechtsregelungsgesetze. Ist das richtig, dann kann man weiter schwerlich, wie Schlaich es will, aus Artikel 9 Abs. 3 GG wegen des von dieser Vorschrift »intendiert(en) Verfahren(s) zur kollektiven Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen« das Gebot für die Kirchen herauslesen, wegen ihrer Ablehnung des Tarifvertragssystems einen Ersatz zu schaffen161. Eine solche Pflicht zur »Kompensation« für die Einschränkung der (kollektiven) Koalitionsfreiheit bestände nur, falls eine Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG bei Festlegung der kollektiven Arbeitsbedingungen für ihre Dienstnehmer zu bejahen wäre. Doch ist, wie wir sahen, weder das Tarifvertragssystem für sie verbindlich noch ergeben sich aus Artikel 9 Abs. 3 GG inhaltliche Direktiven für ein kirchliches Arbeitsrechtsregelungsgesetz. An eine »Kompensation« ist dagegen aus einem ganz anderen Grund zu denken: Wie schon bemerkt, muss auf Grund der verfassungsrechtlichen Rechtstellung der Kirchen, besonders auf Grund ihres Körperschaftsstatus, die Anwendung des privatrechtlichen Arbeitsrechts auf die kirchlichen Dienstnehmer als Ausnahme von der Regel, einem kirchlichen (öffentlich-rechtlichen) Dienstrecht betrachtet werden162. Wesentlicher Grundzug dieses Dienstrechts ist aber die (kirchen-)gesetzliche Festlegung der Rechte und Pflichten der kirchlichen Bediensteten, für die nach evangelischem Kirchenverfassungsrecht die Synode zuständig ist. Wird nun das Recht der Angestellten und Arbeiter im kirchlichen Dienst nicht durch gesetzliche Regelung, sondern nach Verhandlungen in der Arbeitsrechtlichen Kommission durch Beschluss bestimmt, so liegt aus kirchenverfassungsrechtlicher wie auch aus staatskirchenrechtlicher (Artikel 137 Abs. 3 und Abs. 5 WRV) Sicht der Schluss nahe, dass eine »Kompensation« in dem Sinne geboten ist, dass zumindest bei fehlender Einigung zwischen kirchlichem Dienstherrn und Arbeitnehmern ein (Letzt-)Entscheidungsrecht der Synode gewährleistet wird. Das würde unseres Erachtens, wie gesagt, auch der »Intention« der genannten Bestimmungen des Grundgesetzes entsprechen, womit die hier bereits an anderer Stelle vorgeschlagene Korrektur des »Dritten Weges«163 auch ihre verfassungsrechtliche Berechtigung besäße. Die mit den Arbeitsrechtsregelungsgegsetzen vollzogene Abweichung von dem (kirchen-)gesetzlichen Regelungsmodell erscheint allein deshalb gerechtfertigt, weil – auch für das weltliche Recht feststellbar164 – damit keine sozialen Nachteile
161 162 163 164
ähnlich S. 68). Beides ist nun bei den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen nicht der Fall. An anderer Stelle ist Pirson, wie schon bemerkt (siehe Anm. 148), noch einen Schritt weitergegangen und hat die These vertreten, dass das staatliche Arbeitsrecht grundsätzlich nicht auf kirchliche Dienstverhältnisse anwendbar sei. Schlaich, Der »Dritte Weg« (Anm. 2), S. 216 f. Vgl. bei Anm. 145 f. Vgl. bei Anm. 95 ff. Das betont zu Recht Pirson (Anm. 27), S. 69 f.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
für die kirchlichen Dienstnehmer verbunden sind. Vielmehr konnte die genaue Analyse des Dritten Weges« zeigen165, dass die Rechte der kirchlichen Angestellten und Arbeiter bei Abschluss der Dienstvertragsordnungen hinreichend gewahrt sind. d) Das Ergebnis unserer verfassungsrechtlichen Würdigung des »Dritten Weges« lautet demnach: Für die Kirchen besteht keine durch Artikel 9 Abs. 3 GG begründete Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen; aus dieser Vorschrift lassen sich auch keine inhaltlichen Direktiven für die Ausgestaltung des »Dritten Weges« ableiten. Eine verfassungsrechtliche Bindung folgt insoweit allein aus Artikel 137 Abs. 3 WRVund – besonders – aus Artikel 137 Abs. 5 WRV. Das stimmt mit dem Verständnis des kirchlichen Dienstrechts als Komplementärfunktion zum kirchlichen Auftrag überein und bedeutet konkret, dass die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze primär jenen verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegen, die auch dem kirchlichen Beamtenrecht – das Recht der Geistlichen ausgenommen – vorgegeben sind166.
III.
Die Ausstrahlungswirkung des »Dritten Weges« auf das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst
Dass der »Dritte Weg« der Kirchen »Ausstrahlungswirkung« auf den staatlichen öffentlichen Dienst haben könnte, diese Vermutung ist bereits von anderer Seite ausgesprochen worden167. Um eben diese Wirkung, nicht aber um eine vollständige Würdigung der Argumente für und gegen ein Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst geht es im Folgenden. Im Anschluss an die anfangs (2. und 3.)168 herausgearbeitete Fragestellung sind dabei zwei Probleme zu unterscheiden: Zum einen die Frage nach der Tauglichkeit des »Dritten Weges« als möglicher gesetzlicher Alternative zum geltenden Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst; zum anderen (und vor allem) die genauere Prüfung der These, dass – um noch einmal Isensee zu zitieren – die Tarifautonomie im öffentlichen Dienst anders als im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich »außerhalb des Grundrechtshorizonts (sc.: des Artikels 9 Abs. 3 GG) … im Bereich materieller Staatshoheit« zu orten ist169. Es erscheint 165 Vgl. 4. (= Anm. 30 ff.). 166 Nachweis zur diesbezüglichen Literatur in Anm. 149. 167 So etwa von Schlaich, Der »Dritte Weg« (Anm. 2), S. 218; ähnlich die Rezension des Buches von Jurina (Anm. 12) durch H. Maurer, in: DVB1 1979, S. 860 (861). Gegen jede »exemplarische Bedeutung« des »Dritten Weges« für das staatliche Recht ausdrücklich: Pirson (Anm. 27), S. 71. 168 = bei Anm. 13 ff. 169 Isensee, Der Tarifvertrag als Gewerkschaften-Staats-Vertrag (Anm. 2), S. 39.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
475
ratsam, sich zunächst genauer mit der zuletzt genannten These zu beschäftigen, da ja erst ihre Bejahung eine Erörterung des Problems erfordert, ob der »Dritte Weg« geeignet ist, die Anwendbarkeit des Tarifvertragsgesetzes auf die öffentlichen Dienstnehmer in Frage zu stellen.
8.
Folgerungen für die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im öffentlichen Dienst
Folgen wir bei der Überprüfung der These Isensees der verfassungsrechtlichen Würdigung des »Dritten Weges«, so ist zu beachten, dass sich die modifizierte Verbindlichkeit des Artikel 9 Abs. 3 GG für die Kirchen aus zwei Gründen ergab. Zum einen aus der verfassungsrechtlichen Stellung der Kirchen, zum anderen aus der Struktur des Artikel 9 Abs. 3 GG selbst: a) Was die Struktur des Artikel 9 Abs. 3 GG betrifft, so ist bei seiner Anwendung auf den öffentlichen Dienst zu berücksichtigen, dass hier nicht Artikel 12 GG als maßgebendes, den Koalitionszweck bestimmendes arbeitnehmerisches Freiheitsgrundrecht einschlägig ist170, sondern dieser Vorschrift die Bestimmungen des Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG als Spezialregelungen vorgehen171. Aus Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG können sich folglich Grenzen für die Koalitionsfreiheit im öffentlichen Dienst ergeben. Nun wird man einwenden, dass diese Vorschriften nur die Beamten betreffen172, auf Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst demnach gerade nicht Anwendung finden. Scholz will zumindest für das Streikrecht der Angestellten im öffentlichen Dienst dann eine Ausnahme machen, wenn sie Aufgaben wahrnehmen, die nach Artikel 33 Abs. 4 GG an sich Beamte zu erfüllen hätten. Er begründet diese Ansicht damit, daß »die besonderen Grundsätze des Berufsbeamtentums gemäß Artikel 33 Abs. 5 vor allem aus Gründen des Funktionsvorbehalts gemäß Artikel 33 Abs. 4«
170 Nachweise hier in Anm. 151 – 153. 171 Dazu genauer Scholz, (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 178, 378 f.; derselbe, Öffentlicher Dienst zwischen öffentlicher Amtsverfassung und privater Arbeitsverfassung?, in: Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat (1975), S. 179 ff., besonders S. 188 ff., 195 ff. und: Mitbestimmungsgesetz und Mitbestimmungsurteil im öffentlichen Dienst, in: ZBR 1980, S. 297 (298 f., 301) sowie das Gutachten von Schick, in: Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Bd. 5 (Verfassungsrechtliche Grenzen einer Reform des öffentlichen Dienstrechts) 1973, S. 171 (184 ff.). 172 Auch Artikel 33 Abs. 5 GG bezieht sich nach ganz herrschender Meinung nur auf Beamte, vgl. etwa Leisner, Der Beamte als Leistungsträger, in: derselbe (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat (1975), S. 121 (128) und die Gutachten von Forsthoff, von Münch, Schick, Ule und Mayer a. a. 0. (Anm. 171), S. 54 ff., 117 ff., 186 ff., 461 ff., 589 ff.; abweichend W. Thieme am gleichen Ort, S. 355 ff.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
beständen, darum müsste auch für Angestellte, die entsprechende Aufgaben wahrnehmen, ein »Arbeitskampfverbot analog Artikel 33 Abs. 5 gelten«173. Diese Begründung stellt auf einen Gesichtspunkt ab, der uns schon bei der Frage nach der Grundrechtsbindung des kirchlichen Dienstrechts begegnete: durch die Wahl der privatrechtlichen Form soll sich der öffentlich-rechtliche Dienstgeber nicht seiner besonderen verfassungsrechtlichen Bindungen (hier : Artikel 33 Abs. 5 GG) begeben können. Es ist also wiederum genau jener Gedanke, der für die staatliche Aufgabenwahrnehmung durch die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht, die ja verfassungsrechtliche Gründe besitzt174, entwickelt wurde175. Die Berechtigung, diesen Gedanken nicht auf die Form des Verwaltungshandelns zu beschränken, sondern gleichfalls auf das Dienstrecht des diese Aufgaben wahrnehmenden Personenkreises anzuwenden, folgt aus dem zwingenden Zusammenhang, der zwischen beiden besteht176. Die herrschende Lehre erkennt diesen Zusammenhang an und leugnet ihn zugleich. Sie erkennt ihn, wie schon zu Anfang bemerkt177, dadurch an, dass sie zumindest für das Arbeitskampfrecht der öffentlichen Dienstnehmer weitaus eher als in der Privatwirtschaft bereit ist, Beschränkungen aus Gemeinwohlbindungen bzw. der Sozialpflichtigkeit der Tarifparteien anzunehmen. Sie leugnet ihn aber letztlich deshalb, weil sie einmal insoweit bei der Auslegung des Artikel 33 Abs. 4 GG nicht konsequent verfährt; zum anderen, weil sie übersieht, dass unabhängig von Artikel 33 Abs. 4 und 5 GG bereits aus Struktur und Zweck der Staatsorganisation, wie sie sich aus verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes erschließen lässt, notwendige Grenzen der Koalitionsfreiheit für den gesamten öffentlichen Dienst folgen178. Dieser letzte Einwand soll ähnlich wie bei unserer 173 Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 379. Ähnlich Isensee, Beamtenstreik (Anm. 12), S. 80, 134 174 Dazu Leisner (Anm. 172), S. 141 f. Allgemein zur Lehre vom Verwaltungsprivatrecht besonders Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I (9. Aufl. 1974), S. 108 ff. (= § 23 II b) und: Errichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht (3. Aufl. 1978), S. 46 (= § 3 II 1), S. 258 ff. (= § 32), S. 243 ff. (= § 44 I). 175 Dieser Anknüpfungspunkt wird in anderem Zusammenhang angedeutet von L. Richter : »Gerechter Lohn« im öffentlichen Dienst, in: DÖV 1980, 229 (231 Anm. 12); vgl. daneben Scholz, Mitbestimmungsgesetz (Anm. 171), S. 298 f. 176 Dazu genauer Scholz, Öffentliche Amtsverfassung (Anm. 171), S. 195 ff. und: Mitbestimmungsgesetz (Anm. 171), S. 298 f. Vgl. daneben: Leisner (Anm. 172), S. 142 f.; Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 28 ff. und: von Münch, Gutachten (Anm. 172), S. 123, der zu Recht die Frage stellt, ob nicht aus den weitgehend öffentlich-rechtlichen Handlungsformen der Verwaltung eine Pflicht folgt, die Rechtsverhältnisse der in der Verwaltung Tätigen ebenfalls überwiegend öffentlich-rechtlich zu gestalten. 177 Vgl. die Nachweise in Anm. 4. 178 Es ist besonders das Verdienst von Isensee, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass sich ein Streikverbot für den gesamten öffentlichen Dienst nicht aus »berufsrechtlichen Kriterien« ergibt, sondern aus der demokratischen Entscheidungsstruktur des Staates: vgl. Beamtenstreik (Anm. 12), S. 76 ff., 108 ff., besonders: S. 107, 124 Anm. 3, 133 f. mit Anm. 3 und: Tarifvertrag (Anm. 2), S. 39. Diese Begründung für ein Streikverbot im öffentlichen
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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verfassungsrechtlichen Würdigung des »Dritten Weges«179 später gesondert behandelt werden. Hier bleibt damit zu fragen, welche Grenzen sich für die durch Artikel 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit der öffentlichen Dienstnehmer aus einer verfassungsrechtlich haltbaren Auslegung des Artikel 33 Abs. 4 GG ergeben. Der Streit geht insoweit darum, ob der – schlagwortartig gesprochen – gesamte Bereich der Daseinsvorsorge zu den »hoheitlichen Befugnissen« im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 GG zu zählen ist. Die wohl herrschende Meinung bejaht das mit dem zutreffenden Hinweis, dass der Staat heute in vielfältiger Hinsicht erst die wesentlichen Lebensvoraussetzungen für den Bürger schafft und die Ausübung der Staatsgewalt im Bereich der Daseinsvorsorge für den einzelnen darum zumindest die gleiche Bedeutung besitzt wie etwa in den klassischen Bereichen der Eingriffsverwaltung, die ja unbestritten von Artikel 33 Abs. 4 GG erfasst werden180. Es ist in der Tat eine seltsame Schizophrenie, wenn man einerseits die zunehmende Verflechtung zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung betont181, mit der Lehre vom Verwaltungsprivatrecht der privatrechtlich handelnden, jedoch öffentliche »Zwecke« verfolgenden Verwaltung die gleichen verfassungsrechtlichen Bindungen auferlegt wie der öffentlich-rechtlich handelnden oder bisweilen sogar aus dem Sozialstaatsgrundsatz bzw. aus den Grundrechten eine Pflicht zu gesetzgeberischem Tätigwerden im Bereich der Daseinsvorsorge ableitet etc.; andererseits aber zu den »hoheitlichen Befugnissen« im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 GG nur die staatlichen Funktionen zählt, zu deren Erfüllung obrigkeitliche Gewalt im Sinne einseitiger Regelungsbefugnis eingesetzt wird. Bejaht man darum die extensive Auslegung des Artikel 33 Abs. 4 GG, so muss man auch, was eben die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht impliziert, die Folgerung ziehen, dass der Staat auch in privatrechtlicher Form »hoheitliche Befugnisse« im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 wahrnimmt. Entscheidend für die Bejahung derartiger Befugnisse ist also allein der Verwaltungszweck. Leisner ist damit recht zu geben, wenn er schreibt: »Der Begriff der Leistungsverwaltung ist gerade deshalb entstanden, er hat sogar nur darin seinen Sinn, dass eben nicht alle Staatstätigkeit in privatrechtlichen Formen eo Dienst besitzt deshalb besondere Bedeutung, weil Artikel 20 Abs. 2 GG an der Unantastbarkeitsgarantie des Artikel 79 Abs. 3 GG teilnimmt. 179 Vgl. 7 b) (= Anm. 140 ff.). 180 Ausführliche Nachweise bei Leisner (Anm. 172), S. 122 ff. und W. Rudolf, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart in: VVDStRL 37 (1979), S. 175 (201 Anm. 151). Daneben aus neuerer Zeit zur Auslegung des Artikel 33 Abs. 4 GG: Stober, Öffentliches Dienstrecht und Gestaltungsfreiheit der Exekutive, in: JZ 1980, S. 249 (250 ff.); Wussow, Rechtsstaat und Funktionsvorbehalt, in: RiA 1980, S. 68 ff. und: Benndorf, Zur Bestimmung der »hoheitsrechtlichen Befugnisse« gemäß Artikel 33 Abs. 4 GG, in: DVBI 1981, S. 24 ff. 181 Vgl. etwa Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht (6. Aufl. 1980), S. 31 ff.; von Münch, in: Errichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht (3. Aufl. 1978), S. 22 ff. (= § 2 II 3).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
ipso bereits Fiskaltätigkeit ist und damit lediglich den für Staat und Private gleichmäßig geltenden Regeln des bürgerlichen Rechts unterworfen wäre. Leistungsverwaltung bleibt in erster Linie – Verwaltung. Sie legitimiert sich nicht primär durch Erwerbsstreben des Fiskus, sondern durch die originärstaatliche Aufgabe, Bedürfnissen Rechnung zu tragen, zu deren Befriedigung Private nicht in der Lage sind – jedenfalls nicht auf Dauer oder in unbedingter Sicherheit. Es ist deshalb unbestritten, dass ›Leistungsverwaltung‹ wesentlich durch den Zweck, durch ein Verwaltungsziel bestimmt ist, durch ein mehr oder weniger ›spezielles öffentliches Interesse‹, das jedenfalls darüber hinausgeht, nur erfolgreich am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen … Ein ›größerer Verwaltungsbegriff‹ wölbt sich also über der ›obrigkeitlichen‹ Eingriffs- und Leistungsverwaltung. Beide sind Ausprägungen staatlicher ›Hoheit‹ … Es gibt eben einen Begriff der ›Verwaltungshoheit‹, der sich von dem der obrigkeitlichen ›Zwangs-Hoheit‹ unterscheidet. Letzterer liegt der Abgrenzung der gerichtlichen Zuständigkeit zugrunde, ersterer ist organisationsrechtlicher Natur und bestimmt den Personaleinsatz nach Artikel 33 Abs. 4 GG. Der Leistungsverwaltungsbegriff hat keine prozessualen, er hat jedoch wichtige materiell- und organisationsrechtliche Folgen«182. Bei dieser Interpretation des Funktionsvorbehalts besitzt die wiedergegebene Ansicht von Scholz, dass Angestellte, die »hoheitliche Befugnisse« im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 GG wahrnehmen, auf Grund analoger Anwendung des Artikel 33 Abs. 5 GG nicht streiken dürfen, weitreichende Bedeutung. Sie lässt die Folgerung zu, dass der Staat zwar den Funktionsvorbehalt insoweit »unterlaufen« kann, als er derartige Aufgaben formal durch Angestellte wahrnehmen lässt, nicht aber das eigentliche materielle Anliegen des Artikel 33 Abs. 4 GG, die besonderen verfassungsrechtlichen Bindungen, denen der mit hoheitlichen Aufgaben betraute Personenkreis unterliegt. In dieser allgemeinen, über die Ansicht von Scholz hinausgehenden Folgerung liegt für uns die konsequente Anwendung der Lehre vom Verwaltungsprivatrecht auf das Recht des öffentlichen Dienstes. Diese Anwendung scheint gerechtfertigt. Denn es gilt auch hier die schon im Blick auf das kirchliche Dienstrecht entsprechend gezogene Folgerung, daß das für den öffentlichen Dienst geltende verfassungsrechtliche
182 Leisner (Anm. 172), S. 140 f. (der vorletzte Satz ist bei Leisner im Druck besonders hervorgehoben). Ergänzend: derselbe, Grundlagen des Berufsbeamtentums (1971), S. 47 ff. und: R. Scholz, in: Genscher u. a., Öffentlicher Dienst und Gesellschaft – eine Leistungsbilanz (1974), S. 170 (172 ff.). Die Unverzichtbarkeit der »Interessentheorie« für die Abgrenzung des öffentlichen Rechts vom Privatrecht in Zweifelsfällen ist ein indirekter Beleg für die Richtigkeit des von Leisner entwickelten »größeren Verwaltungsbegriffs«. Zu dieser Theorie besonders: Bachof, Über öffentliches Recht (1978), in: derselbe, Wege zum Rechtsstaat (1979), S. 359 (370 ff.).
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Sonderrecht das insoweit für alle geltende Verfassungsrecht (Artikel 9 Abs. 3 GG) – teilweise – ausschließt. Die Tatsache, dass der Staat vielfach Aufgaben der Daseinsvorsorge durch Angestellte (und Arbeiter) wahrnehmen lässt, hat ja auch faktisch häufig ihren Grund darin, dass ihm nicht immer genügend Beamte zur Verfügung standen, so dass er, um seinem Auftrag nachzukommen, gar keine andere Wahl hatte, als Angestellte mit hoheitlichen Befugnissen zu betrauen183. Diese demnach kaum zu umgehende Entwicklung ist nun teilweise durch die starke Angleichung des Rechts der öffentlichen Dienstnehmer, insbesondere das der Angestellten an das Beamtenrecht aufgefangen worden184. Neben dieser tarifvertraglichen Anpassung besinnt sich auch der Gesetzgeber, wie besonders deutlich die Personalvertretungsgesetze in Bund und Ländern zeigen185, auf die einheitliche Struktur des gesamten öffentlichen Dienstes. Das bereits angesprochene dualistische System des für die Angestellten und Arbeiter in der Privatwirtschaft geltenden Betriebsverfassungsgesetzes186, ist in diesen Gesetzen nicht im gleichen Maße ausgeprägt. Auch die Rechtsprechung folgt dieser Tendenz. Herausragendes Beispiel dafür ist die Statuierung einer besonderen politischen Treuepflicht für Angestellte, die hoheitliche Befugnisse ausüben187. Der Unterschied zur Treuepflicht der Beamten besteht nach dem Bundesarbeitsgericht allein darin, dass bei den Angestellten insoweit nach der von ihnen wahrgenommenen Tätigkeit differenziert werden muss, während der Staat »von allen Beamten, unabhängig von dem Amt, das ihnen übertragen werden soll, verlangen (sc.: darf), dass sie sich voll und ganz mit der freiheitlichen demokratischen rechts- und sozialstaatlichen Verfassung identifizieren und den Staat und seine Verfassung als einen positiven Wert annehmen, für den einzutreten es sich lohnt«188. Bemer183 Undifferenziert wie Schinkel (Arbeitskampf im öffentlichen Dienst, in: ZBR 1974, S. 282 – 288 -) von der eigenen (vermeidbaren) Schuld des Staates an dieser Personalsituation zu sprechen, halten wir angesichts der rasanten Zunahme der staatlichen Aufgaben in den vergangenen 50 Jahren für problematisch. 184 Gute Übersicht bei Otto (Anm. 2), S. 40 ff. (vgl. besonders den Hinweis auf § 69 BAT auf S, 42). Vgl. daneben F. Wagener, Der öffentlichen Dienst im Staat der Gegenwart (Mitbericht), in: VVDStRL 37 (1979), S. 215 (223 ff.). Zur Rechtslage der bei den Sozialversicherungsträgern tätigen Angestellten vgl. bereits Anm. 150. Tabellarisch erfasst sind die Parallelen in: DDB 12/1970, S. 223 f. Im Ergebnis hat sich damit eine »Mutation des arbeitsrechtlichen Tarifvertrags zum Surrogat des Beamtengesetzes« (Isensee, Der Tarifvertrag – Anm. 2 –, S. 35 f.) vollzogen. 185 Negative Beispiele für die Anpassung des Beamtenrechts an das Arbeitsrecht zeigt Kröger auf: Einwirkungen des Arbeitsrechts auf das Beamtenrecht, in: NJW 1975, S. 953 ff. 186 Vgl. bei Anm. 91. 187 Vgl. etwa BVerfGE 39, 334 (355 f.) und das Urteil des BAG vom 31.3. 1976 in: ZBR 1976, S. 306 (307 ff.) sowie die beiden Urteile des BAG vom 5.3. 1980, in: NJW 1981, S. 71 ff. und S. 73 (74). 188 BAG in: ZBR 1976, S. 307 f. und in: NJW 1981, S. 71, 74. Ganz ähnlich differenziert das Bundesarbeitsgericht hinsichtlich der Pflicht kirchlicher Arbeitnehmer, die wesentlichen
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kenswert an dieser Argumentation des Bundesarbeitsgerichts ist, dass für den Umfang der politischen Treuepflicht der Angestellten im öffentlichen Dienst letztlich auf den Inhalt ihrer jeweiligen Tätigkeit abgestellt wird. Denn die auf diese Weise vollzogene Differenzierung der Dienstpflichten stimmt in ihrer Begründungsweise mit der hier vertretenen Einschränkung der Koalitionsfreiheit für die Dienstnehmer durch Artikel 33 Abs. 4 GG (und die analoge Anwendung des Artikel 33 Abs. 5 GG) überein189. Im Ergebnis folgt so aus der Anwendung des Artikel 33 Abs. 4 GG auf alle Dienstnehmer, die hoheitliche Befugnisse im dargelegten Sinn ausüben, und seiner Verknüpfung mit Artikel 33 Abs. 5 GG (Scholz), dass dieser Personenkreis nicht streiken darf. Es gelten insoweit die gleichen Argumente, die gegen ein Streikrecht der Beamten aus Artikel 33 Abs. 5 GG abgeleitet werden190. Da, wie wir sahen, aus der Struktur des Artikel 9 Abs. 3 GG das Gebot folgt, bei der Schrankenziehung der Koalitionsfreiheit dem Tatbestandsmerkmal der Berufe gemäß zu differenzieren, ergibt sich als weiteres Ergebnis, dass das gegenwärtige Tarifvertragssystem im öffentlichen Dienst nicht unbedingt der aus Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG zu erschließenden Dienstverfassung, die aus den dargelegten Gründen ebenfalls für Dienstnehmer, die hoheitliche Befugnisse ausüben, gilt, entspricht; eine andere (privatrechtliche) Lösung also zumindest nicht im Gegensatz zur »Intention« der Verfassung stände. Wir kommen insoweit also zur gleichen rechtlichen Bewertung des Tarifvertragssystems im öffentlichen Dienst wie bei den kirchlichen Dienstnehmern und können auch zur näheren Begründung unserer These in vollem Umfang auf die Argumente verweisen, die wir aus kirchenverfassungsrechtlichen Gründen gegen Tarifverträge in der Kirche geltend machten191. Sie lassen sich auch hier aus der besonderen Struktur des öffentlichen Dienstes und der durch ihre Orientierung am Gemeinwohl begründeten Eigenart der staatlichen Aufgaben ableiten. Diesem Ergebnis entspricht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn dort mehrfach auf die Offenheit des Artikel 9 Abs. 3 GG bezüglich der durch die Koalitionsfreiheit geschützten Koalitionsmittel hingewiesen wird192. Artikel 9 Abs. 3
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Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche zu beachten, vgl. das Urteil des BAG vom 14. 10. 1980, in: NJW 1981, S. 1228 (1229). Für die Interpretation des Artikel 9 Abs. 3 GG wird das Gebot einer »funktionalen« Auslegung besonders betont von Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 163 mit Nachweisen. Vgl. dazu Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 377 f. mit Nachweisen. Eine noch stärkere Einschränkung des Streikrechts der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst auf Grund des Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG ließe sich mit dem Argument begründen, dass die mit hoheitlichen Befugnissen betrauten Beamten und Angestellten im Falle eines Streiks der Dienstnehmer vielfach ihre Aufgaben gar nicht wahrnehmen können, da es an Fahrern, Schreibkräften etc. fehlt. Muss in diesem Fall – so darf zumindest gefragt werden – nicht auch ein Streikverbot für das dringend benötigte Hilfspersonal gelten? Vgl. 5 a) und b) ( = bei Anm. 68 ff.). Vgl. schon bei Anm. 16. Besonders deutlich haben das die einschlägigen Ausführungen des
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GG enthält danach, was das Tarifvertragsgesetz betrifft, nur eine »relative Koalitionsmittelgarantie«193, anderweitige gesetzliche Lösungen sind also nicht ausgeschlossen194. Für die seit einiger Zeit so heftig geführte Debatte über Möglichkeiten und Grenzen einer Privatisierung staatlicher Aufgaben ergibt sich aus dem Gesagten eine Folgerung, die die Kritik von gewerkschaftlicher Seite an derartigen Bestrebungen glatt übersehen hat: Es muss im Interesse der Gewerkschaften liegen, immer wieder die Frage zu stellen, ob eine vom Staat beanspruchte Aufgabe tatsächlich als »Ausübung hoheitlicher Befugnisse« (Artikel 33 Abs. 4 GG) im dargelegten Sinne verstanden werden kann und – falls das nicht der Fall ist – auf ihre »Privatisierung« zu dringen, soweit sie direkt durch den Staat ausgeführt wird und in keinem zwingenden unmittelbaren Zusammenhang mit anderen echten »hoheitlichen« Aufgaben steht195. Denn eine solche Privatisierung hätte dann ja auch notwendig die uneingeschränkte Anwendung des (privaten) Arbeitsrechts auf die Arbeitnehmer der mit diesen Aufgaben betrauten Firmen und damit das Wirksamwerden der im Tarifvertragsgesetz und im Arbeitskampfrecht festgelegten weitgehenden Rechte der Gewerkschaften, auf die inhaltliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen, zur Folge. b) Das entscheidende Argument gegen eine uneingeschränkte Anwendung des Artikel 9 Abs. 3 GG auf die Kirchen ergab sich aus ihrer gegenüber den Verbänden, kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften und öffentlichrechtlichen Grundrechtsträgern besonderen Rechtsstellung, die ihren wesentlichen Grund in der grundrechtlich fundierten kirchlichen Regelungsautonomie (Artikel 137 Abs. 3 WRV) fand196. Die Körperschaftsgarantie (Artikel 137 Abs. 5 WRV) bewirkte bei dieser Betrachtung eine spezielle Freistellung des kirchlichen Dienstrechts von den Bindungen des Artikel 9 Abs. 3 GG und enthielt
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Bundesverfassungsgerichts im Mitbestimmungsurteil (BVerfGE 50, 290 – 368 ff. –) gezeigt, die jedoch an eine ältere Rechtsprechung insoweit anknüpfen konnten (Nachweise in der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts a. a. 0.). Zur Interpretation der einschlägigen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Mitbestimmungsurteil vgl. aus der Literatur : Pernthaler, Ist Mitbestimmung verfassungsrechtlich messbar? (1980), S. 100 ff.; Richardi, Die Bedeutung des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979 für die Arbeitsrechtsordnung, in: AöR 104 (1979), S. 546 (565 ff.); R. Schmidt, Das Mitbestimmungsgesetz auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: Der Staat , 19 (1980), S. 235 (256 ff.) u. a. Vgl. Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 30, 298 ff., 302 ff. Gute Darstellung dieses Verständnisses bei Isensee, Beamtenstreik (Anm. 12), S. 24 ff Richtig insoweit die Frage Isensees (Der Tarifvertrag – Anm. 2 -, S. 30), ob »derartige fiskalische Nebenfunktionen, die nicht von den legitimen Staatsfunktionen getragen werden, besser und ökonomischer in Privathand aufgehoben« wären. Ergänzend: derselbe, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht (1968), S. 289 und: Steuerstaat als Staatsform, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Festschrift für Hans-Peter Ipsen zum 70. Geburtstag (1977), S. 409 (432). Vgl. bei Anm. 115 ff.
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zugleich eine verfassungsrechtliche Vorgabe für die Ausgestaltung dieses Dienstrechts197. Folgen wir auch insoweit unserer verfassungsrechtlichen Würdigung des »Dritten Weges«, so lautet die Frage, ob sich aus der im Grundgesetz umschriebenen Grundstruktur des Staates weitere Grenzen für die Koalitionsfreiheit der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst ergeben. War es, wie gesagt, bei den Kirchen besonders ihre Regelungsautonomie, die im Wesentlichen die Freistellung von Artikel 9 Abs. 3 GG begründete, so gilt das nunmehr entsprechend für den Staat: Dem Willen der Verfassung, dass die wesentlichen Entscheidungen vom Parlament gefällt werden, vor allem den besonderen Bestimmungen der Artikel 109 ff. GG, die die Etathoheit des Parlaments statuieren, widerspricht die Lohnfestsetzung für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Angestellten und Arbeiter durch die Tarifparteien. Darauf wurde schon zu Anfang hingewiesen198. Dabei haben wir auch bereits festgestellt, dass wegen der mangelnden Waffengleichheit bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst dieser Verlust an parlamentarischer Steuerung nicht durch einen wirksamen Einfluss der parlamentarisch verantwortlichen Regierung auf eben diese Verhandlungen kompensiert werden kann. Ergänzend gelten auch hier unsere Überlegungen zur Unangemessenheit des Tarifvertragssystems für den kirchlichen Dienst in vollem Umfang199. Das Parlament muss also die ohne seinen Einfluss zustande gekommenen Lohnabschlüsse, die einen bedeutenden Teil des Haushalts ausmachen, als für die Haushaltsplanung verbindlich akzeptieren200. Eine wesentliche Ursache dafür, dass diese verfassungsrechtlichen Bedenken bisher von der herrschenden Lehre so wenig berücksichtigt wurden, scheint uns darin zu liegen, dass bis heute von Rechtsprechung und Literatur die selbständige Bedeutung der Artikel 109 ff. GG, die diese auch gegenüber den allgemeinen legislativen Kompetenzen des Parlaments besitzen, nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Denn erst eine solche Untersuchung, die hier nicht 197 Vgl. bei Anm. 144 ff. 198 Vgl. bei Anm. 10 ff. Ergänzend lässt sich auch noch Artikel 21 GG anführen: Wenn die Verbände gegenüber den politischen Parteien ein faktisches Übergewicht gewinnen, so steht das auch mit den Grundsätzen der parteistaatlichen Demokratie in Widerspruch, ähnlich: Scholz (Anm. 1), Artikel 9, Rdnr. 151. Diese parteistaatliche parlamentarische Demokratie artikuliert nach dem Willen des Grundgesetzes die Interessen der Allgemeinheit. Dagegen sind, wie Scholz richtig feststellt, »weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände Repräsentanten der Allgemeinheit bzw. berechtigt, ihr interessenpolitisches Funktionsmandat nach Belieben bzw. allein nach Maßgabe eigener Entscheidungsfindung zu definieren« (a. a. 0., Rdnr. 161, ähnlich Rdnr. 16 ff.). 199 Vgl. bei Anm. 77 ff. und ergänzend die Nachweise in Anm. 12. 200 Genauer zu diesen Vorgaben: Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz (Anm. 11), S. 250 f. Zur Notwendigkeit im Blick auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht seitens des Staates auf die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst mäßigend Einfluss zu nehmen, zuletzt: Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1981 (Anm. 10) Ziffer 24.
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geliefert werden kann201, vermöchte die mit der Übernahme des Tarifvertragssystems in den öffentlichen Dienst verbundenen demokratischen Bedenken in ihrer ganzen Tragweite deutlich werden zu lassen. Die hier nur kurz skizzierten Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des für die Dienstnehmer gegenwärtig geltenden Regelungsverfahrens können die Verbindlichkeit des Artikel 9 Abs. 3 GG für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst deshalb modifizieren, weil durch Artikel 9 Abs. 3 GG, wie schon bemerkt, kein bestimmtes Koalitionsmittel und damit auch nicht der Tarifvertrag verfassungsrechtlich garantiert ist. Gleiches muss auch für das von der Rechtsprechung entwickelte Arbeitskampfrecht gelten202. Dass das Tarifvertragssystem nicht das »funktionstypische« Koalitionsmittel – eben das will ja der Artikel 9 Abs. 3 GG garantieren203 – für die öffentlichen Dienstnehmer sein kann, folgt nun besonders aus den geschilderten demokratischen Bedenken wie auch aus unseren Ausführungen zu der durch Artikel 33 Abs. 4 und 5 GG geprägten Struktur der grundgesetzlichen Dienstverfassung. Dem Gesetzgeber sind aber nicht nur wegen der insoweit bestehenden Offenheit des Artikel 9 Abs. 3 GG weitgehende Gestaltungsbefugnisse gegeben, er kann vielmehr – und das ist der entscheidende Unterschied zu seinem durch Artikel 9 Abs. 3 GG beschränkten Einfluss auf das Arbeitsrecht in der Privatwirtschaft – grundsätzlich auch das Recht des gesamten öffentlichen Dienstes gesetzlich regeln. Das ergibt sich aus den Kompetenzbestimmungen der Artikel 73 Nr. 8 und 75 Nr. 1 GG. Der Verfassungsgeber ging zwar, wie weitere Bestimmungen des Grundgesetzes ebenfalls erkennen lassen (Artikel 85 Abs. 2 S. 2, 131, 132 Abs. 1 S. 2 und S. 3, 137 Abs. 1), von der überkommenen Zweiteilung des öffentlichen Dienstes in Beamte einerseits, Angestellte und Arbeiter andererseits aus; mit den genannten Kompetenzvorschriften wird dem Gesetzgeber aber – wie gesagt – die Befugnis zuerkannt, das Recht der Dienstnehmer wie das Beamtenrecht vollständig gesetzlich zu regeln. Nicht Artikel 9 Abs. 3 GG setzt dem Gesetzgeber insoweit eine Grenze, sondern das geschieht allenfalls durch die teilweise von der Literatur in Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG hineingelesene verfassungsrechtliche Garantie der Zweispurigkeit im öffentlichen Dienst204. Doch selbst wenn man dieser Mindermeinung zustimmt, verbleibt dem Ge201 202 203 204
Verfasser hofft, diese bald im Rahmen einer größeren Abhandlung vorlegen zu können. Vgl. auch Isensee, Der Tarifvertrag (Anm. 2), S. 32 f. Vgl. Scholz (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 298. So besonders von Münch, Gutachten (Anm. 172), S. 133 ff.; dagegen – zumindest was die einheitliche Verbeamtung aller Bediensteten betrifft – die Gutachten von Forsthoff (a. a. 0. – Anm. 172 –, S. 64 f.) und F. Mayer (a. a. 0., S. 630 ff.) sowie: Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (1973), S. 354; Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 37 f.
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setzgeber eine im Vergleich zum Arbeitsrecht der Privatwirtschaft weitergehende Einflussnahme auf das Recht der Dienstnehmer. Denn aus der Tatsache, dass die Kompetenznormen der Artikel 73 Nr. 8 und 75 Nr. 1 GG gesondert neben den Kompetenznormen des Artikel 74 Nr. 1 und Nr. 12 stehen, wonach die konkurrierende Gesetzgebung sich auf »das bürgerliche Recht« und »das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung …« erstreckt, muss gefolgert werden, dass hierin »die Anerkennung eines Sonderrechts der Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes liegt, mit der eine Gesetzgebung, die das Recht der Angestellten und Arbeiter allein nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen regelt, ohne den besonderen Erfordernissen des öffentlichen Dienstes Rechnung zu tragen, unvereinbar ist«205. Diese Sicht unterstreicht die Gleichbehandlung von Beamten und Angestellten in den schon genannten Vorschriften der Artikel 85 Abs. 2 S. 2, 132 Abs. 1 S. 2 und S. 3 sowie Artikel 137 Abs. 1 GG, und weiter spricht dafür auch die bereits getroffene Feststellung, dass das Tarifvertragssystem für die öffentlichen Dienstnehmer nicht verfassungsadäquat ist206. Das Grundgesetz geht also zumindest davon aus, so darf insoweit mit Forsthoff festgestellt werden, »dass das Recht des öffentlichen Dienstes in weiterem Sinne eine vom bürgerlichen Recht und Arbeitsrecht unterschiedliche und zu unterscheidende Materie ist, (es) statuiert mithin eine diesbezügliche Schranke und ein diesbezügliches Gebot (!) für die Gestaltung des Dienstrechts«207. Diese Begründung für die in Bezug auf das Recht der Dienstnehmer bestehende Gestaltungsfreiheit (und den Gestaltungsauftrag) des Gesetzgebers rechtfertigt die anfangs zitierte These Isensees, dass die Tarifautonomie des öffentlichen Dienstes »außerhalb des Grundrechtshorizonts … im Bereich materieller Staatshoheit« zu orten ist208. Sie ermöglicht damit zugleich, unabhängig von Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie (Artikel 20 Abs. 2 in Verbindung mit Artikel 109 ff. GG) die entscheidenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen Tarifverträge und ein Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst abzuleiten. Man wird darum Isensee auch darin zustimmen müssen: »Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der Beamtenstatus die staatsformgerechte Regel, der Vertragsbedienstetenstatus die Anomalie«209. Hieraus ergibt sich die entscheidende 205 So Forsthoff, Gutachten (Anm. 172), S. 120 f. im Anschluss an Ule. 206 Vgl. bei Anm. 191 f., 199, 202 f. 207 Forsthoff; Gutachten (Anm. 172), S. 121. Dieser Sicht entspricht auch, daß Artikel 9 Abs. 3 GG nicht als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips oder einer »Wirtschaftsdemokratie« verstanden werden kann: vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit (Anm. 58), S. 166 ff., 177, 386 und: (Anm. 1), Artikel 9 Rdnr. 17 und 271. 208 Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 39. 209 Isensee, a. a. 0., S. 37 mit dem zutreffenden Hinweis (a. a. 0.), dass die »kollektivvertragliche Ausübung von Staatsfunktionen … als anachronistisches Rechtsphänomen … dem Fi-
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Folgerung, dass entgegen Scholz nicht nur die Angestellten, die »hoheitliche Befugnisse« im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 GG ausüben, auf Grund analoger Anwendung des Artikel 33 Abs. 5 GG einem Streikverbot unterliegen210, sondern dass das gesamte Recht der Dienstnehmer durch die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie und den sich daraus ergebenden Folgerungen modifiziert wird211. Ähnlich wie bei den Kirchen hat man also auch für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst eine (weitgehende) Freistellung von Artikel 9 Abs. 3 GG anzunehmen. Hier wie dort ist es die verfassungsrechtlich verbürgte »Regelungsautonomie«, die diese Freistellung rechtfertigt. Ihre materielle Begründung findet sie – ebenfalls in gleicher Weise bei Staat und Kirche – in dem jeweiligen besonderen Auftrag, der zu seiner Realisierung ein entsprechendes Dienstrecht erfordert. Die Grenzen der jeweiligen Regelungsautonomie dürften darum auch die gleichen sein, d. h.: auch der Staat kann dann nicht für das Recht seiner Dienstnehmer eine Freistellung von Artikel 9 Abs. 3 GG verlangen, wenn er – um die Interpretation der Schrankenklausel des Artikel 137 Abs. 3 WRV durch das Bundesverfassungsgericht auch hier zu übernehmen212 – nicht in seiner »Besonderheit als Staat«, sondern wie der »Jedermann« von dieser Verfassungsbestimmung betroffen wird. Davon unabhängig gilt – auch das stellten wir ja für die Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG fest213 – entsprechend den Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts, dass der Staat den gleichen verfassungsrechtlichen Bindungen bei der Ausgestaltung des Rechts seiner Angestellten und Arbeiter unterliegt wie bei der gesetzlichen Regelung des Beamtenrechts.
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nanzmonopol oder der erwerbswirtschaftlichen Staatstätigkeit« vergleichbar sei. Dazu weiterführend: Isensee, Steuerstaat als Staatsform (Anm. 195), S. 431 f. Vgl. den Nachweis in Anm. 173. Scholz betont a. a. 0. ausdrücklich, dass dagegen Beamte, auch wenn sie »gerade keine Aufgabe im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 wahrnehmen«, wegen Artikel 33 Abs. 5 GG nicht streiken dürfen. Diese Folgerung ist nicht unbedingt zwingend (zur Gegenmeinung vgl. Isensee, Beamtenstreik – Anm. 12 -, S. 80, 101 ff.); vor allem versperrt sie augenscheinlich den Zugang zu der Erkenntnis, dass ein umfassendes Streikverbot für den öffentlichen Dienst unabhängig von Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes folgt. Die im Text wiedergegebene Ansicht von Scholz verträgt sich auch schlecht mit seiner an anderer Stelle (Öffentliche Amtsverfassung – Anm. 171 –, S. 197) geäußerten Auffassung, dass selbst bei einem Fortfall des Artikel 33 Abs. 4 GG »die (unveränderlichen) Vorbehalte des demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsprinzips und deren Votum für eine öffentliche Dienstverfassung als Teil der notwendig öffentlichen Amtsverfassung kaum zu umgehen« wären. So richtig Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 38. Eben diese Folgerung dient letztlich auch einem wirksamen Grundrechtschutz, da dieser nach dem Grundgesetz demokratisch verfasste öffentliche Gewalt voraussetzt, deren Übertragung auf nichtstaatliche Organe folglich eine Gefährdung dieses Schutzes bedeutet (so wiederum Isensee a. a. 0., S. 33). Vgl. zur entsprechenden Grenzziehung für die Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG unsere Ausführungen bei Anm. 112 ff. und bei Anm. 146 ff. Vgl. bei Am. 146 ff.
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c) Die Feststellung, dass die Tarifautonomie des öffentlichen Dienstes im Gegensatz zu der der Privatwirtschaft nicht durch Artikel 9 Abs. 3 GG grundrechtlich legitimiert ist und letztlich der demokratischen Entscheidungsstruktur des Staates widerspricht, begründet ein grundsätzliches Streikverbot für alle Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst. Denn ein Streik im öffentlichen Dienst führt wegen der mangelnden Waffengleichheit im Ergebnis zur Nötigung des Parlaments, indem dieses die von der Regierung ausgehandelten Tarifverträge bei seinen Haushaltsberatungen »ratifizieren« muss, und damit zur Missachtung des in seine Hand gelegten Gemeinwohls durch Gruppenmacht214. Nun sind zwar Tarifverträge ohne ein Streikrecht theoretisch denkbar und werden, wie im kirchlichen Bereich das Beispiel der Nordelbischen Landeskirche zeigt215, auch praktisch in Verbindung mit entsprechenden Schlichtungsabkommen abgeschlossen; doch wiesen wir bereits darauf hin, dass einmal wegen des kontradiktorischen Verfahrens der Tarifverhandlungen ein wirksames Tarifvertragssystem ohne die Anerkennung eines Streikrechts schwer vorstellbar ist216 und dass vor allem das Tarifvertragssystem ähnlich wie bei den Kirchen seiner gesamten Anlage nach nicht auf den öffentlichen Dienst passt217. Wie für den kirchlichen gilt darum auch für den öffentlichen Dienst, dass das dort praktizierte Tarifvertragssystem nicht verfassungsadäquat ist. Da nun aber, wie wir sahen, das Grundgesetz von dem Bestehen privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst ausgeht, bleibt die Frage, ob denn eine gesetzliche Alternative wie der »Dritte Weg« auf ähnliche verfassungsrechtliche Bedenken stoßen würde. Die Berechtigung des Staates, eine solche Regelung für seine Angestellten und Arbeiter an Stelle des Tarifvertragssystems zu schaffen, kann im Grunde nicht zweifelhaft sein. Denn es handelt sich ja, wie gezeigt, bei den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Kirchen um reine Verfahrensgesetze, die den Weg, der zum Abschluss der Dienstvertragsordnungen führt, im Einzelnen festlegen und aus dem Bemühen entstanden sind, der aus dem Auftrag der Kirchen sich ergebenden Eigenart des kirchlichen 214 Ähnliches Ergebnis bei Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 38; vgl. daneben die in Anm. 2 genannte Literatur und für das Streikrecht im öffentlichen Dienst in den USA die Ausführungen von Lözvisch/Schüren (Anm. 4), S. 293 f., 298. Die europäische Sozialcharta steht diesem Ergebnis, wie bisweilen angenommen, nicht entgegen. Dazu sei verwiesen auf die Argumentation von: Isensee, Beamtenstreik (Anm. 12), S. 31 f., 181; W Weber, Das Streikrecht der Beamten, in: Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat (1975), S. 199 (208 f.) und – modifizierend – : Ramm, Kollektives Arbeitsrecht und öffentlicher Dienst, in: JZ 1977, S. 737 (739 f.). Anderer Auffassung aber Otto (Anm. 2), S. 86. Neuere Literatur zu diesem Problem bei Söllner, Zur Zulässigkeit der Aussperrung nach geltendem Recht aus rechtsgeschichtlicher Sicht, in: RdA 1980, S. 14 (17 f.) 215 Abgedruckt in: EKD ABI. 1980, S. 104. Für die Literatur dazu vgl. die Nachweise in Anm. 28 und Anm. 87. 216 Vgl. bei Anm. 86 ff. Ergänzend: Isensee, Beamtenstreik (Anm. 12), S. 27 f. 217 Vgl. bei Anm. 191 f. und bei Anm. 199.
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Dienstes auch bei Gestaltung dieser Allgemeinen Arbeitsbedingungen Rechnung zu tragen218. Bereits die Tatsache, dass die gleichen Gründe gegen Tarifverträge im kirchlichen und staatlichen Bereich sprechen219, lässt die Annahme zu, dass auch nach alternativen gesetzlichen Lösungen, die der Eigenart des öffentlichen Dienstes gerecht werden220, gesucht werden muss. Es ist also ähnlich wie im kirchlichen Bereich hier gleichfalls die »Besonderheit« des Staates, die dies erfordert und die darum auch die Anwendung des »Dritten Weges« auf seine Dienstnehmer rechtfertigen würde; ein Verstoß gegen Artikel 9 Abs. 3 GG käme darum in diesem Fall grundsätzlich nicht in Betracht. Bei einer dem »Dritten Weg« entsprechenden gesetzlichen Regelung für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst müssten nun aber noch entschiedener als bei den Kirchen221 aus Artikel 20 Abs. 2, 109 ff. GG folgende verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Letztentscheidungsrecht des neutralen Schlichters beim Fehlen der erforderlichen Mehrheiten für den Erlass der Dienstvertragsordnung u. a. geltend gemacht werden. Die Regierung könnte als Arbeitgeber für ihre Verhandlungsführung in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss so lange wirksam parlamentarisch zur Verantwortung gezogen werden, wie sie nicht durch den neutralen Schlichter »überstimmt« wird, und das Parlament wird umgekehrt erst durch das Letztentscheidungsrecht des neutralen Schlichters zum »Ratifizierungsorgan« der letztlich von diesem beschlossenen Dienstvertragsordnung degradiert. Das Demokratiegebot des Grundgesetzes ist es also, dass bei einer dem »Dritten Weg« entsprechenden gesetzlichen Regelung für die Dienstnehmer ein Letztentscheidungsrecht des Parlaments im Falle fehlender Einigung in der Arbeitsrechtlichen Kommission bzw. im Schlichtungsausschuss fordert222. Gegen das geforderte Letztentscheidungsrecht des Parlaments könnten nun mit dem Hinweis auf die zunehmende Zahl der Abgeordneten, die aus dem öffentlichen Dienst kommen (Stichwort: »Verbeamtung der Parlamente«), Bedenken angemeldet werden, da diese Entwicklung die Gefahr in sich trägt, dass der genannte Personenkreis das Eigeninteresse an einer möglichst hohen Be218 Vgl. bei Anm. 157 ff. 219 Das gilt natürlich auch für den Hinweis auf den Angebotscharakter des Tarifvertragsgesetzes (vgl. bei Anm. 67). 220 Näher dazu noch im folgenden Punkt (9.) bei Anm. 240 ff. 221 Vgl. dazu bei Anm. 95 ff. 222 Papier (Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 105 Anm. 62) bemerkt schon zum geltenden Recht der Dienstnehmer, dass »wegen der Stellung des Parlaments als Organ der Staatsleitung … die … Frage gestellt werden (müsste), ob nicht eine parlamentarische Bestätigung derartiger, das Budgetrecht entscheidend begrenzender Tarifverträge nach der Verfassung erforderlich ist«. Eine – versteckte – Anerkennung dieser Forderung findet sich in § 40 Abs. 2 der Niedersächsischen Landeshaushaltsordnung vom 7. April 1972 (Nieders. GVBl. S. 181).
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zahlung, günstiger Urlaubsregelung etc. über das Interesse der Allgemeinheit stellt und es damit nicht auf Grund der parlamentarischen Beratungen zu einem wirklichen Ausgleich der divergierenden Interessen kommt223. Abgesehen davon, dass das gleiche Argument gegen das verfassungsrechtlich garantierte (Artikel 33 Abs. 5 GG) gesetzliche Regelungsverfahren des Beamtenrechts gelten müsste, bietet – wie Schlaich gezeigt hat224 – Artikel 137 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber die Möglichkeit, bei tatsächlichem Vorliegen dieser Gefahr für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes Wählbarkeitsbeschränkungen einzuführen. Auch das umgekehrte Argument, dass ein Letztentscheidungsrecht des Parlaments die Dienstnehmer praktisch schutzlos stellt und etwa die Möglichkeit eröffnet, ihre Gehälter aus rein fiskalischen Gründen herabzusetzen, kann nicht gelten. Es würde die vielfältigen verfassungsrechtlichen Bindungen übersehen, denen der Gesetzgeber insoweit unterliegt225. Es bestehen demnach im Ergebnis keine durchschlagenden verfassungsrechtlichen Argumente gegen eine dem »Dritten Weg« entsprechende gesetzliche Regelung für die Dienstnehmer. Eine Bindung folgt für den staatlichen Gesetzgeber aus Artikel 9 Abs. 3 GG bei Ablehnung des Tarifvertragssystems allein insofern, als er anders als die Kirchen226 ein »funktionstypisches Koalitionsmittel« (Scholz) zur Verfügung stellen muss. Denn die »Besonderheit« des Staates und die dem Beamtenrecht ähnlichen verfassungsrechtlichen Bindungen, die für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gelten, schließen für das Parlament, falls es sich für eine privatrechtliche Lösung entscheidet, die Möglichkeit nicht aus, ein von Artikel 9 Abs. 3 GG intendiertes Verfahren zur kollektiven Regelung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen zu schaffen. Insoweit unterliegt der staatliche Gesetzgeber unseres Erachtens durch die Wahl der Rechtsform einem Formenzwang, der durch Artikel 9 Abs. 3 GG ausgelöst wird. Der »Dritte Weg« ist, was in folgenden (siehe 9.) noch genauer zu zeigen sein wird, ein Beispiel dafür, 223 Zu dieser Rolle des Parlaments bei der Gestaltung des für den öffentlichen Dienst geltenden Rechts prägnant: Bericht der Studienkommission (Anm. 204), S. 345 ff. 224 Wählbarkeitsbeschränkungen für Beamte nach Artikel 137 Abs. 1 GG und die Verantwortung des Gesetzgebers für die Zusammensetzung der Parlamente, in: AöR 105 (1980), S. 189 ff., besonders S. 230 ff. 225 Dazu zuletzt genauer : Summer/Rometsch, Alimentationsprinzip gestern und heute, in: ZBR 1981, S. 1 (12 ff., 19); vgl. daneben auch Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 42 f., der insofern richtig auf die Vorteile der Beamten im gegenwärtigen Recht gegenüber den Dienstnehmern verweist. Daneben ist zu beachten, dass nach einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft 39 % der Abgeordneten des neunten Deutschen Bundestages Angehörige des öffentlichen Dienstes sind, die einer Gewerkschaft oder dem Deutschen Beamtenbund angehören (vgl. Bericht der FAZ vom 24.4. 1981, S. 6). Bei einer solch wirksamen Interessenvertretung des öffentlichen Dienstes im Parlament durch die Berufsverbände sind Entscheidungen des Bundestages, die den gegenwärtigen Besitzstand der Beamten und Dienstnehmer gefährden, auch deshalb z. Zt. kaum vorstellbar. 226 Vgl. bei Anm. 160 f.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
489
wie den damit umschriebenen verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein alternatives Regelungsmodell für die Dienstnehmer Rechnung getragen werden kann. Bei einer Entscheidung des Staates für den »Dritten Weg« würde sich auch noch deutlicher zeigen, was sich schon wegen der erwähnten vielfachen tatsächlichen Angleichung des Rechts der Dienstnehmer an das Beamtenrecht (und umgekehrt) für den gegenwärtigen Rechtsstatus der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst behaupten lässt227: dass es sich bei diesem Recht nicht um ein reines Beamtenrecht, aber auch nicht um reines privates Arbeitsrecht handelt, sondern um ein Recht, dass »zwischen« diesen beiden Polen steht. Es ist eine dienstrechtliche Entsprechung zum Verwaltungsprivatrecht. Allerdings besitzt die Feststellung, dass das Recht der Dienstnehmer ein »Zwischenrecht« darstellt228, als solche nur geringen juristischen Erkenntniswert, wenn es nicht gelingt, die diesem Recht gemeinsamen Strukturen begrifflich zu erfassen. Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung kann unseres Erachtens – und das sei hier abschließend nur noch angedeutet – besonders der zuerst von Otto von Gierke jenseits der Unterscheidung von öffentlichem und privaten Recht entwickelte Begriff des Sozialrechts sein229, der in der Folgezeit längst nicht das Interesse gefunden hat, was er verdient hätte230. Gerade weil das Sozialrecht eine dem privaten wie dem öffentlichen Recht gemeinsame Kategorie ist, und weil es, wie Gierke sagt231, eine »Brücke« vom Privatrecht zum öffentlichen Recht schlägt, vermöchte der Nachweis von sozialrechtlichen Strukturen in der Privatrechtsordnung auch einen wesentlichen Ansatzpunkt für die Diskussion über die Grenzen der Streikfreiheit in der Privatwirtschaft zu bieten, der über die bisherigen Erörterungen zu dieser Frage232 hinausführen könnte233. 227 Vgl. bei Anm. 184 ff. 228 So im Ergebnis besonders Otto (Anm. 2), S. 98 ff. im Anschluss an Wacke. 229 Dazu näher unter Herausarbeitung des Unterschieds zu Gierkes Forderung nach einem »sozialen« Recht die Arbeiten von A. Janssen: (1) Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft (1974), S. 64 ff., 157 ff., 202 f.; (2) Otto von Gierkes sozialer Eigentumsbegriff, in: Quaderni Fiorentini 5/6 (1976/77), S. 549 ff., besonders: 550 ff., 562 f., 568 ff., 578; (3) Rezension in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (1980), S. 110 ff. 230 Weiterführende Überlegungen in dieser Richtung finden sich vor allem in dem Buch von Meyer-Cording, a. a. O., (Anm. 66). Erwähnenswert in diesem Zusammenhang auch, obwohl von anderen Ausgangspunkten ausgehend: Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht (1968), S. 68 ff., 100 f., 106 f. Vor allem das Gesellschafts- und Verbandsrecht könnte u. E. aus der genaueren begrifflichen Entwicklung des Sozialrechts vielfältigen Gewinn ziehen. 231 0. v. Gierke, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht (1889), S. 88. 232 Vgl. dazu Scholz, (Anm. 1) Artikel 9 Rdnr. 318 f. und Seiter (Anm. 4), S. 513 ff. mit Nach-
490 9.
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Der »Dritte Weg« als alternatives Regelungsmodell zum Tarifvertrgssystem im öffentlichen Dienst
Es bleibt nun noch zu klären, inwieweit die geltenden Arbeitsrechtsregelungsgesetze der Kirchen in ihrer konkreten Ausgestaltung dem Staat als Regelungsmodell für das Recht seiner Angestellten und Arbeiter dienen können Was zunächst die Argumente betrifft, die bezüglich einer wirksamen Interessenvertretung der Arbeitnehmer gegen den »Dritten Weg« und für Tarifverträge vorgetragen werden, so sind wir darauf bereits hinreichend bei der Würdigung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze eingegangen234. Gleiches gilt für den Hinweis auf die angeblich allein dem Tarifvertrag zukommende normative Wirkung und seine damit verbundene Ordnungsfunktion235. Hervorgehoben sei hier nur noch einmal besonders, dass bei entsprechender Ausgestaltung des »Dritten Weges« ein wirksamer Einfluss der Gewerkschaften auf die Festsetzung der Dienstvertragsordnungen sichergestellt ist, und dass es weiter nicht nur im Wege der Tarifverhandlungen, sondern gleichfalls durch Verhandlungen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss zu einer wirklichen Austragung der Interessengegensätze und damit auch zu einem echten Interessenausgleich kommt236. Von den vorgeschlagenen Modifikationen zum »Dritten Weg« (siehe 6.) müsste, wie wir bereits sahen, die Kritik an dem Letztentscheidungsrecht des Schlichters aus verfassungsrechtlichen Gründen auch bei Anwendung dieses Regelungsmodells auf die Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes gelten; das Letztentscheidungsrecht bei fehlender Einigung in der Arbeitsrechtlichen Kommission bzw. im Schlichtungsausschuss kommt darum dem Parlament zu237. Auch der gegen den »Dritten Weg« vorgetragene Einwand, dass er keine vollständige Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss gewährleiste und damit
233
234 235 236 237
weisen. Weitergehende verfassungsrechtliche Grenzen – insbesondere aus Artikel 109 Abs. 2 GG – für ein Streikrecht der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft werden von der Literatur ebenfalls diskutiert, vgl. die Nachweise in Anm. 10. Fruchtbar wäre dabei sicherlich die Anknüpfung an Überlegungen zum eventuellen Sonderrecht (besondere Treuepflichten) in Tendenzarbeitsverhältnissen, vgl. etwa Rüthers, Tendenzschutz und Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: NJW 1978, S. 2066 ff. Einschränkungen der Streikfreiheit wären hier eventuell durch verbindliche Schlichtungsabkommen möglich. Zu einer solchen Alternative: Löwisch (Anm. 14) und die Überlegungen von G. Müller und Dietz zum »Dritten Weg« (Anm. 3) sowie die Schlichtungsvereinbarung der Nordelbischen Kirche (Nachweis in Anm. 215). Zu dieser zuletzt genannten Vereinbarung besonders Rothländer, Tarifverträge mit der Nordelbischen Kirche (Anm. 28), S. 262 f. Vgl. 4 a) (= bei Anm. 30 ff.) Vgl. 4 b) (= bei Anm. 52 ff.) Zu diesem letzten Punkt vgl. die Ausführungen bei Anm. 46 ff. Vgl. bei Anm. 221.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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die materielle Legitimation für die kraft Gesetzes eintretende Rechtswirkung fehle, nach der die beschlossenen Dienstvertragsordnungen für alle kirchlichen Dienstnehmer gelten238, bestände bei seiner Übertragung auf den öffentlichen Dienst gleichfalls zu Recht. Die in einigen Arbeitsrechtsregelungsgesetzen der Kirchen enthaltenen Ansätze zur Beseitigung dieses Mangels239 müssten darum für ein weltliches Arbeitsrechtsregelungsgesetz konsequent weitergedacht werden. Der Grund dafür, dass sich der »Dritte Weg« der Kirchen unter Berücksichtigung der vorgetragenen Modifikationen im Ergebnis damit als echte Alternative zum geltenden Tarifvertragssystem im öffentlichen Dienst erweist, liegt letztlich in der auch im öffentlichen Dienst bestehenden und ihn prägenden Dienstgemeinschaft zwischen allen Beschäftigten. Ob das in gleicher Weise wie im kirchlichen Dienst der Fall ist240, mag dahinstehen. Es kann jedoch, wie Nikisch für das Personalvertretungsrecht richtig bemerkt, für das Verhältnis der Beschäftigten untereinander nicht ohne Einfluss sein, »dass es hier, von der obersten Spitze abgesehen, eigentlich nur Bedienstete, wenn auch von verschiedenem Range gibt«241. Ein Beweis dafür, dass dieses grundlegende, mit dem kirchlichen Dienst gemeinsame Strukturmerkmal des öffentlichen Dienstes hier nicht herbeigeredet wird, scheinen uns eben die zwischen dem in der Privatwirtschaft geltenden Betriebsverfassungsgesetz und dem Personalvertretungsrecht des öffentlichen Dienstes bestehenden Unterschiede zu sein. Sie zeigen, dass der Gesetzgeber an den verfassungsrechtlich vorgegebenen Differenzen zwischen Dienstverfassung und privater Arbeitsverfassung nicht vorbeikann242. Die Erörterung der bisweilen aufgeworfenen Frage nach einer (entsprechenden) Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 auf Unternehmen der öffentlichen Hand, die in der Rechtsform einer privat-rechtlichen Kapitalgesellschaft betrieben werden, könnte als weiteres Beispiel für die Erkenntnis der vom Grundgesetz zwingend vorgegebenen Strukturmerkmale des öffentlichen Dienstes dienen243. 238 239 240 241 242
Vgl. bei Anm. 93 f. Vgl. dazu ausführlich Anm. 94. Vgl. dazu bei Anm. 70 ff. So Nikisch, Arbeitsrecht, 3. Bd. (2. Aufl. 1966), S. 26. Dazu besonders BVerfGE 19, 303 (321 f.). Vgl. ergänzend auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.2. 1981, in JZ 1981, S. 531 (533), wo vom »streng dualistische(n) System des Betriebsverfassungsgesetzes« gesprochen wird. 243 Ausführlich erörtert wird das genannte Problem von Scholz: Mitbestimmungsgesetz (Anm. 171), S. 297 ff.; vgl. ergänzend auch Isensee, Tarifvertrag (Anm. 2), S. 33 Anm. 22. Die daneben bestehende Arbeitnehmerstellung aller öffentlichen Bediensteten ist natürlich nicht zu übersehen. Sie verbietet aber nicht, auf die dennoch erkennbaren Unterschiede zur Rechtsstellung der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft als Begründung für die unterschiedliche verfassungsrechtliche Behandlung aufmerksam zu machen (vgl. auch schon Anm. 85).
492
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Der »Dritte Weg« ist natürlich, das bleibt abschließend zu betonen, eine der möglichen gesetzlichen Alternativen zum Tarifvertragssystem. Ein ähnliches Modell hat Ramm entworfen244, ein weiteres ist in Ansätzen im Heimarbeitergesetz245 vorhanden etc. Bei einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Lösung für den gesamten öffentlichen Dienst ließen sich sachlich gebotene Modifikationen durch verwaltungsrechtlichen Vertrag regeln246. Das Verständnis des Rechts der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht kann insoweit als Beispiel dafür dienen, wie stark das öffentliche und private Recht im verwaltungsrechtlichen Vertrag eine Symbiose eingegangen sind247. Die wesentliche Ausstrahlungswirkung des »Dritten Weges« auf das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst besteht darum unseres Erachtens auch primär darin, dass er der insoweit scheinbar festgefahrenen Diskussion neue Impulse gibt.
IV.
Der »Dritte Weg« als Beispiel für die exemplarische Bedeutung des Kirchenrechts
10.
Die dreifache Bedeutung des Kirchenrechts für das weltliche öffentliche Recht
Neben dieser unmittelbaren Nutzanwendung des »Dritten Weges« auf das Recht der Dienstnehmer vermag er aber auch – und das war die weitergehende Absicht der vorstehenden Ausführungen – die Rede von der »exemplarischen Bedeutung 244 Ramm, (Anm. 214), S. 737 ff. 245 Vgl. besonders §§ 4, 19 des genannten Gesetzes und die §§ 12 ff. der Ersten Rechtsverordnung zur Durchführung des Heimarbeitergesetzes vom 26. 11. 1976 (BGBl. I, S. 222). Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 34, 307 (315 ff.) zu § 19 HAG. Hinzuweisen ist auch auf die Modelle im geltenden Schlichtungsrecht (dazu besonders: Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. II/1, 7. Aufl. 1967, S. 722 ff. – Rechtsquellen: S. 744 ff.; weitere Literaturangaben bei Schaub – Anm. 53 -, S. 911 Anm. 1) und die möglichen Alternativen, die sich besonders in der jüngsten Entwicklung des Dienstrechts in den USA abzeichnen, vgl. dazu: Löwisch/Schüren (Anm. 4). 246 Vgl. dazu Bericht der Studienkommission (Anm. 204), S. 355 f. Ähnlich für ein am Beamtenrecht orientiertes einheitliches Dienstrecht auch: Quaritsch, in: Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages 1970, Bd. 2 (Sitzungsberichte) S. 0 34 (0 52 f.). Einen einheitlichen öffentlichrechtlichen Dienstvertrag und – für die Fälle, dass die Verhandlungen über Besoldungsfragen scheitern – die Einrichtung einer Schlichtungsstelle, die nicht nur Empfehlungen ausspricht, sondern verbindliche Entscheidungen treffen kann, fordert dagegen F. Schäfer am gleichen Ort (S. 0 17 f., 0 28 f.) 247 Dazu eindrucksvoll: W Henke, Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht (1979). Zu dieser Entwicklung im Recht des verwaltungsrechtlichen Vertrages allgemein schon: Bullinger (Anm. 230), S. 82 ff.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
493
des Kirchenrechts« für das weltliche Recht248 zu präzisieren. Sie lassen dazu, wie wir meinen, drei Feststellungen zu: Zunächst kann die Existenz des »Dritten Weges« der Kirchen den Staat an seinen (rechts-)politischen Auftrag erinnern, gesetzliche Regelungen, falls erforderlich, auch gegen den Widerstand einzelner Interessengruppen durchzusetzen. Daneben zeigt seine dogmatische Bedeutung für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst, dass das weltliche Recht auch aus dem gegenwärtigen Kirchenrecht lernen kann – sein Interesse sich also insoweit nicht nur wie etwa beim historischen Römischen Recht auf die mögliche »Wiederkehr von Rechtsfiguren« beschränkt249. Diese dogmatische Bedeutung besitzt das Kirchenrecht nach unseren Ausführungen zur Grundrechtsbindung des kirchlichen Dienstrechts und zur staatlichen Dienstverfassung250 besonders für das öffentliche Recht. Denn das beiden Bereichen gemeinsame und inhaltlich vielfach ähnliche Amtsrecht ermöglicht hier am ehesten den Brückenschlag251. Der namentlich von Köttgen vertretenen Ansicht, dass unter diesem Aspekt übereinstimmende Strukturmerkmale zwischen kirchlichem und staatlich-öffentlichem Recht bestehen, kann unseres Erachtens darum ihre Berechtigung nicht abgesprochen werden252. Die entscheidende inhaltliche Bedeutung des Kirchenrechts für das weltliche Recht liegt nach dem »Dritten Weg« schließlich darin, dass es bei scheinbar sich gegenseitig ausschließenden rechtlichen Alternativen Möglichkeiten der Annäherung aufzeigt. Dazu ist das Kirchenrecht in der Lage, da seine Vermittlungsaufgabe (rechts-)theologisch gesprochen darin besteht, die Zusammengehörigkeit von Gesetz (im theologischen Sinne) und Evangelium in der Rechtsordnung deutlich werden zu lassen. Es kann bei dieser verkürzenden
248 Dazu besonders Erik Wolf, Ordnung der Kirche (1960), S. 4 f. und: Rechtsgedanke und biblische Weisung (1948), S. 93. Genauer zu dieser These Wolfs mit weiteren Literaturangaben auch aus dem Bereich der Theologie: Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, 1. Halbband (1968), S. 391 ff., 419 ff. 249 Dazu der Aufsatz von Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, in: JZ 1971, S. 1 ff. 250 Vgl. bei Anm. 144 ff. und: bei Anm. 170 ff., 205 ff., 227 ff., 240 ff. 251 Zu weiteren vielfältigen »öffentlich-rechtlichen« Parallelen: Janssen, Historisch-kritische Theologie und evangelisches Kirchenrecht (Anm. 117), S. 48 Anm. 213. 252 Vgl. Köttgen, Das anvertraute öffentliche Amt, in: Hesse/Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag (1962), S. 119 (143 ff.). Diese Sicht erledigt sich also nicht mit dem Hinweis H. Webers (Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes – 1966 –, S. 85 f.) u. a., dass der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht vom positiven, für alle geltenden Recht her getroffen wird. Mit dieser These wird auch der schon wiedergegebenen Meinung widersprochen, die das (Staats-)Kirchenrecht primär als Vorreiter für ein Verbändeverfassungsrecht verstehen will (so namentlich Meyer-Teschendorf: vgl. den Nachweis in Anm. 126).
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Redeweise hier sein Bewenden haben253, denn sie macht bereits hinreichend deutlich, was ein letztes – indirektes – Anliegen dieser Zeilen war : aufzuzeigen, dass rechtsdogmatische Positionen ohne eine begründete rechtstheoretische Konzeption nicht zu haben sind.
Thesen I. 1. Die h. M. hält selbst nach den Arbeitskämpfen im öffentlichen Dienst von 1974 und 1980 mit ihren unübersehbaren Folgen für die Haushaltswirtschaft von Bund, Ländern und kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften unbeirrt an einem grundsätzlich unbeschränktem Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst fest. 2. Eine wesentliche Ursache für diese Haltung liegt in dem durch einschlägige historische Erfahrungen erklärbaren »Trauma« der Gewerkschaften (Löwisch), das jede Modifizierung des Tarifvertragssystems als substantielle Gefährdung der Tarifautonomie erscheinen lässt. Es fehlen aber auch hinreichend konkretisierte Regelungsmodelle als denkbare Alternativen zum geltenden Tarifvertragssystem und Arbeitskampfrecht im öffentlichen Dienst und ebenfalls durchschlagende verfassungsrechtliche Gründe, die gegen Tarifverträge im öffentlichen Dienst und weiter gegen ein Streikrecht der dort tätigen Angestellten und Arbeiter sprechen. 3. Die von den Kirchen erlassenen Arbeitsrechtsregelungsgesetze scheinen geeignet, die Gründe der h. M. für ein Festhalten an einem Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst zu erschüttern. Dafür spricht, daß die kirchlichen Mitarbeiterverbände sich aktiv an der Beratung der verschiedenen Arbeitsrechtsregelungsgesetze beteiligt haben und diese Gesetze eine konkrete Alternative zum geltenden Tarifvertragssystem und Arbeitskampfrecht darstellen. Daneben enthält die Diskussion über ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit Anknüpfungspunkte für eine sinnvolle Begrenzung des Artikel 9 Abs. 3 GG durch die Artikel 20 Abs. 2, 33 Abs. 4 – 5 und 109 ff. GG.
253 Genauere Begründung dieser These bei Janssen, Historisch-kritische Theologie und evangelisches Kirchenrecht (Anm. 117), S. 28 ff.
14. Streikrecht der Dienstnehmer im öffentlichen Dienst
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II. 4. Die rechtliche Würdigung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze zeigt, dass die (überwiegende) Entscheidung der Kirchen für den »Dritten Weg« und gegen Tarifverträge keine Schlechterstellung ihrer Arbeitnehmer gegenüber den Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst bedeutet: a) Eine wirksame Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss wird besonders durch die gesetzlich abgesicherte persönliche Unabhängigkeit der diesen Gremien angehörenden Arbeitnehmervertreter und durch den Umstand gewährleistet, dass nach mehreren Arbeitsrechtsregelungsgesetzen auch hauptberufliche Verbandsfunktionäre die kirchlichen Arbeitnehmer in den genannten Beschlussorganen vertreten können. Einen zwingenden Grund dafür, dass es im Wege der Tarifverhandlungen, nicht aber durch Verhandlungen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im Schlichtungsausschuss zu einer wirklichen Austragung der Interessengegensätze und damit auch zu einem echten Interessenausgleich kommt, gibt es nicht; für diese These spricht auch die Person des neutralen Schlichters. b) Die normative Wirkung des Tarifvertrages und seine damit verbundene »Ordnungsfunktion« kann auch nicht als wesentlicher Vorteil gegenüber dem »Dritten Weg« betrachtet werden. Denn es gibt verschiedene verfassungsrechtliche Möglichkeiten, um ebenfalls die normative Wirkung der Dienstvertragsordnungen zu begründen. Unabhängig davon kann auch eine »Nachwirkung« der nach den Arbeitsrechtsregelungsgesetzen beschlossenen Dienstvertragsordnungen, ihre Bedeutsamkeit für tarifdispositives Gesetzesrecht und – bei entsprechender gesetzlicher Ausgestaltung des »Dritten Weges« – ihre Gleichwertigkeit mit dem Tarifvertrag bezüglich seiner übrigen Ordnungsfunktionen angenommen werden. 5. Gegen Tarifverträge in der Kirche und ein damit verbundenes Streikrecht kirchlicher Angestellter und Arbeiter spricht der zumindest mittelbare Zusammenhang, der zwischen dem Auftrag der Kirche und der Tätigkeit ihrer Arbeitnehmer besteht. Denn er begründet eine für alle kirchlichen Mitarbeiter verbindliche besondere Dienstgemeinschaft, die im weltlichen Recht, zumindest in den Arbeitsverhältnissen der Privatwirtschaft, keine Parallele hat. Es fehlt darum im kirchlichen Bereich an den wesentlichen Voraussetzungen des Tarifvertragssystems wie dem Gegensatz von Kapital und Arbeit und den Gewährleistungen für ein gerechtes kontradiktorisches Verfahren: der Kampfparität, Gegnerfreiheit und dem Arbeitsplatzrisiko. 6. Die von den Kirchen beschlossenen Arbeitsrechtsregelungsgesetze bedürfen aber einiger Korrekturen. So lässt sich von einer vollständigen Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der Arbeitsrechtlichen Kommission und im
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Schlichtungsausschuss deshalb nicht sprechen, weil nach den meisten Gesetzen die nichtorganisierten kirchlichen Arbeitnehmer keine Vertreter in die genannten Gremien entsenden können. Neben der insoweit erforderlichen gesetzlichen Abhilfe muss wegen der gravierenden finanziellen Folgen für die Kirchen, die durch das Letztentscheidungsrecht des neutralen Schlichters eintreten können und dann ihre Aufgabenwahrnehmung entscheidend bestimmen, für eine gesetzliche Regelung eingetreten werden, die die Kompetenz zur Letztentscheidung statt einem außenstehenden »Dritten« der Synode zuerkennt. 7. Die Vereinbarkeit der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze mit dem Grundgesetz ergibt sich aus folgenden Überlegungen: a) Die genannten Gesetze sind zu den eigenen Angelegenheiten der Kirche im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV zu rechnen; aus dem Schrankenvorbehalt dieser Vorschrift kann auch keine Verpflichtung der Kirchen zum Abschluss von Tarifverträgen abgeleitet werden. Dieses Ergebnis folgt eindeutig aus der vom Bundesverfassungsgericht geprägten »Jedermann-Formel«. Für die Übernahme dieser Formel als Definition des »für alle geltenden Gesetzes« im Sinne des Artikel 137 Abs. 3 WRV spricht einmal, dass sie die häufige Kritik an allgemeinen Abwägungsklauseln wie an einem Denken vermeidet, das zwischen im kirchlichen Innenbereich verbleibendem und nach außen wirkendem Handeln der Kirchen scharf trennt; zum anderen – und besonders – sprechen aber verfassungssystematische Gründe, die sich aus dem mit Verbänden und öffentlichrechtlichen Grundrechtsträgern unvergleichlichen »konstitutionellen GrundStatus« (Hollerbach) der Kirchen ergeben, dafür. b) Aus der nach h. M. bestehenden unmittelbaren Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG kann schon deshalb keine Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen folgen, weil entgegen dieser h. M. eine solche Bindung der Kirchen gar nicht besteht. Vor allem aus der den konstitutionellen GrundStatus ergänzenden Körperschaftsgarantie (Artikel 137 Abs. 5 WRV) ergibt sich, dass das mit der Körperschaftsgarantie verbundene Dienstrecht der Kirchen, das insoweit für alle juristischen (und natürlichen) Personen geltende Verfassungsrecht (Artikel 9 Abs. 3 GG) auch dann ausschließt, wenn die Kirchen sich für das private Arbeitsrecht entscheiden. Auch in diesem Fall unterliegen sie primär jenen verfassungsrechtlichen Bindungen, die auch dem kirchlichen Beamtenrecht – das Recht der Geistlichen ausgenommen – vorgegeben sind. Es besteht insoweit eine Parallele zum staatlichen Verwaltungsprivatrecht. Die im Ergebnis damit nur modifizierte Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG wird bestätigt durch die Grundstruktur dieser Vorschrift selbst. Versteht man sie mit Scholz als Ausübungsrecht gegenüber den Artikeln 12 und 14 GG und sieht in Artikel 12 GG die maßgebende Verfassungsgewährleistung des arbeitnehmerischen Freiheitsstatus, so folgen aus dem jeweiligen »Beruf« immanente, den Koalitionszweck bestimmende
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Schranken des Artikel 9 Abs. 3 GG. Aufgabe und Struktur des kirchlichen Dienstes setzen also der Koalitionsfreiheit Grenzen. c) Schließlich bestand eine inhaltliche Bindung der Kirchen an Artikel 9 Abs. 3 GG bei Erlass ihrer Arbeitsrechtsregelungsgesetze deshalb nicht, weil diese Gesetze als reine Verfahrensgesetze die Verbindung zum kirchlichen Auftrag beim Abschluss der Arbeitsverträge sicherstellen wollen und folglich beziehungslos neben der staatlichen Rechtsordnung stehen. Die Forderung nach einem Letztentscheidungsrecht der Synode (s. 6.) kann aber auf Grund der verfassungsrechtlichen Einordnung der Arbeitsrechtsregelungsgesetze als sinnvolle Kompensation dafür verstanden werden, dass die Rechte und Pflichten der kirchlichen Angestellten und Arbeiter nicht gesetzlich, sondern nach Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Beschluss festgelegt werden.
III. 8. Aus der rechtlichen Würdigung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze ergibt sich für die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Tarifverträgen im öffentlichen Dienst und einem Streikrecht der dort tätigen Angestellten und Arbeiter folgendes: a) Wichtige Grenzen für die Koalitionsfreiheit im öffentlichen Dienst lassen sich wie bei den Kirchen zunächst aus der Grundstruktur des Artikel 9 Abs. 3 GG ableiten, da hier ebenfalls Aufgabe und Funktion des öffentlichen Dienstes den Inhalt des Artikel 12 GG als grundlegendes arbeitnehmerisches Freiheitsrecht bestimmen. Dabei gehen dieser Vorschrift wiederum die Artikel 33 Abs. 4 und Abs. 5 GG als Spezialregelungen vor. Aus der Notwendigkeit, den gesamten Bereich der Daseinsvorsorge zu den hoheitlichen Aufgaben im Sinne des Artikel 33 Abs. 4 GG zu rechnen, und der Erkenntnis des Zusammenhanges, der zwischen dem jeweiligen Inhalt der staatlichen Aufgabe und dem öffentlichen Dienstrecht besteht (Komplementärfunktion), folgt die gleiche grundrechtliche Bindung der in diesem Bereich tätigen Angestellten und Arbeiter wie sie für Beamte besteht. Auch insoweit gelten die Grundsätze des Verwaltungsprivatrechts. Die inzwischen in vielfacher Hinsicht tatsächlich eingetretene inhaltliche Angleichung des Rechts der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst an das Recht der Beamten steht mit dem vertretenen Ergebnis im Einklang. b) Noch weitergehende Grenzen für die Tarifautonomie des öffentlichen Dienstes folgen aus der Erkenntnis, dass sie »außerhalb des Grundrechtshorizonts im Bereich materieller Staatshoheit« (Isensee) zu orten ist. Dafür spricht ähnlich wie bei den Kirchen der »konstitutionelle Grund-Status« des Staates, d. h. seine demokratische Entscheidungsstruktur, besonders die Etathoheit des
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Parlaments (Art. 109 ff. GG). Daneben kann aus den einschlägigen Kompetenzvorschriften und weiteren Bestimmungen des Grundgesetzes zumindest gefolgert werden, dass der Gesetzgeber für die Ausgestaltung des die Arbeitsbedingungen der Dienstnehmer betreffenden Regelungsverfahrens eine weitaus größere Freiheit besitzt als im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts der Privatwirtschaft. c) Im Ergebnis stimmt damit die vom Staat getroffene Entscheidung für Tarifverträge im öffentlichen Dienst aus den gleichen Gründen wie bei den Kirchen nicht mit der »Intention« der Verfassung überein; ein Streikrecht der Dienstnehmer muss sogar als verfassungswidrig bezeichnet werden. Gegen eine dem »Dritten Weg« der Kirchen entsprechende gesetzliche Regelung für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst beständen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, sofern in einer solchen Regelung als Kompensation für die damit verbundene teilweise Außerkraftsetzung öffentlich-rechtlicher und daraus folgender verfassungsrechtlicher Bindungen ein Letztentscheidungsrecht des Parlaments vorgesehen würde. 9. Wie die rechtlichen Überlegungen zum Inhalt der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze (4.) und die dazu vorgeschlagenen Modifikationen (6.) zeigen, stellen diese Gesetze auch ein sinnvolles alternatives Regelungsmodell zum Tarifvertragssystem im öffentlichen Dienst dar. Eine Anwendung dieses Regelungsmodells auf die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst bietet sich deshalb an, weil im staatlichen wie im kirchlichen Bereich der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht so stark wie in der Privatwirtschaft ausgeprägt ist. Der von den Kirchen entwickelte »Dritte Weg« ist jedoch eines von mehreren denkbaren Modellen zur verfassungsrechtlichen Realisierung der Koalitionsfreiheit im öffentlichen Dienst; er besitzt keinen Ausschließlichkeitscharakter.
IV. 10. Die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsgesetze vermögen in dreifacher Weise die exemplarische Bedeutung des Kirchenrechts für das weltliche (öffentliche) Recht zu verdeutlichen: Zunächst können diese kirchlichen Gesetze den Staat an seinen (rechts-)politischen Auftrag erinnern, gesetzliche Regelungen, falls erforderlich, auch gegen den Widerstand einzelner Interessengruppen durchzusetzen. Daneben zeigt ihre dogmatische Bedeutung für das Recht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst, dass das weltliche Recht auch aus dem gegenwärtigen Kirchenrecht lernen kann; sein Interesse sich also insoweit nicht nur wie etwa beim historischen Römischen Recht auf die »Wiederkehr von Rechtsfiguren« (Mayer-Maly) beschränken muss. Die besondere Relevanz des
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Kirchenrechts für das öffentliche Recht folgt dabei aus der Anerkennung eines beiden Bereichen gemeinsamen »Amtsrechts« (Köttgen). Die entscheidende inhaltliche Bedeutung des Kirchenrechts für das weltliche Recht endlich liegt nach dem »Dritten Weg« darin, dass es bei scheinbar sich gegenseitig ausschließenden rechtlichen Alternativen Möglichkeiten der Annäherung aufzeigt.
15. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Beamten- und Bürokratiekritik
I.
Inhaltsübersicht
1. »Beamtentum und Bürokratie sind als der organisatorische Versuch zu verstehen, staatliche Willkür zu verhindern« – diese These möchte ich im Folgenden in drei gedanklichen Schritten begründen. Zunächst ist auf das gängige Verständnis der genannten Eigenheiten staatlicher Organisation und die übliche Kritik daran einzugehen. Dem ist zweitens das verfassungsrechtlich verbindliche Leitbild von den Aufgaben und der Rechtfertigung von Beamtentum und Bürokratie gegenüberzustellen. Schließlich muss drittens auf die Gefährdungen eingegangen werden, denen sie – legt man das dargelegte verfassungsrechtliche Leitbild zugrunde – heute vor allem ausgesetzt sind.
II.
Zum gängigen Verständnis von Beamtentum und Bürokratie und zur gegenwärtigen Kritik daran
2. Das heutige Beamtentum und die heutige Bürokratie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer langen europäischen und vornehmlich deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Dass allgemein öffentliche Gewalt in allen Formen nur in öffentlichen Ämtern wahrgenommen werden kann, ist ein Grundsatz, der bereits das römische Staatsrecht beherrscht hat. Ämterherrschaft bedeutet – ich zitiere aus einer einschlägigen Publikation – grundsätzlich Folgendes: Zur Ämterherrschaft »gehört das Bewusstsein, dass es staatsrechtlich nicht um die Bildung von ›Organen‹ für eine unsichtbare Staatspersönlichkeit und um deren ›Funktionen‹ geht, sondern um die Abgrenzung und Zuweisung von Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnissen und ihre Übertragung an Personen dergestalt, dass diese sie mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten ausfüllen, aber nicht sprengen und unbeschädigt an die Nachfolger weitergeben können. Zur Erhaltung und fruchtbaren Wirkung der Ämter gehört immer auch der Verzicht des Amtsinhabers auf die freie
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Entfaltung seiner Persönlichkeit, vor allem seiner persönlichen Macht. Das gilt nicht nur für die Regierungsämter. Auch die nur begrenzt politische und unpersönliche, sachliche, regelgeleitete Tätigkeit einer Bürokratie, oft als undemokratisch empfunden, ist republikanisch« (so Wilhelm Henke, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, S. 874).
Dieses Verständnis des Amtes ist – historisch gesehen – vom römischen Recht in das für die katholische Kirche verbindliche kanonische Recht übernommen und vom ihm fortgebildet worden. Der aus dem Zeitalter der Religionskriege hervorgehende säkulare Staat als absolutistischer Fürstenstaat des 16. – 18. Jahrhunderts ist in seiner Struktur dann wesentlich bestimmt durch die uns hier besonders interessierende Sonderform des Amtes – nämlich die des Beamten als Berater des Fürsten und Vollstrecker seines Willens. Über den aufgeklärten Absolutismus (ich erinnere an das bekannte Wort Friedrich des Großen: »ich bin der erste Diener des Staates«) führt dann bekanntlich der Weg zu den ersten konstitutionellen Verfassungen in Deutschland, wobei für unser Thema besonders auf die Regelung der Württembergischen Verfassung von 1819 hingewiesen werden muss. Denn sie enthielt wie später viele in der Tradition des Liberalismus stehende Verfassungen der deutschen Mittel-und Kleinstaaten schon u. a. eine Regelung über den Verfassungseid der Beamten, d. h. der Beamte wurde danach primär als Wahrer der Verfassung und nicht der königlichen Interessen verstanden! Ergänzt wurde diese Bestimmung in den frühen konstitutionellen Verfassungen häufig durch die Normierung der persönlichen Verantwortlichkeit des Beamten für die Beachtung der Verfassung (meistens gemildert durch eine Freistellung von der Haftung bei einem Handeln auf Befehl). Um die Wirksamkeit dieser Regelungen zu gewährleisten, sahen die genannten Verfassungen ansatzweise auch bereits die materielle Absicherung des Beamten und seine grundsätzliche Unkündbarkeit vor. Es ist dieses Verständnis des Berufsbeamtentums, das trotz mancher begrifflicher und inhaltlicher Verformungen in der Folgezeit bis heute verbindlich ist. 3. Das aus dieser hier nur kurz angedeuteten historischen Entwicklung folgende Verständnis der Bürokratie hat bis auf den heutigen Tag gültig der Soziologe Max Weber in seinem 1921 zum ersten Mal erschienenen großen Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« beschrieben. Danach sind fünf Merkmale für die bürokratische Organisation typisch: (1) eine genau festgelegte Autoritätshierarchie; (2) ein festes System vertikaler Kommunikationslinien (Dienstwege), die eingehalten werden müssen; (3) eine geregelte Arbeitsteilung, die auf Spezialisierung beruht;
15. Anmerkungen zur Beamten- und Bürokratiekritik
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(4) ein System von Regeln und Richtlinien, das die Rechte und Pflichten aller Organisationsmitglieder festlegt; (5) ein System von genau definierten Verfahrensweisen für die Erfüllung der Aufgaben. Man kann diese Merkmale auch noch kürzer so zusammenfassen, dass für die Bürokratie eine hierarchische Struktur und genau festgelegte Zuständigkeiten typisch sind sowie eine Regelbindung, die sowohl die Inhalte des Verwaltungshandelns wie auch das Verfahren, in dem es abläuft, betrifft. Natürlich handelt es sich insoweit um die Kennzeichnung eines idealtypischen Modells der Bürokratie, das in der Verwaltungswirklichkeit vor allem folgende Abweichungen zeigt: Neben der grundsätzlich hierarchischen Struktur der Verwaltung gibt es häufig bei der Leitung angesiedelte sog. Stabseinheiten (Planungsabteilung, Projektgruppe u. a.) außerhalb des Instanzenzugs, oder horizontale Abhängigkeiten wie besonders die zwischen Fachreferaten und Querschnittsreferaten – z. B. den Personal- und Haushaltsreferaten oder der IuK-Stelle. Ferner ist im Verwaltungsalltag nicht die Weisung das wesentliche Mittel hierarchischer Verwaltung, sondern das Dienstgespräch, die Diskussion, an deren Ende dann – notfalls – die Weisung steht. Es ist besonders der Wandel der Verwaltungsaufgaben, der eine Modifikation der bürokratischen Organisation der Exekutive nach sich zog. Man braucht insoweit nur an die zahlreichen Aufgaben der Leistungs- und Infrastrukturverwaltung (Straßenbau, Wasserund Energieversorgung, Raumordnung u. a.) zu denken. 4. Die Kritik an der Bürokratie betrifft vor allem ihre hierarchische Struktur und ihre Regelgebundenheit. Bürokraten arbeiten danach nicht zielorientiert, sondern eben primär regelorientiert, worunter die Effektivität ihres Handelns leidet. Sie besitzen nach dieser Kritik häufig auch nur eine selektive Wahrnehmung, weil sie sich vor allem auf die Durchsetzung des ihnen vorgegebenen politischen Willens bzw. der ihnen vorgegebenen Rechtsvorschriften konzentrieren. Sie nehmen also die soziale Wirklichkeit und ihre Probleme, die sie eigentlich lösen sollten, nur indirekt (beschränkt) wahr. Schließlich ist nach dieser Kritik für den Bürokraten gerade wegen der hierarchischen Struktur der Verwaltung und ihrer Regelgebundenheit mangelnde Zivilcourage und eine Dienstgehilfenmentalität kennzeichnend, woraus vor allem folgt, dass die Bereitschaft zur Übernahme eigener Verantwortung unterentwickelt ist.
504
III.
3. Teil: Abschied von der Exekutive
Die verfassungsrechtliche Antwort auf die geschilderte Beamten- und Bürokratiekritik
5. Die erste verfassungsrechtliche Korrektur des die Bürokratiekritik bestimmenden Bildes betrifft das gängige Verständnis der Bürokratie als Vollzugsbürokratie. Übersehen wird dabei, dass alle entscheidenden längerfristigen Planungen staatlicher Tätigkeit – verfassungsrechtlich zulässig und z. T. gewollt – von der Exekutive (mit-)konzipiert werden: Denken Sie nur für Niedersachsen (und ähnlich sieht es im Bund aus) an die mehrjährige Finanz- und Aufgabenplanung und die daraus zu entwickelnden alljährlich (bzw. im Zweijahresrhythmus) zu erstellenden Haushaltspläne oder an das Landesraumordnungsprogramm, das etwa für alle wirtschaftlich bedeutsamen Standortentscheidungen und die von den Gemeinden aufzustellenden Flächennutzungs- und Bebauungsplänen Vorgaben enthält. Wohl gemerkt: das sind alles im Wesentlichen von der Bürokratie entwickelte Konzepte für die Politik. Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass die Verfassung ausdrücklich ein Gesetzesinitiativrecht der Regierung vorsieht und auch im Bundesrat die Landesregierungen (und nicht die Landesparlamente) agieren, d. h. im Ergebnis wiederum, dass auch insoweit die sog. »Vollzugs«-Bürokratie ganz entscheidend ihre Hand mit im Spiel hat. Natürlich sind der Bürokratie die politischen Richtlinien vom Bundeskanzler bzw. Ministerpräsidenten vorgegeben und werden von den einzelnen Ministern noch konkretisiert. Dennoch bleibt es eigenständige Aufgabe der Bürokratie, in dieser Phase staatlicher Entscheidungsfindung zu prüfen, ob die Planung oder das in Aussicht genommene Gesetz in den Kontext bisheriger entsprechender Aktivitäten des Staates passt; ob die genannten Initiativen in sich konsequente – systemgerechte – Regelungen treffen; ob sie mit den richtigen Begriffen der Gesetzessprache und Planungspraxis arbeiten usw. Vereinfacht gesprochen kann man deshalb behaupten, dass das Konzept des politischen Handelns zu einem wesentlichen Teil von Bürokraten mitgestaltet wird und die eigenständige Aufgabe der Politik so gesehen vor allem in der verbindlichen Entscheidung darüber besteht. Von den drei Schritten staatlichen Handelns der Konzeption (Planungsphase), der verbindlichen Entscheidung darüber und der konkreten Umsetzung dieser Entscheidung werden also der erste und dritte wesentlich von der Bürokratie (mit-)bestimmt! 6. Der verfassungsrechtliche Sinn der hierarchischen Struktur der Verwaltung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Regierung ihr Handeln vor dem Parlament und dem Wähler verantworten muss. Sie kann wegen ihres Handelns notfalls vom Parlament sogar abgewählt werden oder bekommt spätestens bei der nächsten Landtags- oder Bundestagswahl vom Wähler »ihre Quittung«. Eine
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Organisationsstruktur der Verwaltung, die nicht gewährleistet, dass die Regierung ihre Zielsetzung durchsetzen kann, gefährdet also zunächst die Möglichkeit der verfassungsrechtlich garantierten Kontrolle der Regierung durch das Parlament (bzw. auf kommunaler Ebene: durch den Rat). Bedenkt man weiter, dass wiederum das Recht des Parlaments zur Kontrolle der Regierung letztlich aus dem Verfassungsgrundsatz folgt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, so kann man auch sagen, dass die hierarchische Struktur der Bürokratie sich – verfassungsrechtlich gesehen – aus dem Demokratieprinzip ergibt. 7. Parlamentarische Kontrolle der Regierung setzt einen Maßstab voraus, an dem die Regierung kontrolliert werden kann. Diesen vom Parlament beschlossenen Maßstab stellen die Gesetze, die Finanz- und Aufgabenplanung, der Haushaltsplan, das Raumordnungsprogramm usw. dar. Die hierarchisch strukturierte Verwaltung konkretisiert diese parlamentarischen Vorgaben dann näher durch Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsvorschriften, um sicherzustellen, dass die in Rechtsformen gegossenen politischen Absichten auch realisiert werden. Die Regelungsgebundenheit der Bürokratie ist so gesehen wiederum eine konsequente Folgerung aus der Möglichkeit der parlamentarischen Kontrolle der Regierung und letztlich damit auch wiederum aus dem Demokratiegrundsatz selbst. Darin erschöpft sich aber nicht ihr verfassungsrechtlicher Sinn. Verfassungsrechtlich verbindlicher Maßstab für alles Verwaltungshandeln ist daneben der allgemeine Gleichheitssatz, der in der Form des Willkürverbots auch für die Gerichte Prüfungsmaßstab ist. Die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung aller Bürger durch die Verwaltung ist nun aber nicht nur ein formaler Maßstab, sondern enthält ein inhaltliches Prinzip. Das ergibt sich aus zwei fundamentalen Normen des Grundgesetzes: Einmal heißt es im Artikel 1 Abs. 1, dass der Staat die Würde des Menschen »zu achten und zu schützen« hat, und ergänzend dazu wird in Artikel 2 Abs. 1 gesagt, dass »jeder das Recht« hat, »auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt«. Inhaltlicher Maßstab der Gleichbehandlung ist damit also die Gewährleistung der gleichen Freiheit oder – um eine klassische Definition dessen, was Gerechtigkeit ist, zu übernehmen – kann man auch sagen, dass es Aufgabe der Bürokratie ist, jedem das Seine zukommen zu lassen (»suum cuique«). Und damit sind wir beim zentralen Punkt für die Rechtfertigung der bürokratischen Verwaltungsstruktur angelangt: Regelgebundenheit der Verwaltung dient der gerechten Behandlung des Bürgers durch den Staat. Genau das kann die Gesellschaft aus sich heraus nicht leisten; und auch ein Staat, der nicht Rechtsstaat ist, unterliegt ständig der Gefahr, diese Zielsetzung zu verfehlen. Das hier Gemeinte ist von anderer Seite zutreffend wie folgt beschrieben worden:
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
»Die Selbstbeschreibung der klassischen öffentlichen Veraltung durch das Regulativ des Rechtsstaates bietet eine über das Professionell-Technokratische hinausweisende Qualität. Es bindet die öffentliche Verwaltung in ihren Konkretisierungen an Menschen- und Bürgerrechte, an die Messbarkeit ihrer Handlungen, an die Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken, an die Gewährleistung von Rechtsschutz usw. Es geht mithin nicht einfach darum, dass der öffentliche Dienst eine Identitätsformel gefunden hat, sondern dass die Suche nach Gerechtigkeit zugunsten der Bürger gesichert wird« (so Klaus König, in: Verw.Arch. 87/1996, S. 37).
Zugegebenermaßen befindet sich aber auch die Bürokratie ständig in der Gefahr, i. S. des wiedergegebenen Zitats in das »Professionell-Technokratische« abzugleiten; das ist allerdings nicht der verfassungsrechtliche Sinn dieser Organisationsstruktur – und den aufzuzeigen, ist ja das Ziel meiner Ausführungen. 8. Die verfassungsrechtlich vorgegebene Struktur der Verwaltung wäre unvollständig beschrieben, wenn man nicht schließlich noch auf den von der Verfassung intendierten Sinn des öffentlichen Dienstes und namentlich den des Beamtentums eingehen würde. Hier kann ich an das zu Anfang (2.) zu den entsprechenden Regelungen der frühen konstitutionellen Verfassungen Ausgeführte anknüpfen: Das Beamtentum zieht seine innere Rechtfertigung aus seinem Rechtswahrungsauftrag im eben dargestellten Sinne. Darum besitzt der Beamte eine verfassungsrechtlich garantierte Besoldung und Versorgung (Alimentationsprinzip) und ist unkündbar (es sei denn, ihm sind schwere disziplinarrechtliche Verfehlungen, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt worden sind, vorzuwerfen). Darum unterliegt er umgekehrt einer besonderen Verfassungstreuepflicht und einer politischen Neutralitätspflicht. Die Beamten dienen – so heißt es in der Niedersächsischen Verfassung (Artikel 60) – »dem ganzen Volk, nicht einer Partei oder sonstigen Gruppe, und haben ihr Amt und ihre Aufgaben unparteiisch und ohne Rücksicht auf die Person nur nach sachlichen Gesichtspunkten auszuüben.« Sinn des Berufsbeamtentums ist also letztlich wie die Regelbindung der Verwaltung, die Sicherstellung eines gerechten Staatshandelns. Der Beamte ist damit ein integrierendes Element des Rechtsstaats. Und wer sollte sonst wohl auch diese Rolle übernehmen? Die Gerichte kommen zu spät und haben im Übrigen lediglich die »Pathologie der Verwaltung« (Werner Weber) im Blick Die Presse erfährt auch nur von sogenannten Skandalen, steht aber der Verwaltung fern und kann das rechtsstaatliche Verwaltungshandeln nicht garantieren. Wenn man also – wie das Grundgesetz – die rechtsstaatliche Veraltung will, dann ist die Forderung nach einem neutralen und unabhängigen Beamtentum die notwendige Folgerung aus dieser Zielsetzung.
15. Anmerkungen zur Beamten- und Bürokratiekritik
IV.
507
Aktuelle Gefährdungen der verfassungsrechtlich gewollten Struktur von Beamtentum und Bürokratie
9. Die erste Gefährdung betrifft den von vielen Seiten schon mehrfach angesprochenen bedrückenden Niveauverlust in der höheren Ministerialbürokratie und der leitenden Amtsträger, der bedingt ist durch eine nicht an sachlichen Gesichtspunkten orientierte Einstellungs- und Beförderungspolitik des Staates. Die Aussagen unserer Verfassung sind demgegenüber eindeutig. Danach hat »jeder Deutsche … nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte« (Artikel 33 Abs. 2 GG), und das gilt auch für sein berufliches Fortkommen. Denn nach dem Grundgesetz darf niemand wegen »seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden« (Artikel 3 Abs. 2 GG). Dass – wie gesagt – die Wirklichkeit anders aussieht, ist hinreichend bekannt. Ich würde gern einmal – falls es möglich wäre – etwa 100 Personalakten der höheren niedersächsischen Ministerialbürokratie u. a. auf genau diese Kriterien hin untersuchen; nach meiner Einschätzung würde ein derartiges Vorhaben »Überraschendes« zu Tage fördern. Entsprechendes würde sich wahrscheinlich ergeben, wenn man den genannten Personenkreis einem einschlägigen Eignungstest unterziehen würde. Den neuesten Beleg für diese These hat der soeben abgeschlossene Untersuchungsausschuss zu einzelnen Vorwürfen gegen den Ende 1999 zurückgetretenen niedersächsischen Ministerpräsidenten Glogowski geliefert; an seinem Versagen bzw. ungeschicktem Taktieren sind danach wesentlich einige wenig qualifizierte Bedienstete der Staatskanzlei schuld, die der ehemalige Ministerpräsident aber entgegen den soeben genannten verfassungsrechtlichen Maßstäben in entscheidende Positionen kommen ließ (dazu genauer Albert Janssen, in: Die Verwaltung 35/2002, S. 120 ff.). Es geht insoweit aber nicht nur um ein faktisches, sondern auch um ein strukturelles Problem unserer gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Ordnung. Ich darf insoweit aus einer einschlägigen älteren Arbeit zitieren: »Aber die staatspolitische Funktion des Beamtentums entscheidet sich daran, wie weit es im Stande ist, dem Ausleseprozess der politischen Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen usf. eine eigene Elitebildung gegenüberzustellen, die aus sich selbst heraus überzeugt. Konkret ausgedrückt: Ist es in der Lage, in Bund und Ländern eine Ministerialbürokratie und ein Korps leitender Amtsträger darzustellen, die den Namen einer Beamtenaristokratie verdienen und den soziologischen Eliten der politischen Machtgruppen gegenüber eine eigenständige staatstragende Kraft verkörpern? Diese Frage kann leider nicht ohne Vorbehalt bejaht werden. Das Beamtentum ist gerade dort, wo sich seine verfassungspolitische Funktion entscheidet, nämlich
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
in seinen höchsten Schichten, schwach und umstritten. Seine Kraft kann sich mit der Bedeutung der Ministerialbürokratie in der Monarchie und in der Weimarer Republik nicht auch nur im Entferntesten messen. Seine Personalpolitik ist durch parteipolitische, interessenpolitische und konfessionspolitische Ämterpatronage verzerrt, seine Geschlossenheit, sein Selbstvertrauen und seine Standesverantwortung sind gering. So groß der Fleiß und die Tüchtigkeit seiner einzelnen Glieder sein mögen, so wenig vermag es den partei- und interessenpolitischen Einflussgruppen als selbstständiger Träger einer eigenen staatspolitischen Aufgabe gegenüberzutreten. Nicht das Beamtentum im Ganzen, wohl aber seine oberste Schicht ist im gegenwärtigen Deutschland mehr abhängiges Instrument als verantwortungsvoller Gegenspieler und Partner der politischen Gruppenmächte … Für sich allein freilich hat das Beamtentum in dieser Konkurrenz der Führungseliten und gegenüber dem Andringen massierten Gruppeneinflussstrebens einen ziemlich hoffnungslosen Stand. Es bedarf eines Patrons, so wie ihn das englische Beamtentum in der Krone, das amerikanische im Präsidenten hat, das frühe deutsche ihn im Monarchen und im Reichspräsidenten besaß. Das Bonner Grundgesetz hat dem Beamtentum diesen Patron versagt. Er kann, wie die Dinge liegen, nur durch Verstärkung der Eigenständigkeit der staatlichen Exekutive, durch Begründung einer eigenständigen Regierungsgewalt und vor allem durch den Ausbau der Position des Bundespräsidenten zurückgewonnen werden. Der Bundespräsident braucht dazu mehr Befugnisse, damit er mit höherem Einfluss zugleich mehr Autorität erwirbt. Und vor allem muss seine Stellung dadurch zu der eines wahren Staatsoberhaupts erweitert werden, dass seine Bestellung aus den Kompromissen der politischen Parteien gelöst wird. Ohne Entscheidung für die unmittelbare Volkswahl des Präsidenten wird das kaum möglich sein. Nur unter diesen Voraussetzungen kann er zu einer über die politischen Parteien hinweg demokratisch bezeugten ›neutralen Gewalt‹ im Staate werden und zusammen mit einem von ihm beschützten Beamtentum zu einem Kristallisationskern ausgleichender, stabilisierender Staatlichkeit« (Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 139 ff.).
Hinzuzufügen wäre für die Bundesländer allenfalls noch, dass die von mir schon mehrfach schriftlich angemahnte Direktwahl des Ministerpräsidenten einen ähnlichen Effekt erzielen könnte. 10. Neben der Personalstruktur ist aber auch die Organisationsstruktur der heutigen Verwaltung – die Bürokratie im eigentlichen Sinne – durch die zunehmenden Scheinprivatisierungen öffentlicher Aufgaben gefährdet. Um es insoweit gleich vorab klarzustellen: Kein Mensch kann dagegen etwas einwenden, dass der Staat sich aus Aufgaben zurückzieht, die aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung von privater Seite genauso gut (oder besser) ohne Gefährdung der grundrechtlichen Freiheit der Bürger (einschließlich ihrer körperlichen Unversehrtheit), deren Schutz ja dem Staat verfassungsrechtlich aufgegeben ist, geleistet werden können. Doch heute geschieht ja besonders durch die sog. Organisationsprivatisierungen vielfach etwas anderes: Genuin staatliche Aufgaben werden von Privaten in privatrechtlichen
15. Anmerkungen zur Beamten- und Bürokratiekritik
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Formen unter weitgehender Ausschaltung staatlicher Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten erfüllt. Dafür nur ein Beispiel aus dem Kommunalbereich: Die ordnungsgemäße Abwasserentsorgung ist zweifellos schon wegen ihrer ökologischen Bedeutung (Schutz des Grundwassers – Trinkwassers – u. a.) eine staatliche Aufgabe, sie dient letztlich – wie es früher richtig in den Gemeindeordnungen hieß – der »Volksgesundheit«. Inzwischen haben sich aber zahlreiche Städte und Gemeinden durch sogenannte »Betreibermodelle« dieser Aufgabe praktisch in der Form entledigt, dass sie eine privatrechtliche Gesellschaft (an der die Gemeinden meistens selbst noch Minderanteile besitzen) damit betraut haben, ohne sich ausreichende Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der Aufgabenerfüllung vorzubehalten. Mit der Entscheidung der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften für diese »unbürokratische« Form der Abwasserentsorgung ist also zwangsläufig nicht nur ein Verzicht auf die inhaltliche Steuerung dieser Aufgabe, sondern auch auf die Kontrolle ihrer Erledigung durch den Rat als direkt demokratisch legitimiertes kommunales Vertretungsorgan der betreffenden Stadt oder Gemeinde verbunden. Und ebenfalls verzichtet man damit auf die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Aufgabenvollzugs, der ja nach unseren verfassungsrechtlichen Überlegungen gerade Sache des öffentlichen Dienstes ist, obwohl es bei der Abwasserentsorgung – wie gesagt – um die Bewahrung so wichtiger Schutzgüter wie der »Volksgesundheit« bzw. der ökologischen Grundlagen unseres Zusammenlebens geht. Die gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken sprechen übrigens gegen die nunmehr gesetzlich weitgehend ermöglichte Privatisierung der Abfallentsorgung (vor allem soweit sie die gefährlichen Sonderabfälle betrifft) und im Ansatz auch gegen die gesetzlich vorgesehene Organisationsprivatisierung der atomaren Entsorgung, die allerdings nicht so weitgehend wie die zuvor genannten Beispiele nach dem Atomgesetz möglich ist. Erwähnt sei daneben nur noch, dass auch bereits über eine Teilprivatisierung der polizeilichen Aufgaben nachgedacht wird. (Durch solche und ähnliche Maßnahmen entledigt sich also der Staat im Ergebnis zwar nicht der entsprechenden Aufgabe gänzlich, aber er entzieht sie durch die Organisationsprivatisierung der parlamentarischen Kontrolle und gefährdet ihren rechtsstaatlichen Vollzug, die eben gerade eine hierarchische Struktur der Verwaltung und das Beamtentum ermöglichen sollen. Nimmt man diesen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt zum Maßstab, so ist auch kritisch zu fragen, ob die allerdings von unserer Verfassung ausdrücklich erlaubten Teilprivatisierungen von Bahn, Post und Luftverkehrsverwaltung – Artikel 87 de GG – verfassungspolitisch gesehen der Weisheit letzter Schluss sind. Erste Berichte von Wirtschaftsprüfern über Betreibergesellschaften in der kommunalen Abwasserentsorgung zeigen daneben auch, dass diese Form der staatli-
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chen Aufgabenerledigung weitaus teurer wird als die in herkömmlichen, bürokratisch bestimmten Formen stattfindende. Sollten sich diese Ergebnisse verfestigen, so spricht gegen die Organisationsprivatisierung ebenfalls der verfassungsrechtliche Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der staatlichen Verwaltung – Artikel 114 Abs. 2 GG, Artikel 70 Abs. 1 Nieders. Verfassung -. Dieser zuletzt genannte Gesichtspunkt ist übrigens auch schon vielfach gegen die private Vorfinanzierung des staatlichen Straßenbaus u. a. geltend gemacht worden) 11. Eine unsachliche, vowiegend von Parteiineressen bestimmte Personalpolitik und die zunehmenden Scheinprivatisierungen von Staatsaufgaben gefährden aber nicht nur die verfassungsrechtlichen Zielsetzungen von Beamtentum und Bürokratie als solche, sondern den Bestand unseres Gemeinwesens überhaupt. Das zeigt folgende Überlegung: Die in unserer Gegenwart ständig zunehmende Globalisierung ist ja nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen, sondern setzt auch überkommene Staatsvorstellungen außer Kraft. Das eigentliche Kennzeichen des neuzeitlichen Staates, seine Souveränität, ist für die Bundesrepublik Deutschland wie für viele andere Staaten durch ihre Zugehörigkeit zur Europäischen Union und zu zahlreichen internationalen Organisationen (einschließlich militärischer) in Frage gestellt. Hinzu kommt heute das von Soziologen wie Ulrich Beck zu Recht hervorgehobene Phänomen der »entterritorialisierten« Staatsgewalt: Die Bundeswehr verteidigt nicht mehr die Bundesrepublik Deutschland, sondern wird im Jugoslawienkonflikt oder in Friedensmissionen der UNO eingesetzt. Die heimische Wirtschaft lässt sich als solche kaum noch lokal fest machen usw. Kann aber Souveränität im herkömmlichen Sinne nicht mehr das entscheidende Merkmal staatlicher Herrschaft sein, was bleibt dann? Philosophen wie Otfried Höffe u. a. haben inzwischen schon in gewisser Weise den Weltstaat proklamiert und zu begründen versucht. Wer allerdings den Staatsalltag und das politische Umfeld kennt, kann über solche gedanklichen Konstruktionen – eine beliebte Form deutscher Politikberatung – nur den Kopf schütteln Es sind – so meine pragmatische Gegenthese – intakte politische Ämter und eine intakte Bürokratie, die unter organisationsrechtlichen Aspekten gesehen das Wesen des Staats im Zeitalter der Globalisierung ausmachen. Bedenkt man dies, so wird vollends deutlich, wie ernst man die aufgezeigten Gefährdungen zu nehmen hat. Wenn die Bundesrepublik Deutschland und die deutschen Bundesländer die zukünftigen Herausforderungen bestehen wollen, so ist es allerdings damit sicher nicht getan. So müssen wir m. E. möglichst bald daneben einen Umbau der geltenden Völkerrechtsordnung anstreben, der dem »Wettbewerb der Staaten« (Lüder Gerken) gerecht wird. d. h. diesem staatlichen Wettbewerb – ähnlich wie das Kartellrecht der Wirtschaft – eine Ordnung gibt. Noch entscheidender aber ist angesichts des verblassenden Leitbildes des Nationalstaats eine verfassungsrechtliche (Rück-)Besinnung auf den Zweck des Staats im Zeitalter der
15. Anmerkungen zur Beamten- und Bürokratiekritik
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Globalisierung. Sie kann sich nach unserer Verfassung nur an deren Auftrag (Artikel 1 Abs. 1 GG), die Menschenwürde zu gewährleisten, orientieren. Diesen Gedanken näher zu entfalten, wäre einen besonderen Vortrag wert. Dabei würde sich zeigen, dass genau zur Erfüllung dieser Aufgabe des Staates Beamtentum und Bürokratie einen – wenn nicht den – entscheidenden Beitrag leisten.
V.
Ergebnis
12. Als Ergebnis dieser Überlegungen ergibt sich damit: (1) Die anfänglich geäußerte These, dass Beamtentum und Bürokratie – verfassungsrechtlich gesehen – als organisatorischer Versuch zu verstehen sind, staatliche Willkür zu verhindern, hat sich bestätigt. Man kann diese These nach dem Ausgeführten auch positiv gewendet wie folgt formulieren: Beamtentum und Bürokratie sind die Garanten einer gerechten und planvollen staatlichen Herrschaft. (2) Ergänzend dazu folgte besonders aus unseren Überlegungen zur hierarchischen Struktur und zur Regelbindung der Verwaltung: Beamtentum und Bürokratie sind Funktionsvoraussetzungen für die parlamentarische Kontrolle als wesentliches Merkmal demokratischer Herrschaft. (3) Beamtentum und Bürokratie sind – staatstheoretisch gesehen – die Gewährleistung dafür, dass im Zeitalter der Globalisierung wie der zunehmenden Ökonomisierung des Politischen die zum Schutz der Menschenwürde unverzichtbare öffentliche Gewalt ihr Proprium bewahrt. Fazit also: Vorsicht ist geboten mit einer allzu leichtfertigen und oberflächlichen Kritik am Beamtentum und an der Bürokratie. Ihre Schwäche und nicht die der politischen Parteien stellt – so meine abschießende These – auch die eigentliche gegenwärtige Gefährdung des Staates als freiheitliches Ordnungsmacht dar. Für diese These besteht m. E. nach dem Ausgeführten eine gewisse Plausibilität – vor allem aber soll sie provozieren!
16. Brauchen wir eine neue deutsche Verfassung?
I.
Zur Relevanz der Fragestellung
Die Zweifel an der Fähigkeit des deutschen Parteienstaates zur Planung und Durchführung der für unser Land dringend notwendigen Reformen sind nicht mehr zu unterdrücken. Es gibt nicht nur politische, sondern auch gewichtige verfassungsrechtliche Gründe, die für diesen Befund ursächlich sind. Wer das bisher übersehen bzw. verdrängt hat, musste spätestens seit dem Scheitern der »Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung« im Dezember 2004 diesen Umstand zur Kenntnis nehmen. Denn in den Verhandlungen der genannten Kommission ist deutlich geworden, dass die weitgehende Entscheidungsunfähigkeit der deutschen Parteiendemokratie sich zu einem wesentlichen Teil auf strukturelle Mängel unserer Bundesverfassung, dem Grundgesetz, zurückführen lässt, Daneben ist in den Diskussionen der Kommission erkannt worden, dass eine wirkliche Behebung dieser Mängel letztlich auf eine Totalrevision des Grundgesetzes hinauslaufen müsste. Bemerkenswert ist nun, dass diesen Erkenntnissen keine Taten folgten, obwohl in der Bundesstaatskommission doch so viel politischer, ökonomischer und verfassungsrechtlicher Sachverstand u. a. versammelt war und maßgebliche Politiker in Deutschland den Erfolg der Kommissionsarbeit als ein zentrales persönliches Anliegen betrachteten (so etwa die beiden Kommissionsvorsitzenden: der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag und Vorsitzende dieser Partei Franz Müntefering sowie der bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU Edmund Stoiber). Der geschilderte Fall ist für die gewählte Themenstellung deshalb so bedeutsam, weil er noch einmal nachdrücklich zeigt, dass sie letztlich auf die Frage hinauslaufen muss, ob unser verfassungsrechtliches Entscheidungssystem einer grundlegenden Reform bedarf. Genau dieser Frage soll darum im Folgenden näher nachgegangen werden. Dafür ist zunächst ein Blick auf die Entstehungsgeschichte und die bisherigen Änderungen des Grundgesetzes (II.) sowie auf die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz (III.) erforderlich. Danach sind dann
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
noch genauer der sich daraus ergebende Reformbedarf des Grundgesetzes zu erörtern (IV.) und die notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung einer entsprechenden Verfassungsreform zu benennen (V.).
II.
Die Entstehungsgeschichte und die Änderungen des Grundgesetzes
Betrachtet man aus der heute möglichen Distanz zunächst die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes genauer, so fallen besonders zwei Dinge auf: Einmal der maßgebliche Einfluss der Alliierten auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates; zum anderen die starke inhaltliche Prägung dieser Beratungen durch die (scheinbar) negativen Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung.
1.
Der Einfluss der Alliierten auf die Entstehung des Grundgesetzes
Was den Einfluss der Alliierten auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates betrifft, so ist als erstes die besonders von französischer Seite immer wieder erhobene Forderung nach einer starken föderalen Ordnung der zukünftigen Bundesrepublik Deutschland hervorzuheben. Da Frankreich damals (wie heute) keine ausgeprägten bundesstaatlichen Strukturen besaß, ist diese Forderung – was von keiner Seite bestritten wird – in der Absicht, in der Mitte Europas nicht noch einmal einen starken Staat entstehen zu lassen, von unserem französischen Nachbarn erhoben worden. Die bis heute feststellbare negative Einstellung vieler Deutscher zum Föderalismus hat hier eine nicht gering einzuschätzende historische Wurzel. Auch der ausdrückliche Wunsch der Alliierten nach einer föderalen Finanzverfassung des Grundgesetzes gehört in diesen Zusammenhang. Denn die bis in die Gegenwart fortwirkende unbefriedigende Lösung der finanzverfassungsrechtlichen Fragen durch das Grundgesetz beruht letztlich auf einem »faulen« Kompromiss zwischen den Alliierten und dem Parlamentarischen Rat in dieser Frage. Schließlich drangen die Alliierten darauf, dass in der zukünftigen deutschen Verfassung das Entstehen einer starken Exekutive (Regierung und Verwaltung) verhindert wird. Damit war indirekt schon die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für das sog. parlamentarische Regierungssystem vorgegeben.
16. Brauchen wir eine neue Verfassung?
2.
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Die im Parlamentarischen Rat wirksamen Weimarer Erfahrungen
Was den Einfluss der Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates angeht, so ist zutreffend von einer »abwehrenden Vergangenheitsorientiertheit«1 eben dieser Beratungen gesprochen worden. Aus dieser Haltung ergaben sich folgende schwerwiegende Entscheidungen für den Inhalt des Grundgesetzes: Die Entscheidung gegen praktisch jede Form einer direkten (plebiszitären) Demokratie und für ein rein repräsentatives Staatsoberhaupt; daraus folgend: die Ablehnung eines präsidialen »Hüters der Verfassung«2 und die ausschließliche Übertragung dieser Aufgabe auf ein Gericht, das Bundesverfassungsgericht; die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums und damit verbunden die Entscheidung für ein parlamentarisches Regierungssystem. Daneben muss noch besonders der Versuch des Parlamentarischen Rates erwähnt werden, im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung »Mehrheiten dadurch vor sich selbst zu schützen, dass bestimmte unveräußerliche Werte und freiheitssichernde Institutionen« durch eine entsprechende verfassungsrechtliche Regelung (Art. 79 Abs. 3 GG) »ihrem Willen entzogen« wurden3, – eine Maßnahme, die sich so in keiner anderen Verfassung findet. Abschließend sei zu dieser »Vergangenheitsorientiertheit« des Parlamentarischen Rates noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich seine Grundhaltung, verschiedene Regelungen der Weimarer Reichsverfassung hätten Hitler mit zur Macht verholfen, historisch und juristisch in dieser Allgemeinheit nicht halten lässt, womit auch seine so stark an »Werten« orientierte verfassungsrechtliche Denkweise ihren bisweilen auch später bei der Interpretation des Grundgesetzes vertretenen Ausschließlichkeitscharakter verliert.
3.
Die beschlossenen Verfassungsänderungen
Bezüglich der nach Erlass des Grundgesetzes beschlossenen Änderungen unserer Verfassung lässt sich allgemein feststellen, dass diese nur allzu häufig kurzfristig konzipierte, wenig durchdachte und den parteipolitischen Kompromiss auf der Stirn tragende Regelungen beinhalten. Letzteres trifft besonders für das neu geschaffene Notstandsrecht zu. Daneben sind es vor allem die inzwischen in Verruf gekommene Lehre vom verfassungsrechtlichen Gebot zur Herstellung »einheitlicher« bzw. »gleichwertiger« Lebensverhältnisse und der 1 So Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1960, S. 110 ff. 2 Der Titel einer 1931 erschienenen Schrift von Carl Schmitt lautet: Der Hüter der Verfassung. Schmitt sah damals im Reichspräsidenten den Hüter der Verfassung. 3 So Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band II, 2000, S. 133.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Glaube an die Möglichkeit einer wirksamen Konjunktursteuerung durch die staatlichen Haushalte, die neben der Einführung der sog. Gemeinschaftsaufgaben zu starken Eingriffen in die Finanzverfassung geführt haben. Eine bewusste Äußerung der allein dem Volk zukommenden verfassungsgebenden Gewalt vermag man in allen diesen Änderungen in keinem Fall zu erkennen. Damit lässt sich als Ergebnis unserer bisherigen Überlegungen festhalten: Der Inhalt des Grundgesetzes ist maßgeblich bestimmt durch den nachhaltigen Einfluss der Alliierten auf die Verfassungsberatungen und die starke Orientierung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates an der (teilweise falsch verstandenen) Verfassungsentwicklung in der Weimarer Republik. Das deutsche Volk hat bis heute nicht selbst über seine Verfassung entschieden, was meiner Ansicht nach spätestens seit der Wiedervereinigung ein Legitimationsproblem des Grundgesetzes darstellt.
III.
Die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz
Die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz hat zu einigen erstaunlichen Verwerfungen des Verfassungssystems geführt, die zwar in den ursprünglichen Regelungen unserer Verfassung angelegt, so aber ganz sicherlich nicht vom Parlamentarischen Rat gewollt waren.
1.
Die Verrechtlichung der Politik durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich allgemein feststellen, dass unser oberstes Gericht durch »Auslegung« der Verfassung über viele wesentliche politische Fragen im Nachkriegsdeutschland letztverbindlich entschieden hat. Ich nenne nur einige herausragende Beispiele aus seiner Rechtsprechung: Verbot von links- und rechtsextremen Parteien; Gültigkeit der Ostverträge der Regierung Brandt/Scheel; Bau und Betrieb von umstrittenen Großvorhaben wie Atomkraftwerken und Flughäfen; Zustimmung Deutschlands zur Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union (Vertrag von Maastricht); Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs; Einsatz der Bundeswehr in Somalia auf Bitten der UNO bzw. die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des von der UNO verhängten Flugverbots im Luftraum über Bosnien-Herzegowina. Auch über die Billigung des neuen europäischen Verfassungsvertrages wird aller Voraussicht nach in Deutschland nicht wie in anderen Ländern der Europäischen Union durch .das
16. Brauchen wir eine neue Verfassung?
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Volk direkt oder das jeweilige Parlament letztverbindlich entschieden, sondern durch das Bundesverfassungsgericht. Zu solchen und ähnlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kommt deren Vorwirkung auf den politischen Prozess in der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere auf die Gesetzgebung – hinzu. Da die entsprechenden Entscheidungen durchweg mit ausführlichen (nicht selten den eigentlichen Streitgegenstand aus dem Auge verlierenden) Begründungen ergingen, konnte die Politik der Nachkriegszeit sich nur allzu oft aus der konkreten Verantwortung unter Hinweis auf entsprechende Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts stehlen. Auf diese Weise ist es in Deutschland auch dazu gekommen, dass u. a. die Grundstruktur unseres Presse- und Rundfunkwesens und die Verfassung der Universitäten weithin durch Richterrecht (und die dieses Recht lediglich nachvollziehende Politik) geprägt sind. Überhaupt ist besonders zu betonen, dass vor allem die extensive, sich weit vom Text des Grundgesetzes entfernende Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts in vielen Bereichen zu einer Verrechtlichung der Politik geführt hat. Dass damit ein erheblicher Verlust an demokratischer Freiheit und ebenfalls der Verlust der Möglichkeit, auf veränderte Verhältnisse elastisch zu reagieren, einhergeht,, sei abschließend zu diesem Punkt ausdrücklich hervorgehoben.
2.
Die Monopolisierung der staatlichen Willensbildung bei den politischen Parteien
Die Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland ist daneben besonders durch die Monopolisierung der staatlichen Willensbildung bei den politischen Parteien geprägt. In unserer Verfassung heißt es zwar, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung lediglich »mitwirken« (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG); in der Realität ist es dagegen zu einer völlig anderen Situation gekommen. Dafür einige besonders markante Beispiele: Erstes Beispiel: Deutschland ist bekanntlich nach seiner Verfassung ein Bundesstaat, in dem die Länder über den Bundesrat – vertreten durch ihre Landesregierungen – an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken (Art. 50 GG). Nun richten aber häufig in politisch brisanten Fällen die im Bundesrat vertretenen Landesregierungen nicht, wovon der Verfassungsgeber ausgegangen ist, ihr Abstimmungsverhalten nach dem jeweiligen Landesinteresse, sondern danach, was »ihre« Bundespartei aus taktischen bundespolitischen Überlegungen für geboten hält. Die Landesregierungen agieren insoweit also als verlängerter Arm der die Bundesregierung tragenden Fraktion (bzw. Koalition) oder – was noch häufiger vorkommt – der Opposition im Bundestag. Eine besondere Variante
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
dieses Vorgehens besteht darin, dass der kleinere Koalitionspartner auf Landesebene häufig auf »Befehl« der entsprechenden Bundespartei das Abstimmungsverhalten eines Landes im Bundesrat bestimmt. Zutreffend hat man aufgrund dieser Entwicklung von einem deutschen »Allparteienbundesstaat«4 gesprochen und hierin eine wesentliche Ursache für die weitgehende Reformunfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland gesehen. Zweites Beispiel: Vor allem um eine Überschuldung der öffentlichen Haushalte zu vermeiden, sieht das Grundgesetz die Möglichkeit vor (Art. 113), dass finanzwirksame Gesetze von der Regierung verhindert werden können. Die Frage, warum die Bundesregierung bei entsprechenden, eine solide Haushaltswirtschaft gefährdenden Gesetzen von ihrem Recht, die Zustimmung zu verweigern, bisher noch nie wirksam Gebrauch gemacht hat, lässt sich mit dem Hinweis auf ihre rechtliche und faktische Abhängigkeit von den sie tragenden politischen Parteien beantworten. Diese lassen durch ihren Druck auf die Regierung die genannte Bestimmung praktisch leer laufen und haben auch aus diesem Grund die die Grundlagen unseres Gemeinwesens in Frage stellende immense Staatsverschuldung entscheidend mitzuverantworten. Drittes Beispiel: In unserer Verfassung heißt es, dass niemand u. a. wegen seiner »politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden« darf (Art. 3 Abs. 2 GG) bzw. »jeder Deutsche … nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte« hat (Art. 33 Abs. 2 GG). Nun ist es allgemein bekannt – und ich könnte aus eigener Erfahrung einiges zu diesem Thema beisteuern – , dass namentlich die Spitzenpositionen im öffentlichen Dienst ganz überwiegend unter Verstoß gegen die zitierten verfassungsrechtlichen Bestimmungen sehr häufig nur nach der Parteizugehörigkeit des Bewerbers besetzt werden. Übrigens ist insoweit nicht nur der permanente Verfassungsverstoß als solcher problematisch, sondern auch der jedem Eingeweihten bekannte Umstand, dass bürokratische Eliten eben nicht – wie so viele Politiker meinen – den Regierungen automatisch aus »ihren« Parteien und Fraktionsstäben zuwachsen, sondern dieser Personenkreis weitergehende Qualitäten besitzen muss, deren Fehlen man auch nicht durch Gutachten von Roland Berger, Scheinprivatisierungen oder den faktischen Verzicht auf die verfassungsrechtlich gebotene Staatsaufsicht in vielen Bereichen »kompensieren« kann. Viertes Beispiel: Die Parteien haben inzwischen auch über den unmittelbaren staatlichen Bereich hinaus massiv auf die Personalpolitik und Programmgestaltung des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens, die ja eine sog. Grundversorgung in unserer Medienlandschaft sicherstellen sollen, Einfluss genommen. Das Bundesverfassungsgericht leitet zwar in seiner Rechtsprechung aus der 4 So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, 1999, S. 201 ff.
16. Brauchen wir eine neue Verfassung?
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verfassungsrechtlichen Garantie der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) das Gebot ab, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine »binnenpluralistische Struktur« besitzen muss und darum u. a. die gesellschaftlich relevanten Kräfte im Rundfunkrat vertreten sein müssen, um auf diese Weise eine gewisse Meinungsvielfalt zu garantieren. Faktisch hat sich dieses Modell aber nach dem Urteil vieler Fachleute ganz stark zugunsten eines fast ausschließlichen Einflusses der politischen Parteien auf die Meinungsbildung in den Rundfunkgremien entwickelt.
3.
Die mangelnde Europatauglichkeit des Grundgesetzes
Die deutsche Verfassungswirklichkeit ist aber auch durch zahlreiche externe politische Einflüsse nachhaltig geprägt worden. Insoweit besitzt besonders die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union erhebliche Bedeutung. Dabei interessiert im vorliegenden Zusammenhang die mehrfach von Sachkennern getroffene Feststellung, dass die Bundesrepublik als größter Nettozahler unter den Mitgliedern der Europäischen Union ihre Interessen auf europäischer Ebene vor allem aufgrund der durch das Grundgesetz vorgegebenen Entscheidungsstrukturen im Vergleich zu den anderen Mitgliedsstaaten völlig unzureichend vertritt. Neben der mangelnden Wahrnehmung deutscher Interessen gegenüber der EU sind insofern noch die Schwierigkeiten bedeutsam, die die bundesstaatlichen Regelungen des Grundgesetzes bei der Umsetzung europäischen Rechts in deutsches Recht bereiten. Beide genannten Gründe sind es vor allem, die für die mangelnde Europatauglichkeit des Grundgesetzes m. E. zu Recht angeführt werden. Unsere Beobachtungen zur Verfassungswirklichkeit unter dem Grundgesetz zusammenfassend kann gesagt werden: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Allparteienbundesstaat ohne wirklich eigenständige Exekutive, in dem in zahlreichen, politisch relevanten (aber häufig unbequemen) Fällen faktisch dem Bundesverfassungsgericht ein Letztentscheidungsrecht zukommt. An ihrer Europatauglichkeit muss aus verfassungsrechtlicher Sicht gezweifelt werden.
IV.
Reformvorschläge
Die soeben dargestellten Fehlentwicklungen durch die extensive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den übermächtigen Einfluss der politischen Parteien auf die staatliche Entscheidungsfindung (und die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) können als die konsequente Ausfüllung des Vakuums, das vom Grundgesetz durch die Einführung eines reinen parlamen-
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
tarischen Regierungssystems, die Entscheidung für den ausschließlich gerichtlichen »Hüter der Verfassung«, die Ablehnung (fast) jeder direkten Demokratie und die Konzeption eines spannungsreichen föderalen Systems geschaffen wurde, verstanden werden. Und die erwähnte mangelnde Europatauglichkeit des Grundgesetzes hängt zumindest indirekt mit den genannten Entscheidungen des Verfassungsgebers zusammen. Bedenkt man, dass diese alle maßgeblich durch die Alliierten und die problematische »abwehrende Vergangenheitsorientiertheit« des Parlamentarischen Rates an der Weimarer Reichsverfassung und ihrer praktischen Handhabung bestimmt waren, so fällt es gerade angesichts der nunmehr offen zutage getretenen Mängel unseres verfassungsrechtlichen Entscheidungssystems schwer, das Grundgesetz in seiner geltenden Fassung vorbehaltlos anzuerkennen. Diese Situation fordert m. E. dazu heraus, über eine grundlegende Verfassungsreform nachzudenken. Dabei scheinen mir aufgrund des Gesagten folgende inhaltlichen Änderungen besonders angezeigt:
1.
Die prinzipielle Trennung zwischen Legislative und Exekutive
Insoweit ist zunächst an den scheinbar in Vergessenheit geratenen Gedanken zu erinnern, auf dem die Lehre Montesquieus von der Gewaltenteilung, die ja zumindest Gemeingut der kontinentaleuropäischen Verfassungstradition geworden ist, aufbaut. Dieser Gedanke besagt, dass »nicht zwei und schon gar nicht alle drei Gewalten in der ausschließlichen Verfügung einer einzigen sozialen Kraft oder eines einzigen Staatsorgans sein« dürfen5. Weil eben dies im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts auch nicht der Fall war, sondern es damals »einen Pluralismus realer politischer Mächte mit verschiedensten und … unterschiedlich legitimierten Trägern« gab, ist zu Recht festgestellt worden, dass die konstitutionelle Monarchie in den deutschen Einzelstaaten wie auch die des späteren Deutschen Reiches »in spezifischer Weise« vom Grundsatz der Gewaltenteilung i. S. Montesquieus geprägt war6. Genau das ist heute aber, wie ich hier unter III. darzulegen versucht habe, aufgrund der alle drei Staatsgewalten mehr oder weniger stark durchdringenden »sozialen Kraft« der politischen Parteien nicht mehr der Fall. Und das gilt nach meinem Eindruck besonders für das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive. Weil nun aber gerade dadurch die wesentliche strukturelle Voraussetzung für eine wirkungsvolle und am Gemeinwohl orientierte staatliche Herrschaft in Frage gestellt ist, muss jede Verfassungsreform in Deutschland, die diesen Namen verdient – das ist die Quintessenz meiner praktischen Erfah5 So zur Lehre Montesquieus Alois Riklin, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. April 1999. 6 So Stefan Korioth, Der Staat, Bd. 37 (1998), S. 54.
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rungen -, eine (weitgehende) substanzielle Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive anstreben. Eine solche substanzielle Gewaltenteilung lässt sich nun aber im demokratischen Staat der Gegenwart nur in der Weise realisieren, dass Legislative wie Exekutive möglichst eine eigenständige (unmittelbare) demokratische Legitimation besitzen. Das ist deshalb aufgrund der eingetretenen Entwicklung des deutschen Verfassungsrechts prinzipiell zu fordern und folglich die faktische Verabschiedung dieses Gedankens durch den Parlamentarischen Rat unter Berücksichtigung der realen Entscheidungssituation im demokratischen Bundesstaat, der zugleich Mitglied der Europäischen Union ist, rückgängig zu machen.
2.
Die praktische Realisierung dieses Gedankens auf Landesebene
Hier läuft die genannte Forderung im Ergebnis auf den Reformvorschlag hinaus, die Direktwahl der Ministerpräsidenten einzuführen. Im Gegensatz zu vielen dagegen aus parlamentarischer Sicht erhobenen Bedenken zöge das m. E. letztlich eine Stärkung der Landesparlamente nach sich. Denn damit würde auch faktisch – wie von der Gewaltenteilung intendiert – im Gegensatz zu heute das gesamte Parlament der Regierung als Kontrollorgan gegenübertreten. Ein direkt gewählter Ministerpräsident würde daneben voraussichtlich sein Verhalten im Bundesrat primär an den Interessen des Landesvolkes als dem unmittelbaren Stifter seiner Legitimation ausrichten und nur sekundär an den Interessen der Bundesparteien. Er wäre auch aufgrund seiner von den Parteien in den Landtagen unabhängigeren Stellung in weit größerem Umfang als nach geltendem Recht zur Aushandlung und zum Eingehen von Kompromissen in der Lage – Elementen der Entscheidungsfindung also, die eine wesentliche, von der Verfassung gewollte Eigenart des Bundesratsverfahrens ausmachen (s. besonders auch das Verfahren des Vermittlungsausschusses). Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass ein direkt gewählter Ministerpräsident wegen seiner eigenen demokratischen Legitimation weniger dem Druck der ihn parlamentarisch unterstützenden Fraktion (bzw. Koalition) in seiner Personalauswahl und -führung ausgesetzt wäre und diese auch eigenständig zu verantworten hätte. Gerade im Wissen um das Ausmaß der in Deutschland praktizierten parteipolitischen Ämterpatronage wird man diesen Vorteil nicht als gering erachten. Dem Parlament verblieben bei dieser Lösung auch hinreichende Kontrollmöglichkeiten, die namentlich in seinem Etatrecht nach wie vor ihren besonders wirksamen Ausdruck finden würden. Daneben ist insoweit auch an eine Regelung über die Abwahl des Ministerpräsidenten, die den entsprechenden Vorschriften in einigen Gemeindeordnungen nachgebildet werden könnte (s. etwa
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
§ 61 a der Nds. Gemeindeordnung), zu denken. Was die technische Ausformung des Wahlrechts betrifft, so bietet sich die Anknüpfung an die in älteren Wahlgesetzen vorgesehene Möglichkeit an, dass jeder Wähler mit seiner Zweitstimme – die Erststimme wäre der Wahl des Ministerpräsidenten vorbehalten – zugleich für den Wahlkreiskandidaten und die ihn tragende Partei votiert –, im Ergebnis also Erst- und Zweitstimme i. S. des geltenden Wahlrechts zusammenfallen. Diese Möglichkeit würde übrigens – etwa bei einer Aufteilung der zu verteilenden Sitze in zwei Drittel Direktmandate und ein Drittel Listenmandate – mit Sicherheit die (m. E. begrüßenswerte) Konzentration der Parteien auf die Kandidatenauslese befördern. Das Recht zur Festlegung des Wahltermins und möglicherweise auch ein Recht zur Auflösung des Landtages in Krisenfällen (s. etwa die entsprechende Regelung des Art. 25 der Weimarer Reichsverfassung) sollte man m. E. dann dem Landtagspräsidenten zuerkennen. Dieser müsste allerdings bei einer solchen Lösung wegen dieser zusätzlichen »neutralen« Amtsfunktionen, die dann ja zu seiner in einigen Landesverfassungen (s. etwa Art. 45 der Nds. Verfassung) vorgesehenen Befugnis zur Ausfertigung der Gesetze, seinem Hausrecht etc. noch hinzutreten würden, nach seiner Wahl durch das Landesparlament aus seiner Fraktion austreten und dürfte kein Stimmrecht mehr im Parlament besitzen. Er müsste insoweit also einem »Nachrücker« Platz machen. Entsprechendes hätte dann auch für seinen Vertreter, der aus der zweitstärksten Fraktion des Landesparlaments stammen sollte, zu gelten.
3.
Die praktische Realisierung dieses Gedankens auf Bundesebene
Es läge nun nahe, eine entsprechende Lösung wie die eben für die Landesebene skizzierte auch für die Bundesebene zu vertreten, was übrigens die Abschaffung des Bundespräsidenten implizieren würde. Daran hindert mich aber vor allem die Überlegung, dass nach dem hier vertretenen Bundesstaatsverständnis (s. dazu gleich noch unter 4.) die Länder primär Verwaltungsaufgaben besitzen, der Bund dagegen im Schwerpunkt die Gesetzgebung und die Interessenvertretung Deutschlands gegenüber der Europäischen Union wahrzunehmen hat. Das sind Aufgaben, die in besonderem Maße ein Zusammenwirken von Parlament und Regierung erfordern. Auch einer wirksamen Zusammenarbeit mit dem Bundesrat entspricht wohl eher diese überkommene Entscheidungsstruktur. Allerdings würde ich in diesem Fall wegen der faktisch unwirksamen verfassungsrechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung durch das Grundgesetz und der parteipolitischen Ämterpatronage u. a. ganz entschieden für die Direktwahl des Bundespräsidenten eintreten, dem dann die Kompetenz zum Widerspruch gegen einen überschuldeten Haushalt und maßgebende Personalentscheidun-
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gen wie die Berufung der Bundesverfassungsrichter, der Mitglieder des Senats beim Bundesrechnungshof, der Spitze der Bundesbank u. a. zusätzlich zu seinen bisherigen Befugnissen zuerkannt werden müsste. Auch sein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen wäre – wie übrigens auch für die Landtagspräsidenten – ausdrücklich verfassungsrechtlich anzuerkennen. Das hätte, wie ich vermute, faktisch auch eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts in dem Sinne zur Folge, dass selbst in politisch brisanten Fällen die Normenkontrollanträge zurückgehen würden.
4.
Die fehlende Europaorientierung des deutschen Bundesstaates als Reformansatz
Der Parlamentarische Rat hat, was die föderalen Strukturen des Grundgesetzes betrifft, aus den anfangs geschilderten Gründen eine Entwicklung rückgängig gemacht, die faktisch bereits unter der Reichsverfassung von 1871 einsetzte und die dann in der Weimarer Reichsverfassung ansatzweise ihre verfassungsrechtliche Ausformung erfuhr : die Entwicklung der Länder zu »gliedhaften Gebietskörperschaften höherer Ordnung«7. Im Blick auf die bereits erwähnte mangelnde Wahrnehmung deutscher Interessen gegenüber der EU ist aber allein dieses Verständnis der Länder zukunftsträchtig. Es orientiert sich zwar u. a. an dem Rechtsstatus, der den Gemeinden und Kreisen nach unserer Verfassungsordnung zukommt, übernimmt diesen aber nicht völlig. Die drei genannten Entscheidungsebenen verbindet so gesehen der (neu zu definierende) Begriff der Autonomie. Geht man von einem so verstandenen Rechtsstatus der deutschen Bundesländer aus, so lässt sich zunächst die Forderung nach umfassenderen Verwaltungsbefugnissen der Länder als bisher gut begründen. Das kann im vorliegenden Zusammenhang nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Vielmehr muss es hier mit dem Hinweis sein Bewenden haben, dass m. E. insoweit besonders die Auftragsverwaltung nach Art. 85 des Grundgesetzes und auch der Umfang der bundeseigenen Verwaltung auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand gehören. Umgekehrt sollte den Ländern, was ihre Gesetzgebungskompetenzen betrifft, nur noch ein beschränkter Katalog entsprechender ausschließlicher Kompetenzen zuerkannt werden – im Gegensatz zu ihren Verwaltungskompetenzen insoweit also eine grundsätzliche Zuständigkeit des Bundes bestehen. Die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder hätten sich auf jene Bereiche zu beschränken, die die Grundstrukturen ihrer Verwaltung (öffentliches Dienstrecht, Verwaltungsverfahren, Haushaltsrecht und wohl auch allgemeines 7 So Werner Weber, DVBl. 1950, S. 594.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
Polizei- und Ordnungsrecht), die regionale (und damit ihre Autonomie inhaltlich begründende) Identität der Länder (Bau- und Denkmalschutzrecht, Medienrecht, Schul- und Hochschulrecht, Natur- und Landschaftspflege mit Ausnahme des Artenschutzes) und die gesetzliche Regelung der von den Gemeinden und Kreisen wahrzunehmenden Kernaufgaben betreffen. Würde man sich dann noch entschließen können, wie schon mehrfach vorgeschlagen wurde, nur noch ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder (im dargelegten Umfang) anzuerkennen, also vom Typ der Rahmengesetzgebung des Bundes und dem der konkurrierenden Gesetzgebung Abschied zu nehmen, dann wäre eine wirksame Umsetzung des Europarechts im deutschen Bundesstaat durchaus möglich. Die mangelnde Vertretung deutscher Interessen gegenüber der EU würde sich daneben übrigens bedeutend verbessern, wenn – wie hier vorgeschlagen – die Direktwahl der Ministerpräsidenten eingeführt würde. Denn auch insoweit besäßen die Ministerpräsidenten dann einen viel größeren Handlungsspielraum im Bundesrat als bisher und könnten im Vergleich zur gegenwärtigen Rechtslage darum auch weitaus elastischer und schneller auf die Länder betreffende europäische Fragen reagieren.
5.
Weitere Merkposten für eine Verfassungsreform
Nur angedeutet werden sollen noch die besonders wichtigen weiteren Aufgaben einer Verfassungsreform, die sich der hier versuchten Strukturanalyse unseres Verfassungssystems verpflichtet weiß. Dazu gehört zunächst die notwendige Überarbeitung des in das Grundgesetz später eingefügten Europaartikels (Art. 23) mit dem Ziel, eine alleinige Außenvertretung des Bundes gegenüber der EU zu begründen und die internen Abstimmungsverfahren mit dem Bundesrat zu vereinfachen; daneben (und besonders) eine Neukonzeption der Finanzverfassung, die vor allem auf die Begründung einer eigenständigen finanziellen Verantwortung der Länder, Kreise und Gemeinden zu achten hätte und die Kostentragungspflicht des Bundes für den Fall begründen müsste, in dem die Länder (einschl. ihrer Kreise und Gemeinden) kostenwirksame Bundesgesetze ohne einschlägige Ermessenspielräume auszuführen. haben. Es gibt übrigens hinreichend konkrete Formulierungsvorschläge, die allen diesen Forderungen gerecht werden. Bei einem Verständnis der Länder als »gliedstaatliche Gebietskörperschaften höherer Ordnung«, die mit einer hinreichenden Finanzautonomie ausgestattet sind, würde sich auch das immer wieder neu diskutierte Problem einer Länderneugliederung in dem Sinne erledigen, dass Lösungen, die dem freiwilligen Zusammenschluss der Länder den Vorzug geben, grundsätzlich ausreichen
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würden. Was schließlich den Grundrechtskatalog unserer geltenden Verfassung betrifft, so hindern mich trotz mancher rechtstechnischen und inhaltlichen Ungereimtheiten dieses Katalogs sowie einer in meinen Augen zum Teil problematischen einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwei Überlegungen daran, hier grundsätzliche Änderungen vorzuschlagen: Zunächst ist dieser Teil des Grundgesetzes durchaus mit dem Grundrechtskatalog des Europäischen Verfassungsvertrages kompatibel, und vor allem hat sich nach meinem Eindruck in Deutschland seit In-Kraft-Treten des Grundgesetzes auf der Basis seiner Grundrechte ein mit den allgemein anerkannten Menschenrechten übereinstimmender Wertekonsens herausgebildet, den man möglichst nicht gefährden sollte.
6.
Teilweiser Abschied von der Verfassungskultur der Nachkriegszeit
Alle hier nur kurz geschilderten Reformvorschläge zusammen genommen verändern wesentlich die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland (neu) entstandene Verfassungskultur. Das erscheint mir deshalb kaum bedauernswert, weil ich im Blick auf die dargestellte Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und vor allem im Blick auf den nach der Wiedervereinigung unterbliebenen Verfassungsdiskurs meine Probleme mit der vorbehaltlosen Anerkennung dieser Nachkriegs-Verfassungskultur als eines besonderen Wertes habe. Im Übrigen sollte nicht übersehen werden, dass alle hier gemachten Vorschläge den Zugang zur deutschen Verfassungsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts neu eröffnen, weil die Texte der Paulskirchenverfassung, der Reichsverfassung von 1871 und der Weimarer Reichsverfassung so gesehen in einem ganz neuen Licht erscheinen. Vor allem lassen diese Vorschläge es auch nicht mehr zu, die Verfassungspraxis des Konstitutionalismus und unter der Weimarer Reichsverfassung als eine fern liegende, uns heute nicht mehr interessierende Verfassungserfahrung anzusehen. Aus dieser Sicht ist die Vermutung begründet, dass sich aufgrund der Reformvorschläge die Möglichkeit zu einer historisch tiefer fundierten deutschen Verfassungskultur als der gegenwärtig existierenden ergibt.
V.
Voraussetzungen für die Durchführung einer Verfassungsreform
Was die Voraussetzungen für die Durchführung einer umfassenden Verfassungsreform betrifft, so müssen m. E. für ihren Erfolg einige verfahrensrecht-
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
liche, vor allem aber mentale Voraussetzungen bei den handelnden Personen erfüllt sein.
1.
Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen
Die Beantwortung der Frage nach den Durchführungschancen einer umfassenden Verfassungsreform wird gewöhnlich gleichgesetzt mit der Frage, ob die maßgeblichen Entscheidungsträger unserer politischen Parteien willens und in der Lage sind, eine entsprechende Reform zu konzipieren und durchzusetzen. Und genau diese Antwort ist schon deshalb im gedanklichen Ansatz falsch, weil sie von der These ausgeht, dass die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die tatsächliche politische Gewalt in denselben Händen liegt. Wäre das so, dann sollte man jede Hoffnung auf eine Verfassungsreform, die diesen Namen verdient, begraben: Münchhausen konnte sich bekanntlich zwar am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, aber das wird unserer gegenwärtigen Parteiendemokratie nicht gelingen. Konkret folgt daraus die Notwendigkeit der gedanklichen und praktischen Unterscheidung zwischen verfassungsgebender Gewalt des Volkes und (Parteien-)staatsgewalt. Das impliziert m. E. die Anerkennung von zwei notwendigen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für das Gelingen einer Verfassungsreform: Zunächst ist der u. a. für die Beratungen zum europäischen Verfassungsvertrag wiederbelebten Konventsidee in dem Sinne zu entsprechen, dass als stimmberechtigte Mitglieder einem solchen Verfassungskonvent nicht nur die Vertreter der politischen Parteien und ihnen nahestehende Personen angehören dürfen und dieser Konvent unter einem neutralen Vorsitzenden tagt. Des Weiteren kann man dem Gedanken der in den Händen des Volkes und nicht der politischen Parteien (bzw. des Staates) liegenden verfassungsgebenden Gewalt in der realen Verfassungsgebung wohl nur dadurch Rechnung tragen, dass dieser Konvent grundsätzlich öffentlich tagt und sich von vornherein darin einig ist, dass in die von ihm neu zu konzipierende deutsche Verfassung eine Bestimmung aufgenommen wird, dass mit qualifizierten Mehrheiten durch Volksentscheid eine Änderung dieser Verfassung möglich sein soll. Denn es gibt auch in der politischen Realität zumindest so etwas wie den »reaktiven Souverän«8.
8 Ausdruck von Heidrun Abromeit, in: Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 34.
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2.
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Die mentale Voraussetzung
Entscheidender als die soeben geschilderten verfahrensrechtlichen Voraussetzungen ist für eine erfolgreiche Verfassungsreform in meinen Augen aber die notwendige Aufklärung über die mentale Sackgasse, in die sich das historischpolitisch denkende Deutschland inzwischen hineinmanövriert hat. Zur Erläuterung des Gemeinten hier ein Zitat aus der 1998 erschienenen deutschen Verfassungsgeschichte von Hartwig Brandt9 zur historischen Situation Im Nachkriegsdeutschland: »Zwei Dinge lasteten auf der neu gegründeten Republik: der Obrigkeitskomplex und die Hypothek des staatsbetriebenen Völkermordes. Beides erklärt den pädagogischmoralischen Grundzug, der dem neuen Gemeinwesen eingeprägt wurde. Aber auch die Selbstentlastung durch Dämonisierung des ›Dritten Reiches‹. Der neu geschaffene Staat hatte keine Vorgeschichte.«
Drei Folgerungen lässt m. E. das Zitat, das wohl zutreffend die hier behauptete mentale Sackgasse beschreibt, für den Weg zu, der aus diesem Dilemma herausführen könnte: Zunächst sollte die Politik unseres Staates ihren »pädagogisch-moralischen Grundzug« ablegen, d. h. es muss in Deutschland dem Charakter der Politik als Gestaltungsmittel durch Machtausübung innenpolitisch wie außenpolitisch wieder mehr Rechnung getragen werden. Daneben darf die »Dämonisierung des Dritten Reiches« nicht dazu führen, dass man sich vor der konkreten politischen Verantwortung für die Gegenwart mit dem »moralischen« Hinweis auf die Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung drückt: Der ausschließliche Blick zurück verkürzt die Wahrnehmung der gegenwärtigen Probleme und der Notwendigkeit für ihre Lösungen. Schließlich kann spätestens seit der Wiedervereinigung Deutschlands der Hinweis auf die fehlende »Vorgeschichte« der Bundesrepublik nicht mehr bestimmend für ihr historischpolitisches Selbstverständnis sein, sondern man hat dafür, wie es hier ja für die Vorschläge zur Verfassungsreform versucht wurde, die ganze deutsche Geschichte in den Blick zu nehmen. Ich könnte nun an zahlreichen Beispielen belegen, dass die drei genannten Voraussetzungen für eine Überwindung der mentalen Sperre in Deutschland heute immer noch nicht erfüllt sind. Das beunruhigt mich aus folgendem Grund: Man kann die deutsche politische Geschichte des 20. Jahrhunderts in dem Satz zusammenfassen, dass sie von der »Machtbesessenheit« Deutschlands zu seiner »Machtvergessenheit«10 geführt hat. Wie jeder politisch Denkende weiß, kann nun »Machtvergessenheit« sehr schnell direkt in »Machtbesessen9 Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 209. 10 Hans-Peter Schwarz hat 1985 ein Buch herausgegeben, das den Titel trägt: Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit.
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heit« umschlagen. Es hängt also viel für das Wohlergehen des deutschen Staates von einem pragmatischen Geschichts- und einem realen Politikverständnis ab. So lange es daran fehlt, sollte man sich auch keine Hoffnung auf eine wirkliche Verfassungsreform in Deutschland machen.
Thesen I. Es zeigt sich immer deutlicher die Unfähigkeit des deutschen Parteienstaates, notwendige Reformen in Angriff zu nehmen. Die Gründe dafür sind nicht nur politische; vielmehr zeigt diese Unfähigkeit auch, dass das demokratische Entscheidungssystem des Grundgesetzes einer grundlegenden Reform bedarf. Um das zu erkennen, ist zunächst ein Blick auf die Entstehungsgeschichte unserer Verfassung und die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz erforderlich.
II. Auf die Entstehung des Grundgesetzes haben die Alliierten nachhaltigen Einfluss genommen. Im Übrigen ist für die Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rates die starke Orientierung seiner Mitglieder an der (teilweise falsch verstandenen) Verfassungsentwicklung in der Weimarer Republik bemerkenswert. Es fällt darum bis heute schwer, die Entstehung des Grundgsetzes als eine bewusste Äußerung der allein dem deutschen Volk zukommenden verfassungsgebenden Gewalt zu verstehen. Für die späteren Änderungen des Grundgesetzes kommt hinzu, dass sie durchweg kurzfristig konzipierte und den parteipolitischen Kompromiss auf der Stirn tragende Regelungen beinhalten.
III. Für die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz sind drei Entwicklungen kennzeichnend: Zunächst die Verrechtlichung der Politik durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dazu geführt hat, dass unser oberstes Gericht durch »Auslegung« des Grundgesetzes mehrfach über wesentliche politische Fragen im Nachkriegsdeutschland letztverbindlich entschieden hat. Beachtlich ist insoweit auch die Vorwirkung entsprechender Entscheidungen auf den (späteren) politischen Prozess. Im Ergebnis hat diese Verrechtlichung der Politik
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zu einem Verlust an demokratischer Freiheit und damit auch der Möglichkeit geführt, elastisch auf veränderte Verhältnisse politisch zu reagieren. Ein weiteres Kennzeichen der Verfassungsentwicklung unter dem Grundgesetz ist die Monopolisierung der staatlichen Willensbildung (und ihre Durchsetzung) bei den politischen Parteien. Der verfassungsrechtlichen Regelung, dass diese bei der politischen Willensbildung lediglich mitwirken (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) widerspricht also die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz. Das zeigt etwa die Entwicklung des deutschen Bundesstaates zum »Allparteienbundesstaat«, das Leerlaufen des für eine gesunde Haushaltswirtschaft zentralen Art. 113 GG, die verfassungswidrige parteipolitische Ämterpatronage und der dominierende Einfluss der politischen Parteien in den einschlägigen Gremien des öffentlichen Rundfunks. Schließlich lassen besonders die durch das Grundgesetz vorgegebenen Entscheidungsstrukturen in europäischen Angelegenheiten an der Europatauglichkeit unserer Verfassung zweifeln.
IV. Die aus dieser Mängelanalyse sich ergebenden notwendigen Reformen des Grundgesetzes laufen zunächst auf die Forderung nach einer prinzipiellen Trennung zwischen Legislative und Exekutive hinaus, die auf der Landesebene vor allem durch die Einführung der Direktwahl der Ministerpräsidenten realisiert werden könnte. Für den Bund empfiehlt sich dagegen im Blick auf seine primäre Gesetzgebungszuständigkeit und die ihm gegenüber der Europäischen Union obliegende Interessenvertretung Deutschlands das weitere Festhalten am parlamentarischen Regierungssystem. Allerdings sollte man dann an eine Direktwahl des Bundespräsidenten denken, um ihm weitergehende Kompetenzen mit dem Ziel zusprechen zu können, den Einfluss der politischen Parteien auf die staatliche Willensbildung und –durchsetzung notfalls zu begrenzen. Die Europatauglichkeit des Grundgesetzes ließe sich vor allem durch die Abschaffung der konkurrierenden (und Rahmen-)Gesetzgebung und die Aufnahme von (ausdrücklich benannten) ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder in das Grundgesetz verbessern. Dazu würde auch die Überarbeitung des Artikel 23 GG mit dem Ziel beitragen, eine alleinige Außenvertretung des Bundes gegenüber der EU zu begründen und die internen Abstimmungsverfahren mit dem Bundesrat zu vereinfachen.
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3. Teil: Abschied von der Exekutive
V. Für die Durchführung einer entsprechenden Verfassungsreform ist zunächst die notwendige gedankliche und praktische Unterscheidung zwischen verfassungsgebender Gewalt des Volkes und (Parteien-)staatsgewalt zu fordern. Sie verbietet es, dass einem entsprechenden Verfassungskonvent dann nur Vertreter der politischen Parteien als stimmberechtigte Mitglieder angehören; und gebietet als »Geschäftsgrundlage« für die Verfassungsberatungen zumindest, dass mit qualifizierten Mehrheiten durch Volksentscheid eine Änderung der neuen Verfassung möglich sein muss. Entscheidende Voraussetzung für eine grundlegende Verfassungsreform ist aber der Abschied von der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eingetretenen »Theologisierung des Politischen«. Solange es in unserem Land an einem (für die übrigen Staaten selbstverständlichen) pragmatischen Geschichtsund einem realen Politikverständnis fehlt, besteht keine Chance auf eine dringend notwendige Reform des Grundgesetzes im skizzierten Sinne.
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation staatlicher und supranationaler Herrschaft durch das deutsche Volk
17. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens für die Legitimation der Staatsgewalt. Ein Beitrag zur Auslegung des Artikel 20 Abs. 2 GG
Einleitung: Die Fragestellung und der Gang ihrer Erörterung Art. 20 Abs. 2 GG unterscheidet, so wird gewöhnlich gesagt, »zwischen Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt1. Deshalb nimmt man durchweg auch an, dass der Begriff »Volk« in Art. 20 Abs. 2 Satz. 2 GG offensichtlich »etwas anderes als in Satz 1« der genannten Vorschrift meint. Satz 1 bezieht sich danach »auf das Staatsvolk«, während »Volk« in Satz 2 »die Aktivbürgerschaft, die für das Staatsvolk handelt«, betriff2. Eine rechtliche Auswirkung des durch Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 GG legitimierten Volkswillens auf die Ausübung der Staatsgewalt besteht aufgrund dieses Verhältnisses zwischen den beiden Sätzen von Art. 20 Abs. 2 GG nach überwiegender Ansicht in der Form, dass »alle Organe … dem Anspruch, für das Volk, in seinem Interesse zu handeln«, unterliegen3 ; die Staatsgewalt ist also den in Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Organen »treuhänderisch zur Ausübung übertragen«4. Für die so verstandene rechtliche Bedeutung des Volkswillens spricht augenscheinlich auch, dass die Abgeordneten »Vertreter des ganzen Volkes sind« (Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG) und die Beamten in Bund und Ländern »dem ganzen Volk« zu dienen haben (§§ 33 Abs. 1 BeamtStG, 60 Abs. 1 BBG i. V. m.
1 So etwa Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz (Mitbericht), VVDStRL 29 (1971), S. 46 (60 -Hervorhebungen dort); s. daneben nur Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 (S. 429 ff.) Rdn. 5, 8, 11. 2 So Dietrich Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 203 mit weiteren Nachweisen. 3 So Kriele (Fn. 1), S. 60. 4 So Helmut Quaritsch, Der fortschreitende Verfassungsstaat, Der Staat 17 (1978), S. 421 (427 – Hervorhebung A. J.). Genauer zum daraus folgenden Verständnis der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie. Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen (Bonner Akademische Reden 53), 1981, S. 25 f.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Art. 33 Abs. 5 GG5). Dafür spricht ebenfalls, dass nach Art. 20 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung »an Gesetz und Recht gebunden« sind, wenn man mit der wohl h. M. unter »Recht« (auch) das unmittelbar auf das Volk zurückzuführende Gewohnheitsrecht versteht6. Der Wortlaut des Amtseids, den der Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung bei der Amtsübernahme vor dem Bundestag zu leisten haben (Art. 64 Abs. 2 GG i. V. m. 56 Abs. 1 GG), weist gleichfalls in diese Richtung. Besitzt der Volkswille danach offensichtlich eine gewisse (verfassungs-) rechtliche Verbindlichkeit, so lässt sich weiter folgern, dass die demokratische Legitimation für die die Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ausübenden Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung den verfassungsrechtlichen (und nicht nur politischen!) Anforderungen letztlich nur dann genügt, wenn die genannten Organe in Übereinstimmung mit dem nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG legitimierten Volkswillen handeln. Im Folgenden geht es mir um eine genauere Begründung eben dieser These, weil dafür m. E. im Blick auf das Verhältnis zwischen Satz 1 und Satz 2 des Art. 20 Abs. 2 GG und auf die tragende Rolle der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes der übliche Verweis auf die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der »inhaltlichen« Repräsentation des Volkswillens durch die Staatsorgane (und vor allem durch das Parlament) nicht ausreicht und zudem die zentrale Rolle des Bundespräsidenten als eigentlicher Repräsentant des Volkswillens7 verkannt wird. Diese genauere Begründung soll in mehreren gedanklichen Schritten versucht werden. Zunächst (I.) durch die Rückbesinnung auf eine heute (fast) vergessene Studie zur Weimarer Reichsverfassung, weil sich dort bereits im Ansatz Überlegungen zum Verhältnis zwischen Volkswillen und organisierter Staatlichkeit finden, die mir als Anknüpfungspunkt für die eigene Argumentation besonders geeignet erscheinen. Danach (II.) ist auf die Legitimation der »politischen Willensbildung des Volkes« (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) durch Art. 20 5 Das Zitat entspricht dem Text von §§ 33 Abs. 1 BeamtStG, 60 Abs. 1 BBG. Ganz entsprechend etwa Art. 60 Satz 2 der Niedersächsischen Verfassung. 6 So etwa Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 129 mit weiteren Nachweisen. »Die menschliche Gemeinschaft« hat eben, wie schon Otto v. Gierke zutreffend bemerkt hat, keineswegs an den Staat »ihre gesamte rechtsschöpferische Kraft veräußert«; auch das Recht sei insoweit »eine im Leben des Staates nicht aufgehende besondere Funktion des Gemeinlebens geblieben«, so ders., Deutsches Privatrecht. Erster Band. Allgemeiner Teil und Personenrecht, 1895, S. 163. 7 Zur Unterscheidung zwischen formaler und inhaltlicher Repräsentation s. nur Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 1), Bd.3 , 3. Aufl. 2005, § 34 (S. 31 ff.) Rn. 28 f. und: Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion (1983), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 379 (391 f.).
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
535
Abs. 2 Satz 1 GG einzugehen8 und die daraus folgende Bedeutung dieser Vorschrift für die Legitimation des Grundgesetzes und des übrigen geltenden Rechts darzulegen. Im Anschluss daran (III.) wird zu klären sein, wie in der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes gewährleistet ist, dass die durch das Staatsbürgervolk (die Aktivbürger) demokratisch legitimierten Organe (und insbesondere das Parlament) ihrer verfassungsrechtlichen Bindung an den Volkswillen genügen. Da es insoweit in der politischen Wirklichkeit besonders durch den prägenden (vom Grundgesetz gewollten) Einfluss der politischen Parteien auf die Ausübung der Staatsgewalt immer wieder (und immer offensichtlicher) zu einer Entzweiung zwischen Staatswillen und Volkswillen kommt (und damit zu einem Scheitern der inhaltlichen Repräsentation), ist in Ergänzung zu diesen Überlegungen noch auf die Frage einzugehen (IV.), ob nicht die wesentliche verfassungsrechtliche Aufgabe des Bundespräsidenten darin besteht, durch sein öffentliches Wirken dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen. Schließen will ich (V.) mit Überlegungen zum verfassungsrechtlichen »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt, um auf diese Weise die verfassungstheoretische Grundlage, auf die sich die hier vertretene Auslegung des Art. 20 Abs. 2 GG stützt, zu verdeutlichen9.
I.
Eine Studie zur Weimarer Reichsverfassung als Anknüpfungspunkt für die Auslegung des Art. 20 Abs. 2 GG
Im Jahr 1927 erschien im Druck die Habilitationsschrift von Hans Liermann: Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart. Sie ist weder in der Staatsrechtslehre unter der Weimarer Reichsverfassung besonders beachtet worden10, noch ist das später der Fall gewesen. Als gedanklicher An8 Richtig insoweit die Feststellung von Walter Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 1), Bd. 2, 1. (!) Aufl. 1987, § 31 (S. 49 ff.) Rn. 26: » Die Legitimationsfunktion des Art. 20 Abs. 2 S. 1 trägt nicht allein die Volkswahl, sondern greift darüber hinaus und trägt ebenso den Volkswillensbildungsprozess. In der Demokratie geht nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch die Willensbildung vom Volke aus.« 9 Die Frage nach dem verfassungsrechtlichen »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt stellt Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung. Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt, 1995, S. 104. Dass jede verantwortbare Verfassungsauslegung einer »verfassungsgemäßen Verfassungstheorie« bedarf, hat Böckenförde mehrfach betont, s. etwa: Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik (1976), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie (Fn. 7), S. 53 (84, genauer dazu 85 ff.) und zur Grundrechtsinterpretation: Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation (1974), ebd., S. 115 (140 ff.). 10 Kurz zu diesem Buch: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band 1914 – 1945 (1999), S. 264; s. daneben die Stellungnahme von Karl Gottfried
536
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
knüpfungspunkt für die hier zu erörternde Fragestellung scheint sie mir aber aus mehreren Gründen geeignet:
1.
Die Notwendigkeit der (verfassungstheoretischen) Unterscheidung zwischen Gesellschaftsvolk und Gemeinschaftsvolk
Bedeutung für unsere Überlegungen besitzt zunächst die von Liermann herausgearbeitete grundsätzliche Unterscheidung zwischen »Gesellschaftsvolk« und »Gemeinschaftsvolk«. Seine allgemeinen Überlegungen zu diesen beiden Volksbegriffen, die besonders an Otto von Gierkes Verständnis der menschlichen Verbände (bzw. an seinen Begriff der Verbandsperson) sowie an die bekannte Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies anknüpfen11 und auch in gegenwärtigen »Theorien der Gemeinschaft« eine Stütze finden12, interessieren hier weniger. Wichtiger ist dagegen, dass wir es nach Liermann »bei Betrachtung des positiven Rechtes mit zwei ganz verschiedenen Volksbegriffen zu tun (erg.: haben), von denen der eine reale Gesamtpersönlichkeit auf genossenschaftlicher Grundlage, der andere lediglich Summe koexistierender Individuen ist. Der eine ist psychische Wechselwirkung, Geist, unabhängig vom Recht, der andere Zusammenfassung von Körpern durch das Recht. Hier ist ›reales und organisches Leben‹, dort ›ideelle und mechanische Bildung‹« (87).
Auf der so beschriebenen inhaltlichen Unterscheidung zwischen Gemeinschaftsvolk und Gesellschaftsvolk beruht, wie Liermann weiter ausführt, »im Wesentlichen die Lösung der Probleme, die die Betrachtung des Volksbegriffes im Rechte stellt. Auf ihrer Verwechslung und unrichtigen Gleichsetzung beruhen aber auch zum größten Teile die Irrtümer und gewaltsamen Fiktionen, an denen gerade die Rechtsgeschichte des Volkes so reich ist« (87).
Genau besehen geht es nun aber Liermann nicht um die genannte Unterscheidung als solche, sondern um das Gebot, für die Legitimation der Staatsgewalt zwischen der durch das Gemeinschaftsvolk gestifteten und der durch das Gesellschaftsvolk begründeten zu unterscheiden. Das zeigt seine Stellungnahme zu einer offensichtlich mit Art. 20 Abs. 2 GG übereinstimmenden Regelung in den Verfassungen einiger Schweizer Kantone. Es läge, so führt Liermann dazu aus, nur scheinbar ein »unlösbarer Widerspruch« darin, dass dort »einerseits die Hugelmann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichsstaatsrecht der Gegenwart. Kritische Bemerkungen zu Liermanns gleichnamigem Werk, (Österreichische) Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. IX (1929), S. 32 ff. 11 Siehe zu Gierke S. 73 ff, 144 ff. und zu Tönnies S. 87 ff, 99 des Buches von Liermann. 12 Siehe etwa die Übersicht von Lars Gertenhach/Henning Laux/Hartmut Rosa/David Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, 2010.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
537
Staatsgewalt dem ganzen Volke« zugestanden und »andererseits die Ausübung von Rechten nur der Summe der politisch berechtigten Bürger überlassen« werde. Denn diese Verfassungen »erkennen« damit, wie er sagt, »das Gemeinschaftsvolk als Ausgangspunkt der Staatsgewalt an. Sie geben aber Rechte im Staate nur dem Gesellschaftsvolk, bzw. dem Teil desselben, der der aktiven Ausübung politischer Rechte fähig ist. Diesen fügen sie als Organ dem Staatsmechanismus ein, denken aber zugleich immer daran, dass der Staat letzten Endes auf dem Gemeinschaftsvolk beruht. Nur wenn man das Gesellschaftsvolk oder gar den politisch berechtigten Teil desselben mit dem Gemeinschaftsvolke gleichsetzt, kommt man zu einem dann allerdings unlösbaren Widerspruch. Auf diese Weise lassen sich durch scharfe Trennung der beiden verschiedenen Volksbegriffe die scheinbaren inneren Widersprüche, die sich in fast jedem demokratischen System vorfinden, ohne weiteres beseitigen« (94).
Trotz der so geforderten Unterscheidung für die Legitimation der Staatsgewalt, die Liermann in seiner Schrift mehrfach nachdrücklich betont13, ist zu beachten, dass »das gedankliche Gebilde des Staates … zu seiner Konstruktion als Rechtssubjekt eigener Art des Volkes als Element« bedarf und »gleichzeitig … das Volk des Staates, denn nur durch die Staatsidee ist es fähig, sich genossenschaftlich als Gesamtpersönlichkeit zu entwickeln« (77). Es geht insoweit allerdings um ein Unterscheiden, das im Gemeinschaftsvolk die Grundlage für die demokratische Legitimation der Staatsgewalt sieht, ohne die ihre durch das Parlament (oder durch direkt-demokratische Beteiligungsformen des Gesellschaftsvolks) begründete Legitimation unvollständig bleiben muss14.
13 Siehe etwa S. 94 f., 101, 171 f., 181 f., 184, 186. Das unterscheidet Liermann von Otto von Gierke und Hugo Preuss, die ja »den Dualismus von Volk und Staat« preisgeben, so richtig Wilhelm Hennis, Das Problem der Souveränität. Ein Beitrag zur neueren Literaturgeschichte und gegenwärtigen Problematik der politischen Wissenschaften (1951), Buchausgabe 2003, S. 23. Ein Verständnis des Staates als Anstalt und des Volkes als Anstaltsherr (Träger des Anstalt), wie Böckenförde es vertreten hat, würde dieser von Liermann geforderten Unterscheidung gerecht, s. ders., Organ, Organisation, Juristische Person. Kritische Überlegungen zu Grundbegriffen und Konstruktion des Organisationsrechts, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), FS für Hans J. Wolff zum 75. Geburtstag, 1973, S. 269 (295 ff, auch 290 f.). 14 Liermann interpretiert dementsprechend auch den Satz der Reichsverfassung »die Staatsgewalt geht vom Volke aus« (Art. 1 Satz 2 WRV) wie folgt: »Er ist nicht eigentlich demokratisch, weil er dem Volke keine Gewalt verleiht, sondern er ist demozentrisch, weil er das Volk zum Mittelpunkt des Staates und Ausgangspunkt alles staatlichen Lebens macht« (S. 81 -Hervorhebungen dort); ganz entsprechend S. 184, 241 ff.
538 2.
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Die Bedeutung dieser Unterscheidung für die Auslegung der Weimarer Reichsverfassung
a) Die Weimarer Reichsverfassung bestätigt nun nach Liermann die von ihm getroffenen Unterscheidungen. So sieht er konkrete Anhaltspunkte für die verfassungsrechtliche Anerkennung des Gemeinschaftsvolks etwa in der Aussage des Art. 130 Abs. 1 WRV, dass Beamte »Diener der Gesamtheit« sind und »nicht einer Partei« (215); oder wenn Art. 21 WRV die Abgeordneten »als Vertreter des ganzen Volkes« versteht15. Auch die für den Reichspräsidenten vorgesehene Eidesformel (Art. 42 WRV) erwähnt er in diesem Zusammenhang16. Den entscheidenden Beleg für die verfassungsrechtliche Anerkennung des Gemeinschaftsvolks liefert nach Liermann aber die Präambel der Weimarer Reichsverfassung. Denn sie lässt die Folgerung zu, dass »in der Weimarer Verfassung … das deutsche Volk als Staatsvolk bereits da« ist. Es wird, wie er weiter ausführt, »als schon bestehend anerkannt, nicht erst von ihr gebildet. Es ist vom Objekt, das 1871 die Fürsten durch ihren Bund hervorbrachten, zum Subjekt geworden, welches selbst sein Reich erneuert und sich selbst ›diese Verfassung‹ gegeben hat. Es ist somit die für das ganze staatsrechtliche System des neuen Reiches nicht leicht zu übersehende Bedeutung der Präambel, dass sie die reale Gesamtpersönlichkeit des deutschen Staatsvolkes als bestehend anerkennt…. Es liegt somit in der Präambel ein demokratischer Gedanke. Aber es ist Demokratie im höheren Sinne als die landläufige, unter der man die Teilnahme des Volkes an der Staatsgewalt zu verstehen pflegt. Es ist die Anerkennung des Volkes, und zwar nicht des zum Staatsorgan gemachten künstlichen Gesellschaftsvolkes, sondern des lebendigen Gemeinschaftsvolkes als staatsschöpfende Urkraft. Das Volk ist nicht, wie in der Demokratie, in den Staat gestellt, sondern über den Staat. Es ist nicht Organ des Staates, sondern sein Herr. Volkssouveränität in einem höheren Sinne bringt damit die Präambel. Es ist die Abkehr von der Idee der Allgewalt des Staates. Er hat im Volk seinen Zweck gefunden und ist nicht mehr, wie ihn Hegel gedacht hat, Selbstzweck und ›an sich‹ vernünftig…. Durch diese Gegenüberstellung von Reich und Volk bekennt sich aber die Reichsverfassung gleichzeitig zu einem Dualismus zwischen Staat und Volk. Das Staatsvolk, das hier als reale Gesamtpersönlichkeit anerkannt und zugleich über den Staat gestellt wird, ist demnach etwas vom Staat verschiedenes, kein Teil und Glied desselben, das in
15 S. 139 f; das gilt aber cum grano salis, denn »das Gemeinschaftsvolk hat kein subjektives Recht auf Vertretung durch das Parlament. Aber die Rechtsordnung weist objektiv den Reichstag an, die Idee des Gemeinschaftsvolkes zu beachten.« 16 S. 32, 197 ff. . Nach Art. 42 WRV hatte der Reichspräsident einen Eid dahingehend zu leisten, dass er u. a. seine »Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden« werde.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
539
ihm aufgeht, sondern etwas außerhalb und über ihm Stehendes« (170 f. – Hervorhebungen dort)17.
b) Eine wesentliche verfassungsrechtliche Charakterisierung des Gesellschaftsvolks sieht Liermann darin, dass die Abgeordneten des Reichtags gemäß Art. 22 WRV »nach den Grundsätzen der Verhältniswahl« gewählt werden. Denn »dadurch, dass der einzelne Abgeordnete notwendig einer Partei angehören muss, um überhaupt in das Parlament zu gelangen und in ihm wirken zu können, wird er in erster Linie zum Parteivertreter und damit zum Vertreter der in der Partei vereinigten Individuen, also eines Teiles des Staatsbürgervolkes. Äußerlich wird die Richtigkeit dieser Behauptung durch das Vorhandensein des Fraktionszwanges bestätigt, der den Abgeordneten zwingt, so zu stimmen, wie vorher von der Partei beschlossen worden ist« (135)18.
Man kann also vom Reichstag als »die in den Staat als Organ hinein konstruierte Spitze des in Parteien organisierten Gesellschaftsvolkes« sprechen (139). Diese Eigenschaft als Gesellschaftsvolk verliert das Staatsbürgervolk auch nicht dadurch, dass es in Ausübung der von der Weimarer Reichsverfassung vorgesehenen »Funktionen Reichstagswahl, Referendum und Volksinitiative in Erscheinung tritt« (131). Denn es ist insoweit wie der Reichstag »Staatsorgan«19 c) Ergänzend zu diesen Ausführungen Liermanns sind für unsere Fragestellung noch seine Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Stellung des Reichspräsidenten interessant: Während den Abgeordneten nach dem bereits erwähnten Art. 21 WRV nur eine »ethisch-politische Pflicht« auferlegt wird, »bei ihrer Funktion als Staatsorgan des Gemeinschaftsvolkes zu gedenken« (188), »ist« nach Liermann die »Verkörperung des deutschen Staatsvolkes … der Reichspräsident« (192). Seine verfassungsrechtliche Stellung versteht er als eine »tribunizische«: »Er übt die passiv kontrollierende Volksgewalt für das Volk in rechtlichen Formen als Staatsorgan aus. Wie schon in Rom die tribuni plebis kein positives imperium wie die Konsuln, sondern lediglich ein negatives jus auxilii besaßen, so wirkt auch der 17 Siehe ergänzend S. 60, 172 ff. Liermann verweist übrigens in der hier im Text wiedergegebenen Stellungnahme für seine Äußerung zu Hegel in einer entsprechenden Anmerkung auf den berühmten (und vielfach missverstandenen) § 258 von dessen Rechtsphilosophie. Nach Gerhard Anschütz , Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Kommentar), 14. Aufl. 1933, Art. 1 Anm. 2 sind die wiedergegebenen Überlegungen Liermanns juristisch irrelevant. Denn, so sagt er an anderer Stelle, »auch der ›Träger‹ der Staatsgewalt ist Staatsorgan, auch seine Stellung ist nicht Herrschaft über den Staat, sondern Organschaft im Staat«, so ders., in: Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 19 Anm. a (auf diese Fundstelle weist Anschütz in seinem Kommentar zur WRV ausdrücklich hin: s. dort Einleitung S. 10 Anm. 1). 18 Siehe daneben die vertiefenden Ausführungen Liermanns zum Fraktionszwang auf S. 135 ff. und S. 188. 19 Genauer dazu S. 130 ff., 140 ff.
540
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Reichpräsident nicht positiv regierend, sondern negativ kontrollierend für das Volk« (194).
Der Reichspräsident ist also »als Kontrollorgan des Volkes gegenüber dem Parlament« anzusehen (192). Sein Verhältnis zum Reichstag spiegelt für Liermann den Dualismus zwischen Volk und Staat wieder : »Der das Gemeinschaftsvolk verkörpernde Reichspräsident und der aus dem als Staatsorgan fungierenden Gesellschaftsvolk hervorgegangene Reichstag stehen einander im Spiel der politischen Kräfte gegenüber. Hier die aktive Gewalt des Parlaments, dessen Vertrauen für die Reichsregierung notwendige Voraussetzung für die Ausübung der Staatsgewalt ist, dort die passiv kontrollierende des Reichspräsidenten. Es ist nicht eine eigentliche ›Gewaltenteilung‹, die hier gegeben ist, sondern es sind zwei miteinander ringende, ihrem Wesen nach verschiedene und gar nicht miteinander vergleichbare Gewalten, Volksgewalt und Staatsgewalt« (195).
Auch seine besondere demokratische Legitimation rechtfertigt die geschilderte Stellung des Reichspräsidenten. Denn das Volk ist »seinem inneren Aufbau nach … bei der Präsidentenwahl nicht notwendig in Parteien zerspalten, wie bei der Reichstagswahl, weil es hier eben nicht Parteien wählen kann, sondern nur eine Persönlichkeit…. Das Gemeinschaftliche, die Volksgesamtheit ist hier viel mehr betont als bei den Parlamentswahlen. Man merkt und fühlt ganz anders als dort, dass hier hinter dem die Wahl ausübenden Gesellschaftsvolk das Gemeinschaftsvolk steht, dem im Präsidenten seine Verkörperung geschaffen werden soll. Die Wahl ist in der Tat Sache des ›ganzen deutschen Volkes‹, wenn auch notwendigerweise dabei als Kreationsorgan wiederum nur das Gesellschaftsvolk der Staatsbürger fungieren kann« (196).
3.
Mögliche Folgerungen für die Auslegung des Grundgesetzes
Zusammenfassend kann damit gesagt werden, dass Liermanns Studie sich deshalb als Anknüpfungspunkt für die folgenden Überlegungen eignet, weil seine Unterscheidung zwischen Gemeinschafts- und Gesellschaftsvolk und ihre von ihm dargelegte Tragweite für die Auslegung der Weimarer Reichsverfassung es erlauben, die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens für die Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 GG genauer zu bestimmen. Denn danach würde Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG (zumindest) die demokratische Legitimation für die politische Willensbildung des »Gemeinschaftsvolkes« (den Volkswillen) stiften und wäre insoweit Grundlage für die parlamentarisch-demokratische Legitimation der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Es bestände für die Abgeordneten als Teile des »Gesellschaftsvolkes« insofern allerdings nur eine »ethisch-politische Pflicht«, den Willen des »Gemeinschaftsvolkes« zu beachten. Dagegen wäre der Bundespräsident aufgrund seiner ver-
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
541
fassungsrechtlichen Stellung und seiner vom Grundgesetz vorgesehenen besonderen demokratischen Legitimation berufen, durch sein öffentliches Wirken dem Willen des »Gemeinschaftsvolkes« im politischen Alltag Gehör zu verschaffen, – ihn zu repräsentieren. Zu prüfen ist damit, ob und inwieweit diese Aussagen der Verfassungsrechtslage unter dem Grundgesetz entsprechen. Dabei ist vor allem zu beachten, dass eine dem Art. 79 Abs. 3 GG entsprechende Vorschrift zum Schutz der Verfassungsidentität in der Weimarer Reichsverfassung bekanntlich fehlte. Denn daraus müssen sich schon deshalb notwendige Modifikationen für die von Liermann vertretene Argumentation ergeben, weil aufgrund des Art. 79 Abs. 3 GG »die verfassungsgebende Gewalt des Volkes … den Vertretern und Organen des Volkes kein Mandat erteilt (erg. hat), über die Verfassungsidentität zu verfügen«20. Es sind folglich nach dem Grundgesetz, um in der Terminologie Liermanns zu reden, den Vertretern und Organen des Gesellschaftsvolks strengere, auf das Gemeinschaftsvolk rückführbare Grenzen gesetzt als die von ihm entwickelten.
II.
Die Legitimation des Volkswillens nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG
Der verfassungstheoretische Gehalt der wiedergegebenen Überlegungen Liermanns lässt sich m. E. auf die von Carl Schmitt betonten »zwei Prinzipien politischer Form (Identität und Repräsentation)« zurückführen21. Diese zwei »Formprinzipien« sind nach Schmitt für eine Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaates schlechthin konstitutiv. Für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit sie deshalb auch für das Grundgesetz gelten, ist zunächst zu klären, inwiefern das »politische Gestaltungsprinzip« der Identität22 im Grundgesetz seinen Niederschlag gefunden hat. Wie hier bereits in der Einleitung angedeutet, besteht nach der wohl h. M. die verfassungsrechtliche Bedeutung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG darin, dass »das Volk als Inhaber der Souveränität … real« fortexistiert und »durch die von ihm eingesetzten Instanzen ständig in Aktion« ist. Denn, so wird gesagt, »jedes Gesetz, jeder Verwaltungsakt, jeder Richterspruch beansprucht einseitige Verbindlichkeit und macht auf diese Weise die Souveränität des Souveräns geltend«23. Die im Folgenden genauer zu begründende These lautet nun demge20 21 22 23
So BVerfGE 123, 267 (344). Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. 1970, S. 204 ff. Ebd., S. 204 So Quaritsch (Fn.4), S. 428 (Hervorhebungen A.J.).
542
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
genüber, dass sich die verfassungsrechtliche Bedeutung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht darin erschöpft, dass das Volk »durch die von ihm eingesetzten Instanzen« politische Wirksamkeit entfaltet. Vielmehr besagt diese Vorschrift darüber hinaus, dass »die politische Willensbildung des Volkes« (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) ihre eigenständige demokratische Legitimation besitzt. Und das gilt auch für die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und ihre Fortexistenz unter dem Grundgesetz wie für die gewohnheitsrechtliche Rechtsbildung überhaupt. Denn auf diese Weise erfährt ja die politische Willensbildung des Volkes ihre besondere inhaltliche Ausformung. Das ist jetzt genauer zu begründen.
1.
Die Legitimation der »politischen Willensbildung des Volkes« (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG)
Die verfassungsrechtliche Relevanz des Volkswillens belegt die Regelung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Seine demokratische Legitimation erfährt er durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Während die h. M. in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG (primär) die zentrale verfassungsrechtliche Grundlage für die Rechtstellung der Parteien nach dem Grundgesetz sieht, hat Wilhelm Hennis davon abweichend zum Verständnis dieser Bestimmung vor vielen Jahren richtig bemerkt: »Verlegen heißt es im Artikel 21 des Grundgesetzes: ›Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit.‹ Die diesem Satz zugrundeliegende Denkweise ist nicht, wie Gerhard Leibholz nicht müde wird zu behaupten, eine ›parteistaatliche‹, sie ist durch und durch ›vorparteienstaatlich‹. Die Formel des Art. 21 trägt eine konstitutionell-demokratische Theorie – und wie hätte das im Parlamentarischen Rat anders sein sollen? Der Satz des Art. 21 ergänzt den vorhergehenden mit der kanonischen Formel zur Legitimitätsbegründung demokratischer Herrschaftsweise: ›Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus‹«24
Für diese Auslegung spricht zunächst, dass die politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG an der politischen Willensbildung lediglich »mitwirken«. Denn in diesem Wort kommt klar zum Ausdruck, dass sie nach dem Grundgesetz »nicht als die prädestinierten oder gar als die einzigen Willensbildner« zu verstehen sind.25 Eine solche Annahme würde vor allem auch ihrem rechtsbegrifflichen Charakter als Verein i. S. des Art. 9 GG widersprechen. Denn Art. 21 GG muss, soweit er die Rechtsstellung der politischen Parteien betrifft, als lex 24 Wilhelm Hennis, Parteienstruktur und Regierbarkeit (1977), in: ders., Regieren im modernen Staat, 1999, S. 287 (295 – Hervorhebung A.J.). 25 So bereits Friedrich Klein, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 2. (!) Aufl. 1957, Art. 21 Anm. III 4b (= S. 622).
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
543
specialis zu dieser Vorschrift verstanden werden26, – mit der Folge, dass auch das (subjektive) Recht der Parteien auf Mitwirkung am politischen Willensbildungsprozess27 letztlich als grundrechtlich legitimiert anzusehen ist. Der entscheidende Grund dafür, dass Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG i. S. der wiedergegebenen Ansicht von Hennis den Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG ergänzt, liegt also darin, dass die Parteien »von den Bürgern her zu denken« sind. Eben deshalb kann man sie nicht als »eigenständige Träger bei der politischen Willensbildung des Volkes« verstehen, »die sich dafür bei den Bürgern nur legitimieren«28. Richtig ist daher gesagt worden: »Die demokratische Legitimation kommt dem Abgeordneten und dem Minister, dem Beamten und dem Richter als Treuhänder der Allgemeinheit zu. Die demokratische Basis des Parlamentariers ist daher nicht die politische Partei, als deren Kandidat er gewählt worden ist. Die Partei leistet der Demokratie nur Maklerdienste … Ursprung der Legitimation ist auch nicht die Mehrheit der Wähler, die über das Wahlergebnis entscheidet; das Mehrheitsprinzip bestimmt nur das Verfahren, wie der Wille des Volkes gebildet wird. Das Volk als Ganzheit ist Legitimationsquelle. In dieser Ganzheit sind die Unterschiede von Mehrheit und Minderheit aufgehoben«29.
Die in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG angesprochene »politische Willensbildung des Volkes« muss also im Ergebnis als durch das Volk i. S. des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG legitimiert verstanden werden.
2.
Die Legitimation des verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und ihrer Fortexistenz unter dein Grundgesetz
Die Anerkennung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes durch das Grundgesetz ist in der Lehre praktisch unbestritten30 und damit implizit auch, 26 Siehe BVerfGE 12, 281 (304). Genauer zum Verhältnis des Art. 21 zu Art. 9: Wilhelm Henke, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitkommentierung des Art. 21 von 1991, Rn. 216 f. 27 So Henke, ebd. Rn. 61, 216 Anm. 3, 217. 28 So richtig Böckenförde, Sondervotum in: BVerfGE 73, 40 (112); ganz entsprechend Isensee, Polare Legitimation (Fn. 4), S. 16: »Die politischen Parteien haben ein grundrechtliches Fundament. Sie legitimieren sich von ihren Mitgliedern her, nicht von der Ganzheit des Staatsvolkes, … sie sind ihrer Legitimation nach nicht genuin demokratisch.« 29 lsensee, Polare Legitimation (Fn. 4), S. 25 f. 30 Dazu grundlegend Dietrich Murswiek, Verfassungsgebende Gewalt (Fn.2); daneben Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts (1986), in: ders. Staat, Verfassung, Demokratie (Fn.7), S. 90 (97 f) und: Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn.1), Rn. 5 ff.; Henner Jörg Boehl, Verfassungsgebung im Bundesstaat. Ein Beitrag zur Verfassungslehre des Bundesstaates und der konstitutionellen Demokratie, 1997, bes. S. 82 ff., 127 ff, 159 ff; Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, S. 380 ff.; Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 53 ff., 447 ff, 457 ff.
544
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
dass sie als Ausdruck des Volkswillens zu verstehen ist31. Die hier besonders interessierende verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens liegt aber weiter darin, dass er insoweit »als rechtsbedeutsame Größe nicht nur einmalig, sondern fortdauernd präsent ist«32. Man kann also nicht von einer »Konsumtion der verfassungsgebenden Gewalt durch die pouvoirs constitu¦s« sprechen33. Richtig ist sie darum auch als ein »politischer Legitimationsbegriff«34 bezeichnet worden. Die Legitimation des Volkswillens nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG besitzt demnach zunächst deshalb eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung, weil diese Vorschrift – allgemein gesprochen – die Geltung des Grundgesetzes legitimiert. Diese Aussage erfährt nun durch Art. 79 Abs. 3 GG noch eine inhaltliche Präzisierung. Denn wenn die in dieser Bestimmung festgelegte Verfassungsidentität verletzt wird, so ist das, wie das Bundesverfassungsgericht richtig sagt, »aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes«35. Die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Volkswillens durch Art. 79 Abs. 3 GG besteht so gesehen darin, dass der pouvoir constitu¦ mit der genannten Vorschrift das Ausmaß seiner Bindung an den (fortexistierenden) pouvoir constituant verbindlich festgelegt hat36. Es ist demnach genau genommen nicht, wie soeben ausgeführt, die verfassungsgebende Gewalt des Volkes als solche, die die Geltung des Grundgesetzes nach seinem Inkrafttreten legitimiert, sondern es sind die in 31 Dieser kann auch insoweit als durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG legitimiert verstanden werden, s. dazu überzeugend Murswiek (Fn.2), S. 202 ff. 32 So Josef lsensee, Volk (Fn. 9), S. 38, s. auch S. 81; ganz entsprechend etwa: Theodor Maunz, Die verfassungsgebende Gewalt im Grundgesetz, DÖV 1953, 645; Böckenförde, Verfassungsgebende Gewalt (Fn.30), S. 94, 99 f. und: Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn.1), Rn. 7; Boehl (Fn.30), S. 129; Unruh (Fn.30), S. 386 f.; Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 446. Die Gegenposition formuliert besonders klar Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 6. Aufl. 2003, S. 103 f, 239 ff., s. auch S. 281, wo auf die daraus folgende Parallele des Staats-(Souveränitäts-)verständnisses von Kriele mit dem der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts (Albrecht, Gierke u. a.) hingewiesen wird. 33 So zutreffend Unruh (Fn. 30), S. 386. 34 So Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn.1), Rn. 7 und entsprechend: Verfassungsgebende Gewalt (Fn.30), S. 94 Anm. 8. 35 So BVerfGE 123, 267 (344); ganz entsprechend etwa Klaus Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III für die Grundrechte, JuS 1985, 329 (332); Dietrich Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant. Zur Bedeutung der verfassungsgebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S. 161 (171).). Es ist auch aus diesem Grund sicher richtig, die »Prinzipien« des Art. 79 Abs. 3 GG »als Ausdruck historisch bedingter Grundentscheidungen des Verfassungsgebers« zu lesen, dazu Karl-E. Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes. Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG, 1999, S. 169 f. 36 Angedeutet ist diese Sicht auch bei Murswiek, Verfassungsgebende Gewalt (Fn.2), S. 203 f.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
545
Art. 79 Abs. 3 GG genannten »Grundsätze des Grundgesetzes«37, die das bewirken, wobei der Inhalt dieser Grundsätze aufgrund des Art. 79 Abs. 3 GG primär durch den Volkswillen als Ausdruck des (fortexistierenden) pouvoir constituant bestimmt wird. Was das konkret für die so von der Verfassungswirklichkeit bestimmte Auslegung des Grundgesetzes bedeutet, lässt sich exemplarisch an der Diskussion über die durch Art. 79 Abs. 3 GG (i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG) gezogenen Grenzen für die fortschreitende Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union zeigen: Dazu hat Murswiek m. E. richtig ausgeführt, dass die in Art. 24 GG enthaltene »Begrenzung der Integrationsermächtigung« nicht durch die spätere Neufassung von Art. 23 GG, der heute ja eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für die europäische Integration darstellt, erweitert werden konnte. Und zwar deshalb nicht, weil »die Öffnung zur internationalen und speziell zur europäischen Integration … eine Modifikation des durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit (erg.: ist), die nur vom Verfassungsgeber selbst vorgenommen werden konnte«38
Den Grund für diese »verfassungskonforme Reduktion der Ermächtigung« des Art. 23 Abs. 1 GG39 liefern also die »sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integrationsgewalt«40. Diese konnten sich nach Erlass des Grundgesetzes deshalb nicht ändern, weil die Europäische Union nach wie vor eine zwischenstaatliche Einrichtung i. S. des Art. 24 Abs. 1 GG darstellt, wie sich aus folgender Überlegung ergibt: Offensichtlich kann man, selbst was die heutigen tatsächlichen Gegebenheiten der Europäischen Union angeht, lediglich von einer in Ansätzen vorhandenen europäischen »Wirtschaftsgesellschaft« sprechen, aber nicht von dem Bestehen einer entsprechenden »staatsbürgerlichen Gesellschaft«41. Der ent37 So der Titel der hier in Fn. 35 genannten Untersuchung von Hain zu Art. 79 Abs. 3 GG. 38 So Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip, in: Souveränitätsprobleme der Neuzeit, Freundesgabe für Helmmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, 2010, S. 95 (S. 111 f -Hervorhebungen A.J.); genauer dazu ders., Maastricht (Fn.35), S. 166 f., 176 ff. 39 So Murswiek, Maastricht (Fn.35), S. 167 f. 40 So Murswiek ebd., S. 167. Im Grunde folgt diese Grenze m. E. bereits aus der strikten Unterscheidung zwischen delegierten Hoheitsrechten der Europäischen Union und originären des deutschen Bundesstaates, s. dazu Albert Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union, 2001, S. 59 (82 ff.). 41 Zu diesen schon von Lorenz v. Stein in seiner Stellungnahme zur preußischen Verfassungsfrage aus dem Jahr 1850 entwickelten Kriterien für die Verfassungsreife eines Volkes: Reinhart Koselleck, Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
scheidende Grund für diese fehlenden Verfassungsvoraussetzungen in der Europäischen Union liegt bekanntlich darin, dass die Europäer sich immer noch »in erster Linie in ihren nationalen Geschichten« wiedererkennen. Sie besitzen also nach wie vor weitgehend nicht die entscheidende Grundlage für eine staatsbürgerliche Gesellschaft, – das belastbare Empfinden für eine gemeinsame Vergangenheit42. Gibt es nun aber keine homogene staatsbürgerliche Gesellschaft in der Europäischen Union, so kann es auch keine verfassungsgebende Gewalt des europäischen Volkes geben. Das ist der entscheidende Grund, der auch heute noch für den Rechtscharakter der Europäischen Union als zwischenstaatliche Einrichtung i. S. des Art. 24 Abs. 1 GG spricht und damit ebenfalls für die von Murswiek vertretene »verfassungskonforme Reduktion« des Art. 23 Abs. 1 GG. Es ist letztlich also in der Tat das Verständnis des Art. 79 Abs. 3 GG als Ausdruck der unter dem Grundgesetz fortexistierenden verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, das eine solche, die historische Verfassungslage berücksichtigende juristische Argumentation ermöglicht43
Verfassung (1965), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1979, S. 87 (101 f.). Eine ganz entsprechende Argumentation für die »friderizianische Staatsidee« findet sich bei Ernst Rudolf Huber, Die friderizianische Staatsidee und das Vaterland (1942), in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, 1965, S. 273 (283 ff.). 42 So richtig Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1994, S. 340; ganz ähnlich wiederum bereits die Argumentation von Ernst Rudolf Huber, Nationalstaat und supranationale Ordnung (1964), in: ders. (Fn. 41), S. 273 (281 ff). Aus verfassungsrechtlicher Sicht s. ergänzend Sebastian Müller– Franken, Die demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt in den Zeiten der Globalisierung. Zur unhintergehbaren Rolle des Staates in einer durch Europäisierung und Internationalisierung veränderten Welt, AöR 134 (2009), S. 542 (560 ff). Übrigens zeigt die im Text mitgeteilte Beobachtung einmal mehr, dass man dann noch nicht von einem europäischen Geschichtsbewusstsein sprechen kann, wenn sich übereinstimmende »Strukturen« der europäischen Verfassungsgeschichte aufzeigen lassen, wie das besonders eindrucksvoll durch Wolfgang Reinhard geschehen ist, s. ders., Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 2000. 43 Jan Schapp (Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, 1977, S. 18 ff.) weist zu Recht darauf hin, dass gedankliche Voraussetzung dieser Argumentation die Unterscheidung zwischen Verfassung als politischer Gesamtentscheidung und Verfassungsgesetz ist, und verweist dafür (ebenfalls zu Recht) auf die Verfassungslehre von Carl Schmitt, s. dort (Fn. 21), S. 20 ff. ; s. ergänzend auch zum damit verbundenen allgemeinen Problem des Verhältnisses von Recht und Wirklichkeit: Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 21 ff
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
3.
547
Die Legitimation der gewohnheitsrechtlichen Rechtsbildung des Volkes
Die große gedankliche Leistung der hier unter 1. behandelten Schrift von Liermann besteht m. E. darin, dass er die im deutschen Rechts- und Staatsdenken des 19. Jahrhunderts so nachhaltig vertretene Lehre von der Rechtsüberzeugung des Volkes als letzter Quelle des Rechts44 mit der Erkenntnis verbindet, dass in der deutschen Verfassungsgeschichte erstmals explizit in der Weimarer Reichsverfassung das Staatsvolk »in seiner Bedeutung als Subjekt«, und zwar als verfassungsrelevantes Subjekt anerkannt wurde45. Denn genau aus dieser Zusammenschau ergibt sich die für unseren Gedankengang wichtige These, dass nicht nur das Grundgesetz durch die »Fortexistenz« des pouvoir constituant, sondern die gesamte Rechtsordnung primär durch das Volk i. S. des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG »demozentrisch«46 legitimiert ist. Der Satz, dass das Gesetz als »eine sekundäre Gestalt von Recht« zu verstehen sei47, ist also insofern richtig, als aus diesem Blickwinkel die parlamentarisch-demokratische Legitimation des Gesetzes aufgrund des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG als eine »sekundäre« demokratische Legitimation verstanden werden muss. Dieses Legitimationsgefälle wird auch durch die unbestrittene derogative Kraft des (verfassungsrechtlich anerkannten) Gewohnheitsrechts bestätigt. Insofern hat schon Carl Schmitt zu Recht bemerkt, dass »praktisch gesprochen … die Anerkennung des Gewohnheitsrechts stets einen gewissen einschränkenden Vorbehalt zuungunsten des Gesetzgebers« bedeutet48. Das Gesagte hat natürlich ebenfalls für die Rechtsanwendung erhebliche 44 Für dieses besonders vom germanistischen Flügel der Historischen Rechtsschule vertretene Verständnis s. nur Gierke (Fn.6), S. 161 ff. und ders., Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, 1915, S. 103 f; daneben für das deutsche Reichsstaatsrecht etwa Heinrich Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts mit besonderer Rücksicht auf das Allgemeine Staatsrecht und auf die neuesten Zeitverhältnisse, Erster Teil 1863, S. 21, 140 ff. Aber auch Rudolf von Jhering spricht selbst im Blick auf das geltende Recht davon, dass »die Sicherheit des Rechts … nur an der Energie des nationalen Rechtsgefühls« hänge, Der Zweck im Recht, Erster Band, 3. Aufl. 1893, S. 382. Genauer zur Geschichte des Gewohnheitsrechts zuletzt Stephan Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtssetzung, 2. Aufl. 2009, S. 119 ff, auch S. 76 ff. und S. 135 ff. 45 Siehe dazu noch einmal das hier unter I 2 a) wiedergegebene ausführliche Zitat aus seiner Studie. 46 Ausdruck von Liermann, s. den Nachweis hier in Fn. 14. 47 So Wilhelm Henke, Hermeneutik in der Jurisprudenz, in: Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, S. 159 (176). Eine philosophische Begründung für dieses Gesetzesverständnis hat Rüdiger Bubner versucht, s. ders., Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, 1984, S. 173 ff., 223 f. 48 So Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 2. Aufl. 1973, S. 263 (275 -Hervorhebung A.J.).
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Bedeutung. Um das zu begreifen, müsste man im Grunde etwa den Satz Otto von Gierkes neu durchbuchstabieren, dass der Gedanke des Gesetzes »aus tieferen und dunkleren Schichten des Gemeinbewusstseins mit einem erst allmählich sich enthüllenden Gehalt emporsteigt«49. Und weiter wäre auch erneut über die Berechtigung seiner These nachzudenken, dass es eine richterliche Rechtsfortbildung des Gesetzesrechts ohne Rückhalt an einem (in Ansätzen vorhandenen) Gewohnheitsrecht nicht geben kann50. Dass dies alles Forderungen sind, die mit der bereits aufgezeigten Bedeutung des Art.79 Abs. 3 GG für die Verfassungsauslegung durchaus kompatibel sind, sei zu diesem Punkt abschließend ausdrücklich bemerkt. Diese letzte Feststellung gilt allerdings insofern cum grano salis, als die soeben geschilderte Funktion des Gewohnheitsrechts für die Rechtsgeltung und Rechtsanwendung nur in dem durch Art. 79 Abs. 3 GG festgesetzten Umfang für das Verfassungsrecht in Betracht kommt. Denn durch diese Bestimmung hat ja nach unseren Ausführungen der pouvoir constitu¦ das Ausmaß der verfassungsrechtlichen Bindung an den (unter dem Grundgesetz fortexistierenden) pouvoir constituant als Ausdruck (verfassungs-)gewohnheitsrechtlicher Rechtsüberzeugung abschließend festgelegt. Diesem Verständnis entspricht auch die Regelung des Art. 20 Abs. 3 GG, nach der die Gesetzgebung allein an die »verfassungsmäßige Ordnung«, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung dagegen an »Gesetz und (Gewohnheits)recht« gebunden sind. Das Grundgesetz ist also nicht nur als »Schlusspunkt eines langwierigen Prozesses, der Emanzipation des Verfassungsrechts gegenüber dem Gesetz«‹ zu verstehen51, sondern es stellt insofern auch einen Schlusspunkt dar, als es sich mit Artikel 79 Abs. 3 GG vom (allgemeinen) Gewohnheitsrecht »emanzipiert« hat. Diese Folgerung impliziert, dass viele der heute durchweg anerkannten Verfassungsgrundsätze und -prinzipien ihre verfassungsrechtliche »Weihe« verlieren und damit als allgemeine (gewohnheitsrechtlicher Ausformung zugängliche) Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien fortgelten52.
49 Gierke, Deutsches Privatrecht (Fn.6), S. 140 (Hervorhebungen A.J.). Zur Erläuterung dieses Satzes s. Albert Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft. Studien zu den Wegen und Formen seines juristischen Denkens, 1974, S. 93 ff., 114 ff. 50 Dazu wiederum Janssen, ebd. S. 99 ff., 102 ff., 116 ff. mit Nachweisen. 51 So Wolff (Fn.32), S. 281, genauer zu dieser Entwicklung S. 279 ff. 52 Aufgrund dieser Rechtslage besitzt natürlich die zuletzt von Wolff gründlich untersuchte Frage nach dem »mitgesetzten« Verfassungsrecht erhebliche Bedeutung, s. ders. (Fn.32), S. 404 ff., 463 f.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
III.
549
Der Einfluss des Volkswillens auf die Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG
Die dargestellte verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens wirkt sich nach überwiegender Ansicht, wie bereits in der Einleitung bemerkt, auf die Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vor allem in der Form aus, dass er durch seine inhaltliche Repräsentation im Parlament dessen Entscheidungsfindung beeinflusst. Nun ist es wohl sicher richtig, dass es keinen Staat ohne Repräsentation geben kann53 ; doch lässt sich m. E. entgegen der wohl h. M. nicht von einer durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG (i. V. m. Art. 38 Abs.1 Satz 2 GG) verfassungsrechtlich anerkannten Verpflichtung der Abgeordneten zu einer wirklichen inhaltlichen Repräsentation des Volkswillens sprechen. Diese These ist jetzt genauer zu begründen. Während für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens weitgehend in der bereits unter II. geschilderten Weise Wirksamkeit entfaltet, ist für die Gesetzgebung dafür nach dem Grundgesetz ein besonderes parlamentarisches Verfahren vorgesehen. Was nun die Repräsentation des Volkswillens in diesem Verfahren betrifft, so geht man zwar überwiegend nicht von einer solchen durch das Parlament (Kollektivrepräsentation), wohl aber von einer (inhaltlichen) Repräsentation des Volkswillens durch den einzelnen Abgeordneten aus54. Das ist im heutigen »Parlament der Fraktionen«55, zu denen sich die Abgeordneten (verfassungsrechtlich durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG legitimiert56) zusammenschließen, wohl richtig gesehen. Und genau so richtig scheint es mir, wenn man die Repräsentationsfunktion des Abgeordneten auf seine Pflicht reduziert »den Dialog mit dem Volk zu suchen«57. Eben diese Pflicht des Abgeordneten ist seine »Amtspflicht«58. Sie ist und kann aber als solche nicht mehr sein als »eine ethisch-politische Pflicht«, wie Liermann ja bereits feststellte59. Denn das Mandat des Abgeordneten ist nun 53 Dazu Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 206 ff. 54 Siehe dazu nur Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 72 ff., 82 ff. 55 Siehe dazu den in Fn.54 zitierten Titel des Buches von Demmler. 56 Dazu Demmler (Fn. 54), S. 160 ff. 57 So Demmler (Fn. 54), S. 493, genauer dazu S. 73 ff. 58 Zum Amt des Abgeordneten s. Henke, Zweitkommentierung von Art. 21 GG (Fn.26), Rn. 78 ff, Demmler (Fn.54), S. 41 ff. 59 Siehe hier unter 1 2 c) und ergänzend für das entsprechende Verständnis des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG: Josef Isensee, Demokratie – verfassungsrechtlich gezähmte Utopie. Ein Diskussionsbeitrag zur staatstheoretischen Legitimation der parlamentarischen Demokratie, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 43 (47).
550
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
einmal nach unserer Verfassung das »freie Mandat des parteigebundenen Abgeordneten«60, und dieser wird, wie gesagt, im Parlament der Fraktionen tätig. Wie auf andere Weise parlamentarische Demokratie realisiert werden könnte, ist praktisch nicht vorstellbar61. Nicht nur für die Frage nach dem »richtigen« Demokratieverständnis, sondern auch für die nach der »richtigen« parlamentarischen Entscheidungsfindung gilt aber die Forderung, »das Wirkliche als Grenze dessen« zu nehmen, »was möglich ist«62. Geschieht das – und diese notwendige Folgerung entspricht auch meinen gut dreißigjährigen praktischen Erfahrungen als Parlamentsjurist – , so wird man die Möglichkeit einer inhaltlichen Repräsentation durch die Abgeordneten in der anspruchsvollen Form, wie sie besonders Böckenförde vertritt63, verneinen müssen. Die parlamentarische Wirklichkeit unter dem Grundgesetz verbietet es, den Amtsgedanken und das Demokratieprinzip »ganz miteinander (erg.: zu) verschmelzen)«64. Die vom Grundgesetz ausdrücklich bejahte Parteienstaatsdemokratie lässt ein solches harmonisierendes Bild der repräsentativen Demokratie nicht zu65. Es spricht demnach letztlich alles dafür, das demokratische Amt des Abgeordneten zum Ausgangspunkt für die Auslegung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG (und 38 Abs. 1 Satz 2 GG) zu wählen. Denn »das Amtsprinzip kommt ohne das Konstrukt des hypothetischen Volkswillens aus. Die Pflicht dessen, der für alle entscheidet, die Belange aller zu bedenken, braucht nicht auf einen hypothetischen Volkswillen gegründet zu werden. Man wird also wohl sagen dürfen, dass, wer nicht von plebiszitärer und repräsentativer Komponente spricht, sondern von Amtsprinzip und Demokratieprinzip, die sich im demokratischen Verfassungsstaat verbinde, mit größerer Präzision und Klarheit formuliert«66
Im Ergebnis wird man darum die Pflicht der Abgeordneten zur Berücksichtigung des Volkswillens als Amtspflicht, die primär »eine rechtliche Erwartung und einen ethischen Appell« beinhaltet67, verstehen müssen, und insoweit nicht 60 So Henke, Zweitkommentierung von Art. 21 GG (Fn.26), Rn. 85 unter Hinweis auf Badura. 61 Überzeugend dazu wiederum Demmler (Fn.54), besonders S. 156 ff, 166 ff. 62 So Dieter Suhr, Bewusstseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung. Über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie, 1975, S. 348 (Hervorhebung dort) zum notwendigen Verständnis der Demokratie als repräsentativer Demokratie. Eine entsprechende Argumentation für das Demokratieverständnis findet sich auch bei Böckenförde, Demokratische Willensbildung (Fn.7), Rn. 4 ff. und: Demokratie und Repräsentation (Fn.7), S. 382 ff. 63 Siehe ders., Demokratische Willensbildung (Fn.7), Rn. 30 ff. und: Demokratie und Repräsentation (Fn.7), S. 393 ff. 64 So charakterisiert Böckenfördes Verständnis der Repräsentation m. E. richtig Peter Graf Kielmannsegg, »Die Quadratur des Zirkels«. Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 9 (30 Anm.32). 65 Entsprechend äußert sich wiederum Kielmannsegg ebd. 66 So Kielmannsegg (Fn.64), S. 35. 67 So Isensee, Demokratie (Fn.59), S. 47. Ein interessanter, unsere Erörterungen stützender
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
551
von einer wirklichen inhaltlichen Repräsentation des Volkswillens sprechen dürfen.
IV.
Der Bundespräsident als Hüter des Volkswillens
Die für das Gemeinwesen notwendige (inhaltliche) Repräsentation68 hat nun aber nach dem Grundgesetz der Bundespräsident zu leisten. Und vor allem aus diesem Grund besitzt er auch ein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen auf der Grundlage des Art. 79 Abs. 3 GG. Das ist jetzt genauer zu zeigen.
1.
Die inhaltliche Repräsentation des Volkswillens durch den Bundespräsidenten
Die zahlreichen im Grundgesetz vorgesehenen Einzelbefugnisse des Bundespräsidenten sind in der Lehre nach unterschiedlichen systematischen Gesichtspunkten zu ordnen versucht worden69. Dabei hat sich gezeigt, dass sie nicht ausschließlich als solche der vollziehenden Gewalt (und schon gar nicht als solche der gesetzgebenden und rechtsprechenden Gewalt) i. S. des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verstanden werden können70. Sie stehen also »quer« zur in der genannten Vorschrift vorgesehenen Dreiteilung der Gewalten. Und auch die demokratische Legitimation für das Amt des Bundespräsidenten ist auf Grund seiner Wahl durch die Bundesversammlung nicht vergleichbar mit der parlamentarisch-demokratischen Legitimation der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Staatsorgane. Denn sie besitzt demgegenüber eine breitere demokratische Basis. Die Bundesversammlung als für die Wahl zuständiges Gremium ist ja »zwischen der Volkswahl und der Wahl durch den Bundestag angesiedelt«71 und der Einfluss der politischen Parteien bzw. ihrer Fraktionen auf diese Per-
68 69 70 71
Formulierungsvorschlag vom August 1990, der vom Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des niedersächsischen Landtags auf Anfrage in den Beratungen über den Entwurf einer Verfassung Sachsen-Anhalts geäußert wurde, lautet: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Diese haben dem Volk zu dienen.« Siehe dazu noch einmal Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 21), S. 206 ff. Siehe nur Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 216 ff.; Klaus Schlaich, Die Funktionen des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Fn.7), Bd. 2, 1.(!) Aufl. 1987, § 49 (S. 541 ff), Rn. 3 ff.. Siehe Stern, Staatsrecht (Fn.69), S. 211 f; Schlaich (Fn.69) Rn. 89: »Das herkömmliche Drei-Gewalten-Schema hat für das Amt des Bundespräsidenten keine Aussagekraft.« So Kurt Biedenkopf, Zur Bundesversammlung 2010, FAZ vom 17. Juni 2010, S. 33.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
sonalentscheidung hat dabei – zumindest der verfassungsrechtlichen Intention nach – ganz im Hintergrund zu stehen. Aber nicht nur in seiner Funktion und seiner demokratischen Legitimation unterscheidet sich der Bundespräsident von den in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Staatsorganen, sondern hinzu kommt noch seine damit verbundene (bzw. daraus folgende) unabhängigere Stellung gegenüber den politischen Parteien – ihrem Einfluss auf seine politische Willensbildung und sein politisches Handeln. Es sind diese spezifischen Merkmale seines Amtes, die den Schluss nahe legen, den verbindenden Gedanken der verfassungsrechtlich normierten Amtspflichten des Bundespräsidenten darin zu sehen, dass seine Ausübung der Staatsgewalt primär dem Anspruch genügen muss, die Entzweiung zwischen Staatswillen und Volkswillen zu verhindern. Gegenüber den anderen in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Staatsorganen, die im Grunde ja ebenfalls diese Aufgabe zu erfüllen haben, leistet der Bundespräsident seinen spezifischen Beitrag dazu durch öffentliche inhaltliche Repräsentation des Volkswillens. Das ist ihm (besonders im Gegensatz zu den Abgeordneten) ja gerade wegen seiner Unabhängigkeit vom Einfluss der politischen Parteien (und der Verbände) in besonderer Weise möglich72. Es ist so gesehen auch nicht richtig, wenn gesagt wird, dass die »gewaltlose Repräsentation« des Bundespräsidenten wegen ihrer geringen politischen Bedeutung nicht »glaubhaft« wäre73. Denn der Volkswille, den der Bundespräsident öffentlich artikulieren soll, besitzt ja nach dem hier unter II. Ausgeführten durchaus verfassungsrechtliche Relevanz. Auch alle Überlegungen zu einer möglichen Anreicherung seiner Kompetenzen (mit dem daraus evtl. folgenden Gebot der Volkswahl des Bundespräsidenten) machen nach dem Gesagten m. E. nur dann einen Sinn, wenn sie seine skizzierte Funktion zu unterstützen vermöchten. Mir scheint das vor allem dadurch erreichbar zu sein, dass man die rechtlichen Grundlagen seiner Stellung als kritische Instanz gegenüber den Fehlentwicklungen der Parteienstaatsdemokratie stärkt. Zu denken wäre deshalb etwa daran, dass der (direkt gewählte) Bundespräsident letztlich über die Berufung der Bundesverfassungsrichter und die Spitze des Bundesrechnungshofs (Präsident und Vizepräsident) zu entscheiden hätte. Aber auch die ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung seines materiellen Prüfungsrechts bei der Ausfertigung von Gesetzen (einschließlich des Haushaltsgesetzes mit dem Haushaltsplan!) und eine Stärkung seiner bestehenden Rechte bei der 72 Das hier unter 1 2 c) geschilderte Verständnis der Funktion des Reichspräsidenten nach der WRV, wie es Liermann vertritt, entspricht damit weitestgehend dieser Aufgabenbestimmung für den Bundespräsidenten. Im Gegensatz zu Liermanns These, dass der Reichspräsident das Gemeinschaftsvolk »verkörpert«, ist m. E. allerdings für den Bundespräsidenten insoweit auf seine inhaltliche Repräsentation des Volkswillens abzustellen. 73 So aber Wilhelm Henke, Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, DVBl. 1966, 723 (725).
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
553
Ernennung und Entlassung von Beamten könnten dazu beitragen. Schließlich gehört auch der Vorschlag, die Wiederwahlmöglichkeit des Bundespräsidenten abzuschaffen und seine Amtszeit dann evtl. über fünf Jahre hinaus zu verlängern74, in diesen Zusammenhang.
2.
Der Schutz des Volkswillens: Das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten hei der Ausfertigung von Gesetzen auf Grund des Art. 79 Abs. 3 GG
Auf eine zentrale Kompetenz des Bundespräsidenten, die sich schon jetzt zwingend aus seiner skizzierten Repräsentantenstellung ergibt, ist für unseren Gedankengang noch einmal besonders hinzuweisen: Sein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen auf Grund des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Schwierigkeiten, insoweit ein »allgemeines« materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten überzeugend zu begründen, sind in der Literatur mehrfach dargelegt worden75. Kaum Zweifel bestehen aber an der Annahme, dass der Bundespräsident ein solches aufgrund und im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG besitzt76. Das entspricht nun ganz dem hier dargelegten Verständnis des Art. 79 Abs. 3 GG und der soeben unter 1. versuchten Bestimmung der Amtspflichten des Bundespräsidenten. Denn durch Art. 79 Abs. 3 GG hat ja der pouvoir constitu¦ rechtswirksam erklärt, in welchem Umfang er den durch den pouvoir constituant artikulierten Volkswillen als für sich verbindlich anerkennt. Es ist deshalb nur konsequent, dass der Bundespräsident als Repräsentant eben dieses Volkswillens auch für dessen verfassungsrechtlichen Schutz durch sein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen zuständig ist. Dass übrigens insoweit der Hinweis auf das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung nicht der Intention des Art. 79 Abs. 3 GG entspricht, hat Böckenförde schon vor Jahren wie folgt begründet: »Mir scheint, dass ein Bundesverfassungsgericht immer nur die Funktion des Hüters der Verfassung wahrnehmen kann, soweit es sich um die Einhaltung und um die Sicherung der Verfassungsgesetze handelt, und zwar deswegen, weil ein Gericht von seiner Aufgabe und seinen Möglichkeiten her immer nur im Nachhinein tätig werden kann; es kann prüfen, ob bestimmte Gesetze, bestimmte Maßnahmen, die getroffen sind, den verfassungsgesetzlichen Regelungen widersprechen oder nicht. Wenn es sich 74 So etwa Josef Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, ZRP 1994, 1329 (1330). 75 Besonders einleuchtend m. E. Matthias Hedrich, Zur Kompetenz des Bundespräsidenten, die Gesetzesausfertigung zu verweigern, ZG 1999, 123 ff.; allgemeiner Überblick bei Walter Maximilian Pohl, Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung von Gesetzen, 2001, S. 68 ff, 93 ff. (=Teil 3 und Teil 4). 76 Überzeugende Darlegung der Gründe für diese Rechtsansicht bei Hederich (Fn.75), S. 136 ff.
554
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
aber darum handelt, dass die Verfassung im Sinne der Grundentscheidungen bedroht ist, wird das Verfassungsgericht immer zu spät kommen. Geht es darum, dass die Grundsubstanz der Verfassung, die den einzelnen Normierungen voraus- und zugrunde liegt, angegriffen wird, so kann diese Gefahr für die Verfassung nur abgewendet werden, wenn ein Organ präventiv dagegen vorgehen kann«77.
Sieht man die Dinge so, dann lässt sich sagen, dass die Kernsubstanz der Befugnisse, die der Bundespräsident besitzt, die verfahrensrechtliche Absicherung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität ausmacht. Zusammen genommen mit seiner schon betonten allgemeinen Repräsentationsfunktion kann der Bundespräsident darum als Hüter des Volkswillens verstanden werden. Und gerade seine so beschriebene Rechtsstellung bestätigt indirekt noch einmal die hier unter III. entwickelte Rechtsansicht, dass für die Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die Amtspflichten des Abgeordneten und nicht seine Repräsentantenstellung entscheidend sind.
V.
Art. 1 Abs. 1 GG als »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt
1.
Alternative Lösungsansätze
Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich die Folgerung, dass das von der h. M. vertretene Verständnis des Art 20 Abs. 2 GG, wie es hier in der Einleitung kurz skizziert wurde, die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens nicht erschöpft. Ein weiteres wesentliches Ergebnis dieser Überlegungen war es, dass seine besondere Bedeutung für die Legitimation der Staatsgewalt den entscheidenden Grund für die Rolle des Bundespräsidenten als Hüter des Volkswillens liefert. So gesehen liegt es nahe, in der »demozentrischen« Legitimation der Staatsgewalt i. S. der wiedergegebenen Ausführungen von Liermann und damit im Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das verfassungsrechtliche »primum principium« ihrer Legitimation zu sehen. Eine solche Ansicht müsste sich allerdings entgegenhalten lassen, dass »im grundgesetzlichen Gemeinwesen«, wie Isensee richtig sagt, »Legitimation aus zwei Quellen (erg.: fließt): aus der Freiheit des einzelnen Menschen und aus dem Willen des Volkes«78. Denn grundsätzlich ist, wie er fortfährt, »jedermann Bürger zweier Reiche: des Volkes, dem er als gleicher unter gleichen angehört, und der Gesellschaft, in die er seine Individualität einbringt, die schicksal77 So sein Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 25 1967, S. 220 (Hervorhebungen dort). 78 So lsensee, Polare Legitimation (Fn. 4), S. 9.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
555
hafte wie die selbstgewählte Besonderheit seiner Eigenschaften und Rollen, seiner Bedürfnisse und Neigungen«79.
Trotz dieser Erkenntnis ist nun aber für Isensee »die Individualfreiheit das schlechthin Ursprüngliche«80. Sie bildet die »eigentliche Rechtfertigung« der Staatsgewalt81 und ist insofern das »primum principium«82. Es passt zu dieser Ansicht Isensees, dass er das Volk in seiner Rolle als Träger der verfassungsgebenden Gewalt lediglich als »Referenzsubjekt« verstehen kann83 und damit eben nicht als reale »vor-verfassungsmäßige Größe«84. Allerdings liefert letztlich nur ein solches Volksverständnis die richtige Begründung für die besonders von Böckenförde vertretene These, dass zwischen Menschenrechten und Demokratie kein denknotwendiger Zusammenhang besteht85. Das war ja letztlich auch der gedankliche Ausgangspunkt für die hier unter II. angestellten Überlegungen zur eigenständigen verfassungsrechtlichen Bedeu79 Isensee, ebd., S. 14. 80 Isensee, ebd., S. 9. 81 So Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates. Stationen in einem laufenden Prozess, JZ 1999, 265 (277); ganz entsprechend ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Rolf Stober (Hrsg.), FS für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 137 (161 f.). 82 So Isensee, Volk (Fn. 9), S. 104. 83 Isensee, ebd., S. 48; ganz ähnlich ders. Polare Legitimation (Fn. 4), S. 11: »Aber sogar die Souveränität des pouvoir constituant ist mehr Prinzip der Staatstheorie als geschichtlich erfahrene und erfahrbare Staatsrealität.« 84 So Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip (Fn. 1), Rn. 7, daneben Rn. 27; s. auch ders., Verfassungsgebende Gewalt (Fn. 30), S. 96; ders., Demokratie und Repräsentation (Fn. 7), S. 382; ders., Die Zukunft politischer Autonomie. Demokratie und Staatlichkeit im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und Individualisierung (1998), in: Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, 1999, S. 103 (107 f, 116); ders., Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, ebd., S. 127 (136 f.); s. daneben aus neuerer Zeit Müller-Franken (Fn. 42), S. 558 mit weiteren Nachweisen. Es ist übrigens auch ein Irrtum, zu glauben, dass menschliche Freiheit »ein abstrakter Indifferenzpunkt ist, von wo aus wir Werte und Präferenzen beliebig setzen«. Denn »die Identität, die einen Menschen erst zu einem freien, selbstbestimmten Wesen macht«, bildet sich ebenfalls wie der Volksbegriff »in einem kulturellen Raum. Sie ist eine geschichtliche«, so richtig Robert Spaemann, Sittliche Normen und Rechtsordnung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 30 (1996), S. 5 (8 f. – Hervorhebung A.J., s. auch S. 17 Nr. 2). 85 Dazu Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? (1998), in: Staat, Nation (Fn. 84), S. 246 ff; weiterführende Überlegungen zu dieser These bei Hasso Hofmann, Menschenrechte und Demokratie – oder : Was man von Chrysipp lernen kann, JZ 2001, 1 (6 ff.); s. daneben hierzu Müller-Franken (Fn. 42), S. 555 ff mit weiteren Nachweisen. Die Voraussetzung für eine solche Annahme ist ja der Glaube an einen »Patriotismus der Gattung Mensch«, wie Carl Schmitt im Anschluss an Hauriou und Perroux richtig bemerkt, s. ders., Die legale Weltrevolution. Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität, Der Staat 17 (1978), S. 321 (336). Das scheint mir ein Glaube zu sein, der in der staatlichen Wirklichkeit keinen Anhalt besitzt.
556
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
tung des Volkswillens für die Legitimation der Staatsgewalt. Eine weitere rechtliche Bestätigung für die Anerkennung eines entsprechenden Volksbegriffs ist übrigens noch darin zu sehen, dass das Volk auch als Inhaber des Selbstbestimmungsrechts »in einem vorstaatlichen Sinn als Nation« verstanden wird86. Und wenn Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die Grundlage für die kommunale Selbstverwaltung in der »örtlichen Gemeinschaft« sieht87 und weiter Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG indirekt das Volk in seiner regionalen Verbundenheit beachtet wissen will88, dann sind das ebenfalls verfassungsrechtliche Hinweise auf die politische Bedeutung eines Volksbegriffs, der seine Grundlage nicht in den Menschenrechten finden kann.
2.
Art. 1 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliches »primum principium«
Die Frage nach dem verfassungsrechtlichen »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt kann also nach dem Gesagten nicht richtig beantwortet werden, wenn man ausschließlich auf den Art. 20 Abs. 2 GG oder allein auf die grundrechtlich garantierte Individualfreiheit abstellt. Den entscheidenden verfassungsrechtlichen Hinweis zur Lösung dieses Problems scheint mir dagegen Art. 79 Abs. 3 GG zu geben, weil er die Verfassungsidentität (primär) durch den absoluten Schutz der »in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze« sicherstellen will. Denn diese Verknüpfung beinhaltet ja auch eine solche zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 GG. Damit ermöglicht der Art. 79 Abs. 3 GG eine Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG in dem Sinne, dass die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser Vorschrift nicht nur durch die folgenden Absätze 2 und 3 von Artikel 1 GG näher bestimmt wird89, sondern ebenfalls durch Art. 20 Abs. 2 GG. So gesehen ist richtig gesagt worden, dass Art. 1 Abs. 1 GG »zusätzlich auch noch die Freiheit der politischen Mitbestimmung« um-
86 So Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat (Fn. 81), S. 161; genauer dazu Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Der Staat 23 (1984), S. 523 (538 f., auch 534, 537, 546). 87 Dazu nach wie vor überzeugend Wolfgang Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und gemeindliche Gebietsgestaltung, 1976, S. 38 ff., 57 ff, 97 f., 103 ff. 88 Siehe dazu wiederum Loschelder Fn. 87), S. 70 ff; daneben Albert Janssen, Referat, in: Verhandlungen des 65. DJT, Band 11/1, 2004, S. 9 (24 ff.) und: Die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien. Eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zur Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen, Die Verwaltung 43 (2010), S. 1 (28 ff.). 89 Dazu überzeugend Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG, 1997.
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
557
fasst90. Weil das so ist, muss man m. E. in dieser Bestimmung das »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt nach dem Grundgesetz sehen. Für die inhaltliche Bedeutung ihrer Legitimation ergibt sich daraus Folgendes: Wenn man in Art. 1 Abs. 1 GG »das Prinzip der Subjektivität auch für die staatliche Rechtsordnung als bindend anerkannt sieht«91, dann ist das auch für die Auslegung des Art. 20 Abs. 2 GG zu beachten92. Letzter Grund für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens kann dann nicht das Volk als solches i. S. des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sein, sondern der einzelne Bürger als Mitglied der örtlichen (und regionalen) Gemeinschaft und vor allem als Angehöriger des deutschen Volkes. Eben das unterscheidet die Legitimation der Staatsgewalt nach dem Grundgesetz von ihrer ausschließlich »demozentrischen« Legitimation nach der Weimarer Reichsverfassung. Die positive Antwort auf die Frage, ob es dem einzelnen Bürger möglich ist und bleibt, die ihn verpflichtende Rechtsnorm »unmittelbar in die Maxime seines Handelns« zu übersetzen93, entscheidet dann letztlich über ihre hinreichende Legitimation, wobei als verfassungsrechtlicher Maßstab für die insoweit vom Bürger zu fordernde Zumutbarkeit allein Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht kommen kann94. Man kann also der Feststellung Erich Kaufmanns aus dem Jahr 1931 durchaus zustimmen, dass »der notwendige Ausgangspunkt aller Verfassungstheorie die Erkenntnis dessen (erg.: ist), was Volksgeist und Volkswille wirklich sind«95. Nur hätte eine Verfassungslehre des Grundgesetzes dann von einem Volksbegriff
90 So Jan Schapp, Die Menschenrechte als Grundlage der nationalen und europäischen Verfassungen, JZ 2003, 217 (221); ganz entsprechend ders., Grundrechte als Wertordnung, JZ 1998, 913 (918): Man kann die Einheit der Verfassung »an Art 1 GG festmachen, der so verstanden Art. 2 – 19 einerseits und Art. 20 GG andererseits zusammenbindet. Es hat daher auch seinen guten Sinn, dass nicht die Menschenwürde, sondern erst die nachfolgenden Rechte als Grundrechte bezeichnet werden.« Hingewiesen wird auf diesen Zusammenhang zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 GG auch bei Janssen, Reformbedürftigkeit (Fn. 40), S. 63 Anm. 13. 91 So Enders (Fn. 89), S. 399 passim (Hervorhebungen A, J.). 92 Richtig bemerkt insofern Wilhelm Henke: » Das Materiale am Rechtsbegriff der Demokratie ist … die Personalität«, so ders., Demokratie als Rechtsbegriff, Der Staat 25 (1986), S. 157 (165). 93 So Bubner (Fn. 47), S. 289 f. (Hervorhebung A. J.), genauer dazu S. 288 ff. Es handelt sich insoweit nach Bubner (ebd. S. 290 -Hervorhebung A. J.) um eine »Rückführung von der intersubjektiven zur subjektiven Ebene«. 94 Und zwar in dem Sinne, wie Hans H Rupp es ausdrückt: »Wenn Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen für unantastbar und ihren Schutz zum obersten Konstitutionsprinzip der Verfassung erklärt, dann ist damit der Mensch unserer Zeit, unseres Raums und unserer Lebensumstände gemeint«, so ders., Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz?. DVBI. 1985, 990 (992). 95 Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens (1931), in: ders., Rechtsidee und Recht (Gesammelte Schriften Bd. III), 1960, S. 272 (283).
558
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
auszugehen, der den aufgezeigten Zusammenhang zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG beachtet.
Thesen Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG unterscheidet sich offensichtlich von dem Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG dadurch, dass sich Satz 1 »auf das Staatsvolk« bezieht, während »Volk« im Satz 2 »die Aktivbürgerschaft, die für das Volk handelt« (Murswiek), betrifft. Ob die parlamentarisch-demokratische Legitimation der Staatsgewalt deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen der ständigen Rechtfertigung durch die politische Willensbildung des Volkes i. S. des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG bedarf, ist die Ausgangsfrage der folgenden Überlegungen:
I. Hans Liermann hat in einer Studie zur Weimarer Reichsverfassung von 1927 durch die darin entwickelte Unterscheidung zwischen Gesellschaftsvolk und Gemeinschaftsvolk einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die Auslegung des Art. 20 Abs. 2 GG geliefert. Denn unter Zugrundelegung dieser Unterscheidung kann im Blick auf das Grundgesetz gesagt werden, dass die parlamentarischdemokratische Legitimation durch das Gesellschaftsvolk nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG der ständigen Rechtfertigung durch das in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG angesprochene Gemeinschaftsvolk bedarf und dass weiter der Bundespräsident – ähnlich wie nach Liermann der Reichspräsident in der Weimarer Reichsverfassung – den vom Gemeinschaftsvolk gebildeten Volkswillen öffentlich zu artikulieren hat – ihn (inhaltlich) repräsentiert.
II. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG erschöpft sich nicht darin, dass das Volk »durch die von ihm eingesetzten Instanzen« (Quaritsch) politische Wirksamkeit entfaltet. Vielmehr besagt diese Vorschrift darüber hinaus, dass »die politische Willensbildung des Volkes« (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) ihre eigenständige demokratische Legitimation besitzt. Und das gilt nach dem Grundgesetz ebenfalls für die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und ihre Fortexistenz unter dem Grundgesetz wie auch für die gewohnheitsrechtliche Rechtsbildung überhaupt. Denn auf diese Weise erfährt ja
17. Verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens
559
die politische Willensbildung des Volkes ihre besondere inhaltliche Ausformung.
III. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens für die Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zeigt sich nach überwiegender Ansicht vor allem in der Weise, dass seine inhaltliche Repräsentation durch die dem Parlament angehörenden Abgeordneten dessen Entscheidungsfindung beeinflusst. Dagegen spricht aber, dass sich dem Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (i. V. m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) nicht eine verfassungsrechtlich anerkannte Verpflichtung der Abgeordneten zu einer wirklichen inhaltlichen Repräsentation des Volkswillens entnehmen lässt. Vielmehr handelt es sich insoweit um eine Amtspflicht des einzelnen Abgeordneten, die lediglich »eine rechtliche Erwartung und einen ethischen Apell« (Isensee) beinhaltet.
IV. Als Hüter des Volkswillens kommt dagegen der Bundespräsident in Betracht. Denn er unterscheidet sich nach dem Grundgesetz in seiner Funktion und Legitimation von den in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG genannten Staatsorganen. Hinzu kommt seine damit verbundene (bzw. daraus folgende) unabhängigere Stellung gegenüber den politischen Parteien. Eben deshalb ist es seine primäre Aufgabe, der Entzweiung zwischen Staatswillen und Volkswillen öffentlich entgegenzutreten. Da nun weiter durch Art. 79 Abs. 3 GG der pouvoir constitu¦ rechtswirksam erklärt hat, in welchem Umfang er den durch den pouvoir constituant artikulierten Volkswillen als für sich verbindlich anerkennt, ist es nur konsequent, dass der Bundespräsident als Repräsentant des Volkswillens durch sein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen primär für den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG zuständig ist.
V. Die Frage nach dem primum prinzipium für die Legitimation der Staatsgewalt beantwortet Art. 79 Abs. 3 GG in dem Sinne, dass er u. a. den Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Art. 20 Abs. 2 GG verknüpft. Letzter Grund für die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens kann darum nicht das Volk als solches i. S. des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG sein, sondern der einzelne Bürger als Mitglied der örtli-
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
chen (und regionalen) Gemeinschaft und vor allem als Angehöriger des deutschen Volkes.
18. Verfassungsgebung ohne die verfassungsgebende Gewalt des Volkes? Eine juristische Stellungnahme zu dem Essay »Zur Verfassung Europas« von Jürgen Habermas
I.
Die Fragestellung
Die Europäische Währungsunion ist spätestens seit Mai 2010, als auf europäischer Ebene abgestimmte finanzielle Hilfen für ihr überschuldetes Mitglied Griechenland erforderlich wurden, in eine Existenzkrise geraten. Eine solche Krise war nach dem Urteil maßgeblicher Ökonomen vorherzusehen – besonders deshalb, weil die Einführung des Euro als einheitlicher Währung bei völlig unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen in den Mitgliedsländern der Währungsunion gegen jede ökonomische Vernunft sprach (und weiterhin spricht). Das sehen viele Politiker (und Verfassungsjuristen) trotz des Scheiterns aller seither unternommenen kostspieligen Versuche, die europäische Währungsunion in ihrer überkommenen Form zu retten, grundsätzlich anders. Sie glauben immer noch, ihr Auseinanderbrechen dadurch abwenden zu können, dass durch entsprechende Änderungen des europäischen Primärrechts die Europäische Union (EU) in die Lage versetzt wird, ihren Erhalt sicherzustellen. Im Ergebnis läuft diese Ansicht auf die These hinaus, dass es ohne die Existenz einer wirklichen politischen Union möglich ist, eine quasi bundesstaatliche Finanzverfassung nach deutschem Muster auf europäischer Ebene zu installieren1. Demgegenüber tritt nun Jürgen Habermas in seiner hier zu besprechenden Schrift2 aufgrund dieser Veränderungen der EU entschieden für ihre Fortent-
1 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist demgegenüber zu betonen, dass es nicht »Aufgabe einer Finanzordnung (erg.: sein kann), ihrerseits Staatsrecht zu gestalten und auf indirektem Wege verfassungspolitische Zielsetzungen anzusteuern, die dem geltenden Verfassungsrecht zuwider laufen«, so schon eine Stellungnahme der Bundesregierung zu einem Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzverfassung aus dem Jahr 1954 (BT-Drs. 2/480,S. 36). Genauer zur Funktion der Finanzverfassung als »dienendes Recht«: Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 85 ff, 151 f.; s. daneben aber auch die (notwendige) Modifikation dieses Gedankens bei Janssen, Wege aus der Krise des deutschen Bundesstaates, Sonderheft 2000 der ZG, S. 41 (54 f.). 2 Ihr vollständiger Titel lautet: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, 2011. Ganz i. S. dieser
562
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
wicklung zu einer politischen Union ein. Er plädiert deshalb für die Ablösung des geltenden europäischen Vertragsrechts durch eine europäische Verfassung, wobei er für die Legitimation seines »Verfassungsprojekts« Europa3 nicht auf die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der EU abstellt, sondern auf den einzelnen in der EU lebenden Bürger. Dieser Vorschlag von Habermas ist der eigentliche Anlass der folgenden Überlegungen. Sie beginnen mit einer Schilderung der von ihm gedanklich konzipierten Legitimation für das Verfassungsprojekt Europa (II.). Im Anschluss daran geht es mir um den Nachweis, dass letztlich der Charakter des europäischen Primärrechts als Vertragsrecht der von Habermas entwickelten Legitimation für eine europäische Verfassung entgegensteht (III.) und dass weiter diese Legitimationsform auch dem menschenrechtlich fundierten Selbstbestimmungsrecht der Völker widerspricht (IV.). Schließen will ich dann mit einem Hinweis auf die methodischen Grundlagen der vorgetragenen juristischen Argumentation (V.). Sie ist – das sei vorab schon bemerkt – vor allem durch eine von Habermas (und den von ihm zitierten juristischen Stellungnahmen) abweichende Wahrnehmung der Verfassungswirklichkeit bestimmt.
Überlegungen zuletzt auch seine auf dem 69. Juristentag in München am 21. September 2012 vorgetragene Stellungnahme, abgedruckt in SZ vom 22./23. September 2012 (Feuilleton S. 4). 3 Von dem »Verfassungsprojekt« Europa spricht Habermas an zahlreichen Stellen in seiner Schrift. Siehe dazu besonders die Ausführungen dort auf S. 39 – 96, die er wie folgt überschrieben hat: Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstituierung des Völkerrechts. Ein Essay zur Verfassung Europas. Zur Intention dieser Ausführungen äußert sich Habermas wie folgt (ebd. S. 80): »Die Europäische Union kann sich gegenüber der Finanzspekulation nur behaupten, … wenn sie die politischen Steuerungskompetenzen erhält, die erforderlich sind, um wenigstens in Kerneuropa, also zwischen den Mitgliedern der Europäischen Währungsgemeinschaft mittelfristig für eine Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den Mitgliedsländern zu sorgen. Eigentlich ist allen klar, dass dieser Grad der ›verstärkten Zusammenarbeit‹ im Rahmen der bestehenden Verträge nicht möglich ist. Die Konsequenz einer gemeinsamen ›Wirtschaftsregierung‹ … würde bedeuten, dass sich die zentrale Förderung der Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsstaaten weit über die Finanz- und Wirtschaftspolitiken hinaus auf die nationalen Haushalte insgesamt erstrecken und damit tief in die Herzkammer der nationalen Parlamente eindringen würde. Daher ist die überfällige Reform, sofern das geltende Recht nicht flagrant gebrochen werden soll, nur auf dem Weg einer Übertragung weiterer Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Union möglich.«
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
II.
563
Die These von Habermas: Der politisch notwendige Erlass einer europäischen Verfassung bedarf der Legitimation durch die einzelnen in der EU lebenden Bürger, die dazu aufgrund ihrer Doppelrolle als Staatsbürger und Unionsbürger in der Lage sind
Habermas entwickelt diese These in zwei gedanklichen Schritten. Zunächst legt er die Notwendigkeit eines transnationalen Verständnisses der Volkssouveränität dar, um im Anschluss daran dann die »ursprünglich geteilte Volkssouveränität« (704) als Grundlage für die Legitimation einer europäischen Verfassung näher zu begründen:
1.
Die Notwendigkeit einer »Transnationalisierung der Volkssouveränität« (51).
In der heutigen EU fehlen, wie Habermas richtig sieht, »die Kompetenzen für die notwendige Harmonisierung der in ihrer Wettbewerbsfähigkeit drastisch auseinander driftenden nationalen Ökonomien« (40, auch: 80, 113 f., 121). Das »Ungleichgewicht zwischen den Imperativen der Märkte und der Regulierungskraft der Politik« (42) kann die EU aus diesem Grund seiner Meinung nach nicht beseitigen, zumal sie in ihrer jetzigen Form kaum mehr als einen »Exekutivföderalismus der besonderen Art« darstellt (43, auch: 48, 81, 124)5. Diese Situation verlangt nach einer stärkeren demokratischen Legitimation der EU, die nach Habermas allerdings nicht ohne einen Bewusstseinswandel zu realisieren ist: Die »Denkblockaden gegenüber einer Transnationalisierung der Demokratie« sind dafür »aus dem Weg zu räumen« (9, auch: 48). Die wesentliche Ursache für diese »Denkblockaden« wiederum sieht Habermas in »jenem ethnozentrierten Bild von Europa«, das sich seiner Meinung nach besonders »in der selbstzentrierten Wahrnehmung des wiedervereinigten Deutschland(s) spiegelt« (11). Gerade den Deutschen hätte es dagegen nach Habermas nicht »schwer fallen« dürfen, »in Erinnerung an ihre nationalistischen Exzesse … auf die Wiedererlangung von Souveränitätsrechten zu verzichten, in Europa die Rolle des größten Nettozahlers zu übernehmen und erforderlichenfalls Vorleistungen zu erbringen, die sich sowieso für die Bundes4 Im Folgenden verweise ich wie an dieser Stelle durch die in Klammern gesetzten Zahlen auf die entsprechende Seitenzahl des hier zu besprechenden Essays von Habermas. 5 Vertiefend zum Charakter der EU als eine Form des Exekutivföderalismus: Dann, Der Staat 43 (2003), 355 (357 ff.).
564
4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
republik auszahlten« (116, auch 77)6. Habermas räumt allerdings ein, dass die für die Realisierung seiner Forderung notwendige »supranationale Ausdehnung der staatsbürgerlichen Solidarität« (vor allem in Deutschland) noch nicht vorhanden ist. Denn, so sagt er, »der lange Schatten des Nationalismus liegt auch noch auf der Gegenwart«. Die von ihm erwünschte Entwicklung der EU hängt darum »von Lernprozessen« ab (88 – Hervorhebung A.J.). Eine »Substantiierung der Völker«, widerspricht nach Habermas auch der inzwischen eingetretenen Entwicklung in der EU. Die »europäischen Staatsvölker« lassen sich nämlich nicht mehr »nach fünfzig Jahren Arbeitsimmigration … angesichts ihrer wachsenden ethnischen, sprachlichen und religiösen Vielfältigkeit … als kulturell homogene Einheiten imaginieren« (78)7. Wer das, wie Hermann Lübbe etwa behauptet und ein »europäisches Volk« als Grundlage für eine politische Union fordert, urteilt für Habermas aus einer »dem 19. Jahrhundert verhafteten Perspektive« (43 mit Anm. 53). Denn – so seine These -:
6 Zu dieser höchst anfechtbaren »historischen Legitimation« von Habermas für die von Deutschland schon bisher (trotz der großen finanziellen Belastung durch die Wiedervereinigung) erbrachten Sonderleistungen an die EU ist zunächst mit Flaig (FAZ vom 13. Juli 2011, S. N4) Folgendes zu bemerken (und zu fragen): »Dauerhaft bestehen – auch im europäischen Rahmen – kann das deutsche Volk freilich nur als normales Volk, nicht als stigmatisiertes. Denn die Folgen solcher Stigmatisierung ähneln sich stets, egal welche Anlässe sie selber haben mag. Diese Normalität ist das Grundrecht jeder Generation auf Erden. Denn moralisch beginnt bei jedem Menschen die Welt aufs Neue, auch wenn wir geschichtlich immer befangen bleiben. Normalität dürfte – nach Habermas und seinesgleichen – nicht sein: nicht für die Deutschen. Nun ist eine verweigerte Normalität eine Zwangsversetzung in die Abnormalität. Die Deutschen sollten also ein abnormales Volk sein. Abnormalität als Dauerzustand, verhängt von moralisierenden Fanatikern? Kann das gut gehen? Gewiss nicht.« Im Übrigen übersieht Habermas bei seiner zitierten Feststellung Dreierlei. Zunächst: Die EU hat für den »Aufbau Ost« keine gravierenden Sonderleistungen erbracht. Weiter : Ob sich die Rolle des »größten Nettozahlers« für die Bundesrepublik »sowieso« auszahlt, ist unter Ökonomen höchst umstritten. Schließlich: Deutschland ist nicht nur der größte Nettozahler, sondern es wird gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten der EU, wenn man die Wirtschaftskraft ihrer Mitglieder zugrunde legt, auch noch ungerecht behandelt. Denn nach diesem wohl am ehesten überzeugenden Maßstab hätte Deutschland schon in der Zeit von 1991 bis 2008 nicht wie geschehen 146 Milliarden Euro, sondern lediglich 84,9 Milliarden Euro zahlen müssen. Die Bundesrepublik hat demnach bereits vor Installierung des europäischen Rettungsschirms 61,1 Milliarden Euro (!) zu Lasten des deutschen Steuerzahlers ohne rechtlichen Grund an die EU gezahlt und erbringt auch weiterhin seit 2008 entsprechende finanzielle Leistungen an die EU über das rechtmäßige Maß hinaus, s. dazu genauer : Willeke, Deutschland – Zahlmeister der EU, 2011. Gerade wenn man diesen Umstand berücksichtigt, wird es noch schwerer, die Begründung nachzuvollziehen, dass Deutschland, weil es die größten finanziellen Leistungen für die EU erbringt, mit der entsprechenden anteiligen Summe für den Euro-Rettungsschirm bürgt. 7 Ebd. auch noch das Argument: »Zusätzlich haben Internet und Massentourismus die nationalen Grenzen porös gemacht.«
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
565
»Die anhaltende politische Fragmentierung der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse« (44).
2.
Die »ursprünglich geteilte Volkssouveränität« als Grundlage der demokratischen Legitimation für das Verfassungsprojekt Europa (70).
Das bis heute offensichtliche Fehlen einer homogenen staatsbürgerlichen Gesellschaft in Europa stellt also, wie gezeigt, für die Legitimation einer europäischen Verfassung nach Habermas nur dann ein Problem dar, wenn man an überholten, am europäischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts orientierten Vorstellungen von der Volkssouveränität festhält. Habermas geht demgegenüber für die in Frage stehende Legitimation einer politischen EU davon aus, »dass sich aus dem wachsenden gegenseitigen Vertrauen der europäischen Völker zwischen den Unionsbürgern eine transnational ausgedehnte, wenn auch abgeschwächte Form der Bürgersolidarität entwickelt«. Das ist, wie er sagt, mit der »Zumutung« verbunden, »dass dieselben Personen lernen, zwischen der Rolle des Angehörigen eines ›europäischen Volkes‹ und der eines ›Unionsbürgers‹ zu differenzieren« (62 – Hervorhebungen A.J.). Rückblickend muss deshalb nach Habermas »die Gründung der Europäischen Union so gedacht werden, dass sich die beteiligten Bürger (oder deren Repräsentanten) von Anbeginn in zwei personae aufspalten; dann tritt jede Person sich als europäische Bürgerin im verfassungsgebenden Prozess gewissermaßen selbst als Bürgerin eines jeweils schon konstituierten Staatsvolkes gegenüber«. Habermas stützt seine These von der konstitutionellen Gewalt auf europäischer Ebene also auf »die Denkfigur ›der ursprünglich geteilten‹ Volkssouveränität« (69 f. – erste Hervorhebung A.J.). Im Ergebnis legitimiert damit nicht das europäische Volk das von Habermas befürwortete europäische Verfassungsprojekt, sondern der einzelne Bürger in seiner ihm von Habermas zugeschriebenen Doppelrolle8. Man kann auch sagen, dass er letztlich für die verfassungsrechtliche Legitimation einer politischen EU allein auf die universale Geltung der Menschenrechte zurückgreift. Habermas 8 Siehe dazu Habermas, Zur Verfassung Europas, S. 67: »Deshalb behält auch die EU-Verfassung – trotz des Umstandes, dass eine der beiden tragenden Säulen unmittelbar aus Kollektiven besteht – wie alle modernen Rechtsordnungen einen streng individualistischen Charakter : Sie basiert letztlich auf den subjektiven Rechten der Bürger.« Ganz entsprechend zitiert Habermas aus S. 68 folgenden Satz von v. Bogdandy : »Theoretisch ist es überzeugender, nur die Individuen, die (zugleich) Staats- und Unionsbürger sind, als die einzigen Legitimationssubjekte zu konzipieren« (erste und letzte Hervorhebung A.J..). Im Ergebnis ebenso Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 332; s. daneben die Nachweise bei MüllerFranken, AöR 134 (2009), 542 (552 f., 555 ff., bes. 561 ff.).
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
hebt damit also »die Gegenläufigkeit« zwischen »kosmopolitischen Menschenrechte(n) und nationalstaatlicher Demokratie« auf. Diese Betrachtungsweise ist zutreffend wie folgt gekennzeichnet worden: »Die Menschenrechte gebieten … ein ›Ethos des Wegsehens‹: von allen Besonderheiten der Individualität und Gruppenmerkmalen zu abstrahieren und allein auf die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch abzustellen. Dem Nationalstaat dagegen entspricht ein ›Ethos des Hinsehens‹. Er stellt ab auf die Zugehörigkeit einer bestimmten Menschengruppe, zum Staatsvolk. Zwischen beiden Sichtweisen besteht Polarität.«
Das Problem der Sichtweise von Habermas besteht also darin, dass er »allein die transnationale gelten lässt und die nationalstaatliche bis auf einen armseligen Rest weginterpretiert«9. Auf diese Weise reduziert sich dann folgerichtig die verfassungsrechtliche Bedeutung des für die nationalstaatlichen Verfassungen ursprünglich zentralen Volksbegriffs auf eine »Kurzformel für Menschen«. Am Ende dieser Entwicklung lässt sich so mit Recht behaupten, dass »alle Herrschaftsgewalt … von den Menschen« ausgeht10. Diese grundsätzliche Nivellierung des Unterschieds zwischen demokratischer und grundrechtlicher Legitimation bestätigt nun auch die Forderung von Habermas, dass sich »die internationale Gemeinschaft der Staaten … zu einer kosmopolitischen der Staaten und Weltbürger fortentwickeln« muss (10). Sie wäre dann seiner Meinung nach »nicht als Weltrepublik« zu »konstituieren«, sondern »als eine überstaatliche Assoziation von Bürgern und Staatsvölkern« (86). Ganz entsprechend seinem europäischen Verfassungsprojekt, das sich nach Habermas ja »als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen« lässt (40), würden dann, wie er weiter ausführt, »die Nationalstaaten … neben den Weltbürgern das zweite verfassungsgebende Subjekt der Weltgesellschaft bilden« (86). Und das Ziel dieser Entwicklung besteht für ihn schließlich darin, dass sich »in der Weltgemein9 So der Diskussionsbeitrag von Isensee zu einem Referat von Armin von Bogdandy (Europäische und nationale Identität Integration durch Verfassungsrecht?), in: VVDStRL 62 (2003),S. 208. In dem genannten Referat hatte von Bogdandy ausgeführt (ebd. S. 179 f., s. ergänzend auch S. 192): »Dies legt nahe, dass Gemeinwesen nicht auf Identitäten, sondern auf das langfristige Eigeninteresse der Bürger auszurichten, gemäß dem Kant’schen Diktum, dass auch Teufel einen Staat begründen können, wen sie nur verständig sind. Kants – von Hegel als ›Notstaat‹ verspottete Konzeption – erscheint als Prämisse verfassungsrechtlicher Deduktion vorzugswürdig. Für die Europäische Union folgt, dass eine gemeinsame Identität keine Voraussetzung für Herrschaft und Verfassung ist, sondern nur die Verfahren der Willensbildung und –umsetzung entsprechend ausgestaltet sind.« Zur gedanklichen Nähe dieser Ausführungen zur Konzeption von Habermas s. nur dessen Hinweis auf entsprechende Arbeiten von v. Bogdandy auf S. 39 Anm. 46, S. 59 mit Anm. 80, S. 63 mit Anm. 88, S. 64 mit Anm. 92, S. 67 mit Anm. 101, S. 68 mit Anm. 104 und S. 87 mit Anm. 127. 10 So die m. E. auch auf Habermas zutreffende Kennzeichnung eines entsprechenden Demokratieverständnisses durch Müller-Franken (Fn. 8), S. 556. Siehe dazu ergänzend die hier in Fn. 8 und Fn. 9 wiedergegebenen Zitate von Habermas und v. Bogdandy.
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
567
schaft … die Gerechtigkeitsperspektiven der beiden verfassungsgebenden Subjekte – die egalitären Maßstäbe der Weltbürger und die konservativen, einstweilen (!) nach Entwicklungsstand differenzierten Maßstäbe der Mitgliedstaaten – … einander annähern« (96 – Hervorhebungen A.J.). Was für die von Habermas erwünschte Entwicklung der EU gilt, gilt also in gleicher Weise für eine künftige Weltgemeinschaft: Die »differenzierten« und deshalb »konservativen« Vorstellungen von einer gerechten Welt (»Gerechtigkeitsperspektiven«) müssen langfristig überwunden werden.
III.
Die erste Gegenthese: Den heutigen Rechtsstatus der EU legitimiert nicht eine »ursprünglich geteilte Volkssouveränität«, sondern letztlich allein der entsprechende politische Wille der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der EU, wie er sich in ihren Verfassungen artikuliert hat
Eine rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem Essay von Habermas bedarf zunächst der grundsätzlichen Klarstellung, dass es sich bei dieser Abhandlung um eine rechtspolitische Stellungnahme handelt und nicht um eine philosophische, der man ja auch schwerlich mit rechtsdogmatischen Überlegungen gerecht werden könnte. Zwar finden sich im Text des Essays bisweilen auch Bezugnahmen auf die Philosophie Kants, aber bereits insofern fällt auf, dass Kants Ablehnung einer Weltrepublik aus pragmatischen Gründen, seine daraus folgende Bejahung eines Staatenbundes und seine Forderung nach Ergänzung des Völkerrechts durch ein Weltbürgerrecht11 für die Argumentation von Habermas keine wirkliche Bedeutung besitzen. Und das gilt erst recht für die bekannte Kritik Hegels an der Rechts- und Staatsphilosophie Kants, die ja in der praktischen Philosophie der Nachkriegszeit besonders durch Joachim Ritter und seine Schüler einen so nachhaltigen Einfluss auf das politische Denken in der Bundesrepublik ausgeübt hat12. Auch zum von der Soziologie wieder entdeckten 11 Siehe zu dieser Wende in der Spätphilosophie Kants nur: Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«, 1995, bes. S. 102 ff.; Brandt: Vom Weltbürgerrecht, in: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, hrsg. von Höffe, 3. Aufl. 2011, S. 95 (bes. S. 100 f.); Kersting, Kant über Recht, 2004,S. 152 ff., 160 ff.. Inzwischen hat Kersting seine Kant-Interpretation durch verschiedene Hegel-Interpretationen und allgemeine philosophische Überlegungen ergänzt, die sich vor allem gegen die »Verachtung des Volks« in der ja auch von Habermas so nachhaltig vertretenen Diskursethik wenden, s. Kersting, Macht und Moral, 2010, bes. S. 11 ff., 157 ff., 270 ff. (mit dem wiedergegebenen Zitat auf S. 273). 12 Zuverlässige Schilderung dieser Einflussnahme der »Ritter-Schule« durch: Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, 2006.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Begriff der Gemeinschaft13 als Grundlage jeder von Habermas so nachdrücklich eingeforderten Bürgersolidarität findet sich in seinem Essay nichts. Man tut also, wie gesagt, gut daran, diesen Text als eine rechtspolitische Äußerung von Habermas zu lesen14, deren rechtsdogmatische Würdigung schon deshalb Sinn macht, weil es ja primäre Aufgabe des Rechts ist, der Politik Grenzen zu setzen. Diese Grenzziehung verlangt nun zunächst hier unter III. eine Antwort auf die Frage, ob sich der heutige Rechtsstatus der EU mit Habermas’ rechtspolitischer These von der »ursprünglich geteilten Volkssouveränität« erklären lässt. Diese Antwort wiederum erfordert dann wegen der offensichtlichen Vernachlässigung der historischen Wurzeln des Europarechts durch die heutige Rechtswissenschaft im Folgenden in einem ersten gedanklichen Schritt ein kurzes Eingehen auf die Tatsache, dass es schon seit langem einen grundsätzlichen Konflikt »zwischen dem Nationalitäts- und dem abstrakten Staats- und Rechtsprinzip« gibt15. In einem zweiten wird dann darzulegen sein, dass und in welcher Weise diese Unterscheidung auch für das Verhältnis des heutigen Europarechts zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zutrifft; und weiter, was daraus für die Legitimation des Europarechts folgt. Um die praktische Tauglichkeit des gefundenen dogmatischen Ergebnisses zu überprüfen, soll dann drittens noch gefragt werden, ob sich auf dieser Grundlage der Rechtsstatus der EU und ihre Aufgaben schlüssig juristisch bestimmen lassen:
13 Zusammenfassend dazu Rosa u. a., Theorien der Gemeinschaft, 2010, zu unserem Thema s. besonders S. 113 ff (eine gesellschaftliche europäische Identität gibt es nicht, sie muss sich erst noch herausbilden) und S. 149 (Wiedergabe der – m.E. unzutreffenden – Kritik von Habermas an Charles Taylors Bejahung von nationalen Gemeinschaften). 14 Für diesen Standpunkt spricht auch, dass kein geringerer als Gadamer in einer seiner letzten öffentlichen Stellungnahmen über Habermas geurteilt hat, dass dieser »im Grunde kein Philosoph« sei, sondern »im Grunde ein Politiker«, s. ders., Die Lektion des Jahrhunderts, 2002, S. 100. Im Übrigen zeigen die Ausführungen ebd. auf S. 88 ff., mit welch wohlwollender Distanz Gadamer den Weg von Habermas begleitet (und gefördert) hat. Die Auseinandersetzung zwischen Habermas und Hennis belegt daneben, dass Habermas der großen Tradition der praktischen Philosophie auch keine wirkliche Bedeutung für die Politischen Wissenschaften beimisst, s. zu dieser Auseinandersetzung: Schlak, Wilhelm Hennis, 2008, bes. S. 75 ff., 163 ff. 15 So bereits für das römische Recht von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. I, 6. Aufl. 1907, S. 314; s. auch ebd. S. 12, wo Jhering, diese Unterscheidung als allgemeine Forderung an die Rechtswissenschaft (in Abgrenzung zu Savigny) formuliert: »Solange die Wissenschaft sich nicht entschließt, dem Gedanken der Nationalität den der Universalität als gleichberechtigten zur Seite zu setzen, wird sie weder imstande sein die Welt, in der sie selbst lebt, zu begreifen, noch die geschehene Rezeption des römischen Rechts wissenschaftlich zu rechtfertigen.«
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
1.
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Einige historische Beispiele für überstaatliche Rechtsbildungen und deren Legitimation
a) Dass es neben dem primär durch völkerrechtliche Verträge geformten zwischenstaatlichen Recht ein überstaatliches Recht gibt, ist der europäischen Rechtswissenschaft stets bewusst gewesen. Schon für das römische Recht (festgehalten etwa in den Institutionen des Gaius16) ist eine solche Entwicklung beobachtet worden. Dazu heißt es in den bekannten »Institutionen« (Geschichte und System des Römischen Privatrechts) von Rudolf Sohm: »Die Römer machten die Wahrnehmung, dass ihr Recht bereits ein doppeltes Moment enthielt: das eine durch die Form wirkende, welches ihrem alten ius civile, dem eigentlichen Bürgerrecht entstammte, das andere formfreie, welches durch die Berührung des römischen Verkehrs mit dem Weltverkehr zur Rechtskraft erstarkt war ; jenes nur für den Verkehr der römischen Bürger untereinander, dieses auch für die Fremden … bestimmt.«
Dieses zuletzt genannte Recht, so führt Sohm weiter aus, »erschien ihnen als ein gemeines Menschenrecht, durch die Natur der Dinge und gemeinmenschliches Billigkeitsgefühl allen Völkern gemeinsam … Mit anderen Worten, jus gentium war derjenige Teil des römischen Rechts, welcher schon den Römern als eine ratio scripta, als gemeingültiges und gemeinmenschliches Recht erschien«17.
b) Neben dieser römischrechtlichen Unterscheidung ist für unsere Fragestellung noch eine besonders im 19. Jahrhundert deutlich erkennbare Entwicklung des Völkerrechts interessant. Sie zeigt, dass »neben dem eigentlich zwischen-staatlichen, nach Innen und Außen dualistisch unterschiedenem Recht, ein gemeinsames Wirtschaftsrecht, ein internationales Privatrecht (erg.: bestand), dessen gemeinsamer Verfassungsstandard (die konstitutionelle Verfassung) wichtiger war als die politische Souveränität der einzelnen (politisch, aber nicht wirtschaftlich) in sich geschlossenen Flächenordnungen«18. 16 Inst. 1.2. 17 Sohm, Institutionen. Geschichte und System des römischen Privatrechts, 7. (von Mitteis bearbeitete) Aufl. 1926, S. 70 f., s. auch S. 81 Anm. 12. Damit übereinstimmend bemerkt Jörg Paul Müller, Das Weltbürgerrecht (§ 62) und Beschluss, in: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. von Höffe, 1999, S. 257 (258): »Das Weltbürgerrecht in Kants Rechtslehre hat im römisch-rechtlichen ius gentium einen eindrücklichen Vorläufer gehabt; es leitet sich aus der Vorstellung von allen Menschen gemeinsamen, vernünftigen Rechtsgrundsätzen ab.« Nach wie vor eindrucksvoll zum universalen Zug des römischen Rechts: Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 1 (Fn. 16), S. 1 ff. 18 So richtig Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Aufl. 1997, S. 185, s. auch S. 188, 209 ff.; ergänzend dazu Schapp, der zutreffend bemerkt, dass sich »mit dem Völkerrecht und dem Welthandelsrecht« seit langem eine Entwicklung hin zu den Menschenrechten andeutet, s. ders., Die Menschenrechte als Grundlage der
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Für das Internationale Privatrecht führt auch Savigny 1849 dem ganz entsprechend als letzten Grund für sein dogmatisches Verständnis dieses Rechts das Bestehen »einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der miteinander verkehrenden Nationen« an; dieser »Standpunkt« habe »im Fortschritt der Zeit immer allgemeinere Anerkennung gefunden«19. Noch wichtiger für unser Thema ist nun, dass besonders Lorenz von Stein, ein Zeitgenosse Savignys, einerseits die erwähnte Lehre von einem internationalen, den verschiedenen Völkern gemeinsamen Wirtschaftsrecht teilte20 ; er sich aber andererseits in seiner Rezension der ersten vier Bände von Savignys »System des heutigen Römischen Rechts« aus dem Jahre 1841 entschieden gegen dessen These wandte, dass das römische Recht in der Gegenwart noch für das deutsche Volk verbindlich sei. Vielmehr sei die Geltung des römischen Rechts nunmehr »wesentlich nur eine nominelle«21; Savignys Auffassung habe »gar keinen Boden in der Wirklichkeit«22. Lorenz von Stein unterscheidet also klar zwischen einem nationalen, allein für das deutsche Volk verbindlichen Recht23 und einem besonders die Wirtschaft betreffenden, die verschiedenen (europäischen) Völker verpflichtenden »überstaatlichen« Recht. Seine wenige Jahre nach dieser Rezension erscheinende fundamentale Auseinandersetzung mit dem preußischen Verfassungsvorhaben vertieft dann noch diese Kritik an einer lediglich »nominell« geltenden Rechtsordnung. Denn Lorenz von Stein führt dort genauer aus, dass Preußen deshalb kein wirklicher Verfassungsstaat sei und werden könne, weil der preußische Staat allenfalls von einer Wirtschaftsgesellschaft, nicht aber von einer homogenen staatsbürgerlichen Gesellschaft als notwendiger Voraussetzung für die wirkliche Geltung einer jeden Verfassung getragen werde24. Die preußische Verfassung könne darum nur als »Vorarbeit für eine Gesamtvertretung Deutschlands betrachtet« werden. Und das wiederum auch nur, weil die »vorhandenen Verhältnisse« in Preußen »etwas anderes und weitergreifendes bedeuten, als was sie selber sind«25.
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nationalen und europäischen Verfassungen (2003); in: Schapp, Über Freiheit und Recht, 2008, S. 219 (234). Zum Welthandelsrecht als universelles Menschenrecht i. S. der Atlantikcharta von 1941 dann ders., Probleme einer universellen Geltung der Menschenrechte, 2003, ebd. S. 180 (186 ff.). von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, achter Band 1849, S. 27. Siehe die Hinweise bei Schmitt (Fn. 18), S. 185, 188, 209. Die genannte Rezension Lorenz von Steins ist unter dem Titel »Zur Charakteristik der heutigen Rechtswissenschaft« erschienen in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 1841, S. 365 f., 369 f., 373 f., 377 ff., 381 ff., 385 ff., 389 ff., 393 ff., 397 ff; das Zitat des Textes findet sich auf S. 378. Ebd. S. 379. Das entnehme ich den Ausführungen in seiner genannten Rezension auf S. 387, 394, 397 u. a. Siehe zum Ganzen: von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift 1852 (hier zitiert nach dem Neudruck: Darmstadt, 2. Aufl. 1961), bes. S. 18 ff. Ebd. S. 34, 35. Die »vorhandenen Verhältnisse« in den Mitgliedstaaten der EU enthalten dem
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c) Entsprechende Formen eines transnationalen (Wirtschafts-)rechts gibt es natürlich auch noch heute. Dafür sei nur als besonders eindrückliches Beispiel auf das geltende transnationale Seehandelsrecht verwiesen26. Die Legitimation für ein solches ius gentium hat Sohm noch im Blick auf das römische Recht in der »Naturgewalt von Handel und Verkehr«27 gesehen und eben nicht im Volkswillen, wie er als Quelle des Gewohnheitsrechts namentlich in der Historischen Rechtsschule (Savigny, Puchta, Beseler, Gierke u. a.) – wieder – entdeckt wurde28. Heute wird man, wie es auch für das erwähnte transnationale Seehandelsrecht geschieht, die Legitimation für derartige Regelungen darin sehen müssen, dass sie aufgrund privater Setzung unter breiter Beteiligung von den jeweiligen Interessenträgern zustande kommen. Es sind also jene Entstehungsbedingungen, die weitgehend auch für die den privaten Rechtsverkehr regelnden sog. »institutionellen Wahlnormen« (einschließlich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen) gelten29. Wenn man bedenkt, dass als weiter gehender Geltungsgrund für die geschilderten Formen transnationalen Rechts heute die bereits in der Atlantikcharta von 1941 garantierte Freiheit des Welthandels genannt werden kann30, so ist es zwar grundsätzlich richtig, in diesem Recht eine »Kombination
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gegenüber nicht »etwas anderes und weitergreifendes«. Denn damals bestand in der Bevölkerung der deutschen Einzelstaaten ein über deren jeweilige Grenzen hinausgreifendes lebendiges deutsches Nationalbewusstsein, während es an einem entsprechenden europäischen Bewusstsein in den Mitgliedstaaten der EU nach meinem Eindruck fehlt. Dass Habermas diese Realität nicht wahrhaben will, sehe ich als einen entscheidenden Mangel seiner Überlegungen an. Siehe dazu zuletzt Maurer, Lex Maritima – Grundzüge eines transnationalen Seehandelsrechts, 2012. So Sohm (Fn. 17), S. 67. Richtig insoweit schon folgende Bemerkung von Jhering, Geist des römischen Rechts (Fn. 15), Bd. II. 1, 6. Aufl. 1921, S. 29: »Das Gewohnheitsrecht lässt sich recht eigentlich als das Schoßkind der s.g. historischen Schule bezeichnen; es scheint als ob sie sich verpflichtet gefühlt hätte, dasselbe für die Vernachlässigung, die es früher erfahren, durch um so liebevollere Behandlung zu entschädigen.« Den entscheidenden, noch heute gültigen Grund für diese Anerkennung des Gewohnheitsrechts durch die Historische Rechtsschule nennt von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, 1895, S. 163: »Seit aber der Staat Gesetze gibt, hat die menschliche Gesellschaft keineswegs an ihn ihre gesamte rechtsschöpferische Kraft veräußert; gleich Sitte, Sprache, Kunst und Wissenschaft ist auch das Recht eine im Leben des Staates nicht aufgehende besondere Funktion des Gemeinlebens geblieben.« Zur weiteren Folgerung, dass die parlamentarisch-demokratische Legitimation des Gesetzes aufgrund des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG im Vergleich zur Legitimation des Gewohnheitsrechts durch Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG als eine sekundäre verstanden werden muss, s. Janssen, DÖV 2010, 949 (955 f.). Grundlegend dazu nach wie vor Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971,S. 83 ff. (6.–8. Kapitel) und S. 131 ff., Vertiefend besonders Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtssetzung, 2. Aufl. 2009, S. 109 ff. 238 ff., 246 ff.; s. daneben Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre, 1986, S. 80 ff. i. V. m. S. 78 f. und Schapp/Schur, Einführung in das Bürgerliche Recht, 4. Aufl. 2007, S. 235 ff. Siehe dazu nur Schapp, Probleme einer universellen Geltung der Menschenrechte (Fn. 18), S. 186 ff.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
von Norm und Vertrag« (Meyer-Cording) zu sehen, sein letzter Geltungsgrund kann m. E. dann aber nur der »Typus des Austauschvertrages selbst« und damit eben die grundrechtlich fundierte Privatautonomie sein31. Mit dieser Feststellung ist zugleich ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die jetzt genauer zu untersuchende Frage nach der Legitimation des supranationalen europäischen Rechts gewonnen.
2.
Die Supranationalität des europäischen Rechts und seine demokratische Legitimation
a) Durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaften und ihre weitere Entwicklung ist es nun zu einem entscheidenden Wandel in dem Verhältnis zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht gekommen; das supranationale Recht der EU erforderte auch eine andere Legitimation. Das neue Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der EU hat man allgemein m. E. zutreffend mit den Begriffen »Primarität« der Mitgliedstaaten und »Komplementarität« der EU gekennzeichnet32. Es ist besonders Hans Peter Ipsen gewesen, der dieser Kennzeichnung entsprechend an der rechtsbegrifflichen Deutung der Europäischen Gemeinschaften als »Funktions-Zweckverband« stets festgehalten33 und das »ursprüngliche Gemeinschaftsziel« folgerichtig dahingehend beschrieben hat, dass man »Institutionen … zu optimaler Wahrnehmung nicht-mehrstaatlicher öffentlicher Aufgaben im weitesten Bereich des Wirtschaftlichen und seiner Konnexbereiche aus Sachzusammenhang« schaffen wollte34. Ursprüngliche Absicht der Mitgliedstaaten war es demnach, durch die Europäische Gemeinschaften »die Möglichkeit« zu schaffen, »die ihnen entgleitenden funktionalen Sachnotwendigkeiten wieder ihrer Kontrolle zu unterwer31 So richtig Schapp, Grundfragen (Fn. 29),S. 81; s. ergänzend Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II: Das Rechtsgeschäft, 1965, S. 668 ff. und besonders Meder, Rechtssetzung (Fn. 29), S. 233 ff. Die überzeugendste philosophische Rechtfertigung für diese These findet sich für mich nach wie vor in Kants Begründung des Weltbürgerrechts, s. dazu neben den hier in Fn. 11 genannten Arbeiten von Brandt und Gerhardt noch Müller (Fn. 17), S. 257 ff. 32 So Steiger, Der Staat 41 (2002), 331 (350 ff.). Die ausschließliche »Komplementarität« des Europarechts ist vor allem deshalb zu fordern, weil es nur – wie gleich unter 2c) darzulegen ist – eine indirekte demokratische Legitimation besitzt. Steiger stellt insofern vor allem auf das Subsidiaritätsprinzip ab. »Zwischen Primarität und Komplementarität«, so sagt er (S. 355), »schlägt das Prinzip der Subsidiarität die Brücke«. 33 So etwa Ipsen, EuR 1987, 195 (212); vorher schon ganz entsprechend ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 196 ff. 34 So Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1.(!) Aufl. 1992, S. 767 (784).
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
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fen und damit wieder, wenn auch in anderer Weise, unabhängig zu werden«35. Mit dem Begriff der »komplementären Überstaatlichkeit« sollte (und soll wohl auch noch heute) daran festgehalten werden, dass nach wie vor der »nichtsouveräne Staat … die primäre Form politisch-rechtlich-organisierter Einheitsbildung« darstellt und »im rechtlich organisierten Verhältnis funktional bestimmter Komplementarität« zu den Europäischen Gemeinschaften steht36. b) Die dargelegte komplementäre Überstaatlichkeit der EU hat m. E. auch ihren adäquaten Ausdruck in dem hinsichtlich seiner rechtlichen Bedeutung zwar umstrittenen, aber sicherlich in diesem Sinne interpretierbaren verfassungsrechtlichen Begriff der »zwischenstaatlichen Einrichtung« (Art. 24 Abs. 1 GG) gefunden. Da die durch Art. 24 Abs. 1 GG mit Inkrafttreten des Grundgesetzes vollzogene »Öffnung zur internationalen und speziell zur europäischen Integration … eine Modifikation des durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit« beinhaltet und man diese zuletzt genannte Vorschrift wiederum als Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes zu verstehen hat, konnte und kann der später in das Grundgesetz eingefügte Europaartikel (Art. 23 GG) nicht als eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Ermächtigung zur europäischen Integration gelesen werden37. Oder anders gesagt: Es gibt durch das Grundgesetz festgelegte inhaltliche Grenzen für die komplementäre Überstaatlichkeit der EU, die mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der »zwischenstaatlichen Einrichtung« in Art. 24 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG) benannt sind. 35 So richtig Steiger, Staatlichkeit und Überstaatlichkeit, 1966, S. 184. Auf eine interessante Parallele dieses Gedankengangs sei zumindest kurz hingewiesen: Zur Rolle des Staates beim Abschluss von Kirchenverträgen hat Pirson bemerkt: »Er gibt durch die Behandlung der Kirchen als gleichrangiger Vertragspartner nichts von seiner inneren Souveränität preis. Wenn er anerkennt, dass die eigentliche Position der Kirche in ihrer Umwelt nicht durch hoheitliche Mittel dirigiert werden kann, dann verzichtet er gar nicht auf die Ausübung echter staatlicher Befugnisse; er zieht vielmehr die Folgerung aus der richtigen Einschätzung der der Staatsgewalt immanenten Grenzen. Das neue Element im Staatskirchenrecht beruht nicht auf einer Minderung der staatlichen Autorität, sondern auf einer neuen Einsicht in das Wesen der staatlichen Souveränität«, so ders. Der Kirchenvertrag als Gestaltungsform der Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Kirche (1964), in: Dietrich Pirson, Gesammelte Beiträge zum Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, 1. Halbband 2008, S. 529 (537 f.). 36 So Steiger (Fn. 32), S. 347, 350. Wegen der zunehmenden Wahrnehmung ursprünglich einzelstaatlicher Aufgaben durch die EU – besonders offensichtlich in neuester Zeit im Bereich der Finanzverfassung (Etatrecht!) – halte ich den von Steiger gewählten Begriff der »komplementären Überstaatlichkeit« für glücklicher als den am positiven Europarecht orientierten der »Supranationalität«. Zum Begriff der Supranationalität zusammenfassend: Schorkopf, Der Europäische Weg, 2010, S. 41 ff.; ders., Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 146 ff. 37 Siehe zum Ganzen Janssen (Fn. 28), S. 954 f.. Das Zitat im Text findet sich bei Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip, in: Souveränitätsprobleme der Neuzeit, Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, 2010, S. 95 (111); genauer dazu ders., Der Staat 32 (1993), 161 (166 f., 176 ff.).
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Eine weitere Grenze für die europäischen Rechtsetzungskompetenzen folgt nach deutschem Verfassungsrecht aus der Tatsache, dass Art. 24 Abs. 1 GG allgemein für zwischenstaatliche Einrichtungen und Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG für die EU davon sprechen, dass der Bund Hoheitsrechte auf sie »übertragen« kann und darin eine Ermächtigung zur Delegation von Hoheitsrechten gesehen werden muss38. Denn daraus ergibt sich nicht nur eine schlüssige (zusätzliche) Begründung für die abgeleitete Hoheitsgewalt der EU und die dennoch zu bejahende unmittelbare Verbindlichkeit ihrer Rechtsvorschriften (Supranationalität). Vielmehr begrenzt schon der Rechtsbegriff der Delegation als solcher – seine inhaltliche Bedeutung – den Umfang der übertragbaren Rechtsetzungskompetenzen39. Dass die h.L. diese Auslegung des Wortes »übertragen« ablehnt, liegt nach meinem Eindruck vor allem daran, dass sie bis heute nicht in der Lage ist, die hier ja primär interessierende Gesetzesdelegation »als Begründung einer außerordentlichen Zuständigkeit zur final nicht determinierten … hoheitlichen Regelung von Sachbereichen« zu verstehen40. c) Die verbleibende Frage nach der demokratischen Legitimation des europäischen Primär- und Sekundärrechts lässt sich nach dem Ausgeführten nun wie folgt beantworten: Nicht nur das anfangs erwähnte überstaatliche Privatrecht (Wirtschaftsrecht), sondern auch das Europarecht besitzt ja als Legitimationsgrundlage einen Vertrag, und zwar in diesem Fall einen das europäische Primärrecht beinhaltenden Verfassungsvertrag. Die Partner dieses Vertrages – die Mitgliedstaaten der EU – sind zum Vertragsschluss durch ihre Parlamente und damit letztlich durch ihre Bevölkerung legitimiert41. Eine andere demokratische Legitimation kommt deshalb auch für das europäische Sekundärrecht nicht in Betracht, weil das europäische Parlament seine demokratische Legitimation nicht stiften kann. Denn es kann ja »nicht repräsentieren, was es noch nicht gibt: das europäische Volk, und nicht abbilden, was noch nicht existiert: eine europäische politische Öffentlichkeit, die sich um die Entscheidungsfragen der eu-
38 Dazu genauer Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union, 2001, S. 59 (82 ff.). 39 Siehe dazu genauer Janssen (Fn. 38), S. 85 f. 40 Ausführliche Begründung dieses Standpunktes in der 1971 vorgelegten, ungedruckten (und ca. 1.000 Schreibmaschinenseiten umfassenden) Habilitationsschrift von Barbey, Gesetzesdelegation und Gesetz – Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (Zitat des Textes: S. 690 – Hervorhebung A.J.). Ein Exemplar dieser Arbeit befindet sich im Universitätsarchiv der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster. Siehe daneben ders., Rechtsübertragung und Delegation, Diss. Jur. Münster 1962, bes. S. 62 ff. 41 Im Ergebnis ebenso Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. 1970,S. 69: »Beruht eine Verfassung auf Vereinbarung oder Vertrag, so ist Rechtsgrund ihrer Gültigkeit der politische Wille der Bundesgenossen und die darauf beruhende Existenz des Bundes«; s. auch S. 379.
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ropäischen Politik über die Landesgrenzen hinweg formiert«42. Die daraus sich ergebende (nur) mittelbare demokratische Legitimation des europäischen Sekundärrechts lässt sich im Ergebnis folglich allein mit dem Hinweis rechtfertigen, dass die den Kompetenzen ihrer Mitgliedstaaten aus sachlichen Gründen gesetzten Grenzen diese »komplementäre« Rechtssetzung der EU rechtfertigen – sie ist darum aber immer eine subsidiäre43. Es gilt also entsprechend, was man zur Herausbildung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Privatrecht bemerkt hat, die ja auch aus zwingendem sachlichem Grund eine Einschränkung der sie legitimierenden Privatautonomie bewirken: »Die Herausbildung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen scheint … zunächst eine Gestaltung der Lebenswelt selbst zu sein, der sich das Recht dann durch Anerkennung mehr oder weniger angepasst hat. Es ist doch eine Frage, ob überhaupt die Möglichkeit bestand, diese Anerkennung zu verweigern. Was sich im Verkehr herausgebildet hat, lässt sich nicht von Grund auf mit der Begründung verwerfen, seine Notwendigkeit sei nicht einzusehen. Die Last der Begründung gegen den durch den Verkehr gefestigten Vertragstyp obliegt hier der Rechtsordnung, die eine Begründung für eine derart weitgehende Entscheidung nicht hat geben können«44.
Es ist so gesehen letztlich die »Lebenswelt«, die die indirekte demokratische Legitimation des komplementären (und damit subsidiären) europäischen Rechts rechtfertigt.
3.
Der Rechtsstatus der EU als Staatenbund und die daraus folgende Begrenzung ihrer Finaltät
Der dargelegte Charakter des Europarechts und seiner demokratischen Legitimation verlangt nun noch eine Antwort auf die Fragen, ob sich denn überhaupt auf dieser Grundlage der Rechtsstatus der EU schlüssig bestimmen lässt und welche Aufgaben daraus für sie konkret folgen. Denn nur wenn eine befriedigende Antwort darauf möglich ist, können die bisherigen dogmatischen Überlegungen wirklich überzeugen. a) Die nahe liegende Lösung, die EU aufgrund des Ausgeführten als Staatenbund zu verstehen, wird von der ganz h.L. abgelehnt. Das wiederum lässt sich nach meinem Eindruck nur damit erklären, dass man sich bis heute nicht hinreichend Klarheit über die rechtliche Bedeutung dieses Begriffs verschafft hat. Es 42 So im Anschluss an Graf Kielmannsegg: Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie (1998), in ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 103 (126). Das europäische Parlament muss deshalb als reines Arbeits- und Kontrollparlament verstanden werden, s. dazu genauer Dann (Fn. 5), S. 363 ff. bes. S. 374 ff. 43 Siehe dazu auch noch einmal die hier in Anm. 32 zitierte Bemerkung von Steiger. 44 So Schapp (Fn. 29), S. 79, s. auch S. 78.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
ist besonders der (fast) vergessenen großen Untersuchung von Godehard Josef Ebers über »Die Lehre vom Staatenbunde« aus dem Jahr 1910 die Einsicht zu verdanken, dass sich – gerade wenn man die vielfältigen Erscheinungsformen des Staatenbundes in der Verfassungsgeschichte beachtet – die Folgerung aufdrängt, dass dieser »als eine Gemeinschaft zur gesamten Hand« zu verstehen ist45. Nur ein solches Verständnis des für die EU geltenden Rechtsstatus vermag dann auch einerseits ihre vertragsrechtlichen Grundlagen und zum anderen ihren gemeinschaftsrechtlichen Charakter schlüssig zu erklären. Darüber hinaus ist es auf diese Weise möglich, die (zivilrechtliche) Dogmatik der Gesamthandsgesellschaft für die rechtliche Durchdringung der Organisationsstruktur der EU fruchtbar zu machen46 b) Das Gesagte impliziert die wiederholt getroffene Feststellung dass die EU eine Rechtsgemeinschaft darstellt. Denn es gibt, wie richtig gesagt worden ist, »keinen wahren Staatenbund ohne Gerechtigkeit, keine völkerverbindende Herrschaft ohne Recht«47. Aus diesem Charakter der EU als einer auf einem Verfassungsvertrag beruhenden Rechtsgemeinschaft ergibt sich nun auch zwingend das Gebot, ihre Aufgaben namentlich im sozialstaatlichen Bereich zu reduzieren. Denn »Sozialität« ist, wie Ernst Forsthoff im Anschluss an Lorenz von 45 So Ebers, Die Lehre vom Staatenbunde, S. 303 ff. (Hervorhebungen A.J.) und für den Deutschen Bund ders. ganz entsprechend: Der Deutsche Bund, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd.1, 1930, S. 26 (29). 46 Das geschieht im Ansatz bei Ebers a. a. O. Im Übrigen sei hier nur auf das (für das Verbandsrecht überhaupt) grundlegende Werk von Flume zur Gesamthandsgesellschaft verwiesen: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I/1: Die Personengesellschaft 1977, s. dort besonders die Kapitel I – III. Durch das Verständnis des Staatenbundes als Gemeinschaft zum gesamten Hand erledigt sich auch die Notwendigkeit, durch einen neuen, namentlich von Schmitt entwickelten verfassungsrechtlichen Begriff des Bundes den Rechtsstatus der EU zu erklären, so aber Schönberger, AöR 129 (2004), 81 ff., bes. S. 109 ff.. Ausdrückliches Festhalten an dem Verständnis der EU als Staatenbund auch bei Kahl, Der Staat 33 (1994), 241 (256). 47 So Huber, Nationalstaat und supranationale Ordnung (1964), in ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 273 (290 – Hervorhebung A.J.). Zutreffend insofern auch schon die allgemeine Feststellung von Leopold von Ranke in seinem berühmten Aufsatz »Die großen Mächte« aus dem Jahr 1833, in dem er zur Zeit Ludwigs XIV. bemerkt (hier zitiert nach dem 1955 erschienenen Neudruck: Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch, S. 9): »Sollte es einen Supremat (erg.: in Europa) geben, so müsste es wenigstens ein rechtlich bestimmter sein. Dies faktische Unrechtmäßige, das den ruhigen Zustand jeden Augenblick durch Willkür stört, würde die Grundlage der europäischen Ordnung der Dinge und ihrer Entwicklung auflösen. Man bemerkt nicht immer, dass diese Ordnung sich von anderen, die in der Weltgeschichte erschienen sind, durch ihre rechtliche, ja juridische Natur unterscheidet. Es ist wahr, die Weltbewegungen zerstören wieder das System des Rechtes; aber nachdem sie vorübergegangen, setzt sich dieses von neuem zusammen und alle Bemühungen zielen nur dahin, es wieder zu vollenden« (Hervorhebungen A.J.). In diesem großen Kontext ist m. E. der Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft zu sehen und sind die auf dem Weg der EU in eine Haftungsgemeinschaft vollzogenen Rechtsbrüche zu bewerten.
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
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Stein stets richtig betont hat, »auf der Ebene der Verfassung Gleichheit«48 – genauer gesagt: »gleiche Freiheit«49. Deshalb ist es genuine Aufgabe der Verwaltungen in den Mitgliedstaaten der EU, nicht aber der EU als Rechtsgemeinschaft, diese Aufgabe zu erfüllen. Die (vernunftrechtlichen) Gründe für diese Folgerung finden sich – darauf ist vielfach hingewiesen worden50 – in der Rechtsund Staatsphilosophie Kants. Sie gelten deshalb für die Aufgabenstellung der EU, weil Kant insoweit ja bekanntlich auch vom »Gleichheitsverständnis des Rechtsstaatsprinzips« (im Gegensatz zum »Gleichheitsverständnis der sozialen Grundrechtstheorie«)51 ausgeht und damit letztlich verfassungsrechtlich argumentiert. Nimmt die EU die Tatsache ernst, dass sie als Staatenbund vertragsrechtliche Grundlagen besitzt – ihr im Grunde also »das persönliche Substrat des Staates« fehlt52 -, dann muss es auch im Blick auf die zukünftigen Aufgaben der EU grundsätzlich bei deren bereits zitierte Inhaltsbestimmung durch Hans Peter Ipsen bleiben. Darum wird auch künftig der weitere Ausbau des Binnenmarktes das primäre Ziel der EU sein. Ergänzend wird man natürlich als »Konnexbereich aus Sachzusammenhang« (Ipsen) die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit (einschließlich einer gesunden Umwelt) im europäischen Raum durch die EU zu fordern haben. Die allgemeine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage nach der »Finalität« der EU müsste dann im Ergebnis so lauten, wie Godehard Josef Ebers schon den Zweck des Staatenbundes umschrieben hat: »Trotz seiner Vielseitigkeit ist der Zweck des Staatenbundes kein allseitiger, wie man ihn in gewissem Sinne dem Staate zuschreiben kann. Der Staatenbund will nur den einzelnen Staaten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben behilflich sein. Infolgedessen macht er sich nicht alle Seiten des staatlichen Lebens zu eigen, sondern diejenigen, welche der einzelne Staat für sich nicht oder doch nicht so gut gerecht werden kann. Mag seine Zuständigkeit auch noch so ausgedehnt, mögen selbst die überwiesenen Befugnisse an 48 Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates (1. Bericht), VVDStRL 12 (1954), S. 8 (13); zuletzt ganz entsprechend ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 77 ff.. Im Anschluss an die Rechts- und Staatsphilosophie Kants stellt Kersting (Wohlgeordnete Freiheit, 3. Aufl. 2007, S. 54) fest, »dass der Sozialstaat kein Rechtsbegriff ist, sondern lediglich ein kluges, also wirklichkeitsaufmerksames Instrument der Rechtsausübung.« 49 Zu diesem verfassungsrechtlichen Verständnis des Sozialstaatsbegriffs in Fortführung des gedanklichen Ansatzes von Forsthoff: Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, 1990, S. 16 ff. und ders., Otto von Gierkes Freiheitsbegriff als Beitrag zur Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG), in: Waechter (Hrsg.), Grundrechtsdemokratie und Verfassungsgeschichte, 2009, S. 13 (29 ff.). 50 Siehe dazu Kersting (Fn. 48), S. 50 ff., 57 ff; ders. (Fn. 11), S. 127 ff.; Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, (1. Bericht), VVDStRL 64 (2005), S. 7 (14 ff.). 51 So Kersting (Fn. 48), S. 51. 52 So richtig allgemein für den Staatenbund: Ebers (Fn. 45), S. 272. Besser sollte man heute sagen: Der EU fehlt das persönliche Substrat des Verfassungsstaates.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Zahl und Bedeutung die den einzelnen Staaten verbleibenden Rechte übertreffen, seine Kompetenz ist doch begrenzt, auf einen bestimmt umschriebenen Kreis von Aufgaben beschränkt. Auf das engste hängt hiermit das Fehlen der sog. Kompetenz-Kompetenz zusammen«53.
IV.
Die zweite Gegenthese: Habermas’ These von der »ursprünglich geteilten Volkssouveränität« kann auch nicht die Legitimation für eine künftige europäische Verfassung begründen, weil sie dem menschenrechtlich fundierten Selbstbestimmungsrecht der Völker widerspricht
Gegen die soeben unter III. vorgetragene Argumentation ließe sich nun einwenden, dass Habermas ja den gegenwärtigen Rechtsstatus der EU geändert wissen will und er weiter für die Legitimation seines europäischen Verfassungsprojekts deshalb die »ursprünglich geteilte Volkssouveränität« als zentrales Argument benutzt, weil er sich dafür seiner Meinung nach auf die universale Geltung der Menschenrechte berufen kann54. Nun spricht aber, wie im Folgenden noch genauer auszuführen ist, gerade diese Berufung auf die Menschenrechte gegen die These Habermas’ von »der ursprünglich geteilten Volkssouveränität«. Zu dieser Behauptung gibt folgende Überlegung Anlass: »Welche Merkmale erfüllt sein müssen, um eine Personenmehrheit als ›Volk‹ mit verfassungsgebender Gewalt identifizieren zu können, erschließt sich nicht ohne weiteres. Auf der Suche nach einer Antwort könnte sich anbieten, den beschwerlichen Weg anthropologisch kompilierter Kriterien zu meiden und stattdessen darauf zu vertrauen, das das Völkerrecht im Umgang mit dem politischen Selbstbestimmungsrecht der Völker inzwischen einen gangbaren kurzen Weg zur Antwort gefunden hat«55.
Diesem Hinweis entsprechend soll im Folgenden zunächst auf den Beitrag des Selbstbestimmungsrechts der Völker zur näheren Bestimmung des pouvoir constituant für eine europäische Verfassung eingegangen werden, um dann noch nach dessen weitergehende Bedeutung für die Bestandskraft einer europäischen Verfassung zu fragen:
53 So Ebers. ebd., S. 272. 54 Siehe dazu besonders eindrücklich S. 13 ff. seines Essays »Zur Verfassung Europas«. 55 So Kempen, Verfassung und Politik, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 929 (950 – Hervorhebungen A.J.); ein entsprechender Hinweis findet sich bei Murswiek, Der Staat 23 (1984), 523 (534 mit Anm. 35).
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
1.
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Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die inhaltlichen Anforderungen an den pouvoir constituant einer europäischen Verfassung
Es sind bekanntlich die verschiedenen (völkerrechtlich) anerkannten Menschenrechtskataloge, die zusammen genommen die These von der universalen Geltung der Menschenrechte begründen56. Zu diesen wiederum zählt, wie bereits die Atlantikcharta von 1941 zeigt, »das Selbstbestimmungsrecht der Völker«57. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang daneben noch besonders Art. 1 (ähnlich Art. 55) der Charta der Vereinten Nationen von 1945, der ebenfalls vom »Grundsatz« der »Selbstbestimmung der Völker« spricht. Und Art. 21 Abs. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 stellt dann noch klar, dass »der Wille des Volkes … die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt« bildet. Besonders deutlich heißt es ferner in den zwei internationalen Pakten von 1966 (jeweils Art. 1), dass »alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung« haben und »kraft dieses Rechts frei über ihren politischen Status« entscheiden58. Nach Art. 3 Abs. 5 EUV schließlich leistet die EU »einen Beitrag … insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen«. Es besteht nun auch weitgehend Einigkeit darüber, dass den genannten Texten, die erstaunlicherweise für Habermas’ Verständnis der Menschenrechte keine Bedeutung besitzen, ein »ethnischer« (bzw. »kultureller«) Volksbegriff zugrunde liegt. Als Kriterien für sein Vorliegen werden durchweg »gemeinsame Sprache, Kultur, insbesondere Religion, sowie Abstammung« genannt. Ergänzend wird dann gewöhnlich noch gefordert, dass sich aus den erwähnten Merkmalen »eine gewisse Homogenität der Bevölkerung« ergeben muss, d. h. »die objektive Besonderheit, die die Gruppe von anderen abhebt«, und natürlich auch ein auf diese objektive Besonderheit gestütztes, »eine ›Gruppenidentität‹ begründende(s) Bewusstsein der Zusammengehörigkeit«59. Es ist das so defi56 Allgemein zu »Bestand und Arten universeller internationaler Menschenrechte«: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1533 ff., s. auch S. 1519 ff. zu den »Geltungsvoraussetzungen internationaler Menschenrechte«; daneben ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts (Fn. 34), Bd. 9, 3. Aufl. 2011, S. 3 (40 ff.) und ebd. S. 45 ff. zu den europäischen Menschen- und Grundrechten. Speziell zum Selbstbestimmungsrecht der Völker : Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts (Fn. 34), Bd. 2, 3. Aufl. 2004, S. 3 (65 f.) und Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, ebd.,S. 929 (963 ff.). 57 Siehe dazu konkret Schapp (Fn. 30), S. 181 ff., bes. S. 184 ff. 58 Zur rechtlichen Bedeutung gerade dieser Pakte für das Selbstbestimmungsrecht der Völker genauer: Stöcker, Der Staat 28 (1989), (73 ff., 83 ff.). 59 So Murswiek (Fn. 55), S. 538 f., vgl. auch S. 533 mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass das Subjekt des »offensiven« Selbstbestimmungsrechts (um das es hier allein geht) »natürlich nur das Volk im ethnischen Sinne« sein kann. Vertiefend zu der zitierten Definition: Böckenförde (Fn. 42), S. 110 ff.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
nierte Volk, das vor der Verfassung »besteht« und deshalb nicht als ihr »Geschöpf«, sondern als ihr »Schöpfer« angesehen werden muss60. Darum wird man im Ergebnis auch demokratische Herrschaft als »die Herrschaft eines ganz bestimmten Volkes über sein Recht« und nicht etwa als »die Herrschaft aller Völker über das Recht aller Völker« zu verstehen haben61. Was nun die Verbindlichkeit des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so gilt nach dem hier unter III. Ausgeführten natürlich der Satz, dass es »das Grundgesetz … ist, welches den innerstaatlichen Rechtsgrund des Völkerrechts legt«62.Aus der Aussage des Art. 1 Abs. 2 GG, dass sich »das deutsche Volk … zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft« bekennt, lässt sich insofern m. E. aber zumindest für die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes die Folgerung ableiten, dass sie (auch) eine menschenrechtliche Legitimation besitzt. Man muss dann nur mit Art. 1 Abs. 2 und 3 GG zwischen Menschenrechten und Grundrechten unterscheiden und jenes weite Verständnis der Menschenrechte anerkennen, das den hier genannten völkerrechtlichen Bestimmungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker augenscheinlich zugrunde liegt63. 60 So richtig Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Recht und Recht. FS für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 137 (139). Für die Weimarer Reichsverfassung so schon Liermann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im ReichsStaatsrecht der Gegenwart, 1927, bes. S. 166 ff.. Folgerichtig i. S. des Textes darum auch die Feststellung von Murswiek (Fn. 55), S. 530: »Das Selbstbestimmungsrecht … steht den – vorhandenen – Völkern zu und nicht den Individuen zum Zwecke der Gründung von Völkern«. 61 So Schapp (Fn. 18), S. 234. Gerade ein Blick in die europäische Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zeigt die zentrale Bedeutung, die der ethnische Volksbegriff für die »Erfindung der Volksnationen« und ihrer Forderung nach Verfassungen besaß, dazu Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 1994, S. 172 ff.. Ebd. auf S. 339 auch die richtige Feststellung: »Dauerhaft kann eine europäische Verfassung nur sein, wenn sie mit den Nationen, ihrer langen Geschichte, ihren Sprachen und ihren Staaten rechnet.« 62 Enders, Menschenrechtsidee und staatliche Grundrechtsgewährung – ein unauflösbarer Widerspruch?, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. FS für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 533 (540). 63 Im Ergebnis ebenso Stöcker, ZRP 1993, 9 (10); s. daneben allgemein zum Einfluss der Menschenrechte auf die deutsche Rechtsordnung: Enders (Fn. 62), S. 539 f.. Es wäre übrigens einer näheren Darlegung wert – kann aber hier nicht geleistet werden -, den gedanklichen Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen Gierkes Genossenschaftstheorie und dem weiten Grundrechtsverständnis der Reichsverfassung der Paulskirche einerseits und der hier vertretenen menschenrechtlichen Fundierung des auch vom Grundgesetz anerkannten Selbstbestimmungsrechts andererseits besteht; s. insoweit für die Paulskirchenverfassung und Gierkes Genossenschaftstheorie: Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. 1998, S. 159 ff., 173 ff.; ders. ZParl 15 (1984), 52 ff.; ders., Die französischen Menschenund Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, JöR, NF/Bd. 39 (1990), S. 1 (45 ff.).
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
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Die damit für die staatliche wie für die überstaatliche Entscheidungsebene geltende Rechtfertigung der verfassungsgebenden Gewalt durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist es also, die entgegen dem von Habermas vertretenen Verständnis der Menschenrechte die entscheidende juristische Begründung für die Forderung nach der notwendigen Legitimation des von ihm befürworteten Verfassungsprojekts durch die (bis heute fehlende) verfassungsgebende Gewalt des europäischen Volkes liefert64.
2.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Garant für die Bestandskraft einer europäischen Verfassung
Der Forderung von Habermas, für die Legitimation seines europäischen Verfassungsprojekts von der »ursprünglich geteilten Volkssouveränität« auszugehen, ist auch entgegenzuhalten, dass ohne die Verankerung einer europäischen Verfassung im Willen der europäischen Bevölkerung ihre Bestandskraft, die für die EU als Rechtsgemeinschaft ja von besonderer Bedeutung wäre, nicht hinreichend gewährleistet ist. Der politischen »Willkür«, so hat schon Jhering zutreffend festgestellt, »imponiert … lediglich die reale Kraft, die hinter dem Gesetz steht, ein Volk, das in dem Recht die Bedingung seines Daseins erkannt hat und dessen Verletzung als eine Verletzung seiner selbst empfindet, ein Volk, von dem zu gewärtigen ist, dass es äußersten Falls für sein Recht in die Schranken tritt … und in diesem Sinne bezeichne ich die Furcht der Staatsgewalt von der Reaction des nationalen Rechtsgefühls als die letzte Garantie der Sicherheit des Rechts«65.
Diese Argumentation Jherings trifft nun besonders für das Verfassungsrecht zu. Denn das Verfassungsrecht entsteht, wie Lorenz von Stein am Ende seiner hier schon genannten Schrift »Zur preußischen Verfassungsfrage« richtig feststellt, »aus dem Recht der Verhältnisse, und in den großen Staatsangelegenheiten gibt es keine Wahrheit und Treue einzelner Menschen, sondern nur die Wahrheit des Staatslebens«66. Diese Erkenntnis war es auch, die selbst Gerhard Anschütz als einen der großen Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus veranlasste, das deutsche Reich von 1871, das nach dem Text seiner Verfassung ja durchaus als 64 Es sei übrigens abschließend zu diesem Punkt ausdrücklich daran erinnert, dass bereits 1954 Menzel für den Erlass einer für ihn in Zukunft denkbaren europäischen Verfassung das Vorliegen eines entsprechenden Willens der europäischen Bevölkerung (eines »europäischen pouvoir constituant«) zur Voraussetzung gemacht hat, s. ders., Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik (Mitbericht) VVDStRL 12 (1954), S. 179 (215 f.). 65 So von Jhering, Der Zweck im Recht, 1. Bd., 3. Aufl. 1893, S. 381 f. (Hervorhebungen A.J.). 66 Stein (Fn. 24), S. 36.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Staatenbund gedeutet werden konnte67, als durch die Reichsverfassung von 1871 legitimierten Bundesstaat zu verstehen68. Und zwar vor allem deshalb, weil es, wie er in der Rückschau sagte, »das nationale Gemeinwesen des deutschen Volkes« gewesen sei, »ein Staat, der in seinem Dasein und in seiner Einheit nicht auf dem Willen der Fürsten, sondern auf dem Willen des Volkes ruhte«69. Genau das kann man nun für die EU nicht behaupten. Leugnet man wie Habermas die Notwendigkeit einer verfassungsgebenden Gewalt des europäischen Volkes für den Erlass einer europäischen Verfassung, so setzt man sich also nicht nur in Widerspruch zum menschenrechtlich fundierten Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern stellt von vornherein auch die Bestandskraft einer solchen Verfassung in Frage.
V.
Die methodischen Grundlagen der vorgetragenen juristischen Argumention
Der gedankliche Ausgangspunkt der vorgetragenen juristischen Argumentation ist nicht wie bei Habermas ein abstraktes rechtspolitisches Postulat, sondern die auf langjährigen praktischen Erfahrungen im Umgang mit dem deutschen Verfassungsrecht70 basierende Einsicht, dass »das Wirkliche als Grenze dessen genommen« werden muss, »was möglich ist«71. Wenn die Jurisprudenz es mit der Friedensfunktion des Rechts wirklich ernst meint, muss sie m. E. dieses Wirklichkeitsverständnis ihren Überlegungen zugrunde legen. Denn auf friedlichem Weg lässt sich nun einmal menschlicher Streit nur dann verhindern bzw. schlichten, wenn man die Lebenswelt der Streitenden – ihre Sicht der Lebenswirklichkeit – zum Ausgangspunkt seiner juristischen Bemühungen macht. Aus diesem Grund konnten die hier unter III. mitgeteilten Überlegungen zu dem auch das Europarecht kennzeichnenden Konflikt »zwischen dem Natio67 Das ist bekanntlich in besonders nachdrücklicher Weise durch von Seydel (Commentar zur Verfassungs-Urkunde für das deutsche Reich, 2. Aufl. 1897) geschehen. Zum faktischen Wandel des deutschen Reiches vom Staatenbund zum Bundesstaat unter der Reichsverfassung von 1871: Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte (1970), in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 62 ff., bes. S. 74 ff. 68 Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 224 und S. 472; s. ergänzend dazu Anschütz, Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung 1923, S. 8 ff. 69 So Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, S. 2 (Hervorhebungen im letzten Halbsatz A.J.). 70 Verf. hat die längste Zeit seiner beruflichen Tätigkeit im Niedersächsischen Landtag zunächst als Mitglied des dortigen Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes und später als Leiter der Landtagsverwaltung verbracht. 71 So Suhr, Bewusstseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975, S. 348 im Blick auf die »Unmöglichkeit einer unmittelbaren Selbstherrschaft des Volkes«.
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
583
nalitäts- und dem abstrakten Staats- und Rechtsprinzip«72 und zur daraus folgenden Frage nach der demokratischen Legitimation des transnationalen europäischen Rechts die historischen Erfahrungen nicht ausblenden. Denn sie sind ja wesentlicher Teil jeder Wirklichkeitserfahrung73. Dass diese historischen Erfahrungen zunächst im Privatrecht gemacht wurden, beruht letztlich auf der zumindest für das römische Recht geltenden Erkenntnis, dass »nicht das Privatrecht … nach publizistischen, sondern der Staat nach privatrechtlichen Prinzipien konstruiert« wurde74. Die Fortentwicklung des (privaten) römischen Rechts durch das »publizistische« kanonische Recht einerseits75 und das – privates und öffentliches Recht überwölbende – allgemeine Verbandsrecht mit seiner starken Prägung durch die deutsche (mittelalterliche) Rechtsgeschichte andererseits76 verbieten es schon, diesen vom römischen Privatrecht geprägten Anknüpfungspunkt als eine verkürzte Sichtweise zu kritisieren. Der umgekehrte Vorwurf ist m. E. dagegen von erheblicher Relevanz, – nämlich der, dass die Dogmatik des Staats- und Verwaltungsrechts allzu häufig glaubt, in der Beschränkung auf die Geschichte des öffentlichen Rechts seit dem (späten) 72 So, wie bereits erwähnt (s. den Nachweis in Fn. 15), Jhering. 73 Zur Relevanz dieser Feststellung für das juristische Denken s. meinen Versuch: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik – Aussagen der hermeneutischen Philosophie zu ihren Verhältnis, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur. FS für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, 1997, S. 467 ff.. Dass diese Erfahrungen immer analoge Erfahrungen sind, ist mir bei dieser Feststellung voll bewusst. Zur grundsätzlichen »Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung« in der »sogenannten Sattelzeit zwischen rd. 1750 und rd. 1850«: Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft (1972), in: ders., Zeitschichten, 2003, S. 298 (302 ff.). Diese »Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung« relativiert sich allerdings für die Rechtsgeschichte, wenn man die grundsätzliche Funktion des Rechts in der Entscheidung von Konflikten zwischen Personen und zwischen Gruppen sieht, dazu prägnant: Schapp, Zum Verhältnis von Recht und Staat (1993), in: Über Freiheit und Recht (Anm. 18), S. 61 (64 ff.) und ausführlicher ders., Freiheit, Moral und Recht, 1994, S. 198 ff., 243 ff.. Koselleck hat ebenfalls in seinem Aufsatz »Geschichte, Recht und Gerechtigkeit« aus dem Jahr 1987 (Zeitschichten, S. 336 ff.) betont, dass »die geschichtlichen Zeitmaße des Rechtes … auf ihrer strukturellen Wiederholbarkeit« beruhen; »die Geschichte des Rechts« also »anderen Zeitrhythmen folgt als die politische Geschichte« (ebd., S. 352). 74 Siehe dazu Jhering (Fn. 15), S. 219 ff. (Zitat: S. 219). 75 Dazu kurz und prägnant: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe), 5. Aufl. 1972, S. 480 f. und Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2010, S. 42 f.. Unübertroffen zur Entwicklung der Korporationstheorie und des öffentlichen Amtes durch die Kanonisten noch immer : von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3, 1881, S. 26 ff.; 416 ff.; allgemein zum Beitrag des kanonischen Rechts zur Ausbildung staatlicher Rechtsstrukturen: Wyduckel, Ius Publicum, 1984, S. 91 ff. und besonders Dreier, JZ 2002, 1 (4 ff.). 76 Im vorliegenden Zusammenhang insoweit besonders interessant die Ausführungen Gierkes zur Geschichte und rechtlichen Bedeutung der Gemeinschaft zur gesamten Hand, s. dazu ders., Genossenschaftsrecht, Bd. 2, 1873, S. 920 ff., auch S. 405 ff.; Die Genossenschaaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 339 ff. und die zusammenfassende Darstellung in: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, 1895, S. 456 ff, 660 ff.
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18. Jahrhundert die ihr gestellten Probleme angemessen lösen zu können77. Gerade die durch das überstaatliche Europarecht aufgeworfenen (neuen) rechtsdogmatischen Fragen erfordern es – das sollte hier gezeigt werden – (auch) an vorstaatliche Verfassungsstrukturen78 der europäischen Rechtsgeschichte anzuknüpfen. Auch die hier unter IV. entwickelte dogmatische These beruht auf der Einsicht, dass das Wirkliche als Grenze dessen anerkannt werden muss, was möglich ist. Denn die Menschenrechte fordern danach nicht – wie Habermas augenscheinlich annimmt – ein »Ethos des Wegsehens«, das es gebietet, »von allen Besonderheiten der Individualität und Gruppenmerkmalen zu abstrahieren und allein auf die Gattung Mensch abzustellen«79. Auch sie fordern vielmehr ein »Ethos des Hinsehens«. Denn sonst würde ja die Verwurzelung allen Rechts in der Lebenswelt in Frage gestellt. Menschliche Freiheit, deren Ordnung dem Recht aufgegeben ist, ist nun einmal »nicht ein abstrakter Differenzpunkt …, von wo aus wir Werte und Präferenzen beliebig setzen«. Vielmehr »bildet sich« die Identität eines jeden Menschen (und damit auch sein Freiheitsverständnis) »in einem kulturellen Raum«, und sie ist deshalb notwendig »eine geschichtliche«80. Nicht nach der »transzendentalen Bedeutung« der Menschenrechte war
77 Ansätze zur Überwindung dieser verengten Blickrichtung durch differenzierten Rückgriff auf privatrechtliche Institute etwa bei: Schapp, Das subjektive Recht im Prozess der Rechtsgewinnung, 1977, bes. S. 144 ff.; ders. Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, 1978; ders., AcP 192 (1992), 355 (384 ff.); Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, 1993; Henke, DÖV 1980, 621 ff.; ders. DÖV 1984, 1 ff.; ders. JZ 1992, 541 ff.; Janssen, Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa?, in: Offene Staatlichkeit. FS für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, 1995, S. 145 ff.; ders., Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht, in: FS Hollerbach (Fn. 62), S. 707 (713 ff.); ders. (F. 49), S. 33 f., 35 ff. 78 Von »vorstaatlichen Verfassungsstrukturen« lässt sich m. E. besonders dann sprechen, wenn man den Unterschied zwischen Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht in Analogie zu dem zwischen absoluten und relativen Rechten im Zivilrecht sieht, s. dazu nur Schur (Fn. 77),S. 117, 153, 189 mit Anm. 66. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass der »publizistische« Codex iuris canonici von 1918 mit seinem Aufbau dem altrömischen Institutionenschema des Gaius (personae – res – actiones) folgt, s. dazu Stutz, Der Geist des Codex iuris canonici, 1918, S. 38 ff. 79 So kritisch Isensee (Nachweis des Zitats hier in Fn. 9). Zur entsprechenden Sichtweise von Habermas, s. Zur Verfassung Europas S. 10 f., 30, 31 f., 32 Anm. 35, 36 ff. 80 So Spaemann, Sittliche Normen und Rechtsordnung, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (30), 1996 S. (8 f., auch 17). Ergänzend dazu sagt Böckenförde (Fn. 42), S. 120 (Hervorhebungen A.J.): »Nicht schon, weil die Menschen alle Menschen sind, können sie beliebig und ohne weiteres in sozialen und politischen Gemeinschaften zusammenleben, sondern es gehört zum Recht des Menschen, in einer sozialen und politischen Gemeinschaft zu leben, die ihn in seiner Prägung auffängt und trägt, ihm Heimat geben kann.«
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darum hier unter IV. zu fragen81, sondern nach ihrer konkreten rechtlichen Ausformung in der geschichtlichen Wirklichkeit. Die Einsicht in die »Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten« und das daraus folgende »Antiprinzip der Anknüpfung«82 sind es also letztlich, die die Jurisprudenz vor falschen politischen Utopien bewahren können. Eine solche stellt der Essay »Zur Verfassung Europas« von Jürgen Habermas aus juristischer Sicht dar, – er ist deshalb abzulehnen.
Thesen I. Die richtige Antwort auf die offensichtliche Krise der Europäischen Währungsunion liegt nach Jürgen Habermas in der Fortentwicklung der EU zu einer politischen Union. Er plädiert deshalb in seiner Schrift »Zur Verfassung Europas« (2011) für den Erlass einer Europäischen Verfassung, wobei er für deren Legitimation nicht auf die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der EU abstellt, sondern auf den einzelnen in der EU lebenden Bürger. Ob diese Ansicht sich juristisch schlüssig begründen lässt, ist die Ausgangsfrage für die folgenden Überlegungen.
II. Zusammenfassend kann zum Gedankengang von Habermas in der genannten Schrift Folgendes festgestellt werden: Die erste Voraussetzung für die Realisierung des europäischen Verfassungsprojekts besteht für ihn darin, dass man von der »Überverallgemeinerung einer zufälligen historischen Konstellation in Europa« Abschied nimmt, – der Fixierung auf die in den europäischen Nationalstaaten realisierten Volkssouveränität. Die Überwindung dieser dem 19. Jahrhundert verhafteten Perspektive erfordert nach Habermas »Lernprozesse«, zu denen gerade Deutschland aufgrund seiner »nationalen Exzesse« in der jüngsten Vergangenheit verpflichtet ist. Ein »eth81 Zwischen »transzendentalen und programmatischen Menschenrechtselementen« unterscheidet Kersting (Fn. 48), S. 67 ff. (Zitat S. 67). 82 Dazu Marquard, Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten, in: Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte Bd. 3, 1979, S. 332 ff. (2. Zitat S. 333); ebd. auch der richtige Hinweis von Marquard, dass dies »ein Grundsatz einer zur Skepsis tendierenden hermeneutischen Ethik« sei, ähnlich seine Diskussionsbeiträge a. a. O., S. 369 f., 371 f., 390 ff.
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nozentriertes Bild von Europa« kann nicht das Leitbild für eine europäische Verfassungsgebung sein. Zu diesen »Lernprozessen« gehört nach Habermas auch, dass der einzelne Bürger seine Doppelrolle als Bürger der EU und Angehöriger eines Mitgliedsstaates begreift, die ihm für die demokratische Legitimation der EU zukommt. Geschieht das, so reduziert sich die verfassungsrechtliche Bedeutung des für die nationalstaatlichen Verfassungen ursprünglich zentralen Volksbegriff auf eine »Kurzformel für Menschen«. Am Ende dieser Entwicklung lässt sich dann mit Recht behaupten, dass »alle Herrschaftsgewalt … von den Menschen ausgeht« (Müller-Franken).
III. Was das geltende Europarecht betrifft, so kann Habermas’ These von der ursprünglich geteilten Volkssouveränität aus juristischer Sicht die demokratische Legitimation der EU nicht erklären. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen: 1. Es hat schon immer ein überstaatliches Privatrecht (Wirtschaftsrecht) gegeben, das letztlich durch die grundrechtlich fundierte Privatautonomie legitimiert war und ist. So gesehen besteht der Wandel, der durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaften und ihre Weiterentwicklung eingetreten ist, allein darin, dass das europäische Primär- und Sekundärrecht nicht durch die Privatautonomie, sondern (allein) durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten der EU demokratisch legitimiert ist. Bereits daraus ergibt sich eine Grenze für den Umfang der europäischen Rechtssetzung, die in den das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten kennzeichnenden Prinzipien der Primarität und Komplementarität ihren adäquaten Ausdruck findet. 2. Diese primär auf dogmengeschichtlichen Überlegungen basierende Argumentation unterstützen die einschlägigen Regelungen des Grundgesetzes (besonders: Art. 23 und 24 GG). Denn ihre durch jene Überlegungen angeleitete Auslegung bestätigt die dargelegte, für das Europarecht geltende (mittelbare) demokratische Legitimation und die daraus für die EU folgende Begrenzung ihrer Rechtssetzungskompetenz. 3. Den vertragsrechtlichen Grundlagen der EU entspricht es daneben, wenn man sie als Staatenbund i. S. einer Gemeinschaft zur gesamten Hand versteht. Dieser Rechtsstatus der EU ist auch der eigentliche Grund dafür, dass ihre Finalität primär im weiteren Ausbau des Binnenmarktes und der (auch) daraus folgenden Notwendigkeit besteht, die innere und äußere Sicherheit
18. Vefassungsgebung ohne Legitimation des Volkes?
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ihrer Mitgliedstaaten (einschließlich des Umweltschutzes) zu gewährleisten; nicht aber in der Erfüllung genuin sozialstaatlicher Aufgaben. Im Ergebnis stellen also nach heutiger Rechtslage allein die verfassungsgebende Gewalt der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der EU und deren durch diese Bevölkerung legitimierte Verfassungen den Rechtsgrund für das geltende Europarecht dar.
IV. Habermas’ These von der ursprünglich geteilten Volkssouveränität kann aus juristischer Sicht auch nicht die Legitimation für eine künftige europäische Verfassung begründen. Dagegen spricht nämlich das menschenrechtlich fundierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sowohl in verschiedenen völkerrechtlichen Dokumenten wie letztlich auch im Grundgesetz seinen (indirekten) Niederschlag gefunden hat. Es liefert die rechtsverbindliche inhaltliche Bestimmung des pouvoir constituant für eine europäische Verfassung und vermöchte auch deren Bestandskraft sicherzustellen. Weil es nun aber bis heute in der EU an einer homogenen staatsbürgerlichen Gesellschaft fehlt, fehlt es ebenfalls an einer verfassungsgebenden Gewalt für eine europäische Verfassung. Deshalb muss das von Habermas verfolgte Verfassungsprojekt scheitern. Es gilt für die EU darum (weiterhin) der hier unter III. skizzierte Rechtsstatus.
V. Die vorgetragene juristische Argumentation basiert auf der Einsicht, dass »das Wirkliche als Grenze dessen genommen« werden muss, »was möglich ist« (Dieter Suhr). Dieses Wirklichkeitsverständnis folgt für die Jurisprudenz aus der dem Recht zukommenden Friedensfunktion. Es verlangt besonders eine hinreichende Berücksichtigung der einschlägigen rechtshistorischen Erfahrungen. Das gilt für die aufgeworfene Fragestellung umso mehr, als die richtige dogmatische Durchdringung des überstaatlichen Europarechts es besonders verlangt, an vorstaatliche Verfassungsstrukturen der europäischen Rechtsgeschichte anzuknüpfen. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Rechts war es auch, die es gebot, unter IV. nicht nach der »transzendentalen Bedeutung« der Menschenrechte (Kersting) zu fragen, sondern nach ihrer konkreten rechtlichen Ausformung in der geschichtlichen Wirklichkeit.
19. Europa auf dem falschen Weg – Eine verfassungsrechtliche Besinnung
I. Im Juli dieses Jahres (2011) schrieb Peter Graf Kielmannsegg in der FAZ: »Die europäische Entwicklung ist an einem Punkt angelangt, an dem sich grundlegende Verfassungsfragen ebenso wie grundlegende Fragen des Selbstverständnisses der beteiligten Völker stellen.« Ich will im Folgenden diese grundlegenden Verfassungsfragen und auch die grundlegende Frage nach dem Selbstverständnis der Unionsbürger zu beantworten versuchen. Letzteres ist nach meiner Auffassung schon deshalb erforderlich, weil Verfassungsfragen ohne Berücksichtigung des politischen Selbstverständnisses der von der jeweiligen Verfassung betroffenen Bevölkerung gar nicht richtig beantwortet werden können. Ich halte den Zeitpunkt für eine solche Fragestellung mit Graf Kielmannsegg heute im Blick auf die Tatsache für gekommen, dass sich die EU durch die Krise des Euro und der daraus folgenden handfesten Finanzkrise aller der Währungsunion angehörenden Staaten faktisch schon jetzt zu einer Haftungsunion entwickelt hat, nach meinem Eindruck sogar in mancher Hinsicht zu einem europäischen Bundesstaat. Die sich aus dieser Entwicklung ergebenden Verfassungsfragen folgen zunächst aus der Beobachtung, dass der Weg der EU in die Haftungsunion dem Grundgesetz und dem europäischen Primärrecht in mehrfacher Hinsicht widerspricht. Damit stellt sich die weitere, entscheidende Frage, ob man in Blick auf das von der amtlichen Politik verfolgte Fernziel eines europäischen Bundesstaates diese Rechtsbrüche »in Kauf« zu nehmen hat oder die Zukunft der EU in der Rückbesinnung auf das ursprüngliche Konzept der Europäischen Gemeinschaften – ihren Charakter als Rechtsgemeinschaft mit dem primären Ziel der Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes – liegt.
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
II. Das Kernproblem, das sich bereits mit der Bildung einer europäischen Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht (1992/93) aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts andeutete und in seiner ganzen Tragweite durch die jetzige Notwendigkeit von finanziellen Rettungsschirmen (und der in Aussicht genommenen Einführung von sog. Eurobonds) erkennbar wird, liegt darin begründet, dass sich schon mit der Einführung der Währungsunion der Charakter der EU grundlegend geändert hat, ohne dass unsere Verfassung, das Grundgesetz, diesen Wandel legitimierte. Die konkrete verfassungsrechtliche Frage lautete insoweit bereits damals, ob die so veränderte Europäische Gemeinschaft noch eine »zwischenstaatliche Einrichtung« i. S. des Grundgesetzes (Art. 24 Abs. 1 GG) darstellt. Denn nur wenn sich das bejahen ließ, ermächtigte das Grundgesetz den deutschen Gesetzgeber, dem Maastrichter Vertrag zuzustimmen. Genau diese Rechtsfrage gewann dann natürlich an Schärfe durch die europäischen Folgeverträge, insbesondere durch den Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat. Ihr konnte man auch nicht mit dem Hinweis ausweichen, dass ja der mit der Zustimmung des Bundestages zum Maastrichter Vertrag in unsere Verfassung aufgenommene neue Europa-Artikel (Art 23 GG) eine erweiterte verfassungsrechtliche Ermächtigung zur europäischen Integration geschaffen habe. Denn insoweit stellt nun einmal der Art. 24 Abs. 1 GG als Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes eine abschließende Regelung dar. Ich bin darum mit vielen anderen Verfassungsjuristen der Ansicht, dass bereits durch den Vertrag von Maastricht jener Kern unserer Verfassung in Frage gestellt wurde, der nach der ausdrücklichen Regelung des Grundgesetzes unabänderlich sein soll (Art. 79 Abs. 3 GG). Oder anders gesprochen: Schon der Maastrichter Vertrag von 1992/1993 konnte nach deutschem Verfassungsrecht nur durch eine ausdrückliche Zustimmung des deutschen Volkes als Inhaber der verfassungsgebenden Gewalt Gültigkeit erlangen; die Billigung durch den deutschen Bundestag verschaffte ihm verfassungsrechtlich gesehen keine hinreichende demokratische Legitimation. Falls man nun aber den Maastrichter Vertrag (und die darauf aufbauenden europäischen Folgeverträge) rechtlich weniger streng als hier vertreten beurteilt, so lässt sich doch m. E. kaum daran zweifeln, dass die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen der Ermächtigung zur europäischen Integration durch die nunmehr stattgefundene Umwandlung der EU von einer Stabilitäts- in eine Transferunion und Haftungsgemeinschaft eindeutig überschritten sind. Dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September dieses Jahres diese Folgerung nicht mit aller Konsequenz gezogen hat, kann meiner Ansicht nach im Blick auf seine bisherige einschlägige Rechtsprechung nur mit der (allzu ver-
19. Europa auf dem falschen Weg
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ständlichen) Scheu des Gerichts erklärt werden, dann die Verletzung der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes als tragendes rechtliches Argument in dem von ihm zu entscheidenden, politisch hoch brisanten Fall anerkennen zu müssen, was um so mutiger gewesen wäre, als es sich bei dem Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes bekanntlich ja um einen »Grenzbegriff des Verfassungsrechts« (Ernst-Wolfgang Böckenförde) handelt.
III. Die soeben angesprochene Umwandlung der EU in eine Haftungsunion geschah und geschieht auch unter mehrfachem Verstoß gegen geltendes europäisches Primärrecht. Dabei hat man, was den Ankauf von inzwischen (Stand September 2011!) 70 Milliarden Euro Staatsanleihen Griechenlands, Portugals, Irlands und Italiens durch die Europäische Zentralbank betrifft, gar nicht erst den Versuch einer rechtlichen Begründung für dieses Vorgehen gemacht. Und das mit gutem Grund. Denn nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) darf die EZB zwar auf dem Sekundärmarkt Anleihen kaufen, jedoch nur im Rahmen ihrer geldpolitischen Zuständigkeit. Mit ihrer seit Mai 2010 betriebenen Ankaufpolitik überschreitet die EZB nun aber ihren geldpolitischen Aufgabenbereich und greift massiv in die Fiskalpolitik ein. Ein damit vorliegender Verstoß gegen den genannten Vertrag ist auch besonders deshalb anzunehmen, weil der EZB für ihr Vorgehen jede demokratische Legitimation fehlt. Die geäußerten Bedenken gelten natürlich erst recht, wenn die EZB in Zukunft dem bisweilen von Politikern gemachten Vorschlag folgen und zusätzliches (neu gedrucktes) Geld zur Bekämpfung der Finanzkrise in Umlauf setzen würde. Was nun die Installierung und spätere Ausweitung des europäischen Rettungsschirms angeht, so reicht die dafür zumindest versuchte juristische Begründung in keiner Weise aus: Nach der ausdrücklichen Regelung im europäischen Primärrecht (Art. 125 AEUV) darf die Gemeinschaft nicht für Verbindlichkeiten ihrer Mitgliedstaaten haften oder eintreten (Verbot des Bail out).Diese eindeutige Regelung hat man nun zur Rechtfertigung des Rettungsschirms unabhängig von den rechtlich fixierten (und für ihn nicht einschlägigen) Ausnahmetatbeständen vor allem mit dem Argument aufzuweichen versucht, dass die zwischen den Mitgliedstaten bestehende allgemeine Solidaritätspflicht (s. heute Art. 3 Abs. 3 EUV) diesem Verbot in besonderen Notlagen die Spitze nähme. In der EU sei, so ist argumentiert worden, wie in einem Bundesstaat (finanzielle) Solidarität eine Selbstverständlichkeit. Die Fragwürdigkeit einer solchen Argumentation zeigt sich, wenn man sich die Unterschiede zwischen einer bundesstaatlichen Finanzverfassung, wie sie sich etwa im Grundgesetz findet, und den insoweit in Betracht kommenden Regelungen im europäischen
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Primärrecht klar macht: In unserer Verfassung gibt es eine konkrete Bestimmung über den Finanzausgleich zwischen den Bundesländern (Art. 107 Abs. 2 GG); die insoweit einschlägige Vorschrift im europäischen Primärrecht ist nun aber das schon genannte grundsätzliche Verbot des Bail out. Man kann und muss dieses unterschiedliche Verständnis des »Finanzausgleichs« darum m. E. als richtige Folgerung aus der Erkenntnis verstehen, dass die EU eben keinen Bundesstaat darstellt. Es ist darum unzulässig, die genannten Unterschiede zwischen der EU und dem (deutschen) Bundesstaat durch die Erfindung einer finanziellen Solidaritätspflicht zu nivellieren und damit gleichsam durch die Hintertür eine bundesstaatliche Finanzverfassung auf europäischer Ebene zu installieren. In der Literatur ist nun z. T. die Ansicht vertreten worden, dass erst die Einführung der sog. Eurobonds gegen die soeben aus dem europäischen Primärrecht abgeleiteten Rechtsschranken verstoßen würde. Diese Frage kann hier letztlich dahin stehen. Denn in jedem Fall ist schon jetzt aufgrund der geschilderten Rechtsprobleme davon auszugehen, dass sich die Absicht des Maastrichter Vertrages und der Folgeverträge, durch die Unabhängigkeit der EZB, das Verbot des Bail out sowie die Regelungen zur Haushaltsdisziplin die europäische Währungsunion sicherzustellen, nicht verwirklichen lässt. Wie heute nicht mehr zu leugnen ist, wäre eine solche Zielsetzung mit diesen im geltenden europäischen Primärrecht vorgesehenen Mitteln nur bei annähernd gleichwertigen Wirtschaftsstrukturen in den der Währungsunion angehörenden Mitgliedsstaaten zu realisieren. Und genau die sind in der jetzigen Eurozone auf lange Sicht nicht zu erreichen. Wegen dieser Diskrepanz zwischen vertraglicher Regelung und tatsächlichen ökonomischen Voraussetzungen liegt im vorliegenden Fall – zivilrechtlich gesprochen – ein Wegfall der (objektiven) Geschäftsgrundlage vor. Im Ergebnis lässt sich darum die eingetretene Entwicklung der EU zu einer Haftungsunion weder nach deutschem Verfassungsrecht noch nach geltendem europäischen Primärrecht rechtfertigen.
IV. Diese Missachtung der für die EU geltenden Rechtsgrundlagen durch die Politik beeinträchtigt natürlich das Vertrauen der Unionsbürger in das rechtmäßige Handeln der europäischen Institutionen. Im Grunde wird damit sogar die Legitimation des europäischen Primärrechts selbst in Frage gestellt. Denn es ist nun einmal das Vertrauensprinzip, das letztlich (wie bei jedem Vertrag) den eigentlichen Grund für die Verbindlichkeit des europäischen Primärrechts als Vertragsrecht liefert. Es ist darum zu begrüßen, wenn der ehemalige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel, vor kurzem öffentlich
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folgende Frage gestellt hat: »Wie soll man von den Bürgern Rechtstreue verlangen, wenn sich ihre Staats- und Regierungschefs nicht an das Recht und abgeschlossene Verträge halten?« Konkreter könnte man noch fortfahren zu fragen: Wie sollen die Unionsbürger die zur Zeit immer wieder neuen aus dem Hut gezauberten Vorschläge zur Gewährleistung der Haushaltsdisziplin in den Mitgliedsländern der Währungsunion noch ernst nehmen, wenn schon in der Vergangenheit die einschlägigen (im Prinzip sogar weitaus milderen) Regelungen auf europäischer Ebene vielfach nicht beachtet wurden? Die für die geschilderte Rechtslage verantwortlichen Politiker haben diese dennoch bewusst herbeigeführt, weil sie – so ihre Argumentation – den Euro als entscheidende Voraussetzung für den erfolgreichen Weg der EU in einen europäischen Bundesstaat retten wollten. Besonders deutlich zeigt das folgende Bemerkung von Frau Lagarde, die ja maßgeblich als bis vor kurzem amtierende französische Finanzministerin die Installierung und den Ausbau des Rettungsschirms vorangetrieben hat: »Wir verletzten alle Rechtsvorschriften, weil wir einig auftreten und wirklich die Eurozone retten wollten. Der Vertrag von Lissabon war eindeutig. Keine Rettungsaktion.«
V. Besitzt nun aber schon die bisherige Entwicklung der EU zu einer Haftungsunion keine ausreichende, durch das Grundgesetz und das europäische Primärrecht gestiftete Legitimation, so gilt das erst recht, wenn die Politik gemäß den bisher bekannt gewordenen Plänen die jetzige Eurozone mit neuen massiven Durchgriffsrechten der EU auf die Haushalte gefährdeter Mitgliedsstaaten der Währungsunion und mit der Einführung von sog. Eurobonds »retten« würde. Mit der Realisierung derartiger Pläne begäbe sich die EU nämlich eindeutig auf den Weg in einen europäischen Bundesstaat, der dann sicherlich nicht mehr durch deutsches Verfassungsrecht und europäisches Vertragsrecht legitimiert werden könnte. Vielmehr wäre in diesem Fall der Erlass einer europäischen Verfassung erforderlich. Für eine solche europäische Verfassungsgebung wiederum fehlt der EU nun aber die entscheidende faktische Voraussetzung: die sie tragende homogene staatsbürgerliche Gesellschaft. Denn von einem politischen Zusammengehörigkeitsgefühl der in der EU lebenden Bürger kann man nicht sprechen. Da es keinen »Patriotismus der Gattung Mensch« (Carl Schmitt) gibt, gibt es eben auch trotz der sog. Unionsbürgerschaft kein europäisches Volksbewusstsein. Was die europäische Gesellschaft zusammenhält, sind, so scheint es, neben dem gemeinsamen Wunsch nach innerem und äußerem Frieden (und einer gesunden Umwelt) primär ökonomische Interessen. Einen unitarischen Bundesstaat
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deutscher Prägung, in dem die Länder politisch gesehen kaum mehr als autonome Verwaltungseinheiten sind und unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (Art. 29 GG) neu gegliedert werden können, wollen die Bürger in den Mitgliedstaaten der EU auf europäischer Ebene deshalb mit Sicherheit nicht.
VI. Aus dem Gesagten folgt nun zunächst, dass schon die ohne Rücksicht auf das zu schützende Rechtsvertrauen der Unionsbürger politisch durchgesetzte Entwicklung der EU zu einer Haftungsunion dem geltenden Recht widerspricht; und weiter, dass weder aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts noch aus der des europäischen Rechts der Weg der EU in den europäischen Bundesstaat zu rechtfertigen wäre. Dieses Ergebnis legt m. E. zwingend die Rückbesinnung auf die Anfänge des europäischen Integrationsprozesses nahe. Denn damals dachte man ja bekanntlich an eine zu gründende europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft mit dem primären Ziel eines europäischen Binnenmarktes, was dem Verständnis der EU als »zwischenstaatliche Einrichtung« (Art. 24 Abs. 1 GG) entsprach. Der zentrale gedankliche Fehler aller Befürworter einer politischen europäischen Union bzw. eines europäischen Bundesstaates liegt so gesehen darin, dass für sie die EU als zwischenstaatliche Einrichtung ein zu überwindender Rechtsstatus auf dem Weg in einen europäischen Bundesstaat ist. Denn sie übersehen damit, dass die EU aufgrund ihrer vertragsrechtlichen Grundlagen, deren (materielle) Legitimation ja letztlich in der universellen Geltung der Menschenrechte zu suchen ist, eine Rechtsgemeinschaft ist und bleiben muss. Der fundamentale Unterschied der EU zu ihren Mitgliedsstaaten besteht also darin, dass deren politisches Handeln lediglich durch das Recht begrenzt wird, während die EU nur aufgrund besonderer vertragsrechtlicher Ermächtigungen politische Herrschaft ausüben kann. Aus diesem Grund ist auch der Staatenbund (im Gegensatz zum Bundesstaat) die rechtsbegrifflich korrekte Erfassung der von ihr ausgeübten Herrschaftsform. Diese These wird deshalb so häufig kritisiert, weil man sich nicht hinreichend über den aus seiner historischen Entwicklung folgenden Charakter des Staatenbundes als Gemeinschaft zum gesamten Hand im Klaren ist. Die Besinnung auf das Wesen der (zivilrechtlichen) Gesamtshandsgesellschaft würde übrigens auch manche bestehenden Unklarheiten über den Rechtsstatus der EU beseitigen.
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VII. Das weitere Festhalten der Politik an der Eurozone in ihrem bisherigen Umfang und an dem Fernziel eines europäischen Bundesstaates kann nach dem hier Ausgeführten also nur als »Krieg gegen die Empirie« (Ralph Giordano) verstanden werden. Dennoch wird genau diese Zielsetzung die politische Klasse in Deutschland unbeeindruckt von den dafür fehlenden ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen mit Nachdruck weiter verfolgen. Die Gründe für diese Haltung sind m. E. letztlich in der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzenden Theologisierung (bzw. rigiden Moralisierung) des Politischen in unserem Land zu suchen. Sie liefert die eigentliche Erklärung dafür, dass die deutschen Politiker mehrheitlich nach wie vor primär und grundsätzlich für eine »transnationale« Lösung der von ihnen zu lösenden Probleme eintreten. Es ist diese Grundhaltung, in der sich die deutsche Europapolitik von der der anderen Mitgliedsstaaten fundamental unterscheidet. Denn die anderen der EU angehörenden Staaten lassen sich insoweit ganz selbstverständlich (primär) von ihren nationalen Interessen leiten. Unser Land hat sich dem gegenüber nach meinem Eindruck immer noch nicht zu einem pragmatischen Politikverständnis als notwendiger Grundlage seiner Europapolitik durchgerungen. So lange sich daran nichts ändert, wird Deutschland folglich – koste es, was es wolle – der Motor auf dem m. E. verhängnisvollen Weg der EU in einen europäischen Bundesstaat sein und bleiben.
20. Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa. Überlegungen zum Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft
I. Die öffentlichrechtliche Dogmatik in Deutschland ist in Verlegenheit geraten. Sie vermag ihren Gegenstand, das deutsche Staats- und Verwaltungsrecht, wegen seiner zunehmenden Überlagerung, Umformung und Ergänzung durch das europäische Recht nicht mehr eindeutig zu identifizieren – die europäische Rechtsnormenvereinheitlichung ist zur Ursache nationaler Rechtsunsicherheit geworden1. Die gerade durch die fortschreitende europäische Integration immer deutlicher hervortretende »überstaatliche Bedingtheit« unseres Staates2 konnte für seine Rechtsordnung deshalb nicht ohne Folgen bleiben, weil die Europäische Gemeinschaft (EG) nach wie vor als Rechtsgemeinschaft in dem Sinne verstanden wird, »dass sie die Ziele der europäischen Integration – welche es auch immer sind – mit den Mitteln des Rechts zu realisieren unternimmt«3. Diese Zwecksetzung vermag nun aus sich heraus nicht der allgemeinen Gefahr vorzubeugen, dass die europäische Rechtseinheit als ein Wert an sich erachtet und damit im Ergebnis der Rechtsvereinheitlichungsprozess abweichend von seinen Rechtsgrundlagen in den europäischen Verträgen schrittweise endfunktionalisiert wird4. Doch selbst wenn man davon heute noch nicht sprechen kann, ist namentlich nach dem Aufgabenzuwachs der EG durch den Vertrag von
1 Dazu anschaulich Jochen Taupitz, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung heute und morgen, 1992, S. 42 ff. 2 So der Titel des den »Grundpositionen« Werner v. Simsons gewidmeten Beihefts 1/1993 der Zeitschrift »Europarecht«. 3 So Eckart Klein, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten: Der Staat 33 (1994), S. 39 ff. (39). 4 Zum spezifischen Charakter der Rechtsvereinheitlichung durch die EG: Eckart Klein, Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts im europäischen Integrationsprozess, in: Christian Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, S. 117 (122 f.); Taupitz (FN 1), S. 35 ff.
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Maastricht5 eine solche Zunahme an das deutsche Staats- und Verwaltungsrecht verändernden europarechtlichen Vorschriften zu erwarten, dass die anfangs getroffene Feststellung einer schwierigen Identifizierung des deutschen Staatsund Verwaltungsrechts in jedem Fall in Zukunft ihre Gültigkeit behalten wird. Die Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts hat verschieden auf diese Entwicklung reagiert. In der staatsrechtlichen Dogmatik der jüngsten Zeit lassen sich besonders zwei Tendenzen ausmachen. Auf der einen Seite hat man im Blick auf den Maastrichter Vertrag aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts und des traditionellen Völkerrechts namentlich auf Artikel 79 Abs. 3 GG gestützte Zweifel an dem genannten Vertrag angemeldet6 und angesichts des durch diesen Vertrag eingeleiteten Souveränitätsverlusts der Bundesrepublik Deutschland die Frage nach der Letztverantwortung für ihre Staatsbürger gestellt7. Andererseits ist die verfassungsrechtliche »Zukunftsperspektive« in der gegenseitigen Zuordnung von deutschem Staats- und Europarecht gesehen und dem Begriff der (möglichen) Kollision beider Rechtsbereiche der der praktischen Konkordanz entgegengesetzt worden8 ; dabei hat man zugleich die Notwendigkeit eines dogmatischen Umdenkens angemahnt9. Die unbestrittene Verfassungsabhängigkeit des deutschen Verwaltungsrechts scheint dafür zu sprechen, dass die verwaltungsrechtliche Dogmatik vor ähnlichen Alternativen steht wie die staatsrechtliche. Diese Feststellung wird aber schon durch die Tatsache relativiert, dass die Verwaltungsrechte der europäischen Einzelstaaten »durch ihre Indienststellung für das Gemeinschaftsrecht der ausschließlichen Dominanz des jeweiligen Verfassungsrechts« weitgehend entzogen werden10. Daneben ist der besonders für das Verwaltungsrecht typische Anpassungsdruck nicht zu übersehen, der darin gründet, dass sich hier »die die ideelle Grundlage der Gemeinschaft bildende gleiche Ansicht der Mitglied5 Siehe nur die kurze Übersicht bei Hans-Heinrich Rupp, Maastricht – eine neue Verfassung?: ZRP 1993, S. 211 (212). 6 Besonders deutlich Rupp (FN 5), S. 211 ff.; Fritz Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?: DVB1. 1993, S. 629 ff., bes. S. 632 f. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, S. 155 ff.) hält den Vertrag von Maastricht zwar für verfassungsgemäß, argumentiert aber auch aus einer entsprechenden »defensiven Haltung« heraus. Das bestätigen etwa folgende Besprechungen des genannten Urteils: Juliane Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union – zum Vertrag von Maastricht: AöR 119 (1994) S. 209 ff.; Bruno Kahl, Europäische Union: Bundesstaat – Staatenbund – Staatenverbund? Zum Urteil des BVerfG vom 12. Oktober 1993: Der Staat 33 (1994), S. 241 ff. 7 So etwa Karl Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa: ZRP 1993, S. 98 ff. 8 So Jürgen Schwarze, Das Staatsrecht in Europa: JZ 1993, S. 585 (591 ff.); Gunnar Folke Schuppert, Zur Staatswerdung Europas: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 36 (57 ff.) u. a. 9 Schwarze, ebd., S. 593 f.; Schuppert, ebd., S. 59 f. 10 E. Klein (FN. 4), S. 146, genauer dazu S. 141 f., 144.
20. Wandel des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts
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staaten vom Verhältnis der hoheitlichen Gewalt zum Bürger niederschlägt« und die grenzüberschreitenden Verwaltungsrechtsprobleme wie etwa das eines wirksamen Umweltschutzes ständig zunehmen11. Die u. a. hieraus resultierenden Überlagerungen und Umformungen des deutschen Verwaltungsrechts durch das europäische Recht sind mehrfach beschrieben12, kaum aber weitergehende dogmatische Folgerungen aus diesem Umstand gezogen worden. Im Verwaltungsrecht fordere, so hat man jüngst lapidar festgestellt, »die segmentartige (erg.: europäische) Rechtsvereinheitlichung weniger das nationale Rechts-›System‹ als die Lern- und Kompromissfähigkeit nationalen Verwaltungsrechts heraus«13. Und die »Grenzformel« für die Einwirkung europäischen Rechts auf das deutsche Verwaltungsrecht lautet hier : »gegenseitige Rücksichtnahmepflicht«, was im Denkansatz dem schon für das Staatsrecht erwähnten Topos der praktischen Konkordanz nahekommt14. Das Ergebnis dieses kurzen Überblicks muss demnach lauten, dass die Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts zwar die Einwirkungen des europäischen Rechts auf die nationale Rechtsordnung analysiert und ihr Verhältnis zueinander näher zu bestimmen versucht hat; sie hat aber nicht aus ihrem Selbstverständnis heraus das für die europäische Rechtsgemeinschaft maßgebende Modell der legislatorischen (Sach-)rechtsvereinheitlichung15 in Frage gestellt und damit auch nicht das so geprägte Bild der EG selbst. Bedenkt man nun aber, dass die europäische Integration in den Bahnen des Rechts »ohne
11 Klein, ebd., S. 126. Eindrücklicher Beleg für die weitgehend übereinstimmende Ansicht der Mitgliedstaaten zum Verhältnis von Staat und Bürger im Verwaltungsrecht ist das 1988 erschienene zweibändige Werk »Europäisches Verwaltungsrecht« von Jürgen Schwarze. 12 Siehe etwa E. Klein (FN. 3), S. 39 ff. und ders. (FN 4), S. 117 ff. Daneben Eberhard SchmidtAßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Festschrift für Lerche, 1993, S. 513 ff. und ders., Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht: DVB1. 1993, S. 924 ff. sowie Friedrich Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts: JZ 1995, S. 109 ff. 13 So Volkmar Götz, Auf dem Weg zur Rechtseinheit in Europa?: JZ 1994, S. 265 (268). In der Tendenz ähnlich: Schmidt-Aßmann, Zur Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Die Verwaltung 27 (1994), S. 137 (141 f.), allerdings mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines »systematischen Struktur- und Funktionsvergleichs« und einer »Abstimmung der Steuerungsinstrumente und Rechtsinstitute auch in horizontaler Hinsicht«. Entschiedene Betonung der damit gestellten dogmatischen Aufgabe aber bei Schoch (FN 12), bes. S. 111 f., 114, 115 f., 116 ff. 14 So Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht (FN 12), S. 931 f. und Schoch (FN 12), bes. S. 118 ff., jedoch mit deutlicher Betonung der Notwendigkeit einer Kompetenzneuordnung für die EG als Voraussetzung für ein sinnvolles »Kooperationsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsrecht«. 15 Dazu Taupitz (FN. 1), S. 39 ff.; ders. Privatrechtsvereinheitlichung durch die EG: Sachrechtsoder Kollisionsrechtsvereinheitlichung?: JZ 1993, S. 533 (534 ff.).
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eine gemeinsame Grundansicht von Recht a limene misslingen« muss16, so erstaunt dieser Optimismus zumindest.
II. Das erwähnte Modell der europäischen Rechtsvereinheitlichung ist allerdings jüngst besonders nachdrücklich von Jochen Taupitz in Zweifel gezogen worden. Seine Ausführungen orientieren sich zwar an der Privatrechtsvereinheitlichung durch die EG, sie haben aber darüber hinaus grundsätzliche Bedeutung. Diese liegt darin, dass Taupitz gewichtige Argumente gegen die Dominanz der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung in der EG ins Feld führt, an die Möglickeit einer »gewachsenen« Rechtsvereinheitlichung erinnert und schließlich als grundsätzliche Alternative zur legislatorischen Sachrechtsvereinheitlichung in der EG für das Privatrecht den weiteren Ausbau des Kollisionsrechts in Anlehnung an das Internationale Privatrecht (IPR) vorschlägt: Bedenken gegen die legislatorische Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene folgen für ihn u. a.17 aus ihrer gerade für die Wirtschaft kaum tragbaren Schwerfälligkeit und ihrer mangelnden Rücksichtnahme auf den tatsächlichen Regelungsbedarf. Daneben ist bei der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung häufig die Frage nach dem geringsten politischen Widerstand und eben nicht die nach der Bedarfsgerechtigkeit leitend. Die so geprägten europäischen Rechtsnormen führen darum vielfach nur zu einem »Torsoeinheitsrecht« und – was für das Gerechtigkeitsempfinden fast noch schlimmer ist – »keineswegs stets zu einer Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und einer realen Gleichbehandlung der zugrundeliegenden sozialen Probleme.« Schließlich unterbindet legislatorische Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene in ihrem Bereich den Wettbewerb der nationalen Rechtsordnungen um die beste Lösung bzw. – und das gilt besonders im Privatrecht – die Regelbildung durch die Vertragspraxis der an internationalen Regelungen Beteiligten. Diese Kritik, die zusammengefasst gegenüber dem »distributiven Zufall« der legislatorischen europäischen Rechtsvereinheitlichung die Notwendigkeit der Regelhaftigkeit, Systemgerechtigkeit und Realitätsnähe jeder Rechtsordnung betont, muss zwangsläufig den Blick zunächst auf die »gewachsene« Rechtsvereinheitlichung lenken, worunter Taupitz im Anschluss an Dölle u. a. primär die wegen ihrer inneren Überzeugungskraft übernommenen Regelungen eines anderen Staates versteht. Es handelt sich also um eine gegenüber der gezielten legislatorischen Rechtsvereinheitlichung freiwillige »voluntative Rezeption«, die 16 E. Klein (FN. 4), S. 122. 17 Vgl. zum Folgenden: Taupitz (FN. 1), S. 41 f., 69 f. und ders. (FN 15), S. 534.
20. Wandel des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts
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übrigens auch durch die ständige Rechtsprechung eines anderen Landes ausgelöst werden kann18. Praktisch wichtiger als dieses alternative Regelungsmodell ist die aufgrund der vorgetragenen Kritik an der legislatorischen Rechtsvereinheitlichung von Taupitz betonte Alternative einer Kollisionsrechtsvereinheitlichung. Der vorgeschlagene »Paradigmenwechsel« in den rechtlichen Harmonisierungsbemühungen der EG beinhaltet damit im Kern die Forderung, dass man in Zukunft nicht primär auf die anzustrebende Gleichheit der Rechtsordnungen in den europäischen Mitgliedstaaten abstellt, sondern darauf, dass nach Möglichkeit derselbe Fall zu derselben Zeit gleich entschieden wird19. Das setzt auf europäischer Ebene primär den Umbau des internationalen (Privat-)rechts zu einem »interlokalen Kollisionsrecht« voraus, während die Sachrechtsvereinheitlichung zunächst als »Basisvereinheitlichung« besonders von der europäischen Rechtswissenschaft vorangetrieben werden sollte20 Taupitz kann für seinen Vorschlag auf neuere, namentlich von der EGKommission vorgetragene Grundkonzepte der EG selbst zur europäischen Rechtsvereinheitlichung verweisen, die seiner Ansicht nach obendrein eine »geistige Verwandtschaft« mit dem geltenden IPR besitzen21. Diese geistige Verwandtschaft liegt für ihn in dem Gedanken der Gleichwertigkeit der (nationalen) Rechtsordnungen, dem Subsidiaritätsprinzip mit dem daraus folgenden Postulat der »autonomen und dezentralen Ausbildung der Sachrechtsordnungen« sowie schließlich der Forderung nach »Abschied von der Detailharmonisierung« und Betonung der Basisvereinheitlichung, die sich im IPR in Ansätzen in »Ausnahmeklauseln wie den ordre public« wiederfindet. Als besonderen Beitrag des IPR zum neuen Paradigma einer europäischen Rechtsvereinheitlichung betont Taupitz schließlich, dass der Gedanke der Gleichbehandlung dort in einem Sinne verstanden wird, der eine Synthese von Föderalismus und Einheitsidee zulässt. Zusammengefasst bringt er sein Leitbild einer europäischen Rechtsvereinheitlichung auf die »plakative« Aussage: - Soviel Vereinheitlichung wie nötig und so wenig wie möglich. - Und: Soviel Kollisionsrechtsvereinheitlichung wie möglich und nur soviel Sachrechtsvereinheitlichung wie nötig22.
18 Taupitz (FN. 1), S. 27 ff. 19 So Taupitz (FN. 15), S. 538; daneben ders. (FN. 1), S. 60 ff. und Christian v. Bar, Internationales Privatrecht, Bd. 1, 1987, S. 165. 20 Taupitz (FN. 1), S. 62 ff.; ders. (Fn. 15),S. 538 f. Im Ansatz ebenso bereits v. Bar (FN. 19), S. 163 ff. 21 Taupitz (FN 1), S. 60 ff.; ders. (FN 15), S. 536 f. Das Folgende ist der Versuch einer Zusammenfassung der dort geäußerten Gedanken von Taupitz. 22 Taupitz (FN. 15), S. 539; ähnlich ders. (FN. 1), S. 66.
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III. 1. Schon diese kurze Schilderung des von Taupitz – unter Anknüpfung an in der EG selbst vorhandene Ansätze – entworfenen »Modells« für eine europäische Rechtsvereinheitlichung macht deutlich, dass ihm eine ganz bestimmte Vorstellung von den Aufgaben des (Privat-)rechts, der europäischen Rechtswissenschaft sowie ihrer »überstaatlichen« Tradition zugrundeliegt. Darauf ist nunmehr deshalb noch genauer einzugehen, weil ein solches Modell für die öffentlichrechtliche Dogmatik nur dann diskutierbar ist, wenn diese Dogmatik die dafür verbindlichen historischen und rechtstheoretischen Grundlagen zu teilen vermag. Diese Aussage kann folgende Überlegung verdeutlichen: Die Methode des IPR zur Lösung der Konflikte, die aus der Kollision mehrerer Rechtsordnungen entstehen, basiert nach wie vor auf dem Satz Savignys, »dass bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht wird, welchem dieses Rechtsverhältniß seiner eigentümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist«23. Nicht »der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm«24 ist es also, der die entsprechenden Überlegungen bestimmt, sondern die Frage, worin das konkrete Rechtsverhältnis seinen »Sitz« hat. Bedenkt man, dass die öffentlichrechtliche Dogmatik in Deutschland verstärkt auf das Rechtsverhältnis als Grundkategorie zurückgreift und Savignys Verständnis des Rechtsverhältnisses auch zum Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen gewählt wird25, so dürfte die aufgeworfene Frage nach der Kompatibilität der rechtshistorischen und rechtstheoretischen Grundlagen des von Taupitz favorisierten Modells einer europäischen Rechtsvereinheitlichung mit denen der neueren öffentlich- rechtlichen Dogmatik ihre Berechtigung besitzen. Entscheidend für die genannten Grundlagen ist zunächst, dass Taupitz etwa die Ausarbeitung eines vom Europäischen Parlament angeregten europäischen Gesetzbuchs für das Privatrecht primär als eine Aufgabe der europäischen Rechtswissenschaft unter Hinweis auf ihre gemeinsame Tradition im »ius commune« ansieht26. Hier wie ebenfalls bei seiner Forderung nach gewachsener Rechtsvereinheitlichung setzt er auf eine das nationalstaatliche Denken überwindende europäische Rechtswissenschaft, die auch die Juristenausbildung 23 Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, S. 28, 108. Dazu genauer v. Bar (FN 19), S. 402 f., 404 f. 24 So der Titel des 1965 erschienenen Buches von Klaus Vogel, das für das Verwaltungsrecht die Gegenposition markiert. Zur Auseinandersetzung mit Vogel aus der Sicht des IPR vgl. nur Egon Lorenz, Zur Struktur des internationalen Privatrechts, 1977, S. 21 ff., 42 ff., 48 ff., 70 ff. 25 Ausdrücklich so bei Rolf Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 67 ff. Zur aktuellen Diskussion über das Verwaltungsrechtsverhältnis ebd., S. 142 ff. und daneben Hartmut Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 270 ff., 278 ff. sowie ders., Verwaltungsrechtslehre im Umbruch: Die Verwaltung 25 (1992), S. 301 (315 ff.). 26 Taupitz (Fn. 1), S. 46.
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beeinflussen muss. Es geht ihm um die Heranbildung einer »geistigen Bewusstseinseinheit«, die allein Grundlage für eine spätere reale Rechtseinheit sein kann27. Alles das sind Forderungen, die bekanntlich von Jhering bis heute gerade von der Zivilrechtsdogmatik besonders angesichts der europäischen Bestrebungen nach Rechtseinheit immer wieder erhoben werden28. Interessant in diesem Zusammenhang sind dabei die verschiedenen Versuche, in Übereinstimmung mit der Intention von Taupitz an das römisch-kanonische ius commune als Grundlage einer europäischen Rechtseinheit zu erinnern29 und auch die Rechtsvergleichung als Beitrag zur Wiedergewinnung einer europäischen Rechtseinheit zu verstehen30. Die »zur Landesjurisprudenz degradierte Rechtwissenschaft« muss danach zunächst »die Aufgabe ihrer Europäisierung« in diesem Sinne begreifen31. Neben diesem Verständnis der Rechtswissenschaft und ihrer Aufgaben ist die Rechtsauffassung von Taupitz in unserem Zusammenhang interessant32. Er versteht die Rechtssätze unter Zitierung der einschlägigen Arbeiten von Philipp Heck als »eingefrorene Interessenbewertungen«; Rechtsgleichheit setzt – wie er folgert – zunächst einmal Interessengleichheit voraus. Denn es geht letztlich um die »Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse durch Recht.« Augenscheinlich enthält demnach nach Taupitz das Gesetz Konfliktsentscheidungen und stellt wie das Recht überhaupt gegenüber dem konkreten Fall (dem Lebenssachverhalt), auch was seine Entstehung betrifft, etwas Sekundäres dar. Der dem Grundgedanken des IPR verpflichtete Kernsatz des neuen Paradigmas einer europäischen Rechtsvereinheitlichung, dass diese vor allem garantieren müsse, dass man nach Möglichkeit denselben Fall zu derselben Zeit gleich entscheidet, findet hierin also seine rechtstheoretische Begründung. 2. Diese Ausführungen besitzen in unserem Zusammenhang deshalb so große Bedeutung, weil inzwischen von anderer zivilistischer Seite – genau auf diesen 27 Ebd., S. 68. 28 Zu Jherings entsprechender Forderung s. etwa Karsten Schmidt, Jherings Geist in der heutigen Rechtsfortbildung, in: Okko Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 77 (103 f.). 29 Vgl. aus neuerer Zeit besonders folgende Aufsätze von Reinhard Zimmermann: Das römisch-holländische Recht und seine Bedeutung für Europa: JZ 1990, S. 825 ff.; Das römischkanonische ius commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit: JZ 1992, S. 8 ff.; Der europäische Charakter des englischen Rechts: ZEuP 1993, S. 4 ff. Daneben u. a. Helmut Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft: NJW 1990, S. 937 (939). 30 Hein Kötz, Was erwartet die Rechtsvergleichung von der Rechtsgeschichte: JZ 1992, S. 20 ff.; Uwe Blaurock, Europäisches Privatrecht: JZ 1994, S. 270 (276); Abbo Junker, Rechtsvergleichung als Grundlagenfach: JZ 1994, S. 921 (924 ff.). 31 So wörtlich R. Zimmermann, ius commune (FN 29), S. 8. In der Forderung durchweg ebenso die übrigen in Fn. 29 und 30 Genannten. 32 Zum Folgenden Taupitz (FN. 1), S. 8 (Hervorhebung dort!).
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Prämissen aufbauend – ein Neubau der öffentlichrechtlichen Dogmatik angeregt worden ist, wobei der Zivilrechtsdogmatik ausdrücklich »für die weitere Durchdringung des öffentlichen Rechts … eine gewisse orientierende Funktion« zuerkannt wird33. Beispielhaft dafür sind besonders die Arbeiten von Jan Schapp: Für ihn ist der praktische Fall der Ausgangspunkt, auf den die gesetzgeberische Entscheidung (und später auch die richterliche) aufbaut34. Das Verständnis des Gesetzes als Fallentscheidung, und zwar als Entscheidung über gegenwärtige und zukünftige Fälle, erinnert wiederum wie bei Taupitz stark an die Lehren der von Heck begründeten Interessenjurisprudenz. Dennoch liegt der entscheidende und für das von Taupitz favorisierte Modell einer europäischen Rechtsvereinheitlichung nicht unbedeutende Unterschied darin, dass der Gesetzgeber nach Schapp nicht entsprechend dem üblichen und auch von Heck bejahten Subsumtionsmodell eine allgemeine Interessenlage und der Richter den konkreten Fall entscheidet, sondern Gesetzgeber und Richter beziehen sich seiner Ansicht nach durch ihre Entscheidung auf denselben Einzelfall mit dem einen Unterschied, dass er für den Gesetzgeber ein zukünftiger und für den Richter ein vergangener ist35. Der Gesetzgeber schafft im Übrigen nach Schapp nicht die Fälle, die er entscheidet, sondern findet sie vor36, was wiederum dem Ablauf des von Taupitz entworfenen Regelungsmodells entspricht. Das Gesetz ist nun nach Schapp auch im öffentlichen Recht als Entscheidung von konkreten Fällen zu verstehen37. Seine Besonderheit besteht gegenüber dem privatrechtlichen Gesetz allein darin, dass der Staat seinen Willen durch das Gesetz bildet und diese Willensbildung zugleich als rechtliche Entscheidung des Konflikts (Falles) zwischen Bürger und Staat über die Zulässigkeit des entsprechenden staatlichen Handelns aufzufassen ist. Hinzu tritt natürlich beim öffentlichen Gesetz, da es das staatliche Handeln selbst bestimmt, seine Durchführung im Einzelfall durch die staatliche Verwaltung38. Das öffentlichrechtliche Gesetz als Konfliktsentscheidung begründet nun auch gegenseitige Ansprüche im Verhältnis Staat – Bürger39. Es bestehen öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse zwischen ihnen40. So können auch die Rechte des Staates in der Eingriffsverwaltung »als materielle Ansprüche und 33 So Jan Schapp, Über die Freiheit im Recht: AcP 192 (1992), S. 355 (386). 34 Jan Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 12, genauer dazu S. 15 ff. 35 Ebd., S. 12 ff. 36 Ebd., S. 46. 37 Ebd., S. 38. 38 Ebd., S. 42 f. 39 Jan Schapp, Das subjektive Recht im Prozess der Rechtsgewinnung, 1977, S. 152 ff. 40 Genauer zu ihnen: Schapp (FN. 33), S. 384 ff.
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damit als subjektive Rechte« des Staates verstanden werden41. Auf dieser Grundlage hat Schapp dann die verschiedenen Arten von öffentlichrechtlichen Ansprüchen im einzelnen untersucht42 und sein Schüler Wolfgang Schur später noch genauer Inhalt und Bedeutung der rechtlichen Grundbegriffe: Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis für das öffentliche Recht unter Zugrundelegung der entsprechenden zivilrechtlichen Lehren entwickelt43. Entscheidende Bedeutung für die mit dem Zivilrecht vergleichbare Fragestellung in der Dogmatik des öffentlichen Rechts besitzt nun die Tatsache, dass Schapp sein Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts auf die »methodische Trennung von Staatsfunktion und Recht« gründet44. Er kritisiert darum auch folgerichtig »das Zusammenfließen von Souveränität und Recht« im Staatsbegriff45. Der Staat setzt das Recht und sorgt für seine Durchsetzung. Zu beachten ist aber, dass er zwar entsprechend dem geschilderten Charakter des öffentlichrechtlichen Gesetzes mit der staatlichen Aufgabenwahrnehmung durch Gesetzgebung zugleich die Konflikte zwischen Staat und Bürger entscheidet; dennoch darf »das funktionelle Moment der öffentlichen Interessenverfolgung und das Moment der rechtlichen Entscheidung über diese Interessenverfolgung« nicht mit der herrschenden Lehre »unter dem Gesichtspunkt des gesetzmäßigen Zwanges oder noch technischer formuliert dem Gesetzmäßigkeitsprinzip« zusammengefasst werden46. Die Notwendigkeit, hier zu unterscheiden, folgt aus dem Verständnis des Gesetzes als Konfliktsentscheidung, das sich »auf Staat und Bürger als Gleichgeordnete« bezieht. Dass die herrschende Meinung bestimmende »Prinzip des gesetzmäßigen Zwanges« macht aus dem »Dreiecksverhältnis voneinander gegenüberstehenden privaten und öffentlichen Interessen und Entscheidung des Rechts über ihre Abgrenzung« eine »auf dem Gedanken der staatlichen Gewalt aufgebaute zweiseitige Beziehung.« Die »Substanz« dieser Beziehung liegt trotz ihrer gesetzlichen Erscheinungsform dann nach h.L. »in der Gewalt selbst«47. 41 Schapp (FN. 39), S. 155. 42 Schapp (FN 39), S. 173 ff.; daneben ders., Zum Verhältnis von Recht und Staat: JZ 1993, S. 974 (977 f.). Ergänzend dazu Wolfgang Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, 1993, S. 202 ff. 43 Vgl. die in FN 42 zitierte Schrift von Schur. 44 Schapp (FN. 39), S. 160, genauer S. 152 f. 45 Ebd., S. 161. 46 Ebd., S. 152. 47 Ebd., S. 152 f. Sehr plastisch zum dem gegenüber real bestehenden Dreiecksverhältnis führt Schapp (FN 34), S. 42 aus: Die gesetzgeberische Entscheidung nimmt »für sich in Anspruch, aus der Position eines unparteiischen Dritten zu erfolgen, also eine rechtliche Entscheidung zu sein. Es entscheidet hier ebensowenig der Staat wie der Bürger über je eigene Interessen, es entscheidet vielmehr der Gesetzgeber über den Interessenkonflikt beider.« Daraus folgt nach Schapp (FN 42), S. 980 etwa für das Steuergesetz: »Heute beruht das Steuergesetz nicht mehr auf der Zustimmung der Steuerpflichtigen zu ihrer eigenen Belastung, sondern auf einer
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3. Durch die demgegenüber von Schapp vollzogene »Abschichtung der Funktion des Rechts« von der staatlichen Gewalt48 wird nun auch die Annahme möglich, dass ohne gravierende Einbuße an staatlicher Souveränität – um in der Terminologie des IPR zu reden – die Frage, ob ein öffentlichrechtlicher Fall (Sachverhalt) »Auslandsberührung« besitzt oder nicht; und die weitere, ob er gegebenenfalls nach deutschem oder ausländischem Recht zu lösen ist, einer europäischen (Kollisions-)regelung unterstellt werden kann. Denn die Kompetenz der europäischen Einzelstaaten zur (Sach-)rechtssetzung bleibt unberührt und die zur Durchsetzung ihres Rechts auch insoweit, als sie ausschließlich innerstaatliche Rechtswirkungen zeitigt bzw. solche, die nur deutsche Staatsangehörige betreffen. Es ist die Stärke des von Taupitz favorisierten Modells einer europäischen (Privat-)rechtsvereinheitlichung, daß es das Auseinandertreten von staatlicher Souveränität und verbindlicher Rechtssetzung auf das unverzichtbare Minimum reduziert. Und es ist die Stärke der von Schapp getroffenen Unterscheidung zwischen staatlicher Aufgabenwahrnehmung und rechtlicher Konfliktsentscheidung, dass sie zwingende rechtliche Argumente für die Notwendigkeit ins Feld führen kann, staatliche Souveränität aus Rechtsgründen zu beschränken. Sie liegen darin, dass nur auf diese Weise alle um des Friedens willen regelungsbedürftigen Konflikte, die als Folge staatlichen Handelns oder Unterlassens entstehen, nach rechtlichen Kriterien entschieden werden können49. Dass stillschweigende Voraussetzung dieser Sicht der Dinge zumindest eine gemeinsame Grundüberzeugung der europäischen Einzelstaaten über die Verbindlichkeit des Gleichheitssatzes (bzw. eines entsprechend völkerrechtlich fundierten Gebots) und damit verbunden die Zugehörigkeit zu einer in diesem Sinne unmittelbar verbindlichen Rechtsgemeinschaft ist, wird uns am Schluss unter V. noch genauer beschäftigen.
IV. Es ist damit offensichtlich: Der Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts müsste, wenn man dem bisher Gesagten folgt, darin liegen, daß sie sich weniger als eine Dogmatik der Staatswillensbildung versteht, sondern die Aufarbeitung der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse in den MitEntscheidung des gesamten Volkes darüber, wie Lasten und Vorteile zwischen den einzelnen Gruppen des Volkes angemessen zu verteilen sind. Mit dieser Entscheidung verfügen nicht Eigentümer über ihr Eigentum, es entscheidet vielmehr ein Schiedsrichter über Rechte und Pflichten von Gruppen in ihrem Verhältnis zueinander.« 48 Schapp (FN. 39), S. 153. 49 Zur Unterscheidung zwischen Konflikten von einzelnen, deren Lösung primär Aufgabe des Privatrechts ist, und den Gruppenkonflikten, mit denen es vor allem das öffentliche Recht zu tun hat, vgl. Schapp (FN 42), S. 975 ff.
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telpunkt ihrer Überlegungen stellt. Zugleich müsste sie aber mit ihrem damit verbundenen Einrücken in die gemeineuropäische Tradition des ius commune ihre spezifische Eigenart als öffentlichrechtliche Dogmatik wahren. Genau diese Prämissen erfüllt nun meines Erachtens – dabei mit den geschilderten Grundlagen des Rechtdenkens von Schapp übereinstimmend – das rechtswissenschaftliche Werk von Wilhelm Henke: 1. In einer seiner letzten dogmatischen Arbeiten hat Henke den »Wandel der Dogmatik des öffentlichen Rechts«50 deshalb gefordert, weil der Staat rechtlich gesehen heute etwas anderes sei als ein System der politischen Willensbildung51. Diese namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert geprägte Sichtweise der öffentlichrechtlichen Dogmatik hat ihren Grund nach Henke im Wesentlichen darin, dass die »politisch-philosophische Staatslehre« und nicht der eigene (spezifische) Zugang der Jurisprudenz zur Rechts- und Staatswirklichkeit für sie bestimmend wurde. Deshalb besteht nunmehr die Aufgabe darin, das öffentliche Recht von eben dieser Staatslehre zu lösen, »das Staats- und Verwaltungsrecht wieder zum Recht im überkommenen Sinn und den Umgang mit ihm wieder zum Bestandteil der überkommenen Jurisprudenz zu machen«, die »im Privatrecht noch gewahrt, jedenfalls noch erkennbar ist«52. Wie aber verfährt die »überkommene Jurisprudenz«? Sie verfährt nicht anders – so die Antwort Henkes – wie sie seit fast 2 000 Jahren als eigenständige »Wissenschaft« unter immer neuer Vergegenwärtigung ihrer römischrechtlichen Grundlagen praktiziert wird53. Sie ist darum mehr ein »Handwerk, eine Kunst und eine Tugend«54. Das alles ist sie auch deshalb, weil der namentlich die heutigen Sozialwissenschaften beherrschende, weitgehend an den Naturwissenschaften orientierte Wissenschaftsbegriff für sie nicht verbindlich sein kann55. Die Sozialwissenschaften reduzieren gemäß ihrem Selbstverständnis als »exakte« Wissenschaften zwangsläufig ihre Fragestellung. Sie fragen allein danach, was sie »gewiss wissen« können, nicht aber danach, »was ist und was es bedeutet, dass etwas ist.« Ihre Frage ist also eine erkenntnistheoretische und keine ontologische56. Die weitere Reduktion einer »exakt« verfahrenden Sozialwissenschaft betrifft die des Gegenstandes ihrer Fragestellung. Sie beginnt ihre 50 51 52 53
So der Titel seines programmatischen Aufsatzes: JZ 1992, S. 541 ff. Henke (FN. 50), S. 541 f. Ebd., S. 542. Vgl. zusammenfassend dazu folgende Arbeiten von Henke: Alte Jurisprudenz und neue Wissenschaft: JZ 1987, S. 685 ff.; Sozialtechnologie und Rechtswissenschaft: Der Staat 8 (1969), S. 1 (11 ff.) und Recht und Staat, 1988, S. 620 ff., 648 ff. u. a. 54 Henke, Recht und Staat, S. 649. 55 Vgl. dazu besonders Henke, Sozialtechnologie (FN. 53), S. 1 ff.; ders., Kritik des kritischen Rationalismus, 1974; ders., Jurisprudenz und Soziologie: JZ 1974, S. 729 (730 ff.). 56 Henke, Sozialtechnologie (FN. 53). S. 9 f.
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Überlegungen »mit Definitionen, d. h. sie legt die Gegenstände fest, ehe sie sie untersucht.« Damit bleibt die »Sache«, soweit sie durch den definierten Begriff nicht abgedeckt wird, außer Betracht. Hinzu kommt, dass die Gegenstände, um von der empirischen Forschung erfasst werden zu können, »auf ihre reine Faktizität« reduziert und »alle etwaigen affektiven Beziehungen des Forschers zu seinem Objekt ausgeschlossen« werden müssen57. Da Rechtsfragen (und vor allem die hinter ihnen stehende Frage nach der Gerechtigkeit) existentielle Fragen sind, die wohl nur noch mit der religiösen Frage nach der freimachenden Wahrheit vergleichbar sind58, können auf sie keine adäquaten Antworten gefunden werden, wenn die Jurisprudenz unter Inkaufnahme der geschilderten Reduktionen den Anspruch, eine entsprechend exakte Wissenschaft zu sein, erhebt. Der »Schrei nach Gerechtigkeit« kommt nun einmal, wie Henke sagt, nicht »von Daten, Fakten und Funktionen, sondern aus der Welt, in der sich die Rechtswissenschaft von allem Anfang an vorfindet, von dem ganzen, wirklichen, lebendigen Menschen«59. Sie muss darum ihren Überlegungen diese elementare Wirklichkeit unverkürzt zugrundelegen und in dem Bewusstsein verfahren, dass ihre Wahrnehmung immer schon durch ein Verhältnis zu ihrer »Sache« geprägt ist60. Genau das ist auch der Grund, der nach Henke die Forderung begründet, zum Ausgangspunkt aller Jurisprudenz den (streitigen) Fall als Teil der Lebenswelt zu nehmen. Das Gesetz hat nur den »rechtstechnischen Vorrang der hierarchischen Überordnung, aber der Fall behält den Vorrang im Sinne des gerechten Rechts.« Denn das Recht »ist nicht in erster Linie Gesetz und Gesetzanwendung, sondern Berechtigung einer Person gegenüber einer anderen.« Die Funktion des Gesetzes liegt so gesehen darin, dass es die Rechte begründet und bestimmt, aber das geschieht nicht »um eines übergeordneten Prinzips, der Gesellschaft, der Rechtsidee oder eines Menschheits- oder Staatsziels, sondern um der Bezie57 Ebd., S. 10. 58 Henke, Recht, Zeitschrift für Theologie und Kirche 86 (1989), S. 533 (542 f.). Zum Charakter der existenziellen Frage allgemein vgl. ders., Recht und Staat, S. 91 ff. und zur Gerechtigkeit als existenzieller Frage ebd., S. 173 ff. 59 Sozialtechnologie (FN. 53), S. 12. 60 Vgl. dazu genauer Henke, Sozialtechnologie (FN 53), S. 14 ff.; ders., Recht und Staat, bes. S. 53 ff., 118 ff., 125 ff.; ders., Die Lehre vom Staat: Der Staat 12 (1973), S. 219 (222 ff., 228). Es gibt also für Henke insoweit keine Grundunterscheidung i. S. Kants von »Ding an sich« und »Erscheinung« (vgl. nur Recht und Staat, S. 113 f.). Im Übrigen zeigt dieser von der Sache her gebotene unmittelbare und eigenständige Durchgriff auf die Wirklichkeit bei Henke verblüffende Parallelen zu dem entsprechenden dogmatischen »Verfahren« des (protestantischen) Theologen Gerhard Ebeling, vgl. nur Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I (1979), S. 346 ff. und ders., Luthers Wirklichkeitsverständnis: Zeitschrift für Theologie und Kirche 90 (1993), S. 409 ff. Henke kannte das Werk Ebelings und stand mit ihm in ständigem persönlichen Kontakt, vgl. auch ders., Recht und Staat, S. 96 Anm. 13; Recht (FN 58), S. 534 f. und Kritischer Rationalismus (FN 55), S. 25 Anm. 51.
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hungen zwischen den Menschen und ihrer Lebensverhältnisse willen«61. Die älteste Erscheinungsweise des Rechts ist darum auch nicht das Gesetz, sondern das Gericht62. All das Gesagte gilt nach Henke wohlgemerkt auch für das öffentliche Recht. Was sich andeutungsweise schon bei Schapp zeigte, lässt sich jetzt kaum noch bezweifeln: Die Grundlagen des Rechtsdenkens, die die Forderung nach einem Wandel der öffentlichrechtlichen Dogmatik stützen, stimmen mit denen überein, die für das von Taupitz vertretene Regelungsmodell einer europäischen Rechtsvereinheitlichung leitend sind. 2. Mit anderen Worten, aber in der Sache ebenfalls mit Schapp übereinstimmend, wird von Henke auch die Abschichtung der Funktion des Rechts von der staatlichen Gewalt gefordert63. Er betont jedoch zugleich, dass mit dieser Abschichtung das Recht »nicht zu Gunsten reiner Logik gegen Politik, Geschichte, Wirtschaft isoliert« werde, sondern das Recht habe nur »im Verhältnis zu den entsprechenden Wissenschaften einen eigenen und besonderen Zugang zu diesen Lebensbereichen«64. Wie Henke diesen sieht, wurde dargestellt. Es kann seiner Ansicht nach nur dann zu einem »Auseinanderfallen von Staat und Recht« kommen, wenn es keine »spezifisch juristische Staatslehre« gibt65. Sie hätte von einem Begriff des Staates auszugehen, der »als Rechtsbegriff das Verhältnis zwischen politischer Macht und (übriger) Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit« als einem Urphänomen zu erfassen sucht. Die Aufgabe des Staates ist demnach, »ein gerechtes Verhältnis von Mächtigen und Abhängigen, von Staatsgewalt und Bürger« zu gewährleisten66. Dies ist nicht nur eine Aufgabe des heutigen Staates, sondern sie bestand auch für die griechische Polis, die römische Republik, das mittelalterliche Imperium und Reich. So kann die »Staatsgeschichte« unter Einbeziehung der antiken und mittelalterlichen Geschichte als ein mehr oder minder geglückter Versuch zur Lösung der Aufgabe, Herrschaft und Gerechtigkeit zu vereinen, gelesen werden67. Dabei erweist sich, dass die »gelungene Lösung … am besten in dem Begriff der Amtsgewalt fassbar« ist. Denn »die Wahrnehmung eines Amtes ist verrechtlichte Machtausübung, und zwar in dem spezifischen Sinn des öffent61 Henke, Recht und Staat, S. 622, 623; vgl. daneben ders., Hermeneutik in der Jurisprudenz, in: Hans Friedrich Geißer u. a. (Hrsg.), Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung, 1992, S. 159 (176, ähnl. 179), wo er das Gesetz als »eine sekundäre Gestalt von Recht« bezeichnet 62 Henke, Recht (FN. 58), S. 539 f. 63 Zum dahinterstehenden allgemeinen Problem, der Unterscheidung von Recht und Politik, vgl. Henke, Wider die Politisierung der Justiz: DRiZ 1974, S. 173 (174 f.) und ders., Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt: Der Staat 19 (1980), S. 181 (198 ff.). 64 Henke, Recht und Staat, S. 594, vgl. auch S. 597. 65 Henke, Die Lehre vom Staat (FN. 60), S. 235 (Hervorhebung dort!). 66 Ebd., S. 236 und ders., Recht und Staat, S. 299. 67 Recht und Staat, S. 296 ff.
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lichen Rechts als eines Amtsrechts«68. Darum handeln nach Henke auch alle Träger staatlicher Gewalt – der Abgeordnete, der Richter, das Regierungsmitglied und der öffentliche Bedienstete – in Ausübung eines öffentlichen Amtes69. Sie üben rechtlich gebundene Herrschaft in Ämtern aus, und die Staatsform, die diese Herrschaft trägt und realisiert, ist die Republik70. 3. Damit ist auch der Unterschied zu den privatrechtlichen Rechtsverhältnissen markiert: Im »Bereich der Ämter« gilt öffentliches Recht. Die Personen des Staates handeln »nach Rechtsregeln im Amt (und als Vertreter einer juristischen Person öffentlichen Rechts)«71. Aber das schließt die Annahme nicht aus, dass im öffentlichen Recht die »Grundfigur des ganzen Systems … wie im Privatrecht« das Rechtsverhältnis sein muss72. Denn »wo immer Staat und Bürger einander gegenübertreten, handeln Personen: Mitglieder des Parlaments und der Regierung, Beamte oder Richter einerseits, Bürger andererseits. In diesen wie in allen Beziehungen zwischen Personen geht es im Konfliktfall um Recht und Unrecht. Darum ist das Verhältnis jeweils allgemein oder einzeln rechtlich bestimmt als ein Rechtsverhältnis«73. Wiederum in völliger Übereinstimmung mit Schapp folgert Henke dann weiter, dass Inhalt dieser Rechtsverhältnisse »subjektive Rechte und ihnen entsprechende Pflichten oder Verbindlichkeiten« sind. Als subjektives Recht versteht er dementsprechend »die Position eines Rechtssubjekts, kraft deren es etwas verlangen oder ungestört tun kann.« Folglich ist ein subjektives Recht – und damit schließt sich der Kreis – »zum privaten Belieben oder zu verantwortlicher Wahrnehmung im Interesse des Gemeinwohls gegeben …, als reine Berechtigung oder mit Pflichten verbunden, als Individualrecht oder als Mitgliedschaftsrecht oder als Amtsbefugnis und zur Durchsetzung mit gerichtlicher Klage oder mit eigenen Zwangsmaßnahmen, also für Ämter ebenso und unbeschadet ihrer Überordnung wie für Private«74 Im vorliegenden Zusammenhang kann und muss darauf verzichtet werden, die dogmatischen Einzelheiten, die daraus für die Lehre vom subjektiven öf68 Die Lehre vom Staat (FN. 60), S. 236. 69 Das hat Henke besonders für den Status des Abgeordneten herausgearbeitet, vgl. etwa seine Kommentierung des Artikel 21 GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Neubearbeitung 1991), RN 78 ff. und daneben ders., Das demokratische Amt der Parlamentsmitglieder : DVB1. 1973, S. 553 (558 ff.). 70 Dazu zusammenfassend Henkes Artikel »Die Republik«, in: Josef Isensee/Paul Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, S. 863 ff. 71 So Henke, Wandel der Dogmatik des öffentlichen Rechts (FN. 50), S. 543; ähnlich Kommentierung Artikel 21 GG (Fn. 69), RN 65. 72 Ebd., S.. 542. 73 Ebd., S. 542 f. 74 Ebd., s. 543.
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fentlichen Recht und für die verschiedenen öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse folgen, genauer darzulegen. Henke hat einen Großteil dieser Arbeit selbst geleistet75, und Autoren wie etwa Rolf Gröschner und Hartmut Bauer sind ihm darin – auf den gleichen dogmatischen Prämissen aufbauend – gefolgt76. Auch aus Henkes konsequenter Trennung von materiellem und formellem Recht im Staats- und Verwaltungsrecht ergeben sich von ihm näher dargelegte, weitreichende dogmatische Folgerungen, die ebenfalls in der Lehre vertieft worden sind77. Woran hier noch einmal zu erinnern ist, ist der Ausgangspunkt seiner Bemühungen: im Staats- und Verwaltungsrecht den Wandel von einer Dogmatik der Staatswillenbildung zu einer Dogmatik öffentlichrechtlicher Rechtsverhältnisse einzuleiten. Er kann zur Begründung des geforderten Wandels – wie deutlich geworden ist – nicht nur immanente dogmatische Gesichtspunkte, sondern auch solche nennen, die aus dem Selbstverständnis der Rechtswissenschaft als Jurisprudenz folgen. Ohne Verlust des Wirklichkeitsbezugs gelingt Henke damit zunächst eine Abschichtung des rechtlichen vom politischen Bereich, die er in Arbeiten über die verfassunggebende Gewalt und zum Parteienrecht im Einzelnen durchgeführt hat78. Zugleich aber findet er mit einer solchen Dogmatik »Anschluss an die große europäische Rechtstradition«79. Was schließlich sein Staatsverständnis betrifft, so verwundert es nicht, wenn Henke – ausgehend von der genannten Aufgabe des Staates, das gerechte Verhältnis zwischen Mächtigen und Abhängigen zu gewährleisten – für die zukünftige
75 Zum subjektiven öffentlichen Recht vgl. etwa folgende Arbeiten von Henke: Das subjektive Recht im System des öffentlichen Rechts: DÖV 1980, S. 621 ff.; Juristische Systematik der Grundrechte: DÖV 1984, S. 1 ff. Zum Recht der öffentlichen Verträge vgl. von Henke z. B.: Allgemeine Fragen des öffentlichen Vertragsrechts: JZ 1984, S. 441 ff.; Praktische Fragen des öffentlichen Vertragsrechts – Kooperationsverträge – DÖV 1985, S. 41 ff.; Das Recht der Wirtschaftssubventionen als öffentliches Vertragsrecht, 1979. 76 Gröschner (FN 25), S. 119 ff. (2. Teil); Bauer, Die Bundestreue (FN 25), S. 260 ff., 313 ff. (5. Kapitel); ders., Verwaltungsrechtslehre (FN 25), S. 315 ff.; ders., Informelles Verwaltungshandeln im öffentlichen Wirtschaftsrecht: Verwaltungsarchiv 78 (1987), S. 241 (259 ff.); ders., Subjektive öffentliche Rechte des Staates: DVBI. 1986, S. 208 ff.; ders., Altes und Neues zur Schutznormtheorie: AöR 113 (1988), S. 582 ff. 77 Zu Henkes Folgerungen vgl. Wandel der Dogmatik (FN 50), S. 543 f.; Subjektives Recht im System (FN 75), S. 625 ff.. Zu entsprechenden Folgerungen bei anderen Autoren vgl. nur Joachim Martens, Die Praxis des Verwaltungsverfahrens, 1985, bes. S. 9 ff., 41 ff. 78 Zum Problem der verfassungsgebenden Gewalt vgl.: Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957; Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes in Lehre und Wirklichkeit: Der Staat 7 (1968), S. 165 ff.; Staatsrecht, Politik (FN 63), S. 181 ff.; Das Ende der Revolution und die verfassungsgebende Gewalt des Volkes: Der Staat 31 (1992), S. 265 ff. Zum Parteienrecht vgl. besonders: Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972; Kommentierung des Artikel 21 GG (FN 69). 79 Wandel der Dogmatik (FN. 50), S. 548.
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Entwicklung zu der Vermutung kommt, »dass der Staat als Amtsgewalt den Verlust der Souveränität im hergebrachten Sinn überdauert«80.
V. Es gibt also eine Dogmatik des öffentlichen Rechts in Deutschland die – ähnlich wie es im Privatrecht und daraus folgend im IPR geschieht – das (materielle) Rechtsverhältnis zur Grundlage ihrer Betrachtung macht. Die in der Themenstellung aufgeworfene Frage, ob ein Wandel der Dogmatik des deutschen Staatsund Verwaltungsrechts notwendig sei, muss nach dem Gesagten bejaht werden, wenn man es für erforderlich hält, Überlegungen zur europäischen Rechtsvereinheitlichung, wie sie von Taupitz für das Privatrecht geäußert worden sind, auch für das öffentliche Recht näherzutreten. Dass man nun dieses alternative Regelungsmodell für das öffentliche Recht nicht mehr ohne weiteres mit dem Hinweis beiseite schieben kann, es sei auf das Zivilrecht und seine Dogmatik zugeschnitten, die ganz anderen historischen und systematischen Leitbildern folge, dürfte deutlich geworden sein. Um mehr ging es – wie ausdrücklich zu betonen ist – hier nicht! Es mag ja sein, dass es andere gewichtige Gründe gibt, die an dem Versuch zweifeln lassen, in Anlehnung an die Überlegungen von Taupitz für das Staatsund Verwaltungsrecht nach Lösungen einer europäischen Rechtsvereinheitlichung zu suchen, die über die triste Alternative: umfassende legislatorische Sachrechtsvereinheitlichung der EG oder ausschließliche Betonung der nationalen Rechtseinheit hinausführen81. Bevor solche Zweifel jedoch jede Bereitschaft zu entsprechendem Weiterdenken im Keim ersticken, sollte man zumindest berücksichtigen – worauf abschließend noch kurz hingewiesen werden soll –, dass das vorgeschlagene Verfahren der Rechtsvereinheitlichung ja auch ein ganz bestimmtes Verständnis der EG als Rechtsgemeinschaft impliziert: Dieses muss nach dem Ausgeführten – kurz gesagt – die Vorstellung von der Universalität dieser Rechtsgemeinschaft mit der ihrer gleichzeitigen Partikula80 Die Lehre vom Staat (FN. 60), S. 227 Anm. 14. Zu seinem Verständnis der staatlichen Souveränität vgl. daneben Recht und Staat, S.. 286 mit Anm. 31 und S. 579. 81 Zusammenfassende Kritik zu der Überlegung, ein dem IPR entsprechendes Kollisionsrecht für das öffentliche Recht zu fordern, bei v. Bar (FN 19), S. 217 ff. Entscheidender (und hier in Frage gestellter) Ausgangspunkt seiner Kritik ist der Satz (S. 221): »Das öffentliche Recht ›ist‹ die Staatsgewalt – oder wird doch als solche gedacht – und entbehrt deshalb der Fungibilität«, ähnlich S. 128, 142. Ansätze für den hier gemachten Ausführungen entsprechende Überlegungen aber in der Schrift: Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung e.V. (Hrsg.), Einheit und Vielfalt in Europa, 1992, S. 35, 37 f., 40 f., 77 f. (Zusammenfassung). Schon früher hat u.a Martin Bullinger (Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 104 ff.) allgemein ein am IPR orientiertes Kollisionsrecht für das öffentliche Recht gefordert.
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rität verbinden. Beides lässt sich aber völkerrechtlich kaum auf einen Nenner bringen. Denn das völkerrechtliche Denken orientiert sich zu Recht nach wie vor grundsätzlich an den souveränen Staaten, und in der Völkerrechtsgemeinschaft werden die aus dieser Gemeinschaft folgenden Pflichten »durch die Staatengewohnheit und das davon abgeleitete Recht« geprägt; es entstammt also letztlich »einem Verhalten aus dem Kreis der Verpflichteten selbst«82. Anders muss man nun argumentieren, wenn der Wandel von einem internationalen zu einem interlokalen europäischen Kollisionsrecht unter Aufrechterhaltung der Vorstellung von selbständigen nationalen Rechtsordnungen gefordert wird. Dann können die der EG angehörenden Staaten ihre Rechtsgewalt nicht mehr ausschließlich »auf eine in ihnen selbst liegende Eigenschaft«83 zurückführen, sondern sie müssen bei ihrer Rechtssetzung wie bei jeder Ausübung staatlicher Gewalt von ihrer Zugehörigkeit zu einem Rechtskreis ausgehen, der »in keiner Weise als Produkt eines konkreten Staates erscheint«84. Dieser Rechtskreis ist die EG als Rechtsgemeinschaft. Und aus der Zugehörigkeit zu ihr folgt unmittelbar das verbindliche Gebot für jeden Mitgliedsstaat, seine Rechtsordnung unter den Vorbehalt des europäischen Kollisionsrechts zu stellen. Das ist der allgemeine Rechtsgedanke, der hinter den vertragsrechtlichen Grundlagen der EG wie auch dem Artikel 23 (und Artikel 28 Abs. 1 Satz 3, 45, 50, 52 Abs. 3a, 88) GG steht und dem die genannten Regelungen zwangsläufig nur partiell Ausdruck verleihen können. Sollte die Frage nach der inneren Rechtfertigung für die Annahme eines solchen »europäischen Rechtskreises« gestellt werden, so müsste man wohl auf die verbindende Klammer der gemeinsamen europäischen Rechts- und Verfassungskultur verweisen, die in ihrer Bedeutung über das allgemeine Bewusstsein der Staaten, einer Völkerrechtsgemeinschaft anzugehören, oder – wie auch im IPR argumentiert wird – ihrer Verpflichtung auf den Gleichheitssatz85 weit hinausgeht86. So gesehen macht es keinen Sinn, die EG als eine (besondere) Entwicklungsstufe des Völkerrechts zu verstehen87. 82 So richtig Dietrich Pirson (Universalität und Partikularität der Kirche, 1965, S. 294, vgl. auch S. 285) in Abgrenzung zum Recht der Universalkirche. 83 So wiederum Pirson (ebd., S. 285) für das Recht der Universalkirche. Die Möglichkeit für diese Argumentation sieht er »in der Unanwendbarkeit des Souveränitätsbegriffs im Bereich des kirchlichen Rechts.« 84 So Pirson (ebd., S. 284) wiederum für den von der Universalkirche geprägten Rechtskreis, dem die Partikularkirchen zugehören. 85 Vgl. dazu E. Lorenz (FN. 24), S. 63 ff. 86 Ergänzend (und daraus folgend) wäre in Parallele zu den Überlegungen von Pirson zur Zugehörigkeit der Partikularkirche zur Rechtsgemeinschaft der Universalkirche darauf abzustellen, dass die Mitgliedstaaten der EG »durch die Zugehörigkeit zum Bereich der gleichen Verantwortlichkeit miteinander verbunden sind« (Universalität und Partikularität der Kirche, S. 277 – Hervorhebung von mir! – ganz entsprechend S. 283, 286, 290, 297). 87 So aber Werner Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen – eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts, 1979 und im Anschluss daran Rudolf Streinz, Europarecht, 1992,
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4. Teil: Die erforderliche demokratische Legitimation
Es scheint mir kein Zufall, dass die vorgetragene Deutung der europäischen Rechtsgemeinschaft sich eng an Pirsons vor 30 Jahren erschienene kirchenrechtliche Untersuchung über die Rechtsproblematik zwischenkirchlicher Beziehungen, die bekanntlich den Titel »Universalität und Partikularität der Kirchen« trägt, anlehnt. Denn es ist – um noch einmal mit Henke zu reden – die je verschiedene existentielle Frage, die beiden, Kirchen und Staat, gestellt ist und auf die sie beide ständig neue Antworten finden müssen. Sollten dann nicht auch unter rechtlichem Aspekt – partiell – gleiche Antworten gegeben werden können?
Thesen I. Das für die EG (heute EU)maßgebliche Modell der legislatorischen Sachrechtsvereinheitlichung ist bisher von der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Eine genauere Beschäftigung damit ist aber schon deshalb erforderlich, weil die europäische Integration in den Bahnen des Rechts »ohne eine gemeinsame Grundansicht von Recht a limene misslingen« (E. Klein) muss.
II. Aus zivilrechtlicher Sicht hat aber besonders nachdrücklich Jochen Taupitz den »distributiven Zufall« der legislatorischen europäischen Sachrechtsvereinheitlichung kritisiert und als Alternative vor allem eine Kollisionsrechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene vorgeschlagen. Im Kern beinhaltet der damit S. 31 ff. Vielleicht sollte man deshalb besser über die Fortentwicklung des alten Vorschlags von Hans Peter Ipsen nachdenken, der ja die EG als »Zweckverband« versteht und dabei durchaus kommunalrechtliche Parallelen im Blick hat, vgl. nur ders., Europäische Verfassung – Nationale Verfassung: EuR 22 (1987), S. 195 (202 ff.). Ist es denn so fernliegend, auch das immer wieder zu Recht kritisierte demokratische Defizit der EG in Analogie zum kommunalen Zweckverband zu verbessern? Das könnte einerseits eine größere Kompetenz des Europäischen Parlaments bedeuten, andererseits aber eine Wahl seiner Mitglieder durch die Parlamente der Mitgliedstaaten und die mögliche Abhängigkeit der Europaabgeordneten von Weisungen der entsendenden Parlamente beinhalten – vgl. als teilweise Parallele z. B. § 13 Abs. 4 und 5 des Baden-Württembergischen Gesetzes über kommunale Zusammenarbeit i. d. F. vom 16. 9. 1974 (GB1. S. 408), zuletzt geändert durch Art. 7 G vom 12. 12. 1991 (GB1. S. 860). Es gibt m. E. auch nach wie vor keinen Rechtsbegriff, der treffender die limitierte und doch offene Aufgabenstellung der EG erfasst, als der des (kommunalen) Zweckverbandes.
20. Wandel des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts
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geforderte Paradigmenwechsel das Gebot, in Zukunft nicht primär auf die anzustrebende Gleichheit der Rechtsordnungen in den europäischen Mitgliedstaaten abzustellen, sondern darauf, dass nach Möglichkeit derselbe Fall zu derselben Zeit gleich entschieden wird. Auf europäischer Ebene ist deshalb nach Taupitz primär der Umbau des internationalen Privatrechts zu einem »interlokalen Kollisionsrecht« anzustreben.
III. Für das öffentliche Recht kann dieses Modell dann in Betracht kommen, wenn man sich entschließt, das öffentlichrechtliche wie das zivilrechtliche Gesetz als eine Entscheidung von konkreten Fällen zu verstehen. Die Besonderheit des öffentlichrechtlichen Gesetzes besteht dann gegenüber dem zivilrechtlichen allein darin, dass der Staat seinen Willen durch das Gesetz bildet und diese Willensbildung zugleich als rechtliche Entscheidung des Konflikts (Falles) zwischen Bürger und Staat über die Zulässigkeit des entsprechenden staatlichen Handelns aufzufassen ist. Diese besonders von Jan Schapp vertretene Ansicht macht es grundsätzlich möglich, auch die Frage, ob ein öffentlichrechtlicher Fall (Sachverhalt) »Auslandsberührung« i. S. des IPR besitzt oder nicht; und die weitere, ob er gegebenenfalls nach deutschem oder ausländischem Recht zu lösen ist, einer europäischen (Kollisions-)regelung zu unterstellen. Für diese Lösung spricht daneben, dass sie zwingende rechtliche Argumente für die Notwendigkeit ins Feld führen kann, staatliche Souveränität aus Rechtsgründen zu beschränken. Sie liegen nämlich dann darin, dass nur auf diese Weise alle um des Friedens willen regelungsbedürftigen Konflikte, die als Folge staatlichen Handelns oder Unterlassens entstehen, nach rechtlichen Kriterien entschieden werden können.
IV. Eine Dogmatik des öffentlichen Rechs müsste demnach, wenn das von Taupitz favorisierte Modell eines interlokalen Kollisionsrechts auch für das Staats- und Verwaltungsrecht gelten soll, die Ausarbeitung der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Das ist nun besonders eindrucksvoll durch Wilhelm Henke geschehen, wobei er zu Recht das Spezifische der öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisse gegenüber den privatrechtlichen darin gesehen hat, dass alle Träger staatlicher Gewalt in Ausübung eines öffentlichen Amtes handeln. Diese »verrechtliche Machtausübung« der öffentlichen Hand widerspricht aber nach Henke nicht der These, dass auch im
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öffentlichen Recht die »Grundfigur des ganzen Systems … wie im Privatrecht« das Rechtsverhältnis sein muss.
V. Die hier vertretene Alternative zu der das europäische Recht bestimmenden legislatorischen Sachrechtsvereinheitlichung impliziert auch ein ganz bestimmtes Verständnis der EG als Rechtsgemeinschaft. Dieses verbindet im Kern die Vorstellung von der Universalität dieser Rechtsgemeinschaft mit der ihrer gleichzeitigen Partikularität. Das ist nur möglich, wenn die der EG angehörenden Staaten bei ihrer Rechtssetzung wie bei jeder Ausübung staatlicher Gewalt von ihrer Zugehörigkeit zu einem Rechtskreis ausgehen, der »in keiner Weise als Produkt eines konkreten Staates« (Pirson) erscheint. Dieser Rechtskreis ist die EG als Rechtsgemeinschaft. Und aus der Zugehörigkeit zu ihr folgt unmittelbar das verbindliche Gebot für jeden Mitgliedsstaat, seine Rechtsordnung unter den Vorbehalt des europäischen Kollisionsrechts zu stellen.
Drucknachweise
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7. 8. 9.
Die Behandlung der Petitionen auf kommunaler Ebene. Zur Reichweite verfassungsrechtlicher Vorgaben im Gemeinderecht, in: AfK 26 (1987), S. 206 – 225. Die zunehmende Parlamentarisierung der Gemeindeverfassung als Rechtsproblem (Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages, Heft 17), Göttingen 1988. Die zunehmende Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge als Rechtsproblem (Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages, Heft 28), Burgwedel 1999. Die Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die politischen Parteien. Eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zur Abschaffung der Bezirksregierungen in Niedersachsen, in: Die Verwaltung (Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften) 43 (2010), S. 1 – 33. Die gefährdete regionale Identität Ostfrieslands nach Auflösung der Regierungsbezirks Aurich vor dreißig Jahren, in: Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands 88/89 (2008/2009), S. 244 – 259. Der Landtag im Leineschloss. Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven, in: Rückblicke – Ausblicke. FS aus Anlass des 30. Jahrestages des Einzuges des Niedersächsischen Landtages in das hannoversche Leineschloss am 11. September 1992, hg. vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages (Hannover 1992), S. 15 – 40. Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen, Baden-Baden 2007. Die neue Niedersächsische Verfassung vom 1. Juni 1993 – Ein wirklicher Fortschritt?, in: Neues Archiv für Niedersachsen 1994, S. 1 – 10. Die Entstehung der neuen Niedersächsischen Verfassung und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs und die Staatspraxis. U. d. T. »Die Entwicklung des niedersächsischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts in den Jahren 1990 – 2002«, in: JöR NF 51 (2003), S. 301 – 328.
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Drucknachweise
10. Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU (Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd.15), hg. von Hans-Günter Henneke (Stuttgart u. a. 2001), S. 59 – 88. 11. Die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen und einer Bundesratsreform mit einem Nachtrag. U. d. T.«Referat« und »Diskussion«, in: Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, Bonn 2004, Bd. II/1, P 9-P 51 und Bd. II/2, P 195-P 197, P 245 – 247. 12. Mehr direkte Demokratie als Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus? Zugleich eine Stellungnahme zu dem Buch von Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie, in: Gemeinwohl und Verantwortung. FS für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag, hg. von Stefan Brink und Heinrich Amadeus Wolff (Berlin 2004), S. 335 – 352. 13. Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: ZBR 2003, S. 113 – 132. 14. Das Streikrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst und der »Dritte Weg« der Kirchen (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 43), Heidelberg 1982. 15. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Beamten- und Bürokratiekritik (Text eines im Jahr 2000 vor Vertretern der niedersächsischen Wirtschaft in Hannover gehaltenen Vortrags). Unveröffentlicht. 16. Brauchen wir eine neue deutsche Verfassung?, in: Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bewahrung, Bewährung und Entwicklung (Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Bd.27), hg. von Hans Günter Henneke und Hubert Meyer (Stuttgart u. a. 2006), S. 107 – 122. 17. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Volkswillens für die Legitimation der Staatsgewalt. Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 20 Abs. 2 GG, in: DÖV 2010, S. 949 – 960. 18. Verfassungsgebung ohne die verfassungsgebende Gewalt des Volkes? Eine Stellungnahme zu dem Essay von Jürgen Habermas »Zur Verfassung Europas«, in: ZG 2013, S. 21 – 43. 19. Europa auf dem falschen Weg – Eine verfassungsrechtliche Besinnung (Text eines im Jahr 2011 vor Vertretern der niedersächsischen Wirtschaft in Hannover gehaltenen Vortrags). Unveröffentlicht. 20. Notwendiger Wandel der Dogmatik des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in einem zusammenwachsenden Europa? Überlegungen zum Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: Offene Staatlichkeit. FS für Ernt-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburts-
Drucknachweise
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tag, hg. von Rolf Grawert, Bernhard Schlink, Rainer Wahl, Joachim Wieland (Berlin 1995), S. 145 – 161.
Stichwortverzeichnis
Abgeordneter s.a. Landtagsabgeordneter – Amt des A. 549 ff. – Repräsentationsfunktion des A. 549 ff. Amt – Ämterpatronage 209 f., 267, 386 f., 388, 410 ff., 427, 507 f., 518 – demokratische Amtsherrschaft 69 ff., 93 f., 222, 367 ff., 413 ff., 501 f. Beamter – Notwendigkeit eines Patrons für Beamtenschaft 430 f., 507 f. – politischer Beamter 427 ff. – Privatisierung des Beamtenrechts 382 ff., 412 ff. Bezirksregierungen – Abschaffung der B. in Niedersachsen 123 ff., 160 ff. – B. als Asyl der staatlichen Verwaltung 115 f. – B. als Aufsichtsbehörde 119, 136 ff., 161 – B. als Garant des rechtsstaatlichen Verwaltungsvollzugs 134 ff. – Rechtfertigung der B. 118 ff., 160 f. – Verfassungsrechtliche Garantie der B. durch NV 140 f. – Wandlung der B. 155 ff. Bundespräsident – als Hüter des Volkswillens 551 ff. – als Patron der Beamtenschaft 430 f., 507 f.
– Direktwahl des B. als Reformvorschlag 374, 522 f., 552 f. – Prüfungsrecht bei Gesetzen 553 f. Bundesrat – Legitimation der Zustimmungsgesetze 327 ff. – Notwendige Änderung der Abstimmungsregel im B. 347 – Notwendige Reduzierung der Zustimmungsgesetze 346 f. Bundesstaat s.a. Gesetzgebung im Bundesstaat – Entwicklung zum Allparteienbundesstaat 326 ff. – freiheitlicher B. nach dem GG 289, 330 f. – Legitimation durch sachliche Autonomie 287 ff., 330 f. – Legitimation durch Stiftung regionaler Identität 331 ff. – notwendige Reform der Finanzverfassung 296 ff., 342 ff. Bürokratie – Beitrag der B. zum Gemeinwohl 348 f., 371 – B. mehr als Vollzugsbürokratie 371 f., 504 – rechtlicher Maßstab für B. 505 f. – Strukturmerkmale der B. 502 f. – Trennung von Politik und B. 409 ff., 427
622 Daseinsvorsorge – als »hoheitsrechtliche Befugnis« 419 ff., 477 f. – demokratische Legitimation kommunaler D. 92 ff., 104 – Privatisierung der D. durch Aufgabenprivatisierung 85 ff. – Privatisierung der D. durch Organisationsprivatisierung 92 ff. – Privatisierung der D. durch Mischformen 98 ff. Direkte Demokratie 264 f., 363 f., 375 f. s.a. Volk, Volkswille Direktwahl der Ministerpräsidenten als Reformvorschlag 191, 227 ff., 239, 245, 299 ff., 347 ff., 357 f., 373 f., 521 f. »Dritter Weg« der Kirchen – Gleichwertigkeit mit Tarifverträgen 444 ff. – Modellcharakter für öffentliche Dienstnehmer 490 ff. – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit 458 ff., 486 ff. Europäische Rechtsvereinheitlichung – gewachsene R. 600 f., 602 f. – legislatorische R. 600 – R. durch interlokales Kollisionsrecht 601, 606 – römisch-kanonisches ius commune als Grundlage einer europäischen R. 603 Europatauglichkeit des GG 519, 523 f. Europäische Union (EU) s.a. Überstaatlichkeit (Supranationalität) – als Rechtsgemeinschaft 576 f., 594, 597, 599 f., 612 f. – als Staatenbund 575 f., 594 – als »zwischenstaatliche Einrichtung« 545 f., 573, 590, 594 – Aufgaben der EU 576 ff., 594 – delegierte Hoheitsrechte der EU 308 f., 574 – demokratische Legitimation der EU 574 f. – Entwicklung zur Haftungsunion 589, 590, 591 f., 593
Stichwortverzeichnis
– vertragsrechtliche Grundlagen der EU 574, 576, 592, 594 Gemeinderat s.a. Ratsherr – G. als Verwaltungsorgan 55 f., 63 ff. – G. als »Volksvertretung« 43 ff. – gleichwertige demokratische Legitimation des G. 44 ff., 54 f., 62 f. – Rolle der politischen Parteien im G. 65 f., 73 f. – Verhältnis von G. und Gemeindeverwaltung 72 ff., 76 ff., 78 ff. Gesetz – als Konfliktsentscheidung 604 f. – Verhältnis von G. und Fall 604 f., 608 f. Gesetzgebung im Bundesstaat s.a. Landesgesetzgebung – Ablehnung der Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung 335 f. – Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung 295, 337 ff. – besondere Kompetenzkataloge für G. des Bundes und der Länder 294 f., 339 ff. – Überholte konkurrierende und (Rahmen-) gesetzgebung 322 ff., 334 f. – Verlust der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern 180 ff., 200 ff., 285 f., 319 ff. Gewaltenteilung – als Garantie einer funktionsgerechten Organisationsstruktur 138 ff. – G. zwischen Legislative und Exekutive 221 ff., 266 f., 299 f., 520 f. Gewohnheitsrecht 534, 547 f., 571 Gruppenkonflikte als Kennzeichen des öffentlichen Rechts 96 f., 415 ff. Haushalt/Haushaltsrecht – Bepackungsverbot 273 – Beteiligungsrechte des Haushaltsausschusses 273 f. – Grenzen der Staatsverschuldung 274 ff. – Umwegfinanzierungen am Haushalt vorbei 276 ff.
Stichwortverzeichnis
»Hoheitsrechtliche Befugnisse« 419 ff., 477 f. s.a. Daseinsvorsorge Jurisprudenz – Abgrenzung von Sozialwissenschaften 607 ff. – römischrechtliche Grundlagen 607 Juristische Staatslehre 609 f. Länder – Notwendige Neugliederung der L. 305 f., 344 f. – Verlust der Staatlichkeit 217 f., 265 f. Landesexekutive – Fragwürdigkeit des Ressortprinzips 216, 250 f., 265 f. – Wandlung der Landesregierungen zu Verwaltungsbehörden 126, 215, 266 – Zersplitterung der (niedersächsischen) Landesverwaltung 208 f., 251, 267 ff. Landesfinanzen – L. im Bundesstaat 296 ff., 342 ff. – Rückgang der finanziellen Handlungsspielräume 183 ff., 251 f., 286 – Umgehung der verfassungsrechtlichen Verschuldensgrenzen 276 ff. Landesgesetzgebung – inhaltliche Qualität der L. 365 f. – mangelnde parlamentarische Beratung 183, 202 ff. – Rückgang der L. 181 f., 200 ff., 285 f., 319 ff. Landkreise s.a. Regionalkreise – notwendige dualistische Struktur der L. 115, 121 f., 142 f., 143 f. – Notwendigkeit einer Kreisgebietsreform in Niedersachsen 122 f., 143 ff. Landesverfassung – Aufgaben einer L. 237 ff. – Entstehung der NV durch parteipolitischen Kompromiss 244 f., 254 ff. – Ergänzungsfunktion der L. gegenüber GG 219, 238, 247 f. – fehlende Legitimation der NV durch das Volk 248 f., 254 f. – Landesverfassungsbeschwerde 271 f.
623 Landtage – Landtagsfraktionen 178 f., 262 – Landtagspräsident 187 f., 242, 260 – Landtagsverwaltung 188 f. – parlamentarische Kontrolle der L. 185 f., 207 ff., 241 f., 251, 262 f., 299 f. Landtagsabgeordneter – als Ombudsmann 186, 213 – Amtsstellung 367 ff. – Arbeitsbedingungen des L. 177 f. – Diäten des L. 176 f., 211 f., 261 f. – Entwicklung zum Berufsparlamentarier 211 ff. Menschenwürde – Demokratische Teilhabe als Ausdruck der M. 109, 168 f., 288 ff., 336 ff., 511 – M. als »primum principium« für die Legitimation der Staatsgewalt 556 f. Parlamentarisches Regierungssystem – notwendiger Wegfall auf Landesebene 215 f. – parteipolische Gleichschaltung zwischen Parlament und Exekutive durch P. 203 f., 209 f., 221 ff., 286 f. Petitionen auf kommunaler Ebene 39 ff. Plebiszite in den Landesverfassungen 242, 245, 264 f., 363 f., 375 f. Politische Parteien – Auflösung der staatlichen Organisationsstruktur durch die P. 123 ff., 130 ff., 146 ff. – Monopolisierung der staatlichen Willensbildung durch die P. 239, 245, 517 ff. – Rechtsstatus der P. 542 f. – Verfassungsgebung durch P. 245, 254 ff., 278 f. Privatisierung der Verwaltung 268 f., 394 ff., 508 ff. s.a. Beamter, Daseinsvorsorge Ratsherr – Amtsrechtliche Momente in seiner Rechtsstellung 69 ff., 93 f. – Haftung des R. 67 f. – Unterschiede zwischen der Rechtsstel-
624 lung des R. und der des Abgeordneten 69 Recht – methodische Trennung von Staatsfunktion und R. 605 f., 609 – subjektives öffentliches Recht 610 f. Rechtsverhältnis – als Anknüpfungspunkt im Internationalen Privatrecht 602 – im öffentlichen Recht 604 f., 610 Reform des Grundgesetzes – Mentale Voraussetzung für eine R. 527 f. – Reformvorschläge 519 ff. – Verfahrensvoraussetzungen 526 Region/Regionalplanung 122 f., 143 f., 155, 162 f., 167 ff. Regionalkreise 143 ff., 167 Selbstbestimmungsrecht – der Kirchen 458 ff. – der Völker als Rechtfertigung der verfassungsgebenden Gewalt 578 ff. Streikrecht der Dienstnehmer – Ausschluss im kirchlichen Bereich 453 f. – Ausschluss im weltlichen Bereich 480 f., 486
Stichwortverzeichnis
Überstaatlichkeit (Supranationalität) – der EU 572 ff. – historische Beispiele für überstaatliches Recht 569 ff. Verfassungsgebende Gewalt des Volkes 543 ff., 579 ff. Verrechtlichung der Politik 180, 205, 516 f. Volk – »politische Willensbildung des Volkes« 542 f. – Unterscheidung zwischen Gesellschaftsvolk und Gemeinschaftsvolk 370, 536 f. Volkssouveränität nach Habermas – Notwendigkeit einer »Transnationalisierung« der V. 563 ff. – ursprünglich geteilte V. 565 ff. Volkswille – Konkretisierung des V. durch die verfassungsgebende Gewalt des Volkes 543 f. – Konkretisierung des V. durch Gewohnheitsrecht 547 f. – Legitimation des V. nach dem GG 541 ff.