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German Pages [312] Year 1989
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 15
VöR
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte von Georg Kretschmar und Klaus Scholder f
REIHE B: DARSTELLUNGEN
Band 15
Klaus Tanner Die fromme Verstaatlichung des Gewissens
GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT · 1989
Die fromme Verstaatlichung des Gewissens Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre
von Klaus Tanner
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1989
Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Carsten Nicolaisen
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Tanner, Klaus: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens: zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre / von Klaus Tanner. - Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 1989 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 15) Zugl.: München, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-525-55715-9 NE: Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / В © 1989 Vändenhoeck& Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: weckner fotosatz GmbH, Göttingen Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort Einleitung
VII IX
A. VERFASSUNG I. Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
3
1. Der Begriff der Verfassung 2. Der ethische Gehalt des modernen Verfassungsdenkens
3 6
II. Die Weimarer Reichsverfassung 1. Die Verfassung als Kompromiß 2. Die Demokratisierung als Antwort auf die Frage nach nationaler Einheit und gesellschaftlicher Differenzierung 3. Volkssouveränität 4. Der Dualismus von Parlament und Reichspräsident 5. Grundrechte 6. Die Verfassung als Dokument liberalen Denkens
14 16 21 23 26 30
B. DIE DELEGITIMIERUNG DER WEIMARER REICHSVERFASSUNG I. Die Delegitimierung der Weimarer Reichsverfassung in der Staatsrechtslehre
37
1. Krisenbewußtsein in der Staatsrechtslehre 2. Die Ursachen der Krise: Liberalismus und Rationalismus . . . . 3. Parlamentarismus als Inbegriff des Liberalismus und Rationalismus
38 43 51
II. Die Delegitimierung der Weimarer Reichs Verfassung in der protestantischen Theologie
59
1. 2. 3. 4.
60 63 64 68
Theologie als Krisenhermeneutik Die politisch - soziale Dimension der Krise Antiliberale Harmonie als Fundament der Kritik Konturen theologischer Krisendeutung
VI
Inhaltsverzeichnis
5. Die Kritik der politischen Leitvorstellungen der liberalen Demokratie
79
C. DIE SUCHE NACH NEUER VERBINDLICHKEIT I. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre . . Neuaufbruch im Namen der Sittlichkeit Der methodische Neuansatz: die geisteswissenschaftliche Methode Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates Die Verfassung als materiale Wertordnung Die neue Bedeutung der Grundrechte Weltanschauung und Staatsform
II. Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
. .
103 103 107 110 123 134 152 186
1. Zwei Wege zu neuer Verbindlichkeit 2. Die theologische Deutung des Verhältnisses von Religion, Kultur und Staat 3. Gebundene Freiheit - die Mitte deutscher Staatsgesinnung . . . . 4. Die Gemeinschaft im Reiche Gottes als „tragender Grundbegriff christlicher Sozialanschauung" 5. Die Legitimation des Staates durch seine teleologische Beziehung auf das Reich Gottes 6. Der Staat als Wille des Volkes zur Nation 7. Verfassungspolitische Optionen
187
241 244 258
Zusammenfassung: Von der, Wertsubstanz' zu einer Ethik der Rechtsform
263
Literaturverzeichnis
268
Personenregister
284
196 211 232
VORWORT
Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 1987 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Mein besonderer, ganz herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Trutz Rendtorff. Er hat durch fortwährende, vielfältige Anregungen die Entwicklung der Fragestellung gefördert, mich immer wieder ermutigt, an der fächerübergreifenden Perspektive festzuhalten, und das Entstehen der Arbeit mit Umsicht und Geduld begleitet. Als seinem Assistenten stellte er mir auch den äußeren Rahmen zur Verfügung, um an der Thematik arbeiten zu können. Herrn Prof. Dr. Falk Wagner danke ich für die Erstellung des Korreferates, Herrn Prof. Dr. Kurt Sontheimer für ein Drittgutachten. Herrn Dr. Carsten Nicolaisen danke ich für sein Engagement, das, ebenso wie ein weiteres Gutachten von Herrn Prof. Dr. Joachim Mehlhausen, dazu beitrug, daß die Studie in der Reihe der »Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte« erscheinen konnte. Dem Landeskirchenrat der Evang.-Luth. Kirche in Bayern danke ich für die Bereitschaft, mich zur Verfolgung meiner wissenschaftlichen Interessen zu beurlauben. Sehr dankbar bin ich auch für die Zeiten, die ich im Kloster Benediktbeuern als Gast verbringen konnte. Sie ermöglichten mir ein ungestörtes und intensives Arbeiten. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf und Frau Dr. Sieglinde Graf. Auf dem in mancherlei Hinsicht schwierigen Weg zum Abschluß dieser Arbeit haben sie mich auf je ihre Weise als verständnisvolle und hilfreiche Freunde und Gesprächspartner begleitet. München, im Januar 1989
Klaus Tanner
EINLEITUNG
1. Aktuelle politische Auseinandersetzungen im bundesdeutschen Protestantismus der Gegenwart sind in ihrem Kern immer auch Kontroversen über die Legitimität der gegebenen Verfassungsordnung. Hohe moralische Leidenschaft für politisches Engagement sind dabei oft verbunden mit einer Skepsis gegenüber den Konfliktregelungsmechanismen der parlamentarischen Demokratie. Was vordergründig nur Reflex des Zeitgeistes und je aktueller Auseinandersetzungen zu sein scheint, erweist sich jedoch als ein strukturelles Problem im Verhältnis des deutschen Protestantismus zur modernen parlamentarischen Demokratie. Dieses Strukturproblem 1 soll im folgenden präziser erfaßt werden. Da dieses Problem gekennzeichnet ist durch die Wechselwirkung zwischen religiöser Wirklichkeitsdeutung einerseits und politischer Handlungsorientierung andererseits, läßt es sich in rein innertheologischen Bezügen nicht zureichend erfassen. Der inneren Komplexität dieses Problems kann besser dann entsprochen werden, wenn die theologische Wahr1 Es gibt eine Tradition protestantischer Auseinandersetzung mit ,dem Staat', für die signifikant ist, daß sie nur zu einem geringen Maß auf die Strukturprobleme des modernen Verfassungsstaates Bezug nimmt. Solches Staatsdenken dokumentiert sich ζ. B. in dem von H . DOMBOIS und E. WILKENS herausgegebenen Sammelband „Macht und Recht". Einen Überblick von der Reformation bis zu ökumenischen Stellungnahmen aus den sechziger Jahren gibt die kommentierte Textsammlung von M . JACOBS „Die evangelische Staatslehre". Einen an der dogmatischen Begrifflichkeit (christologische Staatsanschauung, der Staat als Schöpfungs-, Erhaltungs-, Notordnung etc.) orientierten Versuch der Herausarbeitung unterschiedlicher Typen des Staatsverständnisses unternimmt M . HONECKER, Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem.
Vgl. außerdem die Darstellung des Staatsdenkens von Barth, Gogarten, Brunner, Althaus, Wiesner, Wünsch bei R . HAUSER, Autorität. Nach Hauser depraviert im evangelischen Staatsdenken die Autorität zur bloßen Macht, da dieses keine dem katholischen Denken vergleichbaren, aus dem Naturecht erwachsenden Kriterien für das Gemeinwohl formulieren könne. Gegenüber der im protestantischen Denken vergleichgültigten Autorität gilt sein Interesse der Bestärkung „echter" Autorität. Einen wichtigen Schritt hinaus über solche allgemeinen Staatsdebatten machte H . ZILLESSEN, Protestantismus. Zilleßen wies auf eine eigentümliche Diskrepanz hin: „Was nämlich die Sozialund Kirchenstruktur angeht, hat der Protestantismus längst erkannt und weiß auch theologisch abzusichern, wieviel von den ,richtigen' Strukturen abhängt" (S. 243). Im Hinblick auf die Bedeutung der politischen Strukturen und Formen könne nur von einer Geringschätzung und Mißachtung von Strukturen, d.h. auch Verfassungsfragen gesprochen werden. „Die Verwirklichung eines ,gottseligen und ehrbaren' Lebens ist nicht allein abhängig vom Stand des Glaubens oder der Bindung an die Kirche sowie an theologische Weisungen ..., sondern in gleichem Maß von den sachlichen, formalen Voraussetzungen, die die Menschen für ihr Leben geschaffen haben. Unter diesem Aspekt erhält die Frage nach der politischen Form ihren theologischen Stellenwert" (S. 245).
χ
Einleitung
nehmung politischer Orientierungsprobleme in eine Beziehung zu jener Rationalität gesetzt wird, die den Funktionsmechanismen des modernen parlamentarischen Verfassungsstaates zu eigen ist. Traditionell wird diese Rationalität primär in der Staatsrechtswissenschaft ausgelegt. Für die vorliegende A r beit ist deshalb eine doppelte Wahrnehmungsperspektive leitend: Die theologische Staatsdiskussion im Protestantismus der Weimarer Republik und die zur gleichen Zeit geführte Debatte in der Staatsrechtslehre sollen so aufeinander bezogen werden, daß eine Erhellung des bezeichneten Problems möglich wird. 2. Helmuth Plessner hat in „Die verspätete Nation", seinem bekannten „Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus" 2 , „Weltferne und Weltfremdheit" mit einer „den Politiker gewähren lassenden Gleichgültigkeit gegen die Welt" als entscheidende Merkmale lutherischer Frömmigkeit bezeichnet. Die Frömmigkeitstradition des Luthertums habe ein „Zurückgezogensein auf die eigene Innerlichkeit und das Leben in Haus und Familie, das ihr höher gilt als alle Formen öffentlichen Tuns"3, und „die politische Resignation des Lutheraners" 4 bewirkt. Diese „religiösen Triebkräfte" 5 waren für Plessner der entscheidende Faktor, der eine „Teilnahme an der Ausbildung des modernen demokratischen Staatsbewußtseins" 6 , wie sie sich in der „westlichen Welt" vollzog, verhinderte. Auch Talcott Parsons hat 1942 das „Grundmuster für die ideologischen Symbole" des deutschen antiwestlichen Staatsdenkens im lutherischen Protestantismus gesucht7. Nation, S . 1 0 . Ebd., S. 68. 4 E b d . , S . 74. 5 Ebd., S. 58. 6 Ebd., S. 63. 7 T. PARSONS, Demokratie, S. 262. Parsons vergleicht im Zusammenhang modernisierungstheoretischer, an Max Webers Analysen anschließenden Grundannahmen die Entwicklung der Sozialstruktur in Deutschland mit der der angelsächsischen Länder. Wichtige Unterschiede lassen sich nach Parsons am Staatsverständnis festmachen. Das Tempo des sozialen Wandels durch Industrialisierung und Urbanisierung, der Rationalisierung des Wissenschaftsprozesses und der bürokratischen Organisation, sowie der Säkularisierung habe das traditionelle Wert- und Symbolsystem der Gesellschaft im 19. Jahrhundert untergraben und zu einer starken Polarisierung und Desorientierung geführt. Zu den Reaktionen auf diesen Prozeß gehörte „die Herausbildung von Wunschmustern und idealisierten Hoffnungen, die sich auf Grund der herrschenden institutionellen Muster und den durch sie geschaffenen Institutionen nicht verwirklichen lassen. Er ergibt sich daher die Tendenz, aus der unmittelbaren sozialen Situation in eine Art,idealer Lebens- oder Existenzform' zu projizieren" (S. 276). Diese Reaktion habe den „Romantizismus" in den deutschen Bildungseliten verstärkt, der seinerseits half, dem Nationalsozialismus den Weg zu ebnen. „Der Nationalsozialismus verkörpert den .fundamentalistischen' Aufstand gegen die rationalistischen Tendenzen in der westlichen Welt insgesamt und zugleich gegen ihre tiefsten institutionellen Garantien." Dieser Zusammenhang zwischen der Dynamik modern-gesellschaftlichen Wandels und romantisierenden 2
3
H . PLESSNER,
Einleitung
XI
Urteile dieser Art prägen das Bild der politischen Grundorientierung des deutschen Luthertums bis in die unmittelbare Gegenwart. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, in einer 1981 erschienenen Analyse der „politischen Kultur" der Bundesrepublik das lutherische Denken eingereiht in die „Grundlagen antidemokratischer Traditionen". Denn es habe eine Mentalität der Obrigkeitshörigkeit und des Quietismus, der kritiklosen Anpassung an gegebene Verhältnisse befördert, damit aber den Prozeß der Demokratisierung in Deutschland behindert 8 . Innerhalb der protestantischen Theologie ist diese kritische Deutung lutherischer Frömmigkeit vor allem in den Auseinandersetzungen um die sog. ,Zwei-Reiche-Lehre' des Neuluthertums aufgenommen worden. ,Zwei-Reiche-Lehre' gilt dabei gleichsam als die theoretische Abbreviatur dieser quietistischen Mentalität. „Preisgabe des Politischen an die Dämonien..., Rückzug in den Bereich eines apolitischen Daseins der reinen Innerlichkeit und Weitabgewandtheit als Ausweichen vor gebotenen Entscheidungen" wurden bei Ernst Wolf 9 zum „Erbe" Luthers gerechnet. Auf dem Hintergrund jener Kritik des deutschen Luthertums, wie sie im Schülerkreis Karl Barths gepflegt wurde, behauptete Wolfgang Huber für die „Zeit zwischen dem ersten Weltkrieg und den ausgehenden sechziger Jahren" die Konstanz eines dualistischen Grundmusters im Hinblick auf das Verhältnis von Ethik und Politik bei den Vertretern der sog. ,Zwei-Reiche-Lehre'. Dieser Dualismus sei ausformuliert in der These „von der Eigengesetzlichkeit der natürlichen Ordnungen, in die der Christ sich zu ergeben und für deren Bewahrung - oder auch prinzipielle Unveränderlichkeit" 10 die Kirche einzutreten habe. Für Hans Georg Geyer liegt das sozialethische Grundprinzip des Luthertums im „negativen Formalprinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs" n und für Ulrich Duchrow wirkte solch eine Zwei-Reiche-Lehre oft nur als konfliktverdrängende Anpassungsideologie 12 . Trutz Rendtorff hat darauf hingewiesen, was jenseits aller historischen Detailforschung zur Geschichte der sog. ,Zwei-Reiche-Lehre' das hintergründige Thema in allen diesen theologischen Kontroversen ist. In ihnen geht es Bewegungen ist nach Parsons nichts historisch Einmaliges: „Das Vorhandensein solcher romantischen Elemente ist der Natur der modernen Gesellschaften inhärent" (S. 281). Vgl. auch R. DAHRENDORF, Demokratie. 8 P. REICHEL,Politische Kultur, S. 68. Zur Diskussion um den Begriff der „Politischen Kultur", sowie zum Uberblick über neuere Literatur zur Erforschung der Weimarer Republik vgl. K. MEGERLE und P. STEINBACH, Politische Kultur. 9
E. WOLF, Selbstkritik, S. 102.
W. HUBER, Barmer Theologische Erklärung, S. 36. Zur neueren Diskussion um die sog. ,Zwei-Reiche-Lehre' vgl. vor allem die Beiträge in N . HASSELMANN (Hg.), Gottes Wirken; K . N O W A K , Zweireichelehre. 10
11
H . G . GEYER, E r w ä g u n g e n , S. 176.
12
U.
DUCHROW,
Nachwort.
XII
Einleitung
um die Verarbeitung der Ausdifferenziertheit der modernen Lebenswelt und die Schwierigkeit, sie als Einheit begreifen bzw. in ihr eine Identität ausbilden zu können 13 . Das erste wichtige Ergebnis im Zuge dieses Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesses ist die Herausbildung der Idee des modernen Staates. In ihr manifestiert sich die Auflösung einer religiös-politischen Einheitskultur. Deshalb konzentrieren sich die Auseinandersetzungen um die sog. ,Zwei-Reiche-Lehre' immer wieder um Fragen des politischen und ökonomischen Handelns, denn dies sind jene Bereiche, in denen zuerst im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Lebenswelt selbständige Funktionsmechanismen und Rationalitätsstandards ausgebildet wurden. Diese Entwicklung stellt einen Sachverhalt dar, der die Aufgabe von Theologie und Kirche zutiefst veränderte. Denn aus deren Perspektive konnte dieser Prozeß nur als Partikularisierung gedeutet werden, weil er de facto die Reichweite und die Einflußmöglichkeiten theologisch-ethisch begründeter Handlungsmöglichkeiten einschränkte. Außerdem implizierte dieser Prozeß für die Theologie eine Herausforderung zur Veränderung ihrer Arbeitsweise. Da sich für die ausdifferenzierten Phänomenbereiche von Kirche und Theologie unabhängige Raster zur Problemwahrnehmung und -bearbeitung herausbildeten, wie z.B. eine selbständige Staatslehre, steht die theologische Urteilsbildung vor der Aufgabe, sich konstruktiv auf diese neuen Theorien zu beziehen 14 . Zur Geschichte der dadurch provozierten Veränderungen gehören auch die bis in die jüngste Gegenwart hineinreichenden sozialethischen Debatten um die sog. ,Zwei-Reiche-Lehre', insofern diese immer wieder kreisen um die Frage der Verhältnisbestimmung von staatlicher Machtausübung und politischem Handeln zu theologisch-ethischen Normativitätsansprüchen. Nach dem Urteil der Kritiker wurde diese lutherische ,Lehre', ganz auf der Interpretationslinie Plessners, zunehmend „mißbraucht ... als Ideologie zur schweigenden oder ausdrücklichen Legitimation bestehender selbst ungerechter Verhältnisse"15. Das Problem der Verhältnisbestimmung von ausdifferenzierten Rationalitätsstandards und unterschiedlichen Traditionen der Urteilsbildung verdichtet sich für die Theologie im Hinblick auf die moderne Staatstheorie und die von ihr her strukturierte politische Praxis immer wieder in der Frage nach der Legitimität politischer Machtausübung. Die unter Berufung auf die ZweiVgl. dazuT. RENDTORFF, Zweireichelehre. Die Bedeutung der dadurch sich vollziehenden Veränderungen läßt sich illustrieren an E . HIRSCHS nach wie vor nicht überholtem Standardwerk zur Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Sie setzt ein mit den „neuen Gedanken über den Staat und sein Verhältnis zur Kirche", denn mit der neuen politischen Philosophie des Naturrechts im 17. Jahrhundert vollziehe sich zum ersten Mal die „Herauslösung eines großen und entscheidenden menschlichen Lebensgebietes aus der Herrschaft sowohl des tatsächlich geschichtlich Gegebenen, wie der biblisch-dogmatischen Vormundschaft" (E. HIRSCH, Geschichte, S. 22). 13 14
15
U . DUCHROW u n d W . H U B E R , E i n l e i t u n g , S . 7.
Einleitung
XIII
Reiche-Lehre ausgetragenen Konflikte können daher „durchweg (als) Konflikte mit der politischen Macht" interpretiert werden. „Zur Diskussion steht dabei das Problem der Legitimität staatlicher Machtausübung bei einzelnen Maßnahmen oder der Legitimität staatlicher Autorität überhaupt" 16 . Die Frage nach der Legitimität verweist auch aus der Perspektive der modernen Staatstheorie zurück auf die „Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung, ihre , Verweltlichung' im Sinne des Heraustretens aus einer vorgegebenen religiöspolitischen Einheitswelt zu eigener, weltlich konzipierter (»politischer') Zielsetzung und Legitimation"17. Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde läßt sich ohne Wissen um diese Herkunft der moderne Staat „nicht verstehen und lassen sich die fundamentalen politischen Ordnungsprobleme, die sich im Staat der Gegenwart stellen, nicht begreifen" 18 . Mit diesem Prozeß der Verselbständigung und Ausdifferenzierung radikalisiert sich die Frage danach, wie sich der Staat als politische Ordnungsform legitimiert, denn die Trennung von Religion und politischem Gemeinwesen machte dessen „unmittelbar metaphysische Begründung" unmöglich und setzte es „der Zugluft einer ständig neu geforderten rationalen Legitimation aus" 19 . 3. Das Problem der Legitimität, das historisch wie systematisch einen wichtigen Schnittpunkt darstellt zwischen der modernen Staatstheorie und den theologischen Bemühungen um ein solches Staatsverständnis, läßt sich in mehrere Aspekte differenzieren. Zunächst kehrt in der Frage nach der Legitimität die alte Frage nach den Staatszwecken wieder als den möglichen Rechtfertigungsgründen für die Anerkennung einer staatlichen Ordnung. Die Legitimation der staatlichen Ordnung erfolgt dadurch, daß sie ein ,gutes' Leben, Gerechtigkeit und Frieden ermöglicht 20 . Eine spezifisch moderne Signa16
M . HONECKER, T h e s e n , S. 134.
17
E . - W . BÖCKENFÖRDE, E n t s t e h u n g , S. 4 3 .
Ebd. C . LINK, Herrschaftsordnung, S. 263. Link macht noch auf einen anderen Aspekt des obrigkeitsstaatlichen Denkens im Luthertum aufmerksam, der häufig über der Kritik vergessen wird. Er zeigt die Bedeutung des Luthertums für die Entwicklung des Sozialstaatsgedankens auf: „Es ist der Gedanke des Wohlfahrtsstaates, der sich so vornehmlich in der deutschen Staatslehre ausbildet und hier eine immer reichere Durchbildung erfährt. Sieht man von Althusius ab, so ist es kein Zufall, daß es vor allem die Lutheraner sind, die diesem Prinzip am beredesten ihre Feder leihen. Hatte doch gerade die patriarchalische Sozialethik des lutherischen Fürstenstaats - verkörpert in Gestalten wie Reinkingk und Seckendorff - die Fundamente gelegt. Ihr Erbe traten dann die Aufklärer an, ohne ihre geistige Herkunft zu verleugnen. Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, daß die Idee einer umfassenden Daseinsvorsorge als öffendiche Aufgabe den eigentlichen Beitrag des Luthertums zur modernen Staatsidee bildet" (S. 138). 18
19
20
Vgl. zu den Zwecktheorien in der Staatslehre den Überblick von H. v. FRISCH, Aufgaben; U.
SCHEUNER, Staatszwecke.
XIV
Einleitung
tur hat hingegen die im Gefolge des Ausdifferenzierungsprozesses sich verschärfende Frage danach, welches Maß an Homogenität in der Gruppe von Menschen gegeben sein muß, damit die Aufgaben, die an ,den Staat', das politische System, delegiert wurden, effektiv erfüllt werden können. Die Frage nach der Legitimität beinhaltet die Frage danach, „was den Staat im Innersten zusammenhält" 21 . Dieses Integrationsproblem radikalisierte sich im Zuge der in der modernen Staats- und Verfassungstheorie sich durchsetzenden Anerkennung der Rechte des einzelnen Bürgers im Rahmen der politischen Ordnung sowie der Unterschiedenheit von Staat und Gesellschaft, bzw. der Herausbildung einer freien Öffentlichkeit. Die moderne Staatstheorie muß sich auseinandersetzen mit der Frage: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell sein kann?" 22 Mit der Frage nach der inneren Verpflichtungskraft einer modernen politischen Ordnung ist eine weitere zentrale Frage der Staatslehre eng verknüpft, die nach der Souveränität: „Die Legitimitätsfrage ist die Innenseite der Souveränitätsfrage"23, denn die Durchsetzungskraft und die Formen, in denen staatliche Macht ausgeübt werden kann, stehen in engem Zusammenhang mit der Anerkennung und Geltung, die eine von der Zustimmung ihrer Bürger sich nicht abkoppelnde politische Ordnung innerhalb eines Gemeinwesens hat. Die Frage nach der Souveränität ist die Frage danach, welches politische Subjekt in der Lage ist, die Homogenität,herzustellen', die für die Erhaltung des Bestandes und der Handlungsfähigkeit einer politischen Ordnung notwendig ist 24 . Die Rationalisierung staatlicher Machtausübung durch deren 21 T. WÜRTENBERGER, Legitimität, S. 301. Nach Würtenberger fällt bei einer historischen Betrachtung des Legitimationsproblems, wie er sie vornimmt, auf, daß Auseinandersetzungen um die Legitimität einer politischen Ordnung häufig der Indikator für ein Krise ihrer Geltung sind (S. 21 f.). W. HENNIS, Legitimität: „Für ein gegebenes politisches System die Legitimitätsfrage aufwerfen, heißt seine Existenzberechtigung in Frage stellen" (S. 12). Dieses Diktum kann allerdings auch als moralisches Verdikt über jegliche Form der Bestreitung von Geltungsansprüchen eines politischen Systems fungieren. Vgl. außerdem die Beiträge in N . ACHTERBERG und W. KRAWIETZ, Legitimation. Zum Stand der Diskussion merkt N . Achterberg an: „Ehedem gemachte Rechtfertigungsvorschläge theologischer oder profaner Natur haben weithin ihre Überzeugungskraft verloren ... Aber auch moderne Lösungsvorschläge erfreuen sich keineswegs allgemeiner Zustimmung" (S. VII). Bei allen Unterschieden im einzelnen, vor allem in der Frage nach dem Verhältnis von Legalität und Legitimität, besteht jedoch außerhalb des theologisch-ethischen Diskurses Einigkeit darüber, daß die Legitimität staatlicher Herrschaft in einem engen Zusammenhang mit der formalen Rationalität des modernen Rechts- und Verfassungsdenkens steht. 22
E . - W . BÖCKENFÖRDE, E n t s t e h u n g , S. 5 9 .
23
M . KRIELE, Einführung, S. 19.
24 Vgl. auch: О . H . v. D. GABLENTZ, Autorität. Wird dieses Subjekt, gegenüber der Volkssouveränität des modernen Verfassungsstaates als ,vorgegebener Staat' hypostasiert, widerspricht das nach v. d. Gablentz dessen eigener Rationalität. Es gebe in der modernen Demokratie nicht
Einleitung
XV
Bindung an Gesetze und Verfahrensregeln, die in einer Verfassung festgeschrieben sind, führte zunächst dazu, die Souveränität der Staatsmacht zu begrenzen. Damit wurde die Legitimitätsfrage zugleich zum neuralgischen Punkt für einen Staat, der die Freiheit seiner Bürger achtet. Denn dieser Staat ist einerseits auf deren freie Zustimmung angewiesen, kann diese andererseits aber nicht, ohne daß er sein eigenes Grundprinzip zerstört, durch Machtanwendung erzwingen. Er ist angewiesen auf Personen, Gruppen, Verbände in der Gesellschaft, die eigenständig immer wieder neu jene Anerkennung als Grundlage verantwortlicher Mitarbeit erzeugen. Der moderne Staat lebt somit von einer Homogenität der Gesellschaft und einem moralischen Willen des einzelnen, die er selbst nicht erzwingen kann. „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist" 2 5 . 4. Dieses ,Wagnis um der Freiheit willen' wird in Deutschland eine politische Realität mit der „Weimarer Reichsverfassung" vom 11. August 1919. Auch wenn die neuere Geschichtswissenschaft gezeigt hat, daß trotz der Revolution von 1918/19 zwischen Kaiserreich und Republik gesellschaftliche und mentale Kontinuitäten bestehen, so markiert die neue Verfassung doch auf der Ebene des politisch-rechtlichen Systems einen tiefgreifenden Einschnitt. Ernst Forsthoff behauptete, diese Verfassung stehe am Ende „eines Zeitalters und des Anbruchs einer neuen Epoche" 2 6 . Dieses pathetische U r mehr ,den Staat' als „die große objektive Käseglocke über dem Gewimmel subjektiver Interessen" (S. 88), damit auch kein stabiles, bestenfalls noch ein „labiles Gleichgewicht auf der Basis von Volkswahlen" (S. 95). „Die ernstgenommene Volkssouveränität hebt die Souveränität des Staatsapparates im Innern auf ... Der demokratische Verfassungsstaat von heute ist also ein nichtsouveräner Staat; wenn man die Staatlichkeit in die Souveränität setzt, ist er ein Staat ohne Staatlichkeit" (S. 97). Es gebe keine „institutionelle Sicherung des politischen Gemeinwesens..., wenn man das Risiko der verantwortlichen Freiheit der Person einmal eingeht. Dieses Risiko aber müssen wir eingehen, wenn wir die Begriffe der Demokratie und des Rechtsstaates ernst nehmen" (S. 99). 25 E. W. BÖCKENFÖRDE, Entstehung, S. 60.Vgl. die von H . SCHMIDT in der Grundwertedebatte vertretene Position: „Der demokratische Staat hat die Werthaltungen und sittlichen Grundhaltungen nicht geschaffen. Er findet sie vielmehr in den einzelnen und in der Gesellschaft vor und muß bei seinem Handeln dort anknüpfen. Das heißt, der freiheitliche Staat, der weltanschaulich neutrale Staat, der demokratische Staat lebt von ihm vorgegebenen Werten und Haltungen ... Nach unserem Grundgesetz liegt die Verantwortung für Grundwerte - das heißt für lebendige, gelebte sittliche Grundauffassungen - bei der Person, bei Gemeinschaften von Personen, bei Gruppen also innerhalb der Gesellschaft... der Staat ist insofern darauf angewiesen, daß die gesellschaftlichen Kräfte innerhalb des vom Staat garantierten Freiheitsraumes tatsächlich tätig sind" (Ethos, S. 20). 2 6 Ε . FORSTHOFF, Verfassungsgeschichte, S. 185. Forsthoff legt diesen Umbruch in einer spezifischen, an C . Schmitt sich anlehnenden Weise aus - eine Interpretation, die noch Gegenstand der Darstellung sein wird. Für Forsthoff ging „mit dem ersten Weltkrieg die Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft zu Ende ... die Ordnung der Gesellschaft wurde vom Staat abhängig, der
XVI
Einleitung
teil ist zumindest insoweit zutreffend, als mit dieser Verfassung die erste parlamentarische Demokratie für das ganze Reich errichtet und damit Grundelemente des modernen Staatsdenkens eine das gesamte Gemeinwesen bestimmende Realität wurden. Mit ihr wurden liberale Forderungen des 19. Jahrhunderts erfüllt, wie die nach einer effektiven Kontrolle der Exekutive durch das Parlament oder die Kodifizierung von Grundrechten. Das Proletariat wurde als wichtige politische Kraft anerkannt und das vor allem von der politischen Arbeiterbewegung geforderte allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt. Mit dieser Verfassung wird zugleich eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche vollzogen, denn sie beinhaltet die Auflösung des überkommenen Staatskirchentums. Nach Artikel 137 gilt: „Es besteht keine Staatskirche". Die mit dieser Verfassung vollzogene Entkoppelung von „Thron und Altar" 27 , von religiösen Legitimationsmustern und staatlicher Macht, wie sie im Gedanken der „Obrigkeit von Gottes Gnaden" formuliert war und in der Monarchie konkrete Gestalt gewonnen hatte, wird vor allem im deutschen Protestantismus als massiver Einflußverlust und bedrohliche Auflösung der sittlichen Grundlagen der Gesamtkultur verstanden. Dementsprechend ist die kirchliche und theologische Wahrnehmung der Zeit nach 1918/19 auf den Grundton von „Krise" und „Zusammenbruch" gestimmt 28 . In der Tat war der deutsche Protestantismus zunächst in besonderer Weise von dem politischen Strukturwandel betroffen aufgrund seiner engen Bindung an die Machteliten des alten Obrigkeitsstaates, seiner Distanz zur die Republik wesentlich mittragenden Sozialdemokratie sowie der mit der Verfassung vollzogenen Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Er stand vor der Aufgabe, nach der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments ein neues Kirchenverständnis zu erarbeiten. Diese Aufgabe hatte jedoch Implikationen, die weit über bloß kirchenspezifische Fragestellungen hinausgingen. Diese Neuorientierung mußte, sollte sie eine angemessene Erfassung der Aufgabe der Kirche unter den neuen politischen Rahmenbedingungen ermöglichen, zugleich die Ausarbeitung eines sachgerechten Verständnisses des neuen politischen Systems, der parlamentarischen Demokratie, beinhalten. Als Teil dieses Systems konnte sie nicht mehr länger, wie unter dem Bündnis von Thron und Altar, die Fiktion aufrechterhalten, privilegierten Zugang zu den Schaltstellen politischer Machtausübung zu haben. Die Kirche war aufgefordert, ihre politische Einflußnahme an die für alle Interessengruppen geltenden, in der Verfassung niedergelegten Grundregeln allenthalben sanierend und schützend eingreifen mußte, um den Prozeß der Wirtschaft leidlich in Gang zu halten. Damit mußte der Drang der Wirtschaft nach Einflußname auf den Staat erWi '..sen ... Damit entstand eine neuartige Gefährdung des Staates. Ihm drohte die pluralistische Auflösung durch die organisierten gesellschaftlichen Kräfte" (S. 185). 2 7 Vgl. den Überblick von J. JACKE, Kirche, S. 15 f. 28
V g l . G . MEHNERT, K i r c h e ; K . NOWAK, K i r c h e .
Einleitung
XVII
demokratischer Meinungsbildung und Machtausübung zu binden. Vor diese Aufgabe, die Anerkennung der parlamentarischen Demokratie in das jeweils eigene Selbstverständnis zu übernehmen und der Berücksichtigung der sich daraus ergebenden Konsequenzen für das politische Handeln, auch wenn es sich als Kritik dieses politischen Systems betätigte, waren nach 1919 alle gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen gestellt. 5. Die mit der Verfassung etablierte neue politische Ordnung wurde zu einem Katalysator für eine Grundsatzdiskussion um politische Leitvorstellungen und die Konturen einer Ethik des Politischen unter den Rahmenbedingungen eines demokratischen politischen Systems. Diese Diskussion bündelte sich für die Theologie signifikanterweise nicht in Leitbegriffen wie „Demokratie" oder „Gesellschaft", sondern in Auseinandersetzungen um das „Staatsverständnis" . Der damals junge lutherische Theologe Emanuel Hirsch urteilte 1920 in seiner Schrift „Deutschlands Schicksal": „Alle Streitfragen der Gegenwart haben in ihrem Kern eine Beziehung auf unsere rechtliche und staatliche Ordnung". In der „Krise des Staatsbegriffs" spiegle sich die „entscheidende Krisis der modernen Kultur" 2 9 . Auch für einen älteren Repräsentanten der sog. liberalen Theologie, Horst Stephan, läßt sich in seinem 1925 vor der Generalversammlung des Evangelischen Bundes gehaltenen Referat „Reformation und Staat" der „Bruch und (die) Erschütterung", charakteristische Merkmale der „Stimmung der Zeit" 3 0 , am deutlichsten vernehmen in den Auseinandersetzungen um das Staatsverständnis. Stephan vermutet hinter den Krisenphänomenen den Prozeß der „Selbstzerstörung unserer modernen Kultur" 31 . Von dieser Entwicklung sieht er den Protestantismus besonders betroffen. „Denn keine Art der Frömmigkeit war so innig mit der Kultur der vergangenen Jahrhunderte verbunden, wie die protestantische, und so spürt sie deren Erschütterung bis ins innerste Wesen hinein." Gerade die protestantische Frömmigkeit war eine enge Verbindung „mit den praktischen Mächten der modernen Kultur, also auf dem Gebiet der Ethik" eingegangen. „Und hier steht an erster Stelle die Verbindung mit dem Staat... darum ist das der Punkt, an dem die allgemeine Erschütterung am stärksten in das Leben des evangelischen Christentums eingreift" 32 . Die bei Hirsch und Stephan erkennbare Tendenz, Globaldeutungen des Zustandes „der modernen Kultur" im Medium einer „Staatsdiskussion" zu vollziehen, wird bei Heinz-Dietrich Wendland 1934 in seiner Analyse dieser Diskussionen ausdrücklich als eines ihrer signifikanten Merkmale herausgestellt: „Es ist das Problem der Zeit- und Gegenwartsdeutung überhaupt" 3 3 , das sich in den Fragen nach dem „Staat" stellt. 29
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 64.
30
H . STEPHAN, R e f o r m a t i o n , S. 3.
31
Ebd. Ebd.
32 33
H . - D . WENDLAND, S t a a t s p r o b l e m , S. 4.
XVIII
Einleitung
Die Fixierung auf den Staatsbegriff als dem entscheidenden Indikator für kulturelle Veränderungen, insbesondere für die Krisenerfahrungen der Weimarer Zeit und deren enge Zusammenschau mit einer Krise des Protestantismus, ist jedoch keinesfalls ein theologisches Spezialthema. Der Historiker Otto Westphal stellte im Rückblick auf die Revolution von 1918/19 fest: Was sich dort vollzog, „war nicht zuletzt der Zusammenbruch der preußisch-protestantischen aufgeklärten Welt, die sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu europäischer Bedeutung erhoben und 1871 auf den Mittelpunkt des Staatssystems gebildet hatte, und zwar die Auflösung der Grundbegriffe, welche in der Geschichte dieser Welt zu eigentümlicher Entwicklung gebracht worden waren: Wissenschaft und Staat. Miteinander sind der preußisch-deutsche Staatsgedanke und der protestantische Wissenschaftsgedanke zurückgedrängt worden" 3 4 . Der liberal-protestantische Kirchenhistoriker Walther Köhler sprach von einer „weltgeschichtlichen Bedeutung" der Reformation, die sich am deutlichsten ablesen lasse am „deutschen Staatsbewußtsein". Es sei „in seinem Unterschiede von dem englischen oder französischen maßgeblich durch Luther bestimmt". Die Ablehnung der Demokratie sah er begründet in dieser lutherischen Prägung des deutschen politischen Denkens: Die Uberzeugung, ein „guter Lutheraner" sei „kein Demokrat" 3 5 , sei in den lutherischen Kirchen weit verbreitet. Köhler, der sich selbst der kritischen Sicht des Luthertums von Ernst Troeltsch verpflichtet wußte 36 , sah im Luthertum eine antidemokratische Kraft, die sich auch im Hinblick auf die Weimarer Demokratie delegitimierend ausgewirkt hatte. Die Profilierung einer eigenen „deutschen Staatsidee", zu deren Fundamenten das lutherische Denken gehört, war die Aufgabe, in der die Opposition gegen Weimar ihr gemeinsames Thema fand. So arbeiteten in der 1921 gegründeten „Gesellschaft Deutscher Staat" Professoren der unterschiedlichsten Disziplinen zusammen, publizierten im Lauf von 10 Jahren circa 90 Schriften zur „politischen Bildung" und führten „Forschertagungen" durch mit dem erklärten Ziel, die Grundlinien einer „systematischen Staatslehre deutscher A r t " zu entwickeln, deren entscheidende Grundlage im „Gebiet des Gottesglaubens" 3 7 gesehen wurde. Und es waren lutherische Theologen wie Paul Althaus mit seiner Schrift „Staatsgedanke und Reich Gottes" oder Emanuel Hirsch mit seiner Publikation „Die Liebe zum Vaterland", die im Rahmen dieser Gesellschaft als Sachwalter des „Gottesglaubens" bei der Formulierung einer „deutschen Staatsidee" in Erscheinung traten. Insbesondere bei Historikern und Staatsrechtslehrern läßt sich eine weitgehende Ubereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung des Luthertums für eine spezifisch „deutsche Staatsidee" 3 8 nachweisen. 34
O . WESTPHAL, Feinde Bismarcks, S. 38/39.
" W . K Ö H L E R , Luther, S. 126.
E b d . , S. 131. Grundlinien deutscher Staatsauffassung, S. 25. 38 B. FAULENBACH, Ideologie, S. 125 f. und 257; K . SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, S . 141 f., 1 9 8 . 36 37
Einleitung
IXX
Diese Profilierang einer „deutschen Staatsidee" als Alternative zu den „westlichen" Demokratievorstellungen läßt sich einordnen in den Gesamtzusammenhang jener Versuche, eine „Ideologie des deutschen Weges" als Legitimationsgrand für ein sich von den „westlichen" Demokratien unterscheidendes politisches System zu entwerfen39. Der über die „Ideen von 1914" konstruierte außenpolitische Gegensatz verlagerte sich in die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Schon 1922 urteilte Ernst Troeltsch: „Die Kampfparolen, die im Weltkrieg die Völkermassen spalteten, sind heute in unsere eigene Mitte übertragen" Die in dem bezeichneten Kontext entwickelten Staatsvorstellungen „bilden den eigentlichen Hintergrund für die antidemokratische Kritik"41 und sind somit ein Faktor in jenem Prozeß, der schließlich in Terror, Bürgerkrieg und einem politischen System endete, für das die politischen Ideale des aufgeklärten Bürgertums bestenfalls noch Gegenstand von Polemik waren. Die Geschichte dieses Wagnisses „um der Freiheit willen" ist die Geschichte seines Scheiterns, und alle Auseinandersetzungen mit dieser Zeit sind mitbestimmt durch das Bemühen, die Ursachen dieses Scheiterns zu erhellen. Die Zahl der Belastungsfaktoren für diese Republik war groß - ein verlorener Krieg, eine Revolution an ihrem Beginn, Versailles, Wirtschaftskrisen, Schwächen der Verfassungskonstruktion, Unfähigkeit der politischen Parteien und freien Verbände, ihrer Aufgabe gerecht zu werden42. All dies wirkte zusammen, sodaß die Zeitgenossen dem politischen System von Weimar zunehmend ihre Anerkennung verweigerten. Es gelang in dieser Republik nicht, ein Staats- und Verfassungsbewußtsein auf breiter Front zu wecken, das diese parlamentarische Demokratie als taugliches Instrument zur Krisenbewältigung angesehen hätte. Rudolf Smend sah deshalb in der Geschichte der Weimarer Reichsverfassung „vor allem die Geschichte eines Kampfes um ihre Legitimität"43. Hinsichtlich dieses Kampfes um die Legitimität hatte Smend selbst 1932 hohe Erwartungen an den deutschen Protestantismus ausgesprochen. Er erwartete von ihm einen entscheidenden Beitrag zur inneren Aneignung der Demokratie, zur Begründung ihrer Legitimität. Im deutschen Protestantismus sah er 1931 die „geistige Macht in Deutschland", die zur „Uberwindung der Kultur- und Staatskrise" in der Lage ist und von der die Demokratie „mehr zu hoffen (hat) als von irgend einer der Mächte, auf die sie heute als ihre eigentlichen Stützen und Bundesgenossen zu zählen pflegt" 44 . Daß diese „notwendige, endgültige tiefere Fundamentierung" 45 nicht gelang, dazu haben ohne Zweifel protestantische Theologen ihren Bei39
Vgl. zur Sonderwegsdiskussion B. FAULENBACH, Ideologie. E. TROELTSCH, Naturrecht, S. 5. Zu den „Ideen von 1914" H . LÜBBE, Polit. Philosophie, S. 171 f. 41 K. SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, S. 142. 42 Vgl. den Überblick von H . SCHULZE, Scheitern. 40
43
44 45
R . SMEND, B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t , S. 584. R . SMEND, P r o t e s t a n t i s m u s , S. 308. R . SMEND, B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t , S. 585.
Einleitung
X X
trag geleistet. Deshalb forderte Karl Dietrich Erdmann schon 1955, in den «Anfängen der Erforschung der Weimarer Republik, dem „Verhältnis beider Konfessionen zur Demokratie und damit ihr(em) Beitrag zum republikanischen Staatsbewußtsein" besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die „besondere Bedeutung" dieser Frage sah er darin, daß die Kirchen „Integrationspunkte sind oder sein wollen, auf die hin sich soziale und politische Gegensätze zusammenzuordnen vermögen" 46 . Welche theoretische Bearbeitung hat das aus einem freiheitlich-demokratischen politischen System sich ergebende Problem der Legitimation und Integration in der lutherischen Staatsdebatte erfahren? Die Antwort auf diese Frage ist weder von nur theologieinternem noch von bloß historischem Interesse. Denn Weimar gilt als das Paradigma des Scheiterns eines freiheitlichen Rechtsstaates im 2o. Jahrhundert 47 . Es ist ein Musterfall des „ideologisch-historisch begründeten Dauerkonfliktes zwischen demokratischen, autoritären und totalitären Regimen, zwischen liberalem, konservativem und revolutionärem Politikverständnis ... Eine Problematik, die in die Glaubens- und Revolutionskriege der frühen Neuzeit zurückverweist, ist hier in ein neues Stadium getreten" 48 . Wie haben sich lutherische Theologen der zwanziger Jahre zu den weltanschaulichen Konflikten ihrer Zeit verhalten? Mit welchen Argumentationsmustern haben Universitätstheologen als Gelehrtenpolitiker 49 und ,Mandarine' 50 kulturpolitisch Einfluß genommen? Haben sie gesellschaftliche Antagonismen dramatisiert und politische Gegensätze verschärft? Oder haben sie ganz im Gegenteil einen konstruktiven Beitrag zur Akzeptanz der neuen politischen Ordnung geleistet? 6. Da wesentliche Elemente der Kritik an der parlamentarischen Demokratie immer wieder über den Rückgriff auf die Tradition lutherischen Denkens formuliert und legitimiert wurden, erscheint eine Konzentration der Analyse des Staatsverständnisses von Theologen auf bewußt sich in diese Tradition stellende Fachvertreter sinnvoll. Um den politischen Kontext dieser Kritik nicht nur aus einer rein innertheologischen Perspektive zu betrachten und vor allem um einer präziseren Erfassung der Sachprobleme willen, legt es sich methodisch wie sachlich nahe, die staatsrechtliche Diskussion der Zeit als eine bestimmte, schon begrifflich reflektierte Wahrnehmung des politischen Kontextes miteinzubeziehen. Die staatsrechtliche Diskussion hat ihren konkreten Bezugspunkt in den Staatsverfassungen, in denen sich unter neuzeitlichen Bedingungen die FraK. D. ERDMANN, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, S. 9. M. STÜRMER, Weimar, S . 29. 48 K. D. BRACHER, Krise, S. 11. 49 Zur Gelehrtenpolitik vgl. G. SCHMIDT und J. RÜSEN (Hg.), Gelehrtenpolitik. Außerdem den kritischen Literaturüberblick von B. VOM BROCKE, Die Gelehrten. 46 47
50
F. K . RINGER, D i e G e l e h r t e n .
Einleitung
XXI
gen nach der inneren Rationalität politischer Herrschaft, ihrer Zweckbestimmung und Legitimität sowie nach dem Souverän konzentrieren. Es ist daher sachgemäß, den Ausgangspunkt der Darstellung bei der Weimarer Reichsverfassung zu nehmen, um einen Orientierungsrahmen zu gewinnen für die Bestimmung der politischen Grundfragen und Sachprobleme, die auch die theologischen Debatten im deutschen Protestantismus der Weimarer Republik strukturierten. In diesem Vorgehen ist die These impliziert, daß die Erörterung von Fragen einer politischen Ethik, die sich nicht an den mittels einer Verfassung festgelegten Regeln und politischen Strukturen orientiert, entscheidende Sachprobleme nur schwer angemessen erfassen kann, denn eine Verfassung kann im Rahmen eines modernen politischen Systems als der „hervorragendste Ausdruck einer Rechtskultur einer Gesellschaft" 51 gelten. Insofern müssen sich auch in Relation zu ihr relevante ethische Grundfragen bestimmen lassen. Mit diesem Ausgangspunkt bei der Weimarer Reichsverfassung wird zugleich eine Perspektive eingenommen, die im Weg des deutschen Protestantismus in diesen Jahren nicht nur eine „Vorgeschichte" (Klaus Scholder) des Nationalsozialismus oder „Prolegomena zum Kirchenkampf" 52 erblickt, sondern eine Herausforderung für Theologie und Kirche, auf der Grundlage einer ausdrücklichen rechtlichen Anerkennung ihrer Eigenständigkeit einen konstruktiven Beitrag zum Bestand eines demokratischen Gemeinwesens zu leisten. Das Vorgehen, den Ausgangspunkt bei der Weimarer Verfassung zu wählen, impliziert die Schwierigkeit, daß der Verfassungsbegriff selbst verschiedener Auslegungen fähig ist. Deshalb soll in einem ersten Schritt unter Bezugnahme auf die Diskussion in der Verfassungsgeschichtsschreibung der verwendete Verfassungsbegriff geklärt werden. Ein zweiter Schritt wird sich um die Herausarbeitung der ethischen Relevanz des Verfassungsdenkens bemühen, bevor dann in einem dritten Schritt die Darstellung der Grundstrukturen der Weimarer Reichsverfassung und die Ansatzpunkte der durch sie ausgelösten Diskussionen erfolgen soll.
P. BADURA, Verfassung, Sp. 2708. K . SCHOLDER, Kirchen; K . NOWAK, Kirchen S. 11. Vgl. zur Umorientierung in der Erforschung der Geschichte der evangelischen Kirche in der Weimarer Republik auch J . MEHLHAUSEN, Kirchengeschichte, S. 277 f. 51
52
Α. VERFASSUNG „Das Wesen der großen demokratischen Verfassungsbildungen der Neuzeit und die Technik ihrer Arbeitsweise müßte ... von uns viel tiefer studiert und gekannt werden, als das bisher zu geschehen pflegt". Ernst Troeltsch, Kunstwart 1919
I. Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens 1. Der Begriff der Verfassung Weder Verfassungsrechtslehre noch Verfassungsgeschichtsschreibung kennen einen allgemein akzeptierten klar definierten Verfassungsbegriff 1 . Schon Ferdinand Lassalle hat die beiden Extreme eines möglichen Verständnisses in seinem berühmten Diktum bezeichnet: Die wirkliche Verfassung eines Staates seien nicht bloß das „Blatt Papier", sondern „die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse" 2 . Im Sinne eines minimalistischen Verständnisses kann unter Verfassung die bloße Verfassungsurkunde bzw. die Rechtsverfassung, d. h. die Gesamtheit der Gesetze verstanden werden, die die Grundzüge der staatlichen Organisation betreffen und unter erschwerten Abänderungsbedingungen stehen. Eine solche Konzentration auf die Rechtsverfassung ist klassisch von Georg Jellinek vertreten worden. Auf dem Hintergrund einer intensiven Kant-Rezeption und vielfältiger Kontakte zur südwestdeutschen Schule des Neukantianismus versteht er unter Verfassung „die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt" 3 . Mit einem sehr viel weiter ausgreifenden Verfassungsbegriff arbeitet dagegen Ernst Rudolf Huber in seiner monumentalen, sieben Bände umfassenden „Deutsche Verfassungsgeschichte" seit 1789. Für Huber ist die Verfassung „ein Gesamtgefüge geistiger Bewegungen, sozialer Auseinandersetzungen und politischer Ordnungselemente - ein Inbegriff von Ideen, Interessen und Institutionen, die sich im Kampf, im Ausgleich und in wechselseitiger Durchdringung jeweils zum Ganzen der Verfassungswirklichkeit einer Epoche verbinden" 4 . 1 Vgl. K . HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts: „Die heutige Verfassungsrechtslehre hat Begriff und Eigenart der Verfassung nicht über Ansätze hinaus und nicht bis zum Konsens einer herrschenden Meinung' geklärt. Daß sie sich ihres Gegenstandes und ihrer Grundlagen vielfach nicht deutlich bewußt ist, zeigt die oft unkritische Verwendung älterer, von unterschiedlichen Voraussetzungen her entwickelter Begriffe" (ebd., S. 3). Zur Diskussion um den Verfassungsbegriff vgl. insbesondere H . BOLDT, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Nach Boldts Urteil gibt es hinsichtlich der Auffassung, die mit dem Ausdruck „Verfassung" zu verbinden ist, „keine einhellige und verbindliche Meinung" (ebd. S. 19., vgl. auch S. 166). 2
Ε LASALLE, Über Verfassungswesen, S. 38.
3
G . JELLINEK, S t a a t s l e h r e , S . 5 0 5 .
E. R . HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2, S. VII. Vgl. dazu die Rezension von H . BOLDT, E. R . Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Geschichte und Gesellschaft 11, 1985, S. 252-271), in der er deutlich auf Hubers „etatistische Perspektive" (S. 253), seine Nähe zu C. Schmitt und die Kontinuität mit der „Volksgeist-Tradition der Historischen Schule" (S. 257) hinweist. 4
4
Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
Die Ansatzpunkte zur Entwicklung eines solchen, die Gesamtheit der Gesellschafts- und Sozialstrukturen umfassenden Verständnisses bildeten sich bereits in der Staatsrechtsdiskussion unter den Bedingungen der Weimarer Republik heraus. Gegenüber der von Georg Jellinek und dann vor allem von Hans Kelsen vertretenen, eng an Kant orientierten Auffassung, Verfassung strikt juristisch als System von Gesetzen und Normen zu verstehen, formierte sich nach 1918/19 auf breiter Front Kritik. Geklagt wurde über den „Verlust des materiellen Wertgehalts der Verfassung", angestrebt wurde die „Uberwindung des inhaltslosen Formalismus" 5 . Trotz aller Unterschiede in den Einzelheiten der Neukonstruktion einer Staats- und Verfassungslehre verband die Kritiker ein gemeinsames Interesse: Sie intendierten, das Verfassungsverständnis über die stärkere Einbeziehung der Verfassungswirklichkeit, der historischen, soziologischen und ideellen Grundlagen und Voraussetzungen eines rein formalistischen, juristischen Verfassungsbegriffs zu erweitern. Für Carl Schmitt lag in seiner erstmals 1928 erschienenen „Verfassungslehre" das „Wesen der Verfassung nicht in einem Gesetz oder in einer Norm" 6 . Pointiert stellte er fest: „Ein Begriff von Verfassung ist nur möglich, wenn Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden werden." In der Verfassung sah er die „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit"7. Das Interesse an einer integrativen Sichtweise läßt sich auch an Rudolf Smends 1928 erschienener Studie „Verfassung und Verfassungsrecht" ablesen. Smend definiert Verfassung als „die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenwirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Lebenstotalität des Staates" 8 . Wird „Verfassung" derart als Strukturprinzip eines auf umfassende staatliche Einheit gerichteten Prozesses verstanden, muß für ihre Erfassung die Einbeziehung der „ soziologischen Kräfte' neben dem geschriebenen Verfassungstext gefordert" 9 werden. Auch Hermann Heller kritisierte in seiner Fragment gebliebenen, erstmals 1934 veröffentlichten „Staatslehre" ein rein juristisches Verfassungsverständnis, denn auch „die rechtlich normierte Staatsverfassung ist und bleibt der Ausdruck der sowohl physischen wie auch psychischen Machtverhältnisse"10. Sie gehe jedoch in der Festschreibung der Machtverhältnisse nicht auf, sondern formuliere bestimmte Normativitätsansprüche. Sie sei zugleich Ausdruck eines politischen 5
H s ü , DAU-LIN, V e r f a s s u n g s b e g r i f f , S . 3 0 .
6
C . SCHMITT, V e r f a s s u n g s l e h r e , S . 2 3 .
E b d . , S. 20. 8 R . SMEND, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. 'Ebd. 10 H. HELLER, Staatslehre, GS III, S. 373. Heller hält in seiner Staatslehre am engen Zusammenhang von Verfassung und Rechtsordnung fest: „Für die Existenz der Staatsverfassung kommt unter allen anderen gesellschaftlichen Normen denjenigen eine besondere Bedeutung zu, die als Recht bezeichnet und von den Staatsorganen in Worte gefaßt, autoritativ und mit dem Anspruch auf Gemeinverbindlichkeit verkündet und durchgesetzt werden ..." (S. 366). 7
Der Begriff der Verfassung
5
Willens, der auch angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Bedingungen bestimmte Grundideen und Leitbilder festhalten und erneut zur Geltung bringen wolle. In Abgrenzung zu Smend, der die dynamische prozeßhafte Dimension im Hinblick auf die Verfassung betont, aber auch zu Schmitt, bei dem gegenüber der Hervorhebung des Entscheidungscharakters die inhaltlich-normativen Aspekte in den Hintergrund treten, hält Heller fest, daß die Verfassung „Tätigkeitsform"11 ist, mit der ein bestimmter Sollensanspruch für die politische Zukunftsgestaltung gesetzt ist, ein Anspruch, der sich vor allem im Rechtscharakter der Verfassung zeigt. Diese „Formkraft" 12 für die Zukunftsgestaltung könne eine Verfassung aber nur dann besitzen, wenn sie „lebendiger Ausdruck der tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist"13. An diesen in der Weimarer Zeit erarbeiteten Positionen orientiert sich die Diskussion um das Verfassungsverständnis bis in die Gegenwart. Die Erweiterung des Verfassungsverständnisses eröffnete die Möglichkeit, Fragestellungen und Ergebnisse anderer Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Soziologie und Philosophie in die Staats- und Verfassungslehre miteinzubeziehen. Die Leistung und Gefahr dieser neuen Sichtweise lagen nahe beieinander: Einerseits trug die Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit zu einem realistischeren Verfassungsverständnis bei. Das Bemühen, das „flutende politische Leben" zu integrieren, relativierte aber zugleich den Stellenwert der rechtlich-normativen Seite einer Verfassung und bot Ansatzpunkte zu einer Instrumentalisierung von Recht und Verfassung für die Durchsetzung von weltanschaulichen Interessen14. Außerdem kann der Versuch, die Gesamtheit der politischen und sozialen Strukturen und Prozesse in einer an der Staatsverfassung orientierten Perspektive zu thematisieren, zu einer etatistisch verengten Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität führen 15 . Unbeschadet aller Differenzen im einzelnen ist eine Grundtendenz in diesen Definitionen klar erkennbar: Unter „Verfassung" ist mehr zu verstehen als nur eine Zusammenstellung von grundlegenden Rechtssätzen. In der recht11
Ebd., S. 362. Freiheit und Form, GS II, S. 373. "Ebd. 14 K. SONTHEIMER, Grundlagenproblematik (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. XLVI, 1960), S. 65. 15 Vgl. Teil RI. und С I . der Arbeit. Auf die Probleme des in den zwanziger Jahren neu erarbeiteten, umfassenderen Verfassungsbegriffs weist K . SONTHEIMER a.a.O. hin. Er kritisiert einerseits, das neue Verfassungsdenken habe sich „vielfach allzu selbstverständlich von seinem unaufgebbaren Bezugspunkt, der Verfassungsurkunde", entfernt und eine „außerordentlich starke Zurückdrängung der normativen Gehalte der Verfassung" bewirkt (S. 65). Von seinem Interesse an der Verbindung von Staatsrechtslehre und Politik her sympathisiert er andererseits mit der Grundtendenz der staatsrechtlichen Neuorientierung an metarechtlichen Gehalten in den zwanziger Jahren. Er beklagt, die Positivisten hätten keine „Staatsidee" (S. 68) ausgebildet und es habe der Weimarer Staatslehre an „einem sicheren Staatsgefühl" (S. 71) gefehlt. 12
H . HELLER,
6
Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
lieh normierten Struktur der staatlichen Machtbildung und -ausübung, deren Zweck wie deren Grenzen, spiegelt sich einerseits die Machtverteilung in der Gesellschaft selbst. Andererseits manifestieren sich in diesen Regelungen auch bestimmte politische Leitideen und Grundentscheidungen. Solch ein umfassenderes Verfassungsverständnis hat sich in der neueren bundesdeutschen verfassungsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Diskussion durchgesetzt, wenn auch die Begrenzung des Gegenstandsbereiches beider Disziplinen im einzelnen dann unterschiedlich ausfällt. So definiert etwa Ernst-Wilhelm Böckenförde in seiner Einleitung zu dem repräsentativen Sammelband „Moderne deutsche Verfassungsgeschichte" Verfassung als die „politisch-soziale Bauform einer Zeit". Dieses Verständnis erlaubt es, „den institutionellen und normativen Rahmen, das Gerüst des politischen und sozialen Lebens, das diesem einerseits seine Struktur verleiht und es normiert bzw. reguliert, andererseits von ihm fortentwickelt wird" 16 , zu thematisieren. Grundlegender Ausgangspunkt bleibt bei solch einem Verständnis die Verfassungsurkunde, in der die Organisation des politischen Systems durch Rechtssätze geregelt ist. Auf der Grundlage eines solchen erweiterten Verfassungsverständnisses läßt es sich rechtfertigen, von der Weimarer Reichsverfassung als einem Orientierungsrahmen auszugehen, mit dessen Hilfe ein Entdeckungszusammenhang für politische Grundprobleme dieser Zeit formuliert werden kann.
2. Der ethische Gehalt des modernen
Verfassungsdenkens
Unter Rückgriff auf solch ein erweitertes Verfassungsverständnis hat Trutz Rendtorff die These formuliert: „In der Verfassung des Gemeinwesens verdichten sich die Probleme der politischen Ethik in exemplarischer Weise. Die Grundlegung der Verfassung wie ihre Auslegung nehmen fundamentale sittliche und religiöse Orientierungen in Anspruch"17. Der damit postulierte ethische Gehalt des Verfassungsgedankens soll in seinen Grundzügen kurz dargestellt werden. Dazu ist es nötig, sich zwei signifikante Merkmale des modernen Staatsbegriffs zu vergegenwärtigen. In ihrer Polarität läßt sich die ethische Dimension des Verfassungsdenkens verorten. Als erstes Kennzeichen eines spezifisch modernen Staatsverständnisses gilt die Monopolisierung der Gewalt 18 , wie sie sich in den absolutistischen Staa16 E.-W. BÖCKENFORDE im Vorwort zu dem Band „Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 -1914)", S. 9 vgl. auch S. 13. 17
T . RENDTORFF, Verfassungsprinzip, S. 215.
M. WEBER, Gesammelte politische Schriften, S. 506. Vgl.: Wirtschaft und Gesellschaft Bd. I, S. 29. Zur Herausbildung des modernen Staatsverständnisses vgl. C. J. FRIEDRICH, Verfassungsstaat; H. HELLER, Staatslehre; O . HINTZE, Wesen und Wandlung, GA Bd. I.; M. KRIELE, Einführung; TH. SCHIEDER, Wandlungen des Staats; S. SKALWEIT, Staat; U. SCHEUNER, Wesen des Staates. 18
Der ethische Gehalt des modernen Verfassungsdenkens
7
ten durch die Ausbildung einer zentralen Verwaltung und Bürokratie vollzog und in der Lehre von der Souveränität des Staates ihren theoretischen Niederschlag fand 19 . Diese Monopolisierung steigerte die Beherrschbarkeit und Planbarkeit des politischen Handelns. Dem Zuwachs an Steuerungsvermögen korrespondiert ein steigender Steuerungsbedarf in einer wachsenden und sich ausdifferenzierenden Kultur. Rechtsstaatsgedanke und Verfassungsprinzip gelten als zwei weitere konstitutive Elemente eines modernen Staatsbegriffs. Mit ihrer Hilfe wurden der souveränen Machtfülle des absolutistischen Staates erneut Grenzen gezogen im Interesse der Wahrung der Freiheit der Bürger. Dieses Interesse an der Begrenzung souveräner staatlicher Macht läßt mit besonderer Prägnanz die ethische Relevanz des Verfassungsprinzips erkennen. In Hinblick auf die Begrenzung staatlicher Macht kann mit Rendtorff von einer „implizit theologischen Struktur" 20 des modernen Verfassungsdenkens gesprochen werden. Dabei geht es nicht darum, im modernen Verfassungsdenken selbst theologische Normativitäts- und Geltungsansprüche als unentbehrlich nachzuweisen. Die „Selbständigkeit einer juristisch zu verantwortenden Rationalität" und damit die „Allgemeinheit des Geltungsanspruches von Verfassungsnormen" 21 werden ausdrücklich anerkannt. Dem neuzeitlichen Verfassungsdenken eine „implizit theologische Struktur" zuzuerkennnen, zielt vielmehr auf den Aufweis fundamentaler Strukturanalogien. Mit der Lehre vom souveränen Staat löst sich die neuzeitliche politische Theorie aus dem Kontext kirchlich-theologischer Lehrbildung. Der Berufung auf göttliche Offenbarung, Theologie und Kirche wird keine begründende Funktion mehr zuerkannt. Politische Macht wird nicht mehr auf göttliche Einsetzung zurückgeführt und religiös legitimiert. Sie wird begründet im Handeln der Individuen. Der Staat wird nicht auf Metaphysik gegründet, sondern auf denVertrag, den die Individuen aus dem Interesse an Selbsterhaltung schließen. Damit vollzieht sich eine entscheidende Umstrukturierung in der politischen Theorie und Praxis: Politik ist nicht mehr länger nur die Verwaltung einer von Gott vorgegebenen, in ihren wesentlichen Zügen unveränderbaren Grundordnung. Die Konstitution der politischen Ordnung wird vom Menschen in die eigene Verantwortung übernommen. Der moderne Staat kann insoweit als die „politische Objektivation der neuzeitlichen Autonomie" 22 bezeichnet werden. Angesichts dieser Entwicklung ist es „die entscheidende Frage, die sich für die theologische Ethik stellt", ob und wie in der modernen Staatsauffasung die „theologische Voraussetzung ihren Niederschlag findet, daß die Welt des Menschen nicht der Willkür überlassen ist, sondern einer letztlich unverfügbaren Grundordnung der menschlichen An19
Zur historischen Entwicklung vgl. H . QUARITSCH, Staat und Souveränität, Bd. 1.
20
T . RENDTORTF, V e r f a s s u n g s p r i n z i p , S . 2 1 6 .
21
E b d . , S. 217.
22
T . RENDTORFF, C h r i s t e n t u m , S . 1 4 4 .
Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
8
gelegenheiten folgt" 23 . Eben dies, daß menschliche Freiheit nicht Beliebigkeit, Willkür und die Befähigung zu rücksichtsloser Selbstdurchsetzung bedeutet, sondern die Verpflichtung zu einer verantwortlichen Gestaltung der Lebensbedingungen, kommt im Verfassungsprinzip zum Ausdruck, da sich mit ihm „die Souveränität des verfassunggebenden Subjekts selbst bindet und begrenzt" 24 , indem es die Aufgabe übernimmt, „dem sich selbst bestimmenden politischen Willen solche Voraussetzugen gegenüberzustellen, die mit inhaltlicher Verbindlichkeit das Gemeinsame einer politischen Gemeinschaft formulieren, an das der jeweilige politische Wille sich gebunden wissen soll" 25 . Diese „Selbstbindung des modernen Freiheitsbegriffes ... korrespondiert dem theologischen Grundgedanken, daß die politische Ordnung des Gemeinwesens sich einem unbeliebigen göttlichen Auftrag verdankt" 26 . Der Gehalt dieses theologischen Grundgedankens wird unter den Bedingungen eines ausdifferenzierten, gegenüber kirchlich-theologischen Begründungsund Legitimationsansprüchen selbständigen politischen Systems repräsentiert und gewahrt durch das Verfassungsprinzip. Die ethische Qualität des Verfassungsdenkens konzentriert sich systematisch also in der Frage nach der Freiheit des Individuums und entspricht darin der historischen Genese dieses Denkens. Denn in den Forderungen des Konstitutionalismus spiegeln sich fundamentale Aspekte des Freiheitsverständnisses. Das Interesse an der Beförderung und Sicherstellung individueller Freiheit, verstanden im Sinne einer Grenze der Verfügungsmöglichkeiten anderer, als Limitation von dem Individuum externen Herrschaftsansprüchen in Gestalt der Staatsmacht, bildete das erste treibende Grundmotiv des Eintretens für eine verfassungsgemäße Organisation politischer Machtausübung. In diesem Interesse zeigt sich deutlich christliches Erbe. Folgt man Georg Jellineks „Staatslehre", so reichen die Wurzeln der Anerkennung individueller Freiheit zurück in die Auseinandersetzungen der Konfessionskriege: „Der potentiell schrankenlose Staat der juristischen Theorie ist durch diese Kämpfe zur Überzeugung gelangt, daß faktische Grenzen des Imperiums in der religiösen Innerlichkeit des Individuums und deren Betätigung liegen"27. Hermann Heller, der prominenteste sozialdemokratische Verfassungslehrer der zwanziger Jahre, stellte in seiner Staatslehre fest: Der „Gedanke einer gleichen Freiheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, ... (ist) spezifisch christlichen Ursprungs" 28 . Und auch Carl Joachim Friedrich sah in seiner Darstellung „Der Verfassungsstaat der Neuzeit" eine wichtige Wurzel der 23
T . RENDTORFF, V e r f a s s u n g s p r i n z i p , S. 2 1 6 .
Ebd., S. 222. E b d . , S. 217. 2 6 Ebd., S. 222. 24
25
27
G . JELLINEK, S t a a t s l e h r e , S. 3 2 8 .
28
H . HELLER, S t a a t s l e h r e , S. 2 1 5 .
Der ethische Gehalt des modernen Verfassungsdenkens
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Idee der Machteinschränkung im „Christentum, und insbesondere in der christlichen Lehre von der Persönlichkeit" 29 . Das Interesse an der Beförderung und Sicherstellung individueller Freiheit konkretisierte sich zunächst in Gestalt der Forderung nach einer Verrechtlichung politischer Machtausübung, die de facto auf eine Limitation solcher Machtausübung zielte. Das Verfassungsdenken war und ist geleitet von dem Bemühen, die Prozesse der Machtbildung und -ausübung nicht mehr beherrscht sein zu lassen von der bloßen, undurchsichtigen Macht gewordener Verhältnisse. Vielmehr sollen an ihre Stelle rationale, öffentlich überprüfbare Strukturen treten. Diese Rationalisierung erfolgte entscheidend durch Verrechtlichung 30 , d.h. dadurch, daß das staatliche Handeln an die in einer Verfassung kodifizierten Regeln und Normen gebunden wurde. Durch diese Bindung wurden die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsmacht kontrollierbar und begrenzt und ein Raum individueller Freiheit sichergestellt. Uber den Verfassungsgedanken wurde die Ausdifferenzierung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft31 und damit das Recht auf eine selbständige kritische Öffentlichkeit anerkannt und ging als entscheidendes Strukturprinzip in das Verständnis des Politischen ein. Damit wurde zugleich ein Pluralismus 32 als Kehrseite der Achtung individueller Freiheit in der Gesellschaft anerkannt, der nicht einfach mittels souveräner 29
C . J . FRIEDRICH, V e r f a s s u n g s s t a a t , S . 27.
G . JELLINEK, Staatslehre. Jellinek spricht vom „Prozeß der Umsetzung staatlicher Macht in Rechtsverhältnisse" (S. 344). Für ihn ist die Frage, ob der Staat an sein von ihm gesetztes Recht selbst gebunden ist, „metajuristischer Natur" (S. 368). Gegen einen Standpunkt, der solche Bindung des Staates an sein Recht verneint, argumentiert er mit einer theologisierenden Unterscheidung: „Nur ein Gott oder ein gottähnlich verehrter Monarch vermag seinen unerforschlichen, stets veränderlichen Willensschluß zur schlechthin von jedem, nur nicht von ihm selbst anzuerkennenden Norm des Handelns zu erheben" (S. 369). 30
31 Unterscheidung und Zuordnung durch eine Verfassung gilt es gleichermaßen festzuhalten, soll nicht einer Verselbständigung des Staates als einer überparteilichen Größe das Wort geredet werden. Zur Problematik dieses Staatsverständnisses vgl. C . GRAFV. KROCKOW, Staat. Zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in historischer Perspektive H . EHMKE, Staat und Gesellschaft. Nach K . HESSE „liegen... die eigentlichen Probleme... in der konkreten und differenzierten Zuordnung von Staat und Gesellschaft durch Verfassung und Gesetz, bei der es darauf ankommt, das,richtige' Maß von Trennung und Verbindung... zu finden" (Bemerkungen, S. 501). 3 2 Zum Pluralismusproblem E. FRAENKEL, Pluralismus. Der von Fraenkel vertretende Pluralismus wendet sich gegen die „Interessenverbandsprüderie" (S. 201), die es den Bürgern verwehrt, „mit gutem Gewissen zu tun, was sie heute mit schlechtem Gewissen tun, nämlich durch die Errichtung und den Ausbau von Interessengruppen einen aktiven Anteil an der Ausgestaltung derjenigen öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen, die sie am unmittelbarsten berühren und deshalb am intensivsten beschäftigen" (S. 200). Dieser Ansatz beruht auf der „Hypothese, in einer differenzierten Gesellschaft könne im Bereich der Politik das Gemeinwohl lediglich a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden, stets vorausgesetzt, ... daß bei deren Zusammen- und Widerspiel die generell akzeptierten, mehr oder weniger abstrakten regulativen Ideen sozialen Verhaltens respektiert und die rechtlich normierten Verfahrensvorschriften und die gesellschaftlich sanktionierten Regeln eines fair play ausreichend beachtet werden" (S. 200). Zur Diskussion um die Pluralismustheorie vgl. H . KREMENDAHL, Pluralismustheorie.
Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
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Akte durch die Staatsmacht zu einer wie auch immer gearteten Homogenität33 verdichtet werden kann. Die Transformation der Frage nach dem Staat in Rechtsfragen und das damit verbundene Interesse an der Freisetzung der Sphäre der Gesellschaft läßt sich am deutlichsten ablesen an der kantischen Staatsdefinition. Für Immanuel Kant ist der Staat „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" 34 . Eine weitere materielle Füllung des Staatsbegriffs etwa dadurch, den Staat zur Förderung der „Glückseligkeit" zu verpflichten, wird um der Freiheit willen abgelehnt, denn dort, wo der „Souverän .. .das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen ... will, wird (er) Despot, das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf Glückseligkeit nicht nehmen lassen und wird Rebell" 35 . Die ethische Qualität eines Staatsdenkens wird sich nach diesen Überlegungen entscheidend daran bemessen lassen, wie in ihm das Verhältnis von staatlicher Machtausübung und Recht sowie die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft bestimmt sind. Das Interesse an der Sicherstellung individueller Freiheit schlägt sich dann in der weiteren Entwicklung des Verfassungsdenkens nieder in den Forderungen nach Gewaltenteilung und der Garantie von Grundrechten. Sie gelten als „Eckpfeiler" 36 des modernen Verfassungsdenkens. Im Verfassungsdenken wird Freiheit jedoch nicht nur negativ, im Sinne einer Grenze für die Verfügungsgewalt anderer bzw. als Schutz vor der Staatsmacht thematisch, sondern auch positiv, im Sinne der Verantwortlichkeit und Partizipationsmöglichkeiten. Uber die Verfassung erfolgt eine Regelung der Partizipationschancen des einzelnen an der Bildung und Ausübung der Staatsmacht, wird individuelle Freiheit als Grund eigenverantwortlicher Aktivität angesprochen. Damit stellt das Verfassungsdenken einen entscheidenden Schritt dar auf dem Weg der Wandlung des „Untertans" zum „Bürger" . Für die Prozesse der politischen Machtbildung und -ausübung bedeutet dies eine fundamentale Umstrukturierung: „Die Idee der Verfassung beinhaltet unverlierbar und unabdingbar die Bestimmung der Staatsordnung von unten"37. Vor allem Wahlrechtsfragen und die Frage nach der Gestaltung des Verhältnisses von Legislative und Exekutive, von Parlament und Regierung sind die Punkte, um die sich die Diskussion über die Partizipationsmöglichkeiten immer wieder zentriert hat. Im modernen Verfassungsprinzip reflektiert sich weiter das Wissen um die aus der Freiheit des Individuums resultierenden Gefahren. Es stellt für den Bereich des Politischen einen Schutz dar vor der unmittelbaren Durchsetzung eines einzelnen Willens, indem es die Realisierung seiner Interessen an 33 Vgl. H . HELLER, Politische Demokratie, GS Bd. II, S. 421 F. und P. PASQUINO, Politische Einheit. 3 4 1. KANT, Metaphysik der Sitten, A 164. 351. 36
KANT, Gemeinspruch, S. 100. W. KÄGI, Verfassung, S. 43.
3 7 Ebd.,
S. 48.
Der ethische Gehalt des modernen Verfassungsdenkens
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Regeln bindet, um dadurch eine Prüfung der Kompatibilität der Freiheit des einen mit Freiheit und Interessen anderer zu gewährleisten. Das Verfassungsrecht übt, wie jedes Recht, einen Zwang zur Vermittlung im Interesse der Freiheit aus. Klassisch formuliert hat diese Aufgabe des Rechts Kant: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äusseren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen" 38 . „Verfassungsrecht ist so in einem doppelten Sinn ,Recht der Freiheit': Als begrenzende Ordnung einerseits und als Ausdruck der Selbstgesetzgebung andererseits"39. Für den modernen Verfassungsstaat gilt, daß er auf der „doppelten Einsicht beruht..., daß souveräne Macht latenter Terror und daß souveräne Subjektivität latenter Bürgerkrieg bedeuten. Er ist der Versuch, Macht und Subjektivität so in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen, daß beide Gefahren gebannt bleiben"40. Durch den mit dem Verfassungsdenken verknüpften „Prozess der Umsetzung staatlicher Macht in Rechtsverhältnisse"41, sowie die damit sich vollziehende Verlagerung der Konstitution der politischen Ordnung in die Hände des Menschen, erfolgt auch ein entscheidender Strukturwandel der Legitimationsmuster42. Verfassungsdenken ist der Versuch, die „mystische Legitimation der Macht" zu ersetzen durch „rationale Begründung" 43 . Mit der Rationalisierung durch Verrechtlichung rücken gegenüber einem Verständnis des Politischen, das wesentlich an Personen orientiert ist, funktionale Aspekte in den Vordergrund. Staatliche Machtausübung gewinnt ihre Legitimität im Verfassungsstaat zunächst und entscheidend, wenn auch nicht ausschließlich aus der Übereinstimmung mit den Verfassungsnormen. Folgt man der von Max Weber entwickelten Typologie von Herrschaftsformen, verschiebt sich die Legitimation von Herrschaftsansprüchen von „traditioneller" zu „legaler Herrschaft". Die Motivation für die Anerkennung von Herrschaftsansprüchen verlagert sich vom Glauben „an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten" 44 hin auf die formale Korrektheit des Zustandekommens von Rechtsregeln. Die mit dem modernen Staat verbundene „Legitimitätsform ist der Legalitätsglaube"45. „Gehorcht wird nicht der Person, kraft deren Eigenrecht, sondern der gesatzten Regel"46. Gemeinspruch,
38
1 . KANT,
39
W . KÄGI, S. 5 0 .
40
M.
41
G . JELLINEK,
S . 87.
Recht und praktische Vernunft, S. 118. Staatslehre, S. 3 4 4 . 42 G. Dux, Strukturwandel: „Die Herrschaft des Menschen über die Sozialordnung ist zugleich die Geburtsstunde der Legitimationsproblematik" (S. 17). 43 K. LOEWENSTEIN, Verfassungslehre, S. 128. 44 M. W E B E R , Die drei Typen, S. 478. 45 M. W E B E R , Wirtschaft und Gesellschaft Bd. I. S. 19. 44 M. W E B E R , Die drei Typen, S. 476. KRIELE,
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Grundelemente des modernen Verfassungsdenkens
Unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates gilt deshalb: Zwar können Legitimität und Legalität nicht unmittelbar identifiziert werden; die Legitimität der politischen Ordnung geht auch unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates nicht in der Legalität auf. Aber der Wandel von traditioneller zu legaler Herrschaft beinhaltet auch weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit Legitimitätsproblemen. Denn führte man Legitimitätsdebatten unter Abstraktion von der Legalität der Verfassungsordnung, so würde weder dem ethischen Gehalt noch der eigenen Rationalität des spezifisch modernen Verständnisses der politischen Ordnung Rechnung getragen. Die Bedeutung, die der Bezugnahme auf die Verfassung zukommt, bildet deshalb ein erstes und entscheidendes Kriterium für die Beurteilung der ethischen Validität der Auseinandersetzungen über die Legitimität einer politischen Ordnung. Eine eigene ethische Qualität kommt dem Verfassungsdenken insofern zu, als es, orientiert am Leitgedanken des Schutzes individueller Freiheit, die Aufgabe übernimmt, Grundlagen für die Bildung, Ausübung und Legitimierung politischer Macht zu formulieren, welche rational einsichtig, von partikularen weltanschaulichen Prämissen unabhängig und darin allgemeingültig sind. So ist die Geschichte des Konstitutionalismus zugleich ein wichtiger Bestandteil einer Geschichte der politischen Ethik47, ohne daß damit behauptet werden soll, alle im Zusammenhang einer politischen Ethik relevanten Fragen ließen sich allein aus der Bezugnahme auf die Verfassung definieren. Diese Differenz zwischen der Positivität der Verfassungsordnung einerseits und dem normativen Bezugsrahmen politischer Ethik andererseits bezeichnete Wilhelm Hennis in der Frage: „Belastet man das Schifflein der Verfassung nicht zur sehr, wenn man aus ihr die materiale Wertordnung des ganzen politischen Lebens herauslesen will?" 48 4 7 K . LOEWENSTEIN, Verfassungslehre: „Die Geschichte des Konstitutionalismus ist nichts anderes als die Suche des politischen Menschen nach der Begrenzung der von den Machtträgern ausgeübten absoluten Macht und das Bemühen, an die Stelle der blinden Unterwerfung unter die Faktizität der bestehenden Obrigkeit eine geistige, moralische oder ethische Rechtfertigung der Autorität zu setzen" (S. 128). 4 8 W. HENNIS, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 20. Hennis polemisiert 1968 gegen die deutsche Mentalität, in der Verfassung „eine Art Eisenbahnfahrplan" zu sehen. „So und nicht anders, pünktlich und vollständig soll alles fixiert sein, was da abläuft. Es dürfen auch keine Züge ausfallen" (S. 21 vgl. auch S. 23). Er lehnt es ab, die Verfassung zum „Religionsersatz" zu machen (S. 22, Anm. 39), bzw. dem Grundgesetz „einen geradezu sakralen Gebotsrang" zuzuschreiben. „ D a s Wort soll Fleisch werden. Es ist nicht gegeben, sondern aufgegeben. D a kann es doch nicht ausbleiben, daß man bei näherer Betrachtung, nicht anders als in bezug auf die göttlichen Gebote, feststellen muß, daß wir alle alle Sünder sind, Bundestag und Bundesregierung vorweg, doch auch wir schlichten Bürger in unserer Eigenschaft als .Grundrechtsträger'" (S. 21).
Dieses Plädoyer für Zurückhaltung im Hinblick auf die Definition des materialen Gehaltes des Verfassungsrechts steht in Spannung zur von Hennis 1959 vorgetragenen Kritik an der von ihm behaupteten Entleerung des deutschen Staatsdenkens von jedem sittlichen Gehalt etwa bei Kant und Weber. D o r t begrüßte er, im Geiste seines Lehrers Smend, die Konzentration auf eine „materiale Staats- und Verfassungstheorie" (S. 22) in den zwanziger Jahren. W. HENNIS, Problem der deutschen Staatsanschauung, S. 1-23.
Der ethische Gehalt des modernen Verfassungsdenkens
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Gerade der moderne Verfassungsstaat zeichnet sich ja durch die Achtung dieser Differenz in Form der rechtlichen Selbstbeschränkung aus. Die mit ihm vollzogene Anerkennung des Unterschieds von Staat und Gesellschaft bedeutet die Freisetzung einer staatlich nicht gelenkten Sphäre der ethischen Urteilsbildung als unverfügbarer Voraussetzung staatlichen Handelns. Wo der Staat als Rechts- und Verfassungsstaat konstituiert wird, fordert er von seinen Bürgern keine umfassende Gesinnungsgemeinschaft, sondern nur die Anerkennung des Legalitätsprinzips. Die Achtung individueller Freiheit konkretisiert sich in der Unterscheidung von „rechtlicher Gesetzgebung", die mit Zwangsgewalt ausgestattet ist, und „ethischer Gesetzgebung", die in die Verantwortung des Individuums gestellt wird. Die ethische Qualität der Legalität liegt gerade darin, daß sie sich nicht zur Durchsetzung der Moralität instrumentalisieren läßt 49 . Wo ein „unbezweifelbarer politischer Glaube als Fundament des Staates" gefordert wird, wird die Freiheit des einzelnen bedroht, denn dies bedeutet „in die Praxis übersetzt nichts anderes als die staatlich verwaltete und gepflegte politische Ideologie, eine säkulare Form antiker Polis-Religion, durch die die Politik auf die Gesinnung des einzelnen zugreift" 50 . Demgegenüber ist es gerade „das Signum der legitimen Herrschaft der Neuzeit, daß sie sich ... nur auf, vorletzte Gründe' bezieht, legale Verfahren, bestimmte Herrschaftsmodi,,Rechte'. Die letzten Orientierungen setzt sie frei, aber auch voraus: Sie verweist sie in die Ambiance der sittlichen Qualität gesellschaftlicher Ordnung" 51 . Gerade in der Achtung und Anerkennung der hier bezeichneten Differenz liegt ein wesentliches Element der ethischen Qualität des Verfassungsdenkens. Diese Relation brachte Ulrich K. Preuß auf die Formel: „Eine Verfassung ist kein politisches Programm, erst recht kein ethisches. Aber sie hat natürlich mit beidem zu tun. Sie soll die politische Macht rationalisieren und ihr ein spezifisches Ethos einhauchen. Auf Verfassung gestützte Macht ist ethisch gerechtfertigte Macht" 5 2 . Damit ist zugleich ein kritischer Punkt bezeichnet, dessen Beleuchtung für die Beurteilung von verschiedenen Staatsverständnissen wichtig ist. Er liegt in der Verhältnisbestimmung von Staatsbegriff und „ethischem Programm". Die Gefahr, die spezifische ethische Qualität des vom Gedanken der Freiheit her organisierten Verfassungsstaates zu verfehlen, wächst in genau dem Maße, in dem ein „moralisierendes Staatsdenken" gepflegt bzw. die Position vertreten wird, 1. KANT, Metaphysik der Sitten, A 15. E.-W. BÖCKENFÖRDE, Der Staat als sittlicher Staat. Der „sittliche Staat" ist nach Böckenförde gerade der Staat mit beschränkter Machtfülle, der „wegen seiner Anerkennung der Freiheit und sittlichen Selbstbestimmung der einzelnen gerade das Moment der Äußerlichkeit an sich hat. Er verfolgt Zwecke des Gemeinlebens, nicht des individuellen Lebens, und er verfolgt diese Zwecke nur in rechtlicher Weise, d. h. soweit es durch äußere Anstalten und vollziehbare Gebote möglich ist, die sich am Verhalten der einzelnen orientieren, nicht auf ihre Gesinnung zurückgreifen" 49 50
(S· 2 5 ) . 51
52
W . HENNIS, L e g i t i m i t ä t , S. 2 2 .
U. K. PREUSS, Politische Verantwortung, S. 11. Vgl. auch S. 240 f.
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Die Weimarer Reichsverfassung
rechtsstaatliche Institutionen seien „durch Moral und Gesinnung ersetzbar" 53 .
II. Die Weimarer Reichs verfassung 1. Die Verfassung als
Kompromiß
Die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 31. Juli 1919 bedeutet einen tiefgreifenden Einschnitt in der deutschen politischen Geschichte. Die Verfassungsgebung markiert auf der Ebene des politisch-rechtlichen Systems den Ubergang vom alten monarchischen Obrigkeitsstaat zur liberalen, parlamentarischen Demokratie. Gleichwohl ist die neue Verfassung nicht aus dem Nichts geschaffen worden. In ihr kulminierte eine politische Entwicklung, die bis in die Anfänge des frühliberalen Konstitutionalismus im Vormärz zurückreicht. Sie ratifizierte politische Forderungen, die Gemeingut der liberalen Emanzipationsbewegung des 19. Jahrhunderts gewesen waren, und Schloß insbesondere an die intensive Parlamentarisierungsdebatte des ausgehenden Kaiserreichs an. Eine knappe Skizze dieser Entwicklung ist für das Verständnis der Verfassung von 1919 unerläßlich54. Ein erster wichtiger Schritt in Richtung auf eine Parlamentarisierung der (alten) Reichsverfassung wurde am 4. Oktober 1918 mit der Bildung des Kabinetts von Prinz Max von Baden, dem Staatssekretäre aus den Mehrheitsfraktionen des Reichstages angehörten, vollzogen. Am 24. Oktober 1918 wurde in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht abgeschafft. Durch die verfassungsändernden Gesetze vom 28. Oktober 1918, die sog. ,Oktoberverfassung', wurde der Reichskanzler dem Reichstag verantwortlich. 53 M. KRIELE, Staatsphilosophische Lehren, S. 221. Den signifikanten Unterschied zwischen Deutschland und den westlichen Demokratien sieht Kriele „im Mangel an bürgerlichem Rechtsbewußtsein, genauer: in der Unterschätzung der fundamentalen Bedeutung rechtsstaatlicher Institutionen der Gewaltenteilung, der Bürgerrechte und der parlamentarischen Demokratie und in der Annahme, sie seien durch Moral und gute Gesinnung ersetzbar" (S. 211). Solches „moralisierende Staatsdenken" sieht er „am reinsten und unmittelbarsten bei den damaligen sogenannten Konservativen ..., repäsentiert vor allem durch die Deutschnationalen, die meinten, sie könnten Hitler in einen maßvollen Staatsmann verwandeln" (S. 212). 54 Vgl. zum folgenden: E. KOLB, Weimarer Republik, insbesondere Teil A: Entstehung und Selbstbehauptung der Republik 1918/19 - 1923, S. 1-54. Zur Verfassungsgeschichte: R . RORUP, Entstehung; E. FRIESENHAHN, Legitimation; E. FORSTHOFIJ Verfassungsgeschichte; E. R . HUBER, Verfassungsgeschichte Bd. 5 und Bd. 6; P. C. WITT, Kontinuität. Außerdem die älteren Standardwerke: W. APELT, Geschichte; A. ROSENBERG, Geschichte; K . D. BRACHER, Auflösung; T . ESCHENBURG, Improvisierte Demokratie.
Die Verfassung als Kompromiß
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Eine weitere wichtige Vorentscheidung für den Verfassungskompromiß war es, daß es Max von Baden gelang, im Umbruch vom alten zum neuen politischen System eine relative Kontinuität zu stiften: Am 9. November, dem Tag, an dem er als Reichskanzler die Abdankung des Kaisers bekanntgab, legte er sein Amt in die Hände Friedrich Eberts, des Führers der Mehrheitssozialdemokratie. Damit wurde die politisch bislang ausgegrenzte reformistische Arbeiterbewegung zum zentralen Faktor der politischen Neuordnung. Eberts Politik in den ersten Monaten zielte darauf, das Bürgertum und die alten Führungseliten nicht auszugrenzen, sondern deren Unterstützung zu gewinnen im Interesse der Schaffung und Absicherung des inneren Friedens. Deshalb war es auch vorrangiges Ziel der Politik der Mehrheitssozialdemokraten, die Einberufung einer Nationalversammlung zu erreichen, die über die zukünftige Gestaltung der Staatsform entscheiden sollte. Der Weg in die neu zu schaffende Republik war also von Anbeginn gekennzeichnet durch den Versuch, die mit den überkommenen Klassenantagonismen verbundenen politischen Fraktionierungen zu überwinden, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln und neue tragfähige politische Kompromisse zu suchen. Einen tragfähigen politisch-sozialen Konsens zu erreichen, erforderte zunächst eine Einigung zwischen der neuen politischen Regierung und der obersten Heeresleitung. General Groener, der Nachfolger Ludendorffs, einigte sich mit Ebert auf die Einberufung einer Nationalversammlung und erklärte die Bereitschaft zur Unterstützung der Kanzlerschaft Eberts. Darüber hinaus bedurfte es eines Kompromisses zwischen den Interessenvertretern des Proletariats und den Interessenverbänden der Wirtschaft. Zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden wurde im Stinnes-Legien Abkommen die Schaffung der „Zentralarbeitsgemeinschaft" vereinbart, mit der die Unternehmer die Gewerkschaften als Verhandlungspartner zum Abschluß kollektiver Tarifverträge bzw. als exklusive Interessenvertretung der Arbeiterschaft anerkannten. Schließlich zeigte auch das Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, daß der Verfassungsneubau nur auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie erfolgen konnte: Die DNVP erhielt 10,3%, die DDP 18,5%, das Zentrum 19,7%, die SPD 37,9% der Stimmen. Eine für die Verfassungsgebung wichtige Vorentscheidung war es weiter, daß der sog. „Rat der Volksbeauftragten" Dr. Hugo Preuß, Professor an der Handelshochschule Berlin, zum Staatssekretär des Reichsamts des Inneren ernannte. Seine Hauptaufgabe sollte die Erarbeitung eines Verfassungsentwurfes sein. Die Wahl fiel auf Preuß, den nach dem Urteil Walter Jellineks „am weitesten links gerichtete(n) Staatsrechtslehrer des damaligen Deutschlands", weil es keinen sozialdemokratischen Kandidaten gab und weil Ebert „vermutlich durch Preuß die Brücke zum Bürgertum" schlagen wollte55. 55
W. JELLINEK, E n t s t e h u n g , S. 127.
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Die Weimarer Reichsverfassung
Schon das Vorfeld des Verfassungswerks von Weimar war also durch Kompromisse strukturiert. Diese Bereitschaft zu gegenseitigen Zugeständnissen, wie sie nicht bei allen, aber doch bei den zentralen gesellschaftlichen Gruppen der reformistischen Arbeiterbewegung, dem linksliberalen Bürgertum und dem politischen Katholizismus - gegeben war, ermöglichte allererst die Arbeit an der Verfassung und ebnete den Weg zur innenpolitischen Befriedung.
2. Die Demokratisierung als Antwort auf die Frage nach nationaler Einheit und gesellschaftlicher Differenzierung Die schon mit diesen Vorentscheidungen vollzogene Transformation des alten politischen Systems wurde als notwendige Folge der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung interpretiert. So war für Hugo Preuß die Demokratisierung „nicht eine doktrinäre Schrulle, nicht ein am Studiertisch ausgehecktes Dogma, sondern die natürliche, rechtliche Konsequenz der ganzen neueren wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, geistigen Entwicklung" 56 . In der „Uberalterung des Obrigkeitsstaates" sah er die „Ursache seines Bankrottes"57. Zugrundegegangen sei er letztlich an seiner „starren Anpassungsunfähigkeit"58. Die „Macht der Tatsachen" selbst erzwang den Übergang vom „Obrigkeitsstaat zum Volksstaat"59. In dieser unmittelbaren Vorgeschichte, den Veränderungen der Jahre 1918 und 1919, bündelten sich nach Preuß nur Entwicklungslinien, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Drei Problemkreise lassen sich auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts erkennen, deren Berarbeitung in die Aufgabe der Verfassungsgebung übernommen werden mußte. Die Verfassungsbemühungen des 19. Jahrhunderts waren geprägt vom nationalen Verfassungsproblem, d. h. der Frage, wie nach dem Zerfall des alten Reiches und der Abdankung des Kaisers 1806 eine neue politische Einheit Deutschlands erreicht werden konnte. Nicht der nationalen, bürgerlichen Freiheitsbewegung, die die Paulskirchenverfassung von 1848 trug, gelang diese Einigung, sondern Bismarck mit der Verfassung von 1871. Die nationale, bürgerliche Freiheitsbewegung versuchte das Recht auf Mitgestaltung der Politik über das Einklagen einer Verfassung durchzusetzen, in der die Rechte einer Volksvertretung festgelegt und gesichert waren. Die Prinzipien von Monarchie und Volkssouveränität sollten dabei in der Form der konstitutionellen Monarchie zu einem friedlichen Ausgleich gebracht werden. So waren konstitutionelles und nationales Verfassungsproblem eng verknüpft und im Unterschied etwa zu Frankreich hatten die Forderungen der konstitutio56
H . PREUSS, Bedeutung der demokratischen Republik, S. 491.
57
H . PREUSS, V o l k s s t a a t , S. 3 6 5 . H . PREUSS, O b r i g k e i t s s t a a t , S. 18.
58
59
Ebd., S. 17.
17
Die Demokratisierung
nellen Verfassungsbewegung in Deutschland „keinen entschieden demokratischen Akzent" 60 . Bismarck verwirklichte dann die nationale Einheit unter Zurückdrängung der Forderungen nach Volkssouveränität und demokratischen Mitbestimmungsrechten einer Volksvertretung. Wurde 1871 die deutsche Einheit auf Kosten der liberalen und demokratischen Bewegung gewonnen, so konnte 1919 eine neue nationale Einigung nur über eine Demokratisierung erfolgen, da die breiten Massen der Arbeiterschaft und die Sozialdemokratie nicht mehr ausgeschlossen und ausgegrenzt werden konnten. Die Auseinandersetzungen um nationale Einheit und verfassungsmäßig abgesicherte Partizipationsmöglichkeiten breiterer Bevölkerungsschichten in der Politik sind jedoch nur ein „Oberflächenphänomen" 61 im Vergleich zum „sozialen Verfassungsproblem", das sich aus dem wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel Deutschlands im 19. Jahrhundert entwickelte. Deutschland wandelte sich in dieser Zeit vom Agrarland zum Industrieland. Die Güterproduktion verlagerte sich vom Handwerksbetrieb in die Fabrik. Faktoren wie technische Innovationen, die Vereinheitlichung des deutschen Geldwesens, die Liberalisierung des Aktienrechtes, das die Kapitalbeschaffung für die Industrie erleichterte, beschleunigten diesen Wandlungsprozess seit 1870 dramatisch 62 . Dieser wirtschaftliche Strukturwandel bewirkte einen gravierenden Wandel in der Sozialstruktur. Die ständische Gesellschaft mit ihrem System von Vorrechten, Privilegien und hierarchischen Gliederungen löste sich in diesem Prozeß zunehmend auf. An ihre Stelle trat die Erwerbsgesellschaft, in der der „Besitz" zum neuen Gliederungsprinzip wurde. „Die Gesellschaft bildet die bisherigen Schichtungen je länger je mehr zu Besitzklassen um, produziert aus ihrer Erwerbsstruktur den sozialen Antagonismus dieser Besitzklassen, eine neue soziale Ungleichheit, die für eine stets wachsende Zahl von Menschen in soziale Unfreiheit umschlägt und die ihnen vom Staat gewährleistete rechtliche Gleichheit und Freiheit zunehmend leerlaufen läßt. Daraus entsteht das neue soziale Verfassungsproblem: die soziale Frage" 63 . Durch die Industrialisierung entwickelte sich das Proletariat zur zahlenmäßig stärksten Klasse im Kaiserreich: Um 1870 machte es ein Fünftel der Bevölkerung aus, 1907 war es auf ein Drittel angewachsen. Innerhalb des Bürgertums setzte eine starke Differenzierung und Aufsplitterung ein, „so daß es ,das Bürgertum' als Stand oder soziale Schicht, wie es 1848 noch manifest gewesen war, um 1900 nicht mehr gab" 64 . Im Prozeß der Industrialisierung wandelte sich die Organisationsstruktur der Gesellschaft grundlegend durch das Entstehen der großen Interessengruppen und Verbände. Die Gewerkschaften wurden Verfassungsprobleme, S . 17. Ebd. S. 19. 62 Vgl. К . E . BORN, Strukturwandel; J . A. SCHUMPETER, Antlitz; 63 E . - W . BÖCKENFÖRDE, Verfassungsprobleme, S . 2 0 . 60
E . - W . BÖCKENFÖRDE,
61
64
К . E . BORN, Strukturwandel, S. 492.
H . U . WEHLER,
Kaiserreich.
18
Die Weimarer Reichsverfassung
zu Massenorganisationen, in denen 1913 fast ein Drittel der Industrie- und Bergarbeiter organisiert waren. 1876 wurde ein Dachverband der Industrie gegründet, der „Centraiverband deutscher Industrieller". Daneben entstanden Interessen verbände der Landwirtschaft, etwa der „Kongreß Norddeutscher Landwirte" 65 . Die Entstehung dieser Interessengruppen und Verbände läßt eine sich steigernde Ausdifferenzierung und antagonistische Segmentierung der Gesellschaft erkennen. Angesichts dieser Pluralisierung der Gesellschaft bedurfte es neuer Mechanismen zur Regelung der Konkurrenz und zum Ausgleich von Interessengegensätzen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Eine Verfassung konnte nur in dem Maße ein nützliches und hilfreiches Instrument zur Bildung und Ausübung politischer Macht sein, in dem sie den gesellschaftlichen Pluralismus als ein Grunddatum der VerfassungsWirklichkeit anerkannte. Institutionelle und rechtliche Regelungsmechanismen des Politischen mußten als Formen des konstruktiven Umganges mit diesem Pluralismus und den sozialen Antagonismen entworfen werden. Alle drei skizzierten Problemkreise spielten bei der Erarbeitung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 eine wichtige Rolle. Dies läßt sich ablesen an den Leitideen, die das Verfassungswerk von Weimar wesentlich prägten. Folgt man Hugo Preuß' politischer Publizistik, dann war die „Rettung, die Erhaltung, die Stärkung der nationalen Einheit.. .oberstes Ziel", an dem sich die Verfassungsarbeiten orientierten. Programmatisch sollte das „nationale Bewußtsein politischer Zusammengehörigkeit" 66 das „alleinige Einigungsband des Volksstaates" 67 darstellen. Für den liberalen Staatsrechtslehrer Gerhard Anschütz, einen der wichtigsten zeitgenössischen Kommentatoren der Weimarer Verfassung, lag in einer rückblickenden Würdigung in der Herstellung und Sicherung nationaler Einheit eine der wichtigsten Leistungen dieser Verfassung, die damit ein von Bismarck und Treitschke anvisiertes Ziel erreichte: „Erst jetzt, das dürfen wir, ohne Bismarck und sein Werk zu verkleinern, doch bekennen, - erst jetzt nach der Staatsumwälzung und auf Grund der neuen Verfassung, haben wir ganz zweifelsfrei den Grad von Einheit erreicht, auf den wir, als eine große Nation, einen unverlierbaren Anspruch haben..." 6 8 . Auf dem Hintergrund der sozialen Umwälzungen war 1919 eine unerläßliche Bedingung für die Schaffung nationaler Einheit die Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität, der Idee „eines sich selbst organisierenden Staatsvolkes". In der „Stärke des nationalen Staatsbewußtseins" 69 sah Preuß die Bedingung der „Lebensfähigkeit" aller modernen Demokratien. VerfasVgl. T. NIPPERDEY, Interessenverbände. H . PREUSS, Verfassungswerk, S.422. 67 H . PREUSS, Obrigkeitsstaat, S. 21. 68 G . ANSCHÜTZ, Leitgedanken, S. 11. 69 H . PREUSS, Obrigkeitsstaat, S. 2. 65 66
Die Demokratisierung
19
sungsgebung, nationale Einigung und Demokratisierung waren damit 1919 eng verschränkt. Dementsprechend formulierte Preuß als den obersten „Leitgedankein) der freistaatlichen Verfassung von Weimar": „Das deutsche Volk zur sich selbst bestimmenden Nation zu bilden, zum erstenmal in der deutschen Geschichte den Grundsatz zu verwirklichen: Die Staatsgewalt liegt beim Volke" 70 . Vor allem aufgrund dieser Verschränkung von nationaler Einigung und Demokratisierung sah Anschütz eine direkte Linie zwischen den Verfassungsbemühungen von 1848/49 und 1919: „Beide Male sind, in Frankfurt 1849 und in Weimar 1919, Leitgedanken maßgebend gewesen, die... doch sehr weitgehend zusammenstimmen" 71 . Verschärft hatte sich gegenüber 1848 noch das soziale Verfassungsproblem. Deshalb sah Preuß in der Integration der Arbeiterschaft eine wichtige Funktion der neuen Verfassung: „Die moderne Demokratie muß ... selbstverständlich stark sozial betont sein" 72 . Für den linksliberalen Staatsrechtler Richard Thoma war die Demokratie „soziologisch, d.h. realitätsmäßig gesehen ... die politische Emanzipation des Proletariats" 73 . Preuß war realistisch genug, um nicht dem Glauben zu erliegen, „daß die wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe auch in der schönsten demokratischen Staatsordnung verschwinden werden" 74 . Es war für ihn ein unumstößliches Faktum, daß in einer „voll entfalteten und hoch differenzierten Gesellschaftsstruktur natürlich ... wirtschaftliche und soziale Klassengegensätze" 75 auch weiterhin existieren würden. Die Verfassung könne deshalb auch kein Mittel sein, den nötigen sozialen Ausgleich und Fortschritt unmittelbar herzustellen. Sie solle „durch die politische Organisation den Weg offen halten", die Grundlage, den Ausgangspunkt, die Voraussetzung für „eine reiche und kräftige, wenn auch allmähliche, schrittweise fortschreitende Entfaltung des sozialen Gedankens" bilden 76 . Im nationalen Einheitsgefühl sah Preuß zwar ein mögliches „wirksames Gegengewicht" 77 gegen diese gesellschaftlichen Antagonismen, aber nicht deren Auflösung. In der realistischen Sicht der sozialen Verhältnisse gründete auch sein Urteil, daß der Anspruch des alten Obrigkeitssystems, eine Regierung „über den Parteien" darzustellen, also „kein Parteiinteresse, sondern nur das Staatsinteresse in idealer 70
H . PREUSS, Begründung, S. 397.
71
G . ANSCHÜTZ, Leitgedanken, S. 5 .
72
H . PREUSS, Begründung, S. 427.
R. THOMA, Sinn und Gestaltung, S. 98. Thoma, geprägt durch den süddeutschen Liberalismus, ein enger Freund Max Webers - er bezog in der Ziegelhäuser Landstraße 17, nachdem E . Troeltsch 1915 ausgezogen war, eine Wohnung - engagierte sich nach 1918 in der DDP. Eine zusammenfassende Darstellung von Thomas Demokratieverständnis gibt HANS-DIETER RATH, Positivismus und Demokratie. Draths Anliegen ist es dabei, die „wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und gesellschaftstheoretischen Implikate einer liberalen Denkposition aufzudecken und zu verdeutlichen" (S. 17). 73
74
H . PREUSS, B e d e u t u n g , S . 4 9 4 .
75
H . PREUSS, Obrigkeitsstaat, S. 2 5 .
76
H . PREUSS, Bedeutung, S. 497.
77
H . PREUSS, Obrigkeitsstaat, S. 2 5 .
20
Die Weimarer Reichsverfassung
Reinheit" zu vertreten, nichts weiter als eine „Legende" 78 gewesen sei, die letztlich nur die einseitige Abhängigkeit von den sozialen Schichten kaschiert habe, für die die Erhaltung des alten Obrigkeitsstaates zugleich die Wahrung ihrer Privilegien garantierte. Preuß insistierte darauf, daß politische Ziele sich „nur im Kampfe der Meinungsgegensätze, im politischen Parteikampfe herausarbeiten" 79 könnten. Eine unverzichtbare Voraussetzung für die Bildung eines einheitlichen politischen Willens lag deshalb unter den gegebenen Bedingungen einer ausdifferenzierten, antagonistischen Gesellschaftsstruktur in der Bereitschaft zum Kompromiß. Das Verfassungswerk von Weimar war selbst schon der Inbegriff eines solchen Kompromisses. Richard Thoma urteilte 1922 in seiner Darstellung der Leitgedanken der Weimarer Verfassung: „Das Werk von Weimar ist zustandegebracht worden als mühsames, schließlich aber mit achtunggebietender, ja imponierender Mehrheit beschlossener Kompromiß zwischen großen staatsbildenden Kräften, zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft; es gilt, diesen Kompromiß zu ehren in dem allbeherrschenden Interesse der im Inneren zu bewahrenden, nach außen zu bewährenden nationalen Einheit" 80 . Friedrich Meinecke akzentuierte die Orientierung an der Sicherung der inneren Einheit nicht ausschließlich als Ausfluß nationaler Interessen, sondern interpretierte die Suche nach Kompromissen zugleich als Ausdruck des Interesses am sozialen Frieden. Für ihn war die „Republik ... das große Ventil für den Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, sie ist die Staatsform des sozialen Friedens zwischen ihnen"81. Von entscheidender Bedeutung für die weitere politische Entwicklung war, ob jene in der Anfangsphase vorhandene Bereitschaft zu Ausgleich, Vermittlung und Suche nach Kompromissen für die Träger der Weimarer Koalition auch weiterhin der zentrale Orientierungspunkt ihres politischen Handelns blieb und das Wissen um die Unumgäng78
H . PREUSS, R e p u b l i k , S . 4 6 2 .
79
H . PREUSS, O b r i g k e i t s s t a a t , S . 2 3 .
80
R . THOMA, L e i t g e d a n k e n , S . 2 6 .
81 F. MEINECKE, Politische Schriften, S. 376. Zu Meineckes Einstellung zur Weimarer Republik - er bezeichnete sich selbst als „Vernunftrepublikaner", der aber „Herzensmonarchist" geblieben sei (ebd., S. 281)-vgl. W. BESSON, F. Meinecke und die Weimarer Republik. Besson weist auf die Ubereinstimmung zwischen Troeltsch und Meinecke hin. Beide hätten die Notwendigkeit einer neuen „undogmatischen Staatsgesinnung" gesehen (S. 119). Andererseits habe gerade Meinecke ein starkes Interesse an der Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik gehabt. „Vor allem hat Meinecke immer nur gefordert: so viel Altes wie möglich, ohne genauer die andere Seite zu prüfen: so viel Neues wie nötig" (S. 124). Meinecke bejahte, wie M. Weber, die Stärkung der Staatsführung durch das Amt des Reichspräsidenten und „ist nicht müde geworden, die Personifizierung der Staatsräson in Heinrich Brüning zu beschreiben und zu preisen... Daß diese Rückkehr zum Obrigkeitsstaat aus der Sorge sich nährte, mit der die nationalsozialistische Dynamik bürgerliche Menschen erfüllte, ist anzunehmen..." (S. 127). Vgl. auch W. BUSSMANN, Politische Ideologie zwischen Monarchie und Weimarer Republik (Historische Zeitschrift 190,1960, S. 55-77). Zu Meineckes Mitarbeit im „Weimarer Kreis" H . DÖRING, Weimarer Kreis. Zu Meineckes Mitarbeit in der D D P vgl. L . ALBERTIN, Liberalismus.
Volkssouveränität
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lichkeit der Suche nach Konsens auch jenen gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden und Parteien vermittelt werden konnte, die sich dem Verfassungskompromiß von Weimar bisher verweigert hatten: der radikalen politischen Linken einerseits, wie sie insbesondere in USPD und KPD, aber auch in zahlreichen diffusen Splittergruppen organisiert war, der antidemokratischen bürgerlich-nationalistischen Rechten andererseits, wie sie vor allem von der D N V P parteipolitisch repräsentiert wurde. Nur mit der Bereitschaft zum Kompromiß konnte das Verfassungswerk von Weimar zu einem nützlichen Instrument zur Bewältigung der immensen sozialen und politischen Probleme werden. Deshalb betonte Hugo Preuß auch, daß in der Kompromißfähigkeit „eine unabwendbare Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung (eines) geordneten politischen Lebens" 82 liege. Solche Kompromißbereitschaft war die Form eines konstruktiven Umgangs mit dem Prozeß sozialer Differenzierung und der weltanschaulichen Inhomogenität der Kultur, wie sie sich in Deutschland in der Zeit der Industrialisierung seit etwa 1850 ausgebildet hatte, aus der aber erst mit der Verfassung von 1919 auf der Ebene des politischen Systems die notwendigen Konsequenzen gezogen wurden.
3. Volkssouveränität Im Verfassungstext von 1919 findet sich keine zusammenfassende Definition von „Demokratie", ja nicht einmal das Wort selbst. Daher kann eine präzisere Bestimmung des mit „Weimarer Demokratie" bezeichneten politischen Systems nur aus einer kurzen Darstellung der mit der Verfassung normierten Grundstrukturen, des ,plan of government' erfolgen. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich dann auch Grundmuster „antidemokratischer Kritik" präziser erfassen. Laut Präambel der Bismarckschen Reichsverfassung schlossen die Könige und Fürsten des Deutschen Reiches 1871 „einen ewigen Bund zum Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes"83. Vergleicht man damit die Präambel der Weimarer Verfassung von 1919, so zeigt sich eine entscheidende Änderung: Das deutsche Volk ist vom Objekt zum Subjekt der Verfassungsgebung geworden. „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben" 84 . An dieser Änderung läßt sich das erste wichtige Element der Demokratisierung ablesen: Souverän ist das Volk. Demokratie bedeutete negativ gesehen zunächst 82
H . PREUSS, V e r f a s s u n g s w e r k , S. 422.
83
DEUTSCHE VERFASSUNGEN, S . 71.
84
Ebd. S. 99.
22
Die Weimarer Reichsverfassung
das Ende der Herrschaft der 22 Dynastien in Deutschland. Positiv rechtlich gefüllt wurde „Volksherrschaft" als das Recht auf Konstitution der politischen Ordnung. Im Schlußartikel der Verfassung (Art. 181) wurde vom deutschen Volk als dem verfassunggebenden Subjekt gesprochen, das durch sein Organ, die Nationalversammlung, diese Verfassung beschlossen und verabschiedet habe. Die Ideen von Volkssouveränität und verfassunggebender Nationalversammlung verwiesen zurück auf die Gedanken der Französischen Revolution, deren Verwirklichung in Deutschland 1849 gescheitert war. Die mit der Verfassung von 1919 vollzogene Öffnung für die in der Aufklärung wurzelnden politischen Traditionen zeigte sich auch in den Zielen, die dem Willen des deutschen Volkes mit dieser Präambel unterlegt wurden. Willibalt Apelt charakterisierte sie in seinem 1946 erschienenen Standardwerk „Die Geschichte der WeimarerVerfassung" als „Phraseologie des Liberalismus des 19. Jahrhunderts" 85 . Der entscheidende staatsrechtliche Gehalt des Gedankens der Volkssouveränität wurde in Art. 1 formuliert: „Das deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." 86 . Entscheidend ist nun, wie diese Rückbindung staatlicher Machtausübung an den Volkswillen strukturiert ist. Die Verfassung sprach dem Volk vor allem drei Möglichkeiten der Willensäußerung zu: Die Abgeordneten des Reichstags wurden nach Art. 22 „in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt". Es wählte außerdem direkt nach Art. 41 den Reichspräsidenten. Schließlich waren ihm durch die Artikel 73 bis 76 Möglichkeiten des Volksbegehrens und des Volksentscheids eingeräumt. Das Schwergewicht lag aber deutlich auf der Wahl von Repräsentativorganen, die, einmal gewählt, nicht mehr direkt an den Volkswillen zurückgebunden waren. Besonders deutlich zeigte sich dies an der Zurückweisung eines imperativen Mandates für die Abgeordneten im Reichstag, dem entscheidenden Gesetzgebungsorgan. Gemäß Art. 21 waren die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden." In einem an der Verfassung orientierten Verständnis ließ sich diese Demokratie zunächst definieren als ein Staat, dessen Staatsrecht „alle Schichten des Volkes zum gleichen Wahl- und eventuell Stimmrecht beruft und alle Herrschaftsgewalt unmittelbar oder mittelbar auf dieser Grundlage aufbaut"87. Diese Definition Richard Thomas in seinem Artikel „Das Reich als Demokratie" im „Handbuch des deutschen Staatsrechts" hat zwei bemerkenswerte Komponenten: Zum einen wird die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Schichten betont. Demokratisierung ist deshalb auch zu verstehen als „Name für das welthistorisch epochemachende Wagnis der abendländischen Zivilisation, die handarbeitenden Klassen trotz oder wegen ihrer gewachsenen, ja 85
W. APELT, G e s c h i c h t e , S. 131.
86
Alle weiteren Zitate des Verfassungstextes nach DEUTSCHE VERFASSUNGEN. R. THOMA, Reich als Demokratie, S. 190.
87
Der Dualismus von Parlament und Reichspräsident
23
vielleicht alle andern Klassen und Gruppen überwachsenden Zahl zu gleichem Rechte in den Staat hineinzunehmen" 88 . Zum andern fällt die bewußte Begrenzung dieser Definition auf. Demokratie in diesem Sinne bedeutet nicht mehr als die Gleichheit hinsichtlich des Wahlrechts. Weitergehende Gleichheitsforderungen, etwa die Beseitigung der „natürlichen Ungleichheit der Menschen an Charakter und Fähigkeiten", werden bewußt ausgeschlossen, weil in ihnen ein notwendiger Faktor gesellschaftlicher Fortentwicklung gesehen wird. Ebenso werden weitergehende substantielle Definitionen des Volkswillens vermieden. Die bewußt formale Definition der Volkssouveränität sollte das politische System gemäß dem Mehrheitsprinzip offenhalten für sich ändernde gesellschaftliche Kräftekonstellationen und die damit gegebenen Verschiebungen von Interessenlagen und politischen Zielen. Diese Beschränkung zusammen mit der Bedeutung des Repräsentationsgedankens erwiesen die „deutsche Demokratie als eine solche ganz überwiegend liberaler Prägung" 89 .
4. Der Dualismus von Parlament und Reichspräsident Die Demokratisierung des politischen Systems bedeutete zugleich seine Parlamentisierung 90 , denn mit der Weimarer Verfassung wurde der Reichstag zu einem entscheidenden Organ im Regierungssystem. Nach Art. 68 Abs. 2 mußten die Reichsgesetze vom Reichstag beschlossen werden. Vor allem aber bedurften nach Art. 54 der Reichskanzler und die Reichsminister des Vertrauens des Reichstages zu ihrer Amtsführung. Charakteristisch für das parlamentarische System von Weimar war der Versuch, ein Gleichgewichtssystem zwischen zwei Staatsorganen zu konstruieren, dem Reichstag und dem Reichspräsidenten. Hugo Preuß, aber auch Max Weber91 waren schon in den 88
Ebd. S. 189. Ebd. S. 192. 90 Zur Vorgeschichte der Parlamentarisierung in Deutschland G. A. RITTER, Entwicklungsprobleme; H . SCHULZE, Einleitung. Historische Perspektive und eine Analyse der Probleme des parlamentarischen Systems, wie sie aus dem Mehrheitsprinzip und der parteienstaatlichen Demokratie entstehen, verbindet K. KLUXEN, Geschichte und Problematik. Hinsichtlich der spezifisch deutschen Schwierigkeiten vgl. vor allem E. FRAENKEL, Belastungen. Fraenkel weist deutlich auf den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit eines funktionierenden Parteiensystems und dem Parlamentarismus hin. In Deutschland habe gerade die Ausschaltung der politischen Parteien aus den wichtigen Entscheidungsprozessen im Bismarckreich verhängnisvolle Folgen gehabt: „Von der These eines vorgegebenen Gemeinwillens ausgehend und der Möglichkeit beraubt, die abstrakt formulierten Prinzipien ihrer Gesetzgebungsprogramme auf ihre Durchführung hin zu untersuchen, mußten sich die deutschen Parteien in einen Doktrinarismus verrennen, der auch heute noch als Vorbelastung auf dem deutschen parlamentarischen System ruht" (ebd.,S. 25) 91 Zu M. Webers verfassungspolitischen Vorstellungen vgl. vor allem seine Aufsätze „Parlament und Regierung", „Wahlrecht und Demokratie". Zu Webers Einfluß auf den Verfassungsent89
24
Die Weimarer Reichsverfassung
weithin unter Ausschluß der Öffentlichkeit gehaltenen Vorberatungen zur Verfassungsgebung der Uberzeugung, daß einem von ihnen befürchteten Parlamentsabsolutismus nur gewehrt werden könne durch die Konstruktion einer Gegengewalt zum Parlament, den Reichspräsidenten. Er galt als eine Art ,Ersatzkaiser', der, über den Parteien stehend, die Einheit des Volkes repräsentieren sollte. Seine starke verfassungsrechtliche Stellung läßt sich an folgenden Artikeln ablesen: Der Reichspräsident wurde nach Art. 41 unmittelbar vom Volk gewählt und konnte deshalb als „der Erwählte der Millionen" 92 gelten. Nach Art. 25 Abs. 1 hatte er das Recht zur Auflösung der Reichstages, nach Art. 47 den Oberbefehl über die Wehrmacht, nach Art. 53 ernannte und entließ er den Reichskanzler, nach Art. 73 konnte er gegen Beschlüsse des Reichstages einen Volksentscheid herbeiführen und nach Art. 48 Abs. 2 hatte er das Notverordnungsrecht. Folgt man R. Thoma, dann läßt sich der für das Weimarer parlamentarische System signifikante Dualismus folgendermaßen charakterisieren: „Im Sinne der Reichsverfassung soll der Reichspräsident der Reichsregierung assistieren, darf er sie indes moderieren und insofern korrigieren. Er soll aber nicht versuchen, sie zu dirigieren und darf sie keinesfalls in Konfliktabsicht konterkarieren" 93 . Uber den formalrechtlichen Rahmen hinaus war die konkrete Gestaltung dieses Verhältnisses von den jeweiligen Amtsinhabern abhängig. Mit dieser offenen Verfassungskonstruktion waren jedoch Konflikte vorprogrammiert. Auf ihrer Grundlage konnten gegensätzliche Auslegungen der Frage, wer denn Repräsentant des Volkswillens sei, beanspruchen, verfassungskonform zu sein. Vom Text der Verfassung her war es einerseits möglich, den Reichstag als einziges entscheidendes Repräsentativorgan zu begreifen und damit den Schwerpunkt auf ein am gesellschaftlichen Pluralismus und damit den Parteien orientiertes Politikverständnis zu legen. So definierte etwa Fritz Stier-Somlo im „Handbuch des deutschen Staatsrechts" die rechtliche Stellung des Reichstages folgendermaßen: „Der Reichstag ist die einzige Volksvertretung ... Repräsentant des Trägers der Reichssouveränität, des deutschen Volkes" 94 . Es war aber andererseits auch ein Verständnis des Verfassungstextes möglich, wie es dann der zweite Reichspräsident Paul von Hindenburg bei seiner Vereidigung am 12. Mai 1925 vor dem Reichstag formulierte: „Reichstag und Reichspräsident... zusammen erst bilden die Verkörperung der Volkssouveränität, die die Grundlage unseres gesamten heutigen wurf W. J. MOMMSEN, Weberund die deutsche Politik; ders., Ein Liberaler in der Grenzsituation; ders., Zum Begriff der ,plebiszitären Führerdemokratie'. Zur Diskussion um Mommsens Deutung, in der er deutlich Webers Nationalismus und sein Eintreten für plebiszitäre Führerstaatsideen herausarbeitet; vgl. J. KOCKA, Kontroversen über Max Weber. 92 R. THOMA, Sinn und Gestaltung, S. 119. 93 R. THOMA, Rechtliche Ordnung, S. 508. Zur Problematik des Art. 48 vgl. den Überblick v o n H . BOLDT, A r t i k e l 4 8 . 94
F. STIER-SOMLO, R e i c h s t a g , S. 3 8 2 .
Der Dualismus von Parlament und Reichspräsident
25
Verfassungslebens bildet" 95 . Mit dieser Auslegung konnte sich dann auch der Schwerpunkt verlagern auf ein stärker monistisches, auf dem Glauben an die Möglichkeit eines nicht partikularen, überparteilichen Standpunktes ruhendes Politikverständnis, das in der Tradition des alten obrigkeitsstaatlichen Denkens stand. Solch ein Verständnis wurde zudem durch die Tatsache erleichtert, daß die Verfassung über die Funktion der Parteien schwieg. Zwar hatte der Vater der Verfassung, Hugo Preuß, es selbst als ein wichtiges Element des Ubergangs „Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat" beschrieben, daß den Parteien eine neue und entscheidende politische Rolle zuwächst: „Wird in der volksstaatlichen Organisation die allgemeine Richtung der Politik bestimmt durch die im Volkswillen, in der öffentlichen Meinung überwiegende Richtung, so kann sich diese nur im Kampfe der Meinungsgegensätze, im politischen Parteikampfe herausarbeiten. Bei aller möglichen Verschiedenheit der staatsrechtlichen Formen im einzelnen ist also die volksstaatliche Regierung allerdings unvermeidlich Parteiregierung in irgendeiner Form" 96 . Trotzdem findet sich das Wort „Partei" im Text der Verfassung nur einmal, und zwar in Art. 130 in einer negativ abgrenzenden Formulierung: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei". Der sozialdemokratische Verfassungsrechtler Gustav Radbruch konstatierte in seiner Darstellung „Die Rolle der politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts" nur ein „Versteckspiel des Staatsrechts gegenüber den Parteien". Die Wurzel dieser „Ignorierung der Partei" sah er „weniger in der Ideologie der Demokratie als in der überkommenen und auch im neuen Staat folgewidrig festgehaltenen Ideologie des Obrigkeitsstaates", zu deren Fundamenten der „Glauben an die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien" gehörte: „Das Vaterland über der Partei". In diesem Glauben liegt für Radbruch „die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates". Demgegenüber gehe die demokratische Staatsform gerade davon aus, „daß es eine beweisbare und unwiderlegbare Richtigkeit im Bereiche der politischen Grundanschauungen nicht gibt - nur unter dieser Voraussetzung kann ja jeder politischen Überzeugung, die eine Mehrheit für sich zu gewinnen vermochte, das gleiche Recht zugestanden werden, die Herrschaft im Staate zu übernehmen. Der Relativismus ist die Weltanschauung, die vom demokratischen Gedanken vorausgesetzt wird97. Wo die Fiktion der Möglichkeit eines überparteilichen, d. h. sich nicht zur Partikularität und Interessenbedingtheit bekennenden, sondern Allgemeingültigkeit beanspruchenden Standpunktes aufrecht erhalten wird, sieht Radbruch deshalb eine Gefahr für die Demokratie. Die Schwierigkeiten, die sich gerade in Deutschland aus dieser hohen Bedeutung der Parteien im System der parlamentarischen Demokratie ergeben, hat allerdings schon Hugo Preuß selbst klar gesehen. Da im alten Regie95
Zitiert nach H . POHL, Zuständigkeit des Reichspräsidenten, S. 388.
96
H . PREUSS, O b r i g k e i t s s t a a t , S. 23. G . RADBRUCH, P a r t e i e n , S. 289.
97
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D i e Weimarer Reichsverfassung
rungssystem die Parteien keinen Einfluß auf die Regierung hatten, konnten sie - so Preuß - „im leeren Räume politischer Unverantwortlichkeit unentwegt ihre doktrinären Programme entwickeln, Forderungen aufstellen und ihren Wählern Versprechungen machen, die Sorge für die Ausführbarkeit und Vereinbarkeit mit den politischen Lebensnotwendigkeiten der Obrigkeitsregierung überlassend" 98 . Daß Hugo Preuß damit einen zentralen Schwachpunkt der parlamentarischen Demokratie markiert hatte, zeigt auch die Rückschau von Gustav Radbruch auf fünf Jahre Verfassungsleben unter der Weimarer Verfassung. Er sah in seinem Artikel „Goldbilanz der Reichsverfassung" 1924 im ideologisch verfestigten und weltanschaulich aufgeladenen Charakter der deutschen Parteien einen der Hauptbelastungsfaktoren für die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie: „Nur bei uns gibt es Bekenntnisparteien, nicht minder starr wie die religiösen Konfessionen von ehedem. Wo aber der politische Kampf der Parteien die Züge eines Religionskrieges trägt, ist parlamentarische Politik unmöglich, besonders dann, wenn sie Koalitionspolitik sein muß. Für eine Bekenntnispartei kann es von Rechts wegen keine Koalition, keinen Kompromiß geben - es wäre Verrat am Bekenntnis ... Mit der Neigung des Deutschen, alles schwer zu nehmen und über allem schwer zu werden, mit dieser allzu gründlichen Betrachtung politischer Kämpfe, die sie zu Weltanschauungsunterschieden, ja Religionsgegensätzen steigert oder vertieft, ist das parlamentarische System nicht vereinbar" 99 .
5. Grundrechte Zu den herausragenden Merkmalen der Weimarer Verfassung gehört der umfangreiche Katalog von Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen, die den zweiten Hauptteil der Verfassung bilden. Auch hier knüpfte die Verfassung an die aus der Französischen Revolution kommenden und im 19. Jahrhundert in Deutschland vom liberalen Bürgertum getragenen Traditionen und Forderungen an, deren reichsumfassende Realisierung 1848/49 vergeblich versucht worden war. In der Paulskirchenverfassung war ein Grundrechtsteil formuliert worden; in der Bismarckschen Reichsverfassung gab es keine Grundrechtsformulierungen. In der Verfassung von 1919 gelten von 181 Verfassungsartikeln 56 Grundrechtsfragen. Der zweite Hauptteil der Verfassung ist in fünf Abschnitte unterteilt: die Einzelperson, das Gemeinschaftsleben, Religion und Religionsgesellschaften, Bildung und Schule, das Wirtschaftsleben. Hugo Preuß war zunächst gegen die Formulierung von Grundrechten. Im Wissen um die Kontroversen in der Paulskirche befürchtete er, daß die Bera98
H . PREUSS, O b r i g k e i t s s t a a t , S . 2 4 .
99
G . RADBRUCH, Goldbilanz der Reichsverfassung (Die Gesellschaft 1,1924), S. 64.
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Grundrechte
tungen über einen Grundrechtsteil zu keinem baldigen Ende kommen würden und sich damit die Verabschiedung der gesamten Verfassung zu lange verzögern könnte. Es ist dem Einsatz von Friedrich Naumann zu verdanken, daß schließlich doch ein Grundrechtsteil zustandekam. Einen ersten Regierungsentwurf kritisierte Naumann: „Er war der Ansicht, daß die im Regierungsentwurf enthaltenen, als Grundrechte bezeichneten Rechtssätze eigentlich nur antiquierte Denksteine, Museumsstücke früherer Rechtskultur seien. Sie seien für das große Volk nicht verständlich und entsprächen nicht der gegenwärtigen Kulturentwicklung. Er wünschte stattdessen ein Bekenntnis zu den leitenden Ideen der neuesten Entwicklung" - so der Bericht über die Ausschußarbeit von Düringer100. Naumann trug daraufhin selbst einen Entwurf vor, der allerdings mehr einer Sentenzensammlung glich. In einem Kommentar wurde er als „staatsbürgerlicher Volkskatechismus mit stichwortartigen Prägungen"101 bezeichnet. Erst durch die Bearbeitung des Abgeordenten Beyerle wurde das Ganze zu einem juristisch handhabbaren Text. Dieser Text konnte nach Düringer „als der Niederschlag der gegenwärtigen deutschen Rechtskultur und zugleich in mehrfacher Hinsicht als ein Programm der künftigen Rechtsentwicklung angesehen werden"102. Dieser Grundrechtsteil spiegelt deutlich den Interessenpluralismus der Parteien der Weimarer Koalition wider und ist in seiner Gesamtheit ebenfalls ein Kompromiß. Einerseits finden sich die „klassischen", im Liberalismus formulierten Persönlichkeitsrechte, die auf eine Begrenzung staatlicher Machtausübung zielen. So formuliert Art. 109 Abs. 1 etwa die Gleichheit vor dem Gesetz, mit Art. 114 wird die Freiheit der Person garantiert. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 115), Briefgeheimnis (Art. 117), Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 118), Versammlungsfreiheit (Art. 123) sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 135) sind weitere klassisch liberale Grundrechte, die in dieser Verfassung verankert wurden. Andererseits findet sich aber auch ein umfassender Katalog von Grundrechten, der versucht, die aus dem wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel resultierenden Probleme aufzunehmen und eine Reihe von sozialpolitischen Zielvorstellungen als Verfassungsrecht festzuschreiben. Die Pflicht zum Schutz der Jugend „gegen Ausbeutung sowie sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung" (Art. 122) wurde formuliert. Neben der Garantie des Eigentums wurde festgehalten: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste" (Art. 153). Hohe Ziele wurden auch im Hinblick auf eine gerechte Bodenverteilung ausgesprochen: Staatliches Handeln soll „Mißbrauch" verhüten und garantieren, daß „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren 100
Zitiert nach
101
F R . POETZSCH-HEFFTER,
Verfassung, S . 5 0 9 . Kommentar, S. 394. Vgl. dazu auch E. R. marer Grundrechts-Entwurf. 102 Zitiert nach R. T H O M A , Bedeutung, S. 5. G . ANSCHÜTZ,
HUBER,
Naumanns Wei-
Die Weimarer Reichsverfassung
28
Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte" (Art. 155) gesichert werde. Mit Art. 161 wurde dem Reich die Aufgabe gestellt, ein umfassendes Sozialversicherungswesen aufzubauen, und Art. 163 verpflichtete den Staat, im Falle der Arbeitslosigkeit für den „notwendigen Unterhalt" zu sorgen. Den Organisationen der Arbeiterbewegung und den Unternehmerverbänden wurde das Recht zuerkannt, „gleichberechtigt" die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu regeln (Art. 165). Mittels dieses - hier nur exemplarisch dargestellten - Kataloges von sozialpolitischen Zielen wurde die Weimarer Demokratie bewußt als Sozialstaat konzipiert, der sich einerseits abgrenzte von der Laissez-faire-Haltung des traditionellen bürgerlichen Liberalismus, der aber andererseits auch radikale sozialistische Forderungen abwehren sollte. Zugleich war damit ein Ansatzpunkt gegeben für ein Grundrechtsverständnis, das in den Grundrechten nicht nur Schranken staatlicher Politik, sondern eine Verpflichtung zur Ausdehnung der Staatstätigkeit in verschiedenen Bereichen sieht. Die Formulierung dieser hohen Ziele in der Verfassung barg allerdings auch eine Gefahr in sich. Falls diese Ziele nicht eingelöst wurden, trugen sie dazu bei, die Anerkennung der Verfassung auszuhöhlen, da diese dann nur noch als ein Stück wirkungs- und nutzloses Papier voller leerer Versprechungen erscheinen konnte. Von grundlegender Bedeutung für das neue Gemeinwesen war die in den Artikeln 135 bis 141 vollzogene Trennung von Kirche und Staat, deren Schlüsselsatz in Art. 137 formuliert ist: „Es besteht keine Staatskirche". Damit war die Auflösung des Bündnisses von Thron und Altar vollzogen. Aus der Perspektive des politischen Systems bedeutete dies seine Abkoppelung von einer religiös-christlichen Legitimationsbasis. Aus der Perspektive der Kirche stellte sich die Aufgabe, eine neue selbständige Organisationsform in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft und damit auch ein neue politische Rolle zu suchen. Freilich kann die Trennung von Kirche und Staat nicht einfach als die Preisgabe einer christlichen Grundorientierung interpretiert werden. Vielmehr war es im bürgerlichen Lager durchaus möglich, diese Verfassung auch als den Versuch zu verstehen, solch eine Grundorientierung unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu sichern. Dies zeigt das Urteil von R. Thoma: Er beanspruchte für die Verfassung, daß sie „geboren (sei) aus Ethik und Metaphysik des Christentums", die sich transformiert hätten in einen „innerweltlichen Enthusiasmus für Menschenwürde und Menschenglück" 1 0 3 . Die Neuregelung des Verhältnisses von Kirche und Staat war ihrerseits nur Ausdruck und Konsequenz des Ausdifferenzierungsprozesses der modernen Gesellschaft. Darin liegt ihre über rein kirchenrechtliche Fragen hinausgehende Bedeutung. Auf diesen Zusammenhang hat Otto Baumgarten, ein in 103
R. THOMA, Reich als Demokratie, S. 190.
Grundrechte
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der DDP tätiger Repräsentant des protestantischen Liberalismus im „Handbuch der Staatskunde" ausdrücklich hingewiesen: Da mit der Verfassung „jede Art von Glaubens- und Bekenntniszwang beseitigt" ist, wird „zugleich ... anerkannt, daß es keine deutsche Einheitskultur gibt, die allen Kindern des Volkes übermittelt werden konnte, sondern eine Gespaltenheit in Bekenntnisse und Weltanschauungen" 104 . Von dieser „Gespaltenheit in Bekenntnisse und Weltanschauungen" legt gerade der Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung ein deutliches Zeugnis ab. Er konnte nicht mehr, aber auch nicht weniger sein als ein Kompromiß aus den verschiedenen Grundüberzeugungen der durch die großen Parteien repräsentierten gesellschaftlichen Gruppen. Aus der Perspektive eines nach wie vor an eine „deutsche Einheitskultur" glaubenden Denkens, konnte dieser Kompromißcharakter allerdings auch als Entscheidungsschwäche und Relativismus verstanden werden. So urteilte der Staatsrechtler Gustav Giere 1932 rückblickend in seiner Abhandlung „Das Problem des Wertsystems der Weimarer Grundrechte": „Man kann der Verfassung keinen Vorwurf machen wegen dieses Relativismus. Sie ist darin ein getreues Abbild der Zerrissenheit, die durch die ganze moderne Welt geht... So wird die Verfassung ein Gleichnis unserer damaligen politischen Lage in ihrer historischen Einmaligkeit" 105 . In der Nationalversammlung selbst hatte die Formulierung der Grundrechte die Funktion, eine Mehrheit zu gewinnen für den gesamten Verfassungsentwurf, indem zentrale Leitideen der verschiedenen Gruppierungen in der Verfassung selbst kodifiziert wurden. Der ganze zweite Teil wurde deshalb auch scherzhaft als „interfraktionelles Parteiprogramm" bezeichnet. Jede der Parteien der „Weimarer Koalition" aus Sozialdemokratie, DDP und Zentrum versuchte, die ihr wichtigen Rechte und Forderungen in diesem Teil zu verankern. Der Grundrechtsteil der Verfassung stellte deshalb mehr ein Konglomerat heterogener politischer Traditionen denn ein einheitliches System dar. Für die Folgezeit bedeutete dies: Jede Partei konnte ihre programmatischen Forderungen als verfassungsgemäß ausgeben. Neben der Konsensbildung in der Nationalversammlung hatte dieser Grundrechtsteil aber auch die Aufgabe, die Anerkennung der Verfassung in der Bevölkerung zu stärken, indem sie wichtige Wertorientierungen in der Gesellschaft ausdrücklich in sich aufnahm und Zielperspektiven für die weitere politische Arbeit formulierte. Richard Thoma hat in einem Kommentar zum zweiten Teil der Verfassung auf diese Erwartung ausdrücklich hingewie1 0 4 O. BAUMGARTEN, Staat und Kirche, S.22. Zur Biographie vgl.: O. BAUMGARTEN, Lebensgeschichte. Zu Baumgartens theologischer Arbeit vgl. jetzt die Studie von F. W. GRAF, Lex Christi. Graf arbeitet u.a. die enge Verzahnung zwischen Baumgartens politischen Aktivitäten und seinen theologischen Arbeiten heraus. 105 G. GIERE, Problem des Wertsystems, S. 97. Vgl. auch das Urteil aus der Retroperspektive von DETLEV J . K . PEUKERT, Weimarer Republik: „Eine Verfassung aus einem Guß war weder zu erwarten, noch konnte sie erwünscht sein. Sie hätte doch nur als Oktroi einer siegreichen radikalen Mehrheit erfolgen können ..." (S. 47).
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Die Weimarer Reichsverfassung
sen und zugleich deutlich gekennzeichnet, an welche Stelle diese Grundrechtsartikel treten sollen: „Eine republikanische Verfassung, welche auf die integrierende symbolische Kraft der Krone verzichtet, wird mit dem kahlen Gerüst der Verfassungsorganisation allein die Herzen ihrer Bürger nicht gewinnen können, selbst dann nicht, wenn dieses Gerüst auf der Grundlage der Demokratie errichtet (ist). Von einer republikanisch-demokratischen Verfassung ist deshalb zu fordern, daß sie dem von ihr geordneten Volksstaat ein Symbol, eine Sinnrichtung, ein Maß von Zweckgebundenheit mit auf den Weg gebe"106. In der von Thoma bezeichneten Polarität, von „Sinnrichtung" und „Zweckgebundenheit" einerseits, und „kahlem" Organisationsgerüst andererseits, spiegelte sich eine mit der Verfassung selbst gegebene Spannung zweier Legitimationsmuster des politischen Systems: Eine ,formale' Legitimität, die vor allem orientiert war an den im ersten Hauptteil festgelegten Organisationsnormen für die politische Macht- und Willensbildung. Es war aber auch möglich, die Grundlage der Legitimität schwerpunktmäßig in den im Grundrechtsteil kodifizierten materialen Verfassungsprinzipien, dem politische Leitideen positivierenden „Wertsystem" der Verfassung, zu suchen. Das Interesse der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre konzentrierte sich, angeregt durch die hohe Bedeutung des Grundrechtsteils und seine mangelnde innere Geschlossenheit, überwiegend auf die zweite Möglichkeit, die Suche nach einem einheitlichen Wert- und Sinnsystem als Legitimationsgrundlage der Verfassung.
6. Die Verfassung als Dokument
liberalen
Denkens
Blickt man auf die Weimarer Verfassung als Ganzes, so lassen sich zusammenfassend folgende Merkmale nochmals hervorheben: 1. Auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts erscheint diese Verfassung in deutlicher Kontinuität zu den Verfassungsbemühungen von 1848/49. Mit ihr wurden erstmals für das gesamte deutsche Reich spezifisch moderne, seit Spätaufklärung und Frühliberalismus immer wieder geforderte Verfassungsstrukturen zu einer das gesamte Gemeinwesen bestimmenden Wirklichkeit. Nach M. Kriele war die Weimarer Demokratie „die verspätete deutsche Verwirklichung der Ideen von 1789"1Q7. Die Auseinandersetzung um ihre Anerkennung konnte deshalb im Sinne eines „unerbittlichen Kampf(es) zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung" geführt werden108. 106 107
R. THOMA, Juristische Bedeutung, S. 10.
M . KRIELE, E i n f ü h r u n g , S. 307. 108 W. BAUER, W e r t r e l a t i v i s m u s , S. 19.
Die Verfassung als Dokument liberalen Denkens
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2. Das Nationalstaatsdenken bildete eine selbstverständliche Voraussetzung und Grundlage für die demokratische Verfassung. Auch in den Reihen derer, die für die Demokratie eintraten, „rangierte zumeist,Nation' vor,Demokratie'", galt die „ ,Liebe zum Vaterland' als der höchste Wert"109. 3. Die Verfassung machte deutlich, wie untrennbar unter den Bedingungen der Massen- und Industriegesellschaft Fragen der Gestaltung des politischen Systems mit den drängenden sozialen Problemen verbunden sind. 4. Mit der Verfassung wurde auf der Ebene des politischen Systems die Konsequenz gezogen aus der Auflösung einer Einheitskultur. Sie stellte keine Lösung oder Stillegung des weltanschaulichen Pluralismus dar in dem Sinne, daß sie selbst beanspruchte, eine neue, in sich schlüssige, homogene Wertgrundlage für die Gesamtgesellschaft zu formulieren. Sie erkannte vielmehr diesen Pluralismus an und stellte weitgehend formale Mechanismen zur Bearbeitung von Konflikten und zur Formierung eines einheitlichen politischen Willens bereit. Sie wollte einen Ermöglichungsgrund politischen Handelns darstellen, dieses aber nicht ersetzen. Das hatte schon Hugo Preuß unmißverständlich formuliert: „... den sozialen Fortschritt kann die Verfassung unmittelbar so wenig schaffen wie den sonstigen Inhalt des Volkslebens, aber ihm durch die politische Organisation den Weg offen halten, das kann sie"110. 5. In der Verfassungskonstruktion lagen Ansatzpunkte für zwei konkurrierende Auslegungsmöglichkeiten des Gedankens der Volkssouveränität und daran anknüpfend zwei unterschiedliche politische Grundorientierungen. Wurde der Reichstag als entscheidendes Repräsentativorgan des Volkswillens gesehen, war zugleich anerkannt, daß dieser Volkswille nicht einheitlich ist, sondern sich aus verschiedenen, miteinander ringenden Interessengruppen zusammensetzt. Wurde der Schwerpunkt der Repräsentation im Amt des Reichspräsidenten gesehen, konnte die Fiktion an einen alle Interessengegensätze und Parteigrenzen übergreifenden einheitlichen Gesamtwillen aufrecht erhalten werden. Mit der Schaffung dieses Amtes hatte die Idee der Überparteilichkeit des Staates und die Wandlung vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem einen Ansatzpunkt in der Verfassung. 6. Mit der Verfassung selbst waren zwei unterschiedliche Ansätze zu ihrer Legitimation gegeben: Die Legitimität konnte sich entweder schwerpunktmäßig begründen aus den formalen Regelungen des organisatorischen ersten Hauptteils oder aus den materialen Bestimmungen und politischen Zielvorstellungen des Grundrechtsteils. 7. Unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten pluralistischen Gesellschaft konnte die Verfassung selbst nur einen Kompromiß darstellen. Sie konnte damit auch nur dort ein sinnvolles Instrument für politisches Handeln werden, wo auf weltanschaulichen Absolutismus verzichtet und Kom109
R . RORUP, E n t s t e h u n g , S. 2 3 0 .
110
H . PREUSS, Begründung des Entwurfs, S. 397.
Die Weimarer Reichsverfassung
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promißbereitschaft als notwendige demokratische Tugend anerkannt wurde111. 8. An den Strukturen der Macht- und Meinungsbildung, die mit der Verfassung für verbindlich erklärt wurden, wird eines deutlich: Sie war im wesentlichen geprägt vom Geist aufgeklärt-liberalen Denkens. Ein starkes Gewicht auf repräsentativen politischen Institutionen, Gewaltenteilung, die herausragende Bedeutung der Grundrechte als individueller Freiheitsrechte, die dementsprechende Zurückhaltung in der Festlegung eines wirtschaftspolitischen Ordnungsrahmens durch den Staat, Auflösung des Staatskirchentums - all diese Elemente zeugen von der liberalen Färbung dieser Verfassung. In einer Charakterisierung des Werkes von Weimar urteilte Wilhelm Ziegler 1932: „Wenn wir zusammenfassend den Geist der Weimarer Reichsverfassung zu analysieren suchen, dann werden ganz deutlich drei Denkweisen sichtbar, die vorwiegend in ihr nach Geltung gerungen haben. Es sind die demokratische, die liberale und die parlamentarische Auffassung vom Staat" 112 . Auch nach R. Thoma hatte diese Verfassung eine „überwiegend liberale Prägung" 113 . Verwirklichung liberalen Denkens - das attestierte auch der profilierteste Kritiker des Liberalismus unter den Weimarer Staatsrechtslehrern, C. Schmitt, dem Werk der Nationalversammlung. „Die richtige Bezeichnung des neuen, in der Weimarer Reichsverfassung zur Geltung kommenden Staatsgedankens sehe ich in der Formel vom innenpolitisch neutralen Staat" 114 . Dies sei jedoch die Idee des bürgerlichen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts. „Ein Staat, der sich in solch einer Verfassung organisiert, ist neutral in dem Sinne, daß er den verschiedenartigsten politischen Richtungen und Tendenzen den Weg offen hält und ihnen die gleichen Chancen gibt... Die Vorstellung eines innenpolitisch neutralen Staates ist eine typisch liberale Vorstellung" 115 . Es ist „der sich 111 Vgl. das Urteil von D. J. U. PEUKERT, Weimarer Republik, über die Verfassung und die mit ihr gestellte Herausforderung: „Als realistischer Ausdruck der Kräfteverhältnisse des Jahres 1919 paßte sie sich zugleich einem strukturellen Grundproblem aller modernen Verrfassungspolitik an, wie sich nämlich antagonistische soziale Gegensätze, organisierte Partikularinteressen sowie konkurrierende Weltanschauungen und Werthaltungen überhaupt vermitteln lassen" (S. 47). Es sei das „Grundproblem jedes offenen und bewußt pluralistischen Verfassungskompromisses" (S. 51), daß er sich „praktisch im Grundkonsens und in der mehrheitsfähigen Kooperation der politischen und sozialen Trägergruppen bewähren und konkretisieren" müsse (S. 52). 112
W. ZIEGLER, Nationalversammlung, S. 178.
R. THOMA, Reich als Demokratie, S. 112. Vgl. auchT. SCHIEDER, Krise: „Im Jahre 1919 hat in Deutschland die liberale Idee des parlamentarischen Verfassungsstaates über den Sozialrevolutionären Diktaturgedanken gesiegt" (S. 74). Nach J. S. SCHAPIRO, Liberalismus, liegt in der Modernisierung des politischen Systems eine der entscheidenden Leistungen des Liberalismus. Die Konzentration auf Verfassungsfragen im Interesse der Demokratisierung wie der Sicherung individueller Freiheitsrechte seien dabei typisch für den Liberalismus gewesen. Nach LOTHAR GALL, „Sündenfall", ist die „innerste Substanz liberalen Denkens (im) Primat des Individuums" (S. 15) zu sehen. 113
114 115
C. SCHMITT, Hugo Preuß, S. 18. Ebd. S. 19
Die Verfassung als Dokument liberalen Denkens
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nicht einmischende, nicht intervenierende, passive agnostische Staat", der sich gründet auf den Glauben an die konsensstiftende Kraft öffentlicher Diskussion und den harmonischen Ausgleich von Interessen durch das Prinzip freier Konkurrenz. In diesen Sätzen klingt an, was die zentrale Formel der Kritik an dieser Verfassung von links wie von rechts wurde, eben dies, daß sie das Dokument antiquierten liberalen Denkens des 19. Jahrhunderts sei, das allen pluralistischen und zersetzenden Tendenzen der modernen industriellen Massengesellschaft ungehinderten Lauf lasse.
В. D I E D E L E G I T I M I E R U N G D E R W E I M A R E R REICHSVERFASSUNG
„Wir kämpfen nicht um Formen, wir kämpfen um Werte, wir kämpfen gegen den heute herrschenden Geist im politischen und volklichen Leben ... wir kämpfen darum, daß deutscher wehrhafter Geist sich neu mit der christlichen Tradition verbindet, die wir bejahen". Wilhelm Rosenberger, Der Ring 1929
I. Die Delegitimierung der Weimarer Reichsverfassung in der Staatsrechtslehre Den bestimmenden Kontext für die Diskussion um die politische Ordnung in den Jahren nach dem Ende des ersten Weltkrieges und der Revolution bildet eine fundamentale Krisenerfahrung. Sowohl der theologische als auch der staatsrechtswissenschaftliche Diskurs der zwanziger Jahre ist durch breite Debatten über die Krise des je eigenen Faches geprägt. Diese Krisen werden jedoch immer zugleich verstanden als Ausdruck einer Gesamtkrise der Kultur, die sich konzentriert und deshalb auch am deutlichsten ablesen läßt an der Krise der politischen Ordnung 1 . 1 Der Methodenstreit in der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre war mehr als eine reine Fachkontroverse. In ihm ging es „letztlich (um) die Frage nach der Legitimität der Weimarer Republik, und dem politischen Formprinzip parlamentarische Demokratie'" ( H . D . RATH, Positivismus, S. 14). Zu dieser Diskussion immer noch grundlegend K . SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken. Sontheimer begrüßt einerseits den theoretischen Neuansatz in den zwanziger Jahren, weil die „neue Lehre einen weiteren und zweifellos richtigeren Verfassungsbegriff" (S. 88) entwickelt habe. Andererseits beklagt er den Verlust des normativen Gehalts des Verfassungsrechts und verweist damit mehr oder weniger offen auf den entscheidenden, kritischen Punkt dieser neuen Lehren. So kommt denn Sontheimer auch zu dem sibyllinischen Urteil: „Wenn die Weimarer Verfassung so geringes Ansehen in der Öffentlichkeit genoß, so lag das gewiß nicht in erster Linie an einer Staatsrechtswissenschaft, die zu dieser Grundordnung keine prinzipielle Übereinstimmung erarbeiten konnte, aber es lag bis zu einem gewissen Grade auch an ihr" (S. 89). Diese Position Sontheimers wird wenig modifiziert dann auch vertreten von R . GRANER, Staatsrechtslehre. „Daß in der materialen Verfassungsinterpretation als Möglichkeit auch die Wendung gegen die Norm enthalten ist, hat die Methodendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre gezeigt. Deren Analyse ergibt jedoch auch, daß diese Wendung nicht Konsequenz der Methode selbst ist, sondern eine instabile gesellschaftliche Verfassung oder auch die bewußte Absicht des Interpreten voraussetzt, mit der positiven N o r m nicht zu vereinbarende Werte bzw. die ihr widersprechende wirkliche Verfassung gegen sie auszuspielen" (ebd., S. 203). Dagegen arbeitet J . MEINCK, Weimarer Staatslehre, die Problematik der Suche nach metajuristischen Legitimitätsgehalten in der Verfassungslehre deutlich heraus. „In der weit überwiegenden Mehrheit stand hinter ihrer Positivismuskritik ein unverhüllter Antiparlamentarismus ... Die antipositivistische Kritik intendierte in der Regel die Beschränkung der parlamentarisch-demokratischen Rechtssetzungsautorität" (ebd., S. 11). „Den verschiedenen staatsrechtswissenschaftlichen Ansätzen war ... die Distanzierung von demjenigen Gegenstand gemeinsam, der das eigentliche O b j e k t der Staatsrechtswissenschaft bildet: der Verfassung" (ebd., S. 120). Vgl. auchW. BAUER, Wertrelativismus. Das Ergebnis seiner Analyse ist, daß Entwürfe wie die E . Kaufmanns und R . Smends „das rationale Staatsdenken durch Wertbestimmtheit der Staatsgemeinschaft, sei es als Wesensbegriff oder als Integrationsprinzip, ersetzen. Mit der Uberwindung des Relativismus lehren sie im Ergebnis die Überwindung der Demokratie ... So bedeutet die Ausmerzung des rechtswissenschaftlichen Positivismus ... die Politisierung des Rechts gegen den Weimarer Verfassungsstaat" (ebd. S. 428). Deutlich benennt auch C . MÜLLER, Kritische Bemerkungen, die antidemokratische Grundtendenz der Relativismus- und Formalismuskritiker in der staatsrechtlichen Diskussion der zwanziger Jahre. Vgl. insbesondere S. 149 f. Er wendet sich gegen die Meinung, „es sei einer der größten Fenler der Weimarer Republik gewesen, daß sie ,agnostisch' und relativistisch' gewesen s e i . . . Dabei haben Judikatur und Lehre völlig verdrängt, daß in der Republik von Weimar die Offenheit der Verfassung, die mit den Begriffen ,Agnostizismus' und .Relativismus' polemisch umschrieben wird, nicht von einem anderen D e m o kratie-Konzept aus angegriffen worden ist. D e r Kampf gegen den ,Agnostizismus' und .Relativismus' richtete sich gegen die Demokratie von Weimar selbst . . . " (ebd., S. 149). Daß nicht pauschal jede Kritik am staatsrechtlichen Positivismus als antidemokratisches Denken bezeichnet werden kann, darauf weist M . FRIEDRICH, Methoden- und Richtungsstreit, hin.
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Die Delegitimierung in der Staatsrechtslehre
Dieses Bewußtsein einer tiefgreifenden Krise der Kultur ist das mentale Reservoir, aus dem sich die Kritik der mit der Weimarer Verfassung etablierten politischen Strukturen speist. Zwischen dem Legitimitätsdefizit der Verfassung, wie es für die Majorität der Zeitgenossen gegeben war, und der Erfahrung der Krisenhaftigkeit ihrer Gegenwart besteht ein innerer Zusammenhang.
1. Krisenbewußtsein in der Staatsrechtslehre Günther Holstein sieht in seinem Bericht über die Münchner Tagung der Staatsrechtslehrer 1924 die Arbeit seines Faches bestimmt von einer „Krisis des Rechtsdenkens", die in engem Zusammenhang mit der „Weltanschauungskrise unserer Tage" 2 steht. Krieg, Versailler Vertrag und Revolution hätten die Rechtswissenschaft „wachgerüttelt". Die Krise in der Rechtswissenschaft, die Zeit des Uberganges, der Erschütterung und Veränderung von Grundannahmen und -Orientierungen habe ihre Wurzeln in der Erschütterung des von Carl Friedrich von Gerber, Paul Laband und Georg Jellinek vertretenen rechtsformalistischen „Positivismus" der Vorkriegszeit. Dieser Rechtspositivismus sei seinerseits Ausdruck der politischen Lage gewesen, erwachsen „aus stabilen Verhältnissen und aus der Stimmung der Saturiertheit" 3 . So nötige das Zerbrechen solcher stabilen Verhältnisse und die Konfrontation mit einer neuen politischen Ordnung, die nicht mehr selbstverständlich und unbefragt gelte, zu einem tieferen Nachfragen, zur Suche nach Kriterien, mit deren Hilfe neue Orientierung im „Chaos der Lebenserscheinungen" 4 möglich werde. Die methodische Selbstbeschränkung des Positivismus, das für ihn typische Ausklammern aller metaphysischen, geistesgeschichtlichen, aber auch auf die Sozialverfassung bezogenen Fragen biete dazu keine Hilfe. Die Infragestellung des Positivismus in der Staatsrechtswissenschaft ist für Holstein nur Teil eines Prozesses, der sich auch in anderen Wissenschaften beobachten lasse. Er wird von ihm charakterisiert als „leidenschaftlich neu erwachtes Ringen unserer Tage um die Erkenntnis letzter metaphysischer Beziehungen und letzter transsubjektiver Werte" 5 . Auf die „WeltG. HOLSTEIN, Von Aufgaben und Zielen, S. 26. 4 Ebd., S. 27. Ebd.,S.26. 5 Ebd., S. 26. Die Kritik am Positivismus von Gerber-Laband nach 1918 stand in einer Tradition, die schon im Kaiserreich begann. M. STOLLEIS, Verwaltungswissenschaft, zeigt, „daß die Opposition gegen einen übertriebenen Formalismus und Konstruktivismus, gegen die Verbannung des Zweckmoments und der politischen Moralität aus dem (S.72) Staatsrecht sowie gegen den praktizierten unhistorischen Begriffsrealismus auch auf dem Höhepunkt allgemeiner Akzeptierung der .juristischen Methode' nicht erloschen war ... Die Staatslehre brachte nach einer Unterbrechung, die fast eine Generation angehalten hatte, plötzlich um 1900 wieder Grundsatzerörterungen hervor, deren Tendenz es war, dem empirischen Wissen über Staat und Gesellschaft, der Philosophie und normativen Politik sowie der Verfassungsgeschichte wieder Zugang 2 3
Krisenbewußtsein in der Staatsrechtslehre
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anschauungsfragen der Zeit" gelte es nicht mehr länger nur mit dem „Offenbarungseid der eigenen metaphysischen Impotenz" zu antworten, sondern entschlossen die Frage nach den „hinter dem positiven Recht liegenden Prinzipien, Ideen und Werte(n)", nach „materiale(n) und ethische(n) Inhaltswerte(n)" 7 des Rechts zu stellen. Auch Hermann Heller konstatiert 1926 einen engen Zusammenhang zwischen einer „Krisis der Staatslehre" 8 und der „Gesamtkrise... (der) geistesgeschichtlichen Situation" 9 . Ausgangspunkt dieser Krisis sei die Durchsetzung des Historismus in allen Kulturwissenschaften. Dieser alles zersetzende und relativierende Geist des Historismus des 19. Jahrhunderts lasse nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder die Verzweiflung darüber, daß es „überhaupt keine Seins- oder Sollensobjektivität" 10 mehr gebe, oder aber den Glauben an die „Gespenster leerer, weil geschichts- und damit wirklichkeitsfremder Begriffsformen, die in falscher Analogie zur mathematisch-logischen Methode gebildet eine höchst trügerische Sekurität und Objektivität vortäuschen...", aber doch das „bourgeoise Sekuritätsbedürfnis" 11 erfüllten. Diesem relativistischen Denken hätten vor allem die Neukantianer zum Durchbruch verholfen: „Kinder einer Epoche, der alle konkreten Werte unglaubhaft geworden sind", und Repräsentanten des „positivistischen Aberglauben(s), daß menschliche Erkenntnis ohne Metaphysik möglich sei" 12 . Der juristische Positivismus ist für Heller nur eine Ausformung solchen Denkens und der vorzu schaffen" (S. 73). Diese Umorientierung und neue Öffnung wurde, entgegen der gängigen Zuordnung von G . Jellinek zum Positivismus, von dessen „Allgemeiner Staatslehre" mit vorbereitet. Vgl. die Studie von G . HÜBINGER, Staatstheorie: „Bei Jellinek bedeutete die Kombination von Staatsrecht und Politik das Aufbrechen des begriffslogisch geschlossenen Systems der Labandschule und ihrer rechtspositivistischen Sterilität, mithin also die Öffnung zur politischen und Rechtsphilosophie und zu empirischen Untersuchungen" (S. 146). 7 E b d . , S. 29. ' E b d . , S. 27. 8 H . HELLER, Krisis der Staatslehre, GS Bd II, S. 30 ff. Zu Heller vgl. W. SCHLUCHTER, Entscheidung. Schluchter verweist auch auf die Affinität Hellers zu Strömungen in den zwanziger Jahren, die antidemokratisch wirken konnten: „Mit der Übernahme eines emphatischen Begriffs vom Leben als jener Einheit, aus der alles kommt und auf die alles zurückbezogen werden muß, teilte er mit vielen seiner Zeitgenossen den antirationalistischen Affekt, der die ,Gegenrevolution' in der Weimarer Republik mit motivierte" (S. 281). Außerdem die Beiträge in C . MÜLLER und I. STAFF, Staatslehre. J . BLAU, Sozialdemokratische Staatslehre, zeigt, „daß Heller mit seiner Problemstellung theoretisch und praktisch um den auf Integration beruhenden Zusammenhalt der interessen- und klassengespaltenen Gesellschaft der Weimarer Republik bemüht ist und hier das labile Verhältnis von antagonistisch strukturierter Gesellschaft und politischer Demokratie aufrechterhalten will" (S. 63). Nach Blaus Analyse scheitert Hellers Programm. Der Versuch Hellers, mittels der Gestaltung der Staatrechtslehre als praktischer Integrationswissenschaft „die Werturteilsproblematik" zu lösen, bleibt erfolglos. Seine Staatslehre „verbleibt in der Postulierung eines abstrakten, ahistorischen Sollens, das nicht beanspruchen darf, im Namen der Wissenschaft die übergreifenden Werte der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen" (S. 88). 9
H . HELLER, Souveränität, G S B d . I I , S . 9 9 .
10
H . HELLER, B e m e r k u n g e n , G S B d . I I , S. 2 5 2 .
11
Ebd., S. 276 vgl. 267. Ebd., S. 266.
12
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D i e Delegitimierung in der Staatsrechtslehre
läufige Endpunkt einer Entwicklung, die zwar begriffliche und methodische Klarheit in die Rechts- und Staatswissenschaft brachte, sie aber zur „völligen Hilflosigkeit" verurteilte gegenüber allen entscheidenden Fragen. So könne eine auf dieser Grundlage arbeitende Staatslehre weder die Fragen nach dem Wesen, der Realität und Einheit des Staates, das staatliche Zweck- und Rechtfertigungsproblem, die Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Macht noch auch die Fragen der Beziehung zwischen Staat und pluralistischer Gesellschaft angemessen klären. War schon der formalrechtlich orientierte Positivismus für Heller Ausdruck einer Krise, so radikalisiert sich für ihn diese Krise dort, wo auch der Glaube an solch ein formales, rationalistisches Vernunftverständnis noch zerstört wird. Genau dies macht aber nach Heller die Krise der Gegenwart aus: „Der Optimismus der Vernunft ist enttäuscht ... Eine neue gewaltige Selbstrelativierung des Denkens setzt ein, diesmal eine Relativierung nicht auf eine transzendente, sondern auf eine immanente Realität, auf Gesellschaft und Geschichte, auf das Leben" 13 . Den auf dem Fundament des Neukantianismus ruhenden juristischen Positivismus identifiziert auch Rudolf Smend als Ursache der Krise der Staatstheorie: „Ethische Skepsis, theoretischer Agnostizismus und innere Staatsfremdheit, fortschreitende Entleerung an sachlichen Ergebnissen" 14 seien die ruinösen Folgen dieses Denkens. Die damit verknüpfte Unfähigkeit in Fragen der politischen Ethik dokumentiert sich für Smend vor allem an den Arbeiten Max Webers, Friedrich Meineckes und Ernst Troeltschs: Ihr Denken sei „liberal im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat". „Hier wird die Skepsis der Theorie von echt deutscher letzter Staatsfremdheit der praktischen Gesinnung getragen" 15 . Dieser Zustand könne nur überwunden werden, wenn es gelingt, eine „materiale Staatstheorie" und die „soziologischen und teleologischen Gehalte der Rechtsnormen" 16 zu erarbeiten. Für die von Holstein, Heller und Smend beklagte Orientierungslosigkeit im „Chaos der Lebenserscheinungen", die Wirklichkeitsferne, den Verlust normativer Leitideale und die „ethische Skepsis" wird in der rechtswissenschaftlichen Krisenliteratur durchgängig eine „Weltanschauung" verantwortlich gemacht: der Liberalismus. Dieser Konsens in der Kritik und Ablehnung des Liberalismus umfaßt ein breites politisches Spektrum: Er reicht von einem Staatsrechtler wie Erich Kaufmann, der sich selbst als konservativ bezeichnet hat, bis zu einem Autor wie Hermann Heller, der dem sog. Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten angehörte, Mitglied der SPD gewesen war und während der zwanziger Jahre als Repräsentant einer linken Position staatsrechtlichen Denkens gegolten hatte. Für Hermann Heller liegen „die tieferen Wurzeln" der Krisis der Staatsrechtswissenschaft im „liberalen Rechtsstaatsrationalismus ..., der die Begriffe Staat, Volk, Repräsentation, 13 15
E b d . , S. 254. E b d . , S. 122.
14 16
R . SMEND, Verfassung, S. 123. E b d . , S. 124.
Krisenbewußtsein in der Staatsrechtslehre
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Souveränität usw. allesamt denaturiert hat"17. Rudolf Smend behauptet schlicht: „Liberale Staatstheorie ist keine Staatstheorie" 18 . Nach Carl Schmitt ist der Liberalismus eine „leere Hülse" 19 , ein altmodisches Relikt des 19. Jahrhunderts, dessen Harmonieglaube und Optimismus vollkommen ungeeignet seien zur Erfassung und Bewältigung der in einer Massengesellschaft sich stellenden politischen Probleme. Auch Gustav Radbruch sieht in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 1927 mit dem Abdanken des Liberalismus eine „Zeitenwende" gekommen, „ein neues Rechtszeitalter" anbrechen. Die Begründung für solch epochales Wendebewußtsein liegt für ihn im Durchbruch zu einem neuen Menschenbild, das „im Verhältnis zu dem abstrakten Freiheits-, Eigennutz- und Klugheitsschema des liberalen Zeitalters einen viel lebensnäheren Typus" darstellt, „in den auch die intellektuelle, wirtschaftliche, soziale Machtlage des Rechtssubjekts miteingedacht wird" 20 . In dieser Verwendung des Liberalismusbegriffs zeigen sich für die zeitgenössischen Debatten signifikante Bedeutungsaspekte: Liberalismus ist gleichbedeutend mit einem Individualismus und abstrakten Rationalismus, einer Geisteshaltung von isolierten Einzelwesen, deren oberstes Ziel allein die Maximierung und Sicherung ihres Eigennutzes ist. Die diesem fiktiven Individuum korrespondierende Staatstheorie gründe sich auf den Vertrag, den die atomistischen einzelnen im Interesse der Selbsterhaltung schließen. Primäre Aufgabe dieses so begründeten Staates sei der Rechtsschutz, nicht aber die Wahrung und Durchsetzung überindividueller Kulturgüter. Eine solche Geisteshaltung wurde zutiefst als unethisch empfunden. Daher knüpft Radbruch an den Anbruch des neuen Rechtszeitalters, an das neue Begreifen des „Menschen im Recht als Kollektivmenschen" auch die Hoffnung auf „eine neue Erfüllung des Rechts mit ethischem Pflichtgehalt". Diese neue Ethisierung des Rechts soll das Recht vor allem mit einem „kollektiven Ethos"21 erfüllen. Als Verfechter eines solchen „rationalistischen Rechtsliberalismus" 22 gilt in der zeitgenössischen Staatsrechtsdiskussion vor allem Hans Kelsen. Die an Kelsen geübte Kritik läßt ein wichtiges Motiv der Liberalismuskritik erkennen. Entsprechend seiner Prägung durch kantische Theorietraditionen war Kelsen sehr darauf bedacht, die Grenze zwischen Normativität und Faktizität, zwischen Rechtszwang und ethischer Verbindlichkeit nicht vorschnell zu verwischen. Allen Versuchen, einen engeren Zusammenhang zwischen Staatsrecht und Politik herzustellen, historische und soziologische Analysen 17 H. HELLER, Souveränität, GS Bd. II, S. 95. Zum Motiv des Antiliberalismus bei Heller vgl. I. STAFF, Staatslehre. „Nun ist Heller weit entfernt davon, den liberalistischen Rationalismus zu adaptieren..." (S. 10). 18
R . SMEND, V e r f a s s u n g , S . 2 1 9 .
C . SCHMITT, Verfassungslehre, S. 55. Zu Schmitts Liberalismuskritik vgl. ausführlicher S. 51 f. 20 G . RADBRUCH, Der Mensch im Recht, S. 16. 19
21
Ebd., S. 1 7 f .
22
H . HELLER, S o u v e r ä n i t ä t , G S B d . II, S. 9 2 .
Die Delegitimierung in der Staatsrechtslehre
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oder gar metaphysische Spekulationen in die Staatsrechtswissenschaft zu integrieren, stand er äußerst kritisch gegenüber. Er vermutete hinter solchen Versuchen die Erschleichung von Normativität. Vor allem aberwehrte er sich gegen eine Hypostasierung des „Staates" zu einem Subjekt sui generis. Jegliche Trennung von Staat und Recht lehnte er deshalb ab, weil eine Trennung und Uberordnung des Staates über das Recht die Funktionalisierung des Rechtes zur Durchsetzung von politischen Interessen erlaube. Gegen die Tendenzen im eigenen Fach, sich auf die Suche nach einem „metarechtlichen", „suprajuristischen" Staatsbegriff zu machen, insistierte er darauf, daß unter „Staat" zuerst und entscheidend ein Rechts- und Normensystem zu verstehen sei 23 . Kelsens Programm einer methodischen Selbstbeschränkung der Staatsrechtswissenschaft zog den Vorwurf auf sich, eindimensionaler „substanzloser Rationalismus" (E. Kaufmann) zu sein, für den das Recht „unabhängig von Wert und Wirklichkeit eine Form für jeden beliebigen Inhalt darstellt" 24 . Für H. Heller führt solche „Rechtszersetzung ... unausweichlich ... zur Staatszersetzung", denn sie klammere die Frage nach den verbindlichen Werten und Ideen für alle einfach aus und sei damit unfähig zum Aufbau einer „politische(n) Willensgemeinschaft". Als treibendes Motiv der Liberalismuskritik läßt sich das Interesse erkennen, die Integrationsprobleme einer durch die Industrialisierung pluralistisch und antagonistisch gewordenen Gesellschaftsstruktur mittels des Rückgriffs auf neue substantielle Verbindlichkeiten zu lösen. Liberales Denken gilt als der Inbegriff eines bloßen „Positivismus" beziehungsweise „Agnostizismus" und „Relativismus", das unfähig ist, diese Integrationsprobleme zu lösen. Für Heller liegen in der vom liberalen Denken hervorgerufenen „Auflösung" der „Wertgemeinschaft... die tiefsten Wurzeln der politischen Krise Europas" 25 . Vor allem aber könne diese Staatsrechtslehre ohne Staat aufgrund ihrer Methodik kein Subjekt in der politischen Wirklichkeit identifizieren, das die ersehnte Einheitsstiftung und Integration im als Bedrohung erlebten weltanschaulichen Pluralismus und Relativismus bewerkstelligen könnte. In dieser „Subjektlosigkeit der Souveränität" 2 6 sieht Heller „das Problem der Gegenwart". Aufgrund dieser Schwächen bestehe trotz aller historisch bedeutsamen Leistungen des rationalen Rechtsliberalismus hinsichtlich seiner Gegenwartsbedeutung ein Grundkonsens in der zeitgenössischen Staatsrechtsdebatte: Er sei wie der gesamte liberale Ideenkreis „politisch unzeitgemäß" 27 geworden. Die enge Verbindung von Liberalismus- und Rationalismuskritik ist von Relevanz für den Umgang mit politischen Struktur- und Verfassungsproble23
H . KELSEN, Staatsbegriff.
24
E . KAUFMANN, Kritik, S. 6 6 .
25
H . HELLER, Europa und der Fascismus, GS Bd. II, S. 476.
26
H . HELLER, Souveränität, G S B d . II, S. 81.
27
H . HELLER, Die politischen Ideenkreise, GS Bd. I, S. 348 f.
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Die Ursachen der Krise
men. Wenn Liberalismus nur substanzloser formaler Rationalismus ist, beinhaltet die Kritik liberalen Denkens notwendig den Anspruch, politische Ordnungsprobleme durch den Rekurs auf materiale metarationale Gehalte lösen zu können. Diese Implikation der staats- und rechtswissenschaftlichen Liberalismuskritik läßt sich an Texten zweier für die zeitgenössischen Debatten wichtiger Autoren, Erich Kaufmann und Carl Schmitt, noch vertiefen.
2. Die Ursachen der Krise: Liberalismus und
Rationalismus
Als wichtiger Meilenstein auf dem Wege der Kritik des liberalen Rechtsrationalismus gilt den Zeitgenossen die Auseinandersetzung Erich Kaufmanns mit der „neukantischen Rechtsphilosophie" aus dem Jahre 1921, die er selbst als eine „Absage an den Neukantianimus" versteht. Er beansprucht dabei nicht, die neukantische Philosophie umfassend darzustellen, sondern nur so weit, wie es zum Verständnis der Diskussionslage in der Rechtswissenschaft ... . notig ist . JQ
a. Die Kritik des substanzlosen Rationalismus Auch für Kaufmann steht die Krise der Rechtsphilosophie „mit der Krisis im engsten Zusammenhang ..., in der sich... unser ganzes geistiges Leben befindet" (1). Die juristischen Denkmethoden könnten und müßten „als ein Ausdruck des allgemeinen Geistes der Zeit aufgefaßt werden". Insofern versteht Kaufmann seine Abhandlung nicht nur als einen Beitrag zur innerjuristischen Fachdiskussion, sondern auch als „Beitrag zur Kritik der Zeit" (5). Die dramatische Wahrnehmung der eigenen Gegenwart unter dem Vorzeichen der Krise dient Kaufmann als Negativfolie für die Stilisierung der ungeheuren Verantwortung, die auf den Schultern seiner eigenen Generation liegt: Angesichts einer „Krise, wie ... der deutsche Geist... sie vielleicht noch nie in seiner tragischen Geschichte durchlebt hat", ruht auf „dem heute lebenden Geschlecht, vor allem auf der heranwachsenden Generation,... eine Verantwortung, wie sie vielleicht auf noch keinem Geschlecht gelastet hat..." (101). Die Krise sei zunächst einmal identisch mit dem „politischen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt", der aber ihr „geistiges Versagen vorangegangen" (4) sei. Um die Analyse dieses „geistigen Versagens" geht es Kaufmann. Inbegriff dieses Versagens sei eine bestimmte geistige Haltung, ein „substanzloser Rationalismus" (65), dem der Neukantianismus den Weg bereitet habe. Nichts Geringeres als eine falsche Sicht der Wirklichkeit, eine dualistische, Formen und Inhalte auseinanderreißende Wahrnehmung sei die Folge dieses 28 E. KAUFMANN, Kritik. Alle weiteren Angaben in Klammern im Text beziehen sich hierauf. Zu Kaufmann vgl. K. RENNERT, Geisteswissenschaftliche Richtung, S. 97 f.
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Die Delegitimierung in der Staatsrechtslehre
Denkens. Gegenüber dem Ansturm des naturwissenschaftlichen und empiristischen Denkens habe sich die Philosophie in Gestalt des Neukantianismus auf erkenntnistheoretische Fragen, die Konstruktion einer abstrakten, lebensfernen Welt der reinen, rationalen Formen des Denkens zurückgezogen. Der Neukantianismus habe die „Auflösung der Metaphysik in Methodologie" (6) vollzogen, sei Kind eines „empiristischen Zeitalters", das Philosophie nur dulde, wenn sie die „Spezialwissenschaften in ihrer Bearbeitung der empiristischen Stoffe und Inhalte" (6) nicht störe. Doch wenn sich auch die Philosophie am Leitbild von Naturwissenschaften und Mathematik orientiere, komme es unausweichlich zu einer „mechanisierenden und zersetzenden Rationalisierung", zu einem „eindimensionalen Denken" (65), in dem die „Reduktion der Wirklichkeit auf meßbare und wägbare Größen" (64) erfolge. Das „Einfache" gelte zugleich als das „methodisch Wertvolle" (63). Der methodische Zwang zum Isolieren des einzelnen erlaube es nicht mehr, die Einheit der Wirklichkeit angemessen zu begreifen, führe zu einer Entgeistigung und „Technisierung" (75) der Wahrnehmung. Solch „eindimensionale^) Denken" mache deshalb blind „für die konkreten geistigen Werte, die die Wirklichkeit erfüllen" (99). Die entscheidende und ruinöse Schwäche dieses neukantianischen Denkens liegt für Kaufmann in dessen Unfähigkeit, eine Orientierung geben zu können in der „überwuchernden, alles verschlingenden Empirie des immer komplizierter und unübersehbarer werdenden modernen Lebens" (5). Die methodische Selbstbeschränkung auf einen formalen Rationalismus mache es unmöglich, eine „positive Stellung zu den großen inhaltlichen Problemen des sozialen und politischen Lebens" (3) zu gewinnen, und lasse die Menschen „führerlos auf dem Meere der Wirklichkeit umhertreiben" (10). Die „Blindheit" für die geistigen Werte führe entweder zur „Respektlosigkeit" vor diesen Werten oder aber zu einem „müden, kraft- und substanzlosen Relativismus" (99). Damit ist der innere Kern der Krise benannt: die Auflösung und der Verlust von allgemeinverbindlichen materialen, normativen Leitidealen. In diesem Verlust reflektiert sich der Zerfall einer einstmals weitgehend homogenen Gesellschaft und die Entstehung eines Pluralismus von fundamentalen Lebenseinstellungen und „Weltanschauungen", der als „Relativismus" beklagt wird. Der Neukantianismus ist für Kaufmann eine Reaktion auf diesen Pluralismus. Denn Kaufmann charakterisiert das den Neukantianismus fundierende „Lebensgefühl" als „eine Flucht aus der bedrückenden und erdrückenden unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, der gegenüber als letzte Zufluchtsstätte bloß noch abstrakte, bloß noch formale und eindimensionale Begriffsbildungen, die alles Stoffliche und Anschauliche ausgeschieden haben, Ruhe gewähren können". „Bloße Negation der Lebensfülle" (99) werde zum Grundprinzip des reflektierenden Umgangs mit der Wirklichkeit. Damit sei der Neukantianismus, entgegen seiner eigenen Absicht, hinsichtlich
Die Ursachen der Krise
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seiner faktischen Wirkung zum „unmittelbare(n) Wegbereiter jener an sich selbst verzweifelnden Spengler-Stimmung" (100) geworden. Zugleich hat er nach Kaufmann Kants eigenes Anliegen aber pervertiert: Ausgehend von der Prämisse, Kants praktische Philosophie sei ein Rückfall hinter das Problemniveau der Kritik der reinen Vernunft und deswegen allein an dieser Kritik orientiert, habe der Neukantianimus die kantische Sittenmetaphysik nicht richtig zu deuten vermocht und deshalb eine „Umbiegung Kants vom Metaphysischen ins Abstrakt-Formale" (50) vollzogen. Durch die „Entleerung der kantischen Sittenmetaphysik von Metaphysik und von inhaltlichen Werten, letztlich von geistigem Gehalt" (62), „morden" die Neukantianer „die Seele der kantischen Spekulation: sie lassen nicht seinen Geist, sondern ein unheimliches Gespenst in seinem Gewände unter uns umgehen" (61). Das Grundmotiv der Kritik Kaufmanns ist aber nicht in einem Interesse an der Korrektur des Kantverständnisses des Neukantianismus zu suchen. Das konstruktive Interesse zielt vielmehr auf einen methodischen Neuansatz in der Rechts- und Staatswissenschaft, der nicht schon von vorneherein die Frage nach „inhaltlichen Werten" und „geistigen Gehalten" ausschließt und somit in der Lage ist, durch die Gewinnung von materialen ethischen Leitidealen Wege aus der Krise der Orientierungslosigkeit und des Relativismus zu eröffnen. Es gelte, einen solchen Rechtsbegriff zu erarbeiten, der den materialen sittlichen Verpflichtungsgehalt des Rechts und die Frage nach inhaltlichen Kriterien für die Geltung von Rechtsnormen angemessen zu thematisieren erlaube. Die formale Rationalität des neukantianischen Denkens führe nur zur Einsicht, daß es ein Sollen überhaupt gibt. Es bleibe aber abstrakt und inhaltsleer und erlaube deshalb keinen Entscheid darüber, „wann wir diesem, wann jenem Sollen gehorchen sollen, wann dies, wann jenes richtig ist" (9). Eine solche Kriterienlosigkeit angesichts konkurrierender Geltungsansprüche sei gleichbedeutend mit dem Verzicht, die Frage nach der Wahrheit überhaupt noch zu stellen. Diese „Formalisierung der Ethik" im Neukantianismus „entwertete zugleich das Recht" (54), indem es seiner inhaltlichen Bestimmung beraubt worden sei. Die Verbindlichkeit des Rechts sei folgerichtig nur noch auf die „formale Autorität" (54), die bloße Legalität des Verfahrens der Gesetzgebung gegründet worden. Die Frage nach einer positiven, inhaltlichen Legitimation des Rechts sei konsequent ausgeklammert worden: „Das ,Rechtliche' am Recht, das was eine a n e r kannte' oder ,befohlene' erzwingbare Norm inhaltlich zu einer rechtsgemäßen machen muß, ist so überall durch die allein maßgeblichen formalen Begriffselemente verdrängt, die Rechtsidee durch die Betonung der bloßen Legalität, Erzwingbarkeit, äußerlichen Regelungen, Heteronomie lediglich negativ bestimmt" (54). Mit dieser reduktionistischen Betrachtung des Rechts seien zugleich so entscheidende Fragen wie die nach der Gerechtigkeit, „den Beziehungen des Rechts zum sozialen Leben und zu den anderen Mächten des geistigen Daseins", nach seinen „historischen und soziologischen Be-
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dingtheiten" als „metajuristische" (63) Fragestellungen aus der Rechtswissenschaft verwiesen worden. Der Grundfehler des neukantianischen Rechtsdenkens liegt für Kaufmann darin, daß in ihm Recht und Sittlichkeit auseinandergerissen werden, es mit einem „schroffe(n) und durch nichts überbrückbare(n) Dualismus zwischen Moralität und Legalität" (56) operiere und damit die Frage nach der Legitimität des Rechts gar nicht mehr stelle. Um die Uberwindung dieses Dualismus und damit der Reduktion der Frage nach der Legitimität des Rechts auf dessen bloße Legalität geht es Kaufmann. Es gelte, den sittlichen Verpflichtungsgehalt des Rechts wieder angemessen in der rechts- und staatswissenschaftlichen Diskussion zu berücksichtigen. Kaufmann sieht sich mit diesem Anliegen auch als wahrer Vertreter kantischen Denkens. Legalität und Moralität, Rechtspflichten und Tugendpflichten seien bei Kant nicht ihrem Inhalt nach unterschieden, sondern nur in der „Maxime" des Handelns. Insofern gelte für Kant selbst: „Die noumenale, intelligible Welt der Sittlichkeit ist der gemeinsame Boden, auf dem Moralität und Legalität erwachsen, in dem sie beide ihren »Ursprung' haben. Auch das Recht gehört zur ,sittlichen' Welt, zum ,Reiche der Freiheit'... Und dies noumenale Reich der Freiheit ist ihm keine Welt formaler Werte, sondern ein Kosmos positiver Inhalte, inhaltlicher Ideen... "(56). In der Thematisierung des sittlichen Gehalts des Rechts, seines Bezugs zum „Kosmos positiver Inhalte" liegt nach Kaufmann nun aber eine spezifische Kompetenz des deutschen Staats- und Rechtsdenkens. Schon mit Kant selbst vollziehe sich der erste „große Bruch zwischen dem Denken über die Probleme des sozialen Lebens und dem Westeuropas und Amerikas" (92). Im naturrechtlichen Rationalismus westlicher Prägung würden die Phänomene des sozialen Lebens in prinzipiell gleicher Weise thematisiert wie Naturphänomene. Dem methodischen Grundansatz entsprechend, komplexere Gebilde aus einzelnen isolierbaren Teilen aufgebaut zu verstehen, suche man, in Parallelität zu den Naturgesetzen, die Gesetze des sozialen Lebens mittels der Soziologie zu erheben. „Wie der Rationalismus versucht, die natürliche Welt als aus Atomen konstruktiv aufgebaut zu verstehen, so will er auch die sittliche und soziale Welt als auf den sozialen Atomen, den Menschen, konstruktiv aufgebaut erfassen. Wie die Grundeigenschaften der Materie, die Gesetze der Anziehung und Abstoßung, die natürliche Welt konstituieren, so sollen auch die sozialen Gebilde aus den einfachen Grundeigenschaften der menschlichen Natur hergeleitet werden" (89). Kant breche diese Eindimensionalität rationaler Wirklichkeitswahrnehmung auf, indem er Ethik und Recht fundiere in einer „intelligiblen Ordnung", die sich allein der „noumenalen Natur" (91) des Menschen erschließe. Damit unterscheide sich seine Sozialphilosophie schon im Grundansatz signifikant von der rationalen Soziologie und dem rationalen Naturrecht, die nach Kaufmann bis in die Gegenwart das westeuropäische Denken beherrschen.
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Der „revolutionäre Traditionsbruch mit dem einheitlichen Geiste der übrigen Kulturnationen" (93) sei aber nur der erste Schritt auf einem Weg hin zu einer eigenständigen deutschen Sozialphilosophie. Habe die kantische Kritik zunächst jede Verbindung mit empirischen und soziologischen Fragestellungen abgeschnitten, so hätten Romantik und historische Schule in differenzierterer Weise nochmals die Frage nach der „Verbindung zwischen dem Recht und dem soziologischen Substrat" gestellt. Wie Kant bekämpften romantische und deutsche historische Schule eine „Mechanisierung und Technisierung des geistigen Lebens", bemühten sich aber über Kant hinaus um eine Analyse „der konkreten Geistigkeit der einzelnen geschichtlichen Phänomene" (94), der „metaphysische(n) Eigenwürde jeder konkreten Geistigkeit" (95). Eine in den Tiefen der Metaphysik wurzelnde Geschichtswissenschaft und nicht eine soziologische Gesellschaftsanalyse erlaubte es, die Brücke zwischen Recht und Ethik zu schlagen, allgemeinverbindliche substantielle Leitideale und Werte zu formulieren, mit deren Hilfe die Integrationsprobleme einer pluralistisch zerfallenen Kultur gelöst werden könnten. Mit diesem Ansatz, den Kaufmann gerade angesichts der Krise als ein verpflichtendes, konstruktiv weiterzuführendes Erbe versteht, vergrößerten Romantik und historische Schule aber noch einmal den Gegensatz von deutschem und westeuropäischem Denken. Dieser sei freilich nicht nur ein der deutschen Kultur externer Gegensatz. Denn der westeuropäische Rationalismus habe einen Repräsentanten in Deutschland selbst, den deutschen Liberalismus (95). Die der deutschen Tradition entsprechende Sozialphilosophie sieht Kaufmann dagegen vor allem im konservativen Denken gewahrt. So müsse der Gegensatz zwischen dem liberalen Rationalismus westlicher Prägung und dem an Romantik und historische Schule anknüpfenden deutschen Denken zugleich als innenpolitischer Gegensatz liberaler und konservativer Parteien begriffen werden. Gerade in Deutschland seien „die Parteigegensätze in .ihren letzten Grundlagen weltanschauungsmäßige und bekenntnismä-
b. Der Gegensatz zwischen liberalem Rechtsrationalismus und konservativer Staatsidee Konservatives Denken habe seine Wurzeln in der „Gegnerschaft gegen die gesamte Gedankenwelt des Rationalismus " (13 7). Es begreife die Welt nicht harmonistisch mittels einer „abstrakten Vernunft" (138) und einer in sie „hinein29
E. KAUFMANN, Konservative Partei. Alle weiteren Klammern im Text beziehen sich hierauf. Zum historischen Profil des Konservatismusbegriffs immer noch grundlegend K. MANNHEIM, Konservatismus; M. GREIFFENHAGEN, Dilemma. Über die neuere Diskussion informieren die Beiträge in dem Sammelband hg. v. H . G. SCHUMANN, Konservativismus. Einen Literaturüberblick gibt K. FRITZSCHE, Konservatismus.
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projizierte(n) Rationalität" (139), sondern sehe die irrationale Tiefe des Lebens, das sich aller rationalen „Vergewaltigung" (140) entziehe. Nicht „kalt und verstandesmäßig", sondern mit „Ehrfurcht vor dem Gewordenen und Gewachsenen" und mit „Liebe" (150) gehe konservatives Denken mit der Wirklichkeit um. Der „Stoff der gegebenen Wirklichkeit" sei dem Konservativen nicht nur „bloßes Material..., das der von der menschlichen Vernunft geleitete menschliche Wille beliebig kneten und formen kann" (150). Der Konservative wisse vielmehr um die Grenzen menschlicher Willkür und Autonomie. Besonders deutlich zeige sich dies am Staats- und Verfassungsdenken. Allein die konservative Partei habe eine „dem wirklichen Leben und den höchsten Idealen zugewandte positive Staatstheorie" ausgebildet. Allein sie erfasse das „Problem der historisch-politischen, ethischen Verantwortlichkeit für das bewußte politische Handeln in seiner ganzen Tiefe" (150). Denn sie sei nicht „blind" für die Bedeutung der Ideen und geschichtlich gewachsenen Werte gewesen, die auch das Feld des politischen Handelns entscheidend bestimmten. Politische Konflikte zwischen liberalen und konservativen Parteien sind für E . Kaufmann nur Ausdruck eines sehr viel fundamentaleren metaphysischweltanschaulichen Gegensatzes zwischen einem formalistischen Rationalismus und einem substantialistischen Denken, das nach der „konkreten Geistigkeit" sucht. An der „verschiedenen Einstellung zum Grundproblem der Verfassung ... offenbart... (sich) der Gegensatz zwischen der konservativen und rationalistischen Staatsauffassung" (153) am deutlichsten. Der Gegensatz von liberalem Rationalismus und Ehrfurcht vor dem Gewordenen, von abstrakter Vernunft und Leben, manifestiere sich in der Polarität von ungeschriebenem Recht und formalem, positivem Recht. Für den Liberalismus ist nach Kaufmann „eine besondere Art Rechtsfanatismus..., (eine) Zentrierung des Staatszwecks auf den Rechtszweck ..., eine ungesunde Hypertrophie des Rechtsgedankens gegenüber anderen Elementen der Staatstätigkeit" (147) kennzeichnend. Demgegenüber gelte für den konservativ eingestellten Juristen an diesem Punkt die genau umgekehrte Rangordnung: Das „ungeschriebene Recht ... ist ihm wichtiger als das formale Recht" (152). Dementsprechend könne im konservativen Staatsdenken der „geschriebenen Verfassungsurkunde kein zu hoher Wert" (153) beigemessen werden. Entscheidendes Kriterium zur Beurteilung einer Verfassungsform sei vielmehr die Frage nach deren „ethische(m) Gehalt", nicht aber die nach ihrer „abstrakte(n) F o r m " . Damit formuliert Kaufmann eine Position, die im Namen des Interesses an Gerechtigkeit, dem sittlichen Gehalt des Rechts und eines lebensnahen politischen Realismus das positive Recht und das Legalitätsprinzip relativiert. Für den liberalen, rationalistischen Standpunkt sind nach Kaufmann folgende Merkmale charakteristisch: Entsprechend der „Zentrierung der Staatszwecke auf den Rechtszweck" würden Fragen der staatlichen Ordnung vor allem zu Verfassungsfragen. Die „konstruktive Verfassungstheorie und die
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Gesellschaftslehre" sind nach Kaufmann „die eigentlichen Domänen der liberalen Doktrin" (146). Verfassungsfragen würden aber entsprechend des „eindimensionalen", „mechanistischen" Vernunftverständnisses zu „Fragen der abstrakten Prinzipien ..., zu bloßen Fragen der,Technik', der Konstruktion' des staatlichen Willensbildungsapparates". Dementsprechend werde auch der Staat verstanden als ein „konstruiertes Gebilde", als ein „fein ausgedachter Apparat" (153). Auch das Staatsdenken habe ein ethisches Fundament, aber dies bilde eine „formal-rigoristische" und „ausgesprochen individualistische Ethik" (147), die den Staat mittels der Fiktion des Vertragsdenkens an die Bedürfnisse der Individuen zurückbinde und ihn zum bloßen Erfüllungsgehilfen dieser Bedürfnisse degradiere. Der liberale Rechtsstaat sei damit letztlich nur noch eine Funktion der Gesellschaft. Das rationalistische Staatsdenken fuße auf dem „Gesellschaftsbegriff der französischen und englischen Soziologie" (160). Die unter seiner Herrschaft sich vollziehende „Rationalisierung, Mechanisierung ..., Ökonomisierung, Utilitarisierung und Kontraktualisierung" des gesamten Lebens zerstöre alle Gemeinschaftsformen und führe letztlich zur Zerstörung der „sittliche(n) Grundlage ... des menschlichen Gemeinlebens überhaupt" (161). Liberale und demokratische Staatsanschauung seien letztlich nur zwei Varianten, entstanden auf derselben eben skizzierten Grundlage, denn „beide wollen den Staat aller autoritären, obrigkeitlichen und herrschaftlichen Elemente berauben und der Gesellschaft und ihren Kräften ausliefern, ... beide erklären die Gesellschaft für ,mündig', für ,reif'; ... in beiden lebt in einseitiger Weise die Ideologie von neuen, zur Macht strebenden, emanzipationsbedürftigen Schichten, die über ihren Standesforderungen den Staats- und Gemeinschaftsgedanken zu kurz kommen lassen: in dieser ausschließlich die Tendenz der bürgerlich-kapitalistischen, in jener auch die der durch die Macht der Zahl zur Herrschaft strebenden proletarischen Gesellschaftsschichten" (160). Das konservative Staats- und Verfassungsdenken unterscheidet sich für Kaufmann von diesem liberalen Rationalismus grundlegend in folgenden Merkmalen: Entsprechend der Orientierung am „ungeschriebenen Recht" sei die Verfassung eines Staates nicht bloß ein „Stück Papier", sondern „das individuelle Kleid eines bestimmten Volkskörpers", das die geschichtlich gewachsenen, je individuellen Beziehungen „der Glieder untereinander, der Glieder zum Haupte" achte, als die „eigentliche Seele der wirklichen Verfassung" sehe (152). Die Verfassungsgebung müsse deshalb mehr sein als der Entwurf eines technischen Bauplans für die Staatsordnung. Ihre Aufgabe sei die „Erfassung des Lebens der ,Nation' als einer historischen, irrationalen geistigen Individualität". N u r wo dies gelinge, werde ein Volk auch seine Verfassung „als Geist aus seinem Geist" lieben (153). Dementsprechend sei auch der Staat nicht als Maschine, sondern im Gefolge der Rechtsphilosophie Stahls als „lebendige(s) geistige(s) Gebilde" (154), als „Organismus und sittliches Reich" (156) zu verstehen, das im Dienste der Pflege des nationalen Kul-
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turguts stehe. Der Staat gehe nicht darin auf, „Hüter des formalen Rechts und der Kultur" (158) zu sein. Im Gegensatz zur liberalen Tendenz, die Einflußmöglichkeiten staatlichen Handelns möglichst zu beschränken, sehe der Konservative im Staat ein selbständiges, aktiv die nationale Kultur mitgestaltendes und mitschaffendes Subjekt. Wegen der engen Verknüpfung von Staat und Nation könne konservatives Denken die Staatsfrage auch nicht auf die Verfassungsfrage, d.h. auf die Frage nach der innenpolitischen Regelung und Verteilung von Macht reduzieren, sondern müsse die außenpolitische Dimension berücksichtigen. Für Kaufmann steht der Staat im Dienst der Selbstbehauptung der Nation gegenüber anderen Staaten und ist deshalb in „erster Linie als äußerpolitisches Wesen" (157) zu verstehen. Das ethische Fundament des Staates sei nicht eine individualistische Ethik, sondern ein „objektives Ethos", das den überindividuellen Verpflichtungen und der Verantwortung für die Gesamtheit der „Glieder" des Volkes Rechnung trage. Mit diesem ethischen Fundament werde der Staat nicht der Gesellschaft und ihrer antagonistischen Bedürfnisstruktur ausgeliefert. Er werde vielmehr in den Dienst des Aufbaus und Erhalts der „Gemeinschaft" gestellt. Besonders deutlich lasse sich dies daran erkennen, daß der Staat „Sozialstaat" sein soll. Aufgrund dieses Staatsverständnisses kann konservatives Denken nach Kaufmann zurecht beanspruchen, der Inbegriff einer wahrhaft ethisch verantwortbaren Politik zu sein: Es orientiere sich bei politischen Gestaltungsfragen an „Gebote(n) der Ethik, der sittlichen Würde und Ehre, die jenseits aller Tages- und Magenfragen stehen" (159). Kaufmann hat seinen ethischen Staatskonservatismus ausdrücklich in Bezug auf die Weimarer Verfassung konkretisiert. Was in der theoretischen Betrachtung als Gegensatz von liberalem, rationalistischen und konservativem, „am wirklichen Leben und den höchsten Idealen" orientierten Staatsdenken erscheine, manifestiere sich politisch-praktisch in der „Kluft... zwischen der abstrakten Weimarer Verfassungsurkunde und dem wirklichen und lebenden Verfassungsrecht" (152). Die von Kaufmann geforderte Konzentration auf den „ethischen Gehalt" rückt die Weimarer Verfassung in das Licht der Illegitimität. Für die von Kaufmann entwickelte Position hat die gegebene Verfassungsordnung ein klar erkennbares Legitimitätsdefizit: Indem sie mit der Tradition des deutschen Staats- und Rechtsdenkens gebrochen habe, habe sie nicht nur die militärische Niederlage des Reiches geistespolitisch ratifiziert. Die geistespolitische Entmachtung des deutschen Staats- und Rechtsdenkens habe vielmehr die außenpolitische Niederlage innenpolitisch noch radikalisiert. Denn durch das Oktroi des westlichen Rationalismus drohe die militärische Niederlage auf Dauer gestellt zu werden. Die deutsche Kultur werde zerstört durch einen lebensfremden liberalen Rationalismus, der mittels einer mechanistischen Vernunft, ohne Ehrfurcht vor dem geschichtlich Gewordenen, eine politische Form konstruiere, die weder dem Relativismus und Antagonismus unterschiedlicher Werthaltungen noch dem Zerfall aller Verbind-
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lichkeiten und der damit verbundenen „trostlose(n) Entseelung des Gemeinschaftslebens" (162) wehren könne. In solcher Kritik an der Weimarer Verfassung artikuliert und kristallisiert sich die Einsicht in die negativen Folgen der wirtschaftlichen Modernisierung Deutschlands, als deren notwendige Ergänzung die Demokratisierung angesehen wird. Kaufmann interpretiert die Verfassung von Weimar als Ausdruck und Produkt jener Geisteshaltung, die als treibende Kraft hinter dem „gewaltsamen Tempo der Industrialisierung und der Kapitalisierung" (170) steckt und in die Krise geführt hat. Deshalb kann für ihn diese Verfassung auch kein taugliches Mittel sein, um diese Krise zu bewältigen; sie verstärkt sie vielmehr noch. So erklärt Kaufmann schon 1922: Das Weimarer „Verfassungssystem (ist)... auf die Dauer nicht haltbar" (172).
3. Parlamentarismus als Inbegriff des Liberalismus und Rationalismus Der politische Gehalt der dezidierten Kritik des liberalen Rationalismus bzw. die in dieser Kritik implizierte Delegitimierung der Weimarer Verfassung läßt sich verdeutlichen an einem inzwischen klassischen Text der Parlamentarismuskritik, an Carl Schmitts erstmals 1923 publizierter Studie „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" 30 . Die Weimarer Reichsverfassung sollte in Gestalt des Parlamentarismus Mechanismen für einen konstruktiven Umgang mit den Problemen bereitstellen, mit denen das politische System durch den weltanschaulichen, kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus konfrontiert ist. Das Parlament sollte der Ort der Suche nach den Kompromissen sein, die die unterschiedlichen Gruppeninteressen zu solch einem Ausgleich bringt, der für jede Partei akzeptabel ist, somit integrativ und einheitsstiftend wirkt und die Handlungsfähigkeit des politischen Systems erhält. Genau auf die Kritik dieser Institution konzentriert Schmitt seine Auseinandersetzung mit dem „liberalen Rationalismus" (48), denn der Parlamentarismus ist für ihn der Inbegriff dieser Geisteshaltung. Methodisch geht er dabei so vor, daß er die Grundideen der Theorie des Parlamentarismus, wie sie sich für ihn darstellen, mit der faktischen Wirklichkeit der „modernen Massendemokratie" konfrontiert. Dadurch versuchte er 30 C . SCHMITT, Geistesgeschichtliche Lage. Alle weiteren Angaben in Klammern im Text beziehen sich hierauf. R. THOMA, Ideologie, nannte 1925 die Schrift eine „geistesgeschichtliche Todeserklärung des Parlamentsstaates" (S. 57). Zur Position Thomas vgl. H. D. RATH, Positivismus, S. 108 f. Zu Schmitts Position in den zwanziger Jahren immer noch grundlegend: C. GRAFV. KROCKOW, Entscheidung; H. HOFMANN, Legitimität; V. NEUMANN, Staat im Bürgerkrieg. Zu Schmitts Position, insbesondere auch zu seinem menschenverachtenden Antisemitismus vgl. auch die Erinnerung eines Zeitgenossen, H . MAYER, Erinnerungen: „Hinter allem Denken von Schmitt, und darin blieb er sich treu, steht nicht bloß der Haß gegen den Rechtsstaat, das ohnehin, sondern gegen den Staat, und damit gegen ein staatlich geregeltes Rechtsleben" (S. 5). J. HABERMAS, Schrecken der Autonomie, sieht den „eigentlich problematischen Zug" bei Schmitt in der „Trennung von Demokratie und Liberalismus" (S. 113).
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zu zeigen, daß diese Ideen hoffnungslos überholt, zu einer „leeren Formalität (10) geworden sind. Er beansprucht, wie Kaufmann, auf der Ebene der „prinzipiellen Argumentation" und der Leitideen zu operieren. Ihm geht es um die „letzte geistige Grundlage" des Parlamentarismus im Gegensatz zu einer bloß „sozial-technischen Rechtfertigung" (13). Denn letztlich habe für den Parlamentarismus „die Stunde ... geschlagen", wenn die ihn tragenden Ideen verblassen, obgleich die äußere Form dann noch eine gewisse Zeit weiterbestehen mag. Durch den Anspruch auf prinzipientheoretische Argumentation immunisiert Schmitt seine Kritik gegen solche Rechtfertigungsversuche, die das Parlament funktional legitimieren wollen, indem sie betonen, daß es „als brauchbares, sogar unentbehrliches Instrument sozialer und politischer Technik gut oder wenigstens leidlich funktioniert" (12). Dabei ist entscheidend, daß er sehr viel stärker als Kaufmann Liberalismus und Demokratie unterscheidet und unter Rekurs auf eine am Identitätsprinzip orientierte Vorstellung von Demokratie einen wesentlichen Gegensatz von Liberalismus und Demokratie behauptet. Diese Entgegensetzung erlaubt es Schmitt dann, als Advokat der wahren Demokratie und Volksinteressen gegen die liberale, d . h . parlamentarische Entstellung demokratischen Denkens aufzutreten. Der erste Argumentationsschritt in Schmitts Schrift zielt darauf, Demokratie und Parlamentarismus zu unterscheiden, ihre Verknüpfung als aus der Geschichte erklärbare, aber prinzipiell nicht notwendige Tatsache darzustellen. Auszugehen sei davon, daß das 19. Jahrhundert unbestreitbar den Sieg des demokratischen Prinzips gebracht habe und deshalb in der Gegenwart jede staatliche Ordnung einen Anspruch auf Legitimität nur erheben könne, wenn sie beanspruche, demokratisch zu sein. Dabei sei keineswegs selbstverständlich, was unter „demokratisch" zu verstehen sei. Die demokratische Bewegung des 19. Jahrhunderts habe ihre Einheit zunächst darüber gefunden, daß sie einen gemeinsamen Gegner gehabt habe, das „monarchische Prinzip". In dem Maß, in dem dieser Gegner verschwunden und es um die konstruktive Realisierung von Alternativen gegangen sei, habe sich gezeigt, daß diese Bewegung „vielen Herrn diente und keineswegs ein inhaltlich eindeutiges Ziel hatte" (32). Nach Schmitt liegt der Kern des demokratischen Prinzips in der „Behauptung einer Identität von Gesetz und Volkswille" (35). Damit sei aber noch nichts darüber ausgesagt, wie diese Identität erreicht werden könne. Dies aber sei der allein „politisch interessant(e)" Punkt (38). Eine demokratische Legitimation von Herrschaftsausübung sei durchaus auch mittels des „jakobinische(n) Argument(s)" möglich, daß eine Minderheit den Willen des Volkes am angemessensten wiedergebe und politisch realisiere. Es sei aber auch eine demokratische Konzeption vorstellbar, in der „ein einziger Vertrauensmann" (42) den Volkswillen repräsentiere. Auf dem Hintergrund der Weimarer Verfassung dürfte klar sein, daß damit das Amt des Reichspräsidenten angesprochen ist. Diese verschiedenen Legitimationskonzepte zeigen nach Schmitt, daß das demokratische Prinzip nicht festgelegt ist auf eine
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bestimmte Form der „Bildung und Formierung" (40) des Volkswillens. Es müsse daher erklärt werden, wieso „viele Generationen" die angemessene Realisierung der Demokratie gerade im Parlamentarismus sahen. Das Ideal der Demokratie sei, daß „das Volk in seiner wirklichen Gesamtheit" herrsche. Dies sei nur denkbar, wenn das Gemeinwesen noch so überschaubar sei, daß sich die „Gemeindeglieder unter der Dorflinde versammeln" können und die Art der Sachfragen es erlaube, „alle wegen jeder Einzelheit zu befragen" (42). D a dies unter den Bedingungen einer modernen Massendemokratie nicht mehr möglich gewesen sei, habe man einen vernünftigen Ausweg darin gesehen, die Gesamtheit des Volkes in einem Ausschuß zu repräsentieren, dem Parlament. Eine derartige, aus „praktischen und technischen Gründen" sich aufbauende Argumentation habe zwar lange Zeit als plausible Rechtfertigung für die Verknüpfung von Demokratie und Parlamentarismus gegolten, letztlich schlüssig sei sie aber nicht: „Wenn ... statt des Volkes Vertrauensleute des Volkes entscheiden, kann ja auch im Namen des Volkes ein einziger Vertrauensmann entscheiden, und die Argumentation würde, ohne aufzuhören demokratisch zu sein, einen antiparlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen" (42). Die Rechtfertigung des Parlamentarismus müsse daher noch aus anderen Gründen erfolgen. Sie liegt nach Schmitt in der Behauptung, daß „in einem Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt" (43). Aus dieser „ratio" des Parlamentarismus ergäben sich seine Grundprinzipien, Öffentlichkeit und Diskussion, als entscheidende Elemente im Prozeß der politischen Willensbildung. Diese Elemente seien ihrerseits nur verständlich, wenn man die hinter ihnen stehende Weltanschauung erfasse: die Weltanschauung des Liberalismus. Letztlich trage den Parlamentarismus ein „konsequentes, umfassendes metaphysisches System", der Liberalismus mit seinen Grundüberzeugungen „der freien Konkurrenz und der prästabilierten Harmonie" (45). Der „geistige Kern" dieses aus der Ökonomie übertragenen Modells liege in einem relativistischen Verhältnis zur Wahrheit. Sie werde im liberalen Rationalismus „zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen ... Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat" (46). Aus dem Glauben an die Kraft der Diskussion erklärten sich zwei politische Forderungen, die für den „liberalen Rationalismus" bezeichnend seien, die Forderung der Öffentlichkeit des politischen Lebens und der Gewaltenteilung, genauer die Forderung nach einer „Balancierung entgegengesetzter Kräfte, aus welcher ... sich das Richtige als Gleichgewicht von selbst ergeben soll" (46). Die Forderung nach Öffentlichkeit sei entstanden in der Auseinandersetzung des Bürgertums mit dem absolutistischen Staat und der ihn fundierenden politischen Theorie, der Lehre von der Staatsräson. Gegenüber dieser Lehre, die Geheimpolitik und Geheimdiplomatie gerechtfertigt habe, sei das
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„Licht der Öffentlichkeit" eingeklagt worden, das nichts anderes gewesen sei als das „Licht der Aufklärung" (48). Die zweite Forderung liberaler politischer Theorie, die „Balancierung der Gewalten", steht für Schmitt in einem deutlichen Gegensatz zum demokratischen Prinzip. Während für dieses der Gedanke der Identität entscheidend sei, beruhe die liberale Forderung auf einer „Denkweise, die überall eine Vielheit schafft, um in einem System von Vermittlungen ein aus immanenter Dynamik sich ergebendes Gleichgewicht an die Stelle einer absoluten Einheit zu setzen" (51). Politisch konkretisiere sich diese Denkweise in den Forderungen nach Gewaltenteilung, Einführung eines Zweikammersystems oder förderalistischer Einrichtungen. Die Hochschätzung des Parlaments als des Ortes, an dem aus der Vielheit der Meinungen über Balancierung und Ausgleich ein einheitlicher politischer Wille gebildet werden soll, gilt Schmitt als ein deutlicher Ausdruck für die Dominanz rationalistischer Denkmuster in der Politik. Besonders klar lasse sich dies an dem für die Theorie des Parlamentarismus signifikanten Gesetzesbegriff erkennen. Denn „Gesetz" sei dieser Theorie zufolge eine generelle Regel, die aufgrund ihrer Entstehung in einem Prozeß vernunftgeleiteter Argumentation Rationalität repräsentiere. Ein solches Gesetz könne legitimen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben, weil es durch ein parlamentarisches Verfahren zustande gekommen sei. Sofern Politik wesentlich von diesem Gesetzesbegriff her verstanden werde, konkretisiere sie sich in der Forderung nach dem „Rechtsstaat" und seiner Ausgestaltung durch Gesetzgebung. Für Schmitt ist dieses Gesetzes- und Politikverständnis Ausdruck einer spezifisch aufklärerischen Rationalität: In ihm reflektiere sich die Hochschätzung des Generellen gegenüber dem Individuellen. Schmitts Sympathien gelten demgegenüber einem Gesetzesbegriff, demzufolge Gesetz wesentlich Befehl und Entscheidung ist. Klassisch findet er dieses Gesetzesverständnis bei Hobbes formuliert: „Law is not Counsell but Command". Diesem Gesetzesbegriff hafte immer „ein individuelles, unübertragbares Moment" (56) an. Die je individuelle Entscheidungssituation, das entscheidende Subjekt, das energische, entschlossene Handeln, der immer wieder neue Ausnahmezustand definieren den Bereich des Politischen. Das Zentrum dieses Verständnisses des Politischen liege nicht in der Lehre vom Gesetz, sondern in der Lehre von der Souveränität. Sie sei bestimmt von der Erkenntnis, „daß es mit Rücksicht auf die konkrete Sachlage immer von neuem notwendig wird, Ausnahmen von dem generell geltenden Gesetz zu machen, und Souverän derjenige ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet" (54). Werde dagegen im Parlament der Ort gesehen, an dem der Volkswillen repräsentiert sei und durch die Gesetzgebung politische Macht ausgeübt werde, liege der Schwerpunkt auf einem Verständnis des Politischen, das an dessen Rationalität orientiert sei und weniger an der jeweils immer wieder als qualitativ neu unterstellten Entscheidungssituation. Dann gilt für die Ausübung der Macht die Formel: „Government by Law not by Men".
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Diese Unterscheidung alternativer Gesetzes- und Politikbegriffe ist bei Schmitt alles andere als bloße Theorie. Auf dem Hintergrund der mit der Weimarer Verfassung eröffneten Möglichkeit zweier konkurrierenden Auslegungen des Gedankens der Volkssouveränität durch den Dualismus von Reichspräsident und Parlament ist nach Schmitt für den wirklich politisch denkenden Menschen klar, wie dieser Gedanke auszulegen ist: Wahrer Repräsentant des Volkswillens und Souverän sei der Reichspräsident und nicht das Parlament. Aus der im liberalen Rationalismus vollzogenen engen Bindung politischen Handelns an Gesetze und aus dem Bestreben, ein System der „Balancierung der Gewalten" zum Zwecke der Machtkontrolle aufzubauen, folgt für Schmitt dann notwendig ein spezifisch reduktionistisches Verständnis von „Verfassung": Die Verfassung sei das Verfassungsgesetz, die Verfassungsurkunde. Dementsprechend sei eine legitime, d. h. eine verfassungsmäßige politische Ordnung dort gegeben, wo die Gesetzmäßigkeit politischen Handelns und die Gewaltenteilung realisiert seien. Für Schmitt zeigt aber dieser liberale rationalistische Ansatz selbst schon, wie wenig das Politische in solcher Rationalität und Gesetzmäßigkeit aufgeht. Denn indem über die Verfassung die Unterscheidung von Exekutive und Legislative fixiert werde, werde zugleich anerkannt, daß das Parlament nicht das allein entscheidende Organ sei. Die liberale rationalistische Verfassungskonstruktion stelle einen „Kompromiß" (57) dar: Einerseits sei sie bestimmt durch die Tendenz, das Feld politischen Handelns rational, d. h. durch in öffentlicher Diskussion, durch Argument und Gegenargument gewonnene allgemeingültige Gesetze zu strukturieren; andererseits impliziere sie die Annahme, daß zum politischen Handeln ein Element des Entscheidens gehöre, das nicht mehr rational verrechenbar und bestimmbar sei. Sehe man die spezifisch liberalen und eben nicht demokratischen Ideen, aus denen die Hochschätzung der Verfassung als Gesetz und des Parlamentarismus resultiere, dann werde verständlich, daß sehr wohl Forderungen nach Demokratisierung erhoben werden könnten, die sich direkt gegen die Verfassung in diesem spezifischen Sinne und gegen den Parlamentarismus wendeten. Auch die Diktatur könne durchaus eine Realisierung des demokratischen Prinzips darstellen. Dies zeige das Beispiel der französischen Aufklärung, in der der liberale Rationalismus in einen absoluten Rationalismus umgeschlagen sei. Die damals entwickelte Vorstellung der „Diktatur der Vernunft" habe eine vollkommene rationale Durchgestaltung des gesamten politischen Handelns gefordert, für welche die dem liberalen Rationalismus eigene Selbstbeschränkung nur ein Hindernis dargestellt habe. Das Recht zur Diktatur sei dabei auf den Anspruch begründet gewesen, in unmittelbarer Übereinstimmung mit der Wahrheit zu handeln. An diesem Punkt unterscheidet sich die von Schmitt vertretene Theorie des Politischen insofern signifikant von allem liberalen Denken, als für dieses die Annahme konstitutiv ist, daß niemand einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit hat und „daher
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alles in dem absichtlich komplizierten Prozeß der Balancierung vermittelt werden muß" (58). Folgt man Schmitt, so beinhaltete die dem liberalen Rationalismus eigene Kompromißstruktur auch eine Beschränkung bezüglich der Inhalte, die überhaupt Thema eines solchen diskursiven Prozesses werden können: „Absolute Fragen der Weltanschauung" (58) könnten nicht Gegenstand einer an Balancierung und Kompromiß orientierten Verhandlung werden. Erst mit dem absoluten Rationalismus sei diese Grenze bewußt überschritten, denn er mache die Durchsetzung einer Weltanschauung selbst zum politischen Programm. Er bringe durch diese Radikalisierung aber auch zum Vorschein, daß das den Parlamentarismus tragende Prinzip der Diskussion seinerseits „eine gemeinsame, nichtdiskutierte Grundlage" (58) voraussetzen müsse: die Behauptung der Angemessenheit des liberalen Rationalismus und seiner metaphysischen Grundannahmen für den Umgang mit politischen Problemen. Eben dieser Anspruch werde aber durch die Ausbildung des absoluten Rationalismus in Frage gestellt, insofern er via negationis zeige, daß das liberale Denken ein nur beschränktes Verständnis des Politischen erlaube, denn vor den letztlich entscheidenden Fragen müsse es kapitulieren, seine Nichtzuständigkeit erklären, könne es als „Lösung" nur wieder den Aufruf zu neuer Diskussion vorschlagen. Im Umschlag vom liberalen zum absoluten Rationalismus kündigt sich nach Schmitt nur an, was sich tatsächlich als Resultat der weiteren geschichtlichen Entwicklung einstellte, die Zerstörung und Auflösung des liberalen rationalistischen Glaubens, allein durch Öffentlichkeit und Diskussion „Macht und Gewalt zu überwinden und den Sieg des Rechts über die Macht herbeiführen zu können" (61). Der nüchterne Blick auf die politische Gegenwart beweist für Schmitt, daß Öffentlichkeit und Diskussion als Grundprinzipien politischer Willensbildung obsolet geworden sind und daher auch der Parlamentarismus „seine geistige Grundlage und seinen Sinn verloren hat". Denn der Staat sei zum Opfer der Verbände und Parteien geworden. Partikulare Parteiinteressen und Interessen des Großkapitals bestimmten unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft den Prozeß der politischen Willensbildung hinter verschlossenen Türen. Die Verfassungswirklichkeit mache die Leitideen, die hinter der Verfassungsurkunde, der Verfassung als geschriebenem Gesetz stünden, zu einer Farce: „Engere und engste Ausschüsse von Parteien und Parteikoalitionen beschließen hinter verschlossenen Türen, und was die Vertreter großkapitalistischer Interessenverbände im engsten Komitee abmachen, ist für das tägliche Leben und Schicksal von Millionen Menschen vielleicht noch wichtiger als jene politischen Entscheidungen. Im Kampf gegen die Geheimpolitik absoluter Fürsten ist der Gedanke des modernen Parlamentarismus, die Forderung einer Kontrolle und der Glaube an Öffentlichkeit und Publizität entstanden; das Freiheits- und Gerechtigkeitsgefühl der Menschen empörte sich gegen eine Arkanpraxis, die in geheimen Beschlüssen über das Schicksal der Völker entschied. Aber wie harmlos und idyllisch sind die O b -
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jekte jener Kabinettspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts neben den Schicksalen, um die es sich heute handelt und die heute der Gegenstand aller Arten von Geheimnissen sind" (62). Für Schmitt zeigen schließlich auch die im 19. Jahrhundert sich formierenden sozialen und politischen Bewegungen, daß der liberale Rationalismus mit seinem Harmonieglauben und Optimismus geschichtlich überholt sei. In Gestalt des marxistischen Denkens habe sich ein absoluter Rationalismus erneuert, der die Diktatur des Proletariats, die Uberwindung bürgerlicher Institutionen und das Recht zur Gewaltanwendung im Rahmen seiner rationalistischen Geschichtsphilosophie gerechtfertigt habe. Im „ganz reale(n) blutige(n) Kampf" vollende sich der Rationalismus. Seine Konsequenz sei nicht mehr nur „die naive Schulmeisterei fichtescher Erziehungsdiktatur ... Der Bourgeois soll nicht erzogen, sondern vernichtet werden" (76). Auch in den neuen irrationalistischen Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung kündige sich das Ende der Herrschaft des liberalen Rationalismus an. Bei Sorel werde unter dem Einfluß der Lebensphilosophie eine Theorie „unmittelbaren, konkreten Lebens" entfaltet, die die „konkrete Individualität, die soziale Wirklichkeit des Lebens" gegenüber der rationalistischen Vergewaltigung wieder zur Geltung bringe und das Recht „unmittelbarer aktiver Entscheidung" gegen alle Ansprüche auf Vermittlung in den Mittelpunkt rücke. Die Folgen rationalistischen Denkens, die Folgen der Aufklärung, die Diktatur einer abstrakten Vernunft und deren Umschlag in Gewalt und Irrationalismus, nötigen nach Schmitt zu einer umfassenden Infragestellung der Grundprämissen des liberalen, aufgeklärten Denkens. Wo aber die ideologischen Grundlagen derart brüchig geworden seien, hätten auch die auf ihrer Grundlage entwickelten politischen Prinzipien und Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parlamentarismus ihre Existenzberechtigung verloren. Angesichts dieser Krise liberaler Theorie und liberaler politischer Institutionen sei es nur ein Ausweichen vor den Problemen, begnügte man sich im Hinblick auf die Rechtfertigung des Parlamentarismus mit der Antwort, „es gebe für ihn vorläufig noch keinen Ersatz. Das wäre ein hilfloses Argument und nicht imstande, das Zeitalter der Diskussion zu erneuern" (90). Die Pointe von Schmitts Argumentation ist es, daß er die im frühen 20. Jahrhundert weit verbreitete Kritik an Aufklärung, Rationalismus und Liberalismus konsequent auf eine Absage an den Parlamentarismus hin zuspitzt. Wie Erich Kaufmann macht er sich dabei zum Anwalt der konkreten Verfassungswirklichkeit gegenüber der abstrakten Verfassungsnorm, der Weimarer Reichsverfassung. Diese erweist sich auch für ihn angesichts der Integrationsprobleme, die sich in einer inhomogenen Massengesellschaft stellen, als ein untaugliches und antiquiertes Instrument zur Bewältigung der Krise. Denn die parlamentarische Demokratie fuße auf Prinzipien und Ideen des liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, somit auf Überzeugungen, die, wie ihre
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Die Delegitimierung in der Staatsrechtslehre
soziale Trägergruppe, durch den gesellschaftlichen Transformationsprozeß längst Einfluß und Bedeutung verloren hätten. Zur Lösung des zentralen Problems der politischen Einheitsstiftung könne gerade der Parlamentarismus wenig beitragen. Er spiegele zwar den faktischen Zustand der modernen Gesellschaft wider, d. h. den Pluralismus konfligierender Gruppeninteressen. Aber er liefere den Staat auch an diese Interessen aus und schwäche ihn damit. Wenn dadurch „der ,irdische Gott' von seinem Throne stürzt und das Reich der objektiven Vernunft und Sittlichkeit zu einem ,magnum latrocinium' wird, dann schlachten die Parteien den mächtigen Leviathan und schneiden sich aus seinem Leibe jede ihr Stück Fleisch heraus" 31 . Werde der Staat selbst ein „Agglomerat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw.", also durch den „Kompromiß der sozialen Mächte ... geschwächt und relativiert"32 , verliere er seine Souveränität, die Kraft zur politischen Einheitsstiftung. Außerdem gebe es für den Bürger dann keinen Grund mehr, dem Staat „Treue und Loyalität" entgegenzubringen. Deshalb kann für Schmitt ein „derartiger Pluralismus nicht das letzte Wort des heutigen staatsethischen Problems sein". Vielmehr gelte es die „Einheit des Staates als höchsten Wert"33 wiederzuentdekken und zu realisieren. In solcher „Pflicht zum Staat" liegt nach Schmitt die eigentliche „staatsethische" 34 Herausforderung in einer Situation, in der die Rede von der Krise des Staatsgedankens zum Gemeinplatz politischer Publizistik geworden ist. Zwei Ansatzpunkte für die Lösung dieser Aufgabe der politischen Einheitsstiftung bot die Weimarer Verfassung selbst an. Die Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative, d. h. vor allem die Stärkung der Position des Reichspräsidenten gegenüber dem Parlament war die eine Möglichkeit, für die Schmitt immer wieder optierte. Die zweite Möglichkeit war mit dem Gruridrechtsteil der Verfassung gegeben. Diese bot Ansatzpunkte für die Definition einer substantiellen Homogenität des Volkes. Der zweite Hauptteil der Verfassung stellt nach Schmitt in Wirklichkeit ein „Fragment einer andern Art Verfassung" 35 , eine „Gegen-Verfassung" 36 dar, „die sich der wertund inhaltslosen Neutralität einer Verfassung des demokratisch-parlamentarischen Gesetzgebungsstaates", wie er durch den ersten, organisatorischen Hauptteil der Verfassung definiert sei, „entgegenstellt"37. Die notwendige Neugestaltung der Verfassung stehe daher vor einer „grundlegende(n) Alternative", die in Gestalt des ersten und zweiten Hauptteiles der Verfassung 31 32 33 34 35 36 37
C . SCHMITT, Staatsethik, S. 28. E b d . , S. 31. E b d . , S. 32. E b d . , S. 42. C . SCHMITT, Legalität, S. 296. E b d . , S. 307. E b d . , S. 296.
Theologie als Krisenhermeneutik
59
selbst gegeben sei: „Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes oder Beibehaltung und Weiterführung der funktionalistischen Wertneutralität mit der Fiktion gleicher Chance für unterschiedslos alle Inhalte, Ziele und Strömungen". Für Schmitt selbst ist die Entscheidung angesichts dieser Alternative klar: sie muß fallen „für das Prinzip der zweiten Verfassung und ihrem Versuch einer substanzhaften Ordnung" 8 .
II. Die Delegitimierung der Weimarer Reichsverfassung in der protestantischen Theologie Daß die moderne Kultur in einer tiefgreifenden Krise begriffen und vom Untergang bedroht sei, ist auch das die deutschsprachige protestantische Theologie der zwanziger Jahre beherrschende Thema. Die für die staatsrechtliche Diskussion signifikanten Elemente der Kritik an Aufklärung, Rationalismus und Liberalismus lassen sich ausnahmslos auch in zahlreichen kulturdiagnostischen Publikationen protestantischer Theologen nachweisen. In enger Übereinstimmung mit dem kulturpolitischen Diskurs der zwanziger Jahre wird innerhalb der Universitätstheologie eine breite Debatte über Möglichkeiten und Grenzen rationaler Weltinterpretation und -gestaltung geführt. Diese Debatte ist, in historischer Perspektive betrachtet, eine erneute Diskussion um die Legitimität der Aufklärung. Mit den Krisendiagnostikern in der Staatsrechtslehre stimmen die theologischen Kulturanalytiker dabei auch insofern überein, als sie die von ihnen thematisierten destruktiven Folgen aufklärerischer Rationalität vor allem am Zerfall der politischen und sozialen Ordnung wahrgenommen haben. Auch ihnen gilt die in der Weimarer Reichsverfassung konstituierte neue politische Ordnung als die entscheidende Manifestation der Dekomposition überkommener Verbindlichkeiten. Welch hohen Stellenwert die im Weimarer Protestantismus geführten Auseinandersetzungen um die parlamentarische Demokratie für die Zeitgenossen hatten, läßt sich nicht nur in einer rein innertheologischen Perspektive erschließen. Rudolf Smend sah 1932 in „Protestantismus und Demokratie", seinem bekannten Beitrag zu „Krisis. Ein politisches Manifest", einer auf die Unterstützung der Politik Heinrich Brünings zielenden politischen Publikation, in den protestantischen Debatten um das Staatsverständnis nicht nur „ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der deutschen evangelischen Kirche und Theologie", sondern „auch des deutschen Geistes und des deutschen Volkes im ganzen" 39 . 38
Ebd., S. 344.
39
R . SMEND, Protestantismus, S . 3 0 6 .
60
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
1. Theologie als
Krisenhermeneutik
In der theologiegeschichtlichen Literatur zur Theologie der zwanziger Jahre wird zumeist die These vertreten, daß die Einsicht in den krisenhaften Zustand der bürgerlichen Welt vor allem die spezifische Leistung der sog. „dialektischen Theologen" gewesen sei. Demgemäß fungiert Krisendiagnostik dann als ein Kriterium zur Unterscheidung konkurrierender theologischer Positionen. So gilt etwa als entscheidendes Merkmal „liberalerTheologie" ihr „Mangel an jeglichem Krisenbewußtsein" 40 . Gegenüber der Tradition sog. liberaler Theologie, die nur „das religiöse Amen zur jeweiligen Lage der Menschheit in ihrer Geschichte"41 zu sprechen in der Lage gewesen sein soll, wird für die „dialektische Theologie" reklamiert, diese Krise deutlich gesehen, theologisch artikuliert und gedeutet zu haben. Schon ein flüchtiger Blick auf die theologische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts läßt jedoch erkennen: Weder ist die Krisenhaftigkeit der modernen Kultur erst ein Grundthema der Theologie nach 1918/19 - Krisendiagnose ist beispielsweise schon ein zentraler Topos im Denken Ernst Troeltschs - noch hat sie sich in den zwanziger Jahren exklusiv dem Reflexionsvermögen einiger weniger Theologen im Umkreis von „Zwischen den Zeiten" erschlossen. Kulturpessimismus und Krisenbeschwörung gehören gerade auch zum Repertoire politisch konservativer bzw. antirepublikanischer Theologen. So urteilt etwa Friedrich Brunstäd in einer Rede auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei 1928: „Daß dieses kulturelle Leben krank, in Gärung und Zerrüttung ist und Zeichen des Verfalls an sich trägt, kann keinem, der überhaupt Augen hat, verborgen bleiben ... Das Wort von der Kulturkrisis ist nahezu ein Gemeinplatz" 42 . Und Emanuel Hirsch konstatiert 1929: „Das Wort von der Kulturkrise ist in aller Munde, so sehr, daß man es fast nicht mehr hören mag. Es ist fast der Mumie gleich geworden, die nach Herodot in Ägypten bei großer Tafel zur Erhöhung des Lebensgenusses herumgereicht zu werden pflegte" 43 . In einem Sammelwerk, das den Versuch unternahm, „Das religiöse Deutschland der Gegenwart" darzustellen, publizierte Paul Althaus 1930 40 R. J. Zwi WERBLOWSKY, Krise der liberalen Theologie, S. 153. Zur Tradition der Liberalismuskritik in der protestantischen Theologie vgl. H. J. BIRKNER, Liberale Theologie: „Die Kennzeichnung einer Auffassung als ,liberal' h a t . . . den Sinn, theologischen Irrtum zu signalisieren, einen Irrtum überdies, der als längst durchschaut und überwunden gilt" (S. 33). 41 H. G . GEYER, Dialektische Theologie. Geyers Aufsatz endet mit im religiösen Pathos vorgetragenen, auf das Globale ausgreifenden Verdammungsurteilen wie: „Eine Theologie, der die radikale und totale Problematisierung, die Gottes Tat und Wort in der Geschichte Jesu Christi für die Geschichte von Welt und Mensch heraufführt, so unbekannt bleibt wie der liberalen Theologie, betreibt de facto unter dem Anspruch der Erforschung mit Fleiß und Akribie die komplette Verschleierung des Wesens des Christentums" (S. 170). 42
Ε BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S . 6 6 .
43
E. HIRSCH, Staat und Kirche, S. 32.
Theologie als Krisenhermeneutik
61
einen Überblick über die Lager der Theologie 44 . Drei Jahre später veröffentlichte Hermann Sasse eine Diagnose der „Kirchlichen Zeitlage". Auch diese, aus entschieden lutherischer Perspektive geschriebenen Texte lassen erkennen, in welch starkem Maße die Einsicht in den krisenhaften Zustand der modernen Kultur als ein zentrales Movens der gesamten theologischen Arbeit nach dem ersten Weltkriege anzusehen ist. Für Althaus „trägt die Theologie ... wie (die) ganze Zeit ... die Züge des Ubergangs". Zu den wichtigen Voraussetzungen, die zum Verständnis der theologischen Lage unabdingbar seien, rechnet er zunächst Krieg und Kriegsausgang: „Krieg und Revolution wurden weithin als die große Krisis erlebt, in der nicht nur bestimmte Lebensformen zerbrachen, sondern darüber hinaus alle Wirklichkeiten und Werte der Kultur und des geschichtlichen Lebens überhaupt in Frage gestellt schienen: ,Krisis' und fragwürdig' sind seither Modeworte" 45 . Der Krieg „offenbarte ... die Dämonien der Kultur", habe den „optimistischen Entwicklungsglauben" erschüttert und auch die Theologie vor die Aufgabe gestellt, ihr Erbe daraufhin zu prüfen, was unter den veränderten Bedingungen noch „bleibt und gilt". Der Krieg „verstärkte" und „beschleunigte" aber nach Althaus auch in der Theologie nur das Bewußtsein einer Krise, deren Konturen schon vor dem Krieg erkennbar gewesen seien46. Der Theologe, der diese Krise klar erkannt und zum Thema seiner Theologie gemacht hat, ist für ihn der einflußreichste Repräsentant „liberaler" Theologie: „Zu klarer grundsätzlicher Bewußtheit kam diese Krise bei E. Troeltsch. Er war der echte Exponent der theologischen Lage ... Troeltsch hat die Probleme gestellt, mit denen seither die Theologie unaufhörlich ringt"47. Angesichts dieser Krise sei die Theologie herausgefordert, sich erneut und vertieft „um Weltgestaltung, um die Begründung sinnvollen Handelns" zu bemühen. Zwei Aufgaben stehen dabei nach Althaus im Vordergrund: Einerseits „ r u f t . . . die Zeit... nach neuer Sinngebung der Kultur" 48 . Ein anderes Thema „meldet" sich jedoch „noch viel vordringlicher, die Frage 44
P. ALTHAUS, T h e o l o g i e , S . 1 2 1 .
Ebd., S. 131. 46 Ebd., S. 131. 47 Ebd., S. 124. Daß in der Tat im Hinblick auf Troeltsch als führendem Repräsentanten „liberaler" Theologie nicht von einem Mangel an Krisenbewußtsein und -analyse gesprochen werden kann, hat F. W. GRAF, Religion, gezeigt. Vgl. seine These: „Unter den Theologen des 20. Jahrhunderts ist E. Troeltsch der Krisentheologe par excellence" (S. 218). Graf arbeitet einen entscheidenden Unterschied zwischen Troeltsch und späteren Krisentheologen heraus: „Doch sind Troeltschs analytische Möglichkeiten zur Bestimmung der Krisentendenzen der Moderne sehr viel präziser als die seiner kritischen Adepten und dezidierten Kritiker in der ihm folgenden Theologengeneration. Von Troeltsch wird nicht einfach ein mehr oder zumeist weniger reflektiertes Unbehagen an der gegebenen Kultur einfach souverän proklamiert. Vielmehr versucht er die in der Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft evozierte Krise analytisch bestimmt zu erfassen, was nur in dem Maße überhaupt möglich ist, in dem man an den Ort des modernen Bewußtseins selbst zu gehen bereit ist" (S. 219). 45
48
P. ALTHAUS, T h e o l o g i e , S . 149.
62
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
der Lebensordnungen. Die theologische Ethik wird jetzt die wichtigste theologische Disziplin. Eine neue Ethik des Geschlechtsverhältnisses und der Ehe, des Wirtschaftslebens, der Volksgemeinschaft, des politischen Lebens muß erarbeitet werden" 49 . Auch für Sasse stellen die „Krisis der modernen Kultur" und die dadurch provozierte Neubesinnung über Selbstverständnis und Aufgabe der Theologie das entscheidende Thema der Nachkriegszeit dar. Der Kontext, in den er seine Schilderung der „inneren Lage des Protestantismus" einzeichnet, sind die „ungeheueren Umwälzungen im Gefolge des Weltkrieges, der Zerstörung der alten Staatsform und der tiefen Erschütterung des ganzen geistigen Lebens". Indikatoren für diese Krise sieht er im „Zerbrechen so vieler menschlicher Ideale, der Zersetzung aller Normen, des unverkennbaren sittlichen und religiösen Verfalls" 50 . Diese Krise der modernen Kultur spiegele sich in der Theologie der Nachkriegszeit, die einem „Chaos" 51 gleiche. Auch Sasse sieht in diesem „Chaos" nur das Ergebnis eines endgültigen Durchbruchs von Krisentendenzen, die schon die Gesellschaft des Kaiserreichs geprägt hatten, als Optimismus und Fortschrittsglaube zerbrachen, „an die Stelle der Selbstsicherheit der Vernunft... Skepsis und Agnostizismus" traten und die destruktiven Folgen eines „schrankenlosen Individualismus"52 sich abzeichneten. Beide theologischen Gegenwartsdiagnosen zeigen an, daß das Thema einer Krise der modernen Kultur und die damit verbundene These, es bedürfe einer prinzipiellen Neuorientierung in der Theologie, Ausdruck eines Konsenses waren, der weit über die Grenzen der sog. „dialektischen Theologie" hinausging. Ist die Erfahrung einer Krise der modernen Kultur aber ein zentrales, schulübergreifendes Leitmotiv theologischer Kulturanalysen des frühen 20. Jahrhunderts insgesamt, dann kann der Rekurs auf Krisenbewußtsein als solches noch kein sinnvolles Kriterium zur Unterscheidung theologischer Positionen sein. Entscheidend ist vielmehr, wie in den einzelnen theologischen Entwürfen diese „Krise" jeweils gedeutet und konstruktiv verarbeitet wird. Als klassisches Dokument des Krisenbewußtseins der Theologie der zwanziger Jahre gilt Friedrich Gogartens 1920 publizierter Essay „Zwischen den Zeiten", dessen Titel einer neuen Generation von Theologen zur Standortbestimmung diente und programmatisch zum Namen des Organs einer neuen theologischen Bewegung gemacht wurde. Auch für Gogarten ist „Krise" der Begriff, in dem sich die Deutung seiner eigenen Gegenwart zusammenfaßt, und die Spenglerschen Visionen über den „Untergang des Abendlandes" werden deshalb von ihm mit „Jubel" 53 begrüßt als angemessener Ausdruck für Ebd., S. 149. H . SASSE, Kirchliche Zeitlage, S. 3. 51 Ebd., S. 6. 52 Ebd., S. 10. 53 F. GOGARTEN, Zwischen den Zeiten, Sp. 377. Zu Gogartens politischer Position in der Weimarer Republik T. STROHM, Theologie. Strom arbeitet die Nähe Gogartens zum romatischen 49
50
Die politisch-soziale Dimension der Krise
63
die Situation der Zeit. Für ihn gibt es „rund um die Erde herum keine Form des Lebens, die nicht zersetzt wäre". Krise und Zersetzung sind nicht das Produkt unkontrollierbarer numinoser Mächte, sondern dieses globale Mißtrauen gilt einer Welt, deren wesentliches Merkmal es ist, durch „Menschenwillen" und „Menschenweisheit" gestaltet zu sein. Die Krise dieser Welt ist für Gogarten deshalb zugleich „eine Stunde des Untergangs" 54 des autonomen Menschen. Zu kurz greift es nach Gogarten, Krise und Erschütterung nur auf die Revolution zurückzuführen, wie sich dies das „Bürgertum einreden möchte" 5 5 . Die Krise sei vielmehr der Endpunkt einer längeren geschichtlichen Entwicklung, in der sich die moderne Wissenschaft als einzig legitime Welterklärungsinstanz durchgesetzt habe, zugleich aber durch ihre Methodik, Analyse, Zergliederung, geschichtliche Einordnung, die Partikularität, Veränderbarkeit und Vergänglichkeit aller Produkte menschlichen Schaffens erwiesen und so eine „ungeheuere Erschütterung aller Autoritäten und Normen" 5 6 bewirkt habe. Deren deutlichster Ausdruck sei der Historismus. Angesichts dieser Situation formuliert Gogarten, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ernst Troeltsch, die Aufgabe, die er der Theologie seiner Zeit gestellt sieht: Sie soll „einer gesetzlosen Welt zu Gesetzen und Normen verhelfen" 57 .
2. Die politisch-soziale Dimension der Krise Mit dieser Forderung, die Theologie solle angesichts von Zerfall und Zersetzung durch Formulierung und Durchsetzung neuer Gesetze und Normen wieder Einheit stiften, wird als theologische Aufgabe reklamiert, was unter modernen Bedingungen eine ausdrücklich politische Aufgabe war. Die Suche nach Wegen aus der Krise impliziert für Gogarten über den inneren Neubau der Theologie hinaus die Notwendigkeit, ein neues Verständnis des politischen Handelns zu gewinnen, in dem die spezifisch moderne Ausdifferenzierung von Religion und Politik revidiert werden muß, weil allein mittels der Irrationalismus und den gegenaufklärerischen Strömungen der zwanziger Jahre heraus, betont aber die Abgrenzung zum biologistischen Volksdenken der Nationalsozialisten. Gogarten habe versucht, „die einmal gewonnene geistige und gesellschaftliche Autonomie des Menschen in seinem weltlichen Sein zugunsten radikaler Bindungen aufzuheben. Dadurch zeigte sich die Labilität des Motivs der Theonomie in der nachromantischen Epoche, da an die Stelle Gottes faktisch irrationale Bindungen treten . . . " . „Kampf gegen den Liberalismus, den Pluralismus und gegen das humanitäre Ethos" (S. 162) sind nach Strohm weitere Motive von Gogartens theologischer Arbeit. 54
F. GOGARTEN, Zwischen den Zeiten, Sp. 376.
55
F. GOGARTEN, Historismus, S. 8.
Ebd., S. 8. Ebd., S. 14. Zum Verhältnis von Gogartens Theologie und Troeltschs Werk vgl. auch H . FISCHER, Christlicher Glaube. 56 57
64
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Theologie die normativen Grundlagen des politischen Handelns gewonnen werden können: „Damit wäre die Theologie freilich vor eine ungeheure große Aufgabe gestellt, aber doch vor keine andere als vor ihre Aufgabe: die eigentliche und letztlich normbegründende Wissenschaft zu sein. Ist es wahr, was Troeltsch sagt, daß es ohne den Gottesgedanken keine Maßstabbildung gibt,... so wird eben diese erste und entscheidende Maßstabbildung Aufgabe der Theologie sein" 58 . Das Interesse an der Gewinnung von neuer Normativität prägt auch die Analysen der Krise der bürgerlichen Kultur, die Gogarten in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, insbesondere in seinem Buch „Politische Ethik" formuliert hat. Er vertritt auch hier die These, daß die sozialen und politischen Probleme und Krisenphänome der Zeit eine religiöse Dimension haben und deshalb nur von der Theologie angemessen bearbeitet werden können. Mit dieser Uberzeugung steht er in der Theologie der zwanziger Jahre nicht allein. Bezüglich des Anspruchs, letztlich sei allein im Medium theologischer Reflexion eine konstruktive Bewältigung der Krise möglich, gibt es auch zwischen so gegensätzlichen Theologen wie Emanuel Hirsch und Horst Stephan einen Konsens59. Heinz-Dietrich Wendland konstatiert 1928 in dem schon zitierten Sammelwerk „Das religiöse Deutschland der Gegenwart" für den Protestantismus das Bewußtsein eines engen Zusammenhanges zwischen der Krise auf der Ebene des politischen Systems, der „sozialen Krisis" und religiösen Fragen: „Die Krisis des Staates und des Staatsgedankens, die Kämpfe um die Staatsform, dies alles ist mitbedingt und mitgeschaffen durch die soziale Krisis". Diese „soziale Krisis" werde jedoch nur verkürzt und unzureichend wahrgenommen, sähe man nicht ihren Zusammenhang mit der „religiösen Frage": „Vielleicht liegt das tiefere Problem gerade in der Frage, ob denn diese Trennung (zwischen religiöser und sozialer Frage) möglich sei, ob nicht etwa in einem noch völlig zu bestimmenden Sinne die religöse Frage auch einer sozialen Antwort, die soziale Frage ganz und gar einer religiösen Antwort bedürfe" 60 . Solche „Zusammenschau" der politischen, sozialen und religiösen Dimension der „Krise" ist ein wichtiges Merkmal aller theologischer Zeitdeutungsversuche in den zwanziger Jahren.
3. Antiliberale Harmonie als Fundament der Kritik Ein angemessenes Verständnis der Theologie der zwanziger Jahre läßt sich nur dann gewinnen, wenn der von den Theologen unterstellte Zusammenhang zwischen Kulturkrise einerseits und Neubegründung der Theologie andererseits bei der Interpretation ihrer Entwürfe jeweils berücksichtigt wird. Selbst für Rudolf Bultmann, der als Mitarbeiter von „Zwischen den Zeiten" F. GOGARTEN, Historismus, S. 15. Vgl. Einleitung, S. XVII. 60 H.-D. W E N D L A N D , Soziale Neugestaltung, S. 527. 58
59
Antiliberale Harmonie als Fudament der Kritik
65
die dialektische Theologie der zwanziger Jahre entscheidend mitgeprägt hat, stand deren theologische Arbeit in einem evidenten Zusammenhang mit den geistigen Umbrüchen. 1933 benennt er die Gegner, gegen die diese Theologie in Ubereinstimmung mit dem Zeitgeist auf breiter Front antritt. Ausdrücklich korrigiert er Emanuel Hirschs Urteil, die dialektische Theologie sitze im „chambre separee" der Geschichte. Aus Bultmanns Sicht steht gerade die „Gottesauffassung" der dialektischen Theologie „im Zusammenhang mit der geistigen Bewegung, die auf allen Gebieten des Lebens um ein neues Existenzverständnis ringt", einer Bewegung, die sich für ihn auch in Martin Heideggers Phänomenologie, der Dichtung Stefan Georges oder in der „sog. Weltanschauung der nationalen Bewegung" manifestiert. Ein gemeinsames, verbindendes Element zwischen diesen verschiedenen Ausformungen derselben Grundbewegung liegt für Bultmann in der „Abwendung von Idealismus, Rationalismus, von Liberalismus und Demokratie..." 61 . Antiliberale Motive prägen auch Karl Barths eigene Interpretation der von ihm inaugurierten Neuorientierung der dogmatischen Theologie. Barth hat deshalb sogar den „Kirchenkampf" gegen den Nationalsozialismus in den größeren Zusammenhang der Bekämpfung des Liberalismus gestellt. Noch 1937 soll echter Widerstand sich nicht nur gegen den „zufälligen Augenblicksgegner" Nationalsozialismus, sondern gegen „die ganze Welt des modernen Menschen ..., also auch den Liberalismus" 62 richten. Solche Liberalismuskritik hat schon die Selbstdarstellung Barths unter den Bedingungen der Weimarer Republik bestimmt. Daß die politischen Konnotationen dieser Liberalismuskritik den Zeitgenossen klar gewesen sind, auch wenn sie sich nicht direkt politisch artikulierte, läßt die Schilderung einer Begegnung mit Karl Barth von dem Historiker Karl Dietrich Erdmann erkennen. Erdmann berichtet, Karl Barth habe bei einem Marburger Religionsgespräch „erbarmungslose Fundamentalkritik am Kulturprotestantismus, an der liberalen 6 1 R . BULTMANN, Enzyklopädie. Es handelt sich dabei um das Manuskript einer Vorlesung, die 1926 erstmals gehalten und bis 1936 immer wieder erweitert vorgetragen wurde. Die zitierte Passage ist auf das Jahr 1933 datiert. 62 K. BARTH, Kirchenkampf, S.l. Zur Diskussion um den Widerstand der Bekennenden Kirche vgl. K. N O W A K , Kirchenkampf. Vgl. dazu weiter T . RENDTORFF, Resistance. Rendtorff weist daraufhin, daß K. Barths Kampf gegen die Deutschen Christen eigentlich einem anderen Gegner galt, und dies auch erklärt, warum Barth zu Fragen der politischen Ordnung nicht Stellung nahm. „The German Christians presented a notorious caricature of theology, but this was depicted as the cultural legacy of modern theology itself. The demon of modernity must be exorcised along with the German Christians. This theological program must have absolute precedence over all political questions ... So Barth gave no indication of understanding that the themes of political rights and constitutional procedures - the fruit of the Western Enlightenment conception of democracy - offer substantial freedoms. He gave no indication of recognizing the importance of the fact that discrimination against Jews injured the humanity of the state and the society in general" (S.61).
Zur Liberalismuskritik des jungen Barth vgl. die nach Abschluß der Arbeit entstandene Kontroverse zwischen F. W. GRAF, Götze und Η. E. TÖDT, Götze.
66
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Theologie und an der Tradition der idealistischen Philosophie" geübt. Damit aber habe er zugleich „die philosophische Legitimierung der Demokratie als der notwendigen und zu bevorzugenden Staats- und Gesellschaftsordnung", also „die ganze Existenz, in der wir uns damals als junge Studenten zu orientieren versuchten, in Zweifel gezogen..." 6 3 . Ein anderer Zeitgenosse, Eberhard Bethge, hat daran erinnert, daß das Bündnis zwischen Lutheranern und Barthianern in Barmen 1934 eine wichtige Grundlage in der Übereinstimmung hinsichtlich der „Aufklärungs- und Emanzipationsfeindlichkeit" 64 hatte, über deren politische Konsequenz man sich durchaus im klaren gewesen sei, da man bereitwillig zustimmte, den politischen Umbruch des Jahres 1933 als die Widerlegung des Jahres 1789 zu betrachten. Und hinsichtlich der 63 K. D . ERDMANN, Beitrag zur Diskussion über das Referat von A . Schwan, Zeitgenössische Philosophie, S. 287 f. Vgl. auch das Urteil von SCHWAN: „Karl Barth setzte sich mit diesem theologischen Ansatz an die Spitze der .Theologie der Krise', der Dialektischen Theologie, die in dem Bewußtsein, ,zwischen den Zeiten' zu stehen, zum Angriff auf die bestehende Kultur und ihr Ethos blies. Da Kultur und Ethos sich damals konkret im Rahmen der demokratischen Verfassung zu entfalten hatten, wurde auch diese mitgetroffen. Die Dialektische Theologie gewann einen direkt antiliberalen, indirekt damit auch antidemokratischen Impetus" (S. 263 f). Schwan wird zustimmend aufgenommen bei K. D . BRACHER, Formen des Krisendenkens. Er urteilt über Barths „Kampfansage" in den Jahren nach 1919: Mit seiner Kritik „traf er zugleich den politischen Liberalismus, die moderne Demokratie, die westliche Zivilisation, die im Vertrauen auf die vernünftige Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit des Menschen begründet waren" (ebd., S. 198/199). C . v. KROCKOW, Entscheidung, notierte ebenfalls eine Parallele zwischen den Anfängen der dialektischen Theologie und jener in den zwanziger Jahren populär werdenden Abwendung und Verächtlichmachung von liberalen Prinzipien, wie er sie am Beispiel C . Schmitts darstellt: „Interessant wegen ihrer Parallelität ist die Entwicklung in der protestantischen Theologie. Der humanitären Kompromißfreudigkeit E . Troeltschs, des letzten großen Repräsentanten liberaler Tradition, tritt seit 1918 - dem Erscheinungsjahr von K. Barths Kommentar zum Römerbrief - eine radikale, schlechthin „kompromißlose" Haltung entgegen" (ebd., Anm. 77, S. 62). K. SCHOLDER, Deutsche Geschichte, rechnete es 1963 „zu den Merkwürdigkeiten, an denen diese Zeit (die Weimarer Republik) so reich ist", daß K. Barth „in jenen Jahren, als die Republik geistig sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit auf der Seite derer stand, die da mitschossen . . . " (S. 522). Scholder konstatierte „Parallelen ..., die zwischen dem nationalrevolutionären Aufbruch und den Anfängen der dialektischen Theologie bestehen" (S. 517). Vgl. auch Scholders Urteil über die dialektische Theologie in „Die Kirchen und das Dritte Reich": „Aber zunächst beraubte diese Theologie doch einfach die Republik wichtiger Stützen" (S. 62). Für Scholder stellt die dialektische Theologie eine Form radikaler Ideologiekritik dar, die alles traf, „was einen unbedingten ideologischen Anspruch erhob". In dieser Radikalität gingen dann offenbar Differenzierungen verloren. Die Verfechter der parlamentarischen Demokratie, auch unter den liberalen Theologen, wurden gerade als „Relativisten" verächtlich gemacht, denen wohl schwer der Vorwurf zu machen ist, sie hätten unbedingte ideologische Ansprüche erhoben. Jedenfalls erlaubt die Stilisierung der dialektischen Theologie zur radikalen Ideologiekritik das Urteil: „Wer sonst nichts von Barth wußte, der wußte doch wenigstens, daß er ein radikaler Gegner des ,Bindestrich-Christentums' war. Für die Weimarer Zeit war diese Kritik - was ihre politischen Wirkungen betrifft - zumindest ambivalent. Sie traf die Versuche, aus christlicher Verantwortung die Republik mit zu begründen und zu erhalten ebenso wie die Entwürfe ihrer Gegner" (S. 64). Zu klären bleibt dann allerdings auch, warum solche Ideologiekritik im eigenen Lager, etwa im Hinblick auf Gogarten, erst spät ihre Leistungskraft entfaltete. 64
E . BETHGE, Politisierung, S . 4 0 5 .
Antiliberale Harmonie als Fundament der Kritik
67
politischen Heimat der Teilnehmer an der Barmer Synode und ihrer Einstellung der Weimarer Republik gegenüber urteilte Karl Kupisch: „Die meisten der Barmer Zeitgenossen" kamen aus „konservativen deutschnationalen Traditionen. Mit der Weimarer Republik ... hatte keiner viel im Sinn und die Demokratie war ein Produkt westlich-liberalen Denkens, das man verwarf" 65 . Unbeschadet des späteren Eintretens ζ. B. von K. Barth für die Demokratie zeigen diese Urteile: Die Vertreter der dialektischen Theologie ließen sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen unschwer einordnen in jene kulturkritische Gesamtbewegung, deren gemeinsames Credo die Denunziation von Aufklärung, Liberalismus, Rationalismus und damit der geistigen Grundlagen der Weimarer Demokratie war. Bis auf jene kleine Minorität jüngerer Theologen, die nicht zuletzt auch im Interesse einer Stärkung der parlamentarischen Demokratie an liberalen Theorietraditionen festhielten und um eine produktive Vermittlung von Religion und neuzeitlicher Rationalität, Protestantismus und Aufklärung bemüht waren, stimmten die anderen Vertreter der damals jüngeren Generation, ihrer Herkunft aus unterschiedlichen theologischen bzw. kirchenpolitischen Lagern zum Trotz, bereitwillig mit ein in den großen Chor einer zeitgeisttypischen Liberalismuskritik. Die Grundmelodie dieses Chors wurde 1922 von Moeller van den Bruck intoniert: „An Liberalismus gehen die Völker zugrunde". Die Gemeinsamkeit einer „neuen Front" lag für ihn in der Verachtung des Liberalismus. In solcher Verachtung sah er „beinahe das einzig gemeinsame, das es in Deutschland noch gibt." Hier lag für ihn der Punkt, an dem sich die „Kräfte der Rechten mit den Kräften der Linken verbinden" : „Wir sehen, daß alles, was irgendwie nicht liberal ist, sich gegen alles zusammenschließt, was liberal ist" 6 6 . Solche gemeinsame Verachtung des 65
K . KUPISCH, D e m o k r a t i e , S. 8 3 .
MOELLER VAN DEN BRUCK, Liberalismus, S. 32. Zu Moeller van den Bruck und den Kreisen der „Konservativen Revolution" vgl. A. MÖHLER, Konservative Revolution; K. v. KLEMPERER, Konservative Bewegung; K. SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken; F. STERN, Kulturpessimismus: „Der Ausdruck konservative Revolution'... bezeichnet den ideologischen Angriff auf die Modernität, auf den ganzen Komplex von Ideen und Einrichtungen, in dem sich unsere liberale, weltliche, industrielle Zivilisation verkörpert" (S. 7). „Den konservativen Revolutionären war der Liberalismus der Hauptfeind ... Sie waren sich darüber im klaren, daß der Liberalismus die geistige und politische Grundlage der Modernität darstellte ... Sie übersahen oder lästerten die idealistischen Ziele des Liberalismus, sein Eintreten für die Freiheit, seine Offenheit gegenüber der Wissenschaft, sein rationales, humanes, tolerantes Menschenbild" (S. 10). H. J. SCHWIERSKOTT, A. Moeller van den Bruck, untersucht die Organisation der Ring-Bewegung und deren Geldgeber; H. GERSTENBERGER, Konservatismus, macht auf den an der Zukunft orientierten Charakter dieses Konservatismus und seinen eigentlichen ideologischen Gegner aufmerksam: „Der Jungkonservatismus versteht sich nicht als bewahrende, sondern vielmehr als eine schöpferische Kraft, die dem deutschen Volke seine Zukunft finden wird. Die Formen und Inhalte dieser Zukunft werden zwar im Selbstverständnis der Jungkonservativen aus der Geschichte abgeleitet, tatsächlich jedoch sind sie an dem von den Jungkonservativen als unhistorisch verfemten Liberalismus orientiert. Die revolutionärkonservativen Inhalte sind dialektische Antithesen zum Liberalismus. Das offizielle Festhalten am konservativen Geschichtsbild verdeckt nur unzureichend den unhistorischen Charakter dieser Ideologie" (S. 34). 66
68
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Liberalismus war für Moeller van den Bruck identisch mit der Verachtung der Weimarer Republik. Die Kulturkritiker von links und rechts waren also nicht allein Kritiker historistischer Denktraditionen, sie unterhöhlten zugleich die Fundamente der parlamentarischen Demokratie. Im Bewußtsein dieses breiten antiliberalen Grundkonsenses sah Moeller van den Bruck die Zeit einer „Umkehr" gekommen: „... sie beginnt mit einer äußersten Folgerichtigkeit, die eine Drehung von Grund auf vollzieht und den Feind dort erfaßt, wo der Ausgang seiner Machtstellung liegt - sie beginnt mit der Abkehr von der Aufklärung" 67 .
4. Konturen theologischer
Krisendeutung
An Texten von Reinhold Seeberg, Friedrich Brunstäd, Emanuel Hirsch und Paul Tillich sollen die Konturen theologischer Krisendeutung mit ihrer Zentrierung auf die Kritik an Aufklärung, Rationalismus und Liberalismus nachgezeichnet werden. Sich auf Publikationen gerade dieser akademischen Theologen zu beziehen, die unterschiedlichen Lagern und Schulen zuzurechnen sind, mag den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit erzeugen. Zwischen Seeberg, Brunstäd, Hirsch und Tillich bestanden nicht nur erhebliche theologische, sondern auch tiefgreifende parteipolitische Gegensätze. Das Spektrum der von ihnen vertretenen Positionen reicht von der sozialistischen Linken bis ins deutschnationale Lager. Desto interessanter ist zu sehen, daß es in den Grundaussagen ihrer theologischen Kulturdiagnostik, die gleichsam den „context of discovery" ihrer jeweiligen explizit theologischen Systematik darstellt, ein hohes Maß an Ubereinstimmung gab. Das Interesse dieser Darstellung richtet sich nicht auf die je spezifischen theologischen Systemprogramme dieser Theologen, sondern auf die Grundstrukturen ihrer Wahrnehmung und Deutung der eigenen Zeit. Bei den genannten Autoren lassen sich diese Grundstrukturen besonders prägnant erkennen, denn sie haben jenen inneren Zusammenhang zwischen Zeit- und Kulturdeutung einerseits und der Konstruktion systematischer Theologie andererseits, wie er in nahezu allen Theologien der zwanziger Jahre erkennbar ist, in eigenen Publikationen ausdrücklich zum Thema gemacht: Reinhold Seeberg vor allem in „Zum Verständnis der gegenwärtigen Krisis in der europäischen Geisteskultur" 6 8 , Friedrich Brunstäd in „Deutschland und der Sozialismus" 6 9 , Emanuel Hirsch in „Deutschlands Schicksal" 7 0 und „Die gegenwärtige geistige Lage" 7 1 , Paul Tillich in „Die religiöse Lage der Gegenwart" 7 2 . Diese TheoloE b d . , S. 33. R . SEEBERG, Zum Verständnis der gegenwärtigen Krisis in der europäischen Geisteskultur. 6 9 F. BRUNSTÄD, Deutschland und der Sozialismus. 70 E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal. 71 E . HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. 72 P. TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart. 67
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Konturen theologischer Krisendeutung
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gen waren ausnahmslos einflußreiche und meinungsbildende Gelehrtenpolitiker in konkurrierenden politischen Milieus des deutschen Protestantismus. Reinhold Seeberg73, seit 1898 Professor in Berlin, Rektor der Universität in den Jahren 1918/19, war nicht nur imperialistischer „Kriegstheologe", sondern übte auch in den zwanziger Jahren in diversen protestantischen Vereinigungen und Bünden einen erheblichen politischen Einfluß aus. Er war in dem aus der Stöckerschen Tradition kommenden christlich-sozialen Bund aktiv und ein einflußreicher Repräsentant der Inneren Mission. Friedrich Brunstäd74, seit 1925 Professor für systematische Theologie in Rostock, war nicht nur aktives Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, auf deren Parteitagen er Ansprachen hielt. Er hatte auch Verbindung zum Kreis um Moeller van den Bruck 75 und war von 1922 bis 1934 Leiter der evangelisch-sozialen Schule des Johannesstifts in Berlin-Spandau, einer wichtigen „Ideenzentrale" im protestantischen Raum76. Dort wurden sozialethische Schulungskurse für Vgl. R . SEEBERG, Selbstbiographie; G. B R A K E L M A N N , Protestantische Kriegstheologie. F. Brunstäd gehört zu den vergessenen Gestalten in der protestantischen Theologie unseres Jahrhunderts, obwohl er nach 1918 bis zu seinem Tod 1944 großen Einfluß in und außerhalb der Theologie ausübte. Dies dokumentiert die Beigabe zu dem von E . GERSTENMAIER und C . G . SCHWEITZER herausgegebenen Band: Gesammelte Aufsätze. Ihren Dank bekunden u.a. Reichskanzler a.D. Brüning, Reichsminister a.D. Treviranus, Bundespräsident T. Heuss, die Bischöfe O. Dibelius, H. Dietzfelbinger, H. Kunst, H . Lilje, die Theologen P. Althaus, G. Ebeling, W. Künneth, C . H. Ratschow, H.-D. Wendland, die Juristen H. Gerber, E. Kaufmann und R . Smend. Zu Brunstäd vgl. С . H . RATSCHOW, F. Brunstäd; J . RINGLEBEN, Anfänge; W. R . W A R D , Theology, Sociology and Politics; Ε. GERSTENMAIER, Streit und Friede: „F. Brunstäd hatte mich vom ersten Augenblick an fasziniert mit seiner Bemühung, die für mich im deutschen Idealismus kulminierende Philosophie des Abendlandes in eine Symbiose zu bringen mit dem Glauben der Christenheit in der Gestalt der lutherischen Reformation" (S. 35). Dagegen W. T R I L L H A A S , Aufgehobene Vergangenheit, über seine Begegnung mit Brunstäd in Erlangen: „Hingegen beherrschte der sich selbst als Hegelianer verstehende F. Brunstäd die Szene. Er hatte sich in seinem Buch „Die Idee der Religion" in dem Sinne völlig verausgabt, als er hier seine ganze Philosophie überhaupt ausgesprochen hatte. Für ein weiterführendes Verständnis Hegels war bei Brunstäd kaum ein Ertrag zu gewinnen. Er war über seine akademische Tätigkeit hinaus auch politisch engagiert, konservativ mit starken kirchlich-sozialen Interessen ... Diese Philosophie Brunstäds konnte sich wirklich ihres Praxisbezugs rühmen, sie stand tatsächlich ganz in der Nachfolge Fichtes. Aber so sehr mich auch der interessante Mann in seiner liebenswürdigen Art zu gewinnen suchte: gegen diesen Idealismus ... war ich durch meine Münchner Lehrer zuverlässig konfirmiert" (S. 74). Nach Ratschow entbehrt dieses Urteil über die Bedeutung Fichtes für Brunstäd „auch im Systematischen jeder Grundlage" (ebd., S. 252). Brunstäds sozialethische Anschauungen referiert W. POLSTER, Soziallehre. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen von Brunstäds Ansatz analysiert D. SCHNEIDER, Denken und Glauben. 73 74
75 Vgl. dazu A n m . 66, S. 67. Brunstäd hielt 1922/23 im Politischen Kolleg, der Gegengründung der Jungkonservativen zur Hochschule für Politik, einen Lehrgang über Geschichte der politischen und sozialen Ideen und Theorien. Von den 39 Kursen in den ersten 5 Jahren des Kollegs fanden 34 im Spandauer Johannesstift statt. Vgl. J . PETZOLD, Wegbereiter, S. 115 f. 76 Über die Arbeit der Schule informiert: EVANGELISCH - SOZIALE BILDUNGSARBEIT. Tätigkeitsbericht der evangelisch-sozialen Schule 1923 - 1927. Über einen Pfarrerkurs, auf dem Brunstäd referierte, informiert H . MÜLLER, Sozialer Pfarrerkursus in Spandau. Aufschluß über die Bedeutung und den Umfang der Bildungsarbeit in Spandau gibt ein Bericht in den Theologischen Blättern 4 , 1 9 2 5 . Der Verfasser J . ZIPPEL sieht sich genötigt, „ausdrücklich und vor aller Öffentlichkeit" festzustellen, „daß die evangelisch-soziale Schule in Spandau nicht die soziale Ausbildungsstätte der evangelischen Kirche ist" (Sp. 221).
70
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Pfarrer, Lehrer, Vertreter der christlichen Gewerkschaften, Arbeiter und Studenten durchgeführt. Enge Verbindungen bestanden außerdem zum „Kirchlich-sozialen Bund", der „Fichtegesellschaft" und der „Apologetischen Zentrale". Emanuel Hirsch 7 7 war zwar in der Weimarer Zeit nicht parteipolitisch aktiv und kein Repräsentant wichtiger Verbände. Als Herausgeber der „Theologischen Literaturzeitung" und als prominentester Schüler Karl Holls war er jedoch einer der einflußreichsten akademischen Theologen der zwanziger Jahre. Paul Tillich 78 , damals ein enger Freund Hirschs, verstand sich selbst als Vertreter des Religiösen Sozialismus.
a. Die Wurzeln der Krise im 19. Jahrhundert Bei den Zeitdeutungen Seebergs, Brunstäds, Tillichs und Hirschs dominiert in der Beschreibung der Lage ihrer Gegenwart die Metaphorik von Zerfall und Untergang. Tillich diagnostiziert eine „schwere Erschütterung des bürgerlichen Geistes", eine „Kulturkatastrophe" 79 . Die bürgerliche Gesellschaft ist für ihn der Ort von „Verzweiflung, Einsamkeit, Entleerung, Gleich7 7 Zu Hirsch vgl. vor allem die Beiträge in: Η . M . MÜLLER (Hg.), Christliche Wahrheit; J . H . SCHJ0RRING, Theologische Gewissensethik; G . SCHNEIDER-FLUME, Politische Theologie; M . WEINRICH, Der Wirklichkeit begegnen; R . P. ERICKSEN, Theologians under Hitler; J . STROUP, Political Theology, gibt einen umfassenden, detailierten Überblick über die Literatur zu Hirsch. 78 Zu Tillichs systematischer Grundkonzeption vgl. die allerdings von allen zeitgeschichtlichen Entstehungskontexten abstrahierende Arbeit von G . WENZ, Subjekt und Sein; R . BREIPOHL, Religiöser Sozialismus; G . SCHNEIDER-FLUME, Kritische Theologie. Nach SchneiderFlume waren sich Hirsch und Tillich einig in der Deutung der Ursachen der Krise der Zeit: „Der Liberalismus des bürgerlichen Zeitalters, der Harmoniegedanke und der Fortschrittsglaube, der Rationalismus und die Absolutsetzung der Technik haben zum Zusammenbruch geführt" (S. 115). Zum sozialistischen Umfeld Tillichs und seiner Position in den zwanziger Jahren vgl. F. WALTER, Nationale Romantik. Themen wie „Masse und Führung", „Volk und Staat" auf den Tagungen der Hofgeismarer Jungsozialisten zeigen an, daß zwischen sog. linker und rechter Kritik an der Weimarer Demokratie oft kein allzu großer Unterschied bestand. „Deklamatorisches Säbelrasseln und großspurige chauvinistische Sprüche waren in jenen Jahren nicht nur abendfüllende Pflichtübungen in Offizierskasinos oder rhetorische Höhepunkte bierseliger Kommers farbentragender Studentenkorporationen, sondern ernsthaft gemeinte Anstöße einiger ,Hofgeismarer'Jungsozialisten zur Belebung der ,schlappen' Sozialdemokratie" (S. 83). „Am Jungsozialismus der hier geschilderten Prägung allerdings hatten Jungdeutsche, Deutschnationale und Nationalrevolutionäre der unterschiedlichsten Spielart ihre helle Freude" (S. 84). Speziell zum „Kairos-Kreis", einem „unverhohlen elitären Zirkel", vgl. S. 102 ff.: „In dem Maße, wie in der Weimarer Sozialdemokratie der revolutionäre Impetus und die dynamische Schwungkraft des,Volksmarxismus' zugunsten einer nüchternen Realpolitik verlorengingen, gerieten Philosophien wie die Tillichs zu rebellischen Korrektiven der Parteilinie, handelten die Schüler des Berliner Theologen aus einer den Pragmatismus und die organisationspatriotische Saturiertheit denunzierenden Opposition, die weder .rechts' noch einfach ,neoreformistisch', sondern ,lebensphilosophisch-revolutionär' war und dabei den unbedingten Imperativ unaufhörlicher Veränderung im Zeichen des .Reiches Gottes' als Auftrag zur ständigen Reformbegriff" (S. 111).
79
P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 40.
Konturen theologischer Krisendeutung
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machung, Verflachung, Entgeistigung"80. Brunstäd sieht überall „Chaos und Gärung, Zerrüttung, Zeichen des Verfalls, Haltlosigkeit, Zersetzung, Verworrenheit"81. Auch für Hirsch ist die Krisenhaftigkeit der modernen Kultur, die sich vor allem in den Tendenzen zur sozialen Desintegration äußert, deren entscheidendes Kennzeichen. Er sieht sich in einer Zeit, „in der alle überkommenen Bindungen teils ihren Sinn, ihre wesentliche Kraft, teils ihre Gültigkeit, ihre verpflichtende Macht verloren"82 haben. Die Anziehungskraft des Denkens von Nietzsche und die Popularität der Spenglerschen Untergangsvisionen lassen für ihn das wichtigste Merkmal des Zeitgeistes erkennen: einen „Skeptizismus", der das „rechte Verantwortungsgefühl in allen Menschheitsfragen" 83 auflöse. Durch einen „relativistischen Nihilismus" und ein „Chaos von Debatte und Emanzipation" 84 sieht Hirsch alle höhere, geistige Kultur gefährdet. Für Seeberg ist die Zeit nach 1918 ebenfalls eine „Zeit des Niederganges", und seinem konservativen Blick bietet sich das Bild einer „zerfallenden Kultur" dar, in der eine „zersetzende Kritik aller bisherigen religiösen und sittlichen Ideen"85 um sich greift. Die ,linke' Kulturdiagnostik Tillichs stimmt mit der ,rechten' Kulturdeutung von Seeberg, Brunstäd und Hirsch auch überein in der Beschreibung der historischen Genese der Krise. Für sie kulminieren in der Krise der Jahre nach 1918 nur Entwicklungstendenzen, die sich schon im 19. Jahrhundert herausgebildet und zu einschneidenden Veränderungen geführt haben. In diesem Jahrhundert wandelte die „Kultur" sich schon zur „Zivilisation", löste sich die „Gemeinschaft" schon in „Gesellschaft" auf, wurde der „Idealismus" vom „Materialismus" verdrängt. Der Motor dieser Veränderungen war die „schnelle oder gar überstürzte Industrialisierung"86. Durch sie wurde aus dem „Landvolke ein Stadtvolk"87, wurde das „Volk der Dichter und Denker ... verwandelt in ein Volk der Techniker, Industriellen und Seefahrer"88, wurde die Mobilität erhöht durch die „Umwälzung des Verkehrswesens", verloren Landwirtschaft und Handwerk an Bedeutung und entstand die „soziale Frage" durch den Aufstieg des Bürgertums und die Herausbildung der „Lohnarbeiterschaft" 89 . Seeberg, Brunstäd, Hirsch und Tillich sehen selbst, daß diese Beschreibung der Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen Wandels nichts spezifisch Theologisches ist. Ihre Krisendiagnostik läuft deshalb auf eine Erfassung der 80 Ebd., S. 57 u. 58. " F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 66. 82 E. H I R S C H , Schöpfung und Sünde, S. 3. 83 E . H I R S C H , Deutschlands Schicksal, S. 1 1 . 84 E. H I R S C H , Geistige Lage, S. 17. 85 R. SEEBERG, Verständnis, S . 23. 86 F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 29. 87 Ebd., S. 26. 88 R. SEEBERG, Verständnis, S . 12. 89 Ebd., S. 12.
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Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
,tieferen' Ursachen der modernen Kultur zu, für die der Rekurs auf eine besondere theologische Kompetenz unabdingbar sein soll. Der rapide soziale Umbruch im Gefolge der Industrialisierung ist für sie nur die Außenseite einer „geistigen" Veränderung, in der die eigentliche Triebkraft auf dem Weg in die Krise zu suchen ist. Deshalb ist für Hirsch eine „Besinnung auf die letzten Gründe all unsrer politischen wie sozialen, geschichtlichen Urteile" 90 nötig. In dieser Veränderung der geistigen Gesamtlage ist nach Seeberg die „Revolution vor der Revolution", die „Wegbereitung für die Revolution des November 1918"91 zu sehen. Die sozialen Veränderungen und der politische Umsturz müssen deshalb von den Theologen so interpretiert werden, daß die entscheidende Dimension der Krise, die geistige Veränderung der Gesamtlage, sichtbar wird. Eine derartige Definition der Krise als einer wesentlich geistigen erlaubt es ihnen dann auch, die Potenzen des eigenen Faches als wichtige Hilfe für die Suche nach Wegen aus der Krise ins Spiel zu bringen. Ist die Krise wesentlich geistiger Natur, kann sie auch nur durch geistige Anstrengung überwunden werden. Da die Theologen aber beanspruchen, daß diese geistige Kraft letztlich allein in der Religion wurzeln kann, kommt der Religion und ihren berufenen Vertretern bei der Überwindung der Krise eine wichtige Rolle zu. Nach Brunstäd bleibt „entscheidend für alle Schwierigkeiten und ihre Uberwindung ... die geistige Kraft, der sittliche Wille, die Fülle oder die Armut religiösen Lebens in einem Volke" 92 . Hirsch setzt zur Uberwindung der Krise auf „den Geist, die Gesinnung, die Uberzeugung der einzelnen deutschen Männer und Frauen", die nur aus dem „Glauben" wachsen könne, und fordert deshalb: „Wir Deutsche müssen wieder ein frommes Volk werden" 93 . Seeberg ruft dazu auf, alle „Kräfte ... zu konzentrieren auf die Rückkehr zu einer Kultur des Geistes" 94 , die nur dann möglich sei, wenn das „Christentum ... wieder eine volkstümliche geistige Macht" 95 im gesamten Volke werde. Wahre Kultur ohne Religion ist auch für Seeberg undenkbar: „Kein Volk, in dem es eine starke geistige Kultur gibt, steht im Zeichen des Atheismus" 96 . Die Kulturkrise steht, in dieser Perspektive betrachtet, in einem Wechselverhältnis zur Krise der Religion, denn die Verdrängung und gesamtgesellschaftliche Marginalisierung der Religion wird interpretiert als Verlust an ethischer Orientierung und Sittlichkeit in der Gesamtkultur. Die beklagte Auflösung der Einheit der Kultur ist dann nur die Kehrseite der Zerstörung ihres religiösen Fundaments. Das Zentrum der Kulturkrisis kann deshalb in einer „Krisis zwischen Kultur und Religion" 97 verortet werden. 90
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 8. R. SEEBERG, Verständnis, S . 21. 92 F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 49 93 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 153. 9 4 R . SEEBERG, Verständnis, S . 9 8 . 95 Ebd., S. 87. 96 Ebd., S. 9. 97 F. BRUNSTÄD, Deutschland, S . 5 7 . 91
Konturen theologischer Krisendeutung
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Die entscheidende geistige Veränderung, die sich durch die „technischwirtschaftlich-soziale Umgestaltung" 9 8 vollzieht und die den engen Zusammenhang von Religion und Kultur aufbricht, ist die Durchsetzung einer neuen Gesamthaltung des Menschen zur Wirklichkeit, das „rationalistische Denken", ein Vorgang, der den „eigentlichen Wendepunkt im geistigen Leben der Völker" 9 9 darstellt. Diese rationalistische Grundhaltung gilt den genannten Theologen als ein Produkt aufklärerischen Denkens, das sich nach der Französischen Revolution über ganz Europa verbreitet habe und auch in Deutschland im 19. Jahrhundert von einer Sache der Gebildeten zu einer „Massenerscheinung" geworden sei. Die „geistig-kulturelle Krisis" gilt es deshalb als Folgeproblem dieses sich im 19. Jahrhundert erneuernden Aufklärungsdenkens zu begreifen 100 : Im 19. Jahrhundert wurde das „Volk in seinen breiten Schichten in die Aufklärung und ihre Lebensgestaltung hineingezogen ... Das ist die Wirklichkeit der Kulturkrisis der Gegenwart" 1 0 1 . „Krise" und „Aufklärung" werden hier zu Synonymen. Demgemäß ist die theologische Krisenliteratur eine Auseinandersetzung mit der „Hybris des Rationalen" 1 0 2 , eine Kritik des Anspruchs aufgeklärter Rationalität, den allein entscheidenden Maßstab im Umgang mit der Wirklichkeit darzustellen. Diese Rationalismuskritik lebt von Argumentationsmustern, die schon die Kritik der Romantik am aufgeklärt-rationalen Weltbild bestimmt hatten. In ihr reflektiert sich zugleich der Bedeutungsverlust des eigenen Fachgebietes. Als ein deutliches Indiz für den sich durchsetzenden „Geist der Aufklärung" mit seinem Anspruch, alles „unter die zweckvoll alles regulierende Herrschaft der Vernunft" 103 zu bringen, sehen die Theologen das Vordringen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Welterklärung im 19. Jahrhundert und den Bedeutungsverlust der „Geisteswissenschaften" 1 0 4 .
b. Die zersetzende Kraft des Rationalismus der Verstandeskultur Die letzte Beurteilungsinstanz eines derartigen Rationalismus sei der Verstand. Seine Stärke liege in der Analyse, Zergliederung und Zerlegung in einzelne Teile. Für ihn gebe es „nur eine Wirklichkeit, das Objekt", das er „kühl in seiner Gesetzmäßigkeit" erfasse, damit es durch den „technischen Willen zweckmäßig bearbeitet und beherrscht" 105 werden könne. Als Wahrheit gelte 98
E b d . , S. 66.
99
R . SEEBERG, V e r s t ä n d n i s , S . 7 8 .
100
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S . 2 / 3 , 6 3 , 131 f f .
101
E b d . , S. 143; vgl. auch R . SEEBERG, Verständnis, S. 13, 78 ff.
102
P. TILLICH, G r u n d l i n i e n , S . 1 0 3 .
103
E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 27. P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 15. E . HIRSCH, Geistige Lage, S. 17.
104 105
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Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
nur, was immanent, „natürlich-menschlich und objektiv-sachlich" 106 nach allgemeinen Gesetzen erklärbar sei. Ein derartiger Rationalismus habe einen realistischen und materialistischen Grundzug, denn für ihn sei „Wirklichkeit ... das Beieinander, eine Verbindung und Trennung kleinster Massen- und Körperteile. Der atomistische Materialismus ist die folgerichtige Gestalt der ganzen Denkweise"107. Ein am Leitbild solcher technischer Rationalität orientierter Weltumgang wird weder von Seeberg, Brunstäd und Hirsch noch von Tillich grundsätzlich abgelehnt. Die großen Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiet von Technik und Naturwissenschaft erkennen sie an. Ihre Kritik gilt der Übertragung dieses Erkenntnismodells auf andere Bereiche. Setze sich ein derartiger Rationalismus mit dem Anspruch durch, allein zu gültiger Wahrheitserkenntnis führen zu können, werde er über seinen ihm angemessenen Gegenstandsbereich hinaus zur „Weltanschauung", indem er auch zum maßgeblichen Erklärungsmodell geschichtlicher und sozialer Phänomene werde, dann müsse es aufgrund der inneren Struktur dieses Rationalismus zu einer eingeschränkten und verzerrten Wahrnehmung kommen. Dann entstehe ein „Intellektualismus", „die Herrschaft des Verstandes ... über Leben, Wollen, Fühlen und Glauben" 108 . Ein derartiger Intellektualismus könne die Welt nur „dinghaft", abstrakt im Schema von Ursache und Wirkung und von Nutzenkalkülen wahrnehmen. Die gesamte Wirklichkeitswahrnehmung komme dadurch unter den Zwang einer „exakt-diskursive(n) Durchgliederung" und „Rationalisierung" 109 . Aus einer derartigen Dominanz des Rationalismus resultiert nach der Uberzeugung der Kritiker die Krise. Sie wird vor allem als ein Auflösungs- und Zerfallsprozeß begriffen, der sich mit Notwendigkeit aus dem rationalistischen Weltverständnis ergibt. Auf dessen Grundlage sei es zwar zu einem enormen Fortschritt in der Häufung von Detailwissen gekommen, aber die Zusammenfassung nach Prinzipien und die Einordnung der Einzelerkenntnisse in den Gesamtzusammenhang des Wissens sei auf dieser positivistischen Grundlage nicht mehr gelungen. Die Rationalität aufklärerischen Denkens führe in die Orientierungslosigkeit, denn sie verstärke die Tendenz zu „Sonderung und Differenzierung, Auflösung, Isolierung, Zusammenhanglosigkeit" 110 , konzentriere sich auf die Frage nach den Mitteln, die „dabei ungeprüft vorausgesetzt" 111 werden, und könne keine Verständigung mehr herstellen über übergeordnete Ziele und „Zwecke". Hirsch klagt: „Das Denken unsers Jahrhunderts hat eine merkwürdige Fähigkeit, technisch erreichbare Ziele begrenzten Charakters scharf und klar zu erfassen. Aber gegen diese Fähigkeit sticht seltsam ab die Unklarheit und Flachheit 106
Ebd., S. 9.
107
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. 70.
108 109
Ebd., S. 69. F. BRUNSTÄD, Geist und Sinn, S. 365.
110
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. 52.
111
Ebd., S. 56.
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all unserer Versuche, die begrenzten Teilziele in ein Ganzes höherer Art einzugliedern ... Auch wenn wir uns um Allseitigkeit und Tiefe redlich gemüht haben, haben wir am Ende doch nichts zustande gebracht als ein ziemlich willkürliches und etwas anspruchsvolles technisches Programm" 112 . Für Tillich führt diese naturwissenschaftlich-zweckrationale Wahrnehmung in die „Leere und Nichtigkeit einer bloßen Technisierung der Welt"113 und zu „rationaler Entleerung"114. Mit innerer Konsequenz komme es auf ihrer Grundlage zur „Ablehnung der Metaphysik" 115 , und das 19. Jahrhundert werde dadurch zu einer „Zeit des auf sich selbst gerichteten Daseins, der in sich selbst ruhenden und dem Ewigen gegenüber sich absperrenden Lebensformen" 116 . Seeberg befürchtet, alle höhere geistige Kultur werde „der rein technischen Kultur als Mittel zum Zweck untergeordnet"117. Das entscheidende Defizit einer „rational-technischen, atomistisch-materialistischen" Welterfassung und -bemächtigung liegt für die theologischen Kulturdiagnostiker darin, daß ihr alles Individuelle, geschichtlich Gewordene, jeder übergreifende geistige Zusammenhang und damit sowohl ein tieferes Verständnis menschlicher Individualität und Persönlichkeit als auch aller Kultur letztlich verschlossen bleibt. Die Grenze dieses Rationalismus zeigt sich für die Theologen schon dort, wo es um das Begreifen des erkennenden, weltgestaltenden Subjekts selbst geht. Tillich befürchtet, je mehr die „Persönlichkeit ... autonom und rational" werde, desto stärker werde sie auch „ihres heiligen Gehaltes beraubt". Die durch die rationale Erfassung entstehende „Abstraktion" könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, „daß sie unwirklich" 118 sei. Aus der Perspektive der rational-aufklärerischen Sichtweise könne das Subjekt, entsprechend dem Modell zergliedernder Gegenstandserkenntnis, nur noch als „ein Ding unter Dingen"119 wahrgenommen werden, das, isoliert gegen anderes und allein auf sich selbst gestellt, „in das Gefängnis seines Selbst eingebannt" 120 bleibe. Die im Zusammenhang von Geschichte und Kultur sich ausbildende Individualität komme gar nicht mehr in den Blick. Auch vor dem Inneren dieses „Gefängnisses" mache der durch den Rationalismus inaugurierte Zergliederungs- und Zerfallsprozeß nicht halt. Die „atomistische Zersplitterung der Wirklichkeit", die Unmöglichkeit, ihre innere Einheit zu begreifen, müsse am Ort des erkennenden Subjekts zur „Zerfahrenheit der positiven Eindrücke" und damit letzlich zur Identitätsdiffusion, zum „Zerfalle des Subjekts in ein Bündel von Vorstellungen"121 führen. Deutschlands Schicksal, S. 8. P. TILLICH, Christentum und Sozialismus, S. 26. 114 P. TILLICH, Grundlinien, S. 93. 115 P. TILLICH, Religiöse Lage, S . 31, vgl. F. BRUNSTÄD, Deutschland, 116 P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 19. 117 R. SEEBERG, Verständnis, S . 71. 118 P. TILLICH, Grundlinien, S. 115 119 F. BRUNSTÄD, Deutschland, 69. 120 Ebd., S. 71. 121 Ebd., S. 71. 112
E . HIRSCH,
113
S . 71.
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Ein derartig abstrakt und isoliert sich begreifendes Subjekt werde seinerseits zu einer zersetzenden Kraft. Geleitet vorn Interesse der Sicherstellung seiner Selbständigkeit und vorn Anspruch, daß sich alle Wirklichkeit dem Diktat der Vernunft beugen müsse, mache sich der Mensch daran, auch die soziale Ordnung vollkommen umzugestalten. Er strebe nach einer „Durchorganisation des gemeinsamen Lebens unter Gesichtspunkten, die dem dinglichen Wissen und der technischen Wissenschaft entstammen" 1 2 2 . „Wie man die Naturerscheinungen aus Stoß, Gegenstoß, Druck und Gleichgewicht starrer spröder Urelemente erklärt, ... so will man auch die Erscheinungen des staatlichen und Gemeinlebens überhaupt aus sozialen Atomen ... erklären und sie aus Antrieben dieser atomistischen Individuen verstehen. Es entsteht die Lehre vom absoluten Individuum, d. h. von den losgelösten, isoliert -selbständigen Einzelwesen, als die eigentliche Grundlehre der Aufklärung" 1 2 3 . Auf ihrer Grundlage bilde sich ein „Individualismus" und „umstürzlerische(r) Intellektualismus" 124 , der sich im Gefolge der Französischen Revolution über ganz Europa ausgebreitet habe und mit dem die Forderung nach „Emanzipation von den gegebenen Bindungen" in Gestalt des „Liberalismus" zum entscheidenden sozialen und politischen Programm geworden sei. Hirsch sieht den Menschen seit diesem Umbruch „ständig auf der Jagd nach Bindungen, die um seiner Freiheit willen aufgehoben werden sollen" 1 2 5 . Dies müsse mit innerer Konsequenz zur Zersetzung von sozialer Ordnung und aller wahren Gemeinschaft führen. Der Versuch einer „mechanische(n) Regelung des geistigen Lebens" 1 2 6 zerstöre schließlich auch die Fundamente aller höheren Kultur. Sie depraviere zur „bürgerlich-demokratisch(en) Zivilisation" 127 , in der der Selbsterhaltungstrieb und Eigennutz der Individuen, ihr Glücksstreben und ihre Genußsucht tonangebend seien. Nicht mehr,Individualität' und Persönlichkeit' seien dann gefragt, sondern „Typen und Masken, in denen man am sichersten seine Rolle in der Gesellschaft" 1 2 8 spiele.
c. Die Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Der Inbegriff eines durch diesen „Materialismus", „Egoismus" und „Individualismus" geformten Zusammenlebens ist für die zitierten Theologen die „bürgerliche Gesellschaft" mit ihrem entscheidenden Motor, der kapitalistischen Wirtschaft, in der und mit deren Hilfe die naturwissenschaftlich-techE. HIRSCH, Geistige Lage, S. 18; vgl. auch Deutschlands Schicksal, S. 28. F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 72. 124 Ebd., S. 85. 125 E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 12. 126 R. SEEBERG, Verständnis, S. 6. 127 Ebd., S. 16. 128 Ebd., S. 5., 14. 122 123
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nische Rationalität ihre volle Kraft entfaltet. In dieser bürgerlichen Gesellschaft ist die Beziehung des Geistes zum Ewigen zerschnitten, hat sich die Kultur vollends verselbständigt gegenüber der Religion und damit gegenüber der Macht, die allein ihre Einheit zu gewährleisten vermag. Brunstäd, Hirsch, Seeberg und Tillich stimmen darin überein, daß das „unbedingte Herrschertum" des Systems der kapitalistischen Wirtschaft den „bürgerlichen Geist" am deutlichsten kennzeichnet129. Ihre Krisenanalysen beinhalten einen weitgehenden Konsens hinsichtlich der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihres zentralen Prinzips, der kapitalistischen Ökonomie, als der wirtschaftlichen Konkretion einer materialistisch orientierten, technischen Rationalität. Kapitalismuskritik ist in den zwanziger Jahren keineswegs nur ein Thema politisch links orientierter Theologen. Auf dem Hintergrund jenes romantisch-organologischen Antikapitalismus, wie er für breite Strömungen in der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts repräsentativ ist, formulieren in den zwanziger Jahren gerade auch solche Lutheraner eine scharfe Kapitalismuskritik, die dem jetzt herrschenden theologischen Bewußtsein zumeist nur als unkritische Apologeten des gesellschaftlichen status quo gelten. Mit ihren Analysen erweisen sich diese Theologen als Repräsentanten eines Bürgertums, das die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und damit der eigenen Herkunft angesichts der negativen sozialen Folgen der Industrialisierung und Modernisierung zum eigenen Thema macht130. Für Seeberg ist der „Sieg des Großkapitalismus" 131 , die Tatsache, daß „die Industrie die eigentliche Großmacht in dem Leben unseres Volkes" 132 geworden ist, die entscheidende Veränderung im 19. Jahrhundert. Seitdem regiere nicht mehr „die geistige Kraft oder die innere Logik der Ideen", sondern die „Allmacht des Geldes". Weil „das Kapital in allen Fragen des Lebens seine Macht in die Waagschale zu werfen" 133 begonnen habe, verfestige sich der Eindruck, als ob die „tote Kraft des Geldes stärker" sei „als die lebendige Kraft des Geistes" 134 . Für Hirsch ist die „Entfesselung" 135 der Macht der Wirtschaft einer der entscheidenden Faktoren, die den „Fortbestand" der gesamten Kultur in Frage stellen. Brunstäd sieht in der „aufklärerischen Gestal129 P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 41. Zu diesem gerade aus romantischen und konservativen Traditionen (F. v. Baader, A . Müller, historische Schule der Nationalökonomie) sich speisenden Antikapitalismus vgl. H . BECHTOLD, Konservativer Antikapitalismus. 130 Vgl. H . LÜBBE, Politische Philosophie, zu den Entstehungsbedingungen der „Ideen von 1914". Zu diesen Bedingungen „gehört offensichtlich ... eine extreme politisch-geistige Selbstentfremdung des Bürgers von den realen gesellschaftlichen Bedingungen seiner eigenen Existenz" . Daraus entwickle sich ein „Ressentiment gegen die bürgerliche Welt aufgeklärter geistiger Prägung, das sich bis zum Zivilisationshaß steigert" (S. 212). 131
R . SEEBERG, V e r s t ä n d n i s , S . 71.
132
E b d . , S. 21 u. 19. E b d . , S. 19/20. E b d . , S. 19/20. E . HIRSCH, Staat und Kirche, S. 32.
133 134 135
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Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
tung der Wirtschaft" und der ihr korrespondierenden Herausbildung der „kapitalistische(n) bürgerliche(n) Gesellschaft" ein „schwerstes Stück ... (der) Kulturkrisis" 136 . Die „kapitalistische Produktionsweise" zeichne sich aus durch ihre Verselbständigung gegenüber dem „Kulturganzen" und stelle damit eine Realisierungsgestalt der auf „Sonderung" und „Differenzierung" gerichteten Grundtendenz aufklärerischen Denkens dar. Diese Verselbständigung habe sich zur „Verabsolutierung" gesteigert. Dadurch sei aus dem Kapitalismus der „Mammonismus" entstanden, der „nicht im Geldbeutel, sondern im Herzen" 137 sitze und gleichbedeutend sei mit der „Verwirtschaftlichung des gesamten Lebens", die sowohl das Verhältnis zu den Dingen und Gegenständen wie zu den Mitmenschen und damit auch die gesamte Struktur des Zusammenlebens verwandle. Die „Dinge", deren Besitz einst durch „Ehrfurcht, die heilige Scheu, durch Pietät und Dank" gekennzeichnet gewesen sei, würden dadurch zu „Waren", und damit das Verhältnis zu ihnen „eroslos, gemeinschaftslos, herrschaftlich" 138 . Besitzstreben und Bedürfnisbefriedigung rückten in den Mittelpunkt des Lebens. Damit werde der „Sinn des Lebens" auf „Erwerb und Genuß" 139 reduziert, und ein „materialistischer Egoismus" 140 breite sich aus. Geld, ursprünglich gedacht als Mittel, werde zum verabsolutierten „Selbstzweck". Da ein derart verabsolutiertes Mittel selbst das „Sinnlose, Nichtige" sei, verfalle ein Leben, das sich allein am Erwerb dieses Mittels ausrichte, ebenfalls der Sinnlosigkeit und Nichtigkeit141. Das Streben nach Besitz und Privateigentum als Motor der bürgerlichen Gesellschaft und der „liberalen Wirtschaftsform" treibe die Menschen schließlich in den „Kampf aller gegen alle". In diesem Kampf vollziehe sich eine „radikale Zerstörung der Gemeinsamkeit vor dem Ewigen" und werde der Weg bereitet für eine geistlose „Vermassung" als einer „Zusammenballung atomisierter, qualitätslos gewordener Einzelner" 142 , die schließlich in Klassenbildung und Klassenantagonismus ende. In Verbindung mit den anderen, aus dem Rationalismus erwachsenen destruktiven Kräften wie dem Emanzipationsinteresse und einem naturwissenschaftlich-technischen Denken habe der „Primat" der Wirtschaft „über alle anderen Sozialfunktionen" 143 in eine Situation geführt, in der die im Interesse der Freiheit vollzogene „Auflösung der ursprünglich gegliederten Bindungen nicht die Freiheit aller, sondern die Knechtschaft aller in der Vermassung unter von keinem Einzelnen mehr zu steuernden neuen Gewalten gebracht" habe144. 136 137 138
F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 72; vgl. Deutschland, S. 308. F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 72; vgl. Deutschland, 141. P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 41.
139
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 141; vgl. R . SEEBERG, Verständnis, S. 13 ff.
140
R . SEEBERG, Verständnis, S. 74.
141
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 140.
142
P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 43.
143
P. TILLICH, Grundlinien, S. 109.
144
E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 21.
Die Kritik der politischen Leitvorstellungen
79
5. Die Kritik der politischen Leitvorstellungen der liberalen Demokratie Die Kritik der „bürgerlichen Gesellschaft", die sich aus dem Bewußtsein zunehmender Desintegration und der Auflösung homogener Gemeinschaftsstrukturen als Kehrseite einer im rationalistischen Geist vorangetriebenen Industrialisierung und Modernisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert speist, findet ihre Zuspitzung in der Ablehnung der dem Rationalismus eigenen politischen Leitvorstellungen. Gerade die durch die soziale Krise evozierten neuen politischen Gestaltungsaufgaben zu thematisieren, sehen Seeberg, Brunstäd, Hirsch und Tillich als besondere Herausforderung für die Theologie an. In dieser politischen Zuspitzung der Krisendiagnose reflektiert sich ein gewandeltes Problembewußtsein. Nicht mehr die „technischen Entdeckungen und Fortschritte" bewegten die Menschen, sondern das Ringen „mit den Problemen des Gemeinschaftslebens" 145 . Die „Krise" radikalisiert sich in den Augen der Theologen in den Jahren nach 1919 deshalb, weil versucht werde, auf die neuen sozialen und politischen Herausforderungen immer noch mit dem alten, in seiner Fragwürdigkeit schon längst erkannten rationalistischen Denken zu antworten 146 . Insofern findet die entscheidende Auseinandersetzung zwischen aufklärerisch-rationalistischem Denken und einer „tiefer" blickenden Geistigkeit auf dem Gebiet der Gestaltung des Zusammenlebens und des Politischen statt. Der Gegensatz zwischen den beiden Arten des Umgangs mit der Wirklichkeit muß als Gegensatz unterschiedlicher Verständnisweisen des Politischen selbst ausgelegt werden. a. Weltanschauungskritik - der Gegensatz von Demokratie und Konservatismus Für die genannten Theologen ist die Auseinandersetzung über die geistigen Triebkräfte hinter den Umwälzungsprozessen eng verzahnt mit den politischen Auseinandersetzungen, weil die parteipolitischen Gegensätze auch aus ihrer Perspektive zugleich als „Weltanschauungsgegensätze" begriffen werden müssen147. Dementsprechend vollzieht sich die theologische Urteilsbildung über politische Fragen überwiegend durch die Thematisierung derartiger „Grundfragen" und der hinter politischen Parteien stehenden „Weltanschauungen". Politik ist für sie weniger das Bemühen um einen für alle tragbaren Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen oder die Auseinandersetzung über einzelne konkrete Strukturfragen, sondern Weltanschauungskampf. Wird diese Ebene verlassen, wittert man schon das rationalistisch verkürzende Denken am Werk, das die großen Gesamtzusammenhänge nicht mehr wahrnimmt und die Entthronung der Macht des Geistes betreibt. Für E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 28. Ebd., S. 28. 147 Vgl. Ε BRUNSTÄD, Weltanschauung; Deutschland, S. 149. 145 146
80
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Brunstäd ist deshalb die Orientierung an „politischen Einzelfragen" ein Anzeichen für jenen Prozeß, in dem Deutschland immer „ungeistiger" 148 wurde. Aus dieser Wahrnehmung ergibt sich das eigentümliche Profil der theologisch-politischen Beiträge zur Zeitdeutung. Sie verbleiben auf der Ebene des Grundsätzlichen, verweigern sich damit aus „weltanschaulichen Gründen" jenem Konkretionsgewinn, der durch die Rationalisierung des Politischen über das Verfassungs- und Rechtsdenken erreicht wurde, und verfallen somit selbst einer verkürzenden Wahrnehmung. Die theologischen Deutungsversuche der „Krise" vollziehen sich, dem Orientierungsbedürfnis der Zeit entsprechend, weniger über historisch detaillierte Analysen. Hier werden vielmehr nur die großen Linien der geschichtlichen Entwicklung nachgezeichnet und die „Ideen" und „Weltanschauungen" dargestellt, die in diese „Krise" geführt haben sollen. Diese Reduktion historischer Komplexität, durch die die mannigfaltigen Entwicklungsprozesse im Ubergang von der altständischen zur modernen Gesellschaft nur noch als Niedergang historisch gewachsener Geistesmächte erscheinen, schafft jene Eindeutigkeit, die dann auch die Formulierung klarer weltanschaulicher Programme zur Uberwindung der „Krise" erlaubt. Der Weg aus der Krise wird gesucht über eine „neue weltanschauliche Begründung der politischen Willensbildung" 149 und die „Besinnung auf die letzten Gründe" aller „politischen wie sozialen, geschichtlichen Urteile" 1 5 0 . Die „politische Stärke einer Partei" erwächst aus dem „Ernste weltanschaulichen' Ringens um die Uberwindung der Kulturkrisis aus dem Glauben" 1 5 1 . Gerade in Hinblick auf die große Bedeutung, welche ideenpolitischen Auseinandersetzungen, dem Kampf der Weltanschauungen und ideellen Geschichtsmächten zuerkannt wird, gibt es zwischen der Krisendiagnostik der Staatsrechtswissenschaft der zwanziger Jahre und der Krisendeutung in der Theologie eine hohes Maß an Ubereinstimmung. Der Grundstruktur nach läßt sich dasselbe Muster der Delegitimierung der mit der Weimarer Verfassung etablierten politischen Ordnung feststellen. Sind die Juristen ex professione zur Auseinandersetzung mit dem Text der Verfassung gezwungen, so kann es die freie Geistigkeit der Theologen sich erlauben, in ihren Entwürfen idealer Gegenwelten von den konkreten Funktionsmechanismen des politischen Systems zu abstrahieren. Deshalb vollzieht sich die von den Theologen betriebene Delegitimierung, dem „weltanschaulichen Ringen" entsprechend, weniger als eine auf die konkrete Verfassung selbst bezogene Diskussion über Leistungsfähigkeit und Schwächen des politischen Systems, sondern als Kritik der vermeintlich sie tragenden Grundideen. Dieses Vorgehen erlaubt es dann, von Demokratie, Verfassung, Staat, Parlamentarismus, 148
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S . 149.
149
F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S . 5 6
150
E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S.8
151
F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S . 80.
Die Kritik der politischen Leitvorstellungen
81
Revolution etc. ohne konkretes historisches Profil zu reden. Die Unterschiede zwischen den demokratischen Zielvorstellungen und deren verfassungsmäßigen Konkretionen von 1789 in Frankreich oder 1848 und 1919 in Deutschland verwischen sich dann ebenso wie der unterschiedliche Charakter der jeweiligen Revolutionen. In gleicher Weise werden die jeweiligen Parteien nicht nach ihrer Leistungskraft im Hinblick auf einzelne Sachfragen, sondern nach ihrer „weltanschaulichen" Grundausrichtung beurteilt. Die Wahrnehmung der politischen Lage nach 1919 wird dabei strukturiert von dem im 19. Jahrhundert sich ausbildenden Gegensatz zwischen einer aus dem Liberalismus kommenden demokratischen Staatsauffassung und ihrem konservativen Gegenentwurf. In ihnen spiegelt sich zugleich der Gegensatz von Aufklärung auf der einen, Romantik und deutschem Idealismus auf der anderen Seite. Bei allen wichtigen die Weimarer Demokratie tragenden Parteien wird eine Prägung durch das in der Aufklärung wurzelnde demokratische Denken diagnostiziert. Das Zentrum habe sich im 19. Jahrhundert dem „liberal-demokratischen" Denken geöffnet. „Das Drängen auf demokratischen Parlamentarismus westlicher Art fand hier volle Unterstützung" 1 5 2 . Sozialdemokratie und Linksliberalismus seien ebenfalls vom aufklärerisch-demokratischen Denken bestimmt. All diese Parteien hätten die Durchsetzung politischer Grundideen bewirkt, die der Liberalismus in Deutschland zuerst auf seine Fahnen geschrieben habe. Er sei als jene politische Bewegung anzusehen, die unter dem Banner des aufgeklärt-rationalistischen Denkens in Deutschland nach 1848 angetreten sei zu einer völligen Umgestaltung der überkommenen politischen Ordnung. Die für den Liberalismus entscheidenden politischen Forderungen zielten auf die Sicherstellung individueller Freiheit und die Erkämpfung von politischen Mitspracherechten durch Verfassungsgesetzgebung und eine Parlamentarisierung des politischen Systems in den Staaten, in denen „keine Verfassung und Volksvertretung" 153 bestanden habe. Dieser Liberalismus ist nach Brunstäd das „typische Erzeugnis der Aufklärung" 1 5 4 . Die Demokratie sei die Staatsform, die aus diesem aufgeklärt-liberalen Denken entstanden sei: „Der Demokratismus ist das Kind der Aufklärung" 1 5 5 . Die demokratische Bewegung, die an die Ideale von 1798 anknüpfe, stelle, in „nationalpolitisch-konstitutioneller Hinsicht... die Erneuerung der Aufklärung" 1 5 6 dar. Die „aufklärerische Bildung" des 19. Jahrhunderts, „ihre geistige Armut trieb auf die Nachahmung der demokratischen Verfassung des Westens hin" 157 . Treibende Kraft hinter der Erneuerung der Aufklärung im F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 21. Ebd., S. 150. 154 Ebd., S. 153; vgl. auch S. 77. 155 R. SEEBERG, Verständnis S. 78; vgl. auch F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 151. 156 F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 137, S. 14. 157 Ebd., S. 22. 152
153
82
D i e Delegitimierung in der protestantischen Theologie
19. Jahrhundert waren für Brunstäd die Juden: „Sie werden die Wortführer, die Anstifter der radikal-demokratischen, aufklärerischen Bewegung ... Sie werden die typischen Vertreter der Aufklärung in allem. Der scharfe, trokkene, zersetzende Verstand, der auf Grund der Analyse gegebener Verhältnisse sie technisch gewandt beherrscht, ist ihre Begabung" 158 . Aufklärung, rationalistisches Denken, Liberalismus und Demokratie sind für die theologischen Zeitdiagnostiker eng verknüpft. Die Grundprämissen des rationalistischen Denkens bilden das gemeinsame Fundament des liberaldemokratischen und sozial-demokratischen politischen Denkens. Der Sozialismus Marxscher Prägung sei nur eine Folgegestalt, die sich aus der materialistischen Grundausrichtung des rationalistischen Denkens weiterentwickelt habe und in der alle negativen Elemente der aufgeklärt-liberalen Tradition in neuer Weise zusammengeballt seien: absoluter Individualismus, Materialismus, Dominanz des wirtschaftlichen Denkens, Zersetzung des Staates und Religionsfeindlichkeit. Für Brunstäd hat der Sozialismus „entscheidenden Anteil" daran, daß „große Teile" des Volkes in die „krisenhafte Aufklärungsweltanschauung hineingezogen worden sind" 159 . Der Sozialismus versuche auch nur „die vollkommene Rationalisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die Organisation der ganzen Menschheit nach allgemein-vernünftigen Normen" 1 6 0 . Für den religiösen Sozialisten Paul Tillich, der zwar nicht an konservative Traditionen anschließt, wohl aber an die romantische Kritik der Aufklärung, erscheint es notwendig, den flachen Rationalismus des Sozialismus mit theonomem Gehalt zu vertiefen. Für Hirsch besteht zwischen „Kapitalismus und Sozialismus" kein wesentlicher Unterschied mehr: „Sie wollen im Grunde das Gleiche" 161 . Der wahre Gegner sei in der „Aufklärungsweltanschauung" zu suchen, deren entscheidender Träger in Deutschland zuerst der Liberalismus gewesen sei. Aufklärung und Liberalismus seien nur zwei Seiten derselben Münze. Nachdem sich im Bereich des Politischen mit der Weimarer Verfassung die Forderungen des Liberalismus erfüllt und durchgesetzt haben162, kann der Liberalismus als die die Gegenwart bestimmende Gestalt aufgeklärten Denkens identifiziert werden. Deshalb drückt sich nach Brunstäd „die Krisenhaftigkeit... gerade im Liberalismus am deutlichsten aus" 163 . Und der Kampf gegen die Rationalisierung des Gemeinschaftslebens ist - so Hirsch - identisch mit dem Kampf „gegen den Individualismus und Liberalismus" 164 . In diesem Kampf geht es um mehr als politische Ordnungsprobleme. Für die Theologen ist es eine Auseinandersetzung um verschiedene GrundhaltunE b d . , S. 145. E b d . , S. 319. 160 E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 117; Geistige Lage, S. 20. 161 E . HIRSCH, Staat und Kirche, S. 27. 162Vgl.S.30ff. 158
159
163
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S . 1 5 5 .
164
E . HIRSCH, Geistige Lage, S. 40.
Die Kritik der politischen Leitvorstellungen
83
gen zur Wirklichkeit. Diese Einstellung steht hinter einem Urteil wie dem Emanuel Hirschs, der 1929 in dem „Heraufzug" des neuen Staatsgedankens, dessen Wurzeln in der Französischen Revolution liegen, „ein Ereignis der Religions· und Kirchengeschichte von vorläufig noch unübersehbarer Tragweite"165 sieht. Wie in der Staatsrechtslehre steht deshalb im Zentrum der Kritik der Theologen folgerichtig die Auseinandersetzung mit den von ihnen rekonstruierten politischen Grundaussagen des aus der Aufklärung kommenden rationalistisch-liberalen Denkens, das sich für die Kritiker erneut konkretisiert hat in dem mit der Weimarer Verfassung etablierten politischen System. Als Gegenbewegung zum Liberalismus entstand im 19. Jahrhundert der Konservativismus. Nach Brunstäd wird er im Geiste eines „nüchternen Lebensernstes"166 zum Anwalt der „Lebenswirklichkeit"167 gegen die theoretischen und doktrinären Abstraktionen des aufklärerischen Rationalismus. „Er will gerade diese Lebendigkeit und die in ihr begründeten Einrichtungen gegen Auflösung und Vergewaltigung durch die Theorie und den Intellektualismus sichern". Er stelle sich in den Dienst der „Erhaltung des übergreifenden Lebenszusammenhanges, der übergeordneten Ganzheit, der bindenden und tragenden Gemeinschaft, der selbständigen Staatshoheit, der ,auctoritas' der Krone"168. Der Konservativismus sei eng verknüpft mit der deutschen Gegenbewegung zur Aufklärung, der Romantik. Der Gedanke der individuellen Freiheit werde im konservativen Denken nicht einfach ignoriert, sondern vertieft. Freiheit sei nicht inhaltslose, ungebundene Willkür, sondern werde verstanden als Fähigkeit zur „lebendigen Einsicht in das Wahre und Gute"169. Dementsprechend bleibe auch das Verständnis des Politischen immer orientiert an diesem Bezug auf das „Wahre und Gute". Mit innerer Notwendigkeit stehe das konservative Denken deshalb gegen ein Verständnis des Politischen, das durch die Orientierung an der formalen Rationalität relativistisch die Frage nach dem substantiellen Gehalt vergleichgültige und dadurch unfähig werde zur Lösung der im Zuge der Modernisierung sich verstärkenden Integrationsprobleme. Die theoretische Ausarbeitung seiner politischen Leitgedanken habe der Konservativismus im deutschen Idealismus, in der historischen Rechtsschule und der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts erfahren. In seiner politischen Theorie werde das „Volkstum" als eine „geschichtliche Lebenswirklichkeit" geachtet, und das Zentrum der Kultur werde im Staat, nicht in der Gesellschaft gesehen. Der Staat sei für das konservative Denken das Instrument zur „Einbildung des Vernünftig-Sittlichen in die Menschheit" und zur „Verwirklichung der Wahrheit und des Guten"170. E. H I R S C H , Staat und Kirche, S. 29. F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 152. 147 Ebd., S. 152. 168 Ebd., S. 155. 169 E. H I R S C H , Staat und Kirche, S. 34. 170 Ebd., S. 35. 165
166
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
84
Deshalb redeten die Konservativen auch „weniger von den Freiheiten des Volkes als von der Macht und den Forderungen des Staates"171. Falsch sei es, dies betont Brunstäd ausdrücklich, den Gegensatz von Konservativen und Liberalen als den Gegensatz von Beharrung, bloßem Festhalten am Gegebenen und Fortschrittlichkeit zu konstruieren. Die Konservativen „brauchen nur einem politischen Zustande gegenüberzustehen, der ihren Idealen und Anforderungen nicht entspricht, wie etwa heute in Deutschland, dann hat es mit dem Beharrungsstreben alsbald ein Ende" 172 . Gerade die an Idealen orientierte Grundausrichtung ihrer Politik lasse sie dann zu Kritikern der bestehenden Verhältnisse werden.
b. Die Kritik des Rechtsformalismus Die formal-rationalistische Grundtendenz liberal-aufgeklärten Denkens führt nach dem Urteil ihrer Kritiker dazu, Fragen der politischen Gestaltung des Zusammenlebens vorrangig als bloße Fragen der „Organisation", d. h. unter Abblendung der inhaltlichen Dimension wahrzunehmen 173 . Deutlich ablesen lasse sich dies an dem Versuch, das Recht zum zentralen Steuerungsund Regelungsinstrument in den politischen Prozessen und Sozialbeziehungen zu machen und den Staat vor allem durch Bezugnahme auf die Rechtsordnung zu definieren. Es werde versucht, einer „Vernunftidee, der des Rechts, zur unbedingten Herrschaft über alles Menschliche" zu verhelfen174. Es zeige sich aber, daß das geschichtliche Leben in dieser rationalen Form nicht aufgehe. Für Tillich sind mit „dem Sieg der reinen Rechtsform ... die heiligen Eros- und Machtbeziehungen und damit der lebendige Gehalt der Gemeinschaft entschwunden. Es ist das entstanden, was man Gesellschaft nennt" 175 . Das, was Gemeinschaft allein „tragen und erfüllen" könne, die „Gemeinschaft im Metaphysischen" 176 , werde auf dem Wege dieser Rationalisierung durch das Recht gerade ausgeschlossen. Die in solchem Rechtsrationalismus sich dokumentierende Ablehnung der Metaphysik ist für Tillich ein Produkt der Aufklärung mit ihrer antimetaphysischen Grundhaltung 177 . Derartige Urteile signalisieren die Notwendigkeit, Vorsicht walten zu lassen bei der Interpretation der Tatsache, daß die Theologen vom Recht reden. Sie sprechen vom Recht zum Teil mit erhabenen Worten, wie etwa Hirsch, der die „Ausübung des Rechts" als einem „Amte voller Hoheit und voller Deutschland, S . 1 5 2 . Ebd., S. 150. 173 E . H I R S C H , Deutschlands Schicksal, S. 2 8 ; vgl. R . SEEBERG, Verständnis, S. 1 5 . 174 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 28. 175 P . T I L L I C H , Grundlinien des religiösen Sozialismus, S. 108; vgl. S. 114. 176 Ebd., S. 116. 177 P. T I L L I C H , Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, S. 171
F . BRUNSTÄD,
172
252.
Die Kritik der politischen Leitvorstellungen
85
Verantworung" 178 bezeichnet. Solches pathetische Reden muß noch nicht gleichbedeutend sein mit der Anerkennung rechtsstaatlichen Denkens und der dadurch vollzogenen Rationalisierung des politischen Systems. Auf dem Hintergrund der Rationalismuskritik ist genauer zu fragen, auf welche Elemente des Rechts sich das Interesse richtet und wie das Verhältnis von Recht und Staat gefaßt wird. An der Distanzierung vom Recht als einem wichtigen, die politischen Prozesse regelnden Instrument zeigt sich eine Tendenz zur Zurückdrängung der rational-formalen Elemente, die sich auch an der Auffassung von der Verfassung als Rechtsordnung nachweisen läßt. Das Rechtsverständnis der Theologen ist vorrangig orientiert an den nichtrationalen Elementen des Rechts. Die Tatsache, daß Recht Gesetz ist, das in einem formal geordneten, institutionell geregelten Gesetzgebungsverfahren zustande kommen soll, spielt eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Interesse an den „metarechtlichen" Gehalten des Rechts und damit - aus der Perspektive der Theologen - den „tieferen" Gründen seiner Geltung, wie z.B. dem Bezug auf die „Sittlichkeit", die „Gerechtigkeit", die Entscheidungsmacht, die ihm Wirklichkeit verleiht, oder die von ihm verkörperte geschichtliche Substanz. Daß diese Suche nach „tieferen" Gründen sehr schnell zu einem Abgrund werden kann, in dem der ethische Gehalt der Formalität und Rationalität des positiven Rechts entschwindet, wird nicht wahrgenommen, weil die Theologen den ethischen Gehalt politischen Handelns nicht in dessen Rechtsbindung suchen, sondern in seiner Ausrichtung an „übergeordneten" Idealen und Wertvorstellungen. Sie machen sich dadurch in einer Weise zu Anwälten der Frage nach der Legitimität des Rechts, die den neuzeitspezifischen Zusammenhang zwischen Legitimität und Legalität einseitig auf Kosten der Frage nach der Legalität und damit des positiven Rechts auflöst. Diese Sichtweise hat die Tendenz, die Ausdifferenzierung des Legalitätsprinzips und die Ankoppelung der Legitimitätsfrage an dieses Prinzip, in der sich, durch die Unterscheidung von Rechtszwang und „ethischer Gesetzgebung" die Freisetzung einer Sphäre der Innerlichkeit vollzog, auf die staatliche Macht kein Zugriffsrecht hat, wieder zu entdifferenzieren und damit das Individuum unter Rekurs auf den ethischen Gehalt staatlichen Handelns innerlich in direkter Weise zur Anerkennung dieses Handelns zu verpflichten. Es ist dann nicht mehr das Recht, das die Beziehung zwischen dem einzelnen und dem Staat wesentlich strukturiert, sondern die „Gesinnung". Innerlichkeit, Gesinnung und in den politischen Institutionen geronnenes Ethos werden gleichgeschaltet, das Gewissen des einzelnen vergemeinschaftet. Für Seeberg ist das Recht eine „positive geschichtliche Größe, sofern es in konkreten, im Lauf der geschichtlichen Entwicklung entstandenen oder anerkannten Bestimmungen besteht" 179 . Wichtig sei die „Idee", die hinter dem Recht stehe, und die nur aus dem Zusammenhang mit dem „Volksbewußt178 179
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 76. Ethik, S . 235.
R . SEEBERG,
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Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
sein" angemessen verstanden werden könne 180 . Wo das „Juristenrecht" und das „Volksrecht" sich widersprächen, sei es berechtigt und notwendig, das erstere im Sinne des zweiten fortzubilden. Auch wenn Moral und Recht zunächst zu unterscheiden seien, weil die Moral eine „innere Unterwerfung" fordere, das Recht nur mit äußerem Zwang operiere, so dürfe doch der „innere Zusammenhang" zwischen beiden nicht aus den Augen verloren werden. Nur wenn dem Legalitätssystem Legitimität zuerkannt werde, d. h. eine innere Korrespondenz zwischen der Moral und Sittlichkeit eines Volkes und seiner Rechtsordnung bestehe, könnten die Gesetze wirksam sein. „Das heißt, ohne daß das moralische Bewußtsein das Volksleben innerlich bestimmt, ist der Staat auch mit den besten Gesetzen kraft- und wirkungslos" 181 . Da durch Gesetze solch ein „moralisch-sozialer Wille" nicht erzwungen werden könne, sondern nur durch die „absolute Autorität eines innerlich unterwerfenden höchsten ethischen Ideals", ein derartiges Ideal aber nur durch die Religion gegeben sei, sei auch der „Bestand von Staat und Recht letztlich immer abhängig von dem Bestand einer religiösen Moral in dem Volk" 182 . Hirsch fordert ebenfalls einen „Standpunkt über Staat und Recht" einzunehmen, sie zu „beurteilen aus den Gesichtspunkten der Sittlichkeit" 183 . Die drei charakteristischen Merkmale von Hirschs Rechtsbegriff haben ihren Schwerpunkt gerade in den „metarechtlichen Elementen" des Rechtsbegriffs. Das Recht habe eine „innerliche Majestät", die es erhebe über „allen einzelnen menschlichen Willen... als eine sie bindende und verbindende Macht" 184 . Es zeichne sich zweitens durch seinen Zwangscharakter aus. Es „hat eine Selbstherrlichkeit, kraft deren es den einzelnen ohne seinen Willen als ihm untertänig in Anspruch nimmt". Es sei zum dritten ausgerichtet an dem „Gedanken der Gerechtigkeit". Aus der Orientierung an diesem „überindividuellen Ziel ... quillt" die „Hoheit und Selbstherrlichkeit des Rechts" 185 . Diese Idee des Rechts bleibe aber eine „Traumgestalt"186, wenn ihr nicht eine reale Macht, der Staat, zur Wirklichkeit verhelfe. Insofern ergebe sich für eine realistische Analyse eine deutliche Uberordnung des Staates über das Recht. Für Hirsch ist klar, „daß der Staat noch etwas über und vor der Rechtsordnung sein muß, ein Höheres und Anderes denn sie..." 187 . Diese Uberordnung staatlicher Macht über das Recht dürfe aber nicht im Sinne eines inhaltslosen reinen Machtstaatsdenkens verstanden werden, denn diese Macht stehe ihrerseits im Dienst der Verwirklichung der Sittlichkeit. Staatliches Handeln sei Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. 182 Ebd., S. 239. 183 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 69. 184 Ebd., S. 65. 185 Ebd., S. 66. 186 Ebd., S. 67. 187 Ebd., S. 79. 180 181
Die Kritik der politischen Leitvorstellungen
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deshalb auch nicht zuerst der Rechtsordnung verpflichtet, sondern der Durchsetzung übergeordneter Ziele der Sittlichkeit, die in enger Relation zum geschichtlich gewachsenen Volkstum stünden. Von einer neuen, diesen Einsichten Rechnung tragenden Rechts- und Staatslehre erwartet Hirsch deshalb, daß sie „alle ihre sauberen Formalbegriffe durch Öffnung der existentiellen Tiefe geschichtlicher Ursprünglichkeit in die Krise" gibt und „neue Begriffe und Maßstäbe" sich erringt, die sich am Zusammenhang von Volk und Staat und nicht von Recht und Staat orientieren188. Auch bei Tillich dominiert in der Beschreibung des Rechts das Interesse an dessen metarechtlichen Gehalten. Die Einsicht in die „Abhängigkeit vom Ethos" ist für ihn ebenfalls eine notwendige Bedingung für ein angemessenes Verständnis des Rechts. „Das ,richtige Recht' ist das im Ethos fundierte gehalterfüllte Recht" 189 . Diesem Gehalt, nicht der bloßen Form, gilt Tillichs Interesse. Der entscheidende Fehler der „liberalen Staatstheorie" sei es, die Frage nach diesem Gehalt nicht mehr zu stellen. Das Recht müsse „ein lebendiger Ausdruck des Gemeinschaftsgehaltes" sein. In ihm drücke sich eine „bestimmte konkrete und vital begründete Lebenstendenz" 190 aus. Die darin implizierte Kritik an einem durch neukantianische Theorietraditionen geprägten Rechtsverständnis läßt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit jenem metaphysischen Antipositivismus erkennen, wie er für die Neuansätze in der Staatsrechtswissenschaft der zwanziger Jahre charakteristisch ist. Tillichs Polemik gegen ein ,bloß* formales Rechtsverständnis hat eine Affinität zu Hermann Hellers Positivismuskritik. Weil im Recht primär ein vitaler Gemeinschaftsgehalt sich objektiviere, sei der „Rechtsformalismus ... ebenso ein Abweg wie der wissenschaftliche Formalismus" 191 . In polemischer Anspielung auf Kelsen bezeichnet Tillich das „in sich und seiner Gültigkeit schwingende Recht" als eine „Illusion" 192 . Denn ein wesentliches Element des Rechts, die Tatsache, daß es „Entscheidung" ist, die aus dem „Leben konkreter Gemeinschaften ... geboren" werde und deren Träger der Staat sei, werde vom Rechtspositivismus dabei nicht gesehen. Recht und Macht zur Entscheidung dürfen nach Tillich nicht voneinander isoliert betrachtet werden. Das Recht komme nur zur Existenz durch diese Macht des Staates. „Das übersehen alle abstrakt demokratischen Theorien, die das Recht von der Machtbasis, auf der es ruht, loslösen wollen, die den Staat zu einer vital unfundierten Rechtsmaschine machen" 193 . Das „Recht als solches" will auch Brunstäd achten und anerkennen. Gleichwohl entwickelt er eine Argumentation, die den Bruch positiven 188 189
E . HIRSCH, Geistige Lage, S. 61. P. TILLICH, System der Wissenschaften, S. 259.
190
P. TILLICH, S t a a t , S . 1 2 5 .
1.1
P. TILLICH, System der Wissenschaften, S. 258.
1.2
P. TILLICH, S t a a t , S . 1 2 5 .
1.3
E b d . , S. 125; vgl. System, S. 261.
88
Die Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Rechts im Namen des „höchsten ethischen Idealismus" 194 legitimiert und das Recht als Instrument des Schutzes der individuellen Freiheit auflöst in eine das Individuum vor allem vom „Ganzen" her in die Pflicht nehmende Instanz. Einen entscheidenden Grund für viele Schwierigkeiten in den Diskussionen um das Rechtsverständnis sieht Brunstäd in einer „Zweideutigkeit", die in dem Wort „Recht" selbst liegt. „Recht besagt einmal das gesetzte positive Recht, zum andern soviel wie ,Richtigkeit'". Unter dieser „Richtigkeit" sei der ethische Gehalt des Rechts, sein Bezug auf einen „unbedingten Wert" zu verstehen. Positives Recht und richtiges Recht müßten nicht kongruent sein, sondern können in Spannung zueinander treten, dann, wenn es zu „einem Hinaustreiben eines neuen höheren geschichtlichen Lebens über den positiven Rechtszustand kommt" 195 . Nur von dieser Spannung her sei das „kühne Wort ,Macht geht vor Recht'" richtig zu verstehen. Mit ihm werde eine Position formuliert, die für Brunstäd einen „höchste(n) ethische(n) Idealismus" repräsentiert, weil sie sich zum Anwalt jenes „höheren geschichtlichen Lebens" und damit des richtigen Rechts macht. Sie lasse sich leiten von der Erkenntnis, „daß bei großen geschichtlichen Entscheidungen geistig-kulturelle, im strengen Sinne nationale Wertnotwendigkeiten über den gegebenen Rechtszustand hinausweisen". Das politische Handeln müsse sich solchen Entscheidungssituationen und Herausforderungen stellen und könne darum nicht allein am „gegebenen Recht" orientiert sein. Diese Tatsache, daß Politik nicht vollständig in Rechtsfragen aufgelöst werden kann, dient Brunstäd als Argument dafür, das „Sichhinwegsetzen über das positive Recht" zu legitimieren. Ein derartiges „Sichhinwegsetzen" sei zwar eine „Verletzung bestimmter Rechte", ziele aber letztlich doch nur auf „eine höhere Rechtsform". Subtil sei deshalb zu unterscheiden zwischen einem „bloßen Rechtsbruch" und einem Rechtsbruch, der das Recht „nur um des Rechtes willen bricht". Wer in einem derartigen höheren Rechtsbewußtsein handele, dürfe nicht in einen Topf geworfen werden mit denen, die auf dem „plumpen Gewaltstandpunkt" stehen oder die „Verkündigung der willkürlichen Rechtsbeugung" betrieben. Wer dies dennoch tut, ist für Brunstäd von „geistlose(m) Unverstand oder bewußte(r) Bosheit" 196 . Das für Brunstäd „richtige Recht", das notfalls auch gegen das positive Recht durchgesetzt werden muß, hat eine eigene deutsche Prägung. Brunstäd sieht den Verdienst der historischen Rechtsschule darin, den Zusammenhang zwischen Recht und Geschichte und damit zugleich den Unterschied zwischen „deutschem Recht" und „römischen Recht" wieder herausgearbeitet und bewußt gemacht zu haben. Die Erinnerung an diese historische Unterscheidung dient aber einem alle historischen Unterschiede nivellierenden Gegenwartsinteresse. Unter Rückgriff auf diese Unterscheidung wird von Brun194
F. BRUNSTÄD, S t a a t s i d e e n , S. 1 8 .
195
Ebd., S. 18. Ebd., S. 19.
196
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städ auch auf der Ebene des Rechtsverständnisses die individualismuskritische Grundtendenz seiner Aufklärungs- und Liberalismuskritik formuliert. Das römische Recht habe „die stärkste Verwandtschaft mit der Lehre der Aufklärung", denn es gehe aus von der souveränen Gewalt des einzelnen, vom „homo singulus oder privatus", dem „absoluten Individuum". Grundlage des römischen Rechts sei „die isolierte Existenz der Gleichen". Deshalb sei das römische Recht auch wesentlich Privatrecht, subjektives Recht, das die Ansprüche und Interessen des einzelnen schütze. Die „deutsche Rechtsanschauung" unterscheide sich davon signifikant. Für sie stehe der überindividuelle Verpflichtungsgehalt des Rechts im Vordergrund. „Grundlage des Rechtes (sei) nicht der Anspruch, das subjektive Recht, sondern die Norm, die Verbindlichkeit"197. Recht habe der einzelne hier nur, weil er „Glied einer höheren ihn verbindenden Willensordnung, Organ eines Lebensganzen" sei, in das er immer schon eingebunden sei. Nicht der abstrakt isoliert gedachte einzelne, sondern die konkrete Persönlichkeit, deren Besonderheit nur in Relation zur organisch sie einbindenden Gemeinschaft sich ausbilden und wahrgenommen werden könne, bilde die Grundlage des „deutschen Rechts". Diesem Recht wisse sich das Individuum nicht nur aus äußeren Nützlichkeitserwägungen, sondern gerade innerlich verpflichtet, weil es, wenn es sich als „Persönlichkeit" wisse, in der Beziehung auf die Gemeinschaft den konstitutiven Lebensgrund für die eigene Existenz erkennt. Insofern manifestiere sich im Unterschied von deutschem und römischen Recht „letztlich der Unterschied der unbedingt-synthetischen konkreten Persönlichkeit gegenüber dem abstrakt-identischen Selbst des Willensatoms". Wenn aber wahre Individualität und Gemeinschaft nicht aus einem abstrakten Gegeneinander, sondern nur aus ihrer inneren Beziehung aufeinander begriffen werden können, dann ist auch klar, daß es für das „deutsche Recht" „ keinen absoluten Unterschied von öffentlichem und privatem Rechte" gibt. Bezeichnenderweise führt die Aufhebung des „absoluten Unterschieds" aber nicht zu einer Gleichordnung von Individuum und Gemeinschaft, sondern zu einer Uberordnung der Gemeinschaft, die sich artikuliert in einer Prädominanz des öffentlich-rechtlichen Charakters des Rechts. Für Brunstäd ist das „deutsche Recht... wesentlich öffentlich-rechtlich" 198 .
c. Die Kritik an der ,papiernen' Verfassung Die durchgängige, durch das Interesse an den metarechtlichen Gehalten des Rechts erzeugte kritische Distanz zu dessen formaler Rationalität und Positivität, in der nochmals die Individualismuskritik formuliert wird, schlägt sich auch im Verfassungsverständnis nieder. Der Zurückdrängung der Bedeutung 197 198
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 115. Ebd., S. 116.
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des positiven Rechts korrespondiert die Abwertung der geschriebenen Verfassung und damit eines Staatsverständnisses, das wesentlich durch die geschriebene Verfassung und die damit verbundenen Leitideen199 definiert ist. Signifikanterweise führen die genannten Theologen die Staatsdiskussion nicht unter Bezugnahme auf die gegebene Verfassung als Rechtsordnung. Den Begriff „Rechtsstaat" verwenden sie negativ, da er als Ausdruck der individualistischen Grundtendenz aufgeklärt-liberalen Denkens gilt. Unter „Verfassung" des Staates verstehen sie vielmehr eine aus der Geschichte erwachsene „Ordnung seiner Funktionen" 200 , deren rechtliche Ausgestaltung von untergeordneter Bedeutung ist. Entsprechend diesem Verfassungsverständnis werden auch die Gründe für die Geltung der Verfassung in der Geschichte gesucht. Aus ihr und dem in ihr gewachsenen sittlichen Gehalt erwachse die Autorität zu staatlicher Machtausübung und nicht aus der formalen Gesetzmäßigkeit und Rationalität staatlichen Handelns, die für das Individuum sowohl einen Schutz vor direkter staatlicher Machtausübung bedeute, als auch die Bedingungen für die prinzipielle Möglichkeit seiner Partizipation am politischen Geschehen bereitstelle. Die Orientierung an dieser in Relation zur Volksgeschichte definierten Legitimität führt auch beim Verfassungsverständnis zur Aufweichung der Bedeutung der Legalität und des normativen Gehaltes des positiven Verfassungsrechts. Wie das ,richtige Recht' gegen das positive Recht kann dann auch die ,wahre Verfassung' gegen eine bloß konstruierte, ,papiernec Verfassung ausgespielt werden. Seeberg unterscheidet in seiner Ethik zwischen den „gewachsenen" und „gemachten" Verfassungen. In dieser Unterscheidung spiegelt sich seine Kritik an einer rationalistischen, die Wirklichkeit unter dem Primat der „Theorie" vergewaltigenden Denkweise. Diese Kritik bezieht ihre Gewißheit aus der „realistischen" Einsicht, daß die Wirklichkeit sich derartigem Zwang nicht beugt. Das „Ideal der Demokratie", wie es in der Weimarer Verfassung formuliert ist, sieht Seeberg durch die „harte Wirklichkeit" widerlegt: Sie „erwies in steigendem Grade die Undurchführbarkeit der Gedanken, die sich in der Theorie so schön ausgenommen hatten" 201 . Der hier in Anspruch genommene Realitätssinn ist ein wichtiges Element des von Seeberg vertretenen ,richtigen' Verfassungsverständnisses: „Die Verfassung ist ein Produkt der Geschichte, das aus der praktischen Erweisung der staatlichen Kräfte und aus der Erprobung der Zweckmäßigkeit ihrer Ordnung hervorgeht" 202 . In einer aus der rationalistischen Grundhaltung heraus konstruierten Verfasssung vermag er nur ein Hindernis für eine realitätsgerechte Politik zu sehen. Sie ist für ihn ein „Gitter", das den „Gestaltungstrieb der Volksseele" hemmt, „das Ewige in Formeln verkapselt" und die „lebendige Autorität der Väter" auflöst 199
Vgl. S. 14 ff.
200
R . SEEBERG, E t h i k , S . 2 3 1 .
201
R . SEEBERG, V e r s t ä n d n i s , S . 6 4 .
202
R . SEEBERG, E t h i k , S . 2 3 1 .
D i e Kritik der politischen Leitvorstellungen
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in eine „formale Autorität" 203 . In diesem Verfassungsdenken, das die aufklärerische Demokratie auszeichne, trete die „Pflicht" des einzelnen zurück zugunsten der Betonung seines Rechts. Die Verrechtlichung staatlicher Machtausübung sei das Mittel, den Staat zum bloßen Erfüllungsgehilfen für die Einzelinteressen zu machen. „Die einzelnen Personen setzen ihren Willen an die Stelle des Gesamtwillens" und machen dadurch den Staat „zu einem großen Verein, der jedem einzelnen Willen seinen Teil an der Leitung des Ganzen sichern soll" 204 . In dieser engen Rückbindung staatlicher Machtausübung an den Willen des einzelnen sieht auch Hirsch den Dreh- und Angelpunkt des modernen Verfassungsverständnisses. In ihm kulminiere das Bestreben nach Verselbständigung der Individuen und „Aufhebung aller Bindungen", indem es an die Stelle der Bindung an die Geschichte die Bindung an eine „Form", die Verfassung, setze. Damit werde die „Rechtsordnung", die eigentlich nur ein „Moment" 205 am Staat sei, zu seinem entscheidenden Strukturprinzip. Hirsch beschreibt die „Staatsbildung", wie sie mittels dieses Verfassungsdenkens vorgestellt wird, in deutlicher Anlehnung an Rudolf Smends Integrationslehre, in der das Prozeßhafte dieser Staatsbildung herausgestellt wird 206 . Staatsbildung ist für Hirsch allein konzentriert auf die sich immer wieder wandelnde Beziehung zwischen den einzelnen und dem Staat. Das einzig Dauerhafte an einem derartigen Staat sei nur die „Form", in der diese Beziehung grundsätzlich geregelt werde, die Verfassung. Mit innerer Konsequenz sei deshalb die „Verfassungsfeier ... der höchste patriotische Gedenktag" 207 . Da durch eine solche Verfassung der Staatswille sich ständig aus dem „Widerstreit der einzelnen Willen erzeugen" müsse, werde mit ihr auch die „Krisis" zu einem „dauernden Lebenselement" 208 von Staat und öffentlichem Leben. Wo derart die Verfassung als bloße Form die Staatsbildung bestimme, werde sie von der „Geschichte gelöst, rein gegenwärtiger Wille, durch keine inhaltliche Bindung irgendwie vorbestimmt, nichts als Freiheit der Entscheidung". Diese inhaltslose Freiheit zur Entscheidung als Fundament des Staates habe ihre Licht- und ihre Schattenseite. Positiv wirke sie sich aus in einer hohen „Beweglichkeit" der neuen politischen Ordnung und damit der Maximierung von Veränderungspotentialen. Gleichermaßen führe sie aber zu einer Steigerung der „Zerissenheit in Gegensätze", weil Staat und Individuum durch keine inhaltlich sie bindende gemeinsame Grundlage mehr verbunden seien. Mit dem neuen Staatsverständnis wird das für Hirsch entscheidende Funda203
R . SEEBERG, V e r s t ä n d n i s , S . 7 6 .
E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 79. 2 0 6 Vgl. R . SMEND, Verfassung, S. 119 f. D i e Grundzüge dieses Verfassungsverständnisses werden S. 123 ff. noch dargestellt. E . HIRSCH nimmt auf Smend Bezug in „Staat und Kirche". Vgl. dazu S. 192 ff. 2 0 7 E . HIRSCH, Staat und Kirche, S.22. 208 E b d . , S. 25. 205
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ment des Staates geleugnet, „eine lebendige Einheit des Geistes und des Willens", die sowohl den einzelnen wie das „Ganze" in „einen bestimmten Inhalt hineinbindet" 209 . Dieser Wegfall einer solchen inhaltlich begründeten Einheit habe aber weitreichende Konsequenzen. „Im gleichen Augenblick, wo es sich darum handelt, Möglichkeit in Wirklichkeit zu verwandeln, d. h. eine Setzung bestimmten Inhalts zu vollziehen, muß die Freiheit, die der Staat und der einzelne in ihrer Geschichtsgelöstheit gemeinsam besitzen, zwischen ihnen zum Zankapfel werden" 210 . Die in den Augen Hirschs inhaltslose Regelung der Beziehung zwischen Staat und dem einzelnen durch formale Verfahrensregeln, ursprünglich vorangetrieben im Interesse der Befreiung des Individuums, schlage um in eine enorme Machtsteigerung auf der Seite des Staates, da im Wechselspiel von Staat und Individuum das Individuum immer schon in einer ungünstigeren und schwächeren Position sei. Bestenfalls noch „eingeengt" durch die „ziemlich abstrakten Menschenrechte" 211 , sei die Staatsmacht allmählich immer umfangreicher geworden und habe eine Vielzahl neuer Bindungen errichtet, denen der einzelne letztlich schutzlos ausgeliefert sei. So führe die Formalisierung der „Bildung des Staatswillens" in letzter Konsequenz in eine Situation, in der„die unmittelbare, ernsthafte Schranken nicht zu scheuen brauchende Gewalt des Staates über den einzelnen" 212 sich durchsetze. Tillich sieht im formal-rationalen Verständnis der Staatsverfassung eine signifikante „Konsequenz" des bürgerlichen Geistes. Mittels dieses Verfassungsdenkens vollziehe sich die „Aufhebung der naturgewachsenen und geheiligten Herrschaftsverhältnisse, also der Aufbau des Staates aus den atomisierten Einzelnen, die sich durch den Staatsvertrag das bindende Gesetz geben". Damit werde zugleich die „Beziehung auf das Ewige ... ausgeschaltet" 213 . Der Versuch, den Staat allein durch seine „reine Rechtsform" zu definieren, mache ihn zu einer „leeren technischen Maschine", von der keinerlei Verpflichtungs- und Bindungskraft für die Individuen mehr ausgehe214. Folgerichtig sei zwar die Beziehung auf das Recht ein wichtiges Element des Staatsverständnisses, aber das Element der Entscheidung, das allein der Rechtsordnung zur Existenz verhelfe und deshalb nicht selbst „unter dem Recht" 215 stehe, sei Indiz für die Unterschiedenheit von Staat und Rechtsordnung. Der Staat könne daher nicht in bloße Rechtsverhältnisse aufgelöst werden, „wie es namentlich die liberale Staatstheorie will. Der Staat ist keine bloße Rechtsordnung, er ist eine Gemeinschaft, deren Funktion es ist, das Recht zu verwirklichen". Deshalb ist f ü r Tillich auch die „Staatslehre ein Teil 209
Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. 211 Ebd., S. 23. 212 Ebd., S. 26. 213 P. T I L L I C H , Religiöse Lage, S. 213. 214 Ebd., S. 50. 215 P. T I L L I C H , Staat, S . 1 2 5 . 210
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der Gemeinschaftslehre ... und nicht der Rechtslehre" 216 . Die eigentliche Herausforderung liegt für den religiösen Sozialisten in der Aufgabe, Recht und Staat zu erfüllen „mit dem heiligen Gehalt einer schöpferischen Theonomie". Der „durchrationalisierte demokratische Rechtsstaat" wird zwar als „allgemeine Form" und „abstraktes Regulativ" bejaht, aber die vorrangige Aufgabe wird nicht in dessen Befestigung und Bewahrung gesehen. Vielmehr versucht Tillich, den Staat zu fundieren durch die Kräfte derer, in denen „Eros" und „innere Mächtigkeit", der „theonome Gehalt am mächtigsten zum Ausdruck kommt; er muß in sich tragen ein lebendiges System von Spannungen, in denen das Wirtschaftliche, das Nationale, das Bluthafte (!) usw. in ihrer Bedeutung für die absolut übergreifende Idee gewertet werden"217. Das Staatsdenken des religiösen Sozialismus arbeite, wo es sich dieser Aufgabe stelle, an der Realisierung eines wichtigen Anliegens des Sozialismus, der seinem „Wesen nach... antiliberal", aber „in der Taktik weithin zum Vollstrecker liberaler Tendenzen auf deutschem Boden geworden" sei. Indem der religiöse Sozialismus dieses „antiliberale Wesen" des Sozialismus gegen seine liberale Überfremdung wieder zum Zuge bringe, stehe er im Widerspruch zur „Profanität der bürgerlichen Staatsidee" und wisse sich durchaus, auch wenn er sich von einer „romantisch-nationalen ... Staatsmystik" abgrenze, in einer Nähe zu den „Vertretern der nationalen Staatsidee", die ebenfalls ein klares Bewußtsein davon hätten, daß der Staat nicht durch die „reine Rechtsform" leben könne, sondern in Wirklichkeit „getragen ist von unmittelbar vitalen Kräften" 218 . Für Brunstäd unterscheiden sich konservative und demokratische Staatstheorie auch im Stellenwert, den die geschriebene Verfassung jeweils hat. Kennzeichnend für das liberal-demokratische Staatsverständnis sei es, den Schwerpunkt des Staates in „Verfassung und papierner Gesetzgebung" 219 zu sehen. Die „parlamentarisch-repräsentative Demokratie" ist für ihn eine „billige Schablone und Fassadentäuschung (durch) demokratische Formalien" 220 . Hinter der Vorstellung der Verfassung als Rechtsordnung stehe die Begründung des Staates durch das Vertragsdenken. Dieses Vertragsdenken sei nichts anderes als die politische Konkretion der aufklärerischen „Grundlehre" vom „absoluten Indiviuum" 221 . Mit der Fiktion des Vertragsschlusses werde der Staat konstruiert als ein „Erzeugnis" der Individuen, die nur aus der Verfolgung ihrer Sicherheits- und Besitzinteressen heraus dieses Vertragsverhältnis eingegangen seien. Sowohl der Staatszweck wie die Legitimationsgrundlage änderten sich über dieses Vertrags- und Verfassungsdenken. Der 216
P. TILLICH, System der Wissenschaften, S. 263.
217
P. TILLICH, G r u n d l i n i e n S. 113.
2,8
P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 50/51.
219
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. 15.
220
Ebd., S. 318. Ebd., S. 72.
221
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Staat werde dadurch zu einer „Versorgungs- und Versicherungsanstalt", einem „Schutzmittel" 222 für die Interessen der Individuen. In der liberal-demokratischen Variante des Staatsverständnisses sei der Staat „bloß für den Schutz von Leben, Unabhängigkeit und Eigentum da. Der Staat beschränkt sich auf die Aufrechterhaltung der Gegenseitigkeit in der Rechtsordnung, insbesondere auf Gewähr der Innehaltung der Verträge. Es ist der Staat des bloßen Rechtsschutzes, der Rechts- oder Sicherheitsstaat" 223 . In der sozial-demokratischen Variante werde die Staatstätigkeit zum Mittel der „Fürsorge für den einzelnen und seine(r) Lebensnotwendigkeiten" 224 . In beiden Varianten aber ist für Brunstäd das Vertrags- und Verfassungsdenken das Instrument, mit dessen Hilfe das Individuum sich des Staates bemächtigt und sich selbst zu der Instanz macht, vor der sich politische Macht allein rechtfertigen muß.
d. Die Ablehnung von Volkssouveränität, Parlamentarismus und Mehrheitsprinzip Die in der Ablehnung des aus Aufklärung und Liberalismus entstandenen modernen Verfassungsdenkens sich artikulierende Kritik an der Substitution von geschichtlich gewachsener Autorität und übergreifender sittlicher Grundorientierung durch das autonome Individuum, welches sich abstrakt aus sich selbst begreifen und bestimmen will, führt die genannten Theologen auch zur Zurückweisung der mit diesem Verfassungsdenken eng verknüpften Forderung nach Volkssouveränität und deren Realisierung mittels des Parlamentarismus. Das in vielfältiger Gestalt immer wiederkehrende Kritikargument lautet: Politisches Handeln werde instrumentalisiert zur Durchsetzung ständig wechselnder partikularer Interessen, so daß die gerade angesichts der Krise verstärkt nötige, übergreifende Ordnungs- und Integrationsfunktion staatlichen Handelns zersetzt und aufgelöst werde. Für Hirsch verbirgt sich hinter dem Gedanken der Volkssouveränität nur eine andere Variante absolutistischen Denkens. Die Entscheidungsgewalt der je gegenwärtig Lebenden werde verabsolutiert gegenüber Vergangenheit und Zukunft, da ihrer Entscheidungsgewalt keinerlei inhaltliche Grenzen gezogen seien. Dem Wort Ludwig XIV. „Der Staat bin ich" stellt Hirsch den Satz „Der Staat, das sind wir" an die Seite. Dieser Satz ist für ihn genauso „gottlos" wie das Wort Ludwig XIV., denn auch hinter ihm stecke nichts anderes „als menschliche Selbstsucht, die sich an einer über ihr stehenden göttlichen Ordnung vergreift... Der Staat ist weit mehr als die Summe der gegenwärtig lebenden Bürger. Er gehört unseren Vorvätern und unseren Enkeln ebenso222 223 224
E b d . , S. 73. E b d . , S. 73 Ebd., S. 76.
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gut wie uns" 2 2 5 . Die Staatsmacht müsse „unabhängig von Augenblicksstimmungen und Launen des Volkes" gemacht werden. Nur so könne sie „das für das Ganze Notwendige durchsetzen ... und die Rechte der Zukunft gegenüber der Gegenwart zur Geltung bringen" 2 2 6 . Wenn sie ihre Selbständigkeit gegenüber der gerade herrschenden Volksmeinung verliere, werde sie abhängig vom „Instinkte der Massen" 2 2 7 und könne, so befürchtet Seeberg, die „innerlich freie Entfaltung des Geistes in Wissenschaft, Kunst, nationalem Leben, Religion, Moral" 2 2 8 nicht mehr wirksam schützen. Auch für Brunstäd bedeutet Demokratie „Auslieferung des Staates an die Masse" 2 2 9 . Hinter der Vorstellung von der Volkssouveränität, wie sie im Artikel 1 der Weimarer Reichsverfassung ausgesprochen ist, sieht er ein verkürztes Verständnis des „Volkes". Unter „Volk" werde, entsprechend der aufklärerischen „Grundlehre vom absoluten Individuum", nur „die Summe, die Gesamtheit der absoluten Einzelnen" 2 3 0 verstanden. Diese „Gesamtheit der absolut Einzelnen" sei die „Gesellschaft", die durch keine „Gemeinsamkeit des Geistes und der Gesinnung" 231 mehr verbunden sei. Durch die Vorstellung von der Volkssouveränität werde der Staat zu einem Produkt, das die Einzelnen aus reinen Nützlichkeitserwägungen hervorbrächten. Er werde eine „sekundäre Sonderveranstaltung ... unter vielen anderen" 232 . Da aber erfahrungsgemäß alle weder dauernd übereinstimmten noch immer an allen Entscheidungsprozessen beteiligt werden könnten, lasse sich diese Vorstellung von der Volkssouveränität nur realisieren unter Zuhilfenahme zweier zusätzlicher Konstruktionen, des Mehrheits- und des Repräsentationsprinzips. Brunstäd beschreibt sein Verständnis des Mehrheitsprinzips mit kritischem Bezug auf Hugo Preuß' Unterscheidung von Volksstaat und Obrigkeitsstaat, mit der dieser den Ubergang zur Weimarer Demokratie charakterisiert hatte. Brunstäd bestreitet, daß der von Preuß behauptete Gegensatz überhaupt sinnvoll sei. Denn durch das Prinzip der Volkssouveränität erfolge faktisch keine Ablösung der Obrigkeit. Vielmehr werde eine Obrigkeit nur durch eine andere ersetzt. „Die Obrigkeit ist nun die Mehrheit". Damit sei aber keineswegs ein höheres Maß an Vernünftigkeit in der Politik garantiert. Faktisch habe sich nur eine andere Form des Absolutismus etabliert, der „Mehrheitsabsolutismus". Klar erkenntlich sei dies am Problem der Minderheit: „Sie ist dem Mehrheitsabsolutismus ausgesetzt, sie und folgerichtig jeder Einzelne überhaupt hat nun einen vielköpfigen Herrn, der insgeheim gewalttätiger, mächtiger und wohl auch nicht einsichtiger ist als der einköpfige" 2 3 3 . 225 226 227
E. HIRSCH, Demokratie und Christentum, S. 58. Ebd., S. 59. E. HIRSCH, Vom verborgenen Suverän, S. 6.
228
R . SEEBERG, Verständnis, S . 7 3 .
229
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 119.
230
Ebd., S. 74; vgl. Staatsideen, S. 6. E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 56.
231 232
R BRUNSTÄD, Deutschland, S. 77.
233
Ebd., S. 75.
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Die mangelnde Vernünftigkeit der mittels des Mehrheitsprinzips strukturierten Entscheidungsprozesse kritisiert auch Seeberg. Die „Herrschaft der Majoritäten" hat für ihn eine stark nivellierende Tendenz, sie ist nichts weiter als die „Herrschaft der Mittelmäßigkeit"234. Für Tillich ist das Mehrheitsprinzip eine praktische Umsetzung der „formalen Gleichheitsidee", wie sie im Prinzip der Volks Souveränität ausgesprochen ist. Mit ihm wird, entsprechend der antimetaphysisch-rationalistischen Grundhaltung des bürgerlichen Geistes, die „Beziehung auf das Ewige ... ausgeschaltet" und die „Herrschaft... eine rationale Angelegenheit der politischen Begabung"235. Für Hirsch ist die Demokratie, als „eine Regierungsverfassung ..., die den Staat ganz in die Hände seiner gerade lebenden Bürger, oder genauer in die ihrer Mehrheit, gibt", „eine große Verkehrtheit", denn mit ihr werde die Macht des Staates geschwächt, „seine Lebensnotwendigkeiten ... auch gegen widerstrebenden Willen und mangelndes Pflichtbewußtsein seiner Bürger"236 durchzusetzen. Das Mehrheitsprinzip selbst sei Ausdruck der Tatsache, daß es keine alle verbindende geistige Grundlage mehr gebe, auf der aufbauend man zu für von allen akzeptierbaren Entscheidungen komme. Es sei ein Mechanismus, der nicht nur mit dem Widerstreit von Interessen rechne, sondern diesen auch noch festschreibe. Mit deutlichen Worten bekennt Hirsch im Rückblick 1934 seine Einstellung gegenüber der mit dem Mehrheitsprinzip arbeitenden Demokratie: „Wir sind von ganzem Herzen Hasser der demokratischen Aufopferung von Nation und Staat an den zufälligen Mehrheitswillen, an jenes Chaos miteinander streitender Interessen gewesen, das man Volk zu nennen beliebte"237. Die Mehrheitsentscheidungen sollen durch „öffentliche Diskussion"238 als einem Grundprinzip des Parlamentarismus zustande kommen. Aber auch diese Vorstellung erweise sich für eine realistische Sichtweise als „Illusion". Mit deutlich an Carl Schmitts Parlamentarismuskritik erinnernden Worten äußert Hirsch die Uberzeugung, niemand glaube mehr, daß in den Diskussionen, aus denen heraus sich der Mehrheitswille bilden soll, „die Wahrheit eine Macht sei"239. Tatsächlich seien diese Diskussionen nicht vom Willen zur Wahrheit, sondern vom Willen zur Durchsetzung von Parteiinteressen bestimmt. Der Versuch, einen einheitlichen politischen Willen in einer Gesellschaft zu formieren, die keine alle verbindende geistige Grundlage mehr habe und nichts weiter anerkenne als den „als suverän (sie!) sich selbst und damit auch den Staat bestimmenden freien Einzelwillen"240, treibe notwendig hin zur Bildung von Parteien, denn nur durch die Macht des Verbandes derer, die gleichgerichtete Interessen verfolgen, habe der einzelne 234
R.
235
P. T I L L I C H ,
Verständnis, S . 48, 73. Religiöse Lage, S . 5 1 . 236 E. H I R S C H , Deutschlands Schicksal, S. 83. 237 E. H I R S C H , Geistige Lage, S. 62. 238 E. H I R S C H , Staat und Kirche, S. 25. 239 Ebd., S. 25. 240 Ebd., S. 21. SEEBERG,
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noch eine Chance, Einfluß auf die zunehmende Macht des Staates zu gewinnen. Die „Partei" werde damit „zum Schicksal für den neuen Staat" 241 . „Demokratismus" sei deshalb identisch mit Parteiherrschaft, und er „sichert durch sein Parteiwesen auch den törichtsten und rückständigsten Gedanken, sofern sie etwa zum Parteiprogramm gehören, die Fortexistenz" 242 . Hinter der Parteibildung steckt für die genannten Theologen aber letztlich nur eine ganz andere Macht, die des Geldes und der kapitalistischen Wirtschaft. Da die Wirtschaft als entscheidende die Gesellschaft bestimmende Macht alle Lebensvollzüge des einzelnen durchdringe, präge sie auch die an Partei- und Einzelwillen ausgelieferte Bildung des Staats willens. Dadurch werde der Staat „der Wirtschaft hörig" 243 . Die Kritik der Theologen an der parlamentarischen Demokratie kulminiert in der Kritik an der durch sie ermöglichten Abhängigkeit des Staates von wirtschaftlichen Interessen. Für Seeberg wird in der Demokratie alles „von den parlamentarischen Majoritäten und schließlich vom Gelde bestimmt" 244 . Gleichlautend fällt auch das Urteil Brunstäds aus: „Das Staatsrecht der demokratischen Republik macht... prinzipiell den Staat zum Werkzeug gesellschaftlicher und das heißt wirtschaftlicher Interessen, damit auch des Geldes" 245 . Für Tillich ist die „rationale Rechtsform des Staates" nur ein Mittel zur Begründung und Verschleierung der „Kapitalherrschaft" 246 . Die „demokratische Herrschaftsform", die die „Auflösung der Gemeinschaft und der geistigen und religiösen Substanz" bewirkt habe, habe in Wahrheit „lediglich die Aufgabe, den Rechtsschutz der Wirtschaft zu garantieren, nach innen und nach außen" 247 . „Bürgerliche Demokratie" ist deshalb für ihn nichts anderes als „die politische Form der Kapitalherrschaft" 248 . Auch für Hirsch wird in der demokratischen Staatsform der Staat, der allein die Macht hätte, „es den wirtschaftlichen Riesengewalten zu wehren, die Schwachen um Menschenwürde und Daseinszweck zu betrügen", zum Instrument eben dieser „Riesengewalten". „Je demokratischer heute ein Staat ist, desto abhängiger pflegt er von den großen wirtschaftlichen Geldmächten zu sein, desto weniger hat man soziale Gerechtigkeit von ihm zu gewärtigen. Die christliche Liebe, die auch im Geringsten den Bruder sieht, wird sich darum gerade gegen ein demokratisches Regiment wehren. Die Freiheit, die der Staat jedem seiner Bürger geben soll, besteht in sehr viel realeren Dingen, als in Stimmzetteln besonders großen Formats 241
Ebd., S. 24.
242
R . SEEBERG, Verständnis, S. 4 8 .
243
E. HIRSCH, Staat und Kirche, S. 27.
244
R . SEEBERG, Verständnis, S. 7 3 .
245
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S . 2 4 5 .
246
P. TILLICH, Grundlinien, S. 112.
247
P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 50. Ebd., S. 51. E. HIRSCH, Demokratie und Christentum, S. 59.
248 249
98
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Dieser Einschätzung der Lage entsprechen düstere Prognosen. Für Hirsch ist es, ähnlich wie für Tillich, rechtens, davon zu sprechen, daß sich der „neue Staatsgedanke" mit „dämonischen Mächten ... verflochten hat". Hirsch befürchtet, daß sich in der Zukunft „die Verschlingung aller individuellen Lebensgestaltung durch eine alle erfassende Hörigkeit in Staat und Wirtschaft" 250 einstellen könnte. Nach dem Urteil Seebergs aus dem Jahre 1923 wird die Demokratie mit innerer Notwendigkeit eines Tages in irgendeine Form der Diktatur umschlagen, wenn die Krisenphänome der Zeit weiter mit „außerordentlich falsch gewählten Mitteln", nämlich mit dem Instrumentarium des „aufklärerischen" Rationalismus, bekämpft werden. Das „allmähliche Zurücktreten der staatlichen Autorität gegenüber der Wucht der großen Wirtschaftsorganisationen ... muß einmal, nach dem Zeugnis der Geschichte, zu mächtigen Versuchen führen, die Staatsgewalt neu zu stabilisieren. Die Demokratie mit ihrem Parlamentarismus wird einst ihre eigenen Anhänger müde und überdrüssig gemacht haben, dann gehen aus ihr in irgendeiner Form Tyrannen, Diktatoren oder sonstige Alleinherrscher hervor .. ," 251 . e. Kritik als Modernitätsbewußtsein: der „modrige Geruch von Weimar" Ein wichtiges Merkmal der Kritik an dem mit der Weimarer Verfassung etablierten politischen System läßt sich besonders bei den jüngeren Theologen nachweisen. Sie verstehen sich als Repräsentanten einer politischen Avantgarde. Ihre Kritik ist von der Uberzeugung getragen, ein radikal fortschrittliches Bewußtsein zu repräsentieren, das die Antiquiertheit der Weimarer Verfassung als entscheidenden Grund für ihre Illegitimität erkannt hat. Ihre Kritik verstehen sie deshalb als Dienst an der Zukunft. 1934 blickt H . - D . Wendland auf Troeltschs und Webers Prognosen über die Unentrinnbarkeit des Prozesses „der Entzauberung und Rationalisierung der Welt" zurück. Die liberale Theorie der Moderne sieht er widerlegt durch' eine „gewaltige religiöse Wendung", eine „Wendung zum Mythos der Mächte und zur Gottesahnung an diesen Mächten" 252 , die sich in der jüngsten deutschen Geschichte vollzogen hat: „Wider die Vernunftherrschaft, die kein Organ hat für die Urmächte des Seins", verschaffe sich Geltung „ein neues Ethos der Bindung und der Zucht, der Autorität und der Gemeinschaft, der Forderung des Opfers und des Dienstes" 253 . Deutlichstes Zeichen für diese Wende ist für Wendland der Zusammenbruch der Weimarer Demokratie. In Gestalt dieses „Weimarer Zwischenreiches" habe der Liberalismus eine „schwächliche und künstlich geförderte Nachblüte" 254 erlebt. Mit dem Zusammenbruch 250
E . HIRSCH, S t a a t u n d K i r c h e , S . 3 1 . V g l . P. TILLICH, G r u n d l i n i e n , S . 1 0 9 , 1 1 2 .
251
R . SEEBERG, V e r s t ä n d n i s , S . 8 3 .
252
H . - D . WENDLAND, R e i c h s i d e e , S . 4 2 .
253
Ebd., S. 37. Ebd., S. 26.
254
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99
der liberalen Demokratie sieht er zugleich die theologischen Bemühungen der Nachkriegszeit im Kampf gegen das liberale Denken bestätigt und legitimiert. Die Überzeugung von der Antiquiertheit liberalen Denkens und der Hinfälligkeit der Weimarer Demokratie prägten das geistige Klima im „Jungnationalen Bund", dem Wendland sich in der Zeit der Weimarer Republik angeschlossen hatte. In ihm arbeiteten u. а. К. В. Ritter und A. Bergsträßer und jüngere Juristen wie H. Dombois und K. Larenz mit Theologen zusammen. In der Zeitschrift des Bundes, den „Jungnationalen Stimmen", in der die Grundelemente der dargestellten Kritik an Aufklärung, Rationalismus und Liberalismus vielfältig variiert wurden, bekundete Rudolf Craemer 1930 die „Abscheu" der jungnationalen Bewegung vor der „Entheiligung des Staates und der Entweihung des Lebens" 255 , wie sie sich in der Weimarer Demokratie gezeigt habe. Ausdrücklich stimmte H . - D . Wendland hier C. Schmitts Parlamentarismuskritik zu 256 . 1928 verbreitete Α. E. Günther in den „Jungnationalen Stimmen" die Uberzeugung, dem „Weimarer Grundgesetz" hafte ein „seltsam modriger Geruch" an. Mit ihm sei noch einmal eine „kühne Idee ... ins Leben" getreten, die, aus Aufklärung und Liberalismus geboren, vor 150 Jahren aktuell gewesen sei, sich mittlerweile aber „erschöpft" habe. Ihr „Todesröcheln" sei fälschlicherweise von der Nationalversammlung „für den Lebensodem des deutschen Volkes" gehalten worden. Deshalb stünden die vorwärtsdrängenden Kräfte der Jugendbewegung „der Republik von Weimar nicht als einer jungen Kraft gegenüber", sondern „als der kraftlosen und der gegenwärtigen Wirklichkeit völlig unangemessenen Prägung einer ehemals ehrwürdigen, nun aber versinkenden Staatsidee"257. Gleiche Uberzeugungen wurden auch in der 1931 gegründeten Zeitschrift „Glaube und Volk" publiziert, die sich als Organ für „die junge, an Holl anschließende Theologie" 258 und „zugleich für alle Theologie" verstand, die auf der Linie von Hirschs „Deutschlands Schicksal" lag. 1931 war unter positiver Bezugnahme auf R. Smends Aufsatz „Protestantismus und Demokratie" zu lesen, daß die Schwierigkeiten zwischen Protestantismus und Demokratie darauf zurückzuführen seien, daß „wir keine Demokratie in echter Ausprägung haben, sondern eine Spätform des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates, dessen tiefe Fragwürdigkeit im Massenzeitalter keiner ehrlichen Betrachtung entgehen kann" 259 . R. CRAEMER, Liberal, konservativ und jungnational, S. 199. H . - D . WENDLAND, Demokratie und Diktatur, S. 229. 2 5 7 Α. E. GÜNTHER, Putsch und Revolution,"S. 349. 2 5 8 Aufschluß über die Zielsetzung dieser neuen Zeitschrift gibt ein Brief E. Hirschs an H. Lietzmann vom 9. Dezember 1931, in dem er darum bittet, für „Glaube und Volk" zu werben: „Es war seit Jahren mein Herzenswunsch, durch eine neue kirchliche Zeitschrift für die junge an Holl anschließende Theologie und alles, was ihr im weitesten Sinn verwandt ist, und zugleich für alle Theologie, die zu dem Geist in meinem .Deutschlands Schicksal' ja sagt, ein Organ zu be255 256
k o m m e n . . . " ( G L A N Z UND NIEDERGANG, S . 6 8 7 . ) 259
G. GÜNTHER, Protestantismus und Demokratie, S. 59.
100
D i e Delegitimierung in der protestantischen Theologie
Der Gang der geschichtlichen Entwicklung selbst hat in den Augen der genannten Theologen das mit der Weimarer Verfassung etablierte politische System widerlegt und seine Antiquiertheit erwiesen. Der Sieg, den die „liberale (westliche) Demokratie .. im Augenblick des Zusammenbruches 1918/19"260 in Gestalt der Weimarer Verfassung davongetragen habe, habe nicht lange gedauert. Das politische System von Weimar erwies sich in kürzester Zeit - so Wilhelm Stapel - als ein System von „Fiktionen", dem sich die Wirklichkeit nicht fügte und das nur die Krise verstärkte, weil es, auch aus der Perspektive der Theologen, aus eben jenen Grundprämissen aufgeklärt-liberalen Denkens entwickelt worden war, die selbst auf den Weg in die Krise geführt hatten. Das Scheitern des Versuchs, mit „staatsrechtlicher Logik" eine Verfassung konstruieren zu wollen, habe endgültig den „Grundfehler des Liberalismus" überdeutlich offenbart: Den Glauben daran, daß die Vernunft des Menschen die Wirklichkeit nach ihren Plänen im Stile von „Reißbrett-Architekten" 261 gestalten könne. An den Grenzen der politischen Gestaltungskraft der „ratio" zeigten sich nur die Grenzen der „ratio" selbst. Ein tieferes und realistischeres Verständnis der Wirklichkeit sei deshalb nicht mittels des aufgeklärten Rationalismus zu finden. Solche weltanschaulich politisierenden Urteile zeigen besonders deutlich jene Grunderfahrung, die Paul Tillich 1934 rückschauend in einem Brief an Emanuel Hirsch als das treibende Motiv hinter der gemeinsamen „konkreten Geschichtsdeutung" genannt hat. Mit ihr läßt sich in Abbreviatur die Tendenz der theologischen und deren Übereinstimmung mit der rechtswissenschaftlichen Zeitdeutung zusammenfassen: „Der großartige Versuch der autonomen Vernunft, nach Zerstörung der religiös getragenen Einheitskultur des Mittelalters von sich aus den geistigen und politischen Neubau einer Gesellschaft zu leisten, die Katastrophe des ,weltgestaltenden Willens' der ratio im Weltkrieg mit seinen Folgen; die Gegenwart als entscheidende Krisenperiode, das Ringen um eine neue tragende Substanz" 2 6 2 . 260
W. STAPEL, F i k t i o n e n , S . 12.
Ebd., S. 13. P. TILLICH, Theologie des Kairos. Der Brief stellt Tillichs schon in der Emigration geschriebene Reaktion auf Hirschs „Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung" dar. Hirsch antwortete, verärgert über die massive Kritik Tillichs, nicht mehr direkt: E. HIRSCH, Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Dr. Stapel und anderes. Tillich charakterisiert in seinem offenen Brief nochmals seine eigene Position: „DieTheologie des Kairos steht genau in der Mitte zwischen der Theologie des jungen nationalen Luthertums und der dialektischen Theologie. Sie betrachtet die zweite als eine Abweichung ins Abstrakt-Transzendente, die erste als eine Abweichung ins Dämonisch-Sakramentale" (ebd., S. 13). Tillichs Vorwurf an Hirsch lautet: „ D u verkehrst die prophetisch-eschatologisch gedachte Kairos-Lehre in priesterlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens". Hirschs Auslegung von gemeinsamen Grundgedanken führt bei Tillich aber bezeichnenderweise zu einer Kritik und Modifikation seiner eigenen Kairos-Lehre: „Entscheidend ist - und die klare Einsicht darin verdanke ich dem Widerspruch zu Deinem Buch -, daß Offenbarung und Kairos, reines Ergriffensein und Wagnis, Exklusivität des Kriteriums und Relativität der konkreten Entscheidung auf verschiedenen Ebenen liegen. Die Richtung auf das erste macht den Theologen zum Theologen, sie gibt ihm das letzte Kriterium; das Stehen im zweiten gibt ihm die Gegenwartsnähe und Geschichtsmächtigkeit" (ebd., S. 23). 261
262
С. DIE SUCHE NACH NEUER VERBINDLICHKEIT
„Beim Himmel! Der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte." Friedrich Hölderlin, Hyperion
I. Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre 1. Neuauß>ruch im Namen der
Sittlichkeit
„Die bloß technische Rechtswissenschaft ist eine Hure, die für alle und zu allem zu haben ist. Man hat gesagt, daß jeder technisch gut ausgebildete Jurist im Grunde alles beweisen kann, und daß nur die anständigen unter ihnen von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch machen"1. Mit diesem drastischen Vergleich eröffnete Erich Kaufmann bei der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1926 die Schlußpassage seines Referates „Die Gleichheit vor dem Gesetz". Hier befaßte er sich mit der Auslegung des ersten Grundrechtsartikels der Weimarer Verfassung, des Artikels 109: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich". Kaufmann beendete sein Referat mit folgendem Appell an die Fachkollegen: Jene Beliebigkeit, die identisch sei mit Unsittlichkeit, lasse sich nur überwinden, wenn es den akademischen Lehrern gelinge, den zukünftigen Richtern deutlich zu machen, daß es bei der Rechtssprechung nicht um die bloße Technik der Gesetzesanwendung, sondern immer auch um „ethische Werte" gehe. Wege aus der Orientierungskrise der Zeit könnten nur gefunden werden mittels eines gesteigerten Verantwortungsbewußtseins in einem höheren Sinn. Deshalb müsse auch in den zukünftigen Richtern „immer wieder das Gefühl lebendig gemacht werden, daß sie bei jeder Entscheidung, die sie treffen, im Dienste ewiger Werte stehen, daß sie bei allem, was sie tun, mitberufen sind zum Bau einer Welt, ... die der Idee der Gerechtigkeit entspricht, und daß sie dazu nur fähig sind, wenn sie sich selbst erziehen zu Persönlichkeiten, die mit ihrem innersten Kern im Ewigen wurzeln" 2 . Diese Sätze verdeutlichen exemplarisch das ethische Pathos, das die Diskussion der Staats- und Rechtswissenschaft im Zeichen der Uberwindung des Positivismus durchdringt, und sie geben die Richtung zu erkennen, in der 1
E . KAUFMANN, G l e i c h h e i t , S. 2 6 4 . Z u K a u f m a n n v g l . W . BAUER, W e r t r e l a t i v i s m u s , S. 1 6 0 - 2 6 1 .
Nach Bauer steht Kaufmann in einer bestimmten Hinsicht in einer Linie mit C . Schmitt und R. Smend. Diese Staatsrechtslehrer waren sich darin einig, „den Staat aus der Acht zu befreien, in die er durch Pluralismus und Wertrelativismus erklärt wurde, um ihn im gleichen Zuge mit dem Bann der autoritären Staatsidee zu belegen, welche die Revolution gerade abgeschüttelt hatte, und die jetzt von neuem unter dem Vorwand des objektiven Telos, der Integration und Dezision im Sinne von Weltanschauungsbestimmtheit als unabweisbar behauptet wird. Das Ziel ist jeweils dasselbe, nämlich Elimination der pluralistischen Aktualisierung des Gemeinwohls post rem und dessen Feststellung ante rem" (ebd., S. 155). Vgl. auch S. 168: „Kaufmann lehnt es kurzerhand ab, der liberalen Freiheit den Vorrang vor der nationalen Einheit zuzubilligen". 2
Ebd., S. 265.
104
Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
sich die Suche nach einer neuen tragenden Substanz vollzieht. Sie ist identisch mit der Suche nach ethischer Verbindlichkeit in Gestalt von „Rechtsprinzipien über dem Gesetzesrecht" oder einer „überpositive(n) Ordnung", deren Leitidee „Gerechtigkeit" ist und deren Verwirklichung die Gesetze dienen sollen. An Kaufmanns Referat lassen sich einige weitere wichtige Kennzeichen der im Staats- und Verfassungsrecht neu aufbrechenden Frage nach neuer Substanz verdeutlichen: Der verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt ist der Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung, in dem nicht nur formale Organisationsnormen, sondern inhaltliche Prinzipien festgelegt waren. Die Auslegung des Grundrechtskataloges der Weimarer Reichsverfassung wird deshalb zum zentralen Thema der Staatsrechts- und Verfassungslehre der Weimarer Republik. Für Carl Schmitt ist 1929 in seiner Rede „Zehn Jahre Reichsverfassung" das Charakteristikum der Entwicklung in diesen Jahren das „Vordringen des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung" 3 . Die Einsicht in den Bedeutungszuwachs belegt er durch die Zitation eines Urteils des Reichsgerichtshofes, demzufolge die Grundrechte „als Heiligtum des deutschen Volkes" 4 gedacht seien. Der Bedeutungszuwachs zeigt sich für Schmitt zunächst vor allem daran, daß sich ein neues Verständnis der Bindungskraft der Grundrechte durchgesetzt hat: Die Grundrechte seien nicht nur für die Gesetzesanwendung von Belang, sondern bänden auch den Gesetzgeber, das Parlament. Die Suche nach der neuen ethischen Substanz dient dazu, den Bereich der zur Diskussion und Disposition stehenden Materie einzuschränken, indem bestimmte Sachgehalte als objektiv richtig postuliert werden, über die es nichts mehr zu debattieren gibt. In der Betonung des materialen Gehalts des zweiten Hauptteils der Verfassung zeigt sich ein doppeltes Interesse: Einerseits soll die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments begrenzt werden, andererseits soll ein Staats- und Verfassungsverständnis herausgearbeitet werden, das sich nicht durch „formale" Organisationsnormen, sondern durch inhaltliche Substanz - die Verfassung als Wertordnung - definiert. In dieser Wertordnung wird die alle verpflichtende und das politische System legitimierende homogene Grundlage des „Gemeinschaftslebens" gesucht. Durch die Gewinnung eines solchen materialen Staatsverständnisses hoffen die Staatsrechtslehrer, das politische Handeln den konfligierenden Partikularinteressen entreißen und wieder in den Dienst der Verwirklichung der wahren Gesamtinteressen stellen zu können. An der Kritik des Parlamentarismus als politischer Organisationsform des liberalen Individualismus zeigt sich ein weiteres Merkmal der neuen Diskussionslage: Die ethische Verbindlichkeit wird nicht mehr am Ort des Individuums gesucht, da die Krisendiagnostik gerade im liberalen Individualismus 3 4
C . SCHMITT, Zehn Jahre Reichs Verfassung, S. 35. Ebd., S. 36.
Neuaufbruch im N a m e n der Sittlichkeit
105
den Relativismus und damit die Orientierungslosigkeit begründet sah. Deshalb sind in der Suche nach neuer ethischer Verbindlichkeit zwei Tendenzen miteinander verschränkt: Die Abwertung der Formalität des Rechts zugunsten der verstärkten Frage nach dessen ethischem Gehalt, der Suche nach einer materiellen Wertordnung, die „hinter allem rechtlichen Geschehen, hinter allem Geschehen überhaupt liegt" 5 , führt zur Austreibung des allein sich auf sich selbst stellen wollenden Individuums als entscheidendem Subjekt der ethischen Urteils- und politischen Willensbildung. Individuelle Freiheit kann nur noch als Ermöglichungsgrund der inneren Bindung an eine „materielle Ordnung" thematisch werden. Deutlich zeigt sich dies an Kaufmanns Gewissensverständnis. Er erkennt dem Gewissen zwar eine herausragende Bedeutung für Entscheidungen auf dem Weg zur Realisierung einer inhaltlich gerechten Ordnung zu. Dies bedeutet aber keine Stärkung der selbständigen Bedeutung des Individuums. Keineswegs wird die Selbständigkeit des Individuums gegenüber der politischen Ordnung oder der Rückzug auf eine Innerlichkeit postuliert, die den Unterschied zwischen sich und der politischen Ordnung betont und diese vielleicht dann gar noch desinteressiert sich selbst überläßt. Das „Gewissen" ist für Kaufmann „nichts subjektives und darf nicht psychologistisch aufgelöst und relativiert werden, sondern es ist unmittelbare Gewißheit einer höheren objektiven Ordnung, an der wir teilhaben, die wir realisieren müssen, in deren Dienst wir stehen" 6 . Deshalb könne die gesuchte „echte Ethik" auch keine „autonome Ethik" sein. „Wenn wir tun, was das Gewissen gebietet, tun wir etwas, was ein Höherer uns durch unser Gewissen sagt" 7 . Dieser Prozeß der Auflösung der Selbständigkeit des Individuums vollzieht sich im Staats- und Verfassungsrecht dann vor allem über die Neudefinition der Bedeutung der Grundrechte, also genau jener Rechte, die ursprünglich der Sicherung dieser Selbständigkeit dienten. Sie werden umgedeutet zu einem Instrument der Vergemeinschaftung individueller Freiheit. Wenn die Rechtswissenschaft sich verpflichtet weiß zum „Bau einer Welt, ... die der Idee der Gerechtigkeit entspricht" 8 , dann muß sich ihr Gegenstandsbereich erweitern. Eine methodische Umorientierung wird notwendig. Die Thematisierung der Frage nach dem ethischen Fundament des Rechts zwingt zur Uberwindung der positivistischen Engführung, führt zu einer Öffnung der Staatsrechtslehre für Fragen der Metaphysik und der Weltanschauung. Diese Öffnung zu beschreiben, erlaubt dann auch die Bestimmung des Horizonts, auf dessen Hintergrund die Beiträge führender Vertreter der lutherischen Theologie zur Staatsdebatte erfaßt werden können. 5
E . KAUFMANN, G l e i c h h e i t , S . 2 4 7 .
6
E b d . , S. 254. E b d . , S. 255. E b d . , S. 265.
7 8
106
Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
Der in diesem Erweiterungsprozeß sich vollziehende Wandel läßt sich ablesen an einem Urteil von Karl Larenz, der in einem Forschungsbericht über die „Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart" 1931 abschließend die Uberzeugung formulierte: „Uber den letzten Sinn des Rechtes und des Staates und damit auch über die letzte Begründung aller Rechts- und Staatsphilosophie entscheidet nicht diese selbst, sondern die Metaphysik oder die Religion. Idealismus und Christentum sind die tiefsten Antworten, die der deutsche Geist auf die letzten Fragen gefunden hat" 9 . Bei E. Kaufmann klingt dieser Offnungsprozeß am Beispiel der Auslegung des Gleichheitssatzes schon an. Der Art. 109 lasse sich nur richtig auslegen, wenn eine Antwort auf die Frage gefunden werden könne „Was heißt gerecht?". Bei dieser Frage gehe es „nicht bloß um Diskussionsregeln, ... sondern um eine materielle Ordnung" 10 . Die Verknüpfung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsgedanke verweist für Kaufmann zurück auf die religiöse Tradition, die deshalb bei der Auslegung des Gesetzes mit berücksichtigt werden müsse. Die „Gleichheit vor dem Gesetz" habe die Vorstellung der „Gleichheit vor Gott" ersetzt. Diese Vorstellung der Gleichheit aller vor Gott impliziere die „Gewißheit, daß ein reales persönliches Wesen da ist, welches uns gerecht beurteilt und daß der Begriff der Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist mit einer absoluten Persönlichkeit" 11 . Gerade die Auslegung eines Grundrechtsartikels wie des Gleichheitssatzes nötigt die Rechtswissenschaft nach Kaufmann dazu, sich mit den verschiedenen im Lauf der Geschichte entwickelten Gerechtigkeitsvorstellungen, d. h. mit philosophischen, theologischen und historischen Problemen auseinanderzusetzen. Diese methodische Umorientierung der Staatsrechtslehre soll zunächst in drei Schritten näher skizziert werden. Anhand von Günther Holsteins schon erwähntem programmatischen Bericht über die Tagung der Staatsrechtslehrer im Jahre 1926 „Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft"12 lassen sich einige Grundlinien der Bedeutung der metaphysischen Wende in der Rechtswissenschaft illustrieren. Deren konkrete Ausgestaltung soll dann an Julius Binders Rechtsphilosophie und Rudolf Smends Verfassungsverständnis verdeutlicht werden. Das Interesse ist dabei gerichtet auf 9 K. LARENZ, Rechts- und Staatsphilosophie, S. 107. Dieser Uberblick des damaligen Schülers von J. Binder ist ganz aus der Perspektive der Hinwendung zum Idealismus in der Rechtsphilosophie und der Überwindung des Neukantianismus geschrieben. Die Darstellung zielt auf den Aufweis der Notwendigkeit einer „Metaphysik des Staates" (S. 109 f.). Vgl. die Rezension von A . HOLD-FERNECK: Es sei „Binders getreuem Schüler sichtlich um eine Art Entstehungsgeschichte des Binderschen Systems" gegangen, „das ihm als der Höhepunkt der Entwicklung der Rechtsphilosophie gilt. Mit Recht! Denn diesem System kann heute nichts Ebenbürtiges zur Seite gestellt werden" (S. 106). Zur späteren Position von Larenz vgl. seine „Methodenlehre der Rechtswissenschaft", in der er die Leistung des objektiven Idealismus würdigt. Sie liegt für ihn in der Uberwindung eines positivistischen Wissenschafts- und Wirklichkeitsbegriffs (S. 109 f.). 10
E . KAUFMANN, G l e i c h h e i t , S . 2 5 4 .
11
Ebd., S. 248. G. HOLSTEIN, Von Aufgaben und Zielen, S. 1 f.
12
Der methodische Neuansatz
107
die Darstellung der für das Rechts- und Staatsverständnis wichtigen Strukturfragen.
2. Der methodische Neuansatz: Die geisteswissenschaftliche Methode Günther Holstein war Schüler Erich Kaufmanns, dem er auch seine Studie „Die Staatsphilosophie Schleiermachers" (1923)13 widmete. Er galt den Zeitgenossen als Rechtswissenschaftler, der mit Entschiedenheit die Uberwindung des Positivismus und Formalismus durch die Wendung zu einer „ideengeschichtlichen" oder „geistesgeschichtlichen Methode" forderte und selbst vollzogen hatte. Hermann Kantorowicz würdigte den 1931 im Alter von 38 Jahren früh Verstorbenen, bereits mit dem Ehrendoktor der Theologie Ausgezeichneten, als den „Dilthey der deutschen Rechtswissenschaft" 14 . Holsteins Ziel sei es gewesen - so Gerhard Leibholz in einem Gedenkheft der Greifswalder Kollegen - „eine ideengeschichtlich fundierte, neue philosophische Grundlegung der deutschen Staatsrechtslehre" 15 zu erarbeiten, die sich ihres Bezugs zu „metaphysische(n) Absolutheiten" 16 bewußt sei und deshalb „ihre Beziehung zu den anderen Geisteswissenschaften, insbesondere der Theologie, Philosophie, Geschichte und Soziologie erneut nachdrücklich" herausarbeite17. Nach dem Bericht Holsteins über die Tagung der Staatsrechtslehrer stellt die „Uberwindung des Positivismus ... ein Methodenproblem allerersten Ranges" 18 dar. Die Auslegungsversuche des Gleichheitssatzes auf der Grundlage des Rechtspositivismus habe selbst die Grenzen dieser Methodik erwiesen. In der Aufnahme der Frage nach dem Bedeutungswandel der Gleichheitsforderung zeige sich, daß es sich bei dem Versuch, diesen Wandel zu verstehen, um ein „jenseits des Positivismus liegendes geistesgeschichtliches, in tausend Beziehungen politischer, soziologischer kultureller Art verflochtenes Problem" (30) handele. 13 14 15
G. HOLSTEIN, Die Staatsphilosophie Schleiermachers. H. KANTOROWICZ, Nachruf auf Günther Holstein, S. 454. G . LEIBHOLZ, Holstein, S. 16.
Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. 18 G. HOLSTEIN, Von Aufgaben und Zielen, S. 28. Alle folgenden Angaben im Text beziehen sich auf diesen Titel. Nach Abschluß der Arbeit erschien K. RENNERT, Geisteswissenschaftliche Richtung, der weitgehend abstrahierend von aktuellen politischen Implikationen des Methodenstreits (vgl. ebd., S. 45), das staatsrechtliche Denken von Kaufmann, Holstein und Smend untersucht. Zwischen ihnen konstatiert er eine „weitgehende Übereinstimmung" in ihrer „weltanschauliche^) Grundüberzeugung": „Alle drei waren Vertreter eines stark protestantisch gefärbten Konservatismus und standen daher auf der Rechten des Weimarer Parteienspektrums, etwa bei den,Deutschnationalen' oder der, Konservativen Volkspartei". Dieser „konservative Grundzug" habe eine „evangelische Färbung, nach welcher Triebfeder zur nationalen Einheit der religiös-sittliche Pflichtgedanke" sei (ebd., S. 47 auch S. 320). 16
17
108
Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
Gerade bei der Auslegung eines Grundrechts werde die Notwendigkeit deutlich, nach den „die Gesamtverfassung einheitlich bestimmenden Rechtsideen" zu fragen, d. h. nach der „überpositive(n) Ordnung", die „hinter" dem positiven Recht liege. Diese Frage sei die juristische Konkretion der allgemein sich durchsetzenden Uberzeugung, daß es aus der „Weltanschauungskrise" nur einen Ausweg gebe: die Suche nach einer neuen, verbindenden Einheit durch das „Ringen ... um die Erkenntnis letzter metaphysischer Beziehungen und letzter transsubjektiver Werte" (26). Die neue, in der Kritik am Rechtspositivismus geeinte Bewegung kann, aufgrund der zentralen Bedeutung der Orientierung an den einheitsstiftenden „Rechtsideen", nach Holstein als „Rechtsidealismus" bezeichnet werden, der bewußt an die Traditionen des deutschen Idealismus anknüpft. Die Anwendung der „geistesgeschichtlichen Methode" bedeute, die „ideengeschichtlichen Zusammenhänge unserer Rechtskultur bewußt als Erkenntnisquelle für die Erfassung des positiven Rechts und die Herausarbeitung seiner tragenden Rechtsgedanken fruchtbar zu machen" (31). Solcher Rechtsidealismus zielt letztlich nicht auf das Herausarbeiten einer Vielzahl von Rechtsideen, die nur den Pluralismus der Weltanschauungen, den es ja gerade zu überwinden gilt, auf einer anderen Ebene verdoppeln würde. Sein Interesse gilt vielmehr der Gewinnung einer einheitlichen Gesamtperspektive. „In letzter Konsequenz" gehe es dem Rechtsidealismus um „die Frage nach der zentralen Rechtsidee", um die Frage nach der „Gerechtigkeitsidee" (33). Die Reflexion auf die Beziehung zweier Grundelemente ist signifikant für diesen Idealismus: Er ist orientiert an der Polarität des „Prinzip(s) der Individualität, der schöpferischen Persönlichkeit und der objektiven Werthaltigkeit des Institutionellen" (29). In derReflexion auf diese Polarität unterscheide sich der „Rechtsidealismus" vom älteren rationalistischen Naturrecht, in dem zwar auch hinter das positive Recht zurückgefragt wurde, das aber im Grundansatz nur vom Individuum aus dachte. Die Orientierung an den „Rechtsideen" unter der Leitperspektive der „Gerechtigkeitsidee" hat eine Kompensationsfunktion. Sie soll es erlauben, jene Einheit und Homogenität zu formulieren, die allein aus der Perspektive der Individuen offenbar nicht mehr gewonnen werden kann. Die Frage nach den Rechtsideen ist zugleich die Thematisierung eines überindividuellen Gesamtzusammenhanges, in den das positive Recht „eingebettet" sein soll und den es zu begreifen gilt als eine „einheitliche Summe psychologischer, soziologischer, ethischer Wertvoraussetzungen objektiver Art, die das äußere und innere Sein der Volkheit beherrschen" (30). Holstein unterläßt es nicht, das historische Vorbild dieses Gedankens zu nennen; die gesuchte ethische, homogene Wertgrundlage ist das, was die historische Schule einst als „Volksgeist" (30) bezeichnet hatte. Auch wenn das Folgeproblem des Historismus, der Relativismus, sich, wie die „weltanschauliche Zerrissenheit" zeige, noch radikalisiert habe, liege die
Der methodische Neuansatz
109
entscheidende Herausforderung der Gegenwart gerade darin, „trotz und über allen Gegensätzlichkeiten eine neue Einheit zu bauen" (38). Derartiger Relativismus stehe hinter der Furcht der Positivisten, bei der Suche nach derartigen Rechtsideen „in ein wissenschaftlich völlig ungangbares Gelände subjektiver Spekulationen" (31) zu geraten. Drei Argumente sprechen nach Holstein gegen die Angst vor einem solchen Subjektivismus. Zum einen lasse sich darauf verweisen, daß in den Nachbarwissenschaften „schon längst eine zu sauberster Exaktheit entwickelte ideengeschichtliche Methode" erarbeitet worden sei. In der Reihe dieser Vorbilder haben gerade protestantische Theologen einen prominenten Platz. Holstein nennt als Exempel solcher zur „saubersten Exaktheit" entwickelten Methodik die „dogmengeschichtlichen Arbeiten von Harnack und R. Seeberg, die philosophiegeschichtlichen Diltheys, die kulturgeschichtlichen von Troeltsch". Für die Rechtswissenschaft habe Otto Gierke die Fruchtbarkeit solcher ideengeschichtlichen Analysen erwiesen (31). Zum anderen sieht Holstein die Gefahr der Radikalisierung der Orientierungslosigkeit durch die Zuwendung zum Pluralismus der „Weltanschauungen" dadurch gemindert, daß dieser Pluralismus ein positioneil stabiles Grundmuster aufweist, der Gegenstandsbereich der „geisteswissenschaftlichen Methode" also schon vorstrukturiert ist. Diese Methode müsse sich nicht mit einer „unendliche(n) Vielzahl literatenhaft konstruierter Weltanschauungen', die das bedruckte Papier erfüllen", auseinandersetzen, sondern nur mit den „Weltanschauungen", die „wirklich" das Leben bestimmten, und die sich „für deutsche Verhältnisse etwa um den Grundkern der historisch gewordenen Dreizahl der rationalistischen Gruppe mit ihrem demokratischen und liberalen Flügel, der sozialistisch-marxistischen und der christlich-konservativen Gruppe schichten läßt" (35). Schließlich entgehe der skeptische Verzicht auf eine Begründung der Gerechtigkeitsidee selbst nicht dem Vorwurf des „Subjektivismus". Gerade der Richter, der nur rechtsformalistisch entscheide und nicht die Frage nach „materiellein) und ethische(n) Inhaltswerte(n)" stelle, stehe in der Gefahr, ein Opfer seiner unreflektierten subjektiven Werturteile und seiner „unkontrollierten Gefühlsgründe" (36) zu werden. Und im schlimmsten Fall diene er mit solchem Skeptizismus nicht dem Recht, sondern dem Unrecht, wie das Beispiel des Pilatus zeige. Dessen Unfähigkeit zur eigenen Entscheidung angesichts der Frage „Was ist Wahrheit?" „schlug den Gerechten ans Kreuz". In Parallele dazu gilt für die „Gerechtigkeitsfrage": Ihr „aus dem Weg gehen heißt noch immer, dem entschlossenen Unrechtswillen kampflos das Feld räumen und so selber an dessen Sieg schuldig werden" (34). Derartiger unreflektierter Subjektivismus oder ein Skeptizismus, der letztlich dem Unrecht diene, ließen sich nur vermeiden, wenn der Richter sich „mit vollem wissenschaftlichen Bewußtsein in dem großen transsubjektiven Strom der Geschichte stehend weiß, der die Fülle mächtiger, wirklichkeitsgestaltender
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
Rechtsideen kennt, die unsere Rechtsordnung geschaffen haben und mit ihrem Werden in breitem Strom zu ihm heranfluten" (36). In dieser Formulierung kündigt sich aber auch die Möglichkeit an, daß das Individuum in den Fluten des Rechtsidealismus untergeht, wenn auf der Ebene der Reflexion über die Konstitution der Rechtsordnung eine auch für deren Legitimationsgrundlage folgenreiche Substition des Subjekts solcher Konstitution vorgenommen wird, etwa in der Weise, daß diese als eine Leistung „transsubjektiver" Größen verstanden werden soll.
3. Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates Das wichtigste Exempel einer Rechts- und Staatsphilosophie „im Geiste" des Rechtsidealismus der zwanziger Jahre ist das Werk Julius Binders. An seinem Entwurf läßt sich ein zentrales Anliegen des Rechtsidealismus verdeutlichen, die Herausarbeitung einer einheitlichen „sittlichen" Gesamtperspektive, mit der die Rechtstheorie in der Ethik verankert werden kann. Das treibende Motiv ist die Herstellung eines Zusammenhanges von staatlich-politischem Handeln und Forderungen der Sittlichkeit, wie sie programmatisch im Titel eines Textes formuliert ist, den Binder in einer von der „Gesellschaft deutscher Staat" herausgegebenen Reihe publizierte: „Die Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates" 19 . Gerade dieses Interesse an Syntheseleistungen führt Binder zur Rezeption von Theorieformen des deutschen Idealismus, die nicht dualistisch strukturiert sind. Auf der Grundlage einer Philosophie des Geistes, die beansprucht, die Einheit von „subjektiver Welt des Bewußtseins" und „objektiver Welt der Gegenstände" 20 begreifen zu können, erlauben es diese idealistischen Theorieformen, ein umfassendes, den gesamten Fragenkreis nach dem Verhältnis von Recht zur Sittlichkeit, zur Macht, zum Staat durchschreitendes IntegraJ. BINDER, Die Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates, Langensalza 1926. J. BINDER, Philosophie des Rechts. Dieses Werk ist nach Binders Abwendung vom Neukantianismus und seiner Hinwendung zu Hegel geschrieben. W. R. BEYER, Hegel-Bilder, erklärt Binder in 19 Zeilen zum Rechtsphilosophen des Nationalsozialismus (S. 19). H . R . ROTTLEUTHNER, Substantialisierung, setzt sich dagegen ausführlich mit Binder und seinen Schülern Martin Busse, Gerhard Dulckheit und Karl Larenz sowie Walther Schönfeld auseinander. Nach Rottleuthner lassen sich bei diesen Autoren durchgängig zwei Themen identifizieren: „a) Das Verständnis von Recht und Staat als sittliche Explikation der völkischen Substanz und b) der Versuch, die Hegeische Gliederung von abstraktem Recht - Moralität - Sittlichkeit durch die ,Versittlichung' besonders des Formalrechts zu überwinden" (S. 233). In dieser Entdifferenzierung „vernebelt sich ... Hegels ,objektiver Geist' in konturloser Sittlichkeit" und erfolge die „Legitimation eines erhöhten Integrationsdrucks" (S. 241). Nach J. MEINCK, Weimarer Staatslehre, hat Binder das „Hegelwort von der Identität von Wirklichem und Vernünftigem ... völlig" mißverstanden bei seiner Interpretation des Verhältnisses von „Idee" und „Wirklichkeit", da er das „Wirkliche" als das empirisch Gegebene ansah (S. 90). 19
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tionsprogramm zu formulieren, wie es Binder in seinem Hauptwerk, der 1925 erschienenen „Philosophie der Rechts" 21 ausgearbeitet hat. Dieses 1063 Seiten umfassende Monumentalwerk fand auch Resonanz in der Theologie. W. Bruhn besprach es schon im Frühjahr 1926 in der von Binders Göttinger Kollegen Emanuel Hirsch - mit dem ihn auch die Arbeit in der „Gesellschaft deutscher Staat" 22 verband - herausgegebenen „Theologischen Literaturzeitung". Die Arbeit Binders müsse den Theologen vor allem deshalb interessieren, weil dieses System geprägt sei durch „das persönliche Bekenntnis erarbeiteter Weltanschauung" und weil in ihm der „Drang nach einem Unbedingten" walte, von dem her alle „höhere Kulturgestaltung" und damit auch das Recht, die Sittlichkeit und die Religion zu begreifen seien 23 . Diese Konzentration auf das „Unbedingte", in Binders Terminologie die „Idee", die Bruhn als eine „Teiloffenbarung der Wirklichkeit einer überpersönlichen Vernunft" versteht, führe Binder nahe heran an das, „was der Fromme mit und unter dem Gottesbegriff erlebt". Insofern neigten sich in seinem System „Wissenschaft und Theologie auf eine erfreuliche Weise ... ihrer Harmonie" 24 zu. Die im Rahmen des Binderschen Systems mögliche Harmonie zwischen „Wissenschaft und Theologie" dokumentiert denn auch die von Karl Larenz herausgegebene Festgabe zu dessen 60. Geburtstag, die den Leitbegriff des Systems in ihrem Titel nennt, „Rechtsidee und Staatsgedanke". Zu dieser Festschrift leisteten die Theologen F. Brunstäd und E. Hirsch Beiträge 25 . Hier sollte ursprünglich auch die Abhandlung H . Gerbers, „Die Idee des Staates in der neueren evangelisch-theologischen Ethik" 2 6 , in der die Staats2 1 J . BINDER, Philosophie des Rechts. Vgl. E. v. HIPPELS Rezension. Hippel begrüßt Binders Versuch, der „Verankerung der Rechtstheorie in der Ethik", kritisiert aber dessen Nationalstaatsideologie auf der Grundlage der hegelschen Geistphilosophie. Aus der „geschichtlichen Wirklichkeit des Nationalstaates" könne nicht einfach auf seine „Vernunftgemäßheit" geschlossen werden. „Auch kommt B. endlich durch seinen Anschluß an Hegel der Gegenwart gegenüber philosophisch in eine schwierige Lage. Denn B. verurteilt diese Gegenwart entschieden und müßte doch enstprechend seiner Ausgangsposition sie in ihrer Vernünftigkeit begreifen, sie bejahen" (S. 413). 22 Zur Arbeit der Gesellschaft vgl. die Festgabe zum zehnjährigen Bestehen „GRUNDLINIEN DEUTSCHER STAATSAUFFASSUNG". Aufschluß über die Arbeit der Gesellschaft gibt insbesondere auch im Anhang das Verzeichnis der von der Gesellschaft herausgegebenen „Schriften zur politischen Bildung". Ehrenvorsitzender der Gesellschaft war Georg v. Below. 23 W. BRUHN, Binder, Sp. 286-288. 2 4 Ebd., S. 287. 2 5 RECHTSIDEE UND STAATSGEDANKE. Brunstäds Beitrag „Das Eigentum und seine Ordnung" ist ein Vortrag, den er 1930 auf der 5. Nationalerziehungstagung der Fichte-Gesellschaft gehalten hat. Er umreißt in diesem Text den Entwurf einer „deutsch-christlichen Eigentumslehre". „Rousseaus Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zum Verständnis des Contrat social" lautet der Titel von Hirschs Beitrag. H . - D . WENDLAND zeigte die Festschrift kurz an in den „Jungnationalen Stimmen" 5 (1930). Er sah in ihr ein „schönes Zeugnis der Kraft und Lebendigkeit des großen deutschen Staatsdenkens in unserer Zeit" (S. 288). 26
H. GERBER, Die Idee des Staates in der neueren evangelisch-theologischen Ethik.
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auffassungen von Althaus, Brunstäd und Hirsch aus staatsrechtlicher Sicht gewürdigt und kritisiert werden sollten, erscheinen27. Binders gesamte Philosophie des Rechts ist durch eine zentrale These fundiert: Das „Konstituens aller Rechtswirklichkeit" ist in der „Idee des Rechts" zu suchen. Das Recht sei deshalb einzugliedern in „ein großes ideenbedingtes System, das System von der werterfüllten Wirklichkeit oder Kultur, das die Freiheit und nicht die Notwendigkeit zur Voraussetzung hat" 28 . An dieser „Idee des Rechts" habe sich auch alle Auslegung zu orientieren. Nur wenn die „subjektive Vernunft des Auslegers" bereit und fähig sei, „denselben Weg" einzuschlagen, auf den „die Rechtsidee schon den Gesetzgeber gewiesen hatte", „erscheint" die Rechtsnorm als „Ausdruck der objektiven Vernunft" 29 . An diesem im Auslegungsvorgang exemplarisch auftretenden Problem der Differenz zwischen einer vorgegebenen, Allgemeingültigkeit beanspruchenden Norm und der partikularen individuellen Wahrnehmung dieser Norm läßt sich erkennen, daß der Rekurs auf die „Rechtsidee" die Funktion hat, eine überindividuelle „objektive Vernunft" zu postulieren, die es erlaubt, die möglicherweise differenten, je individuellen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster in eine höhere Einheit aufzuheben.
a. Vom Kritizismus zum Idealismus: Die Ermöglichung einer sittlichen Gesamtperspektive Zum Verständnis der „Rechtsidee", dem Zentralbegriff des Binderschen Rechtsverständnisses, müssen einige Weichenstellungen in der philosophischen Grundlegung seines Systems kurz beleuchtet werden, die er selbst ausführlich im ersten Teil seiner Philosophie des Rechts begründete, in dem es ihm vor allem um den Erweis der Notwendigkeit des Ubergangs vom Kritizismus Kants zum Idealismus und damit die Möglichkeit der Darstellung der Einheit von „abstraktem Recht", Moralität und Sittlichkeit ging, wie sie in Hegels Rechtsphilosophie entfaltet wurde. Drei Motive, in denen sich entscheidende Elemente der Krisendiagnostik reflektieren, nötigen nach Binder zu diesem Ubergang: Zum einen der Formalismus der kantischen Ethik, der nur zu einem inhaltslosen, formalen Sollen gelange und damit einen Dualimus zwischen Sein und Sollen fixiere, der die „Wirklichkeit" der sittlichen Welt nicht zu begreifen erlaube. Zum anderen der prinzipielle Individualismus Kants, der das Individuum in seiner faktischen sozialen Verflochtenheit nicht angemessen begreifen könne und der 27 Gerbers Abhandlung wurde wegen ihres Umfanges dann separat publiziert. Vgl. sein Vorwort zur „Idee des Staates." 28 J. BINDER, Neuere Strömungen, S. 275. 29 J. BINDER, Rechtsphilosophie, S. 976 f. Alle weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.
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sich gerade auch darin äußere, daß die „Beurteilungsprinzipien" der praktischen Vernunft nur dem „Subjekt angehören" sollen, als „bloße Urteilsfunktionen des Subjekts" (97) und nicht als „objektive Gesetzlichkeit, die im Gegenstande zusammentrifft" (98) verstanden würden. Schließlich das beschränkte kantische Verständnis der Ideen als bloß regulativer Prinzipien, das den Weg dazu versperre, über den Formalismus und Individualismus hinauszugelangen. Kant selbst habe aber einen Ansatzpunkt formuliert, der es ermögliche, über dieses beschränkte Verständnis der „Ideen" als bloß regulativer Prinzipien der Einheitsstiftung, denen aber keine Wirklichkeit in der Erfahrung entspreche30, zu revidieren und damit auch den Übergang vom Kritizismus zum Idealismus zu vollziehen. Binder ist an diesem Ubergang interesssiert, um eine neue einheitliche Gesamtsicht der Welt unter dem Vorzeichen ihrer sittlichen Bestimmtheit und Bestimmbarkeit zu ermöglichen, die das rationalistisch verengte Verständnis von Wirklichkeit wie den „Subjektivismus der Aufklärung" (225) und damit die eigentliche Grundlage der Krise überwindet. In Kants „Kritik der praktischen Vernunft" werde der Idee der Freiheit eine „objektive Realität"31 zugesprochen, insofern sie der Grund für die Möglichkeit der Bestimmung des Willens und damit auch die Bedingung der Möglichkeit für das „moralische Gesetz" und damit der „intelligiblen Welt", des „Reichs der Ideen" (32) sei. Mit dieser Lehre ist für Binder die „Grundlage gewonnen, von der aus die Uberwindung des Dualismus und Antagonismus von Natur und Freiheit und die Herstellung der Einheit der Vernunft möglich wird" (34). Die entscheidende Weichenstellung für diese Uberwindung leiste Fichte, indem er von seiner „antidualistischen theoretischen Position" aus (63) den bei Kant nur angebahnten „Primat der praktischen Vernunft" voll zur Geltung bringe, durch das Begreifen der „Welt in ihrer synthetischen Einheit" als „schöpferische(r) Tat des Ich" (63), das diese aus seinem „eigenen transzendentalen Wesen heraus erschafft" (62). Trotzdem bleibe auch bei Fichte eine „Wesensfremdheit von Ich und Welt" (64), die erst Hegel mit seiner Philosophie des Geistes überwinde, in der die Welt begriffen werde als Raum der Realisierung der Ideen. Bei Hegel findet Binder, was er bei Kant „vergebens" gesucht hat: „die Wirklichkeit der Ideen in der empirischen Welt, eine ideenerfüllte Wirklichkeit und die Geschichte als den Prozeß der Erscheinung der Idee in der Wirklichkeit". In solcher „ideenerfüllten Wirklichkeit" seien Sein und Sollen kein abstrakter Gegensatz, so daß sich hier ein Weg für die „Erkenntnis des Übersinnlichen" (68) eröffne. Das Organ solcher Erkenntnis der „ideenerfüllten Wirklichkeit" sei die Vernunft, die nicht wie der Verstand, der „nur zerstören" könne und zu „toten Allgemeinbegriffen" gelange, an der rationalistisch-analytischen Zergliederung ihre Grenze finde, sondern das „Vermögen der Synthese, der Spekula30 31
Vgl. I. KANT, Metaphysik der Sitten, S. 326. Vgl. Kants Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft, S. 107 f.
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tion" (69) sei. Erst solch spekulative Vernunft könne die „lebendige, konkrete Wirklichkeit" (70) begreifen, die „Wirklichkeit des Geistes", die mehr sei als ein „Gebilde aus Sinnlichkeit und Verstand" (72). Welt und Ich unter dem Vorzeichen des Geistes zu begreifen bedeute, sie als prinzipiell aufgeschlossen füreinander zu thematisieren und eine „durchgehende Parallele zwischen der Entwicklung des objektiven und des subjektiven Geistes, zwischen Weltprozeß und der Entfaltung des Ichbewußtseins" (76) anzunehmen. Die Beziehung zwischen subjektivem und objektivem Geist wird dabei als „dialektisch" verfaßte, die Einheit in ihrer Unterschiedenheit umfassende Relation vorgestellt. Nur unter der Voraussetzung der Annahme einer solchen Beziehung von „subjektivem" und „objektiven Geist" ist es möglich, „einen Sinn in der Welt zu entdecken und die Gültigkeit dieser Entdeckung zu behaupten" (77). Mit „Sinn" und „Gültigkeit" sind zwei zentrale Begriffe für Binders Kulturphilosophie genannt, die den Rahmen abgibt für seine Rechtsphilosophie. b. Kulturphilosophie als Grundlage der Rechtsphilosophie Aufgabe der Kulturphilosophie ist es, nach der Bedeutung, dem „Sinn des Seins" (106) zu fragen. Diese Frage ist möglich, weil die Kulturgebiete nicht bestimmt sind durch die „naturgesetzliche Notwendigkeit", sondern unter „Gesetzen der Freiheit, des Sollens und Geltens" stehen, weil sie „dem Geist ihr Dasein verdanken, der ihnen zugleich einen Sinn gibt" (107). Der von Kant dargestellte Zusammenhang, daß erst durch die Sollensforderungen, das moralische Gesetz, die Idee der Freiheit sich „offenbart" 32 , wird gleichsam gegenläufig gelesen, d. h. Freiheit nur als Ermöglichungsgrund für den Aufbau von Normativität thematisiert. Entsprechendes gilt für Binders Kulturverständnis. Soziale Wirklichkeit könne in genau dem Maße als , Kultur' qualifiziert werden, in dem dem menschlichen Bewußtsein Normen fordernd gegenüberträten. Diese Normen, denen eine vom Subjekt unabhängige Geltung zukomme, sind nach Binder die „Ideen". Als „Idee" bezeichnet er „die Gesetzlichkeit, der das in Frage kommende Stück der Wirklichkeit untersteht" (108). Der Sinn kultureller Phänomene komme zustande durch deren Beziehung auf die Ideen, durch die Gesetze der Zweckmäßigkeit des Guten, Wahren und Schönen. Binder spricht - und darin zeigt sich die für sein Denken eigentümliche Mischung zwischen „Kritizismus" und „Idealismus" - anders als Hegel von einer Mehrzahl von letzten Ideen, weil für ihn der Versuch, deren inneren systematischen Zusammenhang in Gestalt der sich realisierenden einen Idee, des Absoluten, zu begreifen, die Möglichkeiten des menschlichen Bewußtseins überschreitet. Über Kant hinaus postuliert Binder eine gegenüber dem 32
1. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108,140.
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menschlichen Selbstbewußtsein unabhängige Existenzweise der Ideen, Normen oder Werte in einem Reich des „Sinns" oder des „Geltens". Unter Kultur sei jene Sphäre zu verstehen, deren „Sinn" sich nur in Relation zu diesem Reich der Ideen erschließe. Kultur sei „die Wirklichkeit, sofern sie als unterworfen gedacht wird gewissen apriorischen Gesetzen oder Beurteilungskriterien, die freilich keine sinnliche Existenz haben, sondern gelten" (vgl. auch 135). Gemäß dieser Definition hätten die „Ideen" eine normative Funktion. Sie haben für Binder zugleich einen materialen Inhalt, da der Mensch immer nur etwas Bestimmtes sollen könne, das inhaltsleere, reine formale Sollen keine Forderung begründen könne. Ihr „Gelten" oder „Sollen" konstituiere, und darin ist bei Binder der Schritt über Kant hinaus vollzogen, eine eigene material bestimmte Welt der Ideen oder Werte. Die Ideen grenzten das Gebiet ab, „für das sie gelten, und (sind) insofern konstitutive Prinzipien der Kulturwirklichkeit" (111). Für Binder „steigen" aber die Ideen „nicht in die Wirklichkeit herab". Er insistiert auf einer bleibenden Differenz im Gegensatz zu einer, von ihm mit dem hegelschen Denken identifizierten Position, die von einer „Immanenz der Ideen in der Welt" (111) ausgeht. Das Insistieren auf dieser Differenz zwischen Norm und Wirklichkeit ermöglicht ihm dann auch eine größere Distanz und damit stärkere Kritikpotentiale im Umgang mit der Wirklichkeit. Die Position der Immanenz würde in höherem Maße die Forderung beinhalten, die gegebene Wirklichkeit auch als „ideenerfüllte" vernünftige Wirklichkeit zu interpretieren. Die Differenz stark zu machen, verschafft im Hinblick auf den politischen Kontext die Möglichkeit, das politische System der Weimarer Republik als „ideenlos" abzuurteilen. Die „Form", in der diese Ideen im menschlichen Bewußtsein auftreten, sei ihre „Geltung", d. h. das Erlebnis „einer von uns unmittelbar gewußten (!) oder gefühlten notwendigen oder kategorischen Forderung". In den Ideen seien damit material definierte „Aufgaben für das menschliche Handeln, Schaffen und Fühlen im Sinne des unbedingt Notwendigen, schlechthin Gültigen" formuliert. Durch ihre „Wirklichkeit" in Gestalt des Geltens seien diese Ideen oder Normen auch immun gegen die Frage nach ihrer Beweisbarkeit, da derartige „Geltung" eine „Objektivität" darstelle, die nicht vergleichbar sei mit „Faktizität" oder „empirischer Realität" (112).
c. Die „Idee des Rechts" Auf diesen skizzierten Grundannahmen aufbauend entfaltet Binder seine Rechtsphilosophie. Der Sinn des Rechts als eines Kulturphänomens lasse sich nur in Relation zur „Idee des Rechts" bestimmen. Sie sei das apriorische Element des Rechts, die das Recht sowohl konstituiere wie auch normiere, und an der deshalb alles empirische Recht zu messen sei. Konstitutiv sei diese
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„Idee des Rechts" insofern, als mit ihr eine „kategorische Forderung an die Menschheit" formuliert sei, die einen bestimmten Zustand vorschreibe und „Veranlassung" dafür sei, „daß dieser Zustand hergestellt wird." Aufgrund ihres Forderungscharakters sei sie zugleich aber das Richtmaß, die Norm, mit deren Hilfe es möglich sein soll, zu entscheiden, ob das vorhandene Recht dem richtigen Recht, d. h. der Idee der Rechts entspreche (135)33. Entscheidend sind die Folgen, die Binder aus dieser „Begründung" des Rechts in der „Rechtsidee" zieht. Die sittliche Legitimität des Rechts Diese Begründung erlaubt eine spezifische Fassung der Frage nach der Legitimität des Rechts. Durch das Insistieren auf dem normativen Charakter der Rechtsidee und deren Differenz zum empirischen Recht wird es möglich, zwischen zwei Geltungsbegriffen zu unterscheiden. Von Geltung des positiven Rechts zu sprechen kann einerseits bedeuten, die faktische Durchsetzbarkeit und Gültigkeit dieses Rechts in einer Gemeinschaft zu thematisieren. Davon unterschieden werden kann andererseits die Geltung in Relation zur Rechtsidee. Sie bemißt sich nach der „idealen, schlechthinnigen Richtigkeit oder Notwendigkeit des Rechts" (256), seiner „Vernünftigkeit". Diese „ideelle Richtigkeit" macht für Binder die Legitimität des Recht aus und begründet letztlich auch die Geltung im ersteren Sinne (256 und 770). „Gesetze aber können schlechthin nur nach der Idee des Rechts bewertet werden" (389). Diese „ideelle Richtigkeit" steht nun ihrerseits in einem engen Zusammenhang mit der Sittlichkeit. Die Begründung des Rechts in der Rechtsidee erlaubt es Binder, einen engen Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit herzustellen. Beide, Rechtsidee und Sittengesetz, stellen „kategorische Forderungen" an den Menschen dar, die dieselbe Wurzel haben, die in der Freiheit begründete Gesetzgebung der praktischen Vernunft. In beiden realisiere sich derselbe Geist. Deshalb können sie sich nach Binder auch nicht widersprechen. Da sie aber auch inhaltlich nicht zusammenfallen, müsse zwischen ihnen ein „Subordinationsverhältnis" bestehen, in der Weise, „daß sich die Rechtsidee dem Sittengesetz unterordnet" (265). Von dieser Verankerung der „Rechtsidee" im Sittengesetz her läßt sich dann auch der Zwang als ein konstitutives Element des Rechts rechtfertigen. Binder knüpft in dieser Frage an Kant an, der den Zwang als Mittel, das Recht durchzusetzen, ableitete aus dessen Funktion, der Verwirklichung der Freiheit in einer Gemeinschaft von Menschen zu dienen. Wenn - so Kant - ein „gewisser Gebrauch der Freiheit" nicht verallgemeinerbar ist, d. h. zur Beschränkung der Freiheit eines anderen führt, so ist der Zwang, der solchem 33
Vgl. auch J. BINDER, Neuere Strömungen, S. 251.
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Freiheitsgebrauch entgegengesetzt wird, „als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend" 34 . Recht und die Macht zu zwingen sind also einerlei (vgl. 351 f.). Wo bei Kant allerdings nur von dem Schutz der Freiheit des einzelnen als Legitimationsgrund des Zwanges gesprochen wird, wird bei Binder, der die Freiheit vorrangig als Ermöglichungsgrund für den Aufbau einer am Leitbild der Ideen orientierten sittlichen Welt begreift, dieser Legitimationsgrund über diese Verschiebung im Freiheitsverständnis selbst signifikant erweitert. Auch er kann formulieren, „daß der äußerlich funktionierende Zwangsapparat des Rechtes dem Anschein zum Trotz seine Grundlage in der Freiheit, in der Sittlichkeit hat" (245). Die mit Freiheit und Sittlichkeit bezeichneten Sachverhalte sind aber nicht mehr im Sinne Kants, der diese noch „individualistisch" mißverstand, sondern im Sinne des neuen eigenen „Idealismus" zu verstehen (vgl. auch 351 ff.). Zunächst gewinnt Binder auf dieser Grundlage eine vorläufige Definition der „Rechtsidee": Sie sei die „Idee einer Zwangsgemeinschaft unter Menschen" (265). Ist Kants Definition des Rechts vorrangig am Gedanken des Schutzes individueller Freiheit orientiert, so kündigt sich in dieser Binderschen Definition schon ein Verständnis an, das den Rechtszwang in den Dienst des Schutzes der Gemeinschaft stellt. In dieser Schwerpunktverlagerung vom Individuum hin auf die Gemeinschaft reflektiert sich die gesamte Krisendiagnostik der Zeit, insofern diese vermeinte, im liberalen Individualismus den Grund der Krise zu finden. Eben solcher Individualismus steht für Binder aber auch hinter der kantischen Definition des Rechts. Kants Rechtsverständnis zeuge davon, daß er der Aufklärung verhaftet und damit in einer „individualistischen Ethik befangen" (269) geblieben sei, daß er Freiheit nur „rein individualistisch" gedacht und den Menschen nur in seinem abstrakten „Fürsichsein ... jeder Eigenart entkleidet... ebenso wie die Gegenstände der Mathematik und Physik" (270) verstanden habe. Die Uberwindung dieses vom Liberalismus tradierten aufgeklärt-rationalistischen Individualismus - hier finden sich auch bei Binder die schon dargestellten Elemente der Liberalismuskritik (293 f.) - , als Therapie gegen die Krise erfordere deshalb auch ein anderes Verständnis des Rechts. In der Kritik am Individualismus als einer „überwundene(n) Stufe in der Erfassung der Persönlichkeit" (288) werden weitere wichtige Bestimmungen der „Rechtsidee" Binders gewonnen. Transpersonalismus Wieder knüpft Binder an Fichte und Hegel an. In ihren Reflexionen über den „Sinn des Ich" (281) findet er das neue, für seine „Rechtsidee" folgenreiche 34
1. KANT, Metaphysik der Sitten, S. 338.
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Verständnis des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft formuliert, den „Transpersonalismus". Fichte hat auch in dieser Frage für Binder den „entscheidenden Schritt" getan, indem er darlegte, „daß das Ich nicht denkbar sei ohne das Du ..., daß ich als Person die Gemeinschaft der Iche, das Du und das Wir zur unentbehrlichen Voraussetzung habe" (275). Die Gemeinschaft, die mehr sei als die bloße Summe von isoliert gedachten einzelnen, sei daher dem Individuum als Konstitutionsgrund vorzuordnen. Sie sei das durch das Recht zu schützende Gut. Solche Gemeinschaft sei „Wirklichkeit der Vernunft, Trägerin der Idee und habe insofern auch einen eigenen, nicht von den Einzelnen abgeleiteten Wert" (281). Diese Vorordnung und den Eigenwert der Gemeinschaft steigert Binder bis zur Nihilierung der Selbständigkeit des Individuums. Den empirisch nicht bestreitbaren Sachverhalt, daß der einzelne sich immer schon in einem Geflecht von Beziehungen, als soziales und geschichtlich bedingtes Wesen vorfindet, wendet und transponiert er so ins Normative, daß das Existenzrecht des einzelnen zusammenfällt mit der Pflicht zur Anerkennung und Einordnung in den Gesamtzusammenhang der „Gemeinschaft". Nur dort, wo der einzelne sich nicht nur als einzelner, sondern als „Glied" der Gemeinschaft, d. h. in einer lebendigen inneren Beziehung zu ihr wisse, könne von ihm in einer ethisch relevanten Weise als „Persönlichkeit" gesprochen werden. „Persönlichkeit" sei der einzelne demnach „nur kraft seiner Mitgliedschaft am Ganzen ..., nur kraft des lebendigen Stromes von Vernunft, der durch die Menschheit und die Völker flutet..." (277; vgl. auch 288). Der einzelne sei immer schon „eingebettet in die Vernunftgemeinschaft,... getragen von einem die ganze Welt durchflutenden Strom von Geist" (283). Der „Sinn des Ich" besteht dann in „überhaupt nichts" anderem mehr als in der „Teilhaberschaft an der überpersönlichen Vernunft" (281). Dieser „flutende Strom" der Vernunft trete allerdings in individualisierter Gestalt auf, sowohl in den einzelnen Individuen, wie auch in den Völkern und Nationen. Da das Recht wesentlich auf die Gemeinschaft bezogen sei, sei die individualisierte Gestalt der „überpersönlichen Vernunft", an der sich das positive Recht vermittels der Rechtsidee zu orientieren habe, der Volks- oder Nationalgeist (283). Deshalb sei auch „nur" jenes Individuum als „vernünftig" zu qualifizieren, das sich wisse „als Teilhaber an der großen menschlichen und nationalen Gemeinschaft, die die Erscheinungsform der überpersönlichen Vernunft ist" (283). Auf dieser Grundlage kann es folgerichtig auch keine „Individualethik", wie sie die Aufklärung kannte, mehr geben, sondern nur noch „Sozialethik" (286). Individualethik gilt als Spezifikum aufklärerischer Rationalität.
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d. Recht und Staat als Zwang zur Gemeinschaft Von diesen Voraussetzungen aus können dann Recht und Staat nicht mehr, wie in der Aufklärung, verstanden werden als „Zwangsorganisation zum Schutz der Freiheit des Einzelnen, sondern als die notwendige Form des wirklich seienden Ganzen, das Ganze in seiner Ganzheit ermöglichend und darin, daß dieses Ganze die Wirklichkeit der Vernunft ist, objektiv und ohne Rücksicht auf seine Leistung für den Einzelnen, begründend" (277). Damit ist die Ablösung der Legitimation des Rechtszwanges vom Individuum vollzogen (vgl. auch 282). Der Rechtszwang legitimiert sich durch die „objektive Gesetzlichkeit", die in den Ideen waltet, die die Welt der Kultur begründen, deren Träger die Gemeinschaft ist und zu deren Durchsetzung er dient. Solchen Rechtszwang gelte es zu begreifen als ein Mittel, mit dem die Gemeinschaft sich erhalte. Das Recht sei so seiner „Idee" nach „Zwang des Einzelnen zur Gemeinschaft", ein Zwang, der sittlich gerechtfertigt sei dadurch, „daß ohne ihn Gemeinschaft und Kultur nicht möglich wäre" (359). In der „Rechtsidee" spricht sich für Binder die Forderung aus: „es soll Gemeinschaft sein unter den Volksgenossen, auch gegen ihren Willen" (422). Was auf den ersten Blick nur ein prinzipientheoretischer Beitrag zu einer Neubegründung der „Idee des Rechts" zu sein scheint, erweist sich seiner wesentlichen Intention nach als Versuch einer umfassenden Kritik der mit der Weimarer Reichsverfassung gegebenen Rechtsordnung. Binder will mit seiner Rechtsphilosophie 1925 nichts weniger als Leitideen für eine neue Rechtsordnung formulieren, die an die Stelle des liberal-demokratischen Rechtsstaats von Weimar soll treten können. Besonders deutlich zeigt dies die Konkretion seines Gemeinschaftsbegriffs. Die Organisation der Gemeinschaft habe sich an der „Idee der Gerechtigkeit" zu orientieren. Diese dürfe dabei aber nicht im Sinne der individualistisch denkenden Aufklärung als Ausgleich prinzipiell gleichberechtiger und daher gleichzubehandelnder Individuen verstanden werden. Die Kritik dieser Fiktion einer vom „atomistischen" Fürsichsein des einzelnen ausgehenden „schematisch-arithmetische(n) Gleichheit" (389), die als „Feldgeschrei der Demokraten aller Schattierungen" 35 erklinge, zielt auf die Weimarer Verfassung von 1919. Denn in der gegebenen Rechtsordnung werde durch die Gleichheitsforderung der „Einzelne in der Tat zum Atom ... das Volk zur Masse" (301). Diese Gleichheitsforderung zerstöre nicht nur alle lebendige Gemeinschaft, die sich gerade aus dem Zusammenwirken der Unterschiede und Verschiedenheiten der einzelnen „Glieder" ergebe, sondern in letzter Konsequenz mache sie auch das Herausbilden jeglicher „Persönlichkeit" unmöglich (vgl. 301). Das Recht als „Zwang zur Gemeinschaft" habe nicht Gerechtigkeit im Sinne solcher Gleichheit, die Binder auch als „tote Gerechtigkeit"36 35
36
J . BINDER, G e r e c h t i g k e i t , S. 32.
Ebd., S. 42.
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bezeichnet, zu verwirklichen, sondern die Gerechtigkeit in dem Sinne, wie sie schon Piaton aufgefaßt habe, wie sie im deutschen Idealismus erneuert worden sei, auch dem lutherischen Verständnis des „Berufs" zugrundeliege und vom Konservatismus vertreten werde: als Gedanke des „suum cuique" 37 . Das „Wesen der Gerechtigkeit", nach Piaton der „Inbegriff der Sittlichkeit" (364), bestehe darin, „daß Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werde" (393). N u r in einer derartig „gerechten" Ordnung gibt es für Binder die Möglichkeit, die „persönlichen Gaben" voll zu entfalten im „Dienst an der Gemeinschaft" (394). In ihr würden die Bürger in einem anderen Sinne gleich behandelt. Sie würden behandelt „nach demselben ideellen Gesichtspunkt, der darin besteht, jedem das Seine zu gewähren" (545). Sicherung der Gemeinschaft der Volksgenossen, das ist auch die entscheidende Aufgabe, die dem Staat im System des Transpersonalismus zukommt. Dieser Transpersonalismus werde politisch vom Konservatismus repräsentiert. Wie das Recht gehöre auch der Staat zur Wirklichkeit der Kultur. Beide seien „ein Stück der Gesittung des Volkes, Entfaltung dieses konkreten Volksgeistes in der Außenwelt" (341). Auch der Staat könne deshalb nur angemessen verstanden werden in seiner Relation zu der im Nationalgeist individualisierten sittlichen Substanz. Der Staat ist für Binder „die lebendige Gemeinschaft des Volkes in der Form des Zwangsgesetzes und seine Aufgabe die Ermöglichung der Kulturgemeinschaft in Form des äußeren Zwanges" (335) bzw. „die lebendige Einheit des Volkes in der Form des Rechts" (491). Auf der Grundlage der Binderschen „Rechtsidee" sind Nationalstaat, Kulturstaat und Machtstaat keine Gegensätze, sondern müssen in ihrer inneren Einheit begriffen werden (340). Nicht „Kulturstaat" und „Machtstaat" seien Gegensätze, sondern „Kulturstaat" und „der bloße Rechtsstaat", da dieser „seine Aufgabe nicht darin sieht, selbst Kultur zu schaffen, sondern nur die Freiheit der Einzelnen zu schützen und alles Kulturleben den Einzelnen zu überlassen" (342). Auch der Staat stehe, wie das Recht, als Teil der in der Sittlichkeit gegründeten Welt der Kultur im Dienste der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Auch diese Staatszielbestimmung beinhaltet eine explizite Kritik der parlamentarischen Demokratie von Weimar. Weil die Gegenwart nur den „Parteienstaat und den Klassenstaat" 38 kenne, sei ihr das Staatsziel der Verwirklichung von Gerechtigkeit verloren gegangen. Vom Dienst an dieser „Idee der Gerechtigkeit" her erhält die Macht des Staates ihre Legitimation. Macht und Gerechtigkeit seien deshalb zwei Seiten des Staates, die nicht gegeneinander ausgespielt werden könnten. Vielmehr sei die Macht ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung der „Gerechtigkeit als Lebensprinzip des Staates". Binder lehnt deshalb auch ein Staatsverständnis ab, wie es der Vernunftrepublikaner Friedrich Meinecke in seinem Buch „Die Idee der Staatsräson" entfaltet hat. Meinecke hatte gerade die Spannung 37 38
Vgl. ebd., S. 33/34. Ebd., S. 21.
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zwischen Kratos und Ethos, „zwischen dem Handeln nach Machttrieb und dem Handeln nach sittlicher Verantwortung" 3 9 betont. „Machtpolitik oder Moralpolitik?" 4 0 - für Binder hat diese Alternative keinen Sinn. Sie habe ihre Wurzeln im Individualismus, in „dualistischen Vorstellungen, die dem Kritizismus entstammen", der zu einer „Zweiweltentheorie" 41 und zu einem „Dualismus in der Ethik" 4 2 führe, welcher vom idealistischen Standpunkt aus überwunden werden könne. Auch das Handeln des Staatsmanns habe sich an dem „eine(n) unverbrüchliche(n) Sittengesetz" zu orientieren, das dann allerdings dem Staatsmann im Unterschied zum Privatmann je nach Sachlage Verschiedenes gebieten könne. Derartige Differenzierungen dürften aber nicht mit einer „doppelten Moral" 4 3 verwechselt werden. D a für Binder Persönlichkeit und Gemeinschaft nicht sinnvoll als Gegensatz begriffen werden können, macht es auch keinen Sinn, einen Gegensatz zwischen Persönlichkeit und Staat als der organischen Organisationsform der nationalen Gemeinschaft zu behaupten. Weil die „Kulturgemeinschaft des Volkes" nur durch den Staat möglich werde, ergebe sich für den einzelnen die Aufgabe, „sich die Abhängigkeit seines Ich vom Staate bewußt zu machen, zu begreifen, ... daß das Ich nur möglich ist in der Gemeinschaft des Staates, der dann freilich aufhört, für ihn die Zwangsanstalt zu sein, und vielmehr zur Wirklichkeit der Freiheit wird" 4 4 , einen Gedanken, den Binder 39 F. MEINECKE, Idee der Staatsräson: „Zwischen Kratos und Ethos, zwischen dem Handeln nach Machttrieb und dem Handeln nach sittlicher Verantwortung, gibt es auf den Höhen des staatlichen Lebens eine Brücke, eben die Staatsräson, die Erwägung dessen, was zweckmäßig, nützlich und heilvoll ist, was der Staat tun muß, um das Optimum seiner Existenz zu erreichen. Darin liegt die gewaltige, nicht nur geschichtliche, sondern auch philosophische Bedeutung des Problems der Staatsräson ..." (S. 5). 40 J. BINDER, Staatsräson und Sittlichkeit, S. 15. Vgl. auch die Besprechung von Binders Schüler K. LARENZ „Die Sittlichkeit der Staatsräson" in den „Jungnationalen Stimmen". Binders Anliegen sei es nach Larenz „das Problem der moralischen Politik, das heute fast nur vom liberalen Standpunkt aus gesehen wird, einmal vom konservativen Standpunkt aus" zu erörtern. Typisch „liberal" sei es, die Spannung zwischen staatlicher Machtausübung und Sittlichkeit zu betonen. Dies sei ein typisches Gedankengut der Aufklärung, die die Sittlichkeit der Machtbetätigung verneine (ebd., S. 92). Kritisch zu Binders Position die Rezension von R. KRONER. Für Kroner ist Binders Schlichtungsversuch zwischen Staatsraison und Sittlichkeit zu harmonisierend. Er verwische „den antinomischen Zug im Wesen der Staatsidee" (S. 269). Binder übersehe, „daß die gesamte Sphäre des objektiven Geistes im Systeme Hegels die Stufe der Antithesis darstellt, d.h. aber überall die Stufe des unaufgelösten Widerspruchs. Daher kann auch die Versöhnung, welche die Gegensätze im Staate finden, keine endgültige und absolute sein" (S. 270). 41
J . BINDER, Staatsräson, S. 27.
Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. 44 BINDER, Rechtsphilosophie: „Aus dieser Idee aber ergibt sich für den Einzelnen die Aufgabe, sich die Abhängigkeit seines Ich vom Staate bewußt zu machen, zu begreifen, daß Staat und Ich keine Gegensätze sind, sondern daß das Ich nur möglich ist in der Gemeinschaft des Staates, der dann freilich aufhört für ihn die Zwangsanstalt zu sein, und vielmehr zur Wirklichkeit der Freiheit wird" (S. 618). Diesen Gedanken sieht Binder zutreffend dargestellt bei F. BRUNSTÄD, Idee der Religion, S. 199 f. 42 43
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besonders klar auch in Brunstäds Buch „Die Idee der Religion" entfaltet findet. „Gerecht" sei darum die Gestaltung des Staates, die ihm „die seinem eigenen Wesen entsprechende Stellung in diesem Lebenszusammenhang anweist, damit er in ihm lebendig werde, in ihm schaffe, so wie es seinem Wesen, seiner Persönlichkeit entspricht, wie es sein von Gott ihm gegebener Beruf ist, der ihn auf das Ganze hinweist und in dem sich doch zugleich der Sinn seines eigenen Seins erfüllt" 45 . Die Mitgliedschaft im Staat, die Gemeinschaft der Volksgenossen, sieht Binder durch deren ideelle Begründung auch begrenzt. Die mittels der Ideen weit über den Formalismus der kantischen Ethik hinaus angereicherte Sittlichkeit als Grundlage von Recht und Staat führt gerade wegen ihrer inhaltlichen Füllung zu einer Einengung des Kreises derer, für die das Recht gilt. Das Recht, Bürger eines Staates zu sein, könne nur dem zuerkannt werden, der die in den Ideen, d. h. im Gedankengut der Nation formulierten verbindenden Gehalte selbst anerkenne. Es sei daher „unrecht, einen Menschen in die staatliche Gemeinschaft aufzunehmen, der diese wesentliche Voraussetzung nicht erfüllt" (392). Das Bürgerrecht könne nur denen zugesprochen werden, die mit der Gesamtheit ihrer „Persönlichkeit", d. h. „die mit ihrem Sinnen, Denken und Schaffen teilhaben an der Individualität der Nation, deren Herzschlag sie in ihrem eigenen Herzen empfinden, deren Leiden und Freuden ihr eigenes Leiden und ihre eigene Freude ist... die mit Geist und Seele teilhaben an jenem großen erhabenen sittlichen Bewußtsein, das die Seele und das Leben eines Volkes bildet" (391). Daß die Freuden des Nationalgeistes auch zum Leiden des Individuums werden, d. h. Interessen auch konfligieren können, erscheint auf der Ebene einer Rechts- und Staatstheorie, die mit solch einer theoretisch prästabilierten Harmonie zwischen Gemeinschaft und individuellen Interessen in Form des „Geistes" arbeitet, offenbar undenkbar oder zumindest unsittlich. Damit wird aber ein entscheidendes Element nicht mehr wahrgenommen, in der gerade die ethische Relevanz einer Situation liegt, auf die das Recht einen Versuch der Antwort darstellt. Recht stellt einen Regelungsmechanismus dar für Konfliktsituationen, in denen ein Ausgleich zwischen den Interessen von Individuen mit zwangsfreien Mitteln, etwa durch die Herstellung eines diskursiven Einverständnisses oder den Appell zur Besinnung auf eine gemeinsame ethische Grundlage, nicht mehr greift. Im Recht reflektieren sich nicht die prinzipielle Vermittlungsfähigkeit von besonderem und allgemeinem Willen, sondern die faktisch immer wieder auftretenden Grenzen solcher Vermittlung. In solcher Ignoranz des für moderne Gesellschaften signifikanten Konfliktpotentials schlägt sich die Uberzeugung nieder, daß den eigenen Interessen der Individuen, die sich nicht mit dem Geist der Gemeinschaft decken, jede ethische Dignität abzusprechen ist. Die Negation solcher Selbständig45
J . BINDER, G e r e c h t i g k e i t , S. 41.
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keit führt dann auch zur Ablehnung der Elemente des politischen Systems, in denen sich die Möglichkeit solch eines Konfliktes reflektiert und die daher dem Schutz der Selbständigkeit des Individuums vor der Vergemeinschaftung seiner Freiheit dienen. Gewaltenteilung und Volkssouveränität lehnt Binder ab und damit die „liberale ... wie die demokratische Staatslehre", weil sie „ihre Wurzel im Individualismus haben" (537). Folgerichtig werden auch die „Grund- und Menschenrechte ..., die in allen liberalen Verfassungen an der Spitze stehen", als Strukturelemente einer auf dem Fundament des Transpersonalismus stehenden Verfassung abgelehnt, „weil sie das von der liberalen Theorie vorausgesetzte für sich seiende Individuum zum Gegenstand haben" (538).
4. Die Verfassung als materiale
Wertordnung
Unter den staatsrechtlichen Entwürfen der zwanziger Jahre, die auf eine „geisteswissenschaftliche" Neuorientierung zielten, ist keiner wirkungsgeschichtlich so erfolgreich gewesen wie Rudolf Smends „Integrationslehre". Smend ist weniger als Binder an philosophischen Grundlegungsproblemen orientiert. Sein Hauptinteresse gilt der an konkreten Funktionsproblemen orientierten Explikation eines neuen Verfassungsverständnisses. An Smends 1928 publizierter Studie „Verfassung und Verfassungsrecht" 46 läßt sich des46 R . SMEND, Verfassung, S. 119-276. Eine wichtige zeitgenössischen Kritik an der Integrationslehre formulierte H . KELSEN, Der Staat als Integration. Den politischen Gehalt von Smends Überlegungen, denen Kelsen mangelnde systematische Geschlossenheit und begriffliche Unscharfe anlastet, sieht Kelsen in der Bekämpfung der parlamentarischen Demokratie und ihres liberalen geistigen Fundaments: „Liberalismus ist heute auf allen Seiten, rechts nicht minder als links, in Mißkredit geraten, ein Vorstoß gegen ihn ist niemandem zuleide, kann sogar auf allgemeine Zustimmmung rechnen. Was liegt es daher näher, als den Parlamentarismus als Kind des Liberalismus und nicht als das, was er tatsächlich ist, als besondere Gestalt einer beschränkten Demokratie auszugeben?" (S. 83). O . HINTZE urteilte in seiner Rezension von „Verfassung und Verfassungsrecht".· „Der Verfasser ist ein abgesagter Feind des Liberalismus, den er gern mit dem Epitheton .staatsfremd' brandmarkt; seine Neigungen gehen mehr nach der faschistischen Seite. Faschistische Methoden sind aber für uns in Deutschland ausgeschlossen, aus mehr als einem Grunde; darum sollten wir einen Edel-Individualismus nicht verlästern, denn er ist die einzige moralisch-politische Kraftquelle, die uns in unserer gegenwärtigen Lage geblieben ist" (S. 238). In dem Artikel „Integrationslehre" im „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften" nahm SMEND selbst zur verwickelten Wirkungsgeschichte seiner Lehre Stellung: „Die Integrationslehre ist von konservativer Seite als ultrademokratisch, von liberaler und sozialistischer als faschistisch denunziert worden. Allerdings ist ihre sachliche Grundlage die politische Anschauung des Chaos des kranken Verfassungsstaates der 1920er Jahre gewesen, aus der das Anliegen erwuchs, demgegenüber den aufgegebenen gesunden Lebenssinn der Verfassung zu entwickeln" (S. 209). W. BAUER, Wertrelativismus, will die Interpretationsprobleme durch folgende Forderung lösen: „Grundsätzlich muß dabei scharf unterschieden werden zwischen allgemeiner Integrationslehre als Staatslehre und konkreter Integrationslehre zur Weimarer Verfassung. Eben die Vermengung dieser beiden Aspekte ist die Ursache des extrem verschiedenen Echos, das Smends Buch auslöste" (S. 263). Im Hinblick auf die Beurteilung der Wirkung in der Weimarer Republik läßt Bauer
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
halb eine wichtige Konkretion der geisteswissenschaftlichen Neuorientierung bzw. deren Relevanz für das Verfassungs- und Grundrechtsverständnis erkennen.
a. Integration als Lebensvorgang des Staates Das aus dem Ausdifferenzierungsprozeß der modernen Kultur resultierende Krisenbewußtsein und die Klage über den zersetzenden Pluralismus und Individualimus, die sich niederschlugen in dem verstärkten Bedürfnis nach neuer Einheitsstiftung und Festlegung substantieller Verbindlichkeit, wurden in Gestalt dieser Lehre ins Zentrum der verfassungsrechtlichen Diskussion gerückt und fanden in ihr eine spezifische Antwort: Der Staat soll zum starken Subjekt solcher EinheitsStiftung werden, und seine „Verfassung" wird nicht nur funktional in den Dienst der Ermöglichung solcher Einheitsstiftung gestellt, sondern soll selbst schon eine Lösung dieser Aufgabe darstellen. Damit die Verfassung dies leisten kann, wird in der Integrationslehre aber eine Transformation des Verfassungsverständnisses selbst vollzogen. Die Verfassung als positive Rechtsordnung wird zu einem Element eines umfassenderen Verfassungsverständnisses, das sich orientiert an der Verfassung als „geistig dynamischem Lebensprozeß", der in einer materialen Wertordnung, welche die Verfassungsurkunde nur positiviert, fundiert sein soll. Diese Erweiterung des Verfassungsverständnisses wird schon in Smends Verständnis des Gegenstands des Staatsrechtslehre angebahnt. Deren Gegenstand solle nicht nur die Verfassung als Rechtsordnung sein, sondern „die Gesamtheit der Funktionen und Einrichtungen,... durch die der Staat sich dauernd und immer von neuem zur Einheit integriert"47. Die Typologie der hinsichtlich der Einordnung keinen Zweifel: „Der Wunsch nach Integration schien von der Mitte der zwanziger Jahre an auf der Straße zu liegen ... E r bekommt den Rang einer moralischen E r satzvorstellung für die neokonservative Revolution gegen den Weimarer Systemstaat" (S. 264). „Die Integrationslehre liefert den Schlüssel eines heteronomen Eingriffs in das Weimarer Verfassungssystem zur Herstellung der einheitlichen Ordnung von oben" (S. 321). Smends Staatsanschauung sei „bis in den Kern mit antidemokratisch - konservativem Gedankengut durchtränkt" (S. 324). Die harmonistische Grundtendenz des Smendschen Ansatzes, die sich aus der Rezeption des romantischen Lebensbegriffs ergibt, kritisiert auch P. BADURA, Methoden: „Die M ö g lichkeit dieses automatischen Zusammenklanges der einzelnen Integrationsakte zu der einheitlichen Wirklichkeit des Staates, die Smend mit der wenig erhellenden Formel d e r , Wertgesetzlichkeit des Geistes' erklärt, bleibt im Halbdunkel der Terminologie Smends verborgen" (S. 187). K. SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, betont stärker das weiterführende Gedankengut des Smendschen Neuansatzes. E r notiert zwar, daß diese Lehre „nicht als Unterstützung der die Republik tragenden Kräfte, sondern viel eher als Hilfestellung für die gegen die Weimarer Republik opponierenden Anhänger eines antiliberalen Staatsgedankens empfunden" wurde (S. 84). Aber sie habe „doch zugleich Wege gewiesen, wie auch der auf liberalen Prinzipien beruhende parlamentarische Staat vor der Sinnentleerung und Desintegration bewahrt werden könnte" (S. 85). 47
R . SMEND, Politische Gewalt, S. 83.
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„Funktionen und Einrichtungen", d. h. der Integrationsfaktoren, stellt das wichtigste Instrumentarium für die Unterscheidung und Beurteilung von verschiedenen Staatsformen dar. Der Hauptgegensatz, auf den Smend sein Beurteilungsraster von Integrationsfaktoren aufbaut, ist der Gegensatz von „funktioneller Integration", in der „substantielle Gehalte des staatlichen Lebens höchstens in zweiter Linie"48 eine Rolle spielen, und „sachlicher Integration" 49 . Dieser Gegensatz reflektiert die gesamte Formalismus-, Rationalismus- und Liberalismuskritik der Zeit. Die von Smend unterschiedenen zwei wesentlichen Integrationstypen repräsentieren zwei unterschiedliche Modi der Einheitsstiftung. Das Beispiel einer „funktionellen Staatsform" sei der Parlamentarismus, „die typische Staatsform der bürgerlich-liberalen Kultur des 19. Jahrhunderts" 50 . Dagegen werden, wenn auch in unterschiedlicher Weise, Monarchie und Demokratie - letztere hat, darin stimmt Smend Schmitt zu, von ihrer Wurzel her nichts mit dem liberalen Parlamentarismus gemein51 - nicht durch die Festlegung bloß formaler Funktionsmechanismen, sondern durch eine „Wertfülle der Gemeinschaft", durch einen „Bestand von Werten und Wahrheiten"52 zusammengehalten. Welchem Modus der Integration Smends Interesse gilt, zeigt sein Verständnis der Aufgabe, die er der Staatsrechtslehre seiner Zeit gestellt sieht. Ihr Ziel müsse es sein, durch eine „materiale Staatstheorie" den „juristischen Formalismus" zu überwinden. Dazu sei eine „Erarbeitung der materialen - um nicht zu sagen soziologischen und teleologischen - Gehalte, die Voraussetzung und Gegenstand seiner Normen sind"53, notwendig. In der mittels der geisteswissenschaftlichen Methode möglichen Konzentration auf die Bedeutung der „sachlichen Gehalte" der Staatsverfassung liegt nach Smend der Ansatzpunkt für die Lösung eines zentralen Problems der Staatslehre, das bisher aber noch keine befriedigende Lösung gefunden hat: Wie ist in der Gegenwart eine „Vergemeinschaftung der individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gemeinwillens"54 möglich? Dieses Integrationsproblem wird freilich nicht nur von Smend zum zentralen Thema der neuen Staatsrechtslehre erklärt. Smend befindet sich hier vielmehr in ausdrücklicher Ubereinstimmung mit H. Heller. b. Der Staat als „geistige Wirklichkeit" Das entscheidende Mittel solcher „Vergemeinschaftung" sei der Staat, den es als „Teil der geistigen Wirklichkeit" (136) zu begreifen gilt. Die vom Gegen48
Ebd., S. 86.
49
R . SMEND, V e r f a s s u n g , S . 139 u n d 160.
50
R. SMEND, Politische Gewalt, S. 86.
51
R . SMEND, V e r f a s s u n g , S . 219.
52
R. SMEND, Politische Gewalt, S. 87; Verfassung, S. 221.
53
R . SMEND, V e r f a s s u n g , S. 1 2 4 .
54 R. SMEND, Verfassung, S.119. Alle weiteren Angaben im Text beziehen sich auf diese Abhandlung.
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
stand her geforderte Methode sei deshalb auch die „geisteswissenschaftliche Methode" (vgl. 119 und 126), deren philosophische Prämissen Smend allerdings selbst nicht weiter entfaltet, sondern aus der Kulturphilosophie, wie sie Theodor Litt im Zuge der Idealismusrenaissance der zwanziger Jahre entfaltet hatte, übernimmt. Durch die Litt-Rezeption gewinnt Smend die Grundannahmen über die Strukturgesetze des „geistigen Lebens", die die Voraussetzung seines Staats- und Verfassungsverständnisses bilden 55 . Ahnlich wie für Binder existiert für Smend im Gefolge Litts ein gegenüber dem individuellen Selbstbewußtsein hypostasiertes „Reich des ideell-zeitlosen Sinns" (138), an dem alles geistige und damit auch das politische Leben Anteil hat (130/131). Mit der Zauberformel der Dialektik werden empirische Realität und das „Reich des ideell-zeitlosen Sinns" in Beziehung gesetzt. Positives Recht und Staat als Kulturphänome erhalten ihren Sinn deshalb durch den Bezug auf diese „Wertgesetzlichkeit des Geistes". Im Staatsrecht sieht Smend „nur eine Positivierung jener geistesgesetzlichen Möglichkeiten und Aufgaben". Jene „Wertgesetzlichkeit" bedarf aber offenbar ihrerseits der Befriedigung, denn die in ihr beschlossenen „Möglichkeiten und Aufgaben" sind auf die „rechtliche Positivierung" angewiesen, „um sich dauerhaft und befriedigend (!) zu erfüllen" (139). Dieses „geistige Leben" müsse als ein Gesamtzusammenhang begriffen werden, der nicht im Sinne eines mechanistischen Denkens als aus „starre(n) Substanzen" (132) aufgebaut verstanden werden dürfe, sondern der aus einem System von „Wechselwirkungen" immer wieder neu entstehe. Deshalb sei auch „kein Moment begrifflich oder kausal aus einem anderen abzuleiten, sondern jedes nur aus dem Ganzen zu verstehen" (130). Das „Einheitsgefüge" selbst, die „Totalität" des geistigen Lebens, sei nichts Statisches. Es habe, darauf richtet sich Smends besonderes Interesse, Prozeßcharakter, sei „stets im Flusse, denn es sei nur wirklich, sofern es stets von neuem aktualisiert oder vielmehr neu hervorgebracht wird" (132). Von dieser dynamischen Totalität des geistigen Lebens her erscheint auch ein Grundproblem der Sozialphilosophie in einem neuen Licht, die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. Ausgangspunkt der Sozialphilosophie könne weder der isolierte einzelne noch ein vitalistischer Machttrieb sein. Vielmehr müßten Individuum und Gemeinschaft als wechselseitig einander zugeordnete Pole eines „geistigen Lebens" begriffen werden. Das Versagen der bisherigen Sozialphilosophie und auch der Staatslehre liegt nach Smend darin begründet, daß sie in einem Subjekt-Objekt-Dualismus befangen blieben, „Ich und soziale Welt in harter Substantialität einander gegenüber55 T. LITT, Individuum und Gemeinschaft. In seiner phänomenologisch ansetzenden Erörterung will Litt nicht die „logischen Formen", sondern die „Aufbauprinzipien dieses (des geistigen) Lebens selbst" darstellen (S. 26). Er will dazu mit Hilfe „phänomenologischer Bewußtseinsanalyse" einen Standpunkt jenseits „der Scheidung von Einzelwesen und sozialer Verbindung" einnehmen (S. 8). Als Darstellungsverfahren für diese Ganzheit erscheint ihm nur das „dialektische Denken" angemessen (S. 18 f.).
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gestellt" (125) haben und damit des entscheidenden Strukturgesetzes der geistigen Welt gar nicht ansichtig werden konnten. Im Zeichen der „geisteswissenschaftlichen" Neuorientierung gelte es, die Gegenstände einer „Wissenschaft vom geistigen Leben", „den Einzelnen, die Gemeinschaft, den objektiven Sinnzusammenhang nicht als isolierte Elemente, Faktoren, Träger oder Gegenstände des geistigen Lebens" aufzufassen, sondern als „Momente einer dialektischen Zusammenordnung" (126). Mit diesem Verständnis des „geistigen Lebens" sieht sich Smend in einer Traditionslinie mit der „deutschen klassischen Philosophie" Fichtes, Hegels sowie mit „Schleiermachers Polaritäts- und Oszillationsphilosophie", deren Bedeutung für das Staatsverständnis er bei Holstein dargestellt sieht. Auf Distanz weiß er sich demgegenüber zum neukantianischen Staatsdenken Georg Jellineks und Max Webers, die den Staat nur mechanistisch als Betrieb und Technik der Machtausübung verstehen (183 und 184). Diese Grundannahmen über die Struktur des geistigen Lebens bestimmen Smends spezifisches Verständnis des Staates. Der „Staat" sei als „Teil der geistigen Wirklichkeit", nichts statisch Vorhandenes, sondern wesentlich ein dynamischer geistiger Lebensprozeß: „Er lebt und ist da nur in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt, um Renans berühmte Charakterisierung der Nation auch hier anzuwenden, von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt." Dieser Prozeß ist es, den Smend als „Kernvorgang des staatlichen Lebens", als „seine Kernsubstanz", als „Integration" (136) bezeichnet. Solche Integration ist das „überempirisch aufgegebene Wesen" (139) des Staates. Empirisch feststellen ließen sich nur die Faktoren, die solche Integration bewerkstelligen und sich grob klassifizieren lassen in „formale Vorgänge verschiedener Art einer-, sachliche Gehalte von verschiedenstem Typus andererseits" (139). Mittels dieser Unterscheidung gewinnt Smend auch ein Muster zur Orientierung über die neuzeitliche politische Entwicklung. Sie zeichne sich einerseits aus durch die Tendenz zur „Ablösung sachlicher Integration durch funktionelle" (172). Mit dem mittelalterlichen Weltbild sei auch eine „unproblematische Wertgemeinschaft" zerfallen und habe die sachliche Integration an Kraft und Bedeutung verloren. Am Ende dieser Entwicklung stehe der „geistig atomisierte, entsubstantialisierte, funktionalisierte, neuzeitliche Mensch". Er lebe zwar nicht vollkommen ohne Werte, aber „ohne gemeinschaftsbildende, insbesondere traditionelle Werte" und sei deshalb verstärkt auf funktionelle Integration angewiesen, wie sie etwa das „formale Spiel des Parlamentsstaats" (172) darstelle. Andererseits lasse sich aber auch eine gegenläufige Tendenz feststellen, die Aufwertung nicht der „humanen Menschenwerte" , sondern der „zivilisatorischen Sachwerte" und damit der sachlichen Integration, wie sie sich besonders deutlich am „Niedergang des Parlamentarismus" (173) zeige. Im Prozeß des Zerfalls der Gemeinschaft zur „rationalisierten Gesellschaft" würden die ursprünglich „irrationalen" Gemein-
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schaftsgehalte transformiert in „rationalisierten, bewußten, formulierten Sinn- und Wertgehalt, wie ihn Staatsvertragslehren, Menschenrechte und moderne Staatstheorien und Parteiprogramme entwickeln" (173). Die Suche nach solchen formulierten Sachgehalten sei also trotz deren neuzeitspezifischer Zurückdrängung nicht zum Scheitern verurteilt. Sie müsse sich nur Parteiprogrammen und der Staatsverfassung selbst zuwenden. Dementsprechend ist für Smend eine der wichtigsten Fundquellen für Beschreibungen in der Gegenwart relevanter Integrationsvorgänge die Literatur des italienischen Faschismus (141). Dieser repräsentiert für Smend eine gelungene Synthese von formaler und sachlicher Integration. So zielt seine Rezeption der faschistischen Staatstheorie keineswegs auf Kritik. Denn zu den „starken Seiten" des Faschismus gehöre es, daß er die „Notwendigkeit allseitiger Integration mit großer Klarheit gesehen hat, bei aller Ablehnung des Liberalen und Parlamentarischen doch die Technik funktioneller Integration mit Meisterschaft handhabt und die abgelehnte sozialistische Sachintegration bewußt durch eine andere (nationaler Mythus, Berufsstaat usw.) ersetzt" (173). Zum Typus der funktionellen Integration rechnet Smend „Wahlen, parlamentarische Verhandlungen, Kabinettsbildungen, Volksabstimmungen". Deren Integrationswirkung hänge aber ab von einer Wertgrundlage, die von allen Beteiligten nicht in Frage gestellt werde, d. h. die funktionelle Integration habe letztlich doch die „Integration durch sachliche Werte" zur Voraussetzung. Die Legitimität einer politischen Ordnung gründet sich deshalb nach Smend auch wesentlich in solchen Werten oder Sachgehalten und nicht in nur formalen Funktionsmechanismen (166). Auf diese „Gemeinschaftsbegründung durch sachliche Wertgemeinschaft" (160) konzentriert sich daher Smends Interesse.
c. Gemeinschaftswerte als Integrationsfaktoren Die Gemeinschaftsbildung, auf die die sachliche Integration abzielt, wird in enger Relation zu den diese Gemeinschaft tragenden Werten entfaltet. Die Werte, auf denen solche Integration beruht, führen nach Smend „ein reales Leben", allerdings nur „vermöge der sie erlebenden und verwirklichenden Gemeinschaft". Aber „umgekehrt lebt auch die Gemeinschaft von den Werten" (160). Auch diese gemeinschaftsbegründenden Sachgehalte seien nicht statisch verfaßte Elemente. Sie müssten als „geschichtliche Wirklichkeit" (167) verstanden werden und sind als „Moment" des in der Geschichte sich vollziehenden Lebens eines Willensverbandes „ebenso im Flusse wie er als Ganzes" (165). Wie immer man dieses lebendige dialektische Wechselspiel und damit den eigentümlichen ontologischen Status der „Sachgehalte" oder „Werte" auch
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verstehen mag, eines ist jedenfalls deutlich: Gemeinschaft definiert sich wesentlich durch gemeinsame sachliche Werte. Der enge Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und diese integrierenden Werten lasse verstehen, warum im modernen Staat so wenig wahre Gemeinschaft zu entstehen könne. Die „Fülle" des „Sachgehalts der staatlichen Gemeinschaft" wirke sich negativ auf dessen Integrationskraft aus, denn der einzelne sei nicht mehr in der Lage, ihn in seiner Totalität zu überschauen. Dieser extensive Gehalt müsse deshalb symbolisiert, „gewissermassen in ein Moment zusammengedrängt, durch dieses repräsentiert werden". Durch diese Verdichtung und symbolische Repräsentation werde der extensive Sachgehalt dann für das Individuum intensiv erfahrbar und könne erst dadurch integrierend wirken (162). Solche Symbole, die eine „Repräsentation des geschichtlich-aktuellen Wertgehalts" in intensiver, vom Individuum erlebbarer Form darstellen, sind für Smend „Fahnen, Wappen, Staatshäupter, ... politische Zeremonien und nationale Feste". N u r mittels dieser Symbolisierungen „kann die Wertfülle des Staates als Ganzes mit intensiver und bewußter Integrationswirkung erlebt werden". Smend weist ausdrücklich auf die Bedeutung solcher Integrationssymbole hin. Sie eröffnen die „Möglichkeit erhöhtester staatlicher Inanspruchnahme des Einzelnen, etwa im Kriege" (164). In politischen Prozessen der symbolischen Verdichtung und Repräsentation extensiven Gehalts mit dem Ziel verstärkter Inanspruchnahme des einzelnen läßt sich nach Smend eine „Verwandtschaft zwischen der Integrationsbindung an den Staat und der religiösen an die Gottheit" erkennen. Auf solche Verwandtschaft zwischen religiösen und politischen Vorstellungen in einem „tieferen Sinn" aufmerksam gemacht zu haben, ist nach Smend ein Verdienst von Emanuel Hirschs „wichtiger Studie" über die „Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens". Auf der stärker praktischen Ebene gebe die „Politik des politischen Mythus bei Sorel und den Faschisten" ein Zeugnis von solcher Verwandtschaft (164 Anm. 15). Wo über der Extensität des Wertgehalts der staatlichen Gemeinschaft dessen intensive Erlebbarkeit verloren gehe, da sei Integration, die „Vergemeinschaftung der individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gemeinwillens" (118), nicht mehr möglich. Deswegen hat nach Smend auch die Distanznahme von der „Rationalisierung des politischen Denkens" ihren guten Sinn. Diese Rationalisierung sperre sich gegenüber solcher Symbolisierung und mache die „Erfassung des politischen Gehalts als Glaubensgehalt" (164) unmöglich. Sie stelle dadurch aber zugleich „jede politisch verbindliche Gestalt" (165) in Frage. Das Programm einer Suche nach neuer gemeinschaftsbegründender Substanz und überindividueller Verbindlichkeit unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Kultur - in Smends Worten: angesichts der „Fülle der Gehalte" - führt in der Integrationslehre letzten Endes zum Postulat der Notwendigkeit eines politischen Glaubens, eines „politische(n) Mythus" (164). Solcher Glaube an die gemeinschaftsbegründenden Gehalte ermöglicht jene
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Reduktion von Komplexität und ist Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit jener verdichtenden Symbolisierungen und Repräsentationen des extensiven Gehalts, die Integration und damit die Überwindung des Pluralismus und Individualismus erlauben. d. Verfassung als dynamische Lebensordnung des Staates Diese Überzeugung vom Wesen der staatlichen Gemeinschaft bildet das Fundament für Smends Verfassungsverständnis. Das Verfassungsverständnis des „juristischen Positivismus und Formalismus" (187) müsse überwunden werden, weil es den Charakter des politischen Lebens als eines über Werte sich immer wieder neu konstituierenden geistigen Vergemeinschaftungsprozesses nicht angemessen erfassen könne. Die Fülle dieses Lebens gehe in der festen Form positivierter Rechtssätze nicht auf. Unter Verfassung müsse deshalb im Sinne eines der politischen Wirklichkeit gerecht werdenden Begriffs „das (nicht notwendig rechtliche) Gesetz des politischen Gesamtlebens eines Staats" (187) verstanden werden. Die Verfassung sei die dynamische Ordnung des Lebensprozesses, der den Staat ausmacht, ein „ideelles Sinnsystem" (188), dessen Struktur nur erfaßt werden könne, wenn auch die „soziologischen Kräfte neben dem geschriebenen Verfassungstext" (189) mit berücksichtigt würden. Die Kehrseite dieses erweiterten Verfassungsverständnisses ist allerdings, daß mit ihm ein Ansatzpunkt für die Schwächung des normativen Gehalts der Verfassung im engeren Sinne, der Verfassung als Rechtsordnung, formuliert wird 56 . Die Verfassung als Rechtsordnung steht gemäß diesem Verständnis unter der Forderung, sich jeweils „den veränderten Zeiten und Umständen" (241) anzupassen, damit sie die Aufgabe der Integration erfüllen kann. Damit wird die Verfassung im weiteren Sinne selbst zu einem die Rechtsordnung normierenden Faktor. Weitere Präzisionen, wie sich das erweitere Verfassungsverständnis zur Verfassung als Rechtsordnung verhält, finden sich bei Smend nicht. Bemerkenswert ist aber, daß das positive Recht in Smends Typologie der Integrationsfaktoren keine wichtige Rolle spielt. Auch in der Bestimmung der Aufgabe, die die Verfassung zu erfüllen hat, nimmt Smend gegenüber dem liberaldemokratischen Rechtsdenken eine aufschlußreiche Verschiebung vor. Vom Schutz des Individuums, der Sicherung seiner Selbständigkeit und der Gewähr seiner Partizipationsmöglichkeiten ist 56 R . SMEND hat dies selbst eingeräumt in seinem Artikel „Integrationslehre". Als „Einseitigkeiten und Mängel der Integrationslehre" nannte Smend: Aus dem Bemühen um „die weitgehende Ineinssetzung von N o r m und Faktum" sei „die Spannung zwischen beiden und die Eigenart des Rechtes", auch „des Verfassungsrechtes" zu kurz gekommen. D a s „staatliche Einheitsgef ü g e " sei „überschätzt" und „die Einordnung des Einzelnen zu unproblematisch gesehen" worden (S. 301). Vgl. zur Kritik auch K . HESSE, Normative Kraft.
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nicht mehr die Rede. Das Interesse gilt dem Aufbau der Selbständigkeit bzw. der Staatlichkeit des Staates, der Frage, wie der Staat seine Totalität entfalten kann. Der „Sinn" des staatlichen Lebensprozesses, dessen Struktur die „Verfassung" ist, und damit auch der Sinn der „Verfassung" selbst ist für Smend die „immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates" (189). Das Individuum kommt zwar vor in diesem Lebensprozeß, aber primär als zu integrierendes, zu vergemeinschaftendes, nur als Moment eines Lebensprozesses, der auf die Herstellung seiner eigenen Totalität zielt. Der eigentliche „Sinn" der Aussage, daß der Staat „sich lediglich ... integriert vermöge der objektiven Wertgesetzlichkeit in einem in sich gravitierenden Integrationssystem" (195), ist in dieser Betonung der Eigenständigkeit des Staatslebens gegenüber individuellen Interessen zu suchen. Die Verfassung als Instrument zum Schutz der Freiheit des Individuums verliert an Bedeutung gegenüber ihrer Aufgabe, die politische Handlungsfähigkeit des Staates immer wieder neu herzustellen. Daß die Verfassung in der Integrationslehre in den Dienst der Herstellung der Staatlichkeit des Staates gestellt wird, läßt sich dann auch an Smends Interpretation der Gewaltenteilung, „eines Kernpunktes unserer Verfassungen", ablesen. Entfaltete Montesquieu die Gewaltenteilungslehre noch im Geiste einer „rationalistischen Staatsmechanik" - an die zeitgenössischen polemischen Konnotationen von Begriffen wie „Rationalismus" und „Mechanik" sei erinnert so hat erst Hegel für Smend deren wahren Sinn herausgearbeitet. Gewaltenteilung bedeute bei Hegel „die lebendigste Durchdringung aller gesellschaftlichen Sphären durch den Staat zu dem allgemeinen Zwecke, alle vitalen Kräfte des Volkskörpers für das Staatsganze zu gewinnen". In dieser Aufgabenbestimmung sieht Smend „genau" den Integrationsbegriff seines eigenen Ansatzes formuliert (206).
e. Grundrechte als sachliche Integrationsfaktoren Wenn die Verfassung selbst der Integration dient, diese aber wesentlich „sachliche Integration" ist, dann müssen sich auch in neuzeitlichen Verfassungen „integrierende Sachgehalte" nachweisen lassen. In der Herausarbeitung solch eines integrierenden Sachgehalts moderner Verfassungen findet das Smendsche Verfassungsverständnis seine entscheidende Zuspitzung. Mit einem Blick auf die Geschichte des Verfassungsverständnisses bereitet Smend seine eigene Interpretation vor. Schon die Geschichte zeige die fundamentale Bedeutung solcher Sachgehalte. Seinen Ausgangspunkt habe das moderne Verfassungsverständnis im „Gesetzesbegiff des Naturrechts", der alles andere als eine inhaltsleere Form dargestellt habe. Das Gesetz habe als Formulierung des „ordre naturel" gegolten und damit ein hohes Maß „materiale(r) Fülle" (215) umfaßt. Diese im Gesetzesbegriff nur positivierte materiale
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Fülle einer vernünftigen Grundordnung des Zusammenlebens habe dem frühmodernen Staat auch seine „spezifische Legitimität" gegeben. Durch die „Positivierung" und „Formalisierung" dieses Gesetzesbegriffs sei es dann aber zu seiner inhaltlichen „Entleerung" und damit auch zu einem Legitimitätsschwund der politischen Ordnung gekommen. Die Erkenntnis dieses Defizits habe die Verfassungsgesetzgeber dazu geführt, sich erneut um eine inhaltliche Formulierung der materialen Voraussetzungen zu bemühen und diese in Gestalt „übergeordneter Normen" in die Verfassung selbst einzubauen, um damit eine Stärkung der Legitimationsbasis der politischen Ordnung zu erreichen. „Das ist der legitimierende Sinn der Menschenrechte, den späteres liberales Mißverständnis zugunsten ihrer sekundären, staatsbeschränkenden Funktion völlig übersehen hat" (216). Smend geht es demgegenüber um eine neue Würdigung der aus seiner Sicht primären Funktion der Grundrechte: Sie sollen als sachliche Integrationsfaktoren und entscheidendes Fundament der Legitimität der staatlichen Ordnung (vgl. 217) gestärkt werden. Denn „Legitimität ist... wesentlich Integration durch sachliche Werte" (226). In Smends Verfassungsverständnis erhalten die Grundrechte damit als sachliche Integrationsfaktoren eine entscheidende Bedeutung, die allerdings signifikant abweicht von ihrer Funktion als Abgrenzungsrechte zum Schutze des Individuums. Smend nimmt denn auch in Anspruch, die Sicht der Bedeutung der Grundrechte als entscheidende sachliche Integrationsfaktoren neu in die Verfassungstheorie eingebracht zu haben (vgl. 260). Mit dieser Interpretation sieht er sich allerdings in Ubereinstimmung mit der Intention, die F. Naumann bei seinem Eintreten für den Grundrechtskatalog in der Nationalversammlung leitete, die bei ihm aber noch nicht verfassungstheoretisch reflektiert gewesen sei. Naumanns Anliegen sei es gewesen, eine „Anzahl grundlegender Elemente" 57 eines „Kultursystems als oberstes Gesetz des Landes normativ" in Gestalt des Grundrechtskatalogs zu verankern. Da dieses „Kultursystem" seine spezifische Prägung in der Geschichte erhalten habe, sei auch der in den Grundrechten formulierte sachliche Gehalt „ein geschichtlich begründetes und bedingtes Ganzes", dessen Sinn sich nur einer „geistesgeschichtlichen Bearbeitung" (266) erschließe. Die Notwendigkeit zu einer Positivierung des „Kultursystems", den damit verbundenen Bedeutungszuwachs der Grundrechte und deren Funktionsverschiebung sieht Smend im Fortfall der Monarchie begründet. Der Bedeutungszuwachs „liegt nicht, wie eine liberalisierende Verfassungsauslegung meint, in ihrer Rolle als gesteigerter Minderheitsschutz gegenüber der Gefahr des Parlamentsabsolutismus, sondern darin, daß die Grundrechte mindestens ihrer Intention nach einen Teil der Funktionen des monarchischen Verfassungselements übernommen haben" 58 . Die Monarchie habe „den 57 58
R . SMEND, Recht der freien Meinungsäußerung, S. 92. E b d . , S. 95.
Die Verfassung als materiale Wertordnung
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geschichtlichen Charakter der Staatsindividualität in seiner irrationalen Fülle" repräsentiert und symbolisiert und damit die Legitimation des politischen Systems getragen. Ihr gegenüber erkennt Smend auch einer „liberale(n) Grundrechtsinterpretation ein gewisses Recht (zu), die in den Grundrechten wesentlich Beschränkungen von Staat und Staatsgewalt sieht" 59 . Der Wegfall der Monarchie hinterlasse ein Vakuum, das andere Verfassungselemente und hier an erster Stelle die Grundrechte ausfüllen müßten. Der Sinn des Grundrechtskatalogs der Weimarer Verfassung ist es nach Smend, „ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem" zu normieren, und zwar „als nationales, als das System gerade der Deutschen, das allgemeinere Werte national positiviert" (264). Dieser Funktionszuwachs der Grundrechte bedingt zugleich einen entscheidenden Funktionswechsel. Sie sind nicht mehr länger „Schranken, sondern Verstärkungen des Staates und der Staatsgewalt" 60 . Für den einzelnen Bürger bedeutet dies: In der Verfassung wird nicht seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit geschützt, sondern er wird funktional betrachtet als „Moment" des auf die Herstellung seiner Totalität gerichteten staatlichen Lebensprozesses. Nicht als Bourgeois, sondern als Staatsbürger, als Glied der Gemeinschaft der Polis, sprechen die Grundrechte im Smendschen Sinne vom Individuum. Nicht die Freiheit vom Staat, sondern die Freiheit, genauer die Pflicht zum Staat ist ihr Thema. Mit dieser Veränderung des Verständnisses der Grundrechte trage die Verfassungstheorie der gewandelten geschichtlichen Lage und Verschiebung auf der Ebene der soziologischen Kräfte nur Rechnung. Für Smend geht das bürgerliche Zeitalter im Sinne der Bourgeoisie zu Ende 61 und damit auch der „bürgerliche Rechtsstaat" „als ein System unpolitischer Abwehr und Distanzierung eines innerlich unpolitischen und staatsfremden Bürgertums gegenüber dem Staat" 62 . Auch die „altliberale Theorie der Grundrechte" 63 , die diese nur als Abwehrrechte, als Mittel zur „Emanzipation des Individuums vom Staat" interpretiert habe, verliere damit ihre Existenzberechtigung. Smends neues Grundrechtsverständnis geht nicht mehr vom unpolitischen, „klugen und eigennützigen Individualisten" 64 aus, sondern vom Gedanken „des sittlich an den Staat gebundenen Bürgers" 65 , vom einzelnen, der sich seines „sittlichen Berufs" 66 als Staatsbürger bewußt ist und sich in den Dienst der Gemeinschaft, deren Lebensform der Staat ist, stellt. Dementsprechend dürfe auch die Weimarer Verfassung als Kodifikation eines spezifisch deutschen Kultursystems nicht mehr im „bourgeoisen Sinne" 59
Ebd., S. 93. Ebd., S. 93. Vgl. auch Verfassung, S. 267. " R. SMEND, Bürger und Bourgeois, S. 324. 62 Ebd., S. 314. 63 Ebd., S. 313. 64 Ebd., S. 313. 65 Ebd., S. 322. 66 Ebd., S. 320. 60
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D i e Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
mißverstanden werden. Werde sie im Sinne liberaler Staatsfremdheit interpretiert, sei sie nichts mehr als die Festschreibung einer Lage, „in der jeder nur das Seine und nicht das Ganze sucht, sich nicht dem Ganzen verpflichtet weiß", dann sei sie „eine Organisation des Pluralismus". Dieser ist für Smend nichts anderes als ein „anarchische(s) Nebeneinander der politischen Gruppen" . Die Verfassung wäre dann nur „die Beurkundung eines ... Handelsgeschäfts zwischen Interessenhaufen" 67 , damit aber letzten Endes keine Verfassung. N u r wenn in der Grundorientierung der Bourgeois durch den „sittlich gebundenen Bürger" ersetzt werde, bleibe der „Grundgedanke der Verfassung erhalten, ein Volk in die Form zu bringen, in der es handelnde Einheit wird und seine geschichtliche Aufgabe erfüllen kann, die ihm gestellt ist, die Form zu sein, in der wir alle zusammen unseren gemeinsamen geschichtlichsittlichen Beruf als Nation ergreifen" 68 .
5. Die neue Bedeutung der Grundrechte
a. Grundrechte als Kodifikation politischer Weltanschauung Nach Überzeugung der Staatsrechtslehrer, die einen auf Überwindung des Rationalismus, Formalismus, Individualismus und Liberalismus zielenden methodischen Neuaufbruch forderten, spitzte sich die Suche nach neuer Verbindlichkeit zu und fand ihre Antwort in einer Neuinterpretation der Grundrechte der Weimarer Verfassung. Sie sahen in diesen materialen Elementen der Verfassung, auf der Linie der Smendschen Interpretation als Normierung eines nationalen Wert- oder Kultursystems, die „Gesinnungsgrundlage" oder die „programmatische Bekenntnisgrundlage des Deutschen Reiches" 69 , in der sowohl das aus der Geschichte erwachsene Substrat der „deutschen Rechtskultur" positiviert ist als auch die Leitideen für die zukünftige Gestaltung des politischen Systems formuliert sind. Mittels dieser ,Bekenntnisgrundlage' hoffte man, zu jener Eindeutigkeit zu gelangen, die es erlauben soll, den Relativismus und Pluralismus der Weltanschauungen und die damit verknüpfte Schwächung der Autorität des Staates zu überwinden. Von dieser ,norma normans' aus, der in den Grundrechten sich manifestierenden politischen Weltanschauung', sollte dann das gesamte Rechtsystem interpretiert und gegebenenfalls, besonders in seinen verfahrensrechtlichen Elementen, modifiziert werden 70 . 67 68 69
Ebd., S. 323. Ebd., S. 323/324. H . HELLER, G r u n d r e c h t e , S. 287.
Vgl. auch G. HOLSTEIN, Reichsverfassung: „So sind die Grundrechte zu einer Bedeutung gelangt, die weit über das hinausgeht, was man in der ersten Zeit nach Verabschiedung der Verfassung in ihnen zu sehen glaubte: sie sind, wie man mit Recht gesagt hat, Niederschlag und zu70
D i e neue Bedeutung der Grundrechte
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Der Staatsrechtslehrer Albrecht Hensel betrachtet es in seiner Abhandlung „Grundrechte und politische Weltanschauung" aus dem Jahr 1931 als die „würdigste Aufgabe der um Verfassungserkenntnis Bemühten" 71 , die politischen Ideen, den „Mutterboden" 72 aller Institutionen und Grundrechte, in ihrer Bedeutung für die Auslegung angemessen zu berücksichtigen. Die „geisteswissenschaftliche" Öffnung der Rechtswissenschaft für die Welt der politischen Ideen schlägt sich nieder in einer These Hensels, die auch den Ansatzpunkt für die über diese Öffnung sich vollziehende Politisierung des staatsrechtlichen Denkens zu erkennen gibt: „Jede Rechtsordnung enthält gewisse werthafte Grundvorstellungen, die lediglich auf einen in seiner Richtigkeit nicht mehr beweisbaren, aber doch erkennbaren politischen Willen zurückgehen" 73 . Hier wird nicht nur die Fundierung einer Rechtsordnung in einer Wertordnung betont, sondern für die Verständigung über diese Wertordnung im Zentrum der Rechtswissenschaft eine definitive Grenze wissenschaftlichen Bemühens benannt, die zur politischen Entscheidung nötigt. Dieser These entsprechend formuliert Hensel ein Postulat, an dem sich die neue Sicht der Bedeutung der Grundrechte in der Staatsrechtslehre ablesen läßt: „Ein Grundrechtssystem soll die Grundentscheidungen einer bestimmten politischen Weltanschauung zu einer widerspruchslosen Einheit zusammenfassen. Diese Einheit soll sich als Werteinheit in der gesamten auf das Grundrechtssystem aufgebauten Rechtsordnung manifestieren" 74 . In der Grundrechtsinterpretation spiegeln sich, wie dieses Postulat erkennen läßt, sowohl das von den Zeitgenossen als Relativismus beklagte Problem des gesellschaftlichen Pluralismus als auch die Richtung, in der die Lösung gesucht wird. Auf diesen Pluralismus, den die Grundrechte der Weimarer Verfassung zunächst widerspiegeln 75 , wird mit der Forderung nach Eindeutigkeit, die es durch die neue Interpretation der Grundrechte allererst zu erzielen gilt, geantwortet. Nicht in verfahrensrechtlichen Regelungen des Umgangs mit konkurrierenden Weltanschauungen, sondern in der Konstruktion einer gleichsam neuen ,Einheitskultur', deren Substanz in Gestalt des Verfassungrechts selbst formuliert werden soll, wird die entscheidende ethische Herausforderung gesehen. In der Logik dieser Funktionszuschreibung liegt es, das Verfas-
gleich Neufundamentierung unserer großen historisch gewordenen Rechtskultur, der zugleich wesentliche Ansätze zu künftiger Rechtsentwicklung, insbesondere sozialer Art, eingeordnet sind" (S. 9). Holstein sieht es als Aufgabe der Staatsrechtslehre an, vom neuen Verfassungsverständnis aus, wie es etwa Smend ausgearbeitet hat und in dem die Grundrechte eine neue bedeutende Rolle spielen, ihren Beitrag zu „einer ganz neuen ethischen Grundhaltung unseres politischen Lebens" zu leisten ( S . 20). 71
A . HENSEL, G r u n d r e c h t e , S. 6.
E b d . , S. 7. E b d . , S. 8. 74 E b d . , S. 74. 75 Vgl. S. 26 f. 72 73
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
sungrecht dann selbst als Formulierung eines einheitlichen und eindeutigen „weltanschaulichen Bekenntnisses" auszulegen.
b. Grundrechte als gemeinschaftsbildende Aufbaurechte Diese politische Weltanschauung, die die Vertreter des methodischen Neuansatzes in den Grundrechten der Weimarer Verfassung aufgrund ihrer theoretischen Voraussetzungen ,finden', läßt sich darstellen an einem Aufsatz von Ernst Rudolf Huber, in dem er 1933 unter dem Titel „Der Bedeutungswandel der Grundrechte" eine Zusammenfassung der staatsrechtlichen Diskussion um die Neuinterpretation der Grundrechte auf „ideengeschichtlicher" Grundlage publizierte 76 . Die allgemeine These über einen Zusammenhang „zwischen rechtlicher N o r m und geistiger Wirklichkeit" 77 (2) gilt nach Huber bei den Grundrechten in gesteigertem Maße. Die von Smend vollzogene Dynamisierung des Staats- und Verfassungsverständnisses, die Ersetzung vermeintlich starrer, inhaltsleerer Formalität durch die dynamische Lebensfülle der geistigen Welt, nimmt Huber in der Behauptung auf, daß die Grundrechte - im Gegensatz zu verfassungsorganisatorischen Bestimmungen - in besonderem Maße von Veränderungen der geistigen Lage betroffen seien. Die Grundrechte würden 76 E. R . HUBER, Bedeutungswandel. An Smend knüpft positiv auch G . GIERE, Problem des Wertsystems, an. Für ihn ist die „Demokratie... als Trägerin sachlicher Gemeinschaftswerte, die allen Staatsbürgern ,zumutbar' sind, ... spezifisch intolerant. Minderheitenschutz ist ein liberaler Gedanke" (S. 47 auch 96 f). Zum Uberblick über die neuere Diskussion vgl. exemplarisch A. BLECKMANN, Grundrechtslehren; Η . H . KLEIN, Grundrechte. Zur an Smend anschließenden Interpretation von Huber und Leibholz insbesondere S. 26-28. „Beide wenden sich gegen den negatorischen Charakter der Grundrechte und heben die sittliche Verpflichtung des Individuums gegenüber dem Ganzen hervor" (S. 26). Nach dem Urteil Kleins läßt sich aus dieser Grundrechtstheorie „eine Tendenz mit Sicherheit entnehmen: sie schafft die Möglichkeit verstärkter Inpflichtnahme des einzelnen für den Staat. Deren Grenzen bleiben in Dunkel gehüllt. Dadurch bleibt Spielraum für schwer oder gar nicht kontrollierbares Einfließen subjektiver Überzeugungen in die Grundrechtsinterpretation" (S. 28). E.-W. BÖCKENFÖRDE, Grundrechtstheorie, notiert die Gefahren des von Smend und Huber vertretenen Grundrechtsverständnisses: „Stellen sich die Grundrechte als Werte und Ausdruck von Wertentscheidungen dar, so liegt es in der Konsequenz, daß ihre Interpretationen, wie es R . Smend gefordert und praktiziert und E. Forsthoff kritisch gewürdigt hat, in erster Linie eine Sache rein geisteswissenschaftlicher Bearbeitung wird ... Dem Einströmen zeitgebundener und ggf. rasch wechselnder Wertauffassungen und Werturteile in die Grundrechtsinterpretation ist damit - bewußt - die Tür geöffnet" (S. 233). Da es „bisher weder eine rationale Begründung für Werte und eine Wertordnung überhaupt noch ein rational erkenn- und diskutierbares Vorzugssystem zur Bestimmung der Rangfolge von Werten" gebe, erzeuge eine damit operierende Rechtssprechung nur „einen rationalen Schein ... Praktisch gesehen bedeutet sie eine Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus" (S. 235). 77 Alle weiteren Angaben im Text beziehen sich auf E. R . HUBER, Bedeutungswandel der Grundrechte.
Die neue Bedeutung der Grundrechte
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„von jeder geistigen Entwicklung der Nation empfindlich berührt" (12). Die eigentliche Zuspitzung findet diese dynamische Sicht aber in der Forderung, daß sich die Grundrechte dieser „geistigen Entwicklung der Nation" entsprechend aktualisieren müßten. Die Grundrechte als Normen geraten damit in den Sog der politischen Veränderungen. Für Huber „führt die dauernde geistige Umformung der Nation zu einer selbstverständlichen Änderung der rechtlichen Funktion der Grundrechte" (12). Die entscheidende Änderung, die sich auch in der rechtlichen Funktion der Grundrechte niederschlagen muß, ist die Uberwindung des liberalen Rationalismus und Individualismus, die zu einer Wandlung des Freiheitsverständnisses führt und sich in der Transformation des Grundrechtsverständnisses konkretisiert. Der Bedeutungswandel der Grundrechte besteht in der Herausarbeitung ihres „verfassungspolitischen Sinn(s)" (13). Dieser ist zunächst identisch mit der „Entwertung der liberalistisch-individualistischen Grundrechtsgarantie" (13; vgl. auch 10). In Entsprechung zur Entgegensetzung von Liberalismus und Demokratie vollzieht sich die Auflösung des liberalen Gehalts der Grundrechte als dessen „Demokratisierung": „Der entscheidende Wandel des Sinngehalts besteht darin, daß die Grundrechte als Ganzes heute nicht mehr individuelle Freiheiten der selbstherrlichen Persönlichkeiten umschreiben, sondern Ordnungsprinzipien im Rahmen eines demokratischen Volksstaates geworden sind" (84). Rein formal hält Huber daran fest, daß die Grundrechte die Beziehung zwischen dem einzelnen und dem Staat regeln, aber die inhaltliche Bestimmung dieser Relation verschiebt sich zur Prädominanz des Interesses an Aufbau und Erhaltung staatlicher Einheit gegenüber allen anderen Staatszwekken. Das Individuum kommt nur noch als in das Volk eingebundener und vergemeinschafteter „Staatsbürger" in den Blick. Dabei ist gerade der Demokratiebegriff das Mittel, um solcher Integration Geltung zu verschaffen. Freiheit ist für Huber allein als Grund für die Pflicht zum Staat von Bedeutung, d. h. als „politische Freiheit". Dementsprechend gilt es in den Grundrechten nicht Abwehrrechte, sondern Aufbaurechte zu sehen. Die Demokratie „lebt nicht vom ,status negativus', sondern von einem aktiven Status des Einzelnen ... Das Grundrecht ... darf also in einem gesunden demokratischen Staatssystem nicht negativen, abwehrenden, es muß positiven, aufbauenden Charakter haben" (7). Nur wenn der einzelne im Sinne solcher „Freiheit zum Staat" lebe, aus seiner „Abwehrstellung" heraustritt und „sich mit allen Kräften als aufbauendes Element in das Staatsganze" einfügt, kann für Huber mit Recht von einer Überwindung obrigkeitsstaatlichen Denkens gesprochen werden (7/8). Damit werde die Intention Friedrich Naumanns erfüllt, der die Grundrechte als einen „staatsbürgerlichen Volkskatechismus"(9) für den demokratischen Volksstaat verstanden wissen wollte. Im entscheidenden Wandel von der Abwehr- zur Aufbaufunktion der Grundrechte bildet sich nach Huber nicht nur ein Wandel des Freiheitsver-
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
ständnisses ab. Hinter ihm verbirgt sich letztlich der Gegensatz unterschiedlicher politischer Kulturen, der mittels der geisteswissenschaftlichen Sicht in die Grundrechtstheorie eingeholt und in ihrer Sprache reformuliert werden kann. Die Aufbaufunktion stehe in der Tradition der „alten englischen Volksrechte", die „keine individualistische Aufspaltung, sondern eine innere Gliederung der Rechtsordnung" (4) bedeuteten und „konstituierende Verfassungsprinzipien" (6) gewesen seien. Erst das „rationalistische Naturrecht" und der Einfluß der „religiösen Emanzipation" ließen aus diesen Volksrechten „subjektive Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat" entstehen. Dabei ist schon die Terminologie Hubers aufschlußreich für sein Urteil hinsichtlich dieser Veränderung: „John Locke und Blackstone haben in ihren philosophischen Systemen die Volksrechte in individuelle Freiheitsrechte umgebogen" Diese Abwehrfunktion, das Ergebnis der ,Umbiegung', wird dann zum entscheidenden Element der Tradition des nordamerikanischen und französischen Grundrechtsverständnisses. Für Huber ist besonders der Sinn der nordamerikanischen Freiheitsrechte problematisch. „Heranführung des Volkes zum Staat, Zusammenfügung von Herrscher und Volk, Aufbau des Staates aus der natürlich gegebenen volklichen Gliederung" - all das ist für dieses Grundrechtsverständnis irrelevant, denn ihm liegt ein „konsequent individualistischer Rechtsbegriff zugrunde" (6). Von der Abwehrfunktion gilt es zur ursprünglichen Aufbaufunktion zurückzukehren, denn nur so kann die „pluralistische Zersetzung" staatlicher Autorität durch „innere Gliederung der staatlichen Einheit" (81/82) überwunden werden. Die mit dieser Revisionsforderung vollzogene Neutralisierung des liberalen Individualismus und der ihr korrespondierende Aufbau einer starken Staatsmacht läßt sich schon an der Einteilung ablesen, die sich für Huber als zusammenfassende Systematisierung aus der staatsrechtlichen Diskussion über den Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung herausschälen läßt. Seine Darstellung orientiert sich an einer „fünffache(n) Stufung" der Grundrechte: „liberale Freiheitsrechte, allgemeine Rechtsprinzipien, Institutsgarantien, organisatorische und korporative Gewährleistungen" (15). Bis auf die liberalen Freiheitsrechte beziehen sich die so klassifizierten Grundrechte nicht mehr auf das Individuum, sondern auf überindividuelle Konstrukte, die dem Zugriff parlamentarischer Gesetzgebung entzogen werden sollen. Gegen den Revisionsprozeß müssen sich am stärksten die liberalen Freiheitsrechte sperren. Hubers Darstellung verdient hier besondere Aufmerksamkeit, denn an ihr muß sich nicht nur die, Kunst' der Umdeutung des Gehalts der Grundrechte am stärksten zeigen, sondern auch die Grundrichtung ihrer gewandelten Bedeutung am deutlichsten hervortreten. Die Bedeutung des Wandels von der „bürgerlich-individualistischen" zur „politischen" Freiheit läßt sich exemplarisch erläutern durch eine kurze Betrachtung der
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Huberschen Interpretation vier klassisch liberaler Grundrechte: des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, des Grundrechts auf Gleichheit vor dem Gesetz und des Rechts auf Religionsfreiheit. Der Grundtenor des Bedeutungswandels läßt sich schon an Hubers Hinweis ablesen, daß die Mehrzahl der Grundrechte unter „Diktaturvorbehalt" stehen, d. h. vorn Reichspräsidenten auf der Grundlage von Art. 48. Abs 2 der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft gesetzt werden können. „Daraus ergibt sich mit Deutlichkeit, daß die Freiheit des Einzelnen den Staatsnotwendigkeiten durchaus hintangeordnet ist und daß der in diesen Freiheitsrechten verbriefte individuelle Wert hinter dem im Staat verkörperten politischen Wert unbedingt zurücktreten muß". Der Diktaturvorbehalt sei ein Indikator dafür, daß das diesen Grundrechten zugrunde liegende Freiheitsverständnis „langsam verblaßt" und sich ein „bemerkenswerter Wandel" (16) ihres Sinngehalts anbahne. In Gestalt des Diktaturvorbehalts komme eine klare Rangordnung im Hinblick auf das Verhältnis von Staatsinteresse und individuellem Einzelinteresse zum Ausdruck. An ihm zeige sich, daß dem Staat das Recht zugesprochen werde, seine „Einheit ... gegenüber der individualistischen Emanzipation zu wahren" (18). Im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung liege ein solches klassisch liberal-individualistisches Recht vor. In enger Anlehnung an C. Schmitts Kritik des Parlamentarismus sieht Huber hinter diesem Recht den „spezifisch liberalen Gedankengang, daß gerade aus dem ungehemmten Zusammenklingen der individuellen Meinungen die Enfaltung einer vorgeformten Harmonie objektiver Gemeinschaftswerte erwartet wird" (20). Im Jahr 1933 stehen die Grundrechte nicht mehr im Dienst des Schutzes eines liberal-aufgeklärten Individualismus, sondern, wie Smends Integrationslehre für Huber überzeugend bewiesen hat, im Dienst des Schutzes der Kultur, die vor allem durch die „nationalen und christlichen Werte" geprägt ist. „Daraus ergibt sich, daß die bestehenden Gesetze die freie Äußerung einer Meinung auch wegen ihres Inhalts beschränken können, wenn diese Meinung mit den nationalen und christlichen Werten des Gemeinschaftslebens nicht vereinbar ist" (21). Die „Notwendigkeiten der nationalen Einheit" (23) sind von höherem grundrechtlich zu schützendem Rang als die aufklärerische Forderung nach Meinungsfreiheit und Zensurverbot. In der Deutung des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit rekurriert Huber im Sinne Smends auf die Bedeutung der „soziologische(n) Änderung", die dazu nötige, das Gesetz „den politischen Bedürfnissen" (24) anzupassen. Die Entstehung der Massengesellschaft habe eine „Wandlung des Volkskörpers" (25) bewirkt, dem auch die politischen Organisationsformen Rechnung tragen müßten. Im Gegensatz zu den „idyllischen Veranstaltungen früherer Epochen" beherrschten „Massenversammlungen, Massenkundgebungen, Massenaufmärsche, Massenbewegungen, militärisch organisierte
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und disziplinierte Bünde" (24) das Bild der politischen Landschaft. Da das oberste Gebot staatlichen Handelns die Herstellung seiner Einheit sei, müsse die „Zuordnung" (25) aller Gruppen zum Staat gesichert werden. Wo sich eine Gruppe der staatlichen Ordnung nicht mehr „einfügt" (26), sei eine Begrenzung des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit notwendig und gerechtfertigt. Die Kriterien für das Urteil über eine derartige Bereitschaft zur Einfügung sind allerdings, wie nach der bisherigen Darstellung deutlich sein dürfte, nicht „minimalistisch" zu interpretieren, sondern beinhalten die „sachlichen Gehalte" der nationalen und christlichen Kultur. An der Neuinterpretation des Art. 109, des Gleichheitssatzes, eines zentralen Elements des „bürgerlichen" (31) Rechtsstaatsgedankens, tritt für Huber besonders deutlich der Bedeutungswandel der Grundrechte hervor. Ursprünglich habe es sich um ein „subjektives Freiheitsrecht" gehandelt, das eine nur „formale" Gleichbehandlung in der Gesetzesanwendung und die „Freiheit von ungesetzlichem Zwang" (31) fordere. In dieser individualistischen Fassung habe das Freiheitsinteresse mittels der Formalisierung über den Gleichheitsgedanken dominiert. Die neue Auslegung stelle den Gleichheitsgedanken wieder über die Idee individueller Freiheit und sehe im Gleichheitssatz ein „objektives Rechtsprinzip" (30), in dem eine materiale Gerechtigkeitsforderung zum Ausdruck komme. Der Gesetzgeber soll „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln" (32) und eben dadurch „gerecht" handeln. Die Bindung an die Leitidee der Gerechtigkeit bedeutet dabei nicht, wie Huber ausdrücklich betont, die „Unterwerfung des Gesetzes unter eine formale Rechtsidee, sondern sie bedeutet die Gebundenheit des Gesetzes an eine materielle, inhaltlich gerechte Wertordnung", die im „Kultursystem enthalten" ist in Gestalt von „ungeschriebenen obersten Rechtsprinzipien". An diese Wertordnung sei auch der Gesetzgeber bei der „Ausgestaltung" des Rechtssystems gebunden. Damit habe sich auch der Sinn der Bezeichnung „Rechtsstaat" signifikant verändert. In der neuen Bedeutung steht für Huber die Verwirklichung dieser objektiven Gerechtigkeitsforderung über dem Interesse des Individuums am Schutz seiner subjektiven Freiheit. Beim Recht auf Religionsfreiheit schließlich handelt es sich um eine „korporative Garantie" und nicht um „subjektive Rechte der einzelnen Gläubigen" (26). Auch die Auslegung dieses Rechts muß sich nach Huber am obersten Ziel der Wahrung der auch substantiell-sittlich definierten Einheit des Staates im Sinne des nationalen Kultursystems orientieren. Von diesem obersten Staatsziel aus werden nicht nur Grenzen der Toleranz benannt, sondern darüber hinaus das Recht auf ein aktives staatliches Eintreten gegen sich nicht in das nationale Kultursystem einfügende Religionsgemeinschaften abgeleitet. Für Huber gilt, „daß ein religiöses Bekenntnis, das mit unseren staatlichen, rechtlichen und sittlichen Vorstellungen in so unvereinbarem Gegensatz steht, daß es eine Gefährdung unserer politischen Einheit bedeutet, nicht den Schutz des Art. 135 genießt, daß es vielmehr möglich ist, ein solches
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Bekenntnis durch staatliche Gesetze zu bekämpfen und zu unterdrücken. Daraus ergibt sich, daß es sich auch bei der Religionsfreiheit nicht mehr um absolute Freiheit handelt, sondern um eine Freiheit, die unter dem Vorbehalt der staatlichen Daseinsnotwendigkeiten steht" (27). Das Fazit von Hubers Sichtung der Neuinterpretation des Grundrechtsteils der Weimarer Verfassung in der Staatsrechtslehre lautet: Dem Ende des liberalen Denkens korrespondiere ein grundlegender Bedeutungswandel der Grundrechte. Unter dem „Einfluß eines neuen staatlichen Werdens" seien sie in „ihrem Sinn verwandelt worden, auch wo sie äußerlich noch die alte Form tragen" (83). Das Verhältnis von Bürger und Staat im demokratischen Staatsdenken, in dessen Mittelpunkt der immer wieder neu sich vollziehende Vergemeinschaftungsprozeß stehe, habe nichts gemein mit dem liberalen, auch an Unterscheidung orientiertem Verständnis dieser Relation. Dieser Veränderung in der Verfassung im umfassenden Sinne müsse das Verfassungsrecht und insbesondere dessen neu erkanntes Zentrum, der Grundrechtskatalog, Rechnung tragen. Die Grundrechte dürften nicht mehr länger interpretiert werden im „Sinne einer vom Staate wegführenden Selbstherrlichkeit, sondern nur im Sinne einer zum Staat hinführenden Freiheit... Sie sind aus Abwehrrechten zu Aufbauelementen des Staates geworden" (84). Der Grundrechtskatalog stelle ein „geschlossenes und der nationalen Gestaltung dienendes System" (85) dar, in dem die Grundsubstanz der deutschen Kultur als verpflichtendes Erbe verfassungsrechtlich kodifiziert sei. c. Grundrechte als Fundament des nationalen Volksstaates Am Grundrechtsteil kann Huber dann auch Konturen einer spezifisch „deutschen Staatstheorie" (87), der „Idee des nationalen Volksstaates" (89) ablesen. Sein Spezifikum liegt für Huber in einer bestimmten Relation von Staat und Volk, die das eigenständige Profil des deutschen Nationbegriffs ausmacht und sich sowohl von deren liberaler Fassung wie auch vom französischen Nationalstaatsdenken unterscheiden läßt. Im letztlich staatsfremden Liberalismus werden für Huber Staat und Gesellschaft entgegengesetzt, und es herrscht die Tendenz zu einer Minimalisierung und Begrenzung der Staatsmacht im Interesse größtmöglicher gesellschaftlicher Freiheit vor. Die Gegenposition repräsentierten Marxismus und Nationalismus französischer Prägung, die beide strukturell identische Züge trügen, da sie den Staat nur noch als Selbstorganisation der Gesellschaft zu begreifen und damit jegliche Selbständigkeit staatlicher Herrschaft aufzulösen versuchten. Sie zielten auf eine Verwirklichung der Identität von Regierenden und Regierten, die sich mit der Formel vom „totalen Staat" (87) kennzeichnen lasse. Dieses Identitätsmodell stehe auch hinter dem französischen Nationbegriff, der ein gesellschaftliches Einheitsbewußtsein kennzeichne, „das selbst die Eroberung der politischen Herrschaft anstrebt" (87).
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Genau an diesem Punkt der „Herrschaft" sieht Huber die Differenz zum deutschen Nationbegriff, der die „egalitäre, unitarische und zentralistische Überspitzung" (88) des französischen Nationbegriffs vermeidet. Er bezeichne ein „politisches Einheitsbewußtsein", das sich jenseits der einfachen Alternativen von Differenz und Identität an einem beide Momente umfassenden Modell der Zuordnung von Staat und Volk orientiere. Dieses deutsche nationale Einheitsbewußtsein strebe nicht danach, „selbst politische Herrschaft zu werden und sich zum Staat zu organisieren", sondern es ordne sich der „Herrschaftsform des Reiches politisch" zu, „ohne den inneren Abstand von ihr aufzuheben"(88). Selbständigkeit des Staates gegenüber dem Volk, die in der Rede von staatlicher „Herrschaft" zum Ausdruck komme, und „lebendige Zuordnung" sollen gleichermaßen gelten. Diese „lebendige Zuordnung" bedürfe auch nicht des Konstrukts der abstrakten Gleichheit aller Staatsbürger. „Der deutsche Nationbegriff setzt... keine innere Gleichgeartetheit und Gleichförmigkeit des Volkes voraus, er hebt die bestehenden Ordnungen und Gliederungen des Volkes nicht auf, sondern sucht sie zu erhalten und zu erneuern" (88). Diese beiden Nationbegriffe spiegeln sich für Huber in der Spannung zwischen dem ersten und dem zweiten Hauptteil der Verfassung. Im organisatorischen ersten Teil dominiere das „streng nationaldemokratische Prinzip der französischen Staatstheorie" (97), während der zweite Hauptteil von einem „gegensätzlichen Aufbauprinzip", der „Idee des nationalen Volksstaates" (89) bestimmt sei. In ihr werde „die natürliche Volksordnung" (92 und 97) als „öffentliche Ordnung" anerkannt und zur Grundlage des Staatsaufbaus gemacht. Die Funktion der Grundrechte sei es, der Erhaltung und Erneuerung dieser „natürlichen Volksordnung" zu dienen, indem sie als „objektive Ordnungsprinzipien" (92) die „Vielfalt sozialer Formen", wie etwa die Familie, Grundstrukturen des Schul- und des Wirtschaftssytems, die für die deutsche Kultur wichtigen Religionsgemeinschaften, aber auch das Berufsbeamtentum und die Selbstverwaltung der Gemeinden verfassungsrechtlich festschrieben, dem Zugriff des Gesetzgebers entzögen und zur Grundlage des Staatsaufbaus machten. Dieses korporativ gegliederte Gemeinwesen, in welchem die geschichtlich gewachsenen Ordnungen des Volkes insoweit respektiert würden, als sie dem Primat der staatlichen nationalen Einheit subordiniert blieben, kennzeichne den nationalen Volksstaat und grenze diesen damit gleichermaßen ab vom „totalen Staat" wie vom „absoluten Rechtsstaat" (91). Ein Ziel dieses nationalen Volksstaates sei zwar die „lebendige Übereinstimmung von Staat und Recht" (91). Dies kann nach Huber jedoch nicht die „völlige Unterwerfung des Staates unter die Macht des formalen Rechts" bedeuten. „Die Existenz des Staates als einer politischen Einheit besteht unabhängig von der Rechtsidee, und die Erhaltung dieser politischen Einheit hat den Rang vor allen anderen Staatszielen, auch vor der Verwirklichung des Rechts" (91).
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d. Der Untergang des Liberalismus und die „Erneuerung der Politik aus dem Glauben" im autoritären Staat Wie E . R. Huber betont Gerhard Leibholz die Abgrenzung zum „totalen Staat" in seinem Versuch, „die strukturellen Veränderungen des künftigen Staatsbildes mit einer gewissen Verläßlichkeit" 78 aufzuzeigen. An seiner Schrift „Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild", die 1933 veröffentlicht wurde, soll dreierlei verdeutlicht werden. Zum einen sollen wichtige Konturen der Staatsvorstellung präzisiert werden, die sich als Zukunftsideal und Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie von Weimar im Zuge des Neuaufbruchs in der Staatsrechtslehre herauskristallisierten. Am staatsrechtlichen Denken von Leibholz läßt sich zudem das Gewicht verdeutlichen, das im Zuge der geisteswissenschaftlichen Öffnung der Staatsrechtslehre „metarechtliche" und „metaphysische" Fragen erhalten haben. Schließlich zeigt Leibholz' Beschreibung des „zukünftigen Staatsbildes": Die Frage nach der Substanz der Rechts- und Staatsordnung kann offensichtlich nur so beantwortet werden, daß die eingeklagte Ausrichtung politischen Handelns an substantieller Verbindlichkeit nur realisierbar ist mittels der Delegation dieser Aufgabe an persönliche, entscheidungsstarke Autorität, die in numinoser charismatischer Weise diese Sub78 G . LEIBHOLZ, Auflösung der liberalen Demokratie. Alle weiteren Angaben im Text beziehen sich auf diese Publikation. Zur Diskussion um die Frage des neuen Staatsbildes vgl. auch H . O . ZIEGLER, Autoritärer oder Totaler Staat. Ziegler geht ebenfalls davon aus, daß der „Versuch, die politische Einheit der Nation mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie des 19. Jahrhunderts (!) zu sichern und zu organisieren,... an eine Grenze gelangt (ist), an der er zu scheitern scheint" (S. 1). Zur Position von Leibholz vgl. J . MEINCK, Weimarer Staatslehre: „Das gegenseitige Ausspielen von .staatsfremden Liberalismus' - dem der Parlamentarismus zugerechnet wurde - und .sachinhaltlicher' Demokratie, der die bürgerliche Diktatur rechtfertigen sollte, war in der Staatsrechtswissenschaft verbreitet, er wurde vor allem in den Schriften Leibholz', der die Grundlagen der Integrationslehre übernahm, aufgegriffen". Aus Leibholz' Schrifttum „war freilich eine positive Einstellung zum Nationalsozialismus nicht ableitbar. Wohl aber bleibt festzustellen, daß Leibholz, indem er die These Schmitts und Smends, wonach Diktatur und Demokratie keine Gegensätze seien, aufnahm, jenen Richtungen innerhalb der deutschen Staatsrechtswissenschaft unterstützend beitrat, die die Lösung der politischen und sozialen Krise, in der die Weimarer Republik sich befand, in der verfassungsrechtlichen und ideologischen Stärkung der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten sahen und die Befugnis zur Durchbrechung der verfassungsrechtlichen Schranken mit dem Hinweis auf die plebiszitär legitimierte Stellung des Staatsoberhauptes begründeten" (S. 60 f). Vgl. auch W. BAUER, Wertrelativismus, zur Rezeption der Smendschen Integrationslehre bei Leibholz. „Leibholz plädiert für eine autoritative Absage an den Parteienstaat und für das auf .innerer und gemeinsamer Uberzeugung beruhende Über- und Unterordnungsverhältnis'" (S. 325). Auch H . - D . RATH, Positivismus, weist auf die Übereinstimmung zwischen Schmitt und Leibholz in der antiliberalen Parlamentarismuskritik hin: „So hat beispielsweise Leibholz ... von Carl Schmitt die Theorie übernommen, daß die Demokratisierung seit dem 19. Jhdt. der liberal-repräsentativen, parlamentarischen Demokratie den Boden entzogen hat" (S. 108). Die Tatsache, daß Leibholz, als Schüler Smends, später „Opfer der nationalsozialistischen Repressionsgewalt wurde, ist nicht auf die Unvereinbarkeit der Integrationslehre mit faschistischen Staatsrechtsdoktrien zurückzuführen, denn diese hatte eine starke Nähe zum Faschismus..." (U. REIFNER, Recht, S. 222).
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stanz der Kultur erahnt, vernimmt und zur Richtschnur ihres Handelns macht. Die Suche nach verbindender ethischer Substanz wird zur Suche nach starker Autorität. Schon die Gliederung von Leibholz' Schrift in vier Teile - Der Begriff der Demokratie - Die liberale Demokratie - Die Auflösung der liberalen Demokratie - Die Umrisse des neuen Staatsbildes - läßt erkennen: Das Grundorientierungsmuster gibt, wie bei C. Schmitt, R. Smend und E. R. Huber, die Unterscheidung von Demokratie und Liberalismus ab. Von dieser Unterscheidung aus ergibt sich eine klar antiparlamentarische Stoßrichtung, die für sich in Anspruch nimmt, „Demokratie" allererst zu verwirklichen. Zur Beurteilung der einzelnen Staatsformen geht Leibholz, in Übereinstimmung mit Smends Integrationslehre, durchgängig von folgender These aus: „Jede echte Staatsform setzt einen festen Bestand von politisch-materialen Werten voraus, durch die die staatliche Gemeinschaft glaubensmäßig legitimiert und inhaltlich zusammengehalten wird. Jede politische Staatsform wird hierdurch zugleich im Metaphysischen begründet. Denn das Politische, das stets auf ein überhistorisches Ziel gerichtet ist, ist immer im Irrationalen verhaftet" (9). Über die Thematisierung der jeweiligen metaphysischen Grundannahmen lassen sich daher wichtige Unterschiede der Staatsformen herausarbeiten. Mit dem Hinweis auf Max Webers religionssoziologische Arbeiten, die zeigten, daß „insbesondere die moderne Demokratie ... religiös verwurzelt" (9) ist, belegt Leibholz für die Demokratie seine These von den metaphysischen Voraussetzungen alles Politischen. Die entscheidenden „materialen Werte", die der Demokratie zu Grunde lägen, seien Freiheit und Gleichheit. Der Gedanke der Volkssouveränität baue auf diesen fundamentalen Werten auf. Zum Verständnis des von Leibholz vertretenen Demokratieverständnisses ist es nötig, sich die genaue Bestimmung dieses Herrschaftssubjekts „Volk" zu vergegenwärtigen. Unter „Volk" sei nicht, wie das von Anschütz und Thoma in ihren Kommentaren zur Reichsverfassung vertreten wurde, „atomistisch die Summe der Staatsangehörigen oder Wahl- oder Stimmberechtigten" zu verstehen. „Volk" sei vielmehr eine „überindividuelle geistige Gemeinschaft..., die als lebendige, konkrete Totalität zugleich auch das Erbe vergangener Generationen wie im Keim das Leben zukünftiger Generationen umfaßt" (11). Über diesen, auf das Ganze von Kultur und Geschichte ausgreifenden Volksbegriff und der dadurch beschworenen gesteigerten Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft wird nicht nur beansprucht, solche umfassende Erkenntnis des Sinns von Kultur und Geschichte sei möglich. Vom ,Wissen' um das Ganze aus erscheinen auch die ,nur' am Individuum orientierten Erkenntnisakte und Entscheidungsmöglichkeiten als partikular. Sie seien deshalb einzubinden in und zu begrenzen durch die geistige, durch überindividuelle materiale Werte integrierte Volksgemeinschaft. Das Interesse an der Begrenzung individueller Entscheidungsmöglichkeiten prägt
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auch den Freiheitsbegriff, der diesem Demokratieverständnis zugrunde liege. Diese „demokratische" Freiheit dürfe nicht im Sinne des Individualismus mißverstanden werden. Sie sei, wie bei Huber, „politische Freiheit" (11), d. h. Freiheit, die als Pflicht zum Staat, dem organisierten Willen der Volksgemeinschaft, verstanden werden müsse. Auch die Gleichheit sei wesentlich „eine politische und nicht gesellschaftlich soziale" (12). Die Demokratie setzt für Leibholz eine „substantielle Gleichheit" voraus, die durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk und dessen Kultur gegeben ist. Es entspreche nur dem aufklärerisch-rationalistischen Denken und nicht der Wirklichkeit, Gleichheit allein abstrakt numerisch und geschichtslos zu verstehen. Das Gleichheitsverständnis sei vielmehr je nach geschichtlicher Lage eines Volkes zu differenzieren. Die durch diese materiale Bestimmung gewonnene Differenzierbarkeit führe dazu, daß die Demokratie „aus einem abstrakten zu einem konkreten, historisch gebundenen Begriff" (13) werde. Für Leibholz ist ein Staat dann demokratisch, „wenn die oberste, universale Entscheidungsinstanz innerhalb der Staatsgemeinschaft das Volk im Sinne einer die Generationen umspannenden überindividuellen Gemeinschaft ist und der Gemeinwille, die volonte generale, in politischer Freiheit von allen gleichberechtigten ... Staatsbürgern mit Hilfe des Mehrheitsprinzips gebildet wird" (18). Hinsichtlich der Form der Realisierung dieser Volksherrschaft sind bei dieser Definition mehrere Möglichkeiten denkbar. Sie kann sowohl in Gestalt einer „Präsidentschaftsdemokratie" realisiert werden, aber ebenso ist ein „diktaturförmiges, antirechtsstaatliches und unter Umständen sogar tyrannisches Gepräge" (19) mit dieser Definition vereinbar. Leibholz' Darstellung des Liberalismus ist die Darstellung seines Unterganges, der sich für das staatsrechtliche Denken vor allem am Niedergang des Parlamentarismus und am Wandel des Grundrechtsverständnisses ablesen läßt. Entsprechend seiner Ausgangsthese wendet sich Leibholz zuerst der Frage nach den metaphysischen Voraussetzungen des Liberalismus zu. Auch der Liberalismus gründe sich auf ein „metaphysisches System" und sei nicht nur „glaubensloser Rationalismus" (22). Im Zentrum des „neuen Mythos", der den Liberalismus trage, stehe das Individuum als „das Gefäß der Vernunft". Jeder „negative Abwehrkampf zugunsten der ratio war zugleich positiv ein Kampf zugunsten des Individuums". Die politische Konkretion dieser liberalen Metaphysik sei die Forderung nach einer geschriebenen Verfassung gewesen, „deren immanente Funktion es seit jeher war, das Individuum zu schützen" (23). Mit diesem Verfassungsdenken habe sich das Einklagen von Grundrechten verbunden. Das erste und für alle „liberale Demokratie" gültige Bekenntnis im Geiste dieses Mythos der Rationalität und Individualität sei die „Rechteerklärung der französischen Revolution" gewesen. Ihre Sätze sind nach Leibholz „geradezu fundamental- und religiös-mystische Glaubenssätze" (24) für die „liberale Demokratie".
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Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, in denen sich der „Geist der Aufklärung" und damit ein individualistisches Grundrechtsverständnis auch im 19. Jahrhundert ungebrochen durchgehalten habe, habe der „Lauf der Geschichte" in Deutschland eine tiefgreifende Verwandlung des Grundrechtsverständnisses gebracht. Ausdrücklich macht sich Leibholz jene gemeinschaftsorientierte Umdeutung des Grundrechtsteils der Weimarer Verfassung zu eigen, wie sie insbesondere von Smend und Huber entwickelt worden ist. Auch für Leibholz sind die Grundrechte aus Abwehrrechten im Interesse des Individuums zu einheitsstiftenden Aufbauelementen im Dienste des Staates geworden (vgl. auch 76). Dieser Bedeutungswandel wird von Leibholz interpretiert als Indikator für einen fundamentalen Wandel der Kultur: Nicht mehr der aufklärerischrationalistische Individualismus und damit die Verwirklichung individueller Freiheit geben die Leitidee für die Gesamtkultur ab, sondern die Verwirklichung der nationalen Einheit. Deutlich wird dieser Wandel für Leibholz daran, daß die „staatlich-politischen Eingriffe" in die durch die Freiheitsrechte zu sichernde Sphäre nicht mehr länger nur als „Ausnahmen" gelten, „sondern als regelgeforderte Beschränkung, die den ständigen Primat der nationalen Einheit gegenüber den sozial affizierten Freiheitsrechten sicherstellen" (26). Dieser Wandel der kulturellen Gesamtlage bewirke auch ein verändertes Verständnis des Rechtsstaatsgedankens. Der liberale Rechtsstaatsgedanke und damit verbunden der Parlamentarismus lebten aus „dem gläubigen Vertrauen", daß das Gesetz auch wirklich Recht sei, bzw. daß es einen „wesensmäßigen Bezug von der Form auf den Inhalt" gebe. Das den Positivismus kennzeichnende Vertrauen in die Tragfähigkeit dieser formalen Rationalität, in die „Identität von Gesetz und Recht" und damit auch von Legalität und Legitimität sei in hohem Maße fragwürdig geworden. Es zeige sich erneut die Notwendigkeit, „wie zu Zeiten des deutschen Idealismus" nach der materialen Bestimmung des Rechts, der „Rechtsidee" (31), und damit der Legitimität des Rechts unabhängig von der bloß formalen, funktionalistischen Legalität zu fragen. Leibholz plädiert dafür, auf den Rechtsstaatsgedanken nicht, „wie fast eine communis opinio will, um seiner liberalen Provenienz willen als schlechthin bürgerlich-liberales Produkt", (32/33) zu verzichten, sondern ihn in neuer, vertiefter Weise (30) zu verstehen. „Rechtsstaat", wie er nach Leibholz zu verstehen ist, bedeutet dann nicht mehr länger den Vorrang der Sicherstellung der individuellen Freiheit vor anderen Staatszielen, sondern die Pflicht zur Verwirklichung der „Rechtsidee", die in einer Gemeinschaft lebendig ist. „Entscheidend ist hiernach für die jeweilige Struktur des Rechtsstaates das nach Zeit und Ort wechselnde Materiale des Rechts, die inhaltlichen Wandlungen unterworfene Rechtsidee, die in dem Rechtsbewußtsein, dem Rechtsgefühl, den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft ihren Niederschlag findet, und die in ihrer konkreten Ausprägung das Individuum
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und die persönliche Freiheit ebenso schützen wie möglicherweise zu Gegenstand radikaler (!) Eingriffe machen kann" (34). Diese Definiton des Rechtsstaats zeigt, daß die Verständigung über die „Rechtsidee" aufgrund der zwischen ihr und dem positiven Recht behaupteten Differenz nur noch sekundär eine Verständigung über Gesetze ist. Sie wird zu einer methodisch sehr viel weniger kontrollierbaren Auslegung des Sinns der Kultur, der allerdings dann wieder mit den Mitteln des Rechtszwanges verbindlich gemacht wird. Die Staatsrechtswissenschaftler rücken damit nicht nur auf in den Rang von Hermeneuten von Kultur und Geschichte. Sie erklären sich vielmehr auch zu Wächtern über das Sinn- und Wertsystem, welche diese Gemeinschaft integrieren soll. Diese Wächter sind mit den Mitteln des Rechtszwanges ausgestattet. Mit dem neuen Grundrechts- und Rechtsstaatsverständnis wird für Leibholz auch die entscheidende Schwäche des Liberalismus überwunden, seine Unfähigkeit zur „Konstitution einer eigenen Staatlichkeit" (35). Der Liberalismus ist letztlich, darin stimmt Leibholz Smend ausdrücklich zu, aufgrund seiner reduktionistischen Metaphysik in Gestalt des Individualismus „nicht soziabel strukturiert" (35), daher staatsfremd und vermag keine eigene politische Form hervorzubringen. Die Unfähigkeit zur Konstitution von Staatlichkeit habe ihre eigentliche Wurzel in einem Relativismus im Umgang mit Weltanschauungen, der zu einer Entscheidung über die für die Vergemeinschaftung wichtigen Werte nicht mehr gelange. Der Liberalismus habe keine „eigene politisch-metaphysische Wertwelt" (35) hervorzubringen vermocht, sondern habe da, wo er politisch funktionsfähig geworden sei, immer eine anderweitig gegebene „Wertwelt" und „Substanz" der Gemeinschaft vorausgesetzt. Durch diese „Anleihen" gleiche der Liberalismus zwar die ihm immanente Tendenz auf „absolute Ungebundenheit" des Individuums und die daraus sich ergebende Möglichkeit zu „verantwortungsloser individueller Willkür" aus, umgehe damit aber die Aufgabe einer eigenständigen Lösung der Verhältnisbestimmung von Freiheit und „pflichtmäßiger Bindung" (36). Die Diagnose dieser politischen Schwäche des Liberalismus geht nicht nur von der Annahme aus, daß solch eine integrierende „Wertwelt" vorausgesetzt, sondern auch - und das ist der entscheidende Punkt - davon, daß diese „Wertwelt" vom Staat selbst hervorgebracht und gesichert werden muß. Für das Legitimationsproblem bedeutet dies: Der Staat soll und muß sich selbst seine Legitimation beschaffen. Es ist nach Leibholz gerade der Fehler des Liberalismus, darauf zu verzichten, die „Existenz des kompensierend wirkenden, politisch metaphysischen Weltbildes ... rechtssatzmäßig" zu sichern. Dieses Weltbild werde als „etwas sich von selbst Verstehendes stillschweigend vorausgesetzt" (40). Durch diesen relativistischen Verzicht würden „die absoluten politischen Werte zum Gegenstand des inneren und äußeren Zweifels" gemacht und die „spezifisch staatlichen Kategorien wie Befehl und Gehorsam, Autorität und Zwang" (40) untergraben. In der fehlenden
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Konstitution einer politischen Metaphysik sieht Leibholz den eigentlichen Grund für die Auflösung der parlamentarischen Demokratie. Die von ihr vorausgesetzten „ursprünglich religiösen und später säkularisierten Werte", ihr „Mythus" und ihre „Substanz", seien durch den „fortschreitenden rationalistischen Relativierungsprozeß zersetzt worden" (42). Dieser in sozialer und politischer Desintegration sich auswirkende Relativismus provozierte nach der Diagnose von Leibholz als Gegenbewegung eine „Wiederbelebung der politischen Metaphysik", eine „Erneuerung der Politik aus dem Glauben", das „Streben nach einem Eingebettetsein in einem neuen Absoluten und Objektiven" (55). Staat und Nation seien die Gemeinschaftsphänome, an denen sich die „neue politische Glaubensbewegung" vor allem orientiere. Ihre politische Umsetzung finde diese politischen Metaphysik im „Reichsgedanken", „durch den ewiges und irdisches, religiöses und staatliches Leben zu einer einzigen, das christliche Europa womöglich umfassenden Totalität zusammengeschlossen werden soll" (56). Diese „neue politischreligiöse, fast orthodoxe Gläubigkeit" ist es für Leibholz auch, die den „eigentlichen An- und Auftrieb" der nationalsozialistischen Bewegung ausmacht (57). Zum Charakter solchen politischen Glaubens und solcher „säkularisiert-religiösen Bewegungen" gehöre es, im Interesse der Wahrung ihrer Einheit und Eindeutigkeit weder Diskussionen über die eigenen Grundlagen zuzuzulassen noch zu Kompromissen und Koalitionen bereit zu sein. Die Folge solcher Suche nach quasireligiöser Eindeutigkeit im Bereich des Politischen ist, wie Leibholz kritisch anmerkt, daß „die politischen Kämpfe ... ein vielfach so blutiges, geradezu an die konfessionellen Zeitalter und die Religionskriege erinnerndes Gepräge erhalten" (58) haben. Die Frage, in welcher Weise die konkrete politische Umsetzung der „nach einem neuen metaphysischen Staatsbild" (71) drängenden Kräfte des Volkswillens erfolgen kann, ist für Leibholz aber 1932 noch nicht definitiv beantwortbar. Er sieht prinzipiell zwei Möglichkeiten: die Umwandlung der parlamentarischen Demokratie in den „autoritären Staat" oder in den „totalen Staat". Auf dem Hintergrund dieser Alternative lassen sich für Leibholz Grundintentionen erkennen, die die Suche nach einem neuen Staatsverständnis bestimmen. Das eigentliche und verbindende Ziel der politischen Glaubensbewegungen liegt für Leibholz darin, „zu einem neuen Autoritätsbewußtsein und einer Neufundierung des Prinzips der Autorität" (60) zu führen. Gerade im Interesse der Stärkung von Autorität weiß er sich mit jenen protestantischen Theologen einig, die ein neues religiös fundiertes Staatsideal proklamieren. Zustimmend rekurriert Leibholz nicht nur auf die politisch-ethischen Publikationen Friedrich Gogartens und „die bekannten Schriften der dialektischen Theologie", sondern auch auf Hans Gerbers „Die Idee des Staates in der neueren evangelischen Theologie" und die hier dargestellten Arbeiten von F. Brunstäd, E. Hirsch und P. Althaus. Sie alle verbindet nach Leibholz das Interesse an einer Wiedergewinnung von Autoritätsbewußtsein.
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Autorität bedürfe, wenn sie wirksam sein wolle, der Anerkennung, d. h. die „Gemeinschaft muß an die betreffende Autorität als ein das ichbezogene Bewußtsein bindendes überindividuelles Prinzip glauben" (61). Legitimitätsglaube entstehe vor allem im Massenzeitalter erst dann, wenn die politische Autorität die enge Verbindung zum Volk suche und ein „einheitliches Bewußtsein ... Führer und Geführte" umschließe (61). Der geeignete Weg für die Herstellung solcher „Volksverbundenheit" (61) wird nach Leibholz in Formen „plebiszitäre(r) Unterbauung" (62) der politischen Autorität gesucht, die nicht mit Wahlen identisch sein müssen. Das von Leibholz angeführte Beispiel für volksverbundene Autorität ist das Amt des Reichspräsidenten; besonders aufschlußreich ist dabei die Funktion, die er der Wahl des Reichspräsidenten zuerkennt. Leibholz' Funktionszuschreibung macht deutlich, daß die Konstitution solcher Autorität gerade vom Willen des Volkes unabhängig gemacht werden, auch wenn sich diese Autorität dann wieder ganz in den Dienst an der Volksgemeinschaft gestellt sehen soll. Die „Volksverbundenheit" (61) des Amtes des Reichspräsidenten zeichne sich, im Gegensatz zum Amt der Volksvertreter im Reichstag, durch ihren unmittelbaren Charakter aus. Insbesondere die Volkswahl des Reichspräsidenten habe nicht den Sinn, „daß dem Reichspräsidenten erst durch die Wahlen Autorität vermittelt wird, sondern daß die durch die persönliche Autorität des Reichspräsidenten an sich begründete Autorität durch die Wahlen ... in die Lage versetzt wird, sich politisch zu entfalten" (62). Für Leibholz ist das ein Modell von „echte(r) autoritäre(r) Staatsführung", in dem weder wie im Parlamentarismus der Volkswillen „mediatisiert" wird, noch ein „Autoritarismus" (63) entsteht, d. h. die politische Autorität sich unabhängig macht von plebiszitärer Anerkennung. Die Vorteile solcher „echt autoritären Staatsführung" liegen für Leibholz klar auf der Hand: Im autoritären Staat kommt der „Tatbestand der Herrschaft" allererst wieder angemessen zur Geltung. Für das Demokratieverständnis aufschlußreich sind dabei die Merkmale, die nach Leibholz das „Wesen" des Staates und des Politischen kennzeichnen. Die spezifisch „staatlichen Kategorien" sind für ihn „z. B. Gehorsam, Treue, Befehl". Sie erhielten ihren „spezifisch politischen Sinn" (63) erst wieder im autoritären Staat. Gegenüber dem „ewigen parlamentarischen Gespräch" trete der für das politische Handeln wesentliche Entscheidungscharakter deutlich hervor. Dies führe zu einer Steigerung von Verantwortungsbewußtsein. Den autoritären Staat zeichne es aus, daß in ihm ein „wesensmäßiges Bezugsverhältnis zwischen politischer Entschließungsfreiheit und echter, d. h. höchstpersönlicher Verantwortung" (64) bestehe. Diese Verantwortung hat ihren Ort aber signifikanterweise nach Leibholz nicht in der Relation zu den wahlberechtigten Mitgliedern des Volkes, sondern sie existiert „in der Form der sogenannten Selbstverantwortung der freien politischen Persönlichkeit". Sie bedeute „Gebundenheit ... durch das im eigenen Gewissen sich offenbarende Gesetz
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der Gemeinschaft" (65), ein Gedanke, den Leibholz treffend in Friedrich Gogartens Arbeiten dargestellt findet. Solche „selbstverantwortliche" persönliche Herrschaft soll die „unpersönliche Gesetzesherrschaft" (66) ersetzen und dadurch eine „starke, legitimierte und hierdurch ,geheiligte' Obrigkeit" (66) ermöglichen. Im Jahr 1933 sieht Leibholz allerdings auch die Möglichkeit, daß autoritäre Staatsführung nicht mehr allein an das Amt des Reichspräsidenten gebunden sein muß. Auch die „von einem neuen Autoritätsbewußtsein getragenen politischen Parteien und Bewegungen" erscheinen ihm als potentielle Träger für die Realisierung der Idee des autoritären Staates (68). Ein weiteres Kennzeichen des „autoritär-konservativen Staates" sei es, „daß das gesamte politische Leben wieder ein durch die gemeinsame Autorität gebundenes und differenziertes wird, daß es auf autoritären Zwang und Ungleichheit gestellt wird" (64). Die „natürlichen Abhängigkeiten und Ordnungen" sollen gegenüber dem Zwang eines mechanisch rationalisierenden Verstandesdenkens wieder „gläubig und ehrfürchtig" geachtet werden. „An die Stelle des künstlich Gemachten soll das Organisch gewordene, an die Stelle des Abstrakt-Allgemeinen das Konkretindividuelle treten" (65). Dem Schutz dieser gewachsenen Volksordnung dienten die Grundrechte. Von ihnen aus müsse deshalb auch eine „Reform von Staat und Verfassung" (76) ausgehen. Der Intention, das „Organisch gewordene" und das „Konkretindividuelle" wieder zu achten, trage als „neues politisches Strukturprinzip" die „Hierarchie" Rechnung. Mit ihm werde die „Gleichordnung durch die Uber- und Unterordnung, die von unten nach oben konstruierte, liberalistische Demokratie durch den von oben nach unten konstruierten, autoritären Staat" (65) ersetzt. Durch dieses Strukturprinzip sei eine solche Stärkung der Exekutive möglich, die es erlaube, sie wieder als „echte Regierung" (66) zu bezeichnen. Die Achtung vor den Ordnungen, in denen sich das Volk gliedert, ist für Leibholz das wesentliche Merkmal zur Unterscheidung zwischen autoritärem und totalem Staat. Im totalen Staat „soll das Leben als Ganzheit radikal von dem Gesetz der Polis beherrscht werden" und damit das relative Eigenrecht der „metapysischen Wertwelten der geistig autonomen Lebensbereiche" (70), wie ζ. B. der Wirtschaft und anderer organischer Volksordnungen, aufgelöst werden. Ihn zeichne eine radikal kollektivistische und zentralistische Grundtendenz aus, wie sie sich am italienischen Faschismus und am russischen Kommunismus ablesen lasse. In dieser relativierenden Mißachtung der „Wertwelten" erweist sich der totale Staat nach Leibholz identisch mit dem liberalen Staatsdenken und ist deshalb letzten Endes nur dessen „Fortsetzung" als „Erbe und Testamentsvollstrecker" (70). Die „radikale Kollektivierung des Individuums und eine Vermassung des Geistes" wird von Leibholz vor allem deshalb abgelehnt, weil sie im Gegen-
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satz zur „tief" in der Geschichte verwurzelten und die deutsche Kultur prägenden „germanische(n) Freiheitsidee" steht, die weder, wie die liberale Freiheitsidee, ohne jegliche substanzhafte Bindung ist, noch ganz in der einseitigen Bindung an den Staat aufgeht, sondern sich entfaltet in einem gegliederten System von „Genossenschaften", in denen der einzelne eingebunden zum Wohl des Ganzen sein Leben führt. (72) Die Idee einer „gebundenen Freiheit" ist für Leibholz auch ein wichtiges Element einer weiteren Gegenkraft gegen die Herausbildung eines totalen Staates. Die „große individualistische Entwicklung der letzten Jahrhunderte", könne „weder politisch noch kulturell" (73) einfach rückgängig gemacht werden. Die Verwirklichung der Freiheit, um die es in dieser Entwicklung gegegangen sei, sei nicht Willkürfreiheit, sondern eine dem Individuum „geliehene" Freiheit gewesen, „nicht um des Individuums, sondern der absolut materialen Werte willen ..., zu deren Verwirklichung das Individuum berufen ist." (73) Schließlich sperrt sich auch, wie Leibholz unter Bezugnahme auf E. Troeltschs Analysen über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" feststellt, das protestantische Denken mit seinem „mächtigen religionsmetaphysischen Fundament des Freiheits- und Persönlichkeitsgedankens" gegen die Entwicklung zum totalen Staat. Auch für den protestantischen Menschen sei Freiheit gebundene Freiheit und die Bindung des Individuums an Gott der „höchste Wert". Solche „religiös gebundene Freiheit" könne im Staat nicht den „alleinige(n) ,Ort der Heiligkeit'" erblicken und werde sich gegen jede Vergottung der Nation wenden. Aus der Sicht von Leibholz besteht in der protestantischen Theologie, bei Gogarten, de Quervain, Brunner und Tillich Ubereinstimmung darüber, daß der „protestantische Staat ... der grenzbewußte Staat" ist, „der die Kirche ebenso begrenzt wie er selbst an der von Gott gestifteten, Gottes Wort lehrenden und verkündigenden Kirche seine Grenze findet, und der darüber hinaus auch die natürlich gegebenen Ordnungen, wie vor allem den geschichtlich gebundenen Beruf und Stand, die Familie wie überhaupt alle organisch sich entfaltenden, geistigen und kultischen Kräfte respektiert. Denn auch in diesen offenbart sich das Reich Gottes" (74). Zum Beleg für dieses protestantische Wissen um die Grenze des Staates zitiert Leibholz auch seinen Schwager D . Bonhoeffer: „Nicht Schöpfung neuen Lebens, sondern Erhaltung gegebenen Lebens" ist das „Amt des Staates" (74/75). Den verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt zur Realisierung eines autoritären, grenzbewußten Staates sieht Leibholz in der Verstärkung des „werthaften" zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung in die Richtung, wie sie E. R . Huber in seiner zusammenfassenden Analyse der Diskussion um die Auslegung der Grundrechte angezeigt hat. O b der Sinn der Idee des autoritären Staates sich dabei dann in der Form der Demokratie oder als Diktatur realisiert, ist für Leibholz eine zweitrangige Frage, denn zwischen beiden Formen sieht er mit C . Schmitt übereinstimmend keine „unbedingte und absolute ... Gegensätzlichkeit" (77).
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6. Weltanschauung und Staatsform Die geisteswissenschaftliche Neuorientierung in der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre verdankt sich wesentlich dem Interesse, neue gesamtgesellschaftlich verbindliche ethische Substanz zu definieren und so durch materiale Wertintegration den gesellschaftlichen Pluralismus und Antagonismus überwinden zu können. Die Staatsrechtler entwickelten deshalb ein neues Rechts- und Staatsverständnis, für welches der Rekurs auf eine „überpositive" Ordnung (E. Kaufmann), auf „letzte transsubjektive Werte" (G. Holstein), die „Idee der Gerechtigkeit" (J. Binder), auf ein „sachliches Kulturund Wertsystem" (R. Smend) konstitutiv war. Aufgrund dieser Orientierung an überpositiven Gehalten entwickelte sich eine Dynamik, die das neue staatsrechtliche Denken auf das Gebiet „metajuristischer" Fragen führte. Besonders deutlich zeigt dies die tiefgreifende Umdeutung der liberalen Grundrechte. Denn der Grundrechtskatalog der Verfassung galt den Vertretern des neuen Rechts- und Verfassungsverständnisses zwar als wichtige, aber doch nur fragmentarische Positivierung dieses Wertsystems in der Form von Rechtssätzen. Durchgängig insistierten sie auch auf der Differenz von „überpositiver" Ordnung und Rechtsordnung, von Verfassung im umfassenden Sinn und Verfassungsurkunde. a. Die Uberwindung des Pluralismus durch ein weltanschauliches Bekenntnis Da der „überpositiven" Ordnung im neuen Rechts- und Verfassungsverständnis eine konstitutive Funktion zukam, mußte die Auslegung der positiven Rechtsordnung ausgreifen auf diese „metajuristische" „Welt der Ideen" als entscheidende Erkenntnisquelle für die Auslegung des positiven Rechts. Die eigenständige Thematisierung dieser „überpositiven" Ordnung, gefordert von der Notwendigkeit, sie material näher zu bestimmen, erfolgte in Gestalt der Frage nach dem Zusammenhang von Staat und der ihn fundierenden Weltanschauung. Mit dieser Fragestellung überschritt die Staatsrechtswissenschaft die Grenzen der Rechtsphilosophie und öffnete sich der „Weltanschauungslehre" 79 , nicht zuletzt wegen der dürftigen Ergebnisse der Suche nach einer materialen Füllung der „überpositiven Ordnung". Als Argument für diesen Überschritt konnte die Differenz zwischen Leben, das sich jeweils „irrational" und „konkret" vollzieht, und Reflexion, die immer auf Distanz zum aktuellen Lebensvollzug beruht und insofern im Verhältnis dazu auch abstrakter bleibt, angeführt werden. 79 Vgl. den Abschnitt „Rechtsphilosophie und Weltanschauungslehre" bei H . GERBER, Idee des Staates, S. 11-16. Für Gerber ist die Einsicht in die Bedeutung dieses Zusammenhanges eng verknüpft mit den Arbeiten von Smend und Schmitt. Vgl. ebd., S. 14.
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Für den Juristen Hans Gerber vermag die Rechtsphilosophie zwar die Notwendigkeit der Begründung des Rechts in der Welt der Ideen wissenschaftlich darzustellen. Gerber hat in seiner Publikation „Die weltanschaulichen Grundlagen des Staates" die Position vertreten, daß die Rechtsphilosophie nicht selbst den Sinn eines Kultursystems schaffen kann. Da der „Sinn" und „Gehalt" eines Kultursystems jeweils nur als konkret-individueller und geschichtlich gewachsener begreifbar werde und sich nur im je individuellen Erleben immer wieder neu erschließe, ist allem wissenschaftlich-rationalen Analysieren eine unhintergehbare Grenze gesetzt. Dies erklärt für Gerber auch, warum die rechtsphilosphische Suche nach dem „Gehalt" der Rechtsidee zu keinem befriedigenden Ergebnis führte. „Lebensinn selbst gibt, offenbart, kündet nur Weltanschauung. Sie allein ist irrational und konkret, sie ist unmittelbar Zeugnis wirklicher Sinnerfüllung, sie ist selbst Leben. Deswegen halten die Menschen auch lieber zu den Propheten als zu den Philosophen" 80 . Der Hinweis auf die Vorliebe für Propheten ist von Gerber allerdings keineswegs als kritischer Selbsteinwand formuliert gegen die Gefahr, daß sich die Rechtswissenschaft, wo sie sich selbst auf Weltanschauung gründet, den unsicheren Visionen von Propheten ausliefert. Als innere Konsequenz des von Smend formulierten neuen Verständnisses von Verfassung und Staat verlangt Gerber - wie Hensel - in seiner Tübinger Antrittsvorlesung 1930 eine bewußte Auseinandersetzung mit den „weltanschaulichen Grundlagen" von Staat und Recht. Der Jurist soll nur so zu „Sinn" und „Gehalt" vorstoßen und damit jene ethische Grundlage gewinnen können, die es erlauben soll, der „Willkür und Laune anonymer politischer Zufallsmajoritäten" 81 Einhalt zu gebieten. Auch für Gerber hat die Suche nach solcher materialen ethischen Verbindlichkeit eine deutlich antiparlamentarische Stoßrichtung. Gesetze sollen nicht deshalb gelten, weil sie „formal einwandfrei erlassen" 82 wurden, sondern weil sie der in einer Gemeinschaft geltenden Weltanschauung und deren Wertgrundlagen entsprechen. Wie Carl Schmitt spielt Gerber Legalität und Legitimität, rationale Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung und „substanzhafte Ordnung" gegeneinander aus. Durch Rekurs auf die weltanschaulichen Grundlagen soll es gelingen, in Analogie zum Lebensvollzug des Individuums, das eine ethische Orientierung durch die „strengen Maßstäbe von Religion und Moral" findet, die „gewissen unbedingten Sachgehalte" zu erheben, an denen sich die Gestaltung des „Gemeinschaftslebens" zu orientieren hat. Nur mittels der Bewußtmachung und Stärkung solcher Maßstäbe und Sachgehalte sieht Gerber die Chance, die Dimension einer „unbedingten Verantwortlichkeit" im politischen Leben zurückzugewinnen. 80 81 82
H . GERBER, Idee des Staates, S. 12. H . GERBER, Weltanschauliche Grundlagen, S. 22. E b d . , S. 22.
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Seine zentrale These lautet: „Die Rechtsordnung jedes individuellen Staates ruht auf dem Wertsystem einer bestimmten Weltanschauung und findet darin den Sinn für ihre verpflichtende Kraft" 8 3 . Die eigentliche Lösung der Pluralismus- und Homogenitätsprobleme in einer modernen Gesellschaft wird damit von der Rechtswissenschaft nun selbst definitiv in einen „metajuristischen" Bereich jenseits des Verfassungs- und Rechtssystems verlagert. Die Bindungskräfte, die von geschriebener Verfassung und positivem Recht, auch wenn sie nicht mehr formalistisch verkürzt verstanden werden, auszugehen vermögen, gelten als zu schwach für die geforderte Integrationsleistung. Sie bedürfen der Verstärkung durch ein „weltanschauliches Bekenntnis", das den Zugriff auf das Innere des Individuums und die Erzeugung innerer Bindungskräfte ermöglichen soll. Die in der Gesellschaft Einheit stiftende Kraft und die „über die Bedingtheiten des Tages hinausgreifende Verantwortlichkeit und Bindung für die öffentliche Wirksamkeit im Staate" 84 werden über die Grundrechte als sachliche Integrationsfaktoren hinaus auf der Ebene der Weltanschauung gesucht. Erst solche Weltanschauung als „ein durchgreifendes und geschlossenes System unbedingter Wertungen", das aufgrund der Unbedingtheit seiner Forderungen in einer „über alle Empirie" hinausreichenden Sphäre gedacht werden muß 85 , soll es erlauben, „unbedingte Verantwortlichkeit" im politischen Handeln zu begründen. Die Suche nach unbedingt gültiger Verbindlichkeit als Reaktion auf die als liberale, rationalistische und individualistische Zersetzung der Gemeinschaft wahrgenommene pluralistische Struktur der Gesellschaft kommt, wie Gerbers Position zeigt, auf der Ebene des Verfassungsrechts zu keinem befriedigenden Ergebnis. Diese Suche führt letzten Endes zur Postulierung der Notwendigkeit quasireligiöser Integrationspotentiale in Gestalt von „Weltanschauung", mit deren Hilfe eine der äußeren Autorität korrespondierende und sie legitimierende Anerkennung im Individuum erzeugt werden soll. Der als Zerrissenheit beklagte Pluralismus und die ihm entsprechende Formalisierung ethischer Grundüberzeugungen in Gestalt der Konzentration auf Verfahrensregeln provoziert als Gegenbewegung den Ruf nach Festlegung von neuer inhaltlicher Eindeutigkeit und Homogenität durch ein „Bekenntnis". Die Gegenthese Gerbers zum formalen Rechtsrationalismus lautet: „Das Rechtsleben eines Staates beruht im Grunde auf der unbedingt verpflichtenden Anforderung eines weltanschaulichen Bekenntnisses" 86 . Dieses „weltanschauliche Bekenntnis" bestehe aus „ungeschriebene(n) Wertungsgrundsätze(n)", die sich „bei näherer Betrachtung als Bestandteile bestimmter ethischer Systeme" erwiesen, deren Gehalt niemals ganz durch eine verfassungsrechtliche Kodifizierung im Grundrechtskatalog ausgeschöpft werden Ebd., Ebd., 85 Ebd., 86 Ebd., 83
84
S. S. S. S.
4. 3. 10. 10.
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könne87. Für Gerber besteht deshalb ein sehr enger Zusammenhang zwischen „Religion, Ethik und Recht" 88 : „Letzter Grund des Rechts ist nicht das Wissen, sondern der Glaube" 89 . Infolgedessen tritt er dafür ein, die „Rechtsdogmatik" auf eine „Dogmatik der Weltanschauungen"90 zu fundieren. Die ethische Grundlage der Gemeinschaft in Gestalt der „Weltanschauung" könne nicht durch das Staatsrecht selbst ersetzt werden, und staatliches Handeln könne nicht souverän über diese weltanschauliche Grundlage verfügen, sondern bleibe selbst an sie gebunden. Das Problematische dieses Denkens liegt nicht in der Betonung eines Zusammenhanges von Recht, Ethik und Religion, sondern in der aus dieser Einsicht gezogenen Folgerung, daß die weltanschauliche Grundlage der Gemeinschaft - über die eine methodisch kontrollierbare und allgemein einsehbare Verständigung nur schwer möglich ist, wie gerade die staatsrechtlichen Diskussionen zeigen - dann auch mit den Mitteln des für alle geltenden Rechtszwanges verbindlich gemacht werden soll. Das positive Recht gerät dadurch in die Gefahr, für die Durchsetzung weltanschaulicher und politischer Gesinnung instrumentalisiert zu werden. Auf der Linie einer solchen Instrumentalisierung liegt es, wenn Gerber die Aufgabe der Grundrechte und der Grundrechtsinterpretation vor allem darin sieht, die „Widersprüche verschiedener geltender Weltanschauungen gegeneinander so (auszugleichen), ... daß die Gemeinschaft durch sie nicht gefährdet wird"91. Wie bei Smend läßt sich hier die Wahrung staatlicher Einheit als oberster Staatszweck ablesen. Diese Aufgabenbestimmung gibt aber auch zu erkennen, daß die Lösung des Pluralismusproblems, wenn sie als dessen Uberwindung und Aufhebung verstanden wird, auch auf der Ebene des „weltanschaulichen Bekenntnisses" zu keinem befriedigenden, d. h. den hohen Integrationsansprüchen, Homogenitätsvorstellungen und Gemeinschaftsidealen entsprechenden Ergebnis gebracht werden kann. Dies läßt sich ebenfalls an dem Vorschlag Gerbers ablesen, in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Weltanschauung die genuin aufklärerische Begriffsopposition Intoleranz und Toleranz durch die Unterscheidung von „weltanschaulich einheitlich" und „weltanschaulich differenziert" zu ersetzen. Nach seiner Uberzeugung ist es besser, von „weltanschaulich einheitliche^) und weltanschaulich differenzierte(n) Verfassung(en)" zu sprechen. Diese Unterscheidung zielt ausdrücklich auf eine Kritik der Weimarer Reichsverfassung. Denn diese sei vom „Prinzip der Toleranz ... beherrscht", so daß sie als eine „weltanschaulich differenzierte Verfassung" zu bezeichnen sei. Solch eine Verfassung zeichne es aus, daß das Rechtsleben „nebeneinan87
Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. 89 Ebd., S. 23. 90 H. GERBER, Idee des Staates, S. 13. 91 H. GERBER, Weltanschauliche Grundlagen, S. 17. 88
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der auf mehrere Weltanschauungen" gründe. Ein begrenzter Pluralismus wird von Gerber mit dieser Formel zugestanden. Gleichwohl sollen aber und dem gilt sein Interesse bei dieser Umbenennung - deutliche Grenzen der Toleranz benannt werden können. Auf der Grundlage einer „weltanschaulich differenzierten Verfassung" könne es nach Gerber keine vollkommene Freigabe der individuellen Wertbildung geben. Das wäre „Selbstaufhebung des Staates, denn es hieße, den Widerstreit zum Prinzip der Gemeinschaft zu erklären" 92 . Mit der Verfassung werde „der Einfluß der geltenden Weltanschauungen besonders festgelegt" 93 . Aufgabe des Staates sei es, darüber zu wachen, daß sich die Urteilsbildung des einzelnen im Rahmen dieser „geltenden Weltanschauungen", bzw. des durch das Verfassungsrecht ratifizierten „weltanschaulichen Bekenntnisses", vollziehe. Die Bekenntnisbindung des Staates durch seine Verfassung müsse sich im Sinne Smends immer wieder neu konkretisieren und aktualisieren in der Bekenntnisbildung und -bindung des „Staatsbürgers". Die Ausbildung von Weltanschauung und Gesinnung des einzelnen kann auf der Grundlage dieses Rechtsverständnisses mit den Mitteln des staatlichen Zwanges gesteuert werden, wenn sie sich nicht im vorgegebenen Rahmen des nationalen Kultursystems bewegt. Der Hauptthese seines Vortrages entsprechend schließt Gerber auch mit einem konfessorischen Bismarckzitat: „Ich sehe nicht ein, mit welchem Rechte wir für unsere gesamten Privathandlungen die Gebote des Christentums anerkennen und sie gerade bei den wichtigsten Handlungen, bei der wichtigsten Betätigung unserer Pflichten, bei der Teilnahme an der Gesetzgebung in den Hintergrund schieben wollen und sagen: Hier haben wir uns daran nicht zu kehren. Ich meinerseits bekenne mich offen dazu, daß dieser mein Glaube an die Ausflüsse unserer geoffenbarten Religion in Gestalt der Sittenlehre vorzugsweise bestimmend für mich ist" 94 . Dieses Bismarckzitat weist auf eine Tradition deutschen Nationalstaatsdenkens zurück, die sich wesentlich durch Einflüsse aus dem Luthertum geprägt weiß. Die „geistesgeschichtliche Methode", mit deren Hilfe die materiale Füllung des in den Grundrechten kodifizierten „Kultursystems" und die die Gemeinschaft integrierende Weltanschauung erarbeitet werden sollte, führte bei den Kritikern des Positivismus und Formalismus mit einer von der Sache her geforderten Notwendigkeit zur Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Ausbildung dieser Weltanschauung und „sachlichen Gehalte" der nationalen Kultur. Hans Gerber, Günther Holstein, Julius Binder und Rudolf Smend setzten sich daher auch mit dieser Frage in eigenen Publikationen auseinander.
92 M 94
E b d . , S. 19. E b d . , S. 19. E b d . , S. 23.
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b. Der Protestantismus als sachlicher Gehalt der nationalen Kultur Die staatsrechtliche Diskussion knüpfte mit ihrer Rezeption lutherischen Gedankenguts an eine Debatte über die Bedeutung des Luthertums an, die in Deutschland weit über die Grenzen rein fachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen und historiographischer Interessen hinaus ein zentrales Medium der kulturellen Selbstverständigung und Auslegung des Sinns der jeweiligen Gegenwart war. Die Staatsrechtslehre fand deshalb zunächst auch hier nicht die gesuchte weltanschauliche Eindeutigkeit und Homogenität, sondern stieß auf einen Problemkomplex, der selbst schon eine wechselvolle Interpretationsgeschichte hatte. Seit den Anfängen der Weimarer Republik aktualisierten sich diese Kontroversen vor allem in den Debatten um jene kritische Sicht der Ethik des Luthertums, wie sie Ernst Troeltsch in seinen Untersuchungen über die historische „Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" und in seinen „Soziallehren" vertreten hatte. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen standen deshalb weniger dogmatische als vielmehr ethische Themen, und zwar insbesondere die Frage danach, ob von Luther her eine spezifisch deutsche Sozialethik und ein darauf aufbauendes Staatsverständnis entwickelt werden könne. Der Streit um die Kulturbedeutung des Luthertums Um die von den genannten Staatsrechtslehrern vertretenen Positionen im Kontext dieser Debatte lokalisieren zu können, sind zunächst kurz die bestimmenden konträren Grundpositionen zu skizzieren. Alle an diesem Streit Beteiligten stimmen darin überein, daß im Medium der Lutherdeutung niemals nur historische Fragen verhandelt werden. Lutherdeutung ist vielmehr ein exemplarisches Medium des Streits der Deutung und Gestaltung der eigenen Gegenwart. In diesem Sinne hat beispielsweise Friedrich Meinecke 1920 behauptet, daß „geistige Gegensätze des heutigen Lebens (mit)schwingen ... bei der Untersuchung, wie weit Luther selbst schon die mittelalterlichen Überlieferungen auf dem Gebiete des Staatslebens überwunden hat" 95 . Nach Georg v. Below liegen die „Schlüssel zum Verständnis der Urteile Tröltschs" (sie!) über das Luthertum nicht in dessen historischen Forschungen, sondern an ganz anderer Stelle: In den Urteilen Troeltschs äußere sich die „Mißstimmung des linksliberalen Theologen und Politikers über die preußische Regierung und insbesondere das preußische Kultusministerium der vorrevolutionären Zeit..., sein Unwille darüber ..., daß das alte preußische Kultusministerium ihm und seinen Freunden nicht mehr Berücksichtigung erwiesen hat" 96 . 95
F. MEINECKE, L u t h e r , S. 1.
96
G. v. BELOW, Historische Periodisierungen, S. 211, Anm. 88.
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Vor allem über zwei Fragen wird im Medium der Lutherdeutung eine Auseinandersetzung geführt: Der Streit geht erstens um ein normatives Ideal von Kultur und Gesellschaft. Hatte Troeltsch Luther zu einem noch mittelalterlichen Denker erklärt, weil er am römisch-katholischen Ideal einer christlichen Einheitskultur festgehalten habe, so hatten die Kritiker Troeltschs, allen voran Karl Holl, die These vertreten, Luther habe keine Restitution des „corpus christianum" ersehnt, sondern ein Sozialmodell vertreten, für das die Verbindung von religiöser Fundierung der Gesamtkultur mit der Anerkennung einer theologisch qualifizierten Selbständigkeit staatlicher Ordnung kennzeichnend sei. Der Streit wird darüber geführt, wie weit eine dem Erbe Luthers verpflichtete Theologie die spezifisch moderne Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft zu akzeptieren im Stande sei. Aus der Perspektive des Individuums wird zweitens dasselbe Problem dann als Frage danach thematisch, wie die relative Verselbständigung des Politischen in der individuellen Lebensführung ethisch verarbeitet werden kann. Muß der einzelne unter den Bedingungen der relativen Selbstgesetzlichkeit des Politischen eine „doppelte Moral" ausbilden, d. h. für sich selbst die Unterscheidung von individueller moralischer Gesinnung und Sittlichkeit politischer Machtausübung bzw. Privatmoral und Amtsmoral vornehmen? Ernst Troeltsch hat im Schlußteil der „Soziallehren" selbst darauf hingewiesen, daß seine Untersuchungen an „den sozialethischen Aufgaben und Möglichkeiten des Christentums in der Gegenwart"97 orientiert seien. Wie vor ihm schon Rudolf Sohm, Karl Rieker und Karl Lamprecht98 hat Troeltsch 97 E. TROELTSCH, Soziallehren, S. 966. Zu den Problemen, die Troeltsch dabei im Blick hat: „Wo aber bleibt die Frage, von der wir ursprünglich ausgegangen sind, die Frage nach der Bedeutung des Christentums für die Lösung des heutigen sozialen Problems, das das Problem der kapitalistischen Wirtschaftsperiode und des von ihm geschaffenen industriellen Proletariats, der militärisch-bureaukratischen Riesenstaaten, der in Welt- und Kolonialpolitik auslaufenden ungeheuren Bevölkerungssteigerung, der unermeßliche Lebensstoffe erzeugenden, im Weltverkehr alles mobilisierenden und verknüpfenden, aber auch Menschen und Arbeit mechanisierenden Technik ist? Man braucht die Frage nur so zu formulieren, um nach allem Bisherigen als wichtigste Antwort zu erkennen, daß das überhaupt ein neues, für die christliche Sozialarbeit bisher überhaupt nicht vorhandenes Problem ist" (S. 983). Angesichts dieser Problemlage erscheint Troeltsch der einfache Rückgriff auf Luther wenig hilfreich: „Soll es eine christlich-soziale Bemeisterung der Lage geben, so werden hier neue Gedanken nötig sein, die noch nicht gedacht sind ..." (S. 985). Zu Troeltschs Programm vgl. den Überblick von T. RENDTORFF und F. W. GRAF, Ernst Troeltsch. 98 Zur Geschichte dieser Fragestellung H . HOFFMANN, Protestantismus. Zu Troeltschs Lutherinterpretation vgl. H . FISCHER, Luther. Troeltsch habe „eine ganz bestimmte Vorstellung vom .Wesen des Christentums', die sich als geheimer Maßstab für die Beurteilung und Einordnung der Reformation herauskristallisiert. Damit verwandelt sich das historische in ein systematisches bzw. religionsphilosophisches Problem" (S. 165). Fischer wies auch darauf hin, daß zwischen dem Lutherbild der dialektischen Theologie' und der Sicht E. Troeltschs auffallende Parallelen bestehen. In dem Aufsatz „Die Ambivalenz der Moderne" vermutet Fischer, daß eine „Fragestellung, die sich ... sehr viel entschlossener" als Troeltsch „auf die inhaltlichen Entdeckungen der Reformation einläßt, den zugleich besonderen und allgemeinen Sinn, der vor allem von
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bekanntlich betont, daß Luther noch sehr stark vom mittelalterlichen Denken geprägt sei und eine tiefe Kluft seine Vorstellungswelt von der modernen Kultur trenne. Deshalb könne eine ungebrochene und unmittelbare Anknüpfung an Luther für die Bewältigung von Gegenwartsproblemen nicht hilfreich sein. Durch die Unterscheidung von Altprotestantismus und Neuprotestantismus hat Troeltsch einerseits die Bedeutung Luthers und des älteren Luthertums für die Herausbildung der Neuzeit relativiert, wertete andererseits jedoch die Bedeutung von Aufklärung und Idealismus auf. Der Streit um die Kulturbedeutung des Luthertums wurde dadurch eng verknüpft mit der Frage nach dem Stellenwert von Aufklärung und Idealismus für die praktische Gestaltung der gegenwärtigen Kultur. Troeltsch sah im Altprotestantismus im wesentlichen eine „Fortsetzung und Neubelebung des mittelalterlichen Geistes" 99 , für den der Gedanke einer christlichen Einheits- und Autoritätskultur und eine starke Orientierung am Jenseits bestimmend blieb. Der moderne Gedanke der Selbständigkeit staatlicher Macht sei noch nicht ausgebildet, da Luther und der Altprotestantismus der mittelalterlichen Vorstellung des „corpus christianum", einer einheitlichen, religös fundierten „res publica christiana" verhaftet geblieben seien. Außerdem habe Luther die Vorstellung einer „doppelten Moral" 100 , eines Dualismus zwischen der individuellen Gesinnung im Geiste christlicher Liebesethik und einer Amtsmoral, die sich durch die Vernunft an der „lex naturae" und den sog. „eigenen Gesetzen" der weltlichen Lebensordnungen orientiert, befördert. Die sozialgeschichtlich bedeutsamen und zugleich für die Uberlebensfähigkeit lutherischen Glaubens in der modernen Kultur ruinösen Folgen dieses unausgeglichenen Dualismus sah Troeltsch in der Unterstützung einer Mentalität der „radikal konservative(n) Verherrlichung der herrschenden Gewalten und eine(r) patriarchalischen Ergebung in das System der Stände und Berufe" 101 , durch die sich das Individuum den Verhältnissen im politischen und sozialen Leben unterwerfe und anpasse. Erst im Neuprotestantismus 102 , d.h. im wesentlichen in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und im deutschen Idealismus, sei ein der modernen Welt Luther neu gewonnenen Anschauung des Verhältnisses von Gott und Mensch und der darin beschlossenen Erfahrungshorizonte noch ganz anders zu erschließen vermag, als es bei Troeltsch geschieht" (S. 77). 99 E. TROELTSCH, Luther, S. 207. Uber die Textgeschichte des Aufsatzes, der in der hier zitierten Form eine Kompilation von Baron darstellt, gibt differenziert Auskunft: ERNST TROELTSCH BIBLIOGRAPHIE, hg., eingeleitet und kommentiert von F. W. Graf u. H . Ruddies, S. 92. 100 E. TROELTSCH, Soziallehren, S. 505. 101 E. TROELTSCH, Naturrecht, S. 182. 102 Zum Begriff des Neuprotestantismus vgl. H . HOFFMANN, Literatur. Nach Hoffmann läßt die Literatur erkennen, daß es sich bei der Beurteilung des Neuprotestantismus um mehr als nur Probleme historischer Genetisierungen, sondern um die jeweilige eigene Stellung zur Neuzeit handelt: „Wie oft haben rechtsstehende Theologen, die aus ihrem Festhalten an altprotestantischen Positionen heraus die Grundtendenzen der modernen Welt ablehnten, dennoch nicht zugegeben, daß die ,Neuzeit' nicht auf Luther zurückgehe, obwohl es für sie als ausgesprochene Gegner der modernen Welt doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre, diese von Luther abzurücken" (S. 400). H . J . BIRKNER, Begriff des Neuprotestantismus; W. v. LOEWENICH, Luther und der Neuprotestantismus.
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kompatibles, am Diesseits orientiertes Kulturverständnis unter Anerkennung der fundamentalen Prinzipien von Autonomie sowohl des Individuums wie einzelner Kultursphären, Toleranz, Gewissensfreiheit und damit Freiwilligkeit auch der religiösen Gemeinschaftsbildung entwickelt worden. Erst im Neuprotestantismus sei dann auch der Gedanke einer religiös-politischen Einheitskultur aufgegeben und ein „völlig emanzipiertes weltliches Leben anerkannt" worden. Die damit vollzogene Anerkennung der Selbständigkeit staatlicher Macht und ihre sittliche Rechtfertigung bedeutete dann auch den Verzicht, „weder direkt noch indirekt durch Vermittlung des Staates" 103 von der Kirche aus die Kultur beherrschen zu wollen. Die Gegenposition zu Troeltsch, von der dann alle weitere Kritik an den Urteilen Troeltschs lebte, formulierte insbesondere Karl Holl, der Troeltsch vorwarf, in dessen Soziallehren mache sich „der eigene politische Standpunkt überall höchst aufdringlich bemerkbar" 104 . Es ist für Holl „ein verdrießliches Geschäft, immer wieder den Gegensatz zu Troeltsch herauszukehren". Aber er nimmt dies auf sich wegen „des fast kanonischen Ansehens ..., das sein (Troeltschs) Lutherbild in gewissen Kreisen gewonnen hat" 1 0 5 . Holl legte mit seinen Lutherstudien bekanntlich das Fundament für die sog. ,Lutherrenaissance' nach dem Reformationsjubiläum 1917106. Mit seiner Lutherdeutung war seinerseits ein bestimmtes sozial- und kulturpolitisches Programm eng E. TROELTSCH, Bedeutung des Protestantismus, S. 25. K . HOLL, Luther und die Schwärmer, Anm. 2, S. 466. Zu Holl vgl. J . WALLMANN, K. Holl und seine Schule. Wallmann hat das Interesse, Holls Lutherbild von dem der,Lutherrenaissance' abzuheben. Es sei „reicher und andersartig" (S. 31). „Die Rede vom deutschen Luther, die man zwischen den beiden Weltkriegen so laut hörte, kann sich jedenfalls auf Holl nicht berufen" (S. 32). Die Wirkungsgeschichte Holls, etwa bei seinem Schüler Hirsch, wäre dann allerdings die Geschichte eines permanenten Mißverstehens. 103
104
105 K . HOLL, Neubau der Sittlichkeit, Anm. 1, S. 262. Nach K. BAUER, Luther, „scheint... Holl ... in das Troeltsch entgegengesetzte Extrem" verfallen zu sein. „Während dieser Luther möglichst stark von der Gegenwart abrückt, gibt sich umgekehrt Holl alle Mühe, die Fäden bloßzulegen, die ihn mit der neueren und neuesten Zeit verbinden. Sehr überzeugend kann ich diese Nachweise nicht immer finden, und Troeltsch möchte vielleicht ähnlich über sie urteilen, wie er über einen verwandten Versuch von Loofs geschrieben hat, dessen,moderne Welt' sei etwa preußisch-freikonservativ oder rechtsnationalliberal" (Sp. 38). 106 Vgl. M . GRESCHAT, Reformationsjubiläumsjahr 1917: „Die offiziellen und offiziösen Äußerungen des deutschen Protestantismus zum Reformationsjubiläum 1917 belegen es ganz eindeutig: Dieser Protestantismus hat kein eigenes Thema mehr! Sein Thema ist von dem militant-nationalistischen Wollen des deutschen Bürgertums aufgesogen worden. Wir könnten auch sagen: Sein Thema ist identisch mit dem Programm der Vaterlandspartei! Das bedeutet aber zugleich: an die Stelle des Theologen und Reformators Martin Luthers ist der Generalfeldmarschall P. v. Hindenburg getreten! Es sind exakt die gleichen Worte, Ideale, Wertvorstellungen, mit denen man beide Männer feiert" (S. 424). K. KUPISCH, Luther Renaissance, weist ebenfalls auf die politischen Implikationen der Lutherrenaissance hin. „But now a political element enters into the controversy, directed mainly against the views of the liberal religious philosopher Ernst Troeltsch and his circle. In his contribution to a volume of essays on Luther, and in his other writings, Holl helped decisively to undermine the liberal interpretation of Protestant culture... The next step was to criticize democracy itself, or at least to remain indifferent to its establishment in Germany after 1918 . . . " (S. 45/46).
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verbunden. Holls Troeltschkritik ist denn auch gerade von jener nationalkonservativen Historiographie begeistert begrüßt worden, für die das Luthertum die zentrale Basis eines deutschen politisch-kulturellen ,Sonderweges' war. So urteilte etwa G. v. Below über die Bedeutung von Holls Lutherbuch: „Das von Troeltsch gezeichnete Bild ist schlechthin zu verwerfen, die Darstellung M. Webers einer gründlichen Revision zu unterziehen ... Nach der Darstellung von H . ist Luther der die Neuzeit beherrschende schöpferische Geist" 107 . Holl deutete Luthers Religion als „Gewissensreligion". Im Rechtfertigungsglauben sah er „den entscheidenden Durchbruch nicht nur durch das Mittelalter, sondern durch den ganzen Standpunkt der katholischen Kirche und ... zugleich die Begründung einer Autonomie, die sich zu der der Aufklärung nicht nur als eine unvollkommene Vorstufe verhält" 108 . Doch sieht Holl nicht nur Autonomie, d.h. das zentrale Prinzip modernen Selbstverständnisses bei Luther in einer alle späteren Deutungen vorwegnehmenden und zugleich überbietenden Weise entfaltet. Auch im Verständnis von Kirche und Staat habe Luther die mittelalterliche Vorstellungswelt endgültig aufgelöst. Der Terminus „corpus christianum" diene bei Luther nicht mehr zur Bezeichnung für die Vorstellung einer „einheitliche(n) geistlich-weltliche(n) Gesellschaft" 109 , sondern für das „corpus mysticum", die wahre, unsichtbare Kirche als einer rein geistigen Gemeinschaft, in der kein Zwang, sondern allein die Liebe regiert. Bei Luther sind nach Holl das geistliche und das weltliche Reich „als zwei verschiedenartige, in sich geschlossene Verbände"110 auseinandergetreten, die gleichwohl in einer „höhere(n) Einheit"111, dem „Reich Gottes" zusammengeschlossen sind. Nach Holl gilt: „Einen christlichen Staat kennt Luther ebensowenig als ein christliches Schusterhandwerk"112. Diese Selbständigkeit der zwei Sphären führt nach dem Urteil Holls bei Luther jedoch nicht zu einer dualistischen Moral, denn die wahre Liebesgemeinschaft in der unsichtbaren Kirche gibt allen anderen Gemeinschaftsformen ihr inneres Richtmaß113. Die genauere Argumentation soll hier noch nicht weiter verfolgt werden. Es sollten nur die Ansatzpunkte benannt werden, die es ermöglichten, aus dieser Lutherinterpretation sowohl eine eigene Sozialethik im Geiste einer „sittliche(n) Autonomie höchsten Stils"114 als auch eine Konzeption starker Selbständigkeit und Autorität staatlicher Macht und deren sittliche Rechtfertigung zu entfalten. G . v. BELOW, К. Holl, S. 128/129. Vgl. auch H . HERMELINK, Wendepunkt. K . HOLL, Was verstand Luther unter Religion?, S. 109 f. 109 K . HOLL, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, S. 343. 110 E b d . , S. 344. 111 E b d . , S. 347. 112 E b d . , S. 347. 113 K . HOLL, N e u b a u der Sittlichkeit, S. 251. 1,4 E b d . , S. 227. 107 108
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Nationalprotestantische Geschichtssicht als Legitimationsbasis der politischen Ordnung Holls Lutherdeutung und damit der Rückgriff auf den genuin reformatorischen Glauben als Lösungspotential für die Gegenwartsprobleme bestimmten die Diskussionlage über die Theologie hinaus. Dieser Rückgriff reihte sich ein in die exemplarisch zu belegenden Versuche der an die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunders anknüpfenden Konstruktion einer nationalprotestantischen Geschichtssicht als Legitimationsbasis für einen eigenständigen deutschen Weg der politischen und sozialen Entwicklung 115 . Im Gegensatz zu Troeltsch wird in dieser Geschichtsdeutung behauptet, von Luther her ließen sich eigenständig deutsche und in die Zukunft weisende Grundprämissen für das Verständnis und den Aufbau der politischen Ordnung gewinnen, die es erlauben sollen, die kulturzersetzende Kraft des modernen „Individualismus" durch ein neues Gemeinschaftsbewußtsein zu neutralisieren. Durch die Anknüpfung an die Tradition der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ergab sich ein vorstrukturierter Bezugsrahmen, der schon für die Wahrnehmung von Problemen von Bedeutung war. Für diese Tradition der nationalen Geschichtsschreibung war die Konzentration auf den Staat und die Zurückweisung des Gesellschaftsbegriffs kennzeichnend 116 . Zur exemplarischen Illustration dieser Grundhaltung sei nur Diet115 Vgl. dazu vor allem B. FAULENBACH, Ideologie des deutschen Weges. Zu den Bemühungen der Reformationsgeschichtsschreibung in der Weimarer Republik: „Es ist offenkundig, daß die Lutherische Reformation ... auch zur Begründung der Ideologie der besonderen deutschen Entwicklung herangezogen wurde. Die partiell an die nationalprotestantische Tradition anknüpfende, auf liberale Interpretationselemente verzichtende Stilisierung der Lutherischen Reformation zur historischen Basis des .deutschen Geistes' läßt die Absicht erkennen, an einem deutschen ideellen Identitätsbewußtsein festzuhalten, das insbesondere ein bestimmtes Staatsverständnis und eine spezifische Sozialethik implizierte" (S. 131). 116 O . WESTPHAL, Entwicklung einer allgemeinen Staatslehre. „Mehr als in anderen Ländern hat sich in Deutschland das öffentliche Denken dem Problem des Staates zugewandt, während es bei den westeuropäischen Völkern mehr der Begriff der Gesellschaft war, der im Mittelpunkt der entsprechenden Theorien stand. Ja, es hat sich die Verschiedenheit der Auffassung, ob man in dem Staate oder in der Gesellschaft den grundlegenden und einheitgebenden Begriff für das öffentliche Dasein der Völker zu suchen habe, geradezu einer der Hauptausdrucksformen zugespitzt für jenen Gegensatz des deutschen und des westeuropäisch orientierten Fühlens und Denkens, der im letzten Krieg seine Entladung fand" (S. 27). Vgl. auch J . KOCKA, Sozialgeschichte, zum Grundmuster der Politikgeschichte im 19. Jahrhundert: „Es gab ... nur zwei prinzipielle Möglichkeiten für die Geschichtswissenschaft, mit dieser nun erstmals aufgebrochenen, im Zuge weiterer Industrialisierung, sich verschärfender sozialer Konflikte, zunehmender Massenmobilisierung und vieler anderer Umwälzungen intensiver werdenden Herausforderung fertigzuwerden: entweder sie überprüfte das Paradigma von der Maßgeblichkeit des Staates als des Subjekts jedenfalls der neueren Geschichte ... oder aber sie hielt am Staat als dem eigentlichen Gegenstand der Geschichte fest und ertrug die damit verbundene Einengung des eigenen Gegenstands, aus dem sich immer deutlicher große Wirklichkeitsbereiche ausdifferenzierten" (S. 56). „Die zweite Alternative setzte sich, aufs Ganze gesehen durch. Dies bedeutete die Einleitung eines fundamentalen Verdrängungsprozesses . . . " (S. 57). M . RIEDEL, Staatsbegriff; H . MOMMSEN, Zum Verhältnis von politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft.
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rich Schäfer zitiert: „Der Staat bildet seit Jahrtausenden die anerkannte Gliederung der Menschheit, nicht die Gesellschaft. Mit gutem Grunde kann er deshalb auch als die überragende, die allwaltende Gemeinschaftsbildung angesehen werden" 1 1 7 -so Schäferin „Staat und Welt", dem ersten Band der „nationalen Bücherei", in der auch Brunstäds „Deutschland und der Sozialismus" erschien. Wo unter dem Eindruck der westeuropäischen Sozialphilosophie die liberale Theorie von „Gesellschaft" sprach, wurde emphatisch der Begriff der „Volksgemeinschaft" verwendet 118 . Die Geschichtsschreibung war im 19. Jahrhundert zugleich, nachdem die Staatsrechtslehre in Gestalt des Positivismus sich strenge methodische Selbstbegrenzung auferlegt hatte, zur politischen Leitwissenschaft geworden, die die zentralen Themen der Staatsrechtslehre übernahm und weiterführte 119 . Dies bedeutete das Zurücktreten der Orientierung an juristischen, im engeren Sinn verfassungsrechtlichen Fragestellungen, dem ein Bedeutungszuwachs der Reflexion auf den ZusamD . SCHÄFER, Staat und Welt; DERS., Protestantismus und Staat. Die Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft wurde entscheidend mitgeprägt durch F. TÖNNIES, Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Werk erschien erstmals 1887. Zu einer breiten Rezeption kam es signifikanterweise aber erst nach dem ersten Weltkrieg. Von 1920 bis 1926 erschienen 5 Auflagen. Zur Verbindung der Gemeinschaftsideologie mit dem Volksgedanken vgl. exemplarisch H . FREYER, Gemeinschaft und Volk. Nach Freyer gibt es in Deutschland, im Unterschied zum westeuropäischen Denken, einen „religiöse(n) Begriff des Volkes" (S. 15). Zur diesbezüglichen Diskussion in der Staatrechtslehre merkte Freyer an: "Die moderne Staatsrechtslehre hat sich gründlich davon abgewendet, die Verfassung bloß als ein System von Gesetzen anzusehen. Sie gibt ihr in dem Willen des Volks, der der Urgrund alles staatlichen Geschehens sei, eine existentielle Grundlage. Diesem neuen Staats- und Verfassungsbegriff hat die Lehre vom Volk entgegenzuarbeiten. Sie hat klar herauszuarbeiten, daß der Wille zur politischen Autonomie unwegdenkbar im Volke steckt und daß die staatliche Integration einer der Wege ist, auf denen das Wesen Volkstum zur Gestalt Volk wird" (S. 21). Zur zeitgenössischen Kritik der Sehnsucht nach Gemeinschaft vgl. H . PLESSNER, Grenzen der Gemeinschaft. Im wirklichkeitsfremden „sozialen Radikalismus" der Zeit sieht Plessner eine Folge lutherischer Mentalität, die den urchristlichen „Radikalismus" erneut belebt habe: „Als Deutscher brachte Luther der Welt den Ernst, der keine Kompromisse kennt, den Fanatismus des Gewissens, das alle Wahrheiten vor die Seele halten will und sich nicht beugt, es sei denn, daß es dazu selbst Ja sagt (S. 18)... Protestantismus ist die Religion der Konzessionslosigkeit, weil jeder Mensch unmittelbar zu Gott ist, und damit ein Bruch mit der Wirklichkeit. (S. 19)... Lutherischer Christ sein, und darum ist diese Religiosität im tiefsten deutsch, heißt alle Wertforderungen gleich tief, gleich unmittelbar, gleich ernst erleben und dennoch unter der Last ungebeugt dastehen und die Kraft zur Entschlossenheit, Schlichtheit, Eindeutigkeit aufbringen" (S. 20). 117
118
119 Vgl. O . WESTPHAL, Entwicklung: „Es ist das Geschlecht der Historiker, das das der Philosophen ablöste: in ihm war es, daß der eigentlich politische Begriff zur Reife kam" (S. 35). U. SCHEUNER, Hegel und die deutsche Staatslehre: „Etwa um die Zeit der Reichsgründung unterwirft sich ... die Rechtslehre den Methoden des Positivismus und damit werden die eigentlichen Grundfragen des Staates in diesem Bereiche heimatlos. So ist es in den Jahrzehnten zwischen 1870 und 1920 im wesentlichen die Geschichte und später die beginnende soziologische Forschung, die ein Bild des Staates zu entwerfen vermag und damit die Anschauungen der Zeit bestimmt" (S. 147). Zum Positivismus und dem mit ihm sich vollziehenden Auseinandertreten von Politik und Ethik, von Rechtswissenschaft und historischen Betrachtungen vgl. P. von OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. M . STOLLEIS, Verwaltungsrechtswissenschaft.
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menhang von Staatsverständnis und Bild der Geschichte als Legitimationsbasis korrespondierte, so daß der Streit um Geschichtsbilder verstärkt zu einem Streit um Legititmationsideologien für politische Ordnungen werden konnte. Der Reformation wurde in dieser Geschichtsschreibung eine entscheidende Weichenstellung zugesprochen. Wiederum nur exemplarisch sei Treitschke zitiert: „Gewiß war Luthers Tat eine Revolution, und da der religiöse Glaube im innersten Kern des Volksgemüts wurzelt, so griff sie in alles Bestehende tiefer ein, als irgendeine politische Umwälzung der neuen Geschichte" 120 . Diese Nationalgeschichtsschreibung hatte zugleich immer eine religiöse Grundierung, etwa in der Rede Rankes von den Staaten als „Gedanken Gottes" 121 , und ging von der Überzeugung einer Übereinstimmung zwischen Geist und Macht, Sittlichkeit und Staat aus, wie sie Meinecke am Beispiel Treitschkes beschrieben hatte: „Die Welt der Macht und die Welt der Ideen zu vereinigen unter dem Primate der Ideen, das war und blieb der höhere Sinn des Treitschkeschen Patriotismus" 122 . Aus der Tradition dieser Geschichtsschreibung speisten sich nicht nur die Historiographie der Weimarer Zeit, sondern auch die Bemühungen der protestantischen Theologie um das Staatsverständnis. Erich M. Mareks verkündet im „Logos" 1925: „Der moderne Nationalstaat ist im Grunde protestantisch und kann positiv nur protestantisch aufgefaßt werden" 123 . In einem Staat, der sich seiner „sittlichen und kulturellen Bedeutung bewußt ist", fallen für ihn „das staatlich und das sittlich Notwendige" zusammen. Und die „höchste Form der sittlich protestantischen Autonomie" 124 sieht er in dem Staatsmann verwirklicht, der sich am Wohl der Nation orientiert. Im Rückblick auf den „deutschen Staatsgedanken und die Ideen von 1914" deutet Gustav Boehmer 1933 den Zusammenbruch von 1918 als den „Pyrrhussieg des westeuropäischen Geistes, der politisch-philosophischen Ideologie der romanisch-angelsächsischen Welt über die germanische" 125 . 1918 120
H . v. TREITSCHKE, Luther und die deutsche Nation, S. 144.
L . v. RANKE, Politisches Gespräch. Wegen der enormen Wirkungsgeschichte, die die Rankeschen Gedanken gerade auch in der lutherischen Theologie entfalteten, sei die entsprechende Passage hier ausführlicher zitiert. Friedrich erläutert im Gespräch: „Alle die Staaten, die in der Welt zählen und etwas bedeuten, sind erfüllt von besondern, ihnen eigenen Tendenzen." Diese Tendenzen seien „geistiger Art, und der Charakter aller Mitbürger wird dadurch bestimmt. Durch die Verschiedenheiten, welche hieraus entspringen, werden die Formen der Verfassung ... allenthalben anders modificirt. Von der obersten Idee hängt alles ab. Das will es sagen, wenn auch die Staaten ihren Ursprung von Gott herleiten. Denn die Idee ist göttlichen Ursprungs" (S. 328). Deshalb seien die Staaten „Individualitäten ... Statt jener flüchtigen Conglomerate, die sich dir aus der Lehre vom Vertrag erheben wie Wolkengebilde, sehe ich geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes, - man darf sagen, Gedanken Gottes" (S. 329). 121
122
F. MEINECKE, Idee der Staatsräson, S. 465.
123
Ε . M . MARCKS, B e d e u t u n g , S . 9 0 .
124
E b d . , S. 92.
125
G . BOEHMER, S t a a t s g e d a n k e , S . 6 .
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bedeutet für ihn keineswegs das definitive Ende des Weltkrieges. Als Kampf um „entgegengesetzte staatsphilosophische Weltanschauungen"126 tobt der Weltkrieg „im Reich des Geistes" 127 noch weiter. Auch 1933 kann deshalb das nationale Gemeinschaftsgefühl des August 1914 beschworen werden: Boehmer verspürt die „Sehnsucht des deutschen Menschen nach einem eigenen politischen Volksglauben, in dem alle Deutsche sich finden können" 12 . Für den Historiker Paul Joachimsen datiert von der Reformation her „der besondere Charakter des deutschen Staates und sein besonderes Verhältnis zum sozialen Ethos" 1 2 9 . Aus Luthers Rechtfertigungsglauben ergebe sich die Einsicht in die „Unbedingtheit der Sittlichkeit" 130 und die Ablehnung eines egozentrischen Utilitarismus, wie er in den westlichen Gesellschaften mit ihrer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur herrsche. In seiner Abhandlung „Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens" vertritt er die Auffassung, die Reformation sei eine entscheidende Weichenstellung, die „den Unterschied der deutschen staatlichen Entwicklung gegen die westliche ... begreifen läßt" 131 . Im Gegensatz zum westeuropäischen Staatsdenken, für das ein optimistischer, individualistischer und rationalistischer Gesellschaftsbegriff grundlegend sei, orientiere sich das deutsche Staatsdenken an der Vorstellung einer Gemeinschaft, in Gestalt des Volkstums, und der Idee einer „Persönlichkeit", die um ihren schöpferischen Grund in der Religion wisse und ihre Vollendung im Dienst am Ganzen suche. Im deutschen Staatsdenken melde sich immer wieder „die alte Lutherfrage der Pflichten gegen den Nächsten" 132 und werde deshalb auch dem Staat die Aufgabe zugesprochen, nicht nur Instrument im Dienste der Verwirklichung egoistischer Interessen, sondern ein unabhängiger „Regulator" 133 der sittlichen Pflichten zu sein. Otto Westphal beschreibt in seiner „Philosophie der Politik" Protestantismus und Luthertum als eigenständige, weltgeschichtlich bedeutsame Geistesmächte und dementsprechend die Reformation als deren entscheidenden Ursprung: „Am Anfang der deutschen Geschichte war nicht die Tat, sondern das Gewissen. Bezeichnen wir diese Kraft des Anfangs: Das Luthertum" 134 . Mit ihm sei ein neues „Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen" 135 begründet worden, das auch für das Verständnis des Politischen enorm folgenreich gewesen sei. Für Westphal gibt es eine Traditionslinie gerade in der politischen Ideengeschichte von Luther über das staatsphilosophische Denken im deut126 127 128 129
Ebd., S. 7. Ebd., S. 27. Ebd., S. 9. P. JOACHIMSEN, Sozialethik, S. 5 0 2 .
P. JOACHIMSEN, Zur historischen Psychologie, S. 597. 131 Ebd., S. 588. 132 Ebd., S. 577. ш Ebd., S. 578. 134 O . WESTPHAL, Philosophie der Politik, S. 250. 135 Ebd., S. 254. 130
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sehen Idealismus zu den „Ideen von 1871", eine Linie, die für ihn im radikalen Gegensatz zu den „Ideen von 1919" steht. Luther habe einen „gewaltigen Schritt vorwärts auf der Bahn der Emanzipation des Weltlichen getan" 136 und damit auch einer religös legitimierten Selbständigkeit politischer Herrschaft Bahn gebrochen, die jedoch alles andere als bloßes Machtstaatsdenken sei. Gerade die Uberwindung des „liberalen Dualismus" 137 von Machtgebrauch und Sittlichkeit sei von der Tradition des protestanischen Denkens her geboten. In seiner Abhandlung „Deutscher und europäischer Geist im Spiegel der neueren Kirchengeschichte" erklärt Gerhard Ritter die Reformation zur „größte(n) geistlich-politische(n) Revolution des Abendlandes" 138 . Denn Luthers Reformation habe die „Priesterhierarchie" zerstört und durch eine „christliche Gesinnungsgemeinschaft" 139 ersetzt. Der lutherische Geist habe insbesondere das Verhältnis der Deutschen zur politischen Macht in einer doppelten Weise geprägt: „Einerseits wird hier unbedingter Gehorsam gepredigt, da die evangelische Kirche keine selbständige kirchliche Rechtssphäre neben der staatlichen behauptet... Andererseits erhebt nun aber der Altprotestantismus gerade wegen seines Verzichts auf eine eigene kirchliche Rechtssphäre ... viel stärkeren Ansprüche an die christliche Gesinnung der Obrigkeiten ... Die Reformation trägt den unerbittlichen Ernst ihrer religiös-sittlichen Forderungen weit energischer auch in die Sphäre weltlicher Politik hinein" 140 . Der Historiker Rudolf Craemer sieht 1933 in seinem Vortrag vor der 2. Konferenz evangelischer Akademiker unter dem Titel „Evangelische Reformation als politische Macht" in „Luthers evangelischer Reformation ... die 136 O . WESTPHAL, Theologie, S. 29. Die Veröffentlichung stellt eine Antwort dar auf H . HOLBORNS Kritik an Westphals „Feinde Bismarcks" in seinem Aufsatz „Protestantismus und politische Ideengeschichte". Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage nach dem Verhältnis von historischer Forschung und politischen Urteilen. Westphal rechnet Holborn zu den „Unpolitisch-Lebensnahen, denen die Unbescholtenheit der ,Art- und Sinnzusammenhänge' mehr am Herzen liegt als die Charakteristik geistiger Vorgänge aus der Bewegung der .Großen Mächte' und der Parteien der Gesellschaft heraus" (Theologie, S. 18). Er vertrete einen dualistischen Standpunkt, der „ein Erbgut des Liberalismus" darstelle, der „Wissen und Glauben, Recht und Macht, Sollen und Sein grundsätzlich auseinanderriß" (S. 19). Es sei die Tendenz Holborns, „den Ideen von 1871 soviel Wässer wie möglich abzugraben. Vor allem soll ihnen das Luthertum entzogen werden" (S. 41). Holborn hatte die These Westphals kritisiert, die Ideen von 1871 und Bismarcks Politik seien eine direkte Folge lutherischen Denkens: „Luther stand keineswegs nur bei Bismarck, er rumorte ebenso kräftig bei denjenigen, die in lebhafter Opposition gegem Bismarck standen, ζ. B . schon beim lutherischen Partikularismus, bei Stöcker, bei Naumann, aber auch bei Nietzsche. So mißlich es schon sein mag, die deutsche Geschichte allein von Luther aus zu verstehen, so unmöglich ist es, nur die siegreichen Gewalten der deutschen Geschichte als Luthertum zu verherrlichen" (Protestantismus, S. 29). 137
O . WESTPHAL, T h e o l o g i e , S . 2 0 .
138
G . RITTER, Deutscher und westeuropäischer Geist, S. 118. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120.
139 140
Weltanschauung und Staatsform
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Mitte der deutschen Geschichte". Wie Westphal und Ritter betont er den Zusammenhang zweier Elemente im lutherischen Verständnis des Politischen. Die Anerkennung starker, selbständiger personaler Autorität als „Ort wirklicher Souveränität", wie sie Hindenburg und Hitler repäsentierten, sei verbunden mit einer „strenge(n) innere(n) Bindung der politischen Herrschaft". Aufschlußreich ist nun aber, wo solche „Bindung" der politischen Herrschaft gesucht wird. Craemer beansprucht gerade auch in rechtspolitischen Fragen im Geiste Luthers zu denken. Für Luther gilt nach Craemer: „Solche Gebundenheit sucht Luther nicht im Rechtsgrunde der Verfassung. Mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit sieht er die Staatsformen an"141. Nicht die Relation zu äußeren Ordnungsformen sei entscheidend, sondern die „reformatorische Begründung des Staates beim Gewissen" 142 . Das Gewissen, der „alleinige O r t evangelischer Entscheidung", ist der Ort, an dem der einzelne allein vor Gott stehe und deshalb auch gegenüber dem Volkswillen „ungebunden" 143 sei. Die Entwicklung und Stärkung einer inneren Verbindlichkeit am O r t des Individuums ist auch für Heinrich Bornkamm ein entscheidender Beitrag Luthers zur deutschen Kultur. In seiner anläßlich der Lutherfeier 1933 gehaltenen Rede „Luther und der deutsche Geist" erklärt er, daß Luther und „das deutsche Wesen" in einem „tiefen, verborgenen Wurzelgeflecht" 144 verbunden sind. Das neue im Gewissen begründete Gottesverhältnis, das „Luther (!) ... den Deutschen ... schenkte", verstärke gerade nicht die „Neigung zum Individualismus" 145 : „Das Ich des lutherischen Menschen wird zur freien Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft erzogen" 146 . Diese Stärkung des „Mut(s) zu eigener Verantwortlichkeit" 147 lasse sich „am leichtesten" am „deutschen Staatsgedanken" ablesen, der weniger in der Form einer theoretischen und abstrakten Staatslehre als vielmehr „in einem viel tiefer greifenden Staatsgefühl" 148 existiere. Weil dieses auch den „Staatsmann unter das Gesetz der Gerechtigkeit und der Liebe" 149 stelle, habe es die Rezeption einer machiavellistischen Machtpolitik in Deutschland verhindert, also gerade jene Entwicklung nicht ermöglicht, die Troeltsch durch den Einfluß der lutherischen Sozialethik gefördert gesehen hatte. In der inneren Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit, wie sie im Staatsgefühl gegeben sei, sei auch der Grund dafür zu suchen, daß „rücksichtslose Interessenpolitik, Bruch von Recht und Verträgen und ein ländersüchtiger Imperialismus... - anders als im katholischen, calvinistischen oder anglikanischen Westeuropa - dem lutherisch 141
R. CRAEMER, Evangelische Reformation, S. 14. Ebd., S. 11. 143 Ebd., S. 14. 144 H. BORNKAMM, Luther und der deutsche Geist, S. 4. 145 Ebd., S. 6. 146 Ebd., S. 5. 147 Ebd., S. 9. 148 Ebd., S. 10. 149 Ebd., S. 11. 142
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
erzogenen deutschen Volke immer fremd gewesen" seien. Solche spezifisch deutsch-lutherische Sittlichkeit und „ehrfürchtige Anerkennung der Lebensnotwendigkeiten anderer Völker" ist es nach dem Urteil Bornkamms auch, die „der Außenpolitik Adolf Hitlers die spontane Zustimmung des deutschen Volkes"150 einbringe. Auch diese Versuche, dem lutherischen Denken eine konstitutive Funktion für die Tradition einer spezifisch deutschen politischen Ideengeschichte zuzusprechen, sind durchgängig von den beiden schon genannten Leitfragen des Streits um Luther im 20. Jahrhundert bestimmt. Sie lassen darüber hinaus auch die Konturen der Antwort erkennen, die Staatsrechtler, Historiker und Theologen durch den Rückgriff auf die lutherische „Weltanschauung" zu finden hofften: Der als spezifisch lutherisch behauptete Rekurs auf die Innerlichkeit, die Gesinnung, das Gewissen, und das Insistieren auf der Selbständigkeit staatlicher Macht diente gerade nicht der Beförderung des Rückzuges des Individuums von der,Außenwelt', einer Ergebung in und Anpassung an die jeweiligen politischen Verhältnisse und damit dem Verzicht darauf, auch das politische Handeln an sittlichen Maßstäben auszurichten. Er diente vielmehr dem entgegengesetzten Interesse einer nicht mehr durch die Kirche als Institution verwalteten Stärkung und Steigerung persönlichen Pflicht- und Verantwortungsbewußtseins im Bereich des „weltlichen" Handelns. Dies wurde über die These geleistet, daß das Individuum gerade in seiner Innerlichkeit immer schon auf die Gemeinschaft als Grund seiner eigenen Identität bezogen sei. c. Luther und die deutsche Staatsidee Das Interesse, durch die Rückwendung zum Subjekt das Politische zu versittlichen und darin zugleich eine innere Verbindlichkeit zu erzeugen, ist auch das Grundmotiv in Binders, Holsteins, Gerbers und Smends Versuchen, das Fundament für eine integrierend wirkende, politische Weltanschauung gerade durch den Rekurs auf lutherische Tradition zu legen. Auch hier ist die Abgrenzung von Troeltschs Lutherdeutung ein durchgängiges Thema. Zugleich läßt sich an diesen Versuchen aber jene Grundtendenz aufweisen, die schon die Neuinterpretation des Verfassungsrechts und insbesondere der Grundrechte bestimmte. Die Rückwendung zum Subjekt erfolgt im Interesse seiner inneren Vergemeinschaftung. Der Aufbau von neuer Verbindlichkeit wird mit den Mitteln einer staatlich zu verwaltenden „Weltanschauung" ins Innere des Individuums vorangetrieben. Die befürchtete Bedrohung der staatlichen Einheit und Handlungsfähigkeit durch den „Individualismus" soll über den Erweis seiner defizitären ethischen Qualität, die Herausarbeitung der konstitutiven Funktion der Gemeinschaft und der daraus sich erge150
Ebd., S. 12.
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benden inneren Verbindlichkeit in Gestalt der Pflicht zum Dienst am Ganzen entschärft werden. Julius Binder diagnostizierte bei Troeltsch eine Trübung des „Blick(s) des Religionshistorikers" durch die „politische Leidenschaft" 151 wegen dessen Behauptung, der lutherische Staatsbegriff bedeute die „Verherrlichung der Gewalt um der Gewalt willen ... und glorifiziere die jeweils herrschende Macht als solche" (15). Mit Holl weiß er sich gegen Troeltsch darin einig, daß sich bei Luther im Unterschied zu Augustin gerade keine „Staats- und Weltverneinung" (13) finde. Vielmehr habe er die „sittliche Aufgabe" (17) des Staates eingeschärft und so das Fundament einer spezifisch konservativen Staatstheorie gelegt, die nie eine „Heiligsprechung der bloßen Gewalt" vorgenommen habe (17). Luther hat nach Binder erkannt, „daß der Staat sein eigenes Wesen, seine eigenen Aufgaben, sein eigenes Recht auf Dasein" (10) hat. Dies sei der eine Aspekt des Sinns der Aussage, daß die Obrigkeit von Gott sei. Solche Selbständigkeit und eigene Dignität gelte nicht nur gegenüber Machtansprüchen der Kirche, sondern auch gegenüber den Ansprüchen der einzelnen Bürger. Deshalb habe Luther auch die Volksherrschaft als Herrschaft des Pöbels und des „Herrn omnes" (19) abgelehnt. Der andere Bedeutungsaspekt der Rede vom Staat als Obrigkeit, der für Binder bei Luther allerdings zunächst nur „unbewußt" sich geltend mache, weise über das Verständnis bei Paulus, im Mittelalter und der gesamten romanischen Welt hinaus. Dachten sie „den Staat im wesentlichen als die dem Einzelnen fremd gegenüberstehende Macht" (9), so verstehe Luther den Staat wesentlich als „Gemeinschaft, die den einzelnen in sich aufnimmt, an der er mitwirkt und mitschafft, durch die der einzelne in seinem ganzen Dasein bedingt ist, wie sie selbst durch ihn". Ein derartiges Verständnis lasse es nicht mehr zu, das Verhältnis des einzelnen zum Staat als das von passivem Untertanendasein und Obrigkeit zu begreifen. In dieser Grundfigur einer wechselseitigen harmonischen Bezogenheit von Individuum und Gemeinschaft ist das Zentrum der spezifisch deutschen Staatsanschauung zu suchen. Individuum und Gemeinschaft gelten als gleichursprünglich und zunächst von gleichem Wert. De facto gilt das Interesse dieser Argumentation allerdings nicht der Stärkung der Stellung des Individuums, sondern dessen Einbindung in die Gemeinschaft. Wird der Staat zur Gemeinschaft erklärt, dann findet diese Gewichtung auch Anwendung auf die Fassung des Verhältnisses von Individuum und Staat. Der Staat gründet dann nicht auf der „Wechselwirkung ... der einzelnen Individuen untereinander, sondern von Individuum und Gesamtheit..., die eines ohne das andere nicht denkbar sind". Darin ist nach Binder „das Organische in dieser Staatsauffassung, das jeder individualistischen Staatstheorie fremd ist" (17), zu suchen. Der Duktus der Argumentation, für den Binder ausdrücklich eine 151 J. BINDER, Luthers Staatsauffassung, S. 16. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf diese Publikation.
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Übereinstimmung mit Luthers Denken beansprucht, stellt sich folgendermaßen dar: „Wir gehen vom Individuum aus, nach dessen Sinn und Wesen wir fragen; wir denken über den Grund seines Daseins nach und erfassen ihn in seiner sozialen Bedingtheit; wir werden uns darüber klar, daß der Mensch im Grunde gar nicht als das Einzelwesen der Aufklärungszeit und des modernen Liberalismus und Demokratismus besteht; daß dieses eine bloße Abstraktion ist; ... daß er sein höheres geistiges und sittliches Wesen nur im Gemeinschaftsleben führen und entfalten kann ... Und von dieser Erkenntnis des Wesens des Menschen kommen wir weiter zu der Erkenntnis, daß Staat und Individuum auch nicht in den Gegensatz gestellt werden können, wie es der politische Individualismus unserer Tage tut" (10). Die Bezogenheit des Individuums auf die Gesamtheit äußert sich am Ort des Individuums in der Forderung, seiner Pflicht zum Dienst am Ganzen nachzukommen. Dies ist für Binder der innere Sinn des lutherischen Berufsgedankens. In ihm findet sich die Konkretion der „Gemeinschaftsidee" (19), des Gedankens der „gegenseitigen Bedingtheit" und „Wechselbeziehung", denn für dieses lutherische Berufsverständnis gilt: „Durch den Beruf wächst der Mensch über sich hinaus, indem er sich in die Gemeinschaft einfügt" (20). Dieses Berufsverständnis impliziere dann weiter, daß der Gedanke der „politischen Pflicht" Vorrang erhalten müsse vor dem Gedanken der „politischen Berechtigung" (19). So wird Luther für Binder zum Begründer eines deutschen Staatsideals, des „organischen Staatsgedankens", und zum Kronzeugen für seine eigene antiliberale Staatsanschauung. Luther habe gleichsam geschichtstranszendent wesentliche Einsichten späterer Zeiten vorweggenommen. Deshalb mute auch „manches an seiner Staatstheorie so viel moderner" an als die abstrakt-rationalistische Staatstheorie der Aufklärungszeit (10). Luther stehe im „Gegensatz zu dem aufklärerischen Idealismus des 18. Jahrhunderts, aus dem der moderne Liberalismus und Demokratismus hervorgegangen sind, die Troeltsch allein kennt und anerkennt" (18). Im Gegenzug zu den „weithin wirksamen Arbeiten der beiden Heidelberger Freunde Troeltsch und Max Weber", nach deren Urteil „lediglich der Kalvinismus positive politisch-ethische Bedeutung" 152 habe, formuliert auch Günther Holstein „mit allem Nachdruck" seine These, „daß im Luthertum ein eigentümlicher Typus staatlicher Lebensgestaltung zur Geltung zu kommen sucht" 153 . Luther selbst habe zwar noch nicht eine systematische Staatslehre entfaltet, aber aus dem „Urgrund seines großen religiösen Grund152 G . HOLSTEIN, Luther, S. 7. Vgl. dazu auch G . RITTERS Rezension: Es handelte sich bei dieser Schrift - so Ritter - „um einen Versuch, den spezifisch lutherischen Gehalt in den großen staatsphilosophischen Systemen des deutschen Idealismus zu bestimmen". Holstein habe Ritter in „privatem Briefaustausch ... b e k a n n t . . . , daß er dieses Programm einer Lebensarbeit selbst nur als vorläufig betrachtet wissen möchte . . . " (S. 387). 153
G . HOLSTEIN, L u t h e r , S . 8 .
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gefühls" eine „prinzipielle Rechtfertigung des Staates vor dem religiösen Gewissen"154 vollzogen, die im deutschen Idealismus eine „begriffliche Denkform" erhalten habe und damit zur „vollen Entfaltung"155 gebracht worden sei. Die Gedanken Luthers hätten über „Lehre und Predigt des Protestantismus" ihre Wirkungsgeschichte „durch das ganze Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts" entfaltet und so zur Ausbildung einer „große(n) weltgeschichtliche^) Perspektive"156 für das deutsche Staatsdenken geführt. Nur bei Kant hat Holstein bezeichnenderweise Schwierigkeiten, ihn in diese Tradition einzureihen157. Er findet bei ihm zwar auch „die gefühlsmäßige Konservierung genuin lutherischer Elemente"158, die aber unverbunden geblieben seien mit den ihn prägenden Elementen der Aufklärung. Kants „ausgeprägte(r) Individualismus"159 wirke sich in seiner Gleichsetzung des „Staatswerdens" mit dem „Rechtswerden" aus, die vorrangig dazu diene, staatliche Eingriffe „in das freie Denken und das freie Handeln des einzelnen" abzuwehren. Solchen Eingriffsmöglichkeiten stehe Kant, in Ubereinstimmung „mit dem ganzen aufstrebenden Bürgertum", mit „unverhohlener Abneigung" gegenüber. Daneben melde sich in dieser Konzentration auf den Rechtsgedanken allerdings auch das lutherische „Grundgefühl" von der „sittlichen Würde der staatlichen Ordnung" 160 . Aber letztlich habe Kant den Staat doch nur in einem „metaphysischen Minimum", dem Gedanken der Freiheit des Individuums konstituiert. Ein weiteres entscheidendes Defizit kantischen Staatsdenkens sieht Holstein darin, daß „der Begriff der Nation und des Nationalen"161 und damit der Gedanke der historisch gewachsenen Individualität eines Staates bei ihm keine Rolle spielen: „Das besondere Staatsgefühl des Landes, in dem er doch lebte, das warmherzige preußische Nationalgefühl ... fehlt dem Philosophen von Königsberg so gut wie vollständig"162. Erst im deutschen Idealismus würden diese Defizite des kantischen Staatsdenkens wieder ausgeglichen. Ihn gilt es nach Holstein zu begreifen als eine „philosophisch-religiöse Laienbewegung großen Stils, die beim Versagen der Theologie in die Bresche springt und von sich aus den Versuch macht, die der deutschen Welt seit der Reformation eigentümlichen religiösen und ethischen Positionen gedankenmäßig neu zu begründen und zu sichern"163. Der Staat dürfe im Geiste dieser protestantischen Tradition nicht als reiner Machtstaat verstanden werden, sondern stehe im Dienste der „Verwirkli154
Ebd., S. 9. Ebd., S. 23. 156 Ebd., S. 11. 157 Ebd., S. 14 f. Vgl. auch G. HOLSTEIN, Staatsphilosophie Schleiermachers, S. 50, 79. 158 HOLSTEIN, Staatsphilosophie Schleiermachers, S. 22. 159 Ebd., S. 22. 160 Ebd., S. 24. 155
161
G . HOLSTEIN, L u t h e r , S. 16.
162
G. HOLSTEIN, Staatsphilosophie Schleiermachers, S. 26.
163
G . HOLSTEIN, L u t h e r , A n m . 78, S. 40.
172
Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
chung gottgewollter Rechts-, Gerechtigkeits- und Ordnungsideen" 164 . Für Holstein ist Luthers Einsicht entscheidend, daß Gott „unmittelbar" hinter dem Staat stehe als einer von ihm geschaffenen „sittliche(n) Ordnung des natürlichen Lebens" 165 . Die Kirche habe dem Staat gegenüber deshalb keine Richtlinienkompetenz, etwa im Sinne des Anspruchs, ihm einen „Komplex äußerer Normen" 166 vorgeben zu können. Diese Einsicht sei im deutschen Idealismus aufgenommen worden durch die Herausarbeitung eines eigenständigen „objektiven Ethos des Institutionellen als gottgewollter Ordnung"167. In diesem Gedanken liegt für Holstein eine der entscheidenden Verbindungslinien zwischen Luther und Hegel, die zugleich den Unterschied begründet zwischen „aller irgendwie auf lutherischem Grundgefühl aufgebauter Staatsverfassung gegenüber der eines individualistisch gestimmten religiösen Radikalismus". Kenne solcher Individualismus nur das „Gegeneinander von Individuum und Gott, von subjektive(m) und absolute(m) Geist" und könne er folglich in den Sozialinstitutionen nur das Werk des Individuums sehen, über dem deshalb das „Nein Gottes" stehe, so könne lutherisches, durch Hegel in die systematische Form gebrachtes Denken in den Institutionen mehr als bloß subjektiven Geist, „ein Stück objektive(n) Geist(es)" wahrnehmen. Die Sozialordnungen wie Familie, Beruf, Volk und Staat würden damit zu einem „System transsubjektiver, gottgesetzter Werte"168, die „zugleich unter dem Nein und Ja Gottes" 169 stünden und eine neue Würdigung als „gottgewollte Ordnungen" erführen. Aus der Perspektive des Individuums ergibt sich auf der Grundlage einer derartig harmonisch gedachten Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit: Der einzelne und die Ordnung stehen sich nicht fremd gegenüber. Der Mensch wird aus seinen natürlichen Lebenszusammenhängen nicht herausgerissen, sondern sie werden zu Mitteln der Gestaltung des persönlichen Lebens, die ihm, in Gestalt sittlicher Anforderungen, zur Erfüllung der mit ihnen gesetzten Pflichten erscheinen. Mit diesem Verständnis des objektiven Geistes wird für Holstein jener Antagonismus vermieden, den er als unvermeidbare Folge der westlichen Staatsphilosophie meint feststellen zu können: „Radikale Wendung des einzelnen gegen den Staat, radikale Wendung des Staates gegen den Einzelnen" 170 . An seine Stelle trete auf der Grundlage des lutherischen „Staatsgefühls" ein Verständnis des Staates als „organische(r) Lebenseinheit", nach dem der Staat „nicht lediglich vom Individuum aus zu begreifen" sei, sondern beide „vereint miteinander, wesenhaft ineinander verschlungen gedacht werden"171. Ebd., Anm. 19, S. 29. Ebd., S. 9. 166 Ebd., S. 10. 167 Ebd., S. 30. 168 Ebd., S. 30. 169 Ebd., S. 31. 170 Ebd., S. 13. 171 Ebd., S. 19. 164
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Dieser organische Staatsgedanke sei, so die These Holsteins, entgegen der geläufigen Zurückführung auf Schelling erstmals theoretisch von Schleiermacher in seinen entscheidenden Grundzügen entwickelt worden 172 . Schon an den „Reden über die Religion" versucht Holstein zu zeigen, wie sich aus dem Schleiermacherschen „Erklärungsprinzip des geistigen Lebens", dem polaren Zusammenwirken der beiden Grundbewegungen des Lebens, „durstiges Ansichziehen" und „rege(s) und lebendige(s) Selbstverbreiten"173, der Gedanke der Individualität und damit der „Grundstein zu einer neuen soziologischen Anschauung" 174 ergibt. Der Grundgedanke läßt sich nach Holstein folgendermaßen formulieren: „Jede Existenz ruht in sich und hat doch ihre Beziehung auf das Ganze". Mit dem „Erlebnis der Individualität ist zugleich auch das Erlebnis der innerlich bedingten Gemeinschaft der Individualitäten gegeben; die Erkenntnis des Individualitätsgedankens vernichtet das Vereinzelungsstreben, den schematischen Individualismus des 18. Jahrhunderts und setzt einen ursprünglichen soziologischen Zusammenhang an dessen Stelle" 175 . Die Gemeinschaft werde damit für den einzelnen zur „Ergänzung der eigenen Kraft, als Gefühl gemeinsam erhöhten Lebens" 176 . Mit diesem Individualitätsgedanken werde nicht nur das „Individuum aus der Vereinzelung des Rationalismus herausgeführt und dem Mutterschoß der Gemeinschaft zurückgegeben" 177 sondern auch das mechanistische Verständnis des Staates als Maschine durch das Prinzip lebendiger, mannigfaltiger Wechselwirkungen abgelöst. Mit diesem Verständnis des Staates als organischer Lebenseinheit und Gemeinschaft werde es auch, wie Schleiermachers Denken zeige, möglich, den je individuellen Charakter des Staates in Gestalt der „geistig-sittlichen"178 Wirklichkeit der Nation zu begreifen und zu würdigen. Damit werde der „Kosmopolitismus" der Aufklärung überwunden. Die „kulturelle Einheit der Welt" verwirkliche sich nicht „jenseits der nationalen Individualitäten", sondern gerade durch die lebendige Beziehung der „Völkerindividualitäten" 179 . Nach innen werde der „Volksgeist" zur lebendigen, integrierenden, individuellen Gesamtwirklichkeit des Staates, in der einzelner und Gemeinschaft in Wechselwirkung stünden und in Vergangenheit und Zukunft einer Gemeinschaft miteinander verbunden seien. Die Funktion des Staates besteht für Holstein signifikanterweise darin, das Individuum in der Weise umfassender Integration auf den Staat hinzuordnen: „Der Staat soll für den Einzelnen sein, indem er den Einzelnen zu lebendiger Tat im Staat und am Staat G . HOLSTEIN, Staatsphilosophie Schleiermachers, S. 52 f., 108 f. Ebd., S. 42. 174 Ebd., S. 43. 175 Ebd., S. 44. 176 Ebd., S. 50. 177 Ebd., S. 51. 178 Ebd., S. 21. 179 Ebd., S. 89. 172 173
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ruft und so alle (!) Lebensmächte, die im sittlichen Sein des Einzelnen zur Entfaltung drängen, zu sich zieht. Er vermag das zu tun, indem er in dem Einzelnen das staatliche Gliedgefühl weckt" 180 . Gleichwohl behauptet Holstein, dieses Verhältnis sei „wechselseitig" strukturiert. Es äußere sich in „sittlicher Bindung zwischen Untertan und Obrigkeit" 181 , d. h. in gegenseitigen Pflichten. Die Obrigkeit habe die Pflicht zur „Positivität sittlicher, sozialer, geistiger Fürsorge". Dem korrespondiere auf der Seite der Untertanen die Pflicht zum „äußeren Gehorsam", zur „inneren Ehrerbietung" und zur Arbeit an der Versittlichung des Staates. Wie Binder rekurriert Holstein dabei auf den Gedanken „evangelischer Berufssittlichkeit, ... die der Staatsauffassung Luther ein entscheidendes Gepräge gibt". Auftrag der Kirche sei es, dieses „in der letzten Tiefe christlichen Gewissens verwurzelte Verantwortungsbewußtsein"182 zu schärfen. Beruf, innere Verpflichtung und daraus resultierender „ethischer Aktivismus" sind für Holstein die Folge der „Begründung der Persönlichkeitsidee ... in einem transzendentalen religiös-sittlichen Zusammenhang", wie sie in der protestantischen Tradition auf der Grundlage von „Luthers religiöser Grundkonzeption" herausgearbeitet worden sei. Durch sie werde der „wesenhafte Kern alles Sozialen in eine letzte ethisch-geistige Innerlichkeitsbeziehung"183 verlegt, so daß die auf diesen Einsichten aufbauende Ethik „primär" als „Gesinnungs- und Gewissensethik" 184 bezeichnet werden könne. Holstein sieht den lutherischen Staatsgedanken inhaltlich durch drei Motive bestimmt: „Die Wertung der natürlichen Lebensordnungen als gottgewollter Ordnungen, der Imperativ an den Einzelnen zur sittlichen Einordnung in sie, die Pflicht des Einzelnen, seine sozialen Beziehungen mit christlichem Geist zu durchdringen und so die natürlichen Ordnungen zu höherer Sittlichkeit zu durchformen" 185 . Wenn es gelingt, das „durch die Reformation gewonnene ethische Staatsbewußtsein" 186 festzuhalten, sieht Holstein Grund zur Hoffnung, daß „der Geist evangelischer Gläubigkeit" noch einmal, wie in den Zeiten der Befreiungskriege und der Steinschen Reformen, „unter die politisch sittliche Wiedergeburt der deutschen Nation sein allversiegelndes Amen" 187 setzen wird. Das Ergebnis von Hans Gerbers Sichtung des Staatsdenkens von Friedrich Brunstäd, Paul Althaus und Emanuel Hirsch lautet: „Gerade der Nachweis für eine wahrhaft christlich-religiöse Staatslehre durchgängig evangelischer 180
G . HOLSTEIN, Luther, S. 20.
Ebd., 182 Ebd., 183 Ebd., 184 Ebd., 185 Ebd., 186 Ebd., 187 Ebd., 181
S. 13. S. 10. Anm. 78, S. 31. Anm. 78, S. 31. S. 19; Staatsphilosophie, S. 19. S. 14. S. 23.
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Prägung scheint mit gelungen zu sein" 188 . Ernst Troeltsch ist damit für ihn „widerlegt" 189 , insbesondere dessen Behauptung, das Luthertum habe kein eigenes Staatsideal hervorgebracht und nur eine Mentalität „skrupelloser Staatsvergötzung" 190 gefördert. Dieses Ergebnis beurteilt Gerber selbst als „hochbedeutsam", da es einerseits die Möglichkeit eröffne, durch das in diesem evangelischen Staatsdenken entfaltete Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft, das für ihn der schon bei Binder und Holstein dargestellten Struktur entspricht, „weite Volkskreise ... wieder innerlich mit dem Staate zu verbinden"191. Dem durch Aufklärung und Rationalismus inaugurierten „Kulturzerfall" könne nur durch die Entwicklung neuer Bindungen gewehrt werden; hierzu leiste das evangelische Staatsdenken einen entscheidenden Beitrag, indem es „das ursprüngliche Erlebnis der unbedingten Bindung und Verpflichtung der endlichen Persönlichkeit" und die Notwendigkeit der „bewußten Pflege dieses Erlebnisses in weltanschaulicher Gemeinschaft" 192 herausarbeite. Andererseits ergebe sich eine Kongruenz zwischen der neueren staatsrechtlichen Diskussion und der Staats- und Rechtsauffassung der von ihm untersuchten lutherischen Theologen. Letztere unterstütze die Kritik des Rationalismus und Positivismus, vor allem durch ein Verständnis des Staates als Gemeinschaft, zu der der einzelne immer schon in einer inneren Beziehung stehe, und durch die Konzentration auf den „ideellen Gehalt" des Rechts. Staat und Recht seien bei diesen Theologen nicht verstanden als „Gegebenheiten, die dem Menschen gegenüber' stehen in irgendwie denkbarerWeise; es handelt sich vielmehr bei ihnen um das menschliche Leben selbst; ihre Wirklichkeit ist identisch mit der Wirklichkeit der Menschen und zwar der Menschen als Persönlichkeiten". Ihnen gelte die Gemeinschaft als „gottgewollt und daher das Einsetzen für ihre Verwirklichung als Gehorsam gegen Gottes Willen" 193 . Selbständigkeit und Dignität staatlicher Macht in Gestalt des Gedankens der Schöpfungsordnung seien in diesem theologischen Staatsver188 H . GERBER, Idee des Staates, S. 52f. Vgl. auch die kurze Besprechung von H . TROEBS in den „Jungnationalen Stimmen": „ E s braucht nicht betont zu werden, wie völlig sowohl diese erneuerte evangelische Staatslehre in ihrer Stärke und Lebensmächtigkeit als auch Gerbers kritische rechtsphilosophische Weiterführung der Grundrichtung auch der jungnationalen Bewegung sich einfügt, ja sie persönlich wie sachlich von Anbeginn bestimmt hat und noch bestimmt" (S. 64). Gerber war selbst Mitherausgeber der ab 1919 erscheinenden „Jungdeutschen Stimmen. Rundbriefe für den Aufbau einer wahrhaften Volksgemeinschaft". D o r t verkündete er schon 1920: „Nicht die monarchische Staatsform schafft uns den erwünschten deutschen Staat - ebensowenig wie die demokratische - , sondern die Einstellung unseres Willens auf den Gedanken der Volksgemeinschaft" (Nationale Sozialpolitik, S. 260). Vgl. auch auch H . GERBERS Artikel „Der Staat als Wille. Gedanken zu dem Versuch einer Abhandlung über die Grundlagen deutscher Staatslehre". 189 1.1 1.2 1.3
H . GERBER, Idee des Staates, S. 51. E b d . , S. 52. E b d . , S. 17. E b d . , S. 62.
190
E b d . , S. 19.
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ständnis ebenso betont wie der Zusammenhang von Sittlichkeit und Macht und die Würdigung des Volkstums. Die rechtliche Ordnung wird nach Gerbers Sichtung verstanden als „das Mittel, durch das sich ein Volk in Zucht nimmt und stark ist. Gerade darin begründet sich aber wieder der Staat vom christlichen Grunderlebnis aus neu. Denn dies führt... zu einem gläubigen Ja zu der anlagemäßigen Bindung des einzelnen in seinem Gemeinschaftsstreben an die individuelle Gemeinschaft des Volkes" 194 . Der Staat sei diesem Verständnis gemäß kein Selbstzweck, sondern stehe im Dienst der Ermöglichung von Gemeinschaft und der Ausbildung von Persönlichkeit: „Der Staat ist in seinem Wesen göttlich, da sein Sinn nur darin gefunden werden kann, als rechtlich befriedete und gestaltete Volksgemeinschaft Mittel zur Verwirklichung persönlichen Lebens in der Gemeinschaft zu sein" 195 . Ein klares Bewußtsein der Notwendigkeit der Pflicht zum Staat mittels des Berufsgedankens, als Erfahrung der „sittliche(n) Nötigung" 196 , sei in diesem evangelischen Staatsdenken ebenso zu finden wie die Konzentration auf den „ideellen Gehalt" 197 des Rechts, die sich ergebe aus dem Bewußtsein, daß alles Recht unter „der Gottesanforderung" stehe, „richtig zu sein" 198 . Rudolf Smend hat im Zusammenhang der Auseinandersetzung um „Luther und die deutsche Staatsidee" zwar keinen direkten Beitrag zur Rezeption und Auslegung der lutherischen Tradition geleistet. Doch formuliert er 1932 in „Protestantismus und Demokratie" die Gegenwartsinteressen und Erwartungen, die sich im Kontext der staatsrechtlichen Diskussion um die Transformation des politischen Systems der Weimarer Republik mit der Profilierung einer protestantischen Weltanschauung verbinden. Diese soll der Stärkung äußerer Autorität die innere Legitimation verschaffen, indem sie den Glauben an solche Autorität „als ein das ichbezogene Bewußtsein bindendes überindividuelles Prinzip" - die Leibholzsche Formulierung - stärkt und Individualismus wie Pluralismus durch „geistige Homogenität" überwindet. Für Smend steht der Protestantismus „unter den geistigen Mächten, die dem heutigen Deutschland sein geschichtliches Gepräge gegeben haben, ... an erster Stelle" 199 . In ihm sucht Smend die entscheidende Quelle für die Kraft, die auf dem Wege zur „Uberwindung der Kultur- und Staatskrise" notwendig ist. Diese Krise ist Smends kulturphilosophischen Grundannahmen gemäß wesentlich eine Krise des „geistigen Lebens" und kann dementsprechend nur in „geistig-sittlicher" 200 Weise bewältigt werden. Gerade auf dieser geistigen Ebene habe sich der Protestantismus, nachdem in der Zeit nach der Revolution zunächst der Katholizismus dominierte, erneut zur Geltung Ebd., S. 33,44. Ebd., S. 35. I % Ebd.,S. 37. 1,7 Ebd., S. 56. 198 Ebd., S. 56. 194
195
199
200
R . SMEND, Protestantismus, S. 297.
Ebd., S. 308.
Weltanschauung und Staatsform
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bringen können. Besonders für die „Staats- und Sozialtheorie" stellt Smend 1932 „eine Art wissenschaftlicher, geistiger Schlüsselstellung ... spezifisch evangelischer Geistesmächte"201 fest. Dies entspreche auch der historischen Bedeutung des Protestantismus, der in theoretischer wie in praktischer Hinsicht das deutsche Staatsdenken und damit den die Gemeinschaft fundierenden sachlichen Gehalt entscheidend geprägt habe. Nach Smend verdankte das evangelische Landeskirchentum seinen Schutz den Landesfürsten. Es entwickelte daher ein von „tiefer geschichtlich begründeter Pietät"202 getragenes Verhältnis zu den jeweiligen Territorialstaaten. Dies führte dazu, daß das theoretische Staatsdenken „auf das stärkste von der religiösen Gedankenwelt"203 bestimmt worden sei. Auf praktischer Ebene wirkte vor allem das im lutherischen Berufsgedanken verwurzelte Bewußtsein der Pflicht. In diesem Berufsgedanken sei der Ansatz zur Uberwindung eines Individualismus formuliert, der sich entweder ganz von der Gemeinschaft und den ihr gestellten Aufgaben zurückziehe oder sich der Gemeinschaft nur im Interesse der Durchsetzung der Eigeninteressen zuwende. Dieser Geist der Pflicht habe vor allem die deutsche Beamtenschaft, d. h. eine zentrale staatstragende Funktionselite, geprägt. In ihr erzeugten „evangelischer Berufsgedanke und evangelische Berufssittlichkeit"204 ein Bewußtsein für die ethische Qualität des Dienstes am Staat. „Das sittlich erzogene Beamtentum ... (ist) eine der großen staatsschöpferischen Leistungen des Protestantismus"205. Die Demokratie bedürfe aber eines derartigen staatsbürgerlichen Pflichtbewußtseins auf breiter Front. Auf diesem Weg vom bourgeoisen zum staatsbürgerlichen Denken, d.h. auf dem Wege zur Uberwindung des liberalen Individualismus, erwartet Smend einen entscheidenden Beitrag vom Protestantismus. Das äußere Bild des deutschen Protestantismus nach der Revolution von 1918/19 scheine zwar zunächst dieser Hoffnung zu widersprechen. Denn es erweckt den Eindruck, als habe er seine „geschichtliche Rolle als tragende Grundlage des deutschen Staates endgültig eingebüßt" und sei „politisch gespalten und mindestens zum großen Teile in mehr oder weniger hoffnungslose Oppositionsstellung gedrängt"206. Gerade die organisatorische Zersplitterung des Protestantismus soll jedoch einen besonders prägenden Einfluß auf die Gesamtgesellschaft ermöglichen. Die Einheit des Protestantimus lasse sich weder im Sinne einer Partei noch im Sinne einer kirchlichen Organisation erfassen, sondern nur als „geistige Einheit", als Ensemble „politisch-ethischer Grundüberzeugungen"207. Gerade darin könne er zum Mediator von 201
Ebd., Ebd., 203 Ebd., 204 Ebd., 205 Ebd., 206 Ebd., 207 Ebd., 202
S. 307. S. 297. S. 298. S. 298. S. 298. S. 299. S. 300.
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
für das staatsbürgerliche Bewußtsein grundlegenden „geistig-sittlichen" Maßstäben werden. Denn die geistige Kraft des Protestantismus sei orientiert an der Stärkung der Bereitschaft zum Dienst am Ganzen und nicht an der Stärkung partikularistischer Positionen, sei es in Gestalt der Kirche oder in Form einer Partei. In ihm sei die Selbständigkeit des Staates anerkannt, und er versuche nicht als Kirche die Macht des Staates unter seinen Einfluß zu bringen. Das protestantische Denken sei „staatspolitisch" 208 ; es vermöge deshalb auch dem Staat die notwendige „geistig-sittliche" Grundlage zu vermitteln, derer er zur „Vergemeinschaftung" bedürfe. Im Protestantismus sieht Smend nicht nur die geistige Macht, die in der Vergangenheit die deutsche Kultur und damit die sachlichen Gehalte, die Voraussetzung des integrativen Lebensprozesses des Staates waren, geprägt hat. Er erhofft von ihm 1932 auch für die Zukunft, aufgrund seiner spezifischen, mit den Anforderungen des politischen Systems im Sinne der Integrationslehre kompatiblen „geistigen" Struktur, „jenes Maß an geistiger Homogenität, das die Voraussetzung einer innerlich angeeigneten Demokratie in einem entwickelten Kulturvolke ist, ... und ... die letzte Legitimität, die auch eine demokratische Verfassung in ihrer Weise bedarf" 209 . Dieses Eintreten für die Demokratie ist keineswegs als Plädoyer für die pluralismusoffene parlamentarische Demokratie zu verstehen. Denn auch für Smend existiert, wie für C. Schmitt, ein „radikale(r) innerer Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie". „Liberale Staatstheorie" ist für ihn „keine Staatstheorie", und „liberale Staatsform, d.h. Parlamentarismus ist keine Staatsform, weil auf funktionelle Integration allein kein Staat gegründet werden kann" 210 . Daß der Protestantismus nicht zur Stärkung der liberalen parlamentarischen Demokratie aufgerufen wird, zeigt auch der Ort der Erstveröffentlichung von Smends Aufsatz. Die Hoffnungen für einen Weg aus der „Krisis" - so der Titel des Sammelbandes, in dem „Protestantismus und Demokratie" zuerst erschien - knüpfen sich an den Politiker Heinrich Brüning, dessen „mahnende Worte das Buch führen" 211 . In den zwei Jahren der Kanzlerschaft Brünings von 1930 bis 1932 vollzog sich ein entscheidener Wandel des mit der Weimarer Verfassung etablierten politischen Systems. In diesen Jahren wurde die Macht des Reichstags zunehmend beschränkt und im Gegenzug die Machtkompetenz des Reichspräsidenten gesteigert. Brüning betrieb gezielt die Auflösung des parlamentarischen Systems und den Ubergang zu einem oligarisch-autoritären Präsidialregime, das man auch dann noch als „demokratisch" verstehen kann, wenn man, wie Smend, die „Wirkungsweise des demokratischen Willens" vor allem 208 209 210
Ebd., S. 299. Ebd., S. 308. R . SMEND, V e r f a s s u n g , S . 2 1 9 .
O. MÜLLER, „Vorwort" zu „Krisis. Ein politisches Manifest", S. VIII. Zur seit den fünfziger Jahren andauernden Debatte über die Einschätzung der Politik Brünings vgl. den Überblick von E. KOLB, Weimarer Republik, S. 1 9 9 - 2 0 5 . 211
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in seiner „plebiszitären Form" sucht, die sich durch die Merkmale auszeichnet: „autoritär, unwiderstehlich, national, repräsentierend und zusammenschließend"212 . d. Die Kritik an der Entdifferenzierung von Politik und Metaphysik „Wenn ich mich für die Demokratie entscheide, geschieht es ausschließlich ... aus der Beziehung der demokratischen Staatsform zu einer relativistischen Weltanschauung" 13. Hans Kelsen formulierte mit dieser Aussage in der Diskussion um den Zusammenhang von Staat und Weltanschauung eine klare Gegenthese zu der von Kaufmann, Holstein, Binder, Smend und Gerber entwickelten Position. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage, wie konstruktiv mit der Tatsache umgegangen werden kann, daß, so hatte es Otto Baumgarten im Hinblick auf die Verfassungswirklichkeit nach 1918 formuliert, „es keine deutsche Einheitskultur gibt, die allen Kindern des Volkes übermittelt werden konnte, sondern eine Gespaltenheit in Bekenntnisse und Weltanschauungen" 214 . Kelsen sowie Radbruch und Heller insistierten darauf, daß dieser Pluralismus der modernen Gesellschaft nicht durch die äußere und innere Stärkung der Autorität und Souveränität staatlicher Macht und die Übertragung der Forderung nach Eindeutigkeit und Geschlossenheit weltanschaulicher Bekenntnisse auf den Bereich des Politischen und des Staatsrechts stillgelegt werden könne. Diese Einsicht drückt sich u. a. in der betonten Verwendung des Gesellschaftsbegriffs und der Zurückweisung des Begriffs der Volksgemeinschaft, als Bezeichnung einer bloß fiktiven Homogenität, aus. Nicht in der vermeintlichen Auflösung dieses Pluralismus durch die Suche nach starken Integrationsfaktoren, dem Gehalt der Gerechtigkeitsidee und Konstruktionen .geistiger' Homogenität sah Kelsen die entscheidende Aufgabe, sondern in der Konzentration auf die Legalität von Verfahren des Umganges mit diesem Pluralismus, die sich politisch konkretisiere in Gestalt der Anerkennung des auf die Erzielung von Kompromissen gerichteten Parlamentarismus und der Bedeutung der politischen Parteien. Gerade die von Holstein beklagte kantische Begründung des Staates als Rechtsordnung in einem „metaphysischen Minimum" 215 , der Idee der individuellen Freiheit, und damit die Begrenzung von überindividuellen Wahrheits- und GeltungsanR . SMEND, Politische Gewalt, S. 87. H . KELSEN, Wesen und Wert der Demokratie, S. 118, A n m . 42. Zu Kelsens Schrift vgl. auch H . BOLDT, Demokratietheorie. Kelsens Abhandlung ist für für Boldt „eine der großen Demokratiebegründungsschriften überhaupt, ein Kompendium, in dem schon viele Themen anklingen, die erst später ins Zentrum der Diskussion rückten" (S. 217). H . MAYER, Erinnerungen, würdigte Kelsen als „Todfeind aller Fundamentalismen" (S. 6). 212
213
214 215
O . BAUMGARTEN, Staat und Kirche, S. 22. G . HOLSTEIN, Staatsphilosophie Schleiermachers, S. 24.
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
Sprüchen im Bereich des Politischen wird von Kelsen zum Programm erhoben und kritisch gegen die neue „Staatsmetaphysik" - so bezeichnete G. Radbruch das neue, von der Integrationslehre Smends ausgehende Staatsdenken216 - ins Feld geführt. Kelsens Kritik am Substantialismus der neuen Staatsrechtslehre konzentrierte sich vor allem auf die von dieser unterstellte Einheit und Homogenität des Volkes als geistiger Gemeinschaft. An ihr zeigt sich für Kelsen das die neue Lehre charakterisierende Entdifferenzieren und Vermischen von Idee und Wirklichkeit, von Sollen und Sein, von Normativität und Faktizität im Interesse der Rechtfertigung und Legitimation bestimmter „realer" politischer Interessen. Demokratie gehe von dem Ideal aus, daß eine Vielheit von Menschen einen einheitlichen politischen Willen in Gestalt des Volkswillens hervorbringen könne. Diese Einheit stelle ein normatives Ideal, ein „ethischpolitisches Postulat" dar, das nicht mit einer faktisch vorhandenen Wirklichkeit in eins gesetzt werden könne. De facto sei das Volk in „nationale, religiöse und wirtschaftliche Gegensätze gespalten"217. Seine Einheit existiere nur als „juristischer Tatbestand", d. h. dadurch, daß Menschen einer bestimmten Rechtsordnung als Normensystem unterworfen gedacht werden. Dieses formale Verständnis der Einheit des Volkes verzichtet bewußt minimalistisch auf weitere substantielle Einheitsdefinitionen, etwa in Gestalt der Konstruktion einer Wertgemeinschaft, die das Individuum als Ganzes einbeziehen soll. Kelsen zieht damit eine deutliche Grenze gegen alle Versuche einer inneren Vergemeinschaftung des einzelnen, etwa durch Verpflichtung auf ein nationales Kultursystem und weltanschauliche Bekenntnisse. Für ihn gehört der Mensch „niemals ... als ganzes, d.h. mit allen seinem Funktionen, nach allen Richtungen seines seelischen und körperlichen Lebens zur sozialen Gemeinschaft; auch nicht zu jener, die ihn am stärksten ergreift, zum Staate"218. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft ist für Kelsen das „Ideal eines über den Gruppeninteressen und jenseits derselben stehend und sohin .überparteilichen' Gesamtinteresses, einer Interessensolidarität aller Gemeinschaftsglieder ohne Unterschied der Konfession, Nation, Klassenlage usw. eine metaphysische oder besser: eine metapolitische Illusion, die sich in der höchst unklaren Terminologie eines ,organischen Gemeinwesens'... auszudrücken und dem sog. Parteienstaat, der mechanischen Demokratie entgegenzusetzen pflegt"219. In solch einer „religiös-metaphysischen Hypothese", mit der der Glauben daran gefestigt werden soll, daß nur das Volk „im Besitz der Wahrheit" sei, werde so etwas wie das „Gottesgnadentum des Volkes"220 behauptet. 216
G.
217
H . KELSEN,
Parteienstaat, S. 97. Wesen und Wert der Demokratie, 218 Ebd., S. 15/16. 2 "Ebd., S. 22. 220 Ebd., S. 221. RADBRUCH,
S . 15.
Weltanschauung und Staatsform
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Smend ist für Kelsen ein „Staatstheologe" 221 , die Integrationslehre eine „Staatstheologie" 222 und ein „Schulfall politischer Theologie", denn in ihr rücke ins Zentrum der Theorie solche metaphysische Einheitsschau zwischen Wirklichkeit und Sollensforderungen, zwischen der soziologischen Realität des Staates und seinem Charakter als normativer Ordnung, wie sie in Gestalt der Thematisierung der „Zweiseitigkeit" des Gottesbegriffs als „Geist" und „körperlich-seelisches Wesen" charakteristisch sei für die „jüdisch-christliche Theologie". In ihr ereigne sich das „Wunder" der „Koinzidenz der geistigen mit der natürlichen Realität" 223 . Wie in der Theologie werde solche „Wissenschaft" als „Mittel für die Willensbestimmung der Menschen" 224 benützt. Und das politische Interesse an der Stärkung der Autorität des Staates durch die These, er sei gegenüber dem Willen der Individuen und der Rechtsordnung eine eigenständige souveräne Macht, gleicht für Kelsen ebenfalls der theologischen Behandlung des Gottesbegriffs, denn auch sie hypostasiere Gott als eigenständiges Wesen um der Stärkung seiner Autorität willen225. Eine „überindividuelle Staatssubstanz" 226 werde behauptet, der Staat zum allmächtigen „Makroanthropos" erhöht und eine normative Ordnung von „relativer Geltung" auf die Ebene der „Annahme eines absoluten überempirischen Wertes" 27 transformiert. Die gegenüber der Rechtsordnung selbständige „Wirklichkeit" des Staates dürfe nach der neuen Lehre nicht geleugnet werden, denn diese Leugnung gefährde dessen Autorität, „so wie derjenige die Autorität Gottes schmälert, der in ihm nicht eine transzendente Realität, sondern nur den Ausdruck der Einheit der Welt, keine seelisch-körperliche Macht oder Allmacht, sondern ein Gebilde des Geistes erkennt" 228 . Wo im Sinne eines realistischen, d. h. den faktischen gesellschaftlichen Pluralismus nicht abblendenden Demokratieverständnisses auf metaphysische Einheitsschau in Gestalt des Ideals der Volksgemeinschaft und eines überparteilichen, der Realisierung der wahren Werten verpflichteten Staates verzichtet wird, kann nach Kelsen der „Gemeinschaftswille" nichts anderes sein „als die Resultante, das Kompromiß zwischen entgegengesetzten Interessen" 229 , H . KELSEN, Der Staat als Integration, S. 33. E b d . , S. 56. 2 2 3 E b d . , S. 33. 2 2 4 E b d . , S. 32. 2 2 5 Ebd., S. 29 und 56. Mit den Analogien zwischen staatsrechtlichen Problemen und theologischen Vorstellungen setzte sich KELSEN insbesondere auseinander in „Gott und Staat". Der Vorliebe der neueren Staatsrechtslehre, den Staat gegenüber dem Recht zu hypostasieren, entspricht für Kelsen die Vorstellung der Transzendenz Gottes gegenüber der Welt (vgl. S. 271). Die Lehre von der Menschwerdung Gottes habe ihre Analogie im Gedanken der „Selbstverpflichtung des Staates" (S. 275). Auf solche Strukturanalogien rekurriert Kelsen aber, im Unterschied zu Carl Schmitt in seiner „Politischen Theologie", im kritischen Interesse der Selbstbegrenzung der Staatsrechtslehre. 221
222
H . KELSEN, Staat als Integration, S. 27. E b d . , S. 29. 228 E b d . , S. 31. 2 2 9 Vgl. dazu die Position von H u g o Preuß (oben S. 16 f.). 226
227
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Die Suche nach neuer Verbindlichkeit in der Staatsrechtslehre
das sich aus dem Zusammenwirken der Parteien innerhalb des organisatorischen Rahmens der Verfassung ergibt. Dies impliziere auch, daß Demokratie im modernen Staat nur als parlamentarische Demokratie realisiert werden könne und deshalb jeder Kampf gegen den Parlamentarismus als Kampf gegen die Demokratie verstanden werden müsse 230 . Kelsen hat denn auch den impliziten politischen Gehalt der Integrationslehre präzise bestimmt. Sein abschließendes Urteil über die Lehre vom Staat als Integration lautet deshalb auch: „Es ist der Kampf gegen die Verfassung der deutschen Republik, dem diese Lehre von der ,Wirklichkeit' des Staates - ob sie es nun beabsichtigt oder nicht - schließlich dient" 231 . Auch für Gustav Radbruch ist die Integrationslehre nur die wissenschaftliche Form der „Predigt von der Volksgemeinschaft" 232 . Sie könne nicht darüber hinwegtäuschen, daß es das Volk als homogene geistige Größe, als integrierte Gesamtwirklichkeit nicht gebe: „Volk muß unvermeidlich ein Inbegriff streitender Parteien sein, solange nicht ein Engel vom Himmel uns die untrügliche Offenbarung des Allgemeinwohls gebracht hat. Bis dahin kann es keine eindeutige Wahrheit über das Allgemeinwohl geben, sondern nur die verschiedenen Parteiauffassungen vom Allgemeinwohl". In solchem „Relativismus" sieht er eine wichtige „Grundlage demokratischen Denkens" 233 . In gleicher Weise gelte vom „Volksgeist", daß er wie der „Zeitgeist" nur der „Inbegriff kämpfender Zeittendenzen" 234 sei. Nicht durch ihn komme die Einheit des Volkes zustande, sondern durch das Regelsystem der Verfassung, die in einer Welt, die „keine Offenbarung von oben" mehr kenne, das Zusammenspiel der verschiedenen Interessen durch „formale" Organisationsnormen wie das Mehrheitsprinzip so regle, daß die Achtung der Meinung Andersdenkender gesichert sei 235 . Hermann Heller leugnet ebenfalls nicht, daß ein bestimmtes Maß an vergebener Einheit für die Funktionsfähigkeit eines politischen Systems wichtig ist. Für die moderne Demokratie erachtet er vor allem eine gewisse soziale Homogenität als notwendig. Auch eine „religiöse Homogenität", die allerdings den Mangel an „ökonomischer, kultureller und konventioneller Homogenität" nicht ausgleichen könne, erscheint ihm für die Demokratie „von der eminentesten Bedeutung" 236 . Entscheidend ist aber die Begrenzung, die er im 230 231 232
Ebd., S. 82, Wesen und Wert der Demokratie, S. 25 f. Ebd., S. 91. G . RADBRUCH, Parteienstaat, S. 100.
Ebd., S. 99. 2 3 4 Ebd., S. 101. 2 3 5 Ebd., S. 102. 2 3 6 H . HELLER, Politische Demokratie, S. 433. Vgl. auch seine Staatslehre: „Ein rationalistisches Vorurteil des Aufklärungsnaturrechts ist es aber, in der bewußten Interessenlage die wesentliche oder gar ausschließliche Garantie der Geltung einer gesellschaftlichen Ordnung zu sehen. Viel stärkere Garantien als das mehr oder weniger wohlverstandene Interesse stellt die religiöse Sanktionierung der Ordnung, der Glaube an die absolute Geltung höchster, die Ordnung 233
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183
Hinblick auf die Funktion und den Umgang mit solchem Einheitsbewußtsein vornimmt. Dieses Einheitsbewußtsein könne den faktischen Pluralismus der „unendlichen Vielheit und Verschiedenheit durcheinanderschießender gesellschaftlicher Akte" nie ganz auflösen. Damit werden überzogene Einheitserwartungen an den Staat und das politische Handeln abgewehrt. Außerdem gelte für die Kreation solcher Homogenität: „Wodurch dieses Wirbewußtsein erzeugt und zerstört wird, läßt sich nicht allgemeingültig sagen. Alle Versuche, in einer einzigen Lebenssphäre den ewigen Demiurg dieses Bewußtseins zu finden, sind gescheitert und müssen scheitern"237. Insofern kann auch der Staat nicht über dieses Einheitsbewußtsein verfügen oder gar versuchen, es mit Mitteln des Rechtszwanges zu verwirklichen. Insbesondere eine politische Instrumentalisierung der Religion zum Zwecke der Einheitsstiftung, etwa in der Form, daß durch „ein religiös bedingtes Wirbewußtsein" der „Klassengegner in die gleiche Gotteskindschaft" einbezogen werden solle, lehnt Heller ab. Sie bedeute sowohl „religiöse Blasphemie" als auch „eine grandiose politische Dummheit: man merkt die Absicht und man ist verstimmt" 238 . Wie Kelsen und Radbruch steht Heller der Gemeinschaftssehnsucht, den Integrationswünschen und der damit verbundenen metaphysischen monistischen Einheitsspekulation in der Staatsrechtslehre kritisch gegenüber und plädiert für Unterscheidungs- und Differenzierungsleistungen: „Die gegensatzfreie Friedensgemeinschaft, die herrschaftslose Gesellschaft können als prophetische Verheißungen sinnvoll sein. Als politisches Ziel ist solche Verdiesseitigung einer Gemeinschaft der Heiligen ... eine Denaturierung sowohl der religiösen wie der politischen Sphäre"239. Solches Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen konkretisiert sich dann im Verfassungs- und Staatsverständnis Hellers. In einer Zeit, die nach dem Urteil Hellers „von einer geistig-sozialen Homogenität weiter entfernt ist als jede frühere" 240 , im „Zeitalter des mobilen Kapitals, der Dynamisierung aller Wertvorstellungen", sieht er keine Möglichkeit mehr, mit juristischen Dekreten eine „Wert- und Willensgemeinschaft"241 zu schaffen. Es sei deshalb auch falsch, eine Verfassung mit derartigen Erwartungen zu befrachten. Eben dies verkenne jene Kritik „von links und rechts" an der Weimarer Verfassung, die in ihr den „einheitlichen Geist" und „die politischen Grundentscheidungen"242 vermisse und nach einem starken, Einheit stiftenden Staat fundierender Werte, sowie ferner ihre rein gefühlsmäßige Bejahung dar. Doch erzeugen diese inneren Garantien eine ständige Bereitschaft zur Anerkennung der Legitimität, wogegen die Sicherung ihrer Befolgung durch die Interessenlage stets abhängig bleibt von einem Kalkül, das die Vor- und Nachteile der Befolgung von Fall zu Fall erst berechnet, bevor es sich positiv oder negativ entscheidet" (S. 181). 237 Ebd., S. 428. 238 Ebd., S. 433. 239 Ebd., S. 428. 240 H . H E L L E R , Freiheit und Form, S. 374. 241 Ebd., S. 374. 242 Ebd., S. 375.
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rufe. Damit werde sowohl verkannt, daß die Ursachen für diesen vermeintlichen Mangel nicht beim Verfassungsgeber zu suchen seien, sondern in der „geistesgeschichtlichen und sozialen Situation"243 lägen und deshalb dort beseitigt werden müßten, wie auch, daß der Staat „immer ein von bestimmten gesellschaftlichen Mächten beherrschter Willensverband" sei, der „niemals über den sozialen Wassern als höherer Dritter.. .schwebt"244. Es mache daher wenig Sinn, für den Staat die Möglichkeit einer den Individuen verschlossenen, allseits gültigen, nicht mehr partikularen Wahrheitserkenntnis und die Fähigkeit zur Bildung eines „einheitlichen Geistes" zu behaupten. Gerade nicht in der Substantialisierung von Verfassung und Staat durch weltanschauliche Aufladung und bekenntnishafte Vereindeutigung, sondern in der Tatsache, daß die Verfassung eine „offene politische Form"245 sei, die den gesellschaftlichen Gruppen die „freie Möglichkeit" zur Problembewältigung bereitstelle, liegt für Heller ein entscheidendes Element des modernen Verfassungsverständnisses. Anläßlich der Verfassungsfeier 1929 faßte er diese Sicht in dem Satz zusammen: „Wir feiern die Weimarer Verfassung nicht, weil sie uns bereits Erfüllung wäre, sondern weil sie uns unsere Aufgabe ermöglicht"246. Ein Verständnis der Verfassung als „offener politischer Form" ist nicht mehr vereinbar mit dem Versuch, sie mit „unbedingten", quasireligiösen Normativitäts- und Geltungsansprüchen auszustatten. Kelsen insistiert darauf, daß der Staat kein souveränes Eigenleben unabhängig von oder oberhalb der Individuen führt, sondern von ihnen gebildet wird. Das bescheidenere Ziel der Garantie von Rechtssicherheit bekommt Vorrang vor der Verwirklichung von Sittlichkeit und Gerechtigkeit247, und Kompromisse werden gegenüber .eindeutigen' Entscheidungen nicht abgewertet. Deshalb ist es nach Kelsen berechtigt, insoweit von einer „relativistischen Weltanschauung" als Grundlage der parlamentarischen Demokratie zu sprechen, als damit die Einsicht beschrieben wird in die Relativität und Partikularität individueller Wahrheitserkenntnis, die daraus sich ergebende Anerkenntnis und Toleranz des Andersdenkenden und die „Tendenz zum vermittelnden Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Standpunkten" 248 . Im Gegensatz der Staatstheorien und politischen Grundeinstellungen spiegelt sich nach Kelsen ein „Gegensatz der Weltanschauungen", der im Zentrum aus einer gegensätzlichen „Stellung zum Absoluten"249 resultiert. Wer an die Möglichkeit der Erkenntnis eines absoluten Wertes, einer absoluten Wahrheit, des absolut Guten glaubt, für den kann es nichts „Sinnloseres 243
Ebd., S. 376. Ebd., S. 377. 245 Ebd., S. 377. 246 Ebd., S. 377. 247 H. KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 16. 248 Ebd., S. 28. 249 Ebd., S. 24. 244
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geben, als darüber eine Abstimmung zu veranstalten, die Majorität entscheiden zu lassen; was kann es angesichts der alles überragenden Autorität dieses absolut Guten anderes geben als den Gehorsam derer, denen es das Heil bringt, den bedingungslosen und dankbaren Gehorsam gegenüber demjenigen, der, im Besitz des absolut Guten, dieses weiß und will" 250 . Solch eine „metaphysisch-absolutistische Weltanschauung" tendiere politisch zur Autokratie. Die Demokratie dagegen werde der verteidigen, der eine „kritisch-relativistische Weltanschauung"251 vertrete, der die Einsicht in absolute Wahrheit menschlicher Erkenntnis für verschlossen halte, der „nur relative Wahrheiten, nur relative Werte"252 für erkennbar halte, die revidierbar und durch bessere Einsichten ersetzbar seien. Politische Entscheidungen würden in solchem „politischen Relativismus" nicht durch den Bezug auf absolute Wahrheit und Sinngehalte legitimiert, sondern durch die Zustimmung der Betroffenen. „Denn wer sich nur auf irdische Wahrheit stützt, wer nur menschliche Erkenntnis die sozialen Ziele richten läßt, der kann den zu ihrer Verwirklichung unvermeidlichen Zwang kaum anders rechtfertigen als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll" 253 . Die Entwicklung der deutschen Staatsrechtswissenschaft in den zwanziger Jahren läßt sich als eine Bestätigung der Grundthese Kelsens deuten. Die Gefährdung der Demokratie von Weimar ging gerade nicht vom perhorreszierten juristischen und politischen ,Relativismus' aus, sondern von einer im Namen der Verwirklichung von Wahrheit, Sittlichkeit und Gerechtigkeit betriebenen Entdifferenzierung von Politik und Metaphysik. Kelsens Plädoyer für die relativistisch-demokratische Weltanschauung, für die Differenzierung von metaphysisch-religiösen und politischen Geltungs- und Wahrheitsansprüchen mit dem Ziel ihrer gegenseitigen Begrenzung, illustriert und untermauert er gerade durch den Rückgriff auf die religiöse Tradition. In ihr sieht Kelsen selbst schon die Einsicht formuliert, daß der Anspruch auf absolute Erkenntnis der Wahrheit seinen legitimen Ort bei Gott selbst hat und nicht bei den Menschen, die an ihn glauben. Das Bewußtsein der religiösen Illegitimität eiiier Verwechselung der eigenen religiösen Gewißheit mit der Wahrheit Gottes und die mangelnde Differenzierung zwischen solcher Gewißheit und politischen Urteilen müßte auch nach dem Verständnis von Kelsen gerade den Glaubenden auszeichnen. In der Schlußpassage seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie" nimmt Hans Kelsen die Erzählung des Johannesevangeliums vom Verhör Jesu durch Pilatus auf, als ein „tragisches Symbol des Relativismus und der Ebd., S. 27. Vgl. H . KELSEN, Wesen und Wert der Demokratie, S. 100. Ebd., S. 25. 252 H . KELSEN, Wesen und Wert der Demokratie, S. 100. 253 Ebd., S. 102/103. 250 251
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Demokratie" 2 5 4 . Pilatus, für Kelsen ein „Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur", antwortet auf das Bekenntnis Jesu, König der Juden und Zeuge der Wahrheit zu sein, mit der Frage: „Was ist Wahrheit?" Der Vertreter des Staates nimmt für sich nicht in Anspruch, eine Lösung auf diese Frage zu wissen. Er veranlaßt eine Volksabstimmung, durch die Barrabas, der Räuber, freigesprochen wird. Diese Volksabstimmung muß, so Kelsen, „für die Gläubigen, die politisch Gläubigen" gerade „eher gegen als für die Demokratie" sprechen. „Und diesen Einwand muß man gelten lassen; freilich nur unter einer Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, so gewiß sind - wie der Sohn Gottes .
II. Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen Die bisher dargestellten Theologen und Staatsrechtslehrer verband die Überzeugung, daß die gesamte Kultur sich in einer fundamentalen Krise befinde. Ihre Krisendiagnostik konvergierte in der Behauptung, die durch Demokratisierung und Parlamentarisierung vollzogene Modernisierung des politischen Systems verstärke nur die Kulturkrise, weil sie jenen Grundannahmen von Aufklärung, Liberalismus und rationalistischem Denken noch einmal Geltung zu verschaffen versuche, die gerade als entscheidende Ursachen für die Krise verantwortlich zu machen seien. Gemeinsam waren die genannten Staatsrechtslehrer und Theologen der Uberzeugung, der aus dem Ausdiffe254 Ebd., S. 103. Schon F. J . STAHL, Gegenwärtige Parteien, verwendete das Pilatusbeispiel in seiner Darstellung der .liberalen' Parteirichtung, aber mit genau entgegengesetztem Interesse. Er polemisierte gegen die Trennung von Staat und Kirche: „Bei der Trennung von Staat und Kirche haben darnach im Staate nicht alle Ueberzeugungen Geltung, sondern bloß die Ueberzeugung des Indifferentismus hat Geltung. Es hat die Ueberzeugung des Pilatus Geltung, der da fragt: was ist Wahrheit? und hat keine Geltung die Ueberzeugung des Heilandes, der da sagt: ich bin die Wahrheit, und die Ueberzeugung derjenigen, die hierin dem Heiland glauben" (S. 99). 255 H . KELSEN, Wesen und Wen, S. 104. Vgl. auch C . MÜLLER, Religionskritische Anmerkungen. Die Interpretation der Verfassung „als einer Wertordnung steht im Zusammenhang mit einer Deutung des Zusammenbruchs der Republik von Weimar. Im Lichte dieser naturrechtlichen Traditionen macht man nämlich ihren ,Relativismus' und .Agnostizismus', mit anderen Worten ihre .Wertblindheit' für deren Scheitern verantwortlich, als wäre nicht der Kampf gegen die Demokratie von Weimar gerade im Namen einer neuen Werterfüllung der alten traditionellen Staatsidee geführt worden". Es sei gerade die Suche nach einem „extra-legalen Wertkonsens", die die parlamentarische Demokratie immer wieder in Gefahr bringe, denn solche Suche führe zur „Übersteigerung der durchaus innerhalb einer Verfassung austragbaren Gegensätze in Religionskämpfe" (S. 475).
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renzierungsprozeß der modernen Kultur resultierende Pluralismus und Individualismus zersetze alle substantiellen kulturellen Verbindlichkeiten und erzeuge deshalb einen verstärkten Integrationsbedarf bzw. die Notwendigkeit neuer Homogenitäts- und Einheitsstiftung. In der Staatsrechtslehre stand im Zentrum der Auseinandersetzungen die Frage, auf welchem Wege dieser Integrationsbedarf gedeckt werden könne und wie umfassend die herzustellende Einheit sein könne und müsse, um die Folgen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung kompensieren zu können. Die Diskussion über diese Frage strukturierte sich in der Staatsrechtswissenschaft um einen Grundgegensatz: Auf der Grundlage der Uberzeugung, daß es keine „deutsche Einheitskultur" mehr gebe und der Pluralismus in der modernen Gesellschaft nicht mehr rückgängig zu machen sei, konnte man die Herausforderung gerade darin sehen, die Einsicht in die ethische Qualität der Legalität von Verfahren des Umganges mit diesem Pluralismus und des Verzichts auf metaphysische Ganzheitsansprüche und weltanschaulichen Absolutismus im Bereich des Politischen zu befördern. Die Fähigkeit zu solcher Selbstbegrenzung konkretisierte sich in der Anerkennung der Kompromisse achtenden parlamentarischen Demokratie und damit der Weimarer Verfassung als einer „offenen Form". Die Herausforderung konnte aber auch darin gesehen werden, den Integrationsbedarf zu decken durch die Suche nach neuer, substantieller Verbindlichkeit, durch eine „Wiederbelebung der politischen Metaphysik", einer „Erneuerung der Politik aus dem Glauben" und einer „Neufundierung des Prinzips der Autorität". Die Arbeit konzentrierte sich dann auf die Suche nach solchen Kräften, die in der Lage sein sollten, den Pluralismus und Individualismus durch eine neue, gesteigerte, sittlich - religöse Gesamtintegration und die Schaffung eines in Werten und Ideen fundierten Gemeinschaftsbewußtseins zu überwinden.
1. Zwei Wege zu neuer Verbindlichkeit Um diesen Grundgegensatz strukturierte sich ebenfalls die Staatsdebatte in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre.
a. Die Bindung politischer Macht an die Verfassung Erich Foerster, ein in Frankfurt lehrender, dem Kreis um Martin Rade und der „Christlichen Welt" nahestehender liberaler protestantischer Theologe, gab in der zweiten Auflage der R G G im Artikel „Staat, Systematisch" 1931 einen Überblick über die staatstheoretische Diskussion der zwanziger
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Jahre 256 . Dabei konzentrierte er sich vorrangig auf die Frage, wie in verschiedenen Staatstheorien jeweils die Autorität und Verpflichtungskraft der staatlichen Ordnung begründet wurde. Foerster schließt sich selbst dabei explizit an die von Hans Kelsen vertretene Position an. Denn Kelsen versuche nicht, die Sollensanforderungen des Staates und den normativen Anspruch von Rechtssätzen aus einem vermeintlich für alle vorgegebenen und deshalb für alle verpflichtenden Sein, einem einheitlichen Gesamtwillen, abzuleiten. Hinter solch einer Unterstellung, daß „die Rechtsgemeinschaft trotz ihrer wirklichen Vielspältigkeit in puncto Gerechtigkeit über Gerechtigkeit einig sei" (723), verberge sich nur der Wunsch nach innerer Einheit von Einzelwillen und Willen aller, keine faktisch gegebene Realität. Die Geltung staatlicher Anordnungen könne nur begründet werden durch die Verfassung, in der die Kriterien und Voraussetzungen solcher Geltungsansprüche festgelegt sind. Gerade in einem demokratischen Staat, in dem die gesamte Rechtsgemeinschaft an der Bildung des politischen Willens beteiligt werden soll, könne der Staat nicht mehr unter Absehung von der Verfassung, die meistens einen aus „schweren inneren Kämpfen" hervorgegangenen „Kompromiß" (724) darstelle, definiert werden. Diese „Grundnorm" beinhalte als „wichtigste(s) Stück" die Festlegung „regelmäßige(r) Verfahren der Rechtsschöpfung", eine „Erzeugungsregel der Gesetze", in der die Legitimität von Geltungsansprüchen gründe. Die Verfassung stellt für Foerster damit zugleich die „friedliche Form" eines „geistigen Kampfes" (724) um die Bestimmung der gesetzgeberischen Willensbildung dar, in der die Freiheit des Individuums als Grund solcher Geltungsansprüche anerkannt ist. Foerster betont allerdings auch, daß die „normative Staatstheorie" Kelsenscher Prägung „bei einem großen Teil der Staatsrechtslehrer keinen Anklang gefunden" habe, wohl aber die Integrationstheorie mit ihren „Hauptwortführer(n) R. Smend und E. Kaufmann" (725). Im Interesse der Stärkung der Autorität des Staates und der Weckung der Bereitschaft der „Liebe und Hingebung" (726) an den Staat versuche diese Theorie zu zeigen, daß „der Staat" nicht nur normatives Konstrukt, sondern ein geistiges und reales Wesen zugleich sei. Die wesentliche Bestimmung des Staates sei es, sich nach Maßgabe eines „Staatsideals" (726) immer wieder neu zu schaffen in einem prozeßhaften Wechselspiel zwischen geistiger Welt und realen Gegebenheiten. Motor 2 5 6 E . FOERSTER, Staat. Alle weiteren Zitate im nächsten Abschnitt beziehen sich auf diesen Text. Vgl. außerdem DERS., Unsinn und Sinn des .Christlichen Staates'. Unter Aufnahme von Rudolph Sohm lehnt er die Rede vom .christlichen Staat' ab. „Man kann es doch nicht deutlicher sagen, daß das Wort Christ streng genommen nur mit einem einzigen Subjekt verbunden werden kann, mit Jesus dem Christ. Aber es tritt nun auch ans Licht, was der echte Sinn des Wortes in Anwendung auf ein anderes Subjekt ist. Es sagt nichts über eine Eigenschaft oder Qualität, über seine Ursache, Herkunft, Genesis, sondern unterstellt es einer N o r m , es bezeichnet nicht ein Sein, sondern ein Sollen" (S. 24). Zum Kreis um Martin Rade vgl. J . RATHJE, Welt des freien Protestantismus.
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des Staates als Integrationsprozeß sei ein „Staatsideal, das im Inneren des Menschen ... zur Verwirklichung drängt, eine Idee der sozialen Gerechtigkeit, ein Wertsystem, das gleich einer Entelechie als ein immer Gesuchtes, nie ganz Erreichtes den ganzen Prozeß lebendig erhält" (726). In der zentralen Bedeutung eines solchen Staatsideals oder Wertsystems sieht Foerster aber den problematischen und zu kritisierenden Punkt dieser Staatstheorie. Mit Hilfe dieses Ideals werde ein „höheres Recht über dem geltenden Recht" (726) postuliert, von dem her die gegebenen Staatsformen kritisiert werden könnten. Damit lasse sich der Widerspruch gegen „geltendes Recht" im Namen des höheren Rechtes legitimieren. Eben dies ist nach Foersters Urteil aber der Grund, warum die Integrationstheorie „gerade bei Theologen Anklang gefunden" habe. „Denn sie scheint den Widerspruch des christlichen Glaubens gegen geltendes Recht legitimieren" und es „vor einem höheren Forum ins Unrecht setzen zu können" (727). Die Voraussetzung dieser Kritik, die Annahme, es gebe „ein solches allgemeingültiges Ideal sozialer Gerechtigkeit oder Staatsideal", sei aber eine bloße Behauptung, denn es müsse gefragt werden, ob es solch ein Staatsideal „auch nur unter den Christen" (727) gebe. Das ehrliche Eingeständnis, daß es schon unter denen, die beanspruchen, aus einem Geist zu leben, eine faktische, unhintergehbare Pluralität von politischen Grundüberzeugungen gebe, tritt damit bei Foerster an die Stelle der Beschwörung eines „Staatswunschbildes", eines einheitlichen Wertsystems, das angeblich von allen geteilt werde und deshalb als Legitimationsgrundlage für den Staat dienen können soll. Solche Ehrlichkeit nötigt nach Foerster zur Reduktion des Staatsideals auf die „rein formalen Forderungen", wie sie in der Verfassung für den Prozeß der staatlichen Willensbildung und Machtausübung festgelegt sind. Jedes „Rechtsgefühl oder -bewußtsein", jedes „Staatsideal" müsse erst die „Machtprobe der Positivierung" (725) bestehen, d.h. auf verfassungsmäßigem Wege Gesetz werden, bevor es Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben könne. Indem die Integrationslehre sich diesen „rein formalen Forderungen" entzieht, betreibt sie nach dem abschließenden Urteil Foersters de facto die Delegitimierung der Weimarer Demokratie: „Unzweifelhaft aber ist, daß die Integrationstheorie zwar der Arbeit im Staate, der Politik, stärkste Impulse zuführt, die Verbindlichkeit des geltenden positiven Rechtes und die Autorität des bestehenden Staates aber empfindlich abschwächt" (727). Ebenso wie Kelsens Staatstheorie, die nicht zuletzt aufgrund ihrer inneren Affinität zur parlamentarischen Demokratie in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik heftig kritisiert und immer weiter zurückgedrängt wurde, blieb auch die von Foerster vertretene Position in der protestantischen Theologie die Position einer Minderheit. Für Martin Rade gab es in einem Überblick über „The Present Situation of Christianity in Germany" 1920 keinen Zweifel hinsichtlich der politischen Grundorientierung im Protestantismus: „This much however, is sure, that only a small minority of pastors and theolo-
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gians have definitely taken their stand on the new republican order" 257 . In Bezug auf die Kirchenpresse merkte er 1922 an: „Was man sich ganz sans gene in kirchlichen Blättern gegenüber unserm Staat und seiner Regierung erlaubt, ist kraß" 2 5 8 . An dieser politischen Grundorientierung sollte sich auch in der weiteren Geschichte der Weimarer Republik nichts ändern. Die von E . Troeltsch im „Kunstwart" 1922 erhobene Forderung, „die Republik innerlich (zu) bejahen" - nicht „die gegenwärtige Verfassung in allen Einzelheiten, aber die demokratische Republik im Grundsatz" 2 5 9 - , verhallte ebenso folgenlos wie der 1926 in der „Christlichen Welt" erfolgte Aufruf Rades: „Schaffen wir uns eine Sammlung von symbolischen Büchern' des neuen Reichs! Den ersten Platz nehme die Weimarer Verfassung ein" 2 6 0 .
b. Die Bindung politischer Macht an einen „geschichtlich-sittlichen Gehalt" Auf dem Hintergrund der Krisendiagnostik gewann das Programm einer neuen sittlich-religiösen Gesamtintegration ein höheres Maß an Plausibilität als ein kritische Selbstbegrenzung forderndes, an der konkreten Verfassung der parlamentarischen Demokratie orientiertes Staatsdenken. 1924 konnte Otto Piper, ein in der sozialdemokratischen Partei aktiver Repräsentant des neuen theologischen Realismus, in einem Uberblick über neuere Literatur zur politischen Ethik in den „Theologischen Blättern" feststellen, daß „der Positivismus der Vorkriegszeit abgelöst worden ist durch eine neue Wendung zur Metaphysik, die auch die Politik an einem transempirischen Gesetz mißt" 261 . Und der reformierte Theologe Alfred de Quervain, der ausdrück2 5 7 M. RADE, Present Situation, S. 359. Vgl. vor allem K. NOWAK, Evangelische Kirche. Zur politischen Orientierung im Protestantismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik immer noch grundlegend G . MEHNERT, Evangelische Kirche. Außerdem M. JACOBS, Kirche, Weltanschauung, Politik. Zur Einstellung gegenüber der Weimarer Republik in der Pfarrerschaft K. W. DAHM, Pfarrer und Politik. 2 5 8 Die Anmerkung Rades findet sich in einer Stellungnahme zur in der „Christlichen Welt" geführten Auseinandersetzung um die Gründung eines „Republikanischen Pfarrerbundes", C W 36 (1922) Sp. 230. In der Anzeige zur Gründung des Bundes hatte es geheißen: „Es ist ein unerträglicher Zustand, daß die deutsche Republik sich auf die verfassungstreue Gesinnung der in den deutschen Landen amtierenden Pfarrer nicht verlassen kann, sondern bei sehr vielen voraussetzen muß, daß sie den gegenwärtigen Volksstaat nur für eine vorübergehende Einrichtung ansehen" ( C W 36 (1922) Sp. 120). Vgl. dazu dann die Stellungnahmen unter dem Titel „Pfarrer und Republik", in: C W 3 6 , 1 9 2 2 , Sp. 210-212 und Sp. 268-269. 2 5 9 E. TROELTSCH, Die Republik, S. 108. Zu Troeltschs politischer Haltung vgl. jetzt H . RUDDIES, Soziale Demokratie. 2 6 0 M. RADE, Universitäten, Sp. 612. Zum „Weimarer Kreis" vgl. die detaillierte Studie von H . DÖRING, Weimarer Kreis. Zum Überblick über neuere Forschungen zum politischen Denken in der Professorenschaft H . DÖRING, Deutsche Professoren; R . A. Pois, Bourgeois Democrats. 261 О . PIPER, Zur politischen Ethik, Sp. 246. Vgl. auch Pipers Referat auf dem 38. Evangelischsozialen Kongreß 1931, Demokratie. Dieses Referat läßt eine gründliche Auseinandersetzung mit der staatsrechtlichen Literatur der Zeit (C. Schmitt, R . Smend, H . Gerber, G . Leibholz, H .
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lieh der Liberalismuskritik Carl Schmitts und dessen Verständnis des Politischen zustimmte 262 , kleidete 1931 seine Beobachtung der starken Sehnsucht nach Einheitsstiftung und verbindlicher Orientierung in die Frage: „Schreit nicht unsere Z e i t . . . nach einem neuen politischen Dogma, das allen Fragen und Bedenken und Zweifeln ein Ende setzt?" 2 6 3 . H . - D . Wendland urteilte Kelsen) erkennen. Piper bezog klar Stellung: „Ich bin von dem politischen Werte der Demokratie tief durchdrungen. O b ihr die nächste Zukunft gehören wird, ist vielleicht unsicher. Zu groß ist heute in weiten Teilen des Staatsvolkes die Neigung, sich von aller politischen Verantwortung freizumachen und diese den Führern', den ,starken Männern', den Sachverständigen' zu überlassen" (S. 92). Piper lehnte „jede direkte theologische Begründung des demokratischen Gedankens" ab, votierte aber für die Demokratie aufgrund ihres „praktisch - politischen Werte(s)" (S. 93). Es gäbe deshalb „heute für den Christen eine Pflicht zur Demokratie" (S. 95). In der Demokratie müßten sich nationaler und sozialer Gedanke aufs engste verbinden. Kritisch sieht Piper die „Parteienherrschaft". Auch er spricht sich für eine Begrenzung des Parlaments aus: „Der Regierung, nicht dem Parlament in der Exekutive die volle Souveränität zu geben, dafür spricht vor allem ein Grund. Gedeihen und Unglück eines Staates hängt weniger von den Gesetzen ab, die ein Volk sich gibt, als von den exekutiven Regierungsakten nach innen und nach außen" (S.106). In der Aussprache unterstützte O . BAUMGARTEN Pipers Position: „Also ich möchte vor einem so weitgehenden Horror vor der Demokratie warnen. Ich darf es umsomehr, als ich selbst von Haus aus und bis zum Ende des Kriegs Antidemokrat gewesen bin und zwar aus meinem protestantischen Grundgefühl für die Wichtigkeit der Einzelpersönlichkeit, der Führerpersönlichkeit, aus dem Carlyleschen Gedanken des Heldentums heraus. Aber ich bin davon überzeugt, daß jedes Angehen gegen das demokratische Staatsprinzip, das sich durch den Weltkrieg durchgesetzt hat, ein Windmühlenkampf ist. Ich werde ihn nicht führen" (S. 121 f). In „Kirche und Politik" setzte sich Piper u. a. mit dem Staatsdenken von Althaus, Gogarten und Brunstäd kritisch auseinander. „Der Staat hat darum für den Glauben eine positiven Wert. Er ist allerdings nicht dazu da, bestimmte irdische Güter hervorzubringen oder zu erhalten (etwa die Kultur oder die Religion). Darum geht es nicht an, wenn Althaus und Brunstäd im Anschluß an Hegel in die theologische Auffassung vom Staate die Pflege der Kultur und des Volkstums legen" (S. 24). 262 A. DE QUERVAIN, Voraussetzungen, Kap. IV. Die Weltanschauung des Liberalismus und der liberalen Theologie, S. 75 ff. Bei C . Schmitt sei das „Augenmerk ... nicht gerichtet auf den Zusammenhang von natürlicher Theologie, Moral und Politik, sondern von Offenbarungstheologie und Politik. Darum kann der evangelische Theologe ... ohne Schwierigkeiten in eine Aussprache mit ihm treten ... Das entscheidende liegt darin, daß bei Schmitt, und vielleicht auch bei Smend, die Selbstherrlichkeit der Moral und der Weltanschauung und der in sich gefestigten, sich selbst behauptenden Machtverhätnisse durchschaut wird. Hier wird die Erkenntnis von Gottes Souveränität nicht beiseite geschoben. Sie ist Voraussetzung" (S. 168). Zu de Quervain vgl. J . CASTANY6, Politische Theologie: „Aufgrund seiner Besinnung über die Zeugnisse Luthers und Calvins und seinem Anliegen folgend, ... vertritt de Quervain, wie er sagt, einen .evangelischen Konservativismus', die einzige Auffassung seiner Ansicht nach, die fähig ist, dem Menschen der Weimarer Republik wieder Ordnung und Einheit zu bringen." De Quervain habe „ein strenges Gespräch mit den politischen Systemen, Ideologien und Staatsverfassern der Weimarer Zeit" geführt (S. 160). „Aus den politischen Zielsetzungen der Weimarer Republik liest de Quervain den emanzipatorischen menschlichen Wunsch einer selbstherrlichen und autonomen Verwaltung und Beherrschung der Welt ab, die seiner Ansicht nach den schöpferischen und erlösenden Herrschaftsanspruch Gottes einschränkt oder in den Schatten stellt" (S. 161). Seine Überlegungen zeigten „wohl einen antidemokratischen Unterton, er fällt aber sein Urteil allein nach dem Kriterium der reformatorischen Rechtfertigungslehre" (!) (S. 188). „Leicht angetan" sei er von der „nationalen Bewegung" gewesen (S. 184). 2 6 3 Ebd., S. 8.
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1934 im Rückblick, daß ein „neues Zeitalter politischer Metaphysik" begonnen habe. Der „Liberalismus ..., der die Religion zur Privatsache erniedrigt hatte", sei „verworfen" und im Gegenzug die „öffentliche, völkisch-staatliche Bedeutung" der Religion „neu erkannt" worden 264 . In der Suche nach Einheit und alle Gegensätze umgreifenden Homogenität trafen sich Juristen und Theologen. Gerade die Juristen, die den Rationalismus, Formalismus und Liberalismus zu überwinden trachteten, indem sie nach neuer substantieller Verbindlichkeit suchten, fanden nicht nur bei Historikern, sondern vor allem auch bei lutherischen Theologen Bundesgenossen. Als führender und einflußreicher Repräsentant eines theologischen Staatsdenkens, dessen Grundintentionen mit denen E. Kaufmanns, R. Smends, J . Binders und C. Schmitts übereinstimmen, kann E. Hirsch gelten. Hirsch hat in seiner 1929 erschienen Schrift „Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert" 265 explizit an die Arbeiten E. Kaufmanns und R. Smends angeknüpft. Diese Bezüge zeigen: Auch für ihn zielte die Suche nach einer „überpositiven Ordnung" als Legitimationsbasis für die staatliche Ordnung de facto zunächst auf die Uberwindung der parlamentarischen Demokratie. Nicht den „regelmäßigen Verfahren der Rechtsschöpfung", der Verfassung als der Festlegung einer „Erzeugungsregel" für Gesetze, galt Hirschs Interesse, sondern den Grundrechten. Er machte sich dabei deren Neuinterpretation als politische Bindungsrechte zu eigen. Mit Kaufmann und Smend sieht Hirsch in den Grundrechten die Formulierung eines „geistigen" oder „geschichtlich-sittlichen Gehaltes", einer „bestimmte^) vom deutschen Geist in seiner Geschichte geschaffene(n) Lebensordnung" (45). Die so verstandenen Grundrechte sollen Mittel zur „Selbstbegrenzung des Staates gegen etwas, das über ihm ist" (48), werden. Hirsch sucht wie Kaufmann und Smend in der Konzentration auf die Grundrechte nach einer Möglichkeit, die Arbeit des Parlaments zu beschneiden. Die Orientierung am „geschichtlich-sittlichen Gehalt" soll es erlauben, den Staatswillen zu befreien von der Beliebigkeit und den Augenblicksstimmungen von „Mehrheit und öffentlicher Meinung" (45). Die Bindung an diesen Gehalt soll dazu verhelfen, erneut „Ehrfurcht" gegenüber dem Staat zu begründen und Entscheidungen nicht mehr länger vor dem Wähler zu verantworten, sondern vor „einem über dem Willen des Ganzen wie der einzelnen waltenden Geiste", in dem die Interessen der je gegenwärtigen Generation zusammengeschlossen sein sollen mit dem Erbe der Vergangenheit und den Lebensinteressen der zukünftigen Generationen. In der Herausarbeitung dieser Spannung zwischen „Geist" und Wählern erscheint Hirsch die von Kaufmann und Smend vertretene Staatstheorie noch „ein wenig zu vorsichtig" (45). Er fordert energischer, „von den Grundrechten aus um neue, den Staat wirksam beschränkende Rechtssetzung zu ringen" (46). 2M
H . - D . WENDLAND, Reichsidee, S. 5 9 .
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E . HIRSCH, Staatu. Kirche. Alle weit. Angaben im Text beziehen sich auf diese Publikation.
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Dieser Antiparlamentarismus wird bei Hirsch, wie bei Binder, legitimiert durch die Behauptung, die Forderung nach solcher Beschränkung erfolge im Namen des Dienstes an der „Idee der Gerechtigkeit". Auch Hirsch hat allerdings Schwierigkeiten, diese „Idee der Gerechtigkeit" über den pauschalen Hinweis hinaus, sie umfasse „Recht, Wohlfahrt, Macht" (48), weiter zu füllen. Die entscheidende „Konkretion" erfolgt durch den „Volksgeist": Diese Idee sei „nichts Allgemeines und Begriffliches ... , das man eindeutig und überall gleich auslegen könnte", sondern eine „Größe voll geschichtlicher Besonderheit, in jedem Volksgeist sich anders brechend und sich auswirkend" (48). In solcher „Selbstbescheidung" der parlamentarischen Demokratie gegenüber den durch den Volksgeist gegebenen „Gehalten" liegt für Hirsch eine entscheidende Voraussetzung dafür, „daß das höhere Leben der Menschheit nicht zugrunde geht" (49). Da der selbsternannte Anwalt des „höheren Lebens" nun aber doch nicht die Tatsache umgehen kann, daß seine „Idee der Gerechtigkeit" nicht von allen geteilt wird, bleibt nur die Immunisierung durch eine Elitetheorie: Solches „höhere in Geist und Gewissen wurzelnde Leben" werde niemals „von großen Massen" getragen, sondern „allein von Minderheiten" (49). In einer Welt, die sittlich zerfällt, kann für Hirsch die „Christenheit" eine den Gehalt der Kultur hindurchrettende Minderheit darstellen, wenn sie „als eine ihren eigenen strengen Geist wahrende Gemeinde sich ihren eigenen Begriff von Christenehre" erhält (52). Dies könne die Gemeinde aber nur, wenn sie sich auf Distanz halte zu dem mit den Mächten der Krise und des Unterganges verwobenem demokratischen Staat. Von solcher „Christenehre" aus soll sie dann „den Kampf mit dem Geist des Ganzen aufnehmen" und „aus der eigenen Kraft" führen. Diese Sicht der Rolle der kämpfenden Gemeinde als Wahrerin der kulturellen Substanz führt bei Hirsch zur Forderung, die christliche Gemeinde müsse die „Schulen aus der Hand des Staates in die ihre zurücknehmen" (54), da diesem demokratischen Staat die „innere Mächtigkeit (fehle), um die Erziehung und Bildung der Menschen in seinen Händen zu halten" (53). In dieser Forderung konkretisiert sich auch die „Selbstbegrenzung" und Bindung der parlamentarischen Demokratie unter den „geschichtlich-sittlichen Gehalt": „Mit dem Verzicht des Staates, über Erziehung und Bildung zu gebieten, ist seine Entäußerung gegenüber dem Heiligtum des Gewissens und der Hoheit des Geistes im entscheidenden Punkte erfolgt" (55). Das Hauptinteresse hinter dieser Forderung nach Begrenzung der Macht des parlamentarisch-demokratischen Staates benannte Hirsch im Rückblick 1934: Es „mußte für die bestehende Not- und Kampfeszeit dem damals bestehenden Staat möglichst viel an Gestaltungsvollmacht entwunden"266 werden. 266
E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 117 F. Kritisch äußerte sich zu Hirschs Position G. RITTER, Problem einer evangelischen Volkskirche: „Um es kurz zu sagen. Alle diese praktischen Forderungen der geistvollen Schrift scheinen mir nicht nur vollkommen unerfüllbar und utopisch, son-
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Hirschs Studie über Staat und Kirche läßt exemplarisch jene Position erkennen, die sich vor allem im Bereich der lutherischen Theologie herausbildete. Die in der Staatsrechtswissenschaft sich vollziehende Öffnung für das weit über die Grenzen der Thematisierung von Rechtsfragen hinausreichende Gebiet weltanschaulicher Bekenntnisse bereitete den Boden für eine Zusammenarbeit von Juristen und Theologen. Gemeinsam versuchten sie, durch die Rückwendung zur Geschichte eine spezifisch deutsche politische Weltanschauung und Staatslehre zu entwickeln und eine von diesem Geist getragene erneute Versittlichung der politischen Ordnung und des politischen Handelns zu erreichen. In der Staatsrechtslehre, bei G. Holstein, J . Binder, H . Gerber und R. Smend, erfolgte auf dem Hintergrund der Uberzeugung, die lutherische Reformation habe eine entscheidende Bedeutung für die Ausbildung einer spezifisch deutschen Staatsgesinnung und Sozialethik, eine Aufwertung der lutherischen Theologie als Auslegerin kultureller Substanz. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß diese Arbeitsgemeinschaft' auch ihren literarischen Niederschlag fand: Hirsch und Brunstäd leisteten einen Beitrag zu „Rechtsidee und Staatsgedanke"267, der Festschrift für Julius Binder; Hans Gerber widmete der Rezeption und Auseinandersetzung mit den staatstheoretischen Publikationen von P. Althaus, F. Brunstäd und E. Hirsch eine eigene Monographie; sowohl im Oeuvre von G. Holstein als auch bei J . Binder und R. Smend läßt sich eine Auseinandersetzung mit Arbeiten von K. Holl, E. Hirsch und F. Brunstäd konstatieren; die Arbeiten der genannten Theologen sind umgekehrt durch Rezeption und Auseinandersetzung mit den Entwürfen dieser Staatsrechtslehrer geprägt. Derartige literarische Bezüge lassen einen Kommunikationszusammenhang erkennen, der, über persönliche Beziehungen hinaus, wie sie etwa zwischen E. Hirsch und J . Binder in Göttingen und auch bei den Jüngeren, so ζ. B. zwischen dem Binderschüler Karl Larenz und Heinz-Dietrich Wendland268 bestanden, auch d e m sachlich verfehlt, ja hoch gefährlich. Angesichts ihrer erhebt sich nackt und eindeutig vor uns die Frage: soll der Protestantismus darauf verzichten, Volkskirche zu sein? Soll er sich entschließen, eine bloße Kult- und Gesinnungsgemeinschaft zu werden - eine A r t von Gemeinschaft des kleinen Häufleins in der bösen Welt?" (S. 376). In die gleiche Richtung argumentiert H . MULERT, protestantische Schätzung des Staates: „Einem Staat gegenüber, der so viel für unsere Kirchen leistet, wie unser Staat es tatsächlich tut, soll der evangelische Christ in seinem U r teil vorsichtig sein, und wenn ein Staat sich so ernstlich um Freiheit für geistige Strömungen und Gerechtigkeit in der Pflege von Religion und Weltanschauung bemüht, wie das deutsche Reich das in der Weimarer Verfassung als Programm aufgestellt hat, so hat gerade dieses Programm A n spruch auf die Achtung des Protestanten, weil Toleranz gegen alle sittlich ernsten Strömungen uns christlicher scheint als jede angeblich im Interesse des Christentums geübte Intoleranz" (S. 384). 267
Rechtsidee und Staatsgedanke, vgl. S. 111, A n m . 25.
Vgl. ebd., A n m . 2 2 . , H . - D . WENDLAND, Wege und Umwege, über seine Begegnungen mit Dietrich Schäfer, seine Bekanntschaft mit Hans Gerber, Karl Larenz in Kreisen des jungnationalen Bundes vgl. S. 42 ff. Seine Publikationen aus dieser Zeit möchte Wendland gerne als „JugendJournalismus" beurteilt sehen, von dem es sich „gar nicht" zu sprechen lohne (S. 55). 268
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seine institutionellen Foren hatte. Die eingangs schon erwähnte „Gesellschaft deutscher Staat" 269 mit ihrer intensiven Publikationstätigkeit und ihren „Forschertagen" spielte als Ort der Begegnung ebenso eine wichtige Rolle wie die von F. Brunstäd geleitete „Evangelisch-Soziale Schule" 270 im Spandauer Johannesstift. Die rege Publikationstätigkeit von K. Larenz und H . - D . Wendland in den „Jungnationalen Stimmen" zeigt, daß die Jüngeren ihr eigenes Forum in dem aus der Jugendbewegung kommenden „Jungnationalen Bund" hatten, der sich bewußt in den „Dienst von Volk und Gott" 2 7 1 stellte. In dieser Arbeitsgemeinschaft' wurde von den Theologen ein wichtiger Beitrag zur inhaltlichen Näherbestimmung jener „überpositiven Ordnung", des „Volksgeistes", als normativer Grundlage für die Beurteilung und Legitimation der staatlichen Ordnung erwartet. Die Theologen konnten mit dieser Inanspruchnahme die Hoffnung verbinden, ihre Arbeit werde dem lutherischen Glauben zu neuer kultureller Relevanz verhelfen. Das Zurückdrängen der Verfassung als Rechtsordnung in der innerjuristischen Staatsdiskussion und die Suche nach einer weltanschaulichen Fundierung der staatlichen Ordnung erlaubte es den Theologen dabei, ihre Beiträge weitgehend ohne Bezugnahme auf die Verfassung als Rechtsordnung zu formulieren. Mit den konkreten Details von Verfassungsregelungen mußte man sich nicht lange aufhalten, sondern konnte diskutieren auf der Ebene von Leitannahmen über die ,Verfassung der Wirklichkeit' insgesamt, die der konkreten Verfassung zugrundeliegen sollten. So ergibt sich ein signifikantes Merkmal der meisten Publikationen von Theologen, in dem sich zugleich die Verweigerung der Anerkennung der Weimarer Verfassung reflektiert: Theologen schrieben viel über das Verständnis und die Aufgabe „des Staates" überhaupt, aber ohne direkte Bezugnahme auf die Weimarer Verfassung. Die mangelnde sachliche Auseinandersetzung mit der positiven Rechtsordnung wurde, wie der liberale Theologe Hermann Mulert 1928 feststellte, allzuoft durch ein „bequemes moralisches Mäntelchen" 272 kaschiert. In ähnlicher Weise konnte Martin Rade 1928 die Kritik am Parlamentarismus in der evangelischen Kirche als „bodenlos" bezeichnen und parallelisieren mit „der Art, wie die Kommunisten unser Wirtschaftswesen oder die Freidenker unser Kirchenwesen verurVgl. Einleitung, S. XVIII. Vgl. oben S. 69. 271 Vgl. zum Bund auch die Darstellung von H . - D . WENDLAND „Die jungnationale Bewegung im Zusammenhang der Sozialgeschichte der Jugendbewegung". Der Bund sei nur „Vorbild eines Letzten, einer geistig-religiösen Gemeinschaft, des kommenden .dritten' oder .neuen' Reiches, eines göttlichen Reiches auf Erden. Das Sozialideal der Jugendbewegung ist, ob sie es weiß oder nicht weiß, letzten Endes religiös gefärbt" (S. 155). Anliegen der Bewegung sei es, „ein neues politisches Ethos, ... eine neue deutsche Staatsgesinnung" zu schaffen (S. 156). „Die innerste Einheit von Politik und Religion" sei „das Wesen des jungnationalen Menschen" (S. 157). Über die Parteipolitik hinweg wolle sie am „Primat des Staatsgedankens" festhalten. „Der Geschichtsweg des Volkes ist der Staat. Der Staat ist die Voraussetzung echten kulturellen Schaffens und Lebens" (S. 158 f)· 269
270
272
H . MULERT, Staatsgesinnung, Sp. 1005.
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teilen": „Was der Parlamentarier an Gedrucktem zu lesen, an Vorlagen und Entwürfen zu verarbeiten, an Missionen und Kommissionen zu erledigen hat, wie er angelaufen wird von Jedermann und wiederum Jedermann anlaufen muß, davon hat der scheltende Staatsverbesserer keine Ahnung, oder er gibt sich nicht die Mühe, auch da hineinzuschauen"273. Die Gefahr einer Staatsdiskussion, die sich auf vornehme Distanz zu den konkreten Schritten der Umsetzung politischer Ideale hält, war für Mulert offensichtlich. Angesichts der „jetzigen Verfassung, die dem Volk selbst die Entscheidung über seine Schicksale in die Hand gibt" und deshalb einer sachkundigen Staatsgesinnung aller Bürger bedürfe, fürchtete er, daß durch die Pflege einer „Staatsgesinnung" ohne „ein erhebliches Maß politischen Wissens" die Verfassung zur „leeren Form"274 werde.
2. Die theologische Deutung des Verhältnisses von Religion, Kultur und Staat „Es ist doch wahr, trotz neuerer Anzweiflungen, daß Luther der Schöpfer des modernen Rechts- und Kulturstaates geworden ist"275. Die Kirche „ist das Fundament des Staates, der Regulator aller ethischen Vorstellungen im Volksleben ... Sie ist der Mörtel im staatlichen Aufbau"276. Die Religion sei „eine öffentliche, völkerbewahrende, kraftverjüngende, staatserhaltende Macht, und zwar die allerersten Ranges"277. Diese Antwort konnte man 1918 in der Zeitschrift „Geisteskampf der Gegenwart" zur Frage lesen: „Was leistet die Kirche dem Staat?" Der Autor P. J. Schneider untermauerte seine Behauptung hinsichtlich der „still wirkenden Segensmacht der Kirche" durch den Hinweis auf die Kriminalstatistik: „Aber daß die Religionslosen eine Kriminalitätsziffer zeigen, und zwar konstant, welche mehr als dreimal höher steht als die Durchschnittsziffer - ist das Zufall?"278. Bemerkenswert in diesen Sätzen ist der enge Zusammenhang, der zwischen sittlicher Kultur, christlicher Religion und Staat hergestellt wird. Hinter Schneiders Aussagen stehen vier Uberzeugungen, die, sieht man einmal 273 M. RADE, Nach den Wahlen, Sp 539. „Es war wieder sehr viel Kritik über die Gemeinheiten im Wahlkampf zu hören. Sie verstieg sich von der Ablehnung leidiger Auswüchse vielfach zu einer Ablehnung des Parlamentarismus überhaupt, oder - wie man sprachschöpferisch zu sagen angefangen hat - des Parteiismus. Dem besonnenen Beurteiler solcher Proteste ergab sich immer wieder als erste Frage: was denn an Stelle unsers parlamentarischen Systems treten solle? Lautete die Antwort: ,Der Diktator' - so konnte man nur erwidern: Ein Diktator ist eines Tages da und diktiert dem Volk seine Herrschaft - oder er ist nicht da. Man sagt, unser Volk sei noch nicht reif für die Demokratie ... Es wäre wohl möglich, daß eine reelle Tyrannis uns vollends erzöge. Aber mir dünkt, das gibt eine Kur nach Art des Dr. Eisenbart" (S. 538). 274
H . MULERT, S t a a t s g e s i n n u n g , S . 1 0 0 5 .
275
P. J. SCHNEIDER, Was leistet die Kirche dem Staat?, S. 232. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Ebd., S. 252.
276 277 278
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von К. Barth ab, im Protestantismus der zwanziger Jahre auf breiter Front geteilt wurden. Erstens: Staat und sittliche Kultur seien eng aufeinander bezogen. Das Leitideal ist ein Staat, dessen entscheidende Aufgabe es sein soll, die sittliche Kultur zu erhalten und zu fördern. Zweitens: Staat und Kultur bedürften zum Erhalt und zur Stärkung ihres sittlichen Charakters der Kraft der christlichen Religion. Religionslosigkeit rückt aus dieser Perspektive in die Nähe von Unsittlichkeit, ja Kriminalität, denn sie muß als kulturzerstörende Kraft angesehen werden. Drittens: Weil die Kirche die entscheidende Instanz sei, der die Tradierung der christlichen Religion obliege, sei eigentlich eine enge Wechselbeziehung zwischen Staat und Kirche nötig, die sittliche Substanz der Kultur zu bewahren. Viertens: Luther wird ausdrücklich als Schöpfer des modernen Kulturstaatsideals in Anspruch genommen. Paul Tillich formulierte 1920 in seinem Vortrag „Uber die Idee einer Theologie der Kultur" einen breiten Konsens hinsichtlich des Verhältnisses von Religion und Kultur: Die Religion sei „Gehalt" und „Sinn" der Kultur, die Kultur sei die „Form" der Religion 279 . Für Tillich war dies zugleich die „präziseste Formulierung derTheonomie" 2 8 0 . In negativerWeise konnte Friedrich Brunstäd denselben Zusammenhang formulieren: „Eine religionslose Kultur ist ebenso letztlich unmöglich, wie eine kulturlose Religion eine entscheidende Verkürzung des religiösen Lebens in sich selbst bedeuten würde" 281 . Diese Thesen sind ein Indiz dafür, daß Kulturkritik zwar ein dominantes Thema in der Theologie der zwanziger Jahre war, es für die Mehrzahl der Theologen aber gerade nicht um eine Fundamentalkritik des Zusammenhanges von Religion und Kultur ging. Die Kritik galt vielmehr einer bestimmten, durch Aufklärung, Liberalismus, Rationalismus und Individualismus geprägten Kultur, die auch als „Zivilisation" abqualifiziert wurde. Die grundsätzliche Orientierung an einem , kulturtheologischen Ideal' wurde dabei nicht aufgegeben.
a. Religion als einheitsstiftende Kraft und Garant der Sittlichkeit Es waren vor allem zwei Erwartungen, die mit derartigen theologischen Kulturkonzepten verbunden wurden, Einheitsstiftung und Versittlichung. Beide Erwartungen zeigen an, daß sich im theologischen Gewand der theonomen Kulturkonzepte jene Suche nach neuer Einheit, Homogenität und verbindlicher Gemeinschaft zeigte, die auch den Neuaufbruch in der Staatsrechtslehre bestimmte. Durch die Thematisierung der religiösen Grundlage des Gemeinwesens sollte gleichsam eine geistige Einheitskultur, die alle anderen gesellschaftlichen Differenzen umgriff, herausgearbeitet werden. Die christliche 279 280 281
P. TILLICH, Idee einer Theologie der Kultur. P. TILLICH, Religion und Kultur, S. 84. F. BRUNSTÄD, Idee, S. 192/193.
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Religion wurde ins Feld geführt als Garantin einer allgemeinverbindlichen, substantiellen Sittlichkeit, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, im Sinne Smends Integration durch sachliche Wertgemeinschaft zu erreichen. Wenn es den Theologen gelang, diese aus der inneren Entwicklung der Staatsrechtslehre heraus formulierte Erwartung zu erfüllen, die integrative Kraft der Religion darzustellen, konnte sich daran auch die Hoffnung knüpfen, der christlichen Religion zu neuer kultureller Relevanz zu verhelfen. Mit einer Konzentration auf die religiöse Tiefendimension aller Kulturschöpfung sollte es gelingen, wieder die innere Einheit der kulturellen Mannigfaltigkeit zur Darstellung zu bringen und zu stärken. Tillich sieht allein in der Herausarbeitung des „übergreifenden religiösen Gehalt(s)" die Chance, sowohl die „Autonomie des Einzelnen" wie auch der „einzelnen Kulturfunktionen" vor ihrer „verzehrenden Vereinzelung" zu bewahren. Die „Profanisierung, Entleerung und Zerspaltung der Kultur" sei allein durch eine theonome Kulturgestaltung zu verhindern, in der „ein einheitlicher Gehalt, eine unmittelbare geistige Substanz die gesamte Kulturbewegung erfüllt und sie dadurch zum Ausdruck eines allumfassenden religiösen Geistes macht, dessen Kontinuität eins ist mit der Kontinuität der Kultur selbst" 282 . Für Friedrich Brunstäd ist Religion „stets ein gemeinschaftsbildendes, vereinigendes Prinzip", und es besteht deshalb ein „wurzelhafte(r) Zusammenhang ... von politischer Gemeinschaftsbildung und religiösem Leben" 283 . Er sieht „im religiösen Leben die geheime schöpferische Kraft aller Kultur" 284 , ohne die der Individualismus und Atomismus der „Zivilisation" nicht überwunden werden könne. Gemeinschaft, innere Verbindung der Willen von Individuen zu einem organischen Ganzen und damit die Gewinnung einer einheitlichen Perspektive in Kultur und Geschichte ist auch für Emanuel Hirsch nur in einer „ethisch-religiösen Intuition" 285 zu finden. Die in der Tiefe de.r Religion verwurzelte Gesinnung des einzelnen ist für ihn das entscheidende Mittel der Integration: Die „Einheit vieler aus freiestem sittlichen Wollen heraus kann aber nur durch eine Macht geschaffen werden, durch die des Glaubens" 286 . Auch Heinz-Dietrich Wendland insistiert 1926 auf der einheitsstiftenden Macht der Religion: „Die Einheit eines kulturellen oder völkischen Gesamtlebens begründet sich in der Religion ... Einheit des Lebens ist da, wo ein religiöses Ethos die Mannigfaltigkeit und Gestaltungsfülle des Lebens durchwaltet und sie durchgreifend gestaltet". Auf dem Fundament dieser Überzeugung ist für Wendland die „Zerstörung der Theonomie des Lebens, ... (der) Gottbestimmheit des Lebens", die sich über die Durchsetzung einer „religiös gefärbten Autonomie des einzelnen" vollzieht, gleichbedeutend mit der Zer282
P. TILLICH, Idee einer Theologie der Kultur, S. 29.
283
F. BRUNSTÄD, I d e e , S. 200. F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. 51.
284
285 286
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 57. Ebd., S. 153.
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setzung der Volks- und Kulturgemeinschaft: „Dann taumeln die gelösten Kräfte ziellos und ohne Gebundenheit im tiefsten Grunde dahin"287. Diese Krise fordere daher erneut die „Gemeinschaftsmacht der Religion". Nur durch die „religiöse Tiefenerfassung des Lebens" könne die Suche nach „Heilung" und „Erlösung" und nach einem „echten sozialen Ethos" Erfüllung finden, denn in der Religion liege eine „übergegensätzliche Ebene für die menschliche Gemeinschaft" und „eine absolute Bindekraft" 288 . Die Zurückgewinnung und Festigung des sittlichen Gehalts aller Kultur war die zweite Erwartung, die mit einer Erneuerung des Bewußtseins ihrer religiösen Tiefenstruktur verbunden wurde. R. Seeberg nimmt in seiner Ethik die Formel von der „Theonomie des Christentums" 289 , die Zauberformel aller neuzeitlichen Integrationstheologien 290 , positiv auf. Kultur als der Gesamtzusammenhang des „geschichtlichen Geisteslebens" 291 mit ihren drei Grunddimensionen, „Selbstbeherrschung und dem Bewußtsein freier Geistigkeit, ... dem Erleben und dem Bewußtsein innerer Gemeinschaft mit der geistigen Welt und ... der gemeinsamen Beherrschung der materiellen Welt" 292 , ist für ihn nur dann sittlich, wenn sich die Individuen aus Freiheit in den Dienst an ihren Mitmenschen und den Gesamtzusammenhang der geistigen Welt stellen. Die Kraft zu solcher sittlicher Lebensführung erwächst für ihn aus der Religion. Es ist für Seeberg eine geschichtlich erwiesene Tatsache, „daß es unmöglich ist, in einem Volk die lebendige Moral ohne die Religion aufrechtzuerhalten" 293 . Die sittliche Vollendung der Kultur ist für ihn ohne die christliche Religion, deren Sittlichkeit „das gute aller sonstigen Sittlichkeit" 294 miteinschließe, unvorstellbar. Ebenso ist für F. Brunstäd „der Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit... ganz unmittelbar, innig, der am wenigsten lösbare unter allen Wertzusammenhängen" 295 . H.-D. Wendland weiß sich nicht nur in Ubereinstimmung mit F. Brunstäd, sondern auch mit Nationalökonomen und Soziologen wie W. Sombart und H. Marr 296 in seiner Ana287 288 289 290
H . - D . WENDLAND, Volk und G o t t , S. 9. H . - D . WENDLAND, Soziale Krisis, S. 360. R . SEEBERG, System der Ethik, S. 19. Zur Begriffsgeschichte und Funktion des Theonomiebegriffs vgl. jetzt F. W. GRAF, Theono-
mie. 291 292 293 294 295
R . SEEBERG, System der Ethik, S. 3. E b d . , S. 187. E b d . , S. 22. E b d . , S. 24. F. BRUNSTÄD, I d e e , S . 1 8 0 .
Eine Sammlung von Vorträgen Marrs wurde 1934 veröffentlicht: Η . MARR, Die Massenwelt im Kampf um ihre Form. In einem 1927 auf einer Tagung der Fichtegesellschaft gehaltenen Vortrag „Großstadtgeist und politische Lebensform" kritisiert er die Formaldemokratie: „ D a wäre .. zunächst das Volk, von dem nach Artikel 1 der Weimarer Verfassung die Staatsgewalt ideell ,ausgeht'. Es besteht nach Artikel 22 aus einer zählbaren Menge von lauter einzelnen, angeblich auf sich gestellten und angeblich gleichen Subjekten. Allein, dieser aus allen sonstigen sozialen Beziehungen herausgezogene Nichts-Als-Staatsbürger ist ein soziologisches Gespenst. Es hat 296
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lyse, „daß der soziale Zerfall seinen tiefsten Grund in der Auflösung aller religiösen Bindungen habe" und dementsprechend nur mittels der christlichen Religion die integrative Gegenkraft eines „echte(n) sozialen Ethos" 297 entwikkelt werden könne.
b. Der „religionslose Staat" und die Aufgabe der Kirche Die politische Brisanz dieser engen Verknüpfung von Religion und Sittlichkeit bzw. wahrer Kultur läßt sich exemplarisch verdeutlichen an einem Referat, das auf dem öffentlichkeitswirksamen Forum des 2. Deutschen Evangelischen Kirchentages 1921 von dem Geistlichen Vizepräsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates Berlin, Professor Julius Kaftan, gehalten wurde. Der bezeichnende Titel dieses Vortrages, der mit „lebhaftem Beifall" bedacht wurde, lautete: „Die neue Aufgabe, die der evangelischen Kirche aus der von der Revolution proklamierten Religionslosigkeit des Staates erwächst"298. Kaftan nahm mit diesem Referat eine Positionsbestimmung gegenüber der parlamentarischen Demokratie vor, die programmatischen Charakter für die Haltung der protestantischen Kirche in der Weimarer Republik hatte. Den entscheidenden Hintergrund für Kaftans Ausführungen bildete die mit der Weimarer Verfassung vollzogene Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Kaftans Interesse richtete sich nicht darauf, die sog. ,hinkende Trennung' in ihrer immanent kirchenrechtlichen Bedeutung zu durchleuchten, sondern in ihrer Relevanz für die gesamte geistige Kultur. Kaftans Rede ist ein Exempel für ein theologisches Staatsverständnis, in dem allein die nationale und christliche Wertbasis des Staates und ein in sittlichen Ideen fundiertes Gemeinschaftsbewußtsein eine Rolle spielen, Verfassung und positives Recht aber bedeutungslos sind. Von solch einem Staatsverständnis her bestreitet Kaftan der parlamentarischen Demokratie ihre Legitimation, einerseits durch eine grundsätzliche Darstellung seiner Sicht des Verhältnisses von höherer Kultur, Kirche und Staat, andererseits durch eine Kritik des Parlamentarismus im Lichte der Frage nach der Autorität des Staates. Der „Erweis" dieser mangelnden Legitimation bildet den Hintergrund für seine Bestimmung der neuen Aufgabe der Kirche. ihn nie gegeben. Und er ist jedenfalls heute, in der modernen Klassengesellschaft, wo kollektivistische Mächte vor allem organisierte Wirtschaftsmächte, jene ideale Vereinzelung längst zur formalrechtlichen Fiktion gemacht haben, in der Tat nirgends mehr anzutreffen" (S. 361). „Zusammenfassend sei festgestellt, unsere WeimarerVerfassung will nicht zugeben, daß sich mit der sozialen Struktur auch die soziologischen Voraussetzungen des politischen Systems seit den Zeiten der Paulskirche in Deutschland mehr als in irgend einem anderen Lande gewandelt haben" (S. 365). 297 H . - D . WENDLAND, Soziale Krisis, S. 360. 298 J. KAFTAN, Aufgabe. Alle folgenden Angaben im Text beziehen sich auf diese Publikation.
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„Die Religion ist überall der Mutterboden höherer geistiger Kultur gewesen" - diese Annahme bildet das Fundament der Argumentation Kaftans. Werde die Kultur von diesem „Mutterboden" losgerissen, dann „verödet" sie und werde „zur bloßen Zivilisation" (137), in der ein mechanistisches Nützlichkeitsdenken vorherrsche. Ein entscheidendes Merkmal der „christlichabendländischen Kultur" sei es, daß sie ohne die Wirkung „der organisiert e ^ ) Vertreterin des Christentums", die Kirche, nicht angemessen verstanden werden könne, denn die Kirche habe diese Kultur „geschaffen und auf lange Zeit hinaus gepflegt". Insbesondere für die moderne Kultur postuliert Kaftan ein enges Verhältnis zum Protestantismus, denn im Unterschied zum Katholizismus, der stärker an „vergangene Kulturformen" gebunden sei, stehe der Protestantismus mit dem „Grundgedanken" der modernen Kultur, „daß es im Reich des Geistes sich um freie, innere Ubereinstimmung handeln soll und muß" (137/138), in enger Verbindung. Daraus ergeben sich für Kaftan vor allem zwei Folgerungen: Der Rekurs auf die Genese der christlich-abendländischen Kultur begründet für ihn einen Geltungsanspruch für die Gegenwart. Dieser Geltungsanspruch wird konkretisiert in der Forderung, daß es Aufgabe der Kirche sein müsse, sich um die Bewahrung der modernen geistigen Kultur zu bemühen. Der Staat müsse zweitens nicht unter allen Umständen der Träger dieser Kultur sein. Kaftan geht ausdrücklich auf deutliche Distanz zum Staatsdenken Hegels und der „Verherrlichung" des Staates bei R. Rothe, die beide im Staat die „Vollendung der sittlichen Gemeinschaft auf Erden, (den) Träger aller Kultur und höheren geistigen Lebens" gesehen hätten. Der Staat habe zwar dort, wo er die christlichen, nationalen Gehalte der Kultur eines Volkes anerkenne, eine wichtige Funktion für die Erhaltung und Pflege dieser Kultur. Aber er habe kein Monopol hinsichtlich dieser Aufgabe, sondern könne sie nur dann erfüllen, wenn er in einer Wechselbeziehung mit der Kirche stehe. Auf diesem Hintergrund fordert Kaftan, zwischen Staat und Kirche „bestimmt" (125) zu unterscheiden, d. h. sowohl ihre Differenz wie ihren notwendigen Bezug präzise zu erfassen. Staat und Kirche seien einerseits zu unterscheiden nach ihrem Ursprung, dem Ziel, dem sie dienten, und den Mitteln zur Erreichung ihres jeweiligen Zieles. Der Staat sei ein „Naturprodukt", im Gegensatz zur Kirche, die „eine Stiftung Gottes in der Geschichte" sei. So wie die Kirche zum ewigen Leben erziehe und „inneres Leben in freier Unterwerfung unter Gottes Offenbarung" erreichen wolle (124), so ziele der Staat auf eine gute, gerechte Regelung des Zusammenlebens. Der Staat solle das Gedeihen des einzelnen wie des Ganzen, „materielle Wohlfahrt und sittliche Gesundheit des Volkes" ermöglichen. Dazu benötige er „Zwang zum Gehorchen" und Macht, während die Mittel der Kirche Wort und Sakrament seien. Diese Unterscheidung darf jedoch nicht über die andererseits bestehende enge Beziehung zwischen Staat und Kirche hinwegtäuschen. An drei Punk-
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ten markiert Kaftan diesen Zusammenhang. 1. Das „ewige Leben" und das „gute Leben" seien nicht absolute Gegensätze. „Die Kirche kann nicht zum ewigen Leben führen, ohne zum Guten zu erziehen. In den lutherischen Bekenntnisschriften heißt es: die guten Werke gehören zum ewigen Leben, zu dem uns die Rechtfertigung den Zugang eröffnet... Wir können nicht selig werden, wenn wir uns nicht zum Guten erziehen lassen" (124/125). Den entscheidenden Rahmen für diese Erziehung zum Guten stelle aber die Regelung des Zusammenlebens im Staat dar. 2. Alle Religion existiere immer zugleich als „Sitte". So sehr sie etwas Innerliches sei, „Privatsache", so sehr sei sie doch immer auch eine „die Gemeinschaft und die Umgebung beherrschende Macht" (130). Insbesondere mit dem Christentum sei, trotz seiner überweltlichen Grundorientierung, ein umfassender Anspruch gesetzt. Es ziehe „das ganze Leben der Menschen in der Welt mit seinen Verhältnissen und Ordnungen in seinen Kreis" (125). Mit dem Rekurs auf diesen umfassenden Anspruch des Christentums formuliert Kaftan eine einheitliche Perspektive und blendet damit die faktische Pluralität der Gesellschaft ab. 3. Und schließlich gilt von der Seite des Staates aus betrachtet, daß er als Ermöglichungsgrund guten Lebens eine innere, notwendige Beziehung auf sittliche Ideen hat. Diese sittlichen Ideen seien „in einem christlichen Volk" durch den christlichen Glauben bestimmt. Kaftan nimmt in seiner theologischen Erfassung dieser sittlichen Grundlage des Staates eine entscheidende Erweiterung im Verständnis des „Wortes Gottes" vor. Nach lutherischer Lehre sei das Wirken des Geistes „an das Wort" gebunden. Darunter dürfe nicht nur der Bibelbuchstabe verstanden werden, sondern auch „geschichtliche Mittel": „Alles, was in unserem geschichtlichen Erbe aus Gottes Wort geboren ist, was an uns kommt durch Wirkungen des Christentums in unserer Umgebung, Institutionen, Sitten und Ordnungen, in denen wir leben, das alles gehört mit zum Wort Gottes, durch das der Geist wirkt" (127). Diesen christlichen Gehalt der Kultur bezeichnet Kaftan als „christliche Imponderabilien", die das ganze Volksleben „durchsetzen und bestimmen" (128). Auch hier wird von Kaftan wieder das Postulat einer im Christentum zu findenden Einheit und Homogenität der Kultur formuliert, ohne gleichzeitig auch die faktische Pluralität der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Aus dieser über das „gute Leben" und die sittliche Substanz der Kultur in Gestalt der „christlichen Imponderabilien" vermittelten wechselseitigen Beziehung von Staat und Kirche folgert Kaftan, daß dort, wo das Christentum nicht mehr allgemein öffentlich anerkannt wird, die Erfüllung des eigentlichen Auftrages der Kirche unmöglich wird: „Die Kirche kann nicht zum ewigen Leben erziehen, wenn die öffentliche Ordnung unseres Volkes im Staat sich dem Einfluß der christlich-sittlichen Ideen entzieht" (125). Die „bestimmte" Unterscheidung zwischen Staat und Kirche erlaubt nach Kaftan durchaus deren organisatorische Trennung, solange sich der Staat auch weiterhin dem Erbe der christlichen Kultur verpflichtet weiß. Sie
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erlaube aber keinesfalls einen Staat, der die Religionslosigkeit propagiere. Eben dies erfolgte aber nach der Überzeugung Kaftans mit der Revolution von 1918/ 1919. Angesichts solch eines revolutionären Staates - auf die verfassunggebende Nationalversammlung nimmt Kaftan keinen Bezug der „den christlichen Charakter des Volkes nicht mehr schützt und erhält" (128), habe man sich darauf einzustellen, daß die staatliche Macht auch dazu benützt werden könne, aktiv die christliche Volkssubstanz und damit die Grundlage aller höheren sittlichen Kultur zu gefährden oder zu schädigen. Aus dieser Perspektive betrachtet war die parlamentarische Demokratie von Weimar als religionsloser Staat zugleich ein Staat ohne sittliche Substanz. Noch mit einem zweiten Argumentationsgang bestreitet Kaftan die Legitimität der parlamentarischen Demokratie. Sie erkenne „keine Autorität über sich an" (129) und stehe daher im Widerspruch zur christlichen Uberzeugung, „daß die Obrigkeit von Gott ist" (130). Eine Reformulierung dieser christlichen Überzeugung sieht Kaftan in Positionen, die an eine „Idee des Staates ... oder an eine Idee der Gerechtigkeit" (130) glauben, denn in ihnen werde eben dieser Sachverhalt ausgesprochen. Das Anliegen sei immer die Begründung des Rechtes des Staates, „autoritative Forderungen..., unabhängig von jeder Tagesmeinung" erheben zu können. Dazu bedürfe es aber der Möglichkeit, eine Position jenseits solcher wechselnden Meinungen einnehmen zu können, von der her längerfristige Leitlinien für das politische Handeln formuliert werden könnten. Diese Möglichkeit des Wechsels der Zeitperspektive und der damit verbundenen inhaltlichen Umorientierung liegt für Kaftan allein in der Bezugnahme auf den „ewige(n) Gotteswille(n)" beschlossen. N u r von dieser Relation her lasse sich auch der verpflichtende Charakter und die Verbindlichkeit „autoritativer Forderungen" begründen. Da der „religionslose Staat" diesen ewigen Gotteswillen nicht anerkenne, könne er „auch nicht an seine eigene Autorität... glauben": „Er ist eine Geburt des Tages, alles nur giltig bis auf Weiteres, bis zu den nächsten Wahlen, wo wieder ein neuer Staat geboren wird, der vielleicht alles anders will und ordnet. Er ist eine schwankende Größe, steht nicht auf festen Füßen, bietet keine Gewähr über die unmittelbare Stunde hinaus" (130). Angesichts des religionslosen Staates wächst für Kaftan der Kirche „eine neue Aufgabe von weitem Umfang und großer Bedeutung" zu (125). Wolle die Kirche ihren Charakter als Volkskirche bewahren, müsse sie selbst für den Erhalt des Bodens sorgen, auf dem sie sich entwickeln könne. Nachdem der Staat nicht mehr das „christliche Erbe" (131) des deutschen Volkes und damit die Grundlage der sittlichen Kultur bewahre, müsse dies zu einer entscheidenden Aufgabe der Kirche werden. Es gelte sich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, „ob nicht die Kirche als die organisierte Vertreterin des Christentums unter uns berufen sein sollte, den Kristallisationspunkt zu bilden, im Verein mit allen guten Geistern der Gegenwart unsere geistige Kultur aufrecht zu erhalten und zu pflegen" (137). Die protestantische Kirche müsse
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zur „streitenden Kirche" werden. Sie solle zwar keinen parteipolitischen Kampf führen wie das Zentrum für die katholische Kirche, aber sie solle sich auch nicht „durch politische Schlagbäume den Weg zu ihrer Aufgabe" (132), der Predigt des „Wortes Gottes" im umfassenden Sinn, verwehren lassen. Dieser Auftrag umfaßt für Kaftan auch die „politische Predigt": „Wen der Geist treibt und wer es kann, der soll dann auch eine politische Predigt halten" (132). Und angesichts des möglichen drohenden Unheils, das von einem religionslosen Staat ausgehen könne, habe sie ein Wächteramt auszuüben, um die christliche, deutsche Kultur vor ihrer Zerstörung zu bewahren: „Wir, die von Gott bestellten Wächter, sind dazu da, um die Glocken zu läuten und die Schlafenden zu wecken" (133). Mit dieser Aufgabenbeschreibung wurden die protestantischen Kirchen aufgefordert, in eine deutliche Oppositionshaltung zur parlamentarischen Demokratie zu gehen. Kaftan operiert bei seiner Delegitimierung dieser Staatsform genau mit den Annahmen, die Kelsen, Radbruch und Heller kritisiert hatten und deren Negation für sie notwendig zum geistigen Fundament demokratischen Denkens gehörte. Kaftan überdeckt die faktische Pluralität der Gesellschaft, ihre mangelnde soziale und ökonomische Homogenität durch die Behauptung einer religiösen Homogenität und nimmt die Möglichkeit einer jenseits des Streites liegenden Position, eine „untrügliche Offenbarung des Allgemeinwohls" 299 , in Anspruch. Er behauptet die Existenz einer „überpositiven Ordnung" in Gestalt „christlicher Imponderabilien" der Kultur, für deren Erhalt zu sorgen eine wesentliche Aufgabe der Kirche sei. Für sein Staatsverständnis ist die Orientierung an einer metajuristischen Welt der „sittlichen Ideen" ungleich wichtiger als die Frage nach dem positiven Recht. Die Definiton des Staates durch die Verfassung als Rechtsordnung und die Frage nach der ethischen Qualität von Verfahrensregelungen spielen in seiner Argumentation keine Rolle. Das Insistieren auf dem sittlichen Gehalt von Staat und Kultur erlaubt es dabei Kaftan, sich in seiner ganzen Kritik als Anwalt wahrer Sittlichkeit darzustellen. Aus der Orientierung an einem Staatsverständnis, für das nur der unterstellte, allgemeingültige christlich-sittliche Gehalt der Kultur von Bedeutung ist, ergibt sich angesichts eines vermeintlich „religionslosen" Staates das Programm einer Stärkung der Kirche. Kaftans Ausführungen weisen schon in die Richtung der von Hirsch formulierten, eingangs skizzierten Position. Es war nicht erst die politische Entwicklung nach 1933, die Tendenzen im Protestantismus gefördert hat, die Selbständigkeit der Kirche zu stärken und sie als kulturelle und partiell politische Gegenmacht gegen „den Staat" zu begreifen. Otto Dibelius, der von den Kirchenführern der zwanziger Jahre das Programm einer Stärkung der Kirche am öffentlichkeitswirksamsten ausgearbeitet hat in seinem Buch „Das Jahrhundert der Kirche", hat den Zusammenhang zwischen politischer Entwicklung und Ausbildung eines neuen kirch299
V g l . G . RADBRUCH, P a r t e i e n s t a a t , S . 9 9 .
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lichen Selbstverständnisses ausdrücklich formuliert: „Das Korrelat zum religionslosen Staat ist und bleibt das Jahrhundert der Kirche'"300.
c. Das deutsche Staatsideal und der .westeuropäische Geist' Auch wenn protestantische Kirchenführer und Theologen sich selbst anmaßten, angesichts eines weltanschaulich neutralen Staates, den sie als „religionslosen Staat" verächtlich machten, die Kirche in den Rang der entscheidenden Institution zur Pflege und zum Erhalt der sittlichen Substanz des gesamten Gemeinwesens zu erheben, so blieb ihre Grundorientierung doch einem Ideal verhaftet, demzufolge eigentlich der Staat diese Aufgabe zu erfüllen habe. Dieses von protestantischen Theologen in Ubereinstimmung mit Juristen und Historikern verfochtene normative Staatsideal war der nationale Kulturstaat, für dessen Ausbildung Luther als „Staatslehrer" (Wendland) eine entscheidende Rolle zugesprochen wurde. Mit diesem Staatsideal wurde ein extensives Staatsverständnis formuliert, in dem unter „Staat" nur peripher eine durch Rechtsformen und Verfassung definierte Größe verstanden wurde. Der „Staat" wurde vielmehr wesentlich auf einer metajuristischen Ebene durch Bezugnahme auf eine „überpositive Ordnung" (Kaufmann) bzw. ein „sachliches Kultur- und Wertsystem" (Smend) definiert, das einen spezifisch nationalen Charakter hatte. Aus der Perspektive dieses Verständnisses konnten bei Hirsch „Krisis des Staatsbegriffs" und „Krisis der modernen Kultur" zu zwei Seiten derselben Sache werden301. Am deutlichsten zeigte sich der extensive Charakter des Staatsverständnisses an der Erweiterung der Staatszielbestimmung. Für Brunstäd war der „Zweck des Staates ... die Kultur, die Kulturförderung, höchste Verwirklichung der höchsten Werte, Ausbildung aller zu innerer Werthaltigkeit"302. Die Kehrseite dieser Staatszielbestimmung sprach Brunstäd ebenfalls deutlich aus: „Der Staat ist 300
O. DIBELIUS, Antwort an P. Althaus, S. 105. Zur Diskussion um das Kirchenverständnis in der Weimarer Zeit vgl. K. MEIER, Volkskirche 1918-1945. Zur Haltung der Kirchenführer vgl. J. R. C. WRIGHT, „Über den Parteien": „Um nicht bestimmten Parteien zugeordnet zu werden und durch eine derartige Festlegung politisch anders gebundene evangelische Kirchenglieder zu entfremden, verhielt sich die Kirche offiziell in politischen Angelegenheiten neutral. Diese taktische Einstellung hielt die Kirchenführer allerdings nicht davon ab, zu allgemeinen nationalen Anliegen, die als überparteilich angesehen wurden, Stellung zu nehmen. Die Vorstellung von einem erhabenen Bereich nationalen Lebens über den Parteien war einer von den gemeinsamen Zügen, der die Haltung der politischen Rechten prägte; sie lag auf derselben Linie wie der Mythos vom Kaiser als einem unparteiischen Diener des ganzen Volkes ... Ihre natürliche Verbündete im politischen Lager war die konservative Deutschnationale Volkspartei" (S. 66). Im Hinblick auf das Ende der Republik stellt Wright fest: „Im Grunde begrüßten sie das Heraufkommen eines autoritären, nationalistischen Staates, der das Christentum respektierte, und sie waren beeindruckt von Hitlers Zusage, die Rechte der Kirche nicht antasten zu wollen" (S. 237). 301 302
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 65. Ε BRUNSTÄD, Deutschland, S. 103, vgl. Idee, S. 204.
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nicht mehr Mittel für die Interessen der Einzelnen, sondern in sich sittlicher Selbstzweck" 303 . Die „höchsten Werte", zu deren Verwirklichung der Staat dienen sollte, waren nationale Werte. Deshalb gab es in diesem Staatsideal auch eine vermeintlich klare, als Alternative zur geschriebenen Verfassung fungierende Bindung für die Formierung und Ausübung staatlicher Macht. Das „Staatlich-Politische" sollte - so Hirsch - „dem Volkstum als dem eigentlichen Träger der Kultur, dem wahrhaften Quell allen menschlichen Lebens unterworfen" werden 304 . Als entscheidende Wegbereiterin dieses Staatsideals wurde die lutherische Reformation in Anspruch genommen. Das Insistieren auf dem engen Zusammenhang von christlicher Religion, höherer Kultur und Staat bildete gerade bei lutherischen Theologen nur den allgemeinen Bezugsrahmen für die Ausarbeitung der These, daß zwischen lutherischer Reformation und moderner nationaler Kultur eine enge Verbindung bestehe. Auf diese Verbindung richtete sich vor allem das Interesse. Die Frage nach der religiösen Tiefendimension der Kultur war vor allem die Frage nach der Bedeutung der lutherischen Reformation und ihrer Folgen für die deutsche Kultur. Das Urteil über die Bedeutung der lutherischen Reformation bildet zugleich einen entscheidenden Differenzpunkt zwischen der von Brunstäd und Hirsch vertretenen Position einerseits und Tillich andererseits. Teilte Tillich mit den genannten Theologen sowohl die Uberzeugung hinsichtlich eines engen Zusammenhanges von Religion und Kultur als auch hinsichtlich der Notwendigkeit, die ganze Kultur müsse mit neuem substantiellen Gehalt erfüllt werden, so suchte er diesen Gehalt doch in weit geringerem Maße in der nationalen lutherischen Tradition. Für Tillich war 1926 eine „Lutherrenaissance ..., aufs Ganze gesehen, eine Unmöglichkeit" 305 . Für K. Holl dagegen stand außer Zweifel, daß die Reformation „den entscheidenden Anstoß ... für die Fortbildung des Rechtsstaates zum Kulturstaat" 306 gegeben hat. Seine Analysen und Darstellungen lutherischen Denkens waren von dem Bemühen durchzogen, das Staatsverständnis Luthers als die deutsche Kultur entscheidend prägendes Gedankengut herauszuarbeiten und als gegenwartsrelevantes, normatives Ideal zur Geltung zu bringen. Er bezog damit dezidiert eine Gegenposition zu E. Troeltsch. Für dieses Kulturstaatsideal beanspruchte Holl eine besonders enge Ubereinstimmung mit christlichen Grundüberzeugungen: „Luther... und sein Staatsbegriff, der die Gemeinschaft im Volk betont... steht dem letzten Sinn des Christentums näher als der andere, dem die .Freiheit' das ein und alles ist" 307 . Die Arbeiten von Holls Schüler E. Hirsch aus den zwanziger Jahren kreisten ebenfalls immer wieder um die Profilierung eines spezifisch deutschen, 303 304 305 306 307
F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 15. E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 60. P. TILLICH, Religiöse Lage, S. 92. K. HOLL, Kulturbedeutung, S. 484. K. HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 467.
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in reformatorischen Einsichten grundgelegten Staatsideals. Hirsch war wie Holl der Uberzeugung, daß „der wahre Staat auch als Träger einer eigentümlichen Kultur begriffen werden will". Diese „Erkenntnis" fordere dazu heraus, „die Idee des Rechtsstaats zu der des Nationalstaats zu vertiefen" 308 . Dementsprechend müsse im Blick auf Deutschland die prägende Kraft der lutherischen Reformation und ihrer Folgen für die Gesamtkultur berücksichtigt werden. Insbesondere die Entwicklung des protestantischen Staatsverständnisses, die sich im Gedanken des nationalen Kulturstaates bündele, berechtigt nach Hirschs Uberzeugung zu der Behauptung, „daß der Beitrag Deutschlands zur Staatslehre ... fast der wichtigste geworden ist" 3 0 9 . Auch F. Brunstäd propagierte in seinen Schriften den „nationalen Kulturstaat". In ihm sah er den „schönste(n), größte(n) wunderbare(n) Ertrag der tausendjährigen, mühseligen, qualvollen, deutschen Geschichte ... letztlich wurzelnd in der echtesten Tat der Deutschen, in der religiösen Erneuerung der Reformation" 310 . H . - D . Wendland konstatierte im Blick auf die Arbeiten von K. Holl, E. Hirsch, G. Ritter, Th. Pauls, G. Holstein und P. Joachimsen einen engen Zusammenhang zwischen „Reformationsgeschichte und Staatsidee"311. Die „Reformation Martin Luthers" bedeutete für ihn „eine Epoche in der Geschichte des Staatsgedankens". Seither sei „kein Staatsgedanke von gleicher religiöser Tiefe und sittlicher Wucht geprägt worden" 312 . Luther könne deshalb mit Recht als „Staatslehrer"313 bezeichnet werden. Die besondere Leistung Luthers sah Wendland in einer Synthese von „Kulturstaat", „Erziehungsstaat", „Machtstaat" und „Sozialstaat", der der „Abwehr des zügellosen Kapitalismus"314 diene. Die Idee des nationalen Kulturstaates war für diese Autoren ein deutsches Spezifikum, das Merkmal, in dem sich entscheidende Unterschiede zwischen deutscher und westeuropäischer Kultur zusammenfassen ließen. Die Durchsetzung eines individualistischen, rationalistischen Denkens mittels Demokratisierung und dem „Sieg des Großkapitalismus" wurde auch als „Amerikanismus" bezeichnet, von dem R. Seeberg 1922 fürchtete: „Dem treibt, wenn nicht alles täuscht, die Entwicklung nicht bloß Deutschlands, sondern auch Westeuropas entgegen" 315 . K. Holl markierte 1922 in seinem Vortrag „Luther und die Schwärmer" den grundlegenden Punkt der Differenz zwischen dem deutschen Ideal des nationalen Kulturstaates und dem Staats- und Kulturverständnis der westlichen Völker: „Darin unterscheidet sich unsere deutsche Auffassung scharf von der 308
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 2 8 .
309
Ebd., S. 24.
310
F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 16.
311
H . - D . WENDLAND, Reformationsgeschichte, S. 120.
312
H . - D . WENDLAND, Staatsgedanke, S. 6 .
313
Ebd., S. 6. Ebd., S. 9.
314 315
R . SEEBERG, Verständnis, S. 71.
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durch jene Sekten beeinflußten englisch-amerikanischen. Für uns gilt der Zusammenhalt im Staat, die Förderung und Vertiefung der Volksgemeinschaft als ein Gut, das uns höher steht als die Bewegungsfreiheit des einzelnen. Dort wird umgekehrt der staatliche Zwang als etwas Lästiges empfunden, den man nach Möglichkeit zu beschränken sucht"316. „Luther und die Schwärmer" das war für Holl kein bloß historisches Thema. Im Medium des Historischen ging es für ihn vielmehr um die ausdrückliche Klärung von für seine Zeit relevanten politischen Leitidealen. Den Ersten Weltkrieg deutete er als Zusammenstoß mit „calvinistischen Mächten"317. Auf dem Hintergrund seiner Calvinstudien stellte er 1919 die Frage, ob es nicht vielleicht richtiger sei, „wenn wir einen Tropfen calvinistisches Blut in uns aufnehmen?"318. Der Sieg der Reformation über die Schwärmer wurde für Holl nach 1918 zum „Augenblickserfolg", denn „die Besiegten von gestern sind die Sieger von heute geworden"319. Dies lasse sich vor allem daran erkennen, daß das Sozialideal der Schwärmer das „Hochziel" geworden sei, „dem wir willig oder unwillig heute zustreben müssen"320. In Holls Stilisierungen des historischen Materials lassen sich unschwer Fronten der Auseinandersetzung um die demokratische Verfassung von Weimar erkennen. Die nachdrückliche Hervorhebung des Gegensatzes von lutherischem und katholischem Denken ist auch als eine Kritik leitender Prämissen der Politik des Zentrums zu verstehen. In einer Zeit, von der Holl meinte, sie „schreit geradezu nach einer Ethik", und in der er selbst davon überzeugt war, daß der „wichtigste Beitrag, den der Protestantismus zur Kultur leisten konnte ..., auf dem Gebiet der Ethik"321 liege, konnte Holl behaupten: „Und wir haben in alledem Kräfte, über die der Katholizismus nicht verfügt. Wir vermögen von unserem Gemeinschaftsgedanken aus den Staat besser zu würdigen" 322 . Thomas Münzer und die Wiedertäufer erscheinen als Gestalten, in denen die Sozialdemokratie „ihre geschichtlichen Vorläufer"323 sieht. Münzer selbst wird zum Verfechter von Volkssouveränität und einer demokratischen Staatsverfassung324. Anhänger der Demokratie wie M. Weber und E. Troeltsch werden, indem Holl darauf hinweist, daß sie in den Schwärmern und Sekten Englands und Nordamerikas den „eigentlichen Träger des geschichtlichen Fortschritts" sehen, zu Repräsentanten eines westeuropäischen und damit undeutschen Staats- und Kulturverständnisses, von denen es sich um des verpflichtenden Erbes der lutherischen Reformation willen abzugrenzen gelte. Denn die Schwärmer 316
K. HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 466. K. HOLL, Luther und Calvin, S. 19. 318 Ebd., S. 19. 319 K. HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 424. 320 Ebd., S. 424. 321 K. HOLL, Protestantismus, S. 517. 322 Ebd., S. 519. 323 K. HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 423. 324 Ebd., S. 455. 317
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könne als Träger des Fortschritts nur anerkennen, wer die Meinung teile, „daß die englisch-amerikanische Staats- und Gesellschaftsauffassung die unbedingt und allein richtige sei"325. In der Traditionslinie der Schwärmer sah Holl eine unzulässige Verschmelzung von bürgerlicher und religiöser Freiheit, in deren Gefolge sich ein Verfassungsdenken ausbildete, in dem die Menschenrechte eine zentrale Bedeutung bekamen. Dieses Zusammenbinden von Verfassungs- und Menschenrechtsgedanke führte zu einer „Wandlung des ganzen Staatsgedankens in sich. Am offenkundigsten ist dies in Amerika. Der einzelne mit seinen unantastbaren Rechten ist dort das Erste. Erst jenseits dieser Grenze beginnt das Recht des Staates. Der Staat rückt damit in das Licht eines Zweckverbandes, der nur das für das Zusammenleben Unerläßliche ordnet" 326 . In der individualistischen Frömmigkeitspraxis der Sekten und Schwärmer sah Holl den Wegbereiter eines prinzipiellen Individualismus, der nicht nur „bürgerliche Freiheit" ausschließlich als „Freiheit vom Staat" begreifen könne, sondern auch alle „Rücksicht auf den Nebenmenschen innerhalb des Wirtschaftslebens" zurückdränge und so der Entwicklung von „Kapitalismus" und „Industrialismus"327 ungehindert freien Lauf lasse. Demgegenüber stelle das deutsche und lutherische Ideal des nationalen Kulturstaats den Gedanken einer sittlichen Gemeinschaft in den Mittelpunkt. Wie K. Holl behauptete auch E. Hirsch, es bestünden fundamentale Unterschiede zwischen den „Grundzügen" der deutschen, englisch-amerikanischen und der französischen „Geistesart", die sich am deutlichsten in den jeweiligen Gemeinschafts- und Staatsidealen zeigten. In seiner Publikation „Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens" postulierte er für das deutsche Denken „eine Überlegenheit... gegenüber dem ausländischen"328. Zu einem zentralen Movens von Hirschs Arbeit während der Weimarer Republik wurde, wie schon Titel wie „Die notwendige Vertiefung des Nationalstaatsgedankens", „Deutschlands Schicksal" und „Die Liebe zum Vaterland" zeigen, die Befürchtung, daß durch den Sieg der „Ideen von 1918" über die „Ideen von 1914" die deutsche Kultur als Mutterboden höherer Geistigkeit und Sittlichkeit zum Untergang verurteilt sein könnte329, da die entscheidende, die nationale Kultur formende Kraft, ein eigenständiger deutscher Staat, nicht mehr existierte330. Hirsch sah sich selbst in der Rolle eines „geistigen Pfleger(s) eines nationalen Staatsgedankens"331, dem es oblag, während einer Zeit, in der Deutschland mit einer von außen aufgezwungenen, fremden Staatsform, dem „demokratisch-parlamentarischen Verfassungs325
Ebd., S. 466.
326
K . HOLL, K u l t u r b e d e u t u n g , S. 497.
327
K. HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 461.
328
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 24.
329
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 142. Ebd., S. 141. 331 E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 62. 330
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system" 332 leben mußte, dafür zu arbeiten, daß ein deutscher Kulturstaat wieder möglich würde. Für einen Denker, der von der These überzeugt war, daß „nur die seinshaft verwurzelte Reflexion, die von einem zugleich Wirklichkeitsmacht und Tiefe besitzenden gemeinsamen Leben gehalten und getragen ist, ... wahrhaft des Geistes" ist und deshalb „alles Uberlegen, Prüfen und Wählen ... fruchtbar nur (sei) innerhalb von ethisch und religiös bestimmter volklich-staatlicher Gemeinordnung und Gemeingeistigkeit, die der Erörterung und dem Streit entzogen bleibt" 333 , war solches Engagement als „geistiger Pfleger eines nationalen Staatsgedankens" alles andere als eine seinen theoretischen Interessen bloß äußerliche Angelegenheit. E. Hirschs nationalistische Grundorientierung hatte E. Troeltsch schon 1923 in seiner Besprechung der „Reich-Gottes-Begriffe" heftig kritisiert. Für Troeltsch stellte diese Schrift einen „Nachzügler der Kriegs- und Propaganda-Literatur, eine Kampfschrift gegen die westlichen Ideen" dar 334 . England, Frankreich und Amerika waren auch für F. Brunstäd die Länder, in denen die individualistische, rationalistische und materialistische Denkungsart sich praktisch niederschlug in der Propagierung einer neuen „Idealstaatsform", der „demokratisch-parlamentarischen Republik" 335 . Der Staat werde dort nur verstanden als eine „Sonderveranstaltung der Gesellschaft", gegen den diese, als durch keine höheren gemeinsamen Ideen verbundene Zusammenballung von Individuen, „souverän" 336 sei. Zu solchem Staatsdenken stand für Brunstäd der „deutsche Staatsgedanke" als eine „klassische deutsche Kulturschöpfung" in einem strikten Gegensatz. Der Staatszweck des deutschen Staates liege in der Erhaltung der sittlichen Gemeinschaft des Volkstums als dem Boden, in dem jede einzelne Existenz wurzele. Zum Kampf wider den „christlichen Amerikanismus" rief 1928 auch H.- D. Wendland auf. „Amerikanismus" umschrieb er als „Glaube an die Technik und Glaube an die Organisation. Und das heißt Glaube an die Gestaltungskraft der Ratio, des Verstandes, der ja der Verstand des angeblich zugleich von ursprünglicher Güte erfüllten Menschen ist"337. Durch solchen Optimismus entstehe dann ein politisches Leitideal, das an die Verwirklichung des „EndE. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 142. E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 28. 3 3 4 E. TROELTSCH bezeichnet in seiner kurzen Rezension der „Reich-Gottes-Begriffe" „die Konstruktionen und Zusammenstellungen (als) krasse Unmöglichkeiten... Daß auch Hirsch sich auf Max Weber für seine Methode beruft, würde diesen lediglich entsetzt haben" (S. 23). E. HIRSCH hielt es für nötig, unmittelbar im Anschluß an Troeltschs Besprechung dem Leser eine „Mitteilung" in eigener Sache zu machen: „Meine in dieser Nummer besprochene Schrift... ist von mir gerade deshalb, weil sie einen scharfen Angriff auf Troeltschs Soziallehren darstellt, an Troeltsch - in Erwartung einer scharfen, aber die Sache fördernden Antikritik - zur Besprechung überlassen worden. Die Aufnahme der Besprechung durch den Schriftleiter bedeutet nicht, daß der Autor seine Ansichten für richtig wiedergegeben hielte" (Sp. 24). 332
333
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 85. Ebd., S. 85. 337 H.-D. W E N D L A N D , Kampf um das Weltziel, S. 363. 335
336
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reich(s) der vollkommenen Gesellschaft" 338 aus eigener menschlicher Kraft glaube. Wendland befürchtete eine „fortschreitende Amerikanisierung Deutschlands" 339 durch die Übernahme dieses politischen Leitgedankens in Gestalt der Demokratie, eine Übernahme, die im deutschen Protestantismus möglicherweise noch verstärkt werden könnte durch die ökumenischen Kontakte, die auf Konferenzen wie in Stockholm und in Lausanne gepflegt würden 340 . Demgegenüber wollte Wendland, wie seine Publikationen, insbesondere in den „Jungnationalen Stimmen" zeigen, den Einsichten der lutherischen Reformation und des auf ihrem Boden erwachsenen Staatsdenkens, wie er es von Hirsch vertreten sah, wieder zu neuer Geltung verhelfen.
3. Gebundene Freiheit - die Mitte deutscher Staatsgesinnung Das Zentrum des Ideals des „nationalen Kulturstaates" wurde, wie bei den Staatsrechtslehrern, auch von den Theologen in einem spezifischen Freiheitsverständnis gesehen, für das die wechselseitige harmonische Bezogenheit von Individuum und Gemeinschaft und die in dieser Relation begründete sittliche Verantwortung konstitutiv war. Sie setzten damit an jenem Punkt an, der als Hauptursache der „Krise" diagnostiziert worden war, dem zersetzenden Individualismus und gehaltlosen Pluralismus. Die entscheidende Frage, die die an diesem Staatsideal orientierten Juristen und Theologen bewegte, war, wie Kräfte zu neuer Integration, Gemeinschaftsbildung und Steigerung der Verantwortung mobilisiert werden konnten. Auf diese Konvergenz wies E. Hirsch in seiner Rezension von C. Schmitts „Politische Theologie" ausdrücklich hin. Hirsch brachte dort zwar seine Übereinstimmung mit Schmitts These: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe", zum Ausdruck: „Dieser Satz steht so ähnlich auch in meinen ,Reich-Gottes-Begriffen des neueren europäischen Denkens'." Er kritisierte aber, „daß Schmitt an dem Punkt, wo Theologie und Jurisprudenz sich am leidenschaftlichsten berühren, vorübergeglitten ist". Die „christliche Anschauung von der Gemeinschaft" sei „das entscheidende Moment im Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz" 341 . Die von der Staatstheorie geforderte umfassend gemeinschaftsfähige und sittliche Persönlichkeit konnte, wie gezeigt, nur unter Zuhilfenahme religiöser Potentiale herangebildet werden. Die hohen Integrationsforderungen als Gegenmittel zum zersetzenden Individualismus bedurften zu ihrer Erfüllung gleichsam des ,neuen Menschen', der im Geiste unbedingter Verpflichtung und strengen Verantwortungsgefühls für ,das Ganze' und die, Gemeinschaft' Ebd., S. 364. Ebd., S. 366. 340 H . - D . WENDLAND, Reichsidee und Gottesreich, S. 15. 341 E . HIRSCH, (Rez.) C. Schmitt, Sp. 524. 338
339
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zu leben, und wenn es gefordert ist, auch zu sterben vermag. Zur Erreichung dieses Zieles wurde die „Gemeinschaftsmacht der Religion" (Wendland) bemüht. Mit ihrer Hilfe sollte die Grundschwierigkeit der Entwicklung eines neuen Bewußtseins hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft als dem Fundament eines neuen Staatsbewußtseins gelöst werden. Diesen Zusammenhang brachte Brunstäd auf die Formel: „Echte Staatsgesinnung wurzelt... immer irgendwie im religiösen Erleben, sie ist, wenn auch vermittelt, religiöses Erleben" 342 . Insbesondere dem lutherischen Glauben wurde, wie die bisherige Darstellung schon zeigte, für die Begründung solcher Staatsgesinnung eine besondere Rolle zugesprochen. E. Hirsch reklamierte für Luther, daß dieser „die Grundschwierigkeit der modernen (!) Staatslehre, wie man vom Persönlichkeitsgedanken aus die Unterordnung des einzelnen unter die Recht und Gemeinschaft tragende Staatsgewalt begründen könne, ... bereits deutlich erkannt" 343 habe. H.-D. Wendland berief sich gegen Troeltsch auf K. Holls Lutherdeutung und behauptete, der „Gemeinschaftsgedanke Luthers" sei „tiefer als der des Katholizismus" 344 . Eine Ethik, für die individuelle Freiheit und Dienst an und in der Gemeinschaft keine Gegensätze sind, glaubte man gerade auf dem Fundament des lutherischen Denkens entwickeln zu können. Das Wort „Sozialethik" bekam programmatischen Charakter als „Antithese" gegen eine Ethik, „die vom Individuum und der Privatisierung des Glaubens' her aufgebaut war" 345 . Für P. Althaus war der „tiefste Gedanke" evangelischer Ethik „freies Entscheiden und Wagen dessen, der in innerster Verantwortung gebunden ist" 346 . In der Tradition eines lutherischen Freiheitsverständnisses wollte ebenfalls F. Brunstäd seine Aussage verstanden wissen, daß die „Freiheit von der Welt für Gott, zu der wir gerufen werden, ... in sich selbst Bindung an die Welt aus Gott" 3 4 7 sei. „Personwerdung und Gemeinschaftsbildung" waren für ihn „ein und derselbe Vorgang" und darum „Sozialethik ... Ethik überhaupt" 348 . Die Möglichkeit für eine solche Ethik war für ihn in der Rechtfertigungslehre begründet. Bei diesem Insistieren auf dem Wechselverhältnis von Freiheit und Bindung, Individuum und Gemeinschaft, läßt sich bei den Theologen dieselbe Grundintention erkennen, die hinter der juristischen Neuinterpretation der Grundrechte stand: Auch den Theologen ging es mehr um die Bindung als um die Freiheit, um den Vorrang der Gemeinschaft vor individuellen Interessen. Hier wie dort ging es um das gleiche Ziel, die innere Vergemeinschaftung des Individuums. Begründet und durchgesetzt werden sollte ein neues Ver342
343 344
F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S . 14. E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 6. H . - D . WFNDLAND, G r u n d l e g u n g , S . 345.
345
Ebd., S. 25.
346
P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 44. F. BRUNSTÄD, Sozialethik, S . 277.
347
348
Ebd., S. 278.
Die theologische Deutung
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ständnis der Freiheit, „Freiheit in der Gebundenheit", in dem die „Gemeinschaft als konkreter Raum des verantwortlichen Handelns" 349 gebührend berücksichtigt wurde. Das Verständnis dieser Idee der „Freiheit in der Gebundenheit" und der daraus sich ergebenden Konsequenzen für das Verständnis des Weltverhältnisses des Menschen soll im folgenden an Texten von K. Holl, E. Hirsch und F. Brunstäd exemplarisch dargestellt werden. Wie in den dargestellten Neuansätzen der Staatsrechtslehre läßt sich auch bei diesen Theologen ein enormes sittliches Pathos erkennen. Nicht der Reduktion von Ansprüchen christlicher Moral im Hinblick auf die Gesamtkultur galt ihr Interesse, sondern deren Stärkung.
a. Innere Vergemeinschaftung durch Gewissensreligion Luthers Denken repräsentierte für Karl Holl350 Normativität jenseits aller zeitlichen Veränderung. Bei der Reformationsfeier 1917 verkündete er seinen Hörern, daß, wer Luther gedenke, sich „mit einem Lebendigen"351 berühre. In Luther sah er sowohl die „ungebrochenen Antriebe des Urchristentums ... mit sieghafter Gewalt lebendig"352 wirken, wie auch Erkenntnisse vorweggenommen oder gar überboten, die im Zentrum des Denkens von Aufklärung und deutschem Idealismus standen353. So erklärte er in Ubereinstimmung mit der Aufklärungskritik seiner Zeit, die Aufklärung bedeute „einen Rückschritt"354 gegenüber Luther, denn sie sei über die menschliche Ichsucht und Selbstliebe nicht hinausgekommen. In dieser Behauptung läßt sich der Punkt erkennen, um den Holls Lutherinterpretation kreiste. Luther hatte nach Holl gezeigt, daß „erst auf religiösem Boden, wo der Mensch den über ihn hinausreichenden Willen Gottes frei bejaht"355, er von seiner Ichsucht loskommt, zu wahrer Nächstenliebe und Gemeinschaft fähig wird. Die in dieser Suche nach Überwindung der Ichsucht gewonnenen Erkenntnisse bildeten für Holl Staatsproblem, S. 1 3 . Zu Holl vgl. S . 1 6 0 Anm. 1 0 5 . Außerdem К . H . ZUR M Ü H L E N , Reformatorische Vernunftkritik, S. 1 8 9 - 2 0 1 ; W. BODENSTEIN, Theologie; H . BORNKAMM, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, S. 114-117. Insbesondere die systematischen Interessen Holls und der durch seine Lutherinterpretation ausgelöste Streit um Grundlegungsfragen der Ethik bedürfen allerdings noch weiterer Aufarbeitung. Zur Auseinandersetzung in den zwanziger Jahren F. GOGARTEN, Theologie und Wissenschaft; die Erwiderung K. HOLL, Gogartens Lutherauffassung. 349
H . - D . WENDLAND,
350
351
352
K. HOLL, Religion, S. 1.
Ebd., S. 35. Vgl. den Brief Holls an Schlatter vom 8.1.1920: „Es wird mir immer deudicher, daß Luther den ganzen deutschen Idealismus trägt, sofern man das Sittliche und nicht das Spekulative als die Triebkraft des deutschen Idealismus ansieht, nur das Luther etwas über ihn hinaus hat, worauf der deutsche Idealismus zu seinem Schaden verzichten zu können meinte" (ZThK 64, 1967, S. 229). 354 Luther und Calvin, S. 12, vgl. Religion, S. 109. 355 Luther und Calvin, S. 12. 353
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die Mitte lutherischen Denkens. Das genuin Reformatorische war für ihn nichts Historisches, sondern ein überzeitlich gültiger Zusammenhang von Grundeinsichten in die Struktur der sittlichen Persönlichkeit, die zugleich den Grundgedanken einer spezifisch modernen Kultur überbietend vorwegnahm. Luther galt Holl als Begründer einer „sittliche(n), Autonomie' höchsten Stils" 356 , in deren Licht ihm auch die kantische Begründung der Ethik nur als ein „verfeinerter Egoismus" 3 5 7 erschien. In diesem Grundthema der Theologie Luthers sah Holl eine Konvergenz mit der aktuellen Krisensituation der Zeit. 1919 schrieb er an Schlatter: „Der Kernschade, den mir die Revolution gezeigt hat, ist, daß die sittlichen Begriffe bei uns entwurzelt sind" 358 . Die für die Kultur ruinöse „Verwirrung der sittlichen Begriffe" war für ihn aufs engste verknüpft mit der Tatsache, daß „wir ... alle Individualisten geworden" 359 sind. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung lag für ihn die ungebrochene Aktualität Luthers darin, daß der Reformator, „indem er sich auf das Christlich-Sittliche besann, zugleich das Wesen des Sittlichen in seiner reinsten Gestalt entdeckt" und dadurch den Grundstein für ein neues vertieftes Verständnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft gelegt habe 360 . Für Holl gab es auch im 20. Jahrhundert im Zusammenhang des Themas Sozialität und Individualität „kaum eine Frage ..., die nicht schon Luther aufgeworfen hätte", und auch dessen Lösungen waren für ihn „bis zur Stunde nicht überholt" 361 . Holl war davon überzeugt, es sei nicht nötig, daß der Mensch „erst künstlich die Beziehung zu Gott in die Vorkommnisse seines Lebens" 362 hineintrage, denn der zentrale Ort der Gotteserfahrung sei von Luther in einem mit jeder menschlichen Existenz gegebenen Phänomen, der Innerlichkeit des Menschen, seinem „lebendige(n) Gewissen" 363 lokalisiert worden. Nach Holls Analyse hatte Luther die religiöse Dimension menschlicher Existenz im Kontext der sittlichen Erfahrung expliziert: „Für ihn wird wieder wie für das Urchristentum das Sittliche, das unbedingt zu verwirklichende, zum allein gültigen Maßstab der Weltbetrachtung"364. Dementspechend beschrieb Holl Luthers reformatorische Einsicht, den Rechtfertigungsglauben, als eine im inneren Erleben des Gewissens, dem „Wirklichste(n) des Wirklichen" 365 , sich vollziehende Konstitution eines im Gpttesbewußtsein gegründeten neuen Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen, in dem der Mensch sich Neubau, S. 227. Ebd., S. 179. 358 Postkarte an Schlatter vom 1.1. 1919, (ZThK 64,1967, S. 228). 359 Luther und Calvin, S. 19. 360 Ebd., S. 9. 361 Neubau, S. 287. 362 Ebd., S. 241. 363 Religion, S. 107. 364 Ebd., S. 41. 365 Luther und Calvin, S. 10. 356
357
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von der Fixierung auf sein eigenes Ich befreit wissen kann. In solcher inneren Befreiung zu einem „vollkommen selbstlose(n) Selbstgefühl" 366 sah Holl das von Luther neu herausgearbeitete Ziel des christlichen Glaubens. Aus dieser Bestimmung ergab sich, daß die Mittel zur Realisierung dieses Zieles dessen Inhalt entsprechen mußten, d.h. selbst zu einem Tätigsein herausforderten, in dem Freiheit erfahrbar wurde: Die innere Freiheit konnte nicht mit äußerer Gewalt erzwungen, sondern nur in einem freiwilligen Akt ergriffen werden. Die grundlegende Gewissenserfahrung, wie sie Holl bei Luther analysiert fand, zeichnet sich durch eine „Doppelseitigkeit" 367 aus, durch das Gefühl, von einem Sollen gefordert zu sein und dem daraus erwachsenden Schuldgefühl einerseits, dessen lebensbejahende Uberwindung andererseits. Diese doppelte Gewissenserfahrung läßt sich folgendermaßen reformulieren: Das Gewissen ist einerseits der Ort des Angesprochenseins durch Sollensanforderungen. Durch dieses In-Anspruch-genommen-sein bildet sich das Bewußtsein der eigenen Identität im Unterschied zum unbestimmten Horizont der Fülle der Möglichkeiten. Die Steigerung und Prinzipialisierung solcher Anforderungen zu deren unbedingter Gültigkeit, die sich dann ergibt, wenn sie als Gottes Willen verstanden werden, korrelieren mit einem gesteigerten Bewußtsein der Unvertretbarkeit des eigenen Ich. Dieses Bewußtsein ist zwar ein an den Sollensanforderungen gewachsenes Freiheitsbewußtsein, es ist aber insofern defizitär, als es zugleich, angesichts der Konfrontation mit einer unbedingten Forderung, das Wissen um das Ungenügen und die Fehlerhaftigkeit der eigenen Existenz mit hervorruft. Es war nach Holl ein entscheidender Schritt Luthers auf dem Weg zum Reformator, daß er die „Größe des göttlichen Gebots" 3 6 8 wieder herausstellte und diese nicht durch eine „doppelte Sittlichkeit" abmilderte wie in der katholischen Ethik. Er habe „aufgeräumt ... mit allen Abschwächungen und Zugeständnissen, durch die der sittliche Gedanke des Christentums im Lauf der Entwicklung entstellt worden war" 369 . Dadurch habe Luther schon „ein anderes Gewissen als seine katholische Umgebung" 370 gehabt. Durch die Anerkenntnis der „Größe des göttlichen Gebots" habe Luther den „Gerichtsgedanken von vornherein tiefer, persönlicher und reiner erfaßt, als dies unter seinen Zeitgenossen üblich war." Aus dem Gerichtsgedanken sei bei ihm „das strenge Bewußtsein der Selbstverantwortung, der ganz persönlichen Haftbarkeit: für sich, für seinen Glauben, für sein Leben" 371 entstanden. Nach Holl wurde damit „das Gefühl des Sollens die Grundlage seiner (Luthers) ganzen Frömmigkeit" 372 . Religion, S. 84. Luther und Calvin, S. 11. 3 6 8 Religion, S. 19. 3 6 9 Neubau, S. 215. 3 7 0 Religion, S. 20. 371 Ebd., S. 18. 372 Ebd., S. 73. 366 367
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Bleibt aber der Mensch in dem Erfahrungszusammenhang von Sollensanforderungen und schuldhaftem Versagen eingeschlossen, vermag er ihn nicht zu transzendieren, so kann er nicht jene „Freudigkeit des Wollens"373 erreichen, die „das entscheidende Merkmal" wahrer Sittlichkeit ist, denn der Antrieb zum Handeln werde dann entweder nur durch die Unterwerfung unter ein äußerliches Gesetz oder den krampfhaften Zwang zur Selbstvervollkommnung gegeben. Indem Luther die „unbedingte Forderung" mit der „Freudigkeit des Wollens" verknüpfte, hat er nach Holls Uberzeugung „einen Begriff des Sittlichen aufgestellt, der weder vor ihm, noch nach ihm in dieser Schärfe vertreten worden ist"374. Solches „freudige Wollen" war für Luther nur dann möglich, wenn dem Menschen das „Loskommen vom natürlichen Ich, (die) Überwindung des den Menschen verengenden und verkrümmenden Sichselbstwollens"375 gelang. Für Luther galt „das Sittliche erst da verwirklicht, wo das Gesollte zugleich ein frei und gern Gewolltes ist, wo das Gesetz nicht nur bejaht, sondern mit warmem Gefühl als das allein der Stellung des Menschen entsprechende ergriffen wird" 376 . Die Verwirklichung dieses Ziels lag nach Luthers Erfahrung aber jenseits der dem Menschen selbst gegebenen Möglichkeiten. Mit der Frage nach der Ermöglichung solcher „Freudigkeit des Wollens" ist schon der Schritt vollzogen hin auf die andere Seite der von Holl beschriebenen Thematisierung der Gewissenserfahrung bei Luther. Konnte diese innere Freiheit, dieses unverkrampfte Selbst- und Weltverhältnis als dem Quellgrund freudigen Wollens nicht aus dem Menschen heraus entstehen, so konnte es ihm nur von außen zukommen. Dies war für Luther allein das Werk von Gottes Vergebung als der „Anerkennung" des schuldig werdenden Menschen durch Gott377. Diese Anerkennung sei jener Vollzug, durch den Gott den Menschen zugleich „von seinem Ich befreit" 378 . Wahre innere Freiheit und höchstes sittliches Bewußtsein habe Luther nur erreicht mittels der ihm durch Paulus vermittelten Erkenntnis: „Nicht er sucht Gott zuerst, sondern Gott vielmehr ihn ... Er selbst schlägt ihm die Brücke, auf die er treten kann, indem er vergibt"379. Gott selbst schafft damit „kraft seiner schöpferischen Allmacht etwas Freies, ein sich von selbst ihm zuwendendes Wollen"380. Gottesgewißheit und innere Freiheit werden damit zu zwei Seiten derselben Erfahrung381. 373
Neubau, S. 179. Ebd., S. 179. 375 Ebd., S. 204. 376 Ebd., S. 179. 377 Ebd., S. 182. 378 Ebd., S. 207. 379 Religion, S. 28. 380 Neubau, S. 207. 381 Ebd., S. 218. 374
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Blieb die Hollsche Darstellung der Genese eines defizitären, weil von seiner eigenen Schuld nicht loskommenden Freiheitsbewußtseins noch in kantianisierender Weise im Rahmen einer an der Form des Sittlichen orientierten Argumentation, so erfolgt an diesem entscheidenden Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation der Ubergang zur Betonung der Inhaltlichkeit des Sollens. Luther sei zu diesem hohen Sittlichkeitsideal nur gelangt, „weil ihm, im Unterschied von Kant, der Sinn des Sollens an einem bestimmten Inhalt aufgegangen war" 382 , der Forderung, Gott zu lieben. Die von Gott selbst geschenkte Gemeinschaft mit ihm, der Inhalt des Rechtfertigungsglaubens, sei Luther damit zu der „Bedingung, unter der wirkliche Sittlichkeit erst möglich ist" 383 , geworden. Demgegenüber erscheine das Gewissen, das sich selbst überlassen bleibe, doch nur als ein schwaches, die wahren Ziele der Sittlichkeit tatsächlich nicht erreichendes Vermögen. Die „Befreiung des Menschen" 384 durch Gott sei es, durch die im Menschen ein neues Selbst- und Weltverständnis entstehe. Der Mensch könne sich nun begreifen „rein als Werkzeug Gottes" 3 8 5 , dem es aufgetragen sei, in der Welt nach Gottes Willen zu wirken: „Wo Gott nicht ruhte, da durfte auch der Mensch nicht müßig gehen" 386 , der sich mit Gott in Gemeinschaft wisse. Die Gewißheit der Anerkennung durch Gott habe Luther auch als Gegenwart des Heiligen Geistes beschrieben, einer Erfahrung, die sich nicht in „plötzlichen außerordentlichen Eingebungen, sondern in übermächtigen Antrieben sittlicher Art" 3 8 7 konkretisiere. Beide Seiten der „Gewissenserfahrung" zusammen bilden für Holl Luthers „Gewissensreligion" 388 . Sie wird bei Holl zum entscheidenden Ort der Thematisierung der Krise von Subjektivität und sittlicher Kultur. In der Beschreibung der Gewissensreligion, die auf die „Innerlichkeit" konzentriert ist, vollzieht sich zwar zunächst eine Ablösung von der „Außenwelt", hinter der sich das Interesse an der Entwicklung eines Wissens von der Selbständigkeit des einzelnen im Gegenüber zur Welt erkennen läßt. Solches Wissen um die Selbständigkeit dient aber nicht dem Rückzug von der Welt, sondern der Grundlegung eines neuen Weltbezugs, einer vertieften Sittlichkeit. Holls Absicht ist es zu zeigen, wie sich durch den spezifischen Inhalt des Glaubens, den Gottesgedanken, bei Luther sowohl ein neuer „Antrieb" zum sittlichen Handeln wie auch weitreichende Folgen für die Handlungsorientierung ergaben. Sie werde ganz ausgerichtet an der Liebe als oberstem Leitprinzip und umfassend gemeinschaftsbezogen. 382 383 384 385 386 387 388
Ebd., S. 179. Ebd., S. 182. Ebd., S. 204. Ebd., S. 206. Religion, S. 100. Neubau, S. 220. Religion, S. 35.
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Luther sei, so Holl, davon überzeugt gewesen, „daß das, was er gefunden hat, jeder andere auch finden kann und finden soll. Die Gaben, die Gott ihm schenkt, Sündenvergebung und Gemeinschaft mit sich, gewährt er nicht nur ihm, sondern allen"389. Durch die Grundlegung wahrhaft sittlichen Handelns in der geschenkten Gemeinschaft mit Gott werde zugleich Gemeinschaft mit jenen gestiftet, die ebenfalls an Gott glauben: „Man kann Gott nicht haben, ohne sich mit all denen zusammengeschlossen zu fühlen, die gleichfalls zu ihm gehören ... Das bedeutete nach der sittlichen Seite hin zunächst, daß die beiden Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe sachlich nahe zusammenrückten ... Es war ein und dieselbe Gemeinschaft, die man mit beidem bejahte"390. Die von Gott gewährte innere Freiheit führe mit Notwendigkeit zur Liebe als dem Grundprinzip christlichen Handelns. Das ist der erste Aspekt, den Holl immer wieder in seiner Lutherdarstellung betonte. Nach Luther gelte für das christliche Handeln die „Liebespflicht"39'. Luther habe „den neutestamentlichen Gedanken der Liebe in seiner ganzen Unbedingtheit wiederhergestellt"392. Er habe „die Vorschriften wieder als strenge Gebote, die jeden Christen angehen"393 begriffen. Solche Liebe sei für Luther „Anfang und Ende aller Sittlichkeit"394. Die von der Aufklärung propagierte „Achtung" als Prinzip der Ethik erschien für Holl im Lichte dieses hohen lutherischen Ideals nur als Rückschritt. Ein Handeln, das sich am Leitideal der in Liebe sich verwirklichenden Freiheit orientiert, gerät notwendig in Gegensatz zu einer Sittlichkeit, in deren Mitte das „gesetzliche Vorschreiben"39 steht. Luther habe daher die „in der Kirche herrschende Gesetzlichkeit" zurückgewiesen, zugunsten der „Freiheit vom Gesetz"396. Dies bedeutete allerdings gerade nicht die Ermöglichung von Willkür. Indem die Handlungsorientierung sich am Gottesgedanken ausrichte, erfolge eine Reflexion auf einen „höchsten Gesichtspunkt"397, die zugleich eine „Gewissensprobe" für jeden intendierten Handlungsvollzug darstelle. Dadurch werde „die Gedankenlosigkeit, die sich die Ziele des Handelns durch die Gewohnheit oder durch den natürlichen Instinkt geben läßt", durchbrochen und der einzelne zu höchster Verantwortlichkeit herausgefordert. Diese Reflexion auf den „höchsten Gesichtspunkt" nötige dazu, „die Regel des Handelns, ... jedesmal neu zu erzeugen". Das sittliche Handeln werde damit „auf seiner höchsten Stufe nach Luther unvermeidlich schöpferisch. Der Gläubige bringt dann mit der Form auch die Regel des 389
Ebd., S. 6. Neubau, S. 185/186. 391 Ebd., S. 185. 392 Religion, S. 99. 393 Kulturbedeutung, S. 476. 394 Luther und Calvin, S. 8. 395 Neubau, S. 221. 396 Ebd., S. 221. 397 Religion, S. 107. 390
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Handelns selbst hervor" 398 . Dadurch werde das „Gefühl der Freiheit" bestärkt und verfestigt. Diese Einsicht in die in wahrer Sittlichkeit waltende schöpferische Freiheit, die sich aus freiem Entschluß an die Liebe binde, berechtigt nach Holl dazu, bei Luther von der Begründung einer „Autonomie höchsten Stils" 399 zu sprechen. Solche schöpferische Freiheit fördere keineswegs eine kritiklose Anpassungsmentalität, sondern könne auch dazu führen, daß „Ungewohntes, dem Uberlieferten Trotzendes" 400 gewagt wird. Aus der Konzentration auf die Liebe als dem entscheidenden Antrieb zum Handeln habe sich für Luther nach Holl auch eine Neubewertung der „weltlichen" Arbeit ergeben: „Kommt es nur darauf an, wie viel freudiger Wille, wie viel Liebe in ein Werk hineingelegt wird, so kann man mit dem Kleinsten Gott ebenso gut dienen, wie mit dem Größten. Damit verlor jedoch die religiöse Bevorzugung gewisser Werke und gewisser Stände ihr inneres Recht" 401 . Alle Formen einer Zweistufenethik seien damit zurückgewiesen und eine neue Würdigung des „weltlichen" Berufs möglich geworden. Das zweite systematische Interesse, durch das Holls Lutherinterpretation bestimmt ist, richtet sich darauf, daß aus dem Gottesgedanken, dem spezifischen Inhalt der christlichen Sittlichkeit, ein umfassender Gemeinschaftsbezug des Handelns resultiert. Aus der Dankbarkeit für die von Gott gewährte Gemeinschaft mit ihm könne allererst die wahre Gottesliebe erwachsen, die sich ihrerseits in der freien Zuwendung zum Nächsten konkretisiere. Holl sieht bei Luther deshalb mit dem Rechtfertigungsglauben aufs engste einen „starken Gemeinschaftsgedanken" 402 verknüpft. Die Gottesgewißheit ermögliche den Ubergang von der Selbst- zur Nächstenliebe und impliziere damit die entscheidende religiöse Lösung des Grundproblems der Gemeinschaftsbildung. Die „Gesamtheit der von Gott Ergriffenen" 403 bilde nach Luthers Verständnis die „unsichtbare Kirche" oder das „Reich Gottes". Die im Reich Gottes Verbundenden stünden in einer „innerlichen, persönlichen Gemeinschaft", einer „Gemeinschaft der Liebe" 404 . Dieses Reich sei der ,Ort', an dem der „sittliche Gehalt" 405 präsent sei, der dem „Evangelium" entspreche. In immer wieder neuen Wendungen betont Holl die Bedeutung der Vorstellung vom „Reich Gottes" oder der „unsichtbaren Kirche" bei Luther. In ihr sei der „Zielgedanke" zu sehen, „um dessen willen Gott die Welt und den Menschen geschaffen habe" 406 . Es sei „der Gemeinschaftsgedanke; derjenige, 398 m 400 401 402 403 404 405 406
N e u b a u , S. 226; vgl auch Kulturbedeutung, S. 473. N e u b a u , S. 227. Religion, S. 107. Neubau, S. 208. E b d . , S. 185. Religion, S. 98. Luther und die Schwärmer, S. 464/ 465. Religion, S. 98. E b d . , S. 99; vgl. auch Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, S. 345.
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an dem sich, weil er Gottes letzte Absicht darstellte, alle andere Formen des Gemeinschaftslebens in ihrem Recht erweisen mußten"407. Die „unsichtbare Kirche" sei für Luther „die einzig wahre, weil die innerlichste Gemeinschaft"408 gewesen, jenes Ziel, „auf das die ganze Weltordnung bezogen"409 sei. Die „unsichtbare Kirche" wurde damit zum normativen Leitideal für alle anderen Gemeinschaftsformen: „In dieser Form, in der Form einer Kirche, d.h. der im Religiösen begründeten Seelengemeinschaft, sieht er (Luther) das Höchste verwirklicht, was sich für eine Verbindung von Menschen untereinander als Ziel denken läßt"410. In dieser „innerlichsten Gemeinschaft", dem normativen Leitideal für alle anderen Gemeinschaftsformen, gibt es eine klare Rangfolge von Individuum und Gemeinschaft. Da die Uberwindung der „Selbstliebe" zu den negativen Voraussetzungen dieser Gemeinschaft gehört, muß in ihr die „Zurückstellung des eigenen Ich gegenüber den Forderungen der Gemeinschaft" gelten. Diese Zuordnung beschreibt Holl auch mit der in der Staatsrechtsdebatte der Zeit verwendeten Organismusmetaphorik von „Glied" und „Ganzem": Nach Luther sei die Gemeinschaft in der unsichtbaren Kirche „tatsächlich ein Erstes, das dem einzelnen voranging, in das er erst aufgenommen wurde, und zwar als bloßes Glied aufgenommen wurde. Sein Ich galt nur, sofern es in diesem Ganzen lebte"411. Es gab nach Holls Lutherinterpretation nur einen Integrationsfaktor, der eine derartige, als freien Akt sich vollziehende Einordnung des Einzelnen in das Ganze der Gemeinschaft bewirken konnte: Deren „Glieder sind ohne Zwang zusammengeführt durch das in ihren Herzen mächtig gewordene Wort Gottes"412.
b. Innere Vergemeinschaftung durch eine theistisch-ethische Geschichtsansicht Die rechte Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Bindung ist auch zentrales Thema in Emanuel Hirschs Entwurf einer „theistisch-ethischen Geschichtsansicht"413. Dieses Ge407
Neubau, S. 251. Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, S. 297. 409 Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, S. 345. 410 Kulturbedeutung der Reformation, S. 476. 411 Ebd., S. 477. 412 Ebd., S. 476. 413 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 165. Zu Hirsch vgl. oben S. 70, Anm. 77 genannte Literatur. Zu den Grundstrukturen des systematischen Ansatzes von Hirsch vgl. insbesondere E. HERMS, Umformungskrise. Herms attestiert Hirsch nicht nur eine „Fixiertheit... auf das Ideal der traditionalen Gemeinschaft" (S. 129) und „Unsicherheit des Realitätsbezugs", die dazu führe, daß das „Handeln selber den risikoreichen Charakter von Entscheidung, von Wagnis" bekomme „anstelle einer realistischen Erwägung der in der gegenwärtigen Situation wahrnehm408
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schichtsverständnis ist ihm, nach eigener Aussage, „nicht ohne Zutun des Krieges klar geworden" 414 . Die Hervorhebung des Zeit- und Situationsbezugs theologischen Denkens ist ein konstitutives Merkmal von Hirschs Ansatzpunkt. Denn die religiöse Tiefendimension allen Geschehens könne nur insoweit sichtbar werden, als theologisches Denken sich der Aufgabe der Deutung und Auseinandersetzung mit der je konkreten geschichtlichen Situation stelle. Hirsch ist der Uberzeugung, daß es gelte, „alles, was Schicksal ist, als einen Ruf zur Pflicht sich zu deuten" 415 . Die Aufgabe, die er durch die von ihm als Krise gedeutete Zeit nach 1918 gestellt sieht, ist es, am Aufbau einer neuen „Bindungswelt" 416 mitzuwirken, um den „kritische(n) auflösend e ^ ) Mächte(n)" einer rationalisierenden Vernunft und einer bindungslosen Freiheit zu wehren und die „Sicherung der ursprünglichen Wurzeln des Geistes" 417 zu erreichen. Für den Aufbau einer solchen neuen „Bindungswelt" stellt nach Hirsch der christliche Glaube einen entscheidenden Integrationsfaktor dar, denn im „Christentum wird das gläubige Ergriffenwerden vom Willen des Herrn zur gemeinschaftsbildenden Macht" 418 . Von dieser religiös fundierten „Bindungswelt" erhofft sich Hirsch die Transformation der zersplitterten Gesellschaft zu neuer Gemeinschaft, d.h. die Lösung der Homogenitätsprobleme. In dieser „Bindungswelt" soll es keine „Klassen-, Interessen· und Standeszerschneidungen" 419 mehr geben. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft wird bei Hirsch zunächst als Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Ethik verhandelt. In seiner „theistisch-ethischen Geschichtsansicht" werden Geschichtsphilosophie, die es „mit den Wandlungen und den Schicksalen der großen irdischen Gemeinschaften" 420 zu tun hat, und Ethik, die in den „christlichen Völker(n)" von der Grundvoraussetzung ausgeht, daß „das Leben der einzelnen menschlichen Persönlichkeit einen unendlichen Wert habe" 421 , so aufeinander bezogen, daß sowohl die Bedeutung der »Persönlichbaren Chancen" (S. 127). Er legt auch den Ansatzpunkt für dieses Defizit frei. Hirschs „ontologische Gegenkonzeption des .Gewissens'" gegen das idealistische Wirklichkeitsverständnis sei „bestimmungsärmer und deshalb leistungsschwächer ... Sein Gewissensbegriff ermöglicht es Hirsch lediglich, die Tatsache, das Daß des Zusammenseins von Transzendenz- und Weltverhältnis zu behaupten. Demgegenüber macht aber die idealistische Konzeption auch noch die Verfassung dieses Strukturzusammenhangs durchsichtig" (S. 131). Dementspechend führe auch Hirschs Verständnis „der personalen Lebenswirklichkeit als Situation der Gewissenhaftigkeit (Mit Anderen - Sein vor G o t t ) " zu keinem „inhaltlich spezifischen Verständnis der Handlungssituation" (S. 134). 414 E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 108. 415 Idealistische Philosophie, S. 112. 416 Geistige Lage, S. 29. 417 E b d . , S . 28. 418 E b d . , S. 75. 4 1 9 E b d . , S. 28. 4 2 0 Deutschlands Schicksal, S. 53. 421 E b d . , S. 50.
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keit' gewahrt, als auch ein Gesamtsinn und Gesamtzusammenhang der Geschichte denkbar bleibt. Dies ist nach Hirsch nur möglich, wenn der „metaphysische Kern" allen geschichtlichen Lebens gesehen wird. Den „metaphysischen Kern" umschreibt Hirsch als den „seiner selbst gewissen lebendig wollenden Menschengeist" 422 . Aller „Gehalt" von Kultur und Geschichte verdanke sich diesem „lebendigen schöpferischen Menschengeist" 423 . Von dieser Position aus kritisiert Hirsch alle geschichtsphilosophischen Entwürfe, die die Bedeutung individuellen Handelns vergleichgültigen und einebnen durch teleologische und evolutionäre Geschichtskonstruktionen, durch das Verständnis der Geschichte als Rationalisierungsprozeß oder als Prozeß der Verwirklichung einer Idee 424 . Die Destruktion derartiger Konstruktionen eines überindividuellen Gesamtsinnes der Geschichte hat zur Folge, daß die gesamte Geschichte für Hirsch in einem „geheimnisvolle(n) Dunkel" 425 erscheint: „Wir haben also die Taten, die eine gegebene Lage von uns verlangt, nicht in dem hellen Scheine einer erst die Gegenwart durchleuchtenden Geschichtskonstruktion, sondern in der Dämmerung einer rätselhaft bleibenden Gegenwart und einer unenthüllten Schicksalsfrage zu finden und auszuführen" 426 . Soll auf dem Hintergrund solcher Destruktion doch noch daran festgehalten werden, daß es „ein Herz und einen Sinn" in der Geschichte gibt, so kann man nach Hirsch „es nicht in der Mannigfaltigkeit des Werdens und des Schicksals suchen, sondern in dem, was jedem Punkte und Momente geschichtlichen Lebens gleichermaßen eigen ist. Das aber ist die unmittelbare Beziehung des Menschengeistes in jeder seiner Regungen auf ein Jenseits der Geschichte, auf ein Ewiges" 427 . Hirsch behauptet, daß nur aus der „Besinnung auf unser eigenes persönliches Leben" 428 der Sinn des geschichtlichen Lebens erschlossen werden könne. Die Thematisierung von Innerlichkeit bzw. des persönlichen Entscheidungslebens im Gewissen bildet das systematische Zentrum von Hirschs „theistisch-ethischer Geschichtsansicht". Das Interesse an Innerlichkeit führt aber keineswegs zu einem Rückzug ins Private, Unpolitische. Es hat vielmehr eine eminent politische Bedeutung. Denn Hirsch sieht „keinen andern Weg, die Hingabe an Staat und Nation hineinzuschreiben in die Herzen unsers Volkes als den, den Glauben zu wecken an den in den Gewissen sich lebendig bezeugenden Herrn der Geschichte" 429 . Die christliche Religion wird damit auch bei Hirsch zum entscheidenden Mittel der Ausbildung einer auf Integration zielenden Staatsgesinnung 430 . Eine derartige funktionale 422 423 424 425 426 427 428 429 430
E b d . , S. 46. E b d . , S. 15. E b d . , S. 26 f. und 49. E b d . , S. 33; vgl. auch 48. E b d . , S. 34; vgl. Geistige Lage, S. 116. E b d . , S. 48. Idealistische Philosophie, S. 10. Deutschlands Schicksal, S. 165. Vgl. auch Notwendige Vertiefung, Sp. 524-525.
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Inanspruchnahme des christlichen Glaubens für den Erhalt der Ordnungen des Gemeinschaftslebens erfolgt bei Hirsch aber keineswegs aus bloßer Anpassung an politische Entwicklungen. Entsprechend seiner Grundüberzeugung, daß sich nur an den konkreten einzelnen Pflichten die religiöse Tiefendimension des Lebens zeigt, trennt er nicht diastatisch zwischen den „Strömen des kreatürlichen Lebens" und „Gottes Ruf". Zu den empirischen Rahmenbedingungen, die das persönliche Handeln und Entscheiden bestimmen und deshalb auch von Hirsch in ihrer Bedeutung nicht ignoriert werden, gehören der historisch konkrete Ort, an dem jeweils zu entscheiden ist, und die Art und Weise der Regelung des Zusammenlebens in den „irdisch-geschichtlichen Gemeinschaften". Sie sind für Hirsch „der Muttergrund unseres persönlichen Lebens. Innerhalb ihrer wachen wir erst zu eigenem Leben auf. An ihrem menschlichen Du lernen wir das göttliche Du hören und sagen" 431 . An erster Stelle steht hier für Hirsch die „Volksgemeinschaft" 432 . Würden dieser „Muttergrund" und die mit ihm gegebenen Erfahrungsmöglichkeiten zerstört, könne auch „Gottes Ruf" nicht mehr vernommen werden. Deshalb ist Hirsch das Leben dieser Gemeinschaften „heilig" 433 und deren Bewahrung eine dem christlichen Glauben dienende Aufgabe. Insbesondere der Erhalt des Volkstums diene der „Bereitung zur Begegnung mit Gott" 4 3 4 . Sein Verständnis des persönlichen Entscheidungslebens entfaltet und präzisiert Hirsch vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie. Im historischen Bewußtsein der gegenwärtigen Theologie gilt Hirsch zumeist als Repräsentant einer Erneuerung deutsch-idealistischer Denktraditionen. Diese Einschätzung wird Hirschs Selbstverständnis jedoch nicht gerecht. Denn so sehr er sich seit den Anfängen seiner akademischen Karriere auch mit den Denkern des deutschen Idealismus, insbesondere mit Fichte, beschäftigt hat, so sehr treten in den zwanziger Jahren zunehmend stärker kritische Abgrenzungen von idealistischen Denkformen hervor. Indem die idealistische Philosophie sich auf die „intellektuale Anschauung" als ihres alleinigen Erkenntnisprinzips fixiert habe, habe sich eine Verengung der Wahrnehmung eingestellt. Indem alle Erkenntnis nach dem Modell der Gegenstandserkenntnis, des Verhältnisses von Subjekt und Objekt vorgestellt worden sei, sei ihr gerade die Einsicht in das Wesen persönlichen Lebens und wahrer Gemeinschaft verschlossen geblieben435. Deshalb sei es das Gebot der Stunde, „einen Durchbruch durch die Fragestellung ,Ich - Gegenstand'" zu erreichen436. Fichtes entscheidender Fehler sei im „Haftenbleiben in der Erkenntnistheorie" gegeben, in dem „Wahn, als ob im Akt des Abstrahierens eben das lebendig sei, was das Ich zum Ich macht". Mit Idealistische Philosophie, S. 31. Vgl. Liebe zum Vaterland. 4 3 3 Idealistische Philosophie, S. 31. 434 Geistige Lage, S. 117. 4 3 5 Idealistische Philosophie, S. 69 und 71. 436 E b d . , S. 115. 431
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solchem abstrahierenden Denken gelange man jedoch nur an die „Pforte" des Ich und erfasse noch nicht dessen „Grundlebendigkeit" 437 . Nur dort, wo die Reflexion sich nicht mehr als „Akt einsamen Selbstbewußtseins" 438 vollziehe und die kommunikative Grundstruktur menschlicher Existenz, die Tatsache, „daß ich höre und rede" 439 , mit in den Blick genommen werde, könnten Persönlichkeit und Gemeinschaft angemessen verstanden werden. Auch gegen Hegel macht Hirsch geltend, daß die Bedeutung der Persönlichkeit und Individualität in seiner Philosophie herabgewürdigt worden sei: Die Individuen seien ihm „nichts als Geschäftsführer der Idee" 440 . Ethik werde bei ihm in Geschichtsphilosophie aufgehoben und damit der Ernst und die Bedeutung der individuellen Verantwortung aufgelöst. Seine Kritik am idealistischen Denken faßte Hirsch in der These zusammen, „daß das geheimnisvolle Verhältnis des Ich zum Du, in dem Persönlichkeit wie Gemeinschaft ihren Grund haben, unverstanden geblieben sei" 441 . An den systematischen Ort der „intellektualen Anschauung" rückt in Hirschs Gegenentwurf, in enger Ubereinstimmung mit K. Holl, die Analyse und Beschreibung einer je nur individuell zu machenden Grunderfahrung des Menschen im „Gewissen". Diese Gewissenserfahrung ist es für Hirsch zugleich, in der der Mensch der Gegenwart eines Ewigen gewahr werden kann: „Jede Deutung der Wirklichkeit durch das autonome Denken ist notwendig verankert in einem unmittelbar Persönlichem - dem Gewissen, der Gesinnung - und zum Wesen des Gewissens gehört es, daß es sich versteht als in bestimmter Weise auf das Ewige bezogen" 442 . Das Gottesverhältnis begründet sich für Hirsch dieser These entsprechend nicht in einer „Vernunfterkenntnis", sondern in einem „Gewissensakt" 443 . In solchen Gewissensakten ist der „metaphysische Kern" aller Geschichte zu suchen. Indem Hirsch den Begriff des Gewissens verwendet, will er zum Ausdruck bringen, daß alles „Leben und Denken schon in seiner Wurzel das Ethische hat" 4 4 . Wollen und Handeln sind für Hirsch gleichrangig mit Denken und Wissen 445 . Das Wesen des Menschen mache es aus, daß er immer wieder neu entscheiden kann und muß zwischen Gut und Böse: „Persönliches Leben ist Entscheidungsleben" 446 . Dementsprechend sieht Hirsch im „sittliche(n) Leben" den Grund allen „geistigen Lebens", aller Kultur und Geschichte. In diesem personalistischen ethischen Geschichtsverständnis weiß sich Hirsch 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446
Ebd., S. 75. Ebd., S. 81. Ebd., S. 76. Deutschlands Schicksal, S. 49; vgl. Idealistische Philosophie, S. 112. Ebd., S. 74. Reich-Gottes-Begriffe, S. 3. Deutschlands Schicksal, S. 136. Idealistische Philosophie, S. 83. Ebd., S. 67/68. Ebd., S. 11.
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in Übereinstimmung mit den „klassischen deutschen Historikern" wie Ranke, Droysen und Treitschke, die das „geschichtliche Leben der Menschheit als die ,sittliche Welt' bezeichnet haben"447. Der „Lebensimpuls" 448 dieser „sittlichen Welt" sei in der Freiheit zu suchen, wobei Hirsch betont, daß er „dabei die in der lebendigen Person gehaltene Freiheit, nicht die von der Person gelöste und in der dialektischen Bewegung gefrorene allgemeine der Idealisten im Sinn habe" 449 . Der Grund dieser Freiheit und damit auch die Einheit der Geschichte als der „sittlichen Welt" ist nach Hirsch nur im Gottesgedanken faßbar. Die interpersonale Kommunikation, aus der heraus die je eigene Identität und Handlungskompetenz entstehen, hat für Hirsch eine religiöse Tiefendimension, die begrifflich nicht mehr einholbar ist, da alles Begreifen an den Modus der Gegenstandserkenntnis gebunden bleibt und somit die Wirklichkeit solcher interpersonalen Kommunikation nicht angemessen zu erfassen vermag 450 . Für Hirsch ist das „Verhältnis vom Ich zum Du ... umgeben von dem Hauch eines Geheimnisses, das aus dem in uns klopfenden Leben und Denken nicht ergründet werden kann. Wenn ich an dir zum persönlichen Leben erwache und du an mir, so ist ein gebietender und schaffender Wille da, der uns und unsere Verhältnisse setzte und aus dem und in dem wir uns erkennen. Damit sind wir auf den absoluten Grund unsers Daseins gestoßen, und dieser Grund ist bestimmt als der Herr und Geist... Erst indem sich Gott uns zum Du macht, werden wir wahrhaft Ich. Alles Gegenüber von Ich und Du unter Menschen ist nur ein Abglanz des Gegenübers im Verhältnis zu Gott" 451 . Dasjenige Element, das in der interpersonalen Kommunikation das Tor zur Einsicht in deren religiöse Tiefendimension öffnet, ist das in solcher Begegnung sich bildende Bewußtsein einer Anforderung und Verpflichtung. Jede sittliche Entscheidung ist nach Hirsch deshalb transparent für ihren transzendenten Grund. Er manifestiert sich in der durch das Herausgefordertsein durch andere sich bildenden Identität, die Hirsch als „Gewißheit" umschreibt: „Darin allein, daß er ein inneres Verhältnis hat zu einem Letzten, Unbedingten, zu einem heilig-notwendigen Willen jenseits all seines Lebens hat der Menschengeist Halt, Leben, Schöpferkraft" 452 . Solche Identität oder „Gewißheit" zeigt sich darin, daß der einzelne ein Bewußtsein davon hat, daß er mehr ist als ein „Erzeugnis geschichtlicher Zufälligkeit". Sie zeigt sich in der „Sehnsucht nach Erkenntnis des Wahren und Guten" oder als die „lebendige Macht, die in dem Wagnis der sittlichen Entscheidung aus unserm Herzen hervorbricht" 453 . In innere Übereinstimmung mit dem transzendenten Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. 449 Ebd., S. 23. 450 Ebd., S. 81 451 Ebd., S. 78/79. 452 Deutschlands Schicksal, S. 19. 453 Ebd., S. 17. 447 448
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Grund seiner schöpferischen Existenz gelangt das Individuum dann, wenn es zu erkennen vermag, daß „hinter" der konkreten sittlichen Anforderung „ein ewiger heiliger Willen" 454 steht und die gestellte Pflicht freiwillig bejaht. Für dieses „innere sich verpflichtet Wissen - oder Hingegebensein - gegenüber dem Gehorsam unter den Gott, der mir durch seine Anrede die Ichheit schenkt", verwendet Hirsch den Ausdruck „Gewissen" 455 . Diese Herausarbeitung der Bedeutung des „persönlichen Entscheidungslebens" im Gewissen darf nach Hirsch jedoch nicht verwechselt werden mit einem individualistischen Denken. Sie zielt in erster Linie nicht auf die Stärkung der individuellen Freiheit, sondern darauf, zu zeigen, daß jedes Individuum innerlich gebunden ist an eine überindividuelle Ordnung. Im Gewahrwerden der Bezogenheit des „schöpferischen Menschengeistes" auf das Ewige vollziehe sich das Bewußtwerden des Eingeordnetseins in einen überindividuellen Gesamtzusammenhang, in dem die „einzelnen Persönlichkeiten im Tiefsten miteinander" verbunden seien. Dieser Gesamtzusammenhang gehöre „rein dem geistigen Leben" an und sei deshalb nicht in Gestalt äußerer Ordnungen, weder in Gestalt des Staates noch der sichtbaren Kirche verobjektivierbar. Hirsch nennt ihn die „Gemeinschaft der Gewissen" 456 . Dieser Terminus bezeichnet für Hirsch aber nicht einen neu entdeckten Sachverhalt, sondern das, was Luther mit „Reich Gottes" meinte. Diese von Luther gefundene „tiefe Anschauung von religiöser Gemeinschaft" lebe fort „unter dem Namen der unsichtbaren Kirche, deren geistiges Haupt Christus ist"457. Die „Gemeinschaft der Gewissen" zeichnet sich für Hirsch durch drei Merkmale aus: Sie ist erstens „wirkliche Gemeinschaft, keine bloß abstrakte Ubereinstimmung atomer einzelner". Sie hat ,ontologischen' Vorrang vor dem Individuum, auch wenn ihr Begreifen sich erst in einem individuellen Erkenntnisakt ergibt. Dieser Gemeinschaft verdankt das Individuum nach Hirsch seinen „gesamte(n) innere(n) Besitz" 458 . Sie ist zweitens eine „Gemeinschaft in Gott zu Gott". Gott ist allein das Subjekt der in ihr sich vollziehenden Einheitsstiftung: „Gott ist es, der die geheimnisvolle Verbindung von einem Gewissen zum andern wirkt oder noch besser ist" 459 . Sie ist drittens eine universale Gemeinschaft, „die durch alle Völker und Zeiten sich erstreckt" 460 . Auf der „Gliedschaft" an dieser Gemeinschaft der Gewissen beruht für Hirsch „die Würde", die dem Menschen eigen ist. Die Gemeinschaft der Gewissen bildet für ihn den konstitutiven Lebensgrund individueller Existenz 454 455 456 457 458 459 460
E b d . , S. 17. Idealistische Philosophie, S. 81. Deutschlands Schicksal, S. 59. E b d . , S. 59. E b d . , S. 59. E b d . , S. 60. E b d . , S. 60.
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und ist deshalb auch der „Inbegriff des in der Welt wirkenden wahrhaft Sittlichen" 461 . Durch die innere Beziehung allen menschlichen Schaffens auf das „Reich Gottes" bilde dieses jene gesuchte höhere Einheit, in der die Mannigfaltigkeit geschichtlichen Lebens zusammengeschlossen sei. Das „Reich Gottes" oder die „Gemeinschaft der Gewissen" ist deshalb für Hirsch „das Herz und der Sinn des Universums, der eigentliche Kern in der Schale der Welt" und „das lebenspendende Geheimnis über allem sichtbaren Wandel der Geschichte" 462 . Aus der Orientierung an diesem Ideal einer geistig-unsichtbaren, „wahrhaft sittlichen Gemeinschaft" der im „Reich Gottes" Zusammengeschlossenen ergibt sich für Hirsch die spezifische Prägung der „deutschen Denkart". In ihr werde alles menschliche Leben und Schaffen im Lichte dieses Reiches, „im Lichte des Ewigen und der durch das Ewige gegebenen sittlichen Verpflichtung" 463 gesehen. Diesem Ideal entsprechend wird individuelle Freiheit in dem von Hirsch explizierten Sinn bloß noch als Ermöglichungsgrund von Bindung und Hingabe thematisch. Sie hat nur noch eine sittlich legitime Existenzberechtigung in Gestalt des „sich verpflichtet Wissens" und einer „wirklichkeitsgebundenen Verantwortlichkeit"464. Dieser Vorrang der Pflicht und Bindung vor der individuellen Freiheit läßt sich daran erkennen, daß es für Hirsch keinen Sinn mehr macht, das Gewissen als „autonom" 465 zu bezeichnen. Er erklärt ausdrücklich, daß mit seiner Position „tatsächlich das preisgegeben (sei), was man bisher Autonomie nannte" 466 . Besonders prägnant tritt diese Grundintention zutage in Hirschs Einschätzung des Krieges. Er wird für ihn „zum Ausdruck des tiefsten Wesens des Ethischen", weil sich in ihm in herausragender Weise der Charakter einer wahrhaft sittlichen Entscheidung zeigen kann. Er ermöglicht es, sich „zu der konkreten Ausdeutung der Lebenspflicht durch das Gewissen zu bekennen, daß man ganz und gar in sie eingeht und keine Existenz haben will außer ihr"467. Wer derart in seiner Pflicht aufzugehen imstande sei, werde zum „Geheimnis des Opfers für ein großes Ganzes" fähig. „Allein dadurch, daß sie sich um des Gewissens willen und aus Liebe einem Höheren völlig hingibt, bekommt eine einzelne Persönlichkeit einen unendlichen Wert. Solche Hingabe aber ist in den natürlich-friedlichen Lebensverhältnissen doch nur sehr bedingt möglich. Es fehlt zum mindestens der letzte Ernst, die letzte Probe. Es geht nicht bis aufs Blut" 468 . Das Erwachen solcher selbstlosen Opferbereitschaft unter den sonst egoistisch gesonnenen Menschen war für Hirsch 461 462 463 444 465 466 467 468
Reich-Gottes-Begriffe, S. 21. Deutschlands Schicksal, S. 126. Reich-Gottes-Begriffe, S. 21. Geistige Lage, S. 40. Idealistische Philosophie, S. 81. Geistige Lage, S. 41. Liebe zum Vaterland, S. 29. Deutschlands Schicksal, S. 106.
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das entscheidende, ihn prägende Erlebnis des Kriegsanfanges 1914. Aus der Liebe zum Vaterland sah er die freiwillige Bereitschaft erwachsen, sich ganz für die Nation hinzugeben. c. Innere Vergemeinschaftung durch eine „Philosophie des Glaubens" Auch Friedrich Brunstäd hat seine politische Ethik als eine Theorie des nationalen Kulturstaats entfaltet. Eine „Ethik der Pflicht und des Gewissens", die im Gegensatz zur „Wohlfahrts- und Nützlichkeitsethik" 469 der westeuropäischen Sozialphilosophie steht, bildet auch für ihn das zentrale Fundament des Kulturstaatsideals. Mit Holl und Hirsch stimmt er schließlich im Bemühen um eine gemeinschaftsorientierte Neubestimmung des Freiheitsbegriffs überein. Freiheit sei jene innere Bindung, die nicht im Gegensatz zur Einordnung in die Gemeinschaft stehe, sondern gerade umgekehrt solche Einordnung allererst ermögliche: Wir sind „durch die Pflicht... in unserem Innersten, in der Möglichkeit unseres Selbstbewußtseins, d.h. im Gewissen auf Gemeinschaft gestellt" 470 . Diese Ethik, das ihr zugrundeliegende Verständnis von „Persönlichkeit" und das diesem Verständnis korrespondierende Wirklichkeitsverständnis entfaltet Brunstäd im Anschluß an Kant und die idealistische Philosophie. Im Unterschied zu Hirsch ist Brunstäds Idealismusrezeption aber weniger durch das Interesse der Kritik als vielmehr durch das Bemühen um konstruktive Fortführung des idealistischen Systemdenkens bestimmt. Als Kants besondere Leistung stellt Brunstäd die Auflösung eines erkenntnistheoretischen Realismus heraus, für den das Erkennen der Wirklichkeit lediglich das Abbilden einer substanzhaft verfaßten Welt für sich und an sich selbst bestehender Dinge ist, und in dem „Subjekt und Objekt... wie selbständig für sich bestehende Dinge auseinandergerissen und einander gegenübergestellt"471 werden. Indem Kant die Frage nach den Voraussetzungen aufgeworfen habe, die dem Erkenntnisprozeß zugrundelägen, durch den allererst eine Weltsicht, die mit den Grundbegriffen einer Substanzmetaphysik operiere, entstehe, habe er der Ausarbeitung eines kritisch-idealistischen Erkenntnisbegriffs und eines daran anschließenden neuen Wirklichkeitsverständnisses, das die deutsche Kultur bis in ihre Grundlagen prägte, den Weg geöffnet 472 . Gegenständ4 6 9 F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 12; Deutschland, S. 93. Zu Brunstäd vgl. oben S. 69 Anm. 74. Außerdem G . KUHLMANN, Brunstäd und Tillich. Für Kuhlmann „ h a t . . . F. Brunstäd ... wie kein anderer in unserer Zeit den deutschen Idealismus zur Weltanschauung erhoben ... Er scheint uns der konsequenteste unter den Denkern im Sinne des Idealismus zu sein" (S. 4). Brunstäds Absicht sei es zu zeigen: „Alle Kultur muß sich ihre Legitimation bei der Religion holen, denn diese verfügt über den Einheitsgrund aller Wirklichkeit, über G o t t " (S. 12). 4 7 0 Staatsideen, S. 12. 471 Idee, S. 72. 4 7 2 Ebd., S. 90 f.
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lichkeit ist diesem Wirklichkeitsverständnis gemäß schon eine durch das erkennende Subjekt hervorgebrachte Syntheseleistung: „Das Ding, der Gegenstand ist notwendiger gesetzlicher Zusammenhang" 473 . „Das Erkennen ist nun nicht mehr Abbilden eines Fürsichbestehenden, sondern Einordnung, Einfügung in ein System gesetzlich notwendigen Zusammenhanges"474. Mit diesem Erkenntnisbegriff ist für Brunstäd schon im Ansatz die Möglichkeit zur Entwicklung eines zersplitterten, atomistischen, aus lauter einzelnen Dingen zusammengesetzten Wirklichkeitsverständnisses verhindert. Bereits seine erkenntnistheoretischen Ausführungen lassen das Interesse an der Herausarbeitung der Vorgängigkeit von Einheit, des Ganzen, des Gesamtzusammenhanges vor Differenz und einzelnem Teil erkennen. Nur im tragenden Zusammenhang des Ganzen werde das Teil zum Teil. Nur am Teil werde allerdings auch das Ganze erfahrbar. Brunstäd versucht dies mit dem Bild des Gewölbes zu verdeutlichen: „Wie für den schwebenden Stein im Gewölbe der tragende Zusammenhang des Ganzen nur im Druck der Nachbarsteine da ist, so spüren wir den Zusammenhang des Wirklichkeitsganzen, weil wir von ihm ein Teil sind, nur an dem Drucke der anderen Teile. Und doch ist es der Zusammenhang des Ganzen, der auch in diesem Drucke wirksam ist. Das Gewölbe trägt ja die Steine, und nicht hängen zuerst die Steine in der Luft" 475 . Das andere von Brunstäd durchgängig verwendete Bild für diese Relation von Teil und Ganzem ist das des „Organismus", das er dann auch zur Beschreibung des sozialen Zusammenhanges, des Verhältnisses von Persönlichkeit und Gemeinschaft verwendet476. Die Verwendung dieses Bildes läßt ebenfalls deutlich das Interesse an der Prädominanz des Ganzen erkennen. Die Organismusmetaphorik bezeichnet für Brunstäd „treffend die selbständige, übergeordnete und zugleich immanente Wirklichkeit des Ganzen, den lebendigen Zusammenhang der Teile in diesem Ganzen, der für die Teile in ihrem Dasein schon konstitutiv ist, ohne den sie in sich selbst absterben müßten, das wirksame Ineinander von Persönlichkeit und Gemeinschaft"477. Gewölbebild und Organismusmetaphorik drücken ein weiteres für Brunstäd wichtiges Merkmal jenes Wirklichkeitsverständnisses aus, welches auf dem Erkenntnisbegriff des kritischen Idealismus basiert: eine spezifische Vorstellung von „Einheit". Könne im „Realismus" Einheit nur vorgestellt werden als „abstrakte Identität, das heißt als losgelöste Dinghaftigkeit oder abgesonderte Dieselbigkeit", so biete der kritische Idealismus die Möglichkeit, Einheit als „konkrete, zusammengewachsene Einheit", als „lebendige Verbundenheit" zu denken. Es sei eine Einheit „in der Besonderheit, durch die 473
Ebd., S. 93. Ebd., S. 95. 475 Ebd., S. 96; vgl. Deutschland, S. 89. 476 S. 91. 477 Staatsideen, S. 16; vgl. auch Die Weltanschauung der Deutschnationalen Volkspartei. 474
230
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit hindurch" 478 . Im Einheitsgedanken des kritischen Idealismus sieht Brunstäd eine „Verbundenheit durch den Unterschied hindurch" formuliert, die er „seit alters in dem Symbole der Liebe ausgedrückt" 479 findet, wohingegen der Realismus auf Absonderung, abstraktes Fürsichsein und atomistische Zersplitterung hin tendiert und für ihn deshalb in Richtung des mit „Sünde" gemeinten „Sich-Verabsolutieren(s)"480 weist. Diese Entfaltung einer Struktur, die dem Besonderen, dem Teil nur eine Existenzberichtung innerhalb des Allgemeinen, des Ganzen zuspricht, treibt Brunstäd mit Hilfe der Anlehnung an Argumentationsmuster der idealistischen Selbstbewußtseinstheorien bis ins Innere des Subjekts vor. Auch seine Thematisierung der Innerlichkeit dient nicht der Stärkung der Selbständigkeit des Individuums gegenüber Allgemeinheitsansprüchen, sondern zielt auf innere Vergemeinschaftung. Brunstäd knüpft an den Gedanken Kants an, daß die Grundvoraussetzung und Bedingung der Möglichkeit aller synthetisierenden Leistungen des menschlichen Denkens begründet ist in einer inneren „Erlebniseinheit" des erkennenden Subjekts selbst. Diese „Erlebniseinheit" stellt für Brunstäd eine „ursprüngliche ... innerliche Ganzheitsbeziehung" 481 dar, die den Grund der Bildung menschlichen Selbstbewußtseins ausmacht. Diese „ursprüngliche innere Ganzheitsbeziehung" ist für Brunstäd der „Ort", an dem „Synthesis a priori, Einheit im Unterschiede, als solche gewiß ist" 482 . In dieser „ursprünglichen Einheit des Bewußtseins" ist das „Prinzip des Idealismus" 483 zu suchen. In diesem Prinzip liegt es begründet, daß nicht „abstrakte Identität und isolierter Unterschied ... das ursprünglich Gewisse" ist, sondern die „Einheit im Unterschiede, Synthesis a priori mit unmittelbarer Gewißheit und Einsicht bezeugt im Icherlebnisse" 484 . Brunstäd nennt diese letzte unhintergehbare Einheit des Bewußtseins auch „Bewußtheit" oder „Ichheit" im Unterschied zum „Selbst": „Das Bewußtsein ist das Selbst, die Bewußtheit Ich, im Selbstbewußtsein haben wir die Begründung des Selbst in der Ichheit, des Bewußtseins in der Bewußtheit" 485 . Das Selbst repräsentiert das Individuelle, das Personsein, und ist insofern immer nur als je Besonderes. Die dieses Selbst konstituierende Bewußtheit oder Ichheit ist überindividuell und allgemein; im Grund allen Selbstbewußtseins, in der „Wurzel" ihres Daseins als Individuen486 sind daher für Brunstäd alle Deutschland, S. 91; vgl. Idee, S. 97. Deutschland, S. 91. 480 Ebd., S. 90. 481 Ebd., S. 90. 482 Idee, S. 98. 483 Ebd., S. 99. 484 Ebd., S. 99. 485 Ebd., S. 101. 486 Ebd., S. 180. 478
479
Gebundene Freiheit - die Mitte deutscher Staatsgesinnung
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Personen zusammengeschlossen zu einer „Ichgemeinschaft" 487 : „Was uns in uns selbst, in unserer endlichen Individualität zu konkreter Persönlichkeit als Ich zusammenfaßt, das Geheimste, Allerindividuellste, das stellt uns eben dadurch in Gemeinschaft" 488 . Diesen Zusammenhang „bekunden" für Brunstäd Verse Richard Dehmels 489 : „Es ist in uns ein ewig Einsames, Es ist das, was uns alle eint, Es tut sich kund als Urgemeinsames, Je eigener es die Seele meint." Den ,Ort' dieses Wissens um das Bezogensein des Selbst auf seinen konstitutiven Grund und um die aus dieser Verbundenheit resultierende Anforderung oder „Verbindlichkeit" nennt Brunstäd auch „Gewissen" 490 . Den Grund selbst bezeichnet er als „unbedingte Persönlichkeit", eine Chiffre für den „lebendigen persönlichen Gott" 491 . Holl und Hirsch entsprechend schließt Brunstäd aus dem als Grund individueller Freiheit bestimmten Gottesgedanken auf eine aller Individualität vorgängige Vorstellung von Gemeinschaft, die auch bei ihm mit dem Reich Gottes identifiziert wird: „Der Gesellschaft der absoluten Individuen wird die Gemeinschaft des Gewissens gegenübergestellt, in ihr bildet sich das Reich Gottes" 492 . Das Wissen des Ich um seinen externen Grund ermöglicht eine neue Fundierung der Ethik. Nur durch die Gewißheit des Verwurzeltseins in der Gemeinschaft mit Gott, könne die „bloße Autonomie", die an der „Absolutheit des Subjekts" 493 orientiert sei, überwunden werden. Solche „bloße Autonomie" ist für Brunstäd nichts anderes als eine subtilere, nämlich „innere Heteronomie des Subjekts", denn in ihr macht sich das Ich zum Knecht seiner selbst und gerät damit in die „schlimmste Knechtschaft", nämlich den „Knechtssinn von innen her, der nicht vom Selbste loskommt" 494 . Demgegenüber bedeutet nach Brunstäd „Autonomie in echtem kantischen Sinne ... Erlebnis der unbedingten Persönlichkeit, welches das Gewissen bedeutet, der Gottesgemeinschaft" 495 . Solche Gottesgemeinschaft befreie das Ich vom Zwang der Selbstzentriertheit und öffne es für die Gemeinschaft mit dem Nächsten. Diese Uberzeugung kann Brunstäd auch in der Sprachform der lutherischen Theologie formulieren: „Ethos ist Leben aus der GnadenEbd., S. 101. Deutschland, S. 92. 489 Idee, S. 100. 4 . 0 Ebd., S. 102. 4 . 1 Deutschland, S. 92. 4 . 2 Ebd., S. 93. 493 Idee, S. 189. 494 Ebd., S. 189. 495 Ebd., S. 188. 487 488
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
gerechtigkeit Gottes im Rechtfertigungsglauben"496. Das Fundament einer „Ethik des Gewissens und der Pflicht" bestehe in solcher wahren Autonomie „als Freiheit der Gottesgemeinschaft im selbsterlebten Sollen, im Gewissen"497. Dieses „ethische Prinzip" befreie zu der Einsicht, daß wir „nicht absolute Individuen (sind), in das Gefängnis unseres Selbst eingeschlossen ... sondern autonome in ihrem Gewissen gebundene und darin befreite Persönlichkeiten, autonome, das heißt in eigenem Erleben, in freier Hingabe geöffnete und verbundene Individualitäten"498. Solche befreiten Persönlichkeiten fänden ihre Verwirklichung nicht darin, daß sie Rechte beanspruchen, sondern ihre Pflicht erfüllten499, die ihnen aus dem „sittlichen Zusammenhang der Gemeinschaft"500 heraus gestellt sei.
4. Die Gemeinschaft im Reiche Gottes als „tragender Grundbegriff christlicher Sozialanschauung " Mit diesem theonomen Verständnis der Freiheit, die ihre Verwirklichung in der Hingabe und Bindung an die Gemeinschaft und in der Erfüllung der Pflicht findet, glaubten die Theologen, den zersetzenden Individualismus geistig, aber grundsätzlich seiner inneren Unmöglichkeit überführt und eine neue ethische Orientierung für das gesamte Gemeinwesen gewonnen zu haben. So behauptet beispielsweise Heinz-Dietrich Wendland 1929 in seiner Habilitationsantrittsvorlesung „Der christliche Begriff der Gemeinschaft": Die in der Vorstellung von der „Gemeinschaft der Gewissen" bzw. vom „Reich Gottes" formulierte „Idee der Gemeinschaft" stelle den „tragenden Grundbegriff christlicher Sozialanschauung" bzw. das Grundprinzip der „von Troeltsch geleugneten Sozialtheologie des Glaubens" dar. Denn das Handeln Gottes treffe nicht „den einzelnen als isolierten einzelnen. Gott will nicht einzelne Erlöste, sondern eine Gemeinde, das Volk Gottes"501. Für diese Argumentation konnte Wendland sich auf den erfahrungsmäßig unbestreitbaren und plausiblen Sachverhalt beziehen, daß kein Individuum ohne Sozialität zu existieren vermag. Dieser empirisch gegebene Sachverhalt wurde dann allerdings durch Theologisierung ins Normative transformiert: „Alles Individuelle wächst aus Gemeinschaft. Von der Gabe des Lebens an stehen wir in dieser. Die natürliche Gegebenheit des In-der-GemeinschaftSeins ist zugleich sittliches Gebot. Diese uns fordernde Bestimmtheit durch die Gemeinschaft nicht erkennen, bedeutet Auflehnung des einzelnen gegen den Schöpfer". Auch wenn festgehalten werden sollte, daß diese Gemein496
Sozialethik, S. 281. Idee, S. 188. 4.8 Deutschland, S. 93. 499 Vgl. Staatsideen, S. 19. 500 Ebd., S. 12. 501 H . - D . WENDLAND, Begriff der Gemeinschaft, Sp. 129 und 4.7
131.
Die Gemeinschaft im Reiche Gottes
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schaft nur als „personale Gemeinschaft" existiert, d. h. „nur durch die und in den Personen" 02 , wurde damit doch eine deutliche Uberordnung der Gemeinschaftsverbundenheit über individuelle Interessen vollzogen. Wurde dieser Gemeinschaftsbegriff dann noch substantiell angereichert durch die These, daß jede personale Gemeinschaft sich „von einem Objektiven her, vom überindividuellen Geist und Werte"503 her organisiere, d. h. mittels der Anlehnung an die Vorstellung der idealistischen Philosophie vom „objektiven Geist" konkretisiert, dann ergab sich aus der gesamten Argumentation die Verpflichtung des Individuums auf die Werte der deutschen Kultur. „Person" ist nach Wendland nur der, der in innerer harmonischer Ubereinstimmung mit der „übersubjektive(n), wertbegründete(n) Gemeinschaft" steht, wie sie sich „im Staat, in der Rechtsordnung, der Volks- und Kulturgemeinschaft" darstellt 504 . Solche Formulierungen lassen erkennen, daß die um eine neue Staatsethik bemühten Theologen der zwanziger Jahre ein Äquivalent zu der von den Juristen gesuchten „überpositiven Ordnung" in der Vorstellung von der „Gemeinschaft der Gewissen" oder dem „Reich Gottes" fanden. Hier wie dort sollte solch eine ,überpositive' Ordnung dazu dienen, das Individuum innerlich zu vergemeinschaften, eine einheitliche, die Gesamtheit der Lebensvollzüge und Lebensformen integrierende Größe darzustellen und als umfassend gültiges Kriterium zur Beurteilung der gegebenen Formen des Zusammenlebens zu fungieren.
a. Reich Gottes und menschliche Gemeinschaft Die Vorstellung vom Reich Gottes, bzw. der überpositiven Ordnung ist mit einer Schwierigkeit behaftet. Aufgrund ihres idealen Charakters und ihres Universalitätsanspruchs konnte die gesuchte Größe nicht empirisch aufweisbar sein. Karl Holl sah in diesem Aufbrechen der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit schon bei Luther eine Folge der von ihm restituierten hohen sittlichen Anforderungen: „Aber auf die neu testamentliche Anschauung vom Sittlichen zurückgreifen, hieß soviel, wie die Kluft wiederempfinden, die diese von der gewöhnlichen weltlichen Lebensauffassung, von den in Staat und Gesellschaft herrschenden Grundsätzen trennt" 505 . Je höher das Ideal, desto größer der Abstand zur Wirklichkeit. Solche Idealvorstellungen nötigen zu gesteigerten Unterscheidungsleistungen und produzierten Dualismen. Gerade wegen seiner sittlichen Hochspannung habe Luther sich mit der 502 503 504 505
Ebd., Sp. 138. Ebd., Sp. 138. Ebd., Sp. 139. K . HOLL, N e u b a u , S. 216.
234
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Frage auseinandersetzen müssen, ob denn die Orientierung am Ideal der Liebesgemeinschaft des Reiches Gottes dem Christen ein „Doppelleben" und ein „Doppelgewissen" zumute dadurch, daß „Reich Gottes" und „Lebensformen der Welt als beziehungslose Größen" 5 0 6 angesehen werden müßten. Holls Interesse ist es zu zeigen, daß Luther am Zusammenhang beider Größen festgehalten hatte und nicht, wie von Troeltsch behauptet, ein „klaffende^) Zwiespalt" in Luthers „Sittlichkeitslehre" 507 existiere. Das Verhältnis zwischen Reich Gottes und dem Leben in weltlichen Ordnungen konnte in dieser Perspektive nicht nur als Differenz ausgelegt werden. Die Theologen suchten nach einer präziseren Verhältnisbestimmung von Reich Gottes und den tatsächlich vorfindbaren Gemeinschaften, die sowohl deren Unterscheidung wie ihrer Einheit gerecht wurde. Paul Althaus bezeichnete 1923 diese Aufgabe als ein „Grundproblem des Christentums und seiner Theologie". Dabei ging es seiner Überzeugung nach weniger um den „Inhalt" des ReichGottes-Gedankens als vielmehr „um sein Verhältnis zur Geschichte, zum Kulturwerk der Menschheit, zu Recht und Staat" 508 . Signifikant ist auch hier wieder die Allgemeinheit, mit der Althaus von „Recht und Staat" redet. Das theologische Urteil bildet sich für Althaus nicht unter Bezugnahme auf eine bestimmte „Verfassungsform", sondern auf „die Heiligkeit des Rechts- und Staatsgedankens überhaupt" 509 . Solcher Anspruch auf Allgemeinheit der Urteilsbildung hat allerdings einen konkreten Bezugspunkt und läßt sich als Kritik der parlamentarischen Demokratie von Weimar entziffern. Die Beschäftigung mit dem „Staatsgedanken überhaupt" ist, wie die Beanspruchung eines Standpunktes „über den Parteien", nur ein Modus, mit dem die Theologen der demokratischen Republik ihre Anerkennung verweigerten. Die Ablehnung einer vom „Anglo-Kalvinismus" 510 beeinflußten Position, die „nach der Novemberrevolution die Wesensverwandtschaft der Demokratie und des Reiches Gottes glaubhaft zu machen" versuche und eine „neue Freiheit" propagiere, die sich allerdings nur als „Herrschaft der großen Geldmächte und der sich zum Selbstzweck erhebenden Parteiorganisationen"511 entpuppt habe, vollzieht sich mit dem Anspruch, das Prinzipielle zu thematisieren: „Nicht irgendeine bestimmte Staatsverfassung Ebd., S. 216. Ebd., S. 263. 508 P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 10. Zu Althaus vgl. jetzt R. P. ERICKSEN, Theologians, S. 79 f; H. GRASS, Theologie. Speziell zum Thema der,Zwei-Reiche-Lehre' C. SCHWARKE, Anfänge, der herausarbeitet, daß es gerade die,Vermengung' der Reiche und nicht ihre Unterscheidung ist, die bei Althaus zum Problem wird: „Daher stellt die Althaussche Theologie nicht ein Beispiel des Mißbrauchs der Zwei-Reiche-Lehre dar. Sie wird vielmehr zum Lehrstück für die Dringlichkeit der Zwei-Reiche-Lehre auch an dem Ort, wo sie bei Althaus nicht begegnet: in der Anwendung auf eigene - vermeintlich theologische Unbedingtheiten" (S. 47). 506 507
509
P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 17.
510
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.
511
Die Gemeinschaft im Reiche Gottes
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nur wird uns, wenn wir von dem Gedanken des Reiches Gottes herkommen zum Problem, sondern der Staat überhaupt, nicht irgend ein positiver Rechtsinhalt, sondern der Begriff des Rechts" 512 .
b. Die Nichtinstitutionalisierbarkeit des Reiches Gottes Das Interesse an der Unterscheidung zwischen Reich Gottes und den weltlichen Ordnungen konkretisiert sich bei den Theologen in der Ablehnung einer direkten Umsetzung des Ideals des Reiches Gottes in politische Forderungen. Nach Holl hat sich Luther „am leidenschaftlichsten" gegen solch ein Ansinnen gewandt513. Für Hirsch ist die „wahrhaft sittliche Gemeinschaft... etwas Geistig-Unsichtbares" 514 . Deshalb könne „die tiefste aller menschlichen Gemeinschaftsbeziehungen, die von Gewissen zu Gewissen in Gott, der wahre Ort aller Freiheit und Liebe, nie als äußerliche Ordnung sichtbar" 515 gemacht werden. Für Althaus war das Reich Gottes „als Institution undenkbar" 516 und auch für Wendland war der „Glaubensbegriff der Gemeinschaft ... soziologisch nicht faßbar"517. Die Behauptung, das Reich-Gottes-Symbol lasse sich nicht direkt politisch transformieren, hatte freilich selbst einen bestimmten politischen Gehalt. Mit ihr wies man vor allem die für die westeuropäische Sozialphilosophie als grundlegend unterstellte Vorstellung zurück, „aus der christlichen Freiheit" ließen sich „die Forderungen der bürgerlichen und der gesellschaftlichen Freiheit und Gleichheit" herleiten. Damit würden, so Holl, „Religion und Sittlichkeit" instrumentalisiert und zum bloßen Mittel für die Erreichung „irdischer Glückseligkeit" 518 erniedrigt. In gleicher Diktion lehnt es Althaus „scharf" ab, wenn die „Menschenwürde, die Gottes Erwählung jedem gibt ... mit der bürgerlichen Menschenwürde" gleichgesetzt wird und die „Religiös-Sozialen dem demokratischen Staatsideal der Gleichheit, des Parlamentarismus usw. den religösen Akzent des, Christlichen' oder des Willens Gottes aufsetzen" 519 . Hirsch entdeckt solche Versuche zur direkten Umsetzung bei Marx, Tolstoi, St. Simon und den „Religös-Sozialen". Sie alle möchten „den evangelischen Gedanken des Reiches Gottes als der vollkommenen Liebesgemeinschaft an die Stelle der gegenwärtigen Gesellschaft setzen" 520 . Der „Amerikanismus" ist für Wendland durch denselben Fehler ge512 513
Ebd., S. 13. K. Holl, Neubau, S. 250.
5,4
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 24.
515
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 126.
516
P. ALTHAUS, Religiöser S o z i a l i s m u s , S. 3 8 / 3 9 .
517
H.-D. WENDLAND, Begriff der Gemeinschaft, Sp. 130.
518
K . HOLL, N e u b a u , S. 250. P. ALTHAUS, Religiöser S o z i a l i s m u s , S. 4 8 / 4 9 . E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 19.
519
520
236
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
kennzeichnet. Er ist für ihn ein Synonym für die „Gleichsetzung des göttlichen Reiches mit dem Reiche der Kultur und der Gesellschaft" 521 . Einig sind sich Hirsch, Althaus, Brunstäd und Wendland auch darin, jene „Humanisierung, Ethisierung, Säkularisierung" 522 des Reich-Gottes-Gedankens zurückzuweisen, wie sie im Idealismus und im „liberalen Protestantismus", dem „kulturfrohe(n) und geschichtsfrohe(n) Diesseitschristentum der Vorkriegsjahrzehnte" 523 , vorgenommen worden sei. Hirsch kritisiert Schleiermachers und Hegels mangelnde „Scheidung eines ewigen Reiches von den irdisch-diesseitigen Ordnungen". Ihre Theorien stellten nur die „deutsche Form der Weltseligkeit dar" 524 . Kennzeichen aller „junge(n) Theologie" nach dem Ende des Krieges sei die „Entgegensetzung gegen den Kulturprotestantismus" gewesen, der die „Einebnung des Christentums zum geschichtsmächtigen und ethisch-religösen Träger des gesamten Lebens in Volk, Staat und Kultur ..., die Verschmelzung von Gottesreich und Reich der bürgerlichen Kultur" 525 betrieben habe. Gegenüber solcher „Einebnung" und „Verschmelzung" wollten alle genannten Theologen zurück vom idealistischen auf den urchristlichen ReichGottes-Gedanken und damit am „tiefen Gegensatz" des Reiches Gottes „zu aller Weltverfassung"526 und deren „reinliche(r) Scheidung" 527 festhalten. Mit Hilfe dieser Unterscheidungsfigur konnten Phänomene wie die Spannung zwischen Recht und Liebe erklärt werden. Für die Theologen bestand eine bleibende Spannung zwischen „der Rechtsordnung des Staates" und „der Liebesordnung des Reiches Gottes" 528 . Funktioniere die Rechtsordnung auf der Grundlage des Prinzips „strenger Gegenseitigkeit", so die Liebesordnung durch die Bereitschaft zum rückhaltlosen Geben 529 , stehe im ersten Fall der Gedanke der „Rationalisierung unserer Beziehungen" und die Möglichkeit der Zwangsanwendung im Vordergrund, so im zweiten Fall „das Irrationale und Freie, das nicht auf Regeln zu bringen ist" 530 . Mit dieser Unterscheidung konnte schließlich nicht nur erklärt werden, warum die „Idee der Gerechtigkeit" in einer konkreten Rechtsordnung immer nur zum Teil positiviert werden könne. Das Recht verlange „als unzweideutige äußere Regelung feste Prinzipien", die „Idee der Gerechtigkeit" sei aber „keine logisch faßbare Größe . Das Insistieren auf einer bleibenden 521
H . - D . WENDLAND, Kampf um das Weltziel, S. 363.
522
P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 114.
523
Ebd., S. 15.
524
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 25.
E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 112. P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 80. 527 E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 71. 525
526
528
E . HIRSCH, D e u t s c h l a n d s Schicksal, S. 71/72.
529
Ebd., S. 70/71. P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 40.
530 531
E . HIRSCH, D e u t s c h l a n d s Schicksal, S . 6 8 / 6 9 .
Die Gemeinschaft im Reiche Gottes
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Differenz von Gerechtigkeit und positivem Recht ist freilich erst dann zureichend verstanden, wenn man seiner konstruktiven Funktion für die Explikation einer spezifisch und tendenziell sogar exklusiv theologischen Bestimmung der Grenzen des Staates ansichtig wird. So sehr gerade die lutherischen Theologen der zwanziger Jahre immer wieder die Autorität des Staates und dessen hohe ethische Verbindlichkeit betonen, so wenig vertreten sie einen solchen Etatismus, der auf eine Totalisierung des Staates als der einzigen bzw. umfassenden Ordnung des Lebens hinausläuft.
c. Die proleptische Präsenz des Reiches Gottes in der Innerlichkeit der Gesinnung Indem die Theologen den Unterschied zwischen Reich Gottes und Weltverfassung hervorhoben, intendierten sie jedoch keineswegs, „die wirtschaftliche und politische Verfassung der Menschheit jeder sittlichen Norm" 5 3 2 zu entheben. Sofern das Reich Gottes als Inbegriff wahrer Sittlichkeit das „Ziel der Geschichte" 533 war, mußte sich bei aller Differenz eine Beziehung namhaft machen lassen. Schon bei Luther sei - so Holl - beides zugleich vorhanden gewesen: sowohl eine Einheitsperspektive als auch Unterscheidungen. Die Suche nach der Einheit habe sich für Luther notwendig aus dem Gedanken Gottes als des Schöpfers ergeben. Von diesem Gedanken sei es unmöglich, Gottes Reich als eine nur jenseitige Größe zu verstehen. Holl betonte vielmehr, „daß die Gemeinschaft in Gott jetzt schon besteht" 534 . Althaus formulierte, daß das Reich Gottes „in göttlicher Prolepse schon jetzt verborgen angebrochen" 535 sei. Das Problem dieser Verhältnisbestimmung zwischen der Gegenwart des Reiches Gottes und seiner noch ausstehenden Verwirklichung habe Luther immer wieder am Beispiel der Beziehung von Reich Gottes zur sichtbaren Kirche und zum Staat bearbeitet. Folgender Grundgedanke sei dabei leitend gewesen: „Das Reich Gottes ist die höhere Einheit, die Staat und (sichtbare) Kirche als ihre Mittel unter sich befaßt und sie dadurch auch untereinander verbindet" 536 . Das Interesse am Festhalten der „höheren Einheit" mittels des Reich-Gottes-Gedankens läßt sich auch bei den an Holls Lutherdeutung anknüpfenden Theologen feststellen. Hirsch insistierte darauf, daß man der aus dem Zerfall des Gemeinschaftsbewußtseins resultierenden Schwierigkeiten nicht Herr werden dürfe, „indem man Staat und Nation für Gebiete erklärt, die dem 532
P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 43.
533
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. H O ; vgl. E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 23. K . HOLL, Religion, S. 99. P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 115.
534 535
536
K. HOLL, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, S. 347.
238
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Urteil religiöser Gewissenhaftigkeit entzogen sind" 537 . Wendland sah in der Vorstellung vom Reich Gottes als der wahren Gemeinschaft, die er im Anschluß an Holstein als „theonome oder christonome Sozialität" bezeichnete, in der Gottesliebe und „Bruderliebe" untrennbar verbunden seien, den Bezugspunkt, von dem her sich „der Sinn aller Gemeinschaft" 538 erschließe und jenes Ziel, in dem „alles soziale Leben seine Vollendung" 539 finde. Althaus formulierte programmatisch „Staatsgedanke und Reich Gottes" und wandte sich energisch gegen den Friedrich Naumann angelasteten Dualismus von Politik und christlicher Moral 540 sowie das daraus sich ergebende „Schreckbild amoralischer Politik" 541 . Er wußte die lutherische Theologie mit den „Religiös-Sozialen und Pazifisten" darin einig, daß auch das politische Leben dem sittlichen Gesetze unterstehen müsse: „Wie sie wollen auch wir darum ringen, über den Dualismus der Politik und des Reiches Gottes hinauszukommen. Aber wir können es nicht auf ihrem Wege" 542 . Die Gegenwart des Reiches Gottes und damit die Aufhebung des Dualismus wurde von den Theologen an einem ,Ort' lokalisiert: in der Innerlichkeit des Gewissens. Nach Hirsch war für Luther das „erst im Jenseits rein heraustretende Reich als eine schon bestehende Wirklichkeit im irdischen Leben der Menschheit verborgen gegenwärtig ... (als) die Gewissen, die Herzen schon hier zu einer lebendigen Gemeinschaft verbindende geistige Macht" 543 . Für das Verständnis des Zusammenhanges von Politik und Moral bedeutete die so gefaßte Vorstellung der Gegenwart des Reiches Gottes eine wichtige Weichenstellung. Das bereits dargestellte theologische Verständnis der Konstitution von persönlicher Freiheit hatte zum Postulat eines ursprünglichen Gemeinschaftsbezugs im Gewissen geführt. Unter Bezugnahme auf diese Konstruktion eines unhintergehbaren Zusammenhangs von Individuum und Gemeinschaft in Gestalt des Reich-Gottes-Gedankens konstatierten die Theologen die Möglichkeit einer „Einheit der Gesinnung", die aufgrund ihrer „Innerlichkeit" zwar nicht objektiv nachweisbar, aber gleichwohl von enormer Bedeutung für die Gestaltung der äußeren Ordnungen sein sollte. Für Holl „läuft auch die Betrachtung des Wirkens in der Welt bei Luther wieder auf das Persönliche, das Innerliche, auf das lebendige Gewissen hinaus" 544 . Von jener Gebundenheit an die Liebesgemeinschaft des Reiches Gottes her, wie sie im Gewissen sich erschließe, habe der Christ die Pflicht, die 537
E . HIRSCH, V e r t i e f u n g , S . 537.
538
H . - D . WENDLAND, Begriff der Gemeinschaft, Sp. 136. E b d . , Sp. 139. P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 24 f. und DERS., Religiöser Sozialismus, S. 13, 24.
539 540 541
P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S . 37.
542
E b d . , S. 34.
543
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S . 7.
544
K . H O L L , R e l i g i o n , S . 107.
Die Gemeinschaft im Reiche Gottes
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Ordnungen zwar nicht zu verchristlichen, wohl aber zu versittlichen 545 . Der Liebesgedanke ignoriere nicht die „tatsächliche Beschaffenheit der Welt", bleibe aber bei Luther „oberste(s) Gebot". Dadurch habe Luther eine „einheitliche Auffassung" in seiner ethischen Anschauung erreicht: „Indem er auch die Ordnungen des Weltlebens als Hilfsmittel der Liebe auffassen lehrte und dem Christen die Pflicht zuschob, sie in diesem Sinn stetig weiterzubilden, hat er die Möglichkeit dargetan, die Liebe als den beherrschenden Antrieb in jeder Lage und in jedem Augenblick festzuhalten" 546 . Althaus entfaltete auf dem Fundament der Hollschen Lutherinterpretation diese Einheitsperspektive mittels des Berufsgedankens. Die Liebe als Leitideal gewinne Gestalt im „Wille(n) zum Dienste in ganz konkreten Verpflichtungsverhältnissen"547, der den inneren Sinn des Berufsgedankens ausmache. In der Erfüllung des Berufs stelle der einzelne sich seiner sittlichen Herausforderung und werde seine Gesinnung umgesetzt in den verantwortlichen Dienst an der Gemeinschaft. Nach Hirsch beschreibt das Reich Gottes oder die „Gemeinschaft der Gewissen" „eine unter einem persönlichen Willen in einer Einheit der Gesinnung gefaßte geistige Macht, von der - durch diejenigen hindurch, die von ihr ergriffen sind - Wirkungen auf Welt und weltliches Leben ausgehen" 548 . Wem in der „Gemeinschaft der Gewissen" die höhere Sittlichkeit aufgegangen sei, könne seine Kraft daran setzen, „daß die Einrichtungen und Gesetze des Staats, die Tätigkeiten der Gesellschaft gebessert und den großen Leitideen der Gerechtigkeit, der persönlichen Freiheit, der Gesundheit und Natürlichkeit aller Verhältnisse mehr und mehr angenähert werden" 549 . So konvergierte die lutherische Staatsethik der zwanziger Jahre mit der neuen Staatsrechtslehre vor allem im Pathos einer Versittlichung aller Verhältnisse durch die in der rechten Gesinnung lebenden Persönlichkeiten.
d. Die Stärkung eines personalen Verständnisses des Politischen durch den Reich-Gottes-Gedanken Die Konzentration auf die persönliche Gesinnung, wie sie mit der Leitidee des „Reiches Gottes" bzw. der „Gemeinschaft der Gewissen" gegeben war, stärkte ein primär personalistisches Verständnis des Politischen. Nicht Strukturfragen, sondern die großen geschichtlichen Individuen standen im Mittelpunkt der politischen Analysen der genannten Theologen. Sie verstanden Politik als Gestaltung der Kultur zum Wohle der Gemeinschaft durch große Per545
K . HOLL, N e u b a u , S. 2 6 6 ; vgl. F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 72 f.
544
Ebd., S. 282.
547
P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 3 5 .
548
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 126.
549
E b d . , S . 6 1 / 6 2 ; v g l . P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S . 1 8 .
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sönlichkeiten und Führer. Besonders deutlich zeigt dies jene Bismarckverehrung, wie sie auch nach dem Scheitern von Bismarcks Reichsgründung das für die Theologen maßgebliche Bild der neueren deutschen Geschichte bestimmte. Für Holl war Bismarck ein Repäsentant „echt lutherischer Haltung" 550 , und für Brunstäd faßte sich in Bismarck „alles, was arteigene deutsche Staatsgestaltung war, zusammen". Er sah in Bismarck „geradezu die Verleiblichung des deutschen Staatsgedankens"551. Diese Orientierung an Einzelpersönlichkeiten hatte zwei weitere wichtige Folgen. Erstens rückte damit im Verständnis des politischen Handelns die Betonung vom rational verfahrensmäßig geordneten Vorgehen hin auf den rational nicht mehr faßbaren Aspekt der wagenden Gewissensentscheidung des großen einzelnen. Da „Persönlichkeit" nur der ist, der sein Leben in den Dienst an der sittlichen Gemeinschaft stellt, wurde mit der Personenorientiertheit auch das ethische Moment in Gestalt der Gesinnung gestärkt. Deshalb konzentrierten sich die Theologen zweitens in ihrem Staatsdenken nicht mehr auf die Form des Staates, die äußere Organisation des politischen Willensbildungsprozesses in einer Verfassung, sondern auf die „Staatsgesinnung". Der „Staatsform" habe Luther ja - so Wendland - „mit innerer Freiheit" 552 gegenüber gestanden. Statt sich einer Besinnung auf die Staatsform zu unterziehen, machten die Theologen sich zu Anwälten der Staatsgesinnung. Sie verkündeten die Notwendigkeit des „Beseeltseins aller durch einen Gemeingeist" 553 als Grundlage einer durch den Staat sich erhaltenden und fortbildenden nationalen Kultur. Der Staat sollte als „freiwillig bejahte Lebensgemeinschaft" 554 innerlich akzeptiert und nicht nur als Organisation äußerlich anerkannt werden. Althaus ist der Uberzeugung, daß „die staatliche Rechtsordnung sittlicher Gesinnung bei den Gehorchenden, aber auch bei den Befehlenden" bedarf. Solche Gesinnung könne aber nur hervorgehen aus den „Kräfte(n) der Gemeinschaft, in der Gottes Reich gegenwärtig ist" 5 5 5 . Die Stärkung der Integration und Legitimation durch innere Bindung an die sittlichen Werte der Kultur bildete den Zielpunkt des theologischen Staatsdenkens. Für Brunstäd muß sich „echte staatliche M a c h t . . . immer in etwas begründen, was Menschen innerlich und überwältigend verbindet". Sie muß „aus Wertverbundenheit stammen ... muß durch Werte verbinden, die Hingabe nicht nur fordern, sondern auch erwecken, die den verbundenen Menschen eben mehr gelten als ihre eigene Existenz" 556 . Solche freie Hingabe zu wecken und zu stärken und dadurch das Handeln in den politischen Ordnungen zu versittlichen, das sahen die Theologen als ihre vorrangige Aufgabe an. 550 551
K. HOLL, Die Kulturbedeutung, S. 491. F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 139; vgl. P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 3 9 , 4 3 f.
552
H . - D . WENDLAND, Staatsgedanke, S . 8 .
553
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 84. Ebd., S. 81. P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 18; vgl. E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 125.
554 555 556
F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S . 6 2
Die Legitimation des Staates
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In dieser Perspektive trat die Frage nach der Legalität ganz zurück hinter die Frage nach der inneren Einstellung zum Staat. Nicht die Legitimität der Legalität wurde anerkannt, sondern Legalität durch das permanente Nachfragen nach der inneren Verpflichtungskraft politischer Ordnung aufgelöst. Im Sog dieses Innerlichkeitsdenkens erfolgte keineswegs ein Rückzug von der Außenwelt und damit der Politik. Diese geriet vielmehr durch die Totalisierung der Ansprüche auf gesinnungsmäßige Rechtfertigung unter einen moralisierenden Legitimationsdruck, in dem die Grenzen zwischen Geltungsansprüchen äußerer Ordnungen und innerer Verpflichtung aufgelöst wurden. Am deutlichsten wird diese Entdifferenzierung an einer These Brunstäds: „In der Tiefe der Seele haben wir den Staat"557.
5. Die Legitimation des Staates durch seine teleologische Beziehung auf das Reich Gottes Die Rechtfertigung staatlicher Ordnung ergab sich für die genannten Theologen aus der Bezugnahme auf den Gedanken, daß dieses Gottesreich in Gestalt der „Gemeinschaft der Gewissen" „in der Welt sich ausbreiten und entwickeln soll"558 und solche Ausbreitung das unerläßliche Fundament aller höheren Kultur und damit des Kontextes sei, in dem sich allein die Ausbildung zur sittlichen Persönlichkeit vollziehen könne. Althaus sprach von einer „doppelte(n) teleologischen Beziehung auf das Reich Gottes kraft des usus politicus und usus paedagogicus", durch die der Staat begründet und begrenzt werde: „Von einem Punkte aus empfängt der Staat höchste Würde und klarste Ernüchterung durch die Einordnung in die Teleologie des kommenden Reiches Gottes. Nur wer mehr kennt als den Staat, wird ihm gerecht, wird freudig zum Staat und verfällt ihm doch nicht"559.
a. Der Staat als konstitutive Bedingung höherer Kultur Zwei Annahmen bildeten durchgängig den Ausgangspunkt dieser teleologischen Argumentation. Erstens sei prinzipiell davon auszugehen, daß auf dem „Grunde" der menschlichen Natur „eine wilde rohe Selbstsucht"560 lebe, die gebändigt werden müsse, wenn überhaupt die Entwicklung von höherem Leben und Sittlichkeit möglich sein soll. Zweitens gebe es immer nur wenige Christen. Diese „Minderheit, diese Besten"561, müßten vor der „Vernichtung 557
F. BRUNSTAD, Staatsideen, S. 12.
558
K . H O L L , K u l t u r b e d e u t u n g , S. 4 8 1 ; v g l . P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S. 13.
559
P. ALTHAUS, Staat und Reich Gottes, S. 117. E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 72; vgl. K. Holl, Luther und die Schwärmer, S. 466; P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 34. 561 K. HOLL, Neubau, S. 254. 560
242
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
durch jene Mehrheit der Selbstsüchtigen und Gewalttätigen behütet" 562 werden. Es sei nach Luther eine „verhängnisvolle Selbsttäuschung ... wenn man schon innerhalb der sogenannten, Christenheit' die Regelung des natürlichen menschlichen Zusammenlebens darauf einstellen wollte, als ob alle Glieder wirklich Christen, d.h. Menschen wären" 563 . Unter diesen Bedingungen muß das Reich Gottes, der Inbegriff von sittlicher Gemeinschaft, als ein ständig Bedrohtes erscheinen; die Welt läßt sich nur unter dem Vorzeichen des Widerstreits 564 zwischen dem guten, auf Verwirklichung zielenden Willen Gottes, und dem Bösen begreifen. Auf dem Hintergrund der Überzeugung, daß eine wahrhaft sittliche Gesinnung allein möglich sei durch die Teilhabe an der Gemeinschaft des Reiches Gottes und diese Gemeinschaft deshalb „als eine an den Willen der Menschen schaffende und bildende Macht gegenwärtig sein (müsse), wenn auch nur die äußeren Lebensformen in rechtem Sinne verwaltet werden sollen" 565 , konnte die Bedrohung solcher Gemeinschaft nur als Gefährdung aller sittlichen Kultur interpretiert werden. Angesichts dieser Situation sprachen gerade die lutherischen Theologen dem Staat zwei Aufgaben zu, die beide die Voraussetzung für die Entwicklung aller höheren Kultur und Sittlichkeit sicherstellen und damit notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Bestand und die Ausbreitung des Reiches Gottes schaffen sollen 566 . Für Brunstäd ist die „ganz spezifische Funktion und Stellung des Staates" aus dieser Situation des „Widerstreits) von Sollen und Sein" 567 heraus begründet: „Der Staat geht gerade daraus hervor, daß eine geistig-sittliche, eine Wertvollendung erreicht werden soll, aber nicht erreicht ist". Der Staat sei daher „das artbildend Menschliche" 568 . Aufgabe des Staates sei es einerseits, im Sinne des usus politicus legis dem Bösen zu wehren. Sowohl zur Bändigung der Selbstsucht als auch zum Schutz der moralischen Avantgarde seien Zwang und Gewalt staatlicher Macht notwendig, denn es gebe Menschen, die nur diese Sprache der Macht verstünden. Damit leiste der Staat dem Reiche Gottes insofern einen Dienst, als er die in der Tiefe des Gewissens Vergemeinschafteten vor der Vernichtung bewahre und darin zugleich Rahmenbedingungen zur weiteren Ausbreitung der „Gemeinschaft der Gewissen" garantiere. b. Der Staat als Subjekt sittlicher Erziehung und als Werkzeug der Liebe Gottes Holl, Hirsch, Brunstäd, Wendland und Althaus stimmten darin überein, daß die Aufgabe des Staates mit dieser negativen Funktion noch nicht zureichend 562
563
K . HOLL, K u l t u r b e d e u t u n g , S. 481. K . HOLL, R e l i g i o n , S. 104; vgl. E . HIRSCH, D e u t s c h l a n d s Schicksal, S. 129.
564
F.
565
E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 2 4 .
566
Vgl.
567
568
BRUNSTÄD,
Weltanschauung, S. 60.
Religiöser Sozialismus, S . 3 6 . Staatsideen, S. 1 3 ; vgl. D E R S . , Idee, S. 2 0 1 . Ebd., S. 133; vgl. DERS., Weltanschauung, S. 60; E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 72. P. ALTHAUS,
Ε BRUNSTÄD,
Die Legitimation des Staates
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erfaßt sei. Ihr Interesse galt vor allem dem ,usus paedagogicus'. Nach Holl hat Luther die Aufgabe des Staates nicht nur aus der „Notwendigkeit der Unterdrückung des Bösen" begründet. „So roh denkt Luther bloß nach Troeltsch ... Der wirkliche Luther beweist das Recht des Staates nicht aus diesem Verneinenden, sondern aus dem Positiven, aus der Erziehung zu Gerechtigkeit und Gemeinschaft"569. Nahezu gleichlautend bestimmt Holls treuer Schüler Hirsch die Aufgabe des Staates. Sie erschöpfe sich nicht darin, „schützende Hülle des wahrhaft menschlichen Lebens"570 zu sein. Der Staat diene vielmehr auch der „Vorbereitung und Erziehung zum Sittlichen"571. Mit ausdrücklichem Bezug auf Hirschs Staatsverständnis erklärt Wendland den Staat zu einer „Gemeinschaft sittlichen Werdens", eine Definition, für die er Ubereinstimmung mit der von Luther geleisteten „religiösen Begründung des Staates als Kraft und Form sittlichen Gemeinschaftslebens"572 beansprucht. Für Althaus reicht es nicht aus, „die Notwendigkeit... des staatlichen Zwanges ausschließlich auf die Macht des Bösen in der Welt zurückzuführen" . Sie sei „viel elementarer und breiter in den Grundbedingungen alles höheren geschichtlichen Lebens begründet" 573 . Auch für Brunstäd ist der Staat nicht nur da zur „Niederringung und Niederhaltung des Bösen, Schlechten und Wertwidrigen aller Art", sondern zur „Sicherung, Pflege und Förderung des Guten, Tüchtigen und Wertvollen"574. Diese positive Aufgabenbestimmung erlaubt es nicht mehr, den Staat nur noch als reinen Machtstaat zu verstehen. Zwar bleibe eine unaufhebbare Spannung zwischen dem Reich Gottes als der idealen Liebesgemeinschaft und dem Zwang anwendenden Staat. Aber auch diese Zwangsanwendung kann Holl mit Luther als „Hilfsmittel der Liebe"575 begreifen. Die Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung unter den Bedingungen des Widerstreits von Gut und Böse, der dadurch erfolgte Schutz der Mitmenschen, der Schwachen und Wehrlosen, stelle de facto eine Form der Liebe dar. Der Zusammenhang von harter Gewalt und Liebe kann im Sinne Luthers begriffen werden mittels der Relation von ,opus proprium' und ,opus alienum Dei': Das scheinbar zur Liebe Gegensätzliche, „das Strafen und Zürnen, ist in Wahrheit nur Erscheinungsform, Maske, Umweg, notwendiges Mittel für die göttliche Liebe"576. Im Sinne eines solchen ,opus alienum' könne der Staat verstanden werden als „Gottesordnung zweiten Ranges". Er werde damit zugleich begründet und begrenzt, denn er sei nicht mehr „Selbstzweck, sondern nur Mittel für ein an569 570
571
K . HOLL, K u l t u r b e d e u t u n g , S. 482. E . HIRSCH, R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f e , S. 23.
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 73.
572
H . - D . WENDLAND, S t a a t s g e d a n k e , S. 9. P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S. 17. 574 F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S. 60. 575 K . HOLL, N e u b a u , S. 282. 573
576
Ebd., S. 283; vgl. DERS., Religion, S. 104.
244
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
deres Unbedingtes" 577 , die Ausbreitung des Reiches Gottes in den Gewissen. Diese sei ihrerseits aber für den Bestand aller höheren Kultur insofern von Bedeutung, als sie deren notwendige Gesinnungsgrundlage bereitstelle. Gemeinsam ist all diesen Aussagen zum Verständnis staatlicher Macht, daß, von der „höheren Einheit" des Reiches Gottes aus betrachtet, die entscheidende Legitimation staatlicher Macht durch die Bezugnahme auf die gemeinschaftsstiftende, Sittlichkeit ermöglichende und wertverwirklichende Funktion des Staates erfolgt. Auf dem Hintergrund der fehlenden Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und der dementsprechenden Sicht des Staates als Verwalter und Pfleger der sittlichen Substanz der Kultur wurde er zum Subjekt eines Erziehungsprozesses erhoben, der die für sein eigenes Funktionieren notwendige Gesinnungsgrundlage selbst erhalten muß: „Der Staat... muß für die innere Umbildung und den inneren Zusammenhalt seiner Bürger sorgen. Das ist die Grundlage aller staatlichen Macht" 5 7 8 . Dies kann er nach den Prämissen der Theologen aber nur, wenn er selbst in einer inneren Verbindung mit der christlichen Religion als dem Ermöglichungsgrund solcher Gesinnung steht. Indem der Staat mit Hilfe der Religion diese Gesinnungsgrundlage schafft und damit auch Grundtugenden wie Pflicht, Verantwortungsbewußtsein und Treue einschärft, wirkt er zugleich vorbereitend für die Ausbildung jener höheren sittlichen Gesinnung, wie sie die Glieder in der Gemeinschaft der Reiches Gottes auszeichnet. Dieses Legitimationsmuster basierte auf der Annahme, mit dem Reich Gottes sei eine universale „überpositive Ordnung" gegeben, die als Allgemeinverbindlichkeit beanspruchendes Richtmaß für alles sittliche Handeln gelten könne. Von dieser Annahme der Möglichkeit einer Einheit der Gesinnung aus konnten dann formale und rationale Verfahren der Machtbildung, deren Sinn gerade in der Ermöglichung eines konstruktiven Umgangs mit Dissens liegt, unter Rekurs auf das Anliegen der Verwirklichung der wahren Sittlichkeit und Gemeinschaft abgewertet werden. Dieses Legitimationsmuster läßt sich zusammenfassen mit den Worten Brunstäds: „Staatliche Herrschaft gründet sich nicht auf die formelle Zustimmung der Beherrschten, sondern auf die in allen lebendige sittliche und Wertbestimmung überhaupt, welcher der Staat dient, welche er verwirklicht" 579 . „Staatliche Macht ist die Form, in der sich das Gute und Wertvolle durch allen Wertwiderstreit hinweg durchsetzt. Das ist die Schwungkraft des politischen Ethos, daß das Gute dennoch und trotz allem die höchste Macht auf Erden sein soll" 580 .
577
K . HOLL, K u l t u r b e d e u t u n g , S. 481.
578
F. BRUNSTÄD, S t a a t s i d e e n , S . 17.
579
Ebd., S. 13.
580
E b d . , S. 17; vgl. DERS., D e u t s c h l a n d , S. 104; DERS., I d e e , S. 2 0 1 .
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
245
6. Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation " Die weitere Bestimmung von Aufgaben und Zielen des Staates, über seine pauschale Indienstnahme für die Verwirklichung der höchsten ethischen Ideale und eines sittlichen Lebens hinaus, erfolgte bei den genannten Theologen nicht unter Bezugnahme auf die Beziehung Staat - Gesellschaft. Um sich von der westeuropäischen Sozialphilosophie demonstrativ abzugrenzen, wurde die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft durch die Relation von Staat und Volk ersetzt. Auch auf der Ebene der Grundlagen des ,Gesellschafts'- Verständnisses gab es zwischen den neuen Staatsrechtslehren der zwanziger Jahre und der Staatsethik der lutherischen Theologie in der Weimarer Zeit eine bemerkenswerte Analogie. Hier wie dort setzte man schon im Ansatz des Staatsverständnisses voraus, der Staat könne noch einmal den faktischen gesellschaftlichen Pluralismus in Richung auf eine neue geistige Einheitskultur umgreifen und überwinden. Dieses an der „Volksgemeinschaft" orientierte Staatsverständnis lebte aus dem Glauben, daß vorgängig zu allen möglichen gesellschaftlichen Differenzierungen und sich daraus entwickelnden Antagonismen eine konfliktfreie Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft und damit ein alle bindendes einheitliches Fundament immer schon gegeben sei, das nur bewußt gemacht werden müsse, um neue, alle Glieder verpflichtende Bindungskräfte im Gemeinwesen freizusetzen. Im Volkstum glaubte man, jenen „überparteilichen" Boden zu haben, von dem aus eine sittliche, am umfassenden Wohl der Volksgemeinschaft orientierte Politik gestaltet werden könne. Als Urbild solchen neuen volkhaften Gemeinschaftsbewußtseins galt „das Volkserlebnis des August 1914". Für Althaus wurde damals die „volkliche Verwurzelung und Gebundenheit unseres Lebens ... als unmittelbare Lebenswirklichkeit neu entdeckt und bewußt ergriffen" 581 . Signifikantes Merkmal des am Ausnahmezustand des August 1914 orientierten sozialen Harmonieglaubens ist der Mangel an Bereitschaft zur Anerkennung der deutlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Gegensätze und der daraus entstehenden Konflikte, die unter normalen Bedingungen die politischen Auseinandersetzungen in einer pluralistischen Massengesellschaft kennzeichnen. Aus diesem Mangel erwächst der illusionäre Charakter der propagierten Einheits- und Versöhnungsvorstellungen in Gestalt des Volksgedankens, denn jedes Bemühen um Einheit und Versöhnung kann nur so wirksam und tragkräftig sein wie die darin eingegangene Fähigkeit zur Wahrnehmung und Anerkennung der faktisch gegebenen Differenzen und Gegensätze. Auch die Theologen suchten eine Einheit des politischen Wollens als eine immer schon gegebene, die doch allenfalls das Resultat mühsamer Vermittlungsprozesse und auszulotender Kompromisse mit Hilfe des parlamentarischen Systems hätte sein können. 581
P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 204.
246
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Bei der Darstellung des theologischen Volks- und Staatsverständnisses entsteht eine spezifische Schwierigkeit: Seit den Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre versammelt sich für das heutige theologische Denken in jenen Begriffen wie Volk, Volkstum, Volksgeist, Volksgemeinschaft etc., die für die damalige lutherische Ethik zentral waren, alles Verwerfliche der im Geiste Luthers konzipierten politischen Ethik. Die aus der Perspektive der Zeit nach 1933 gewonnenen theologischen Verwerfungsurteile hinsichtlich der „Metaphysik der Völker und des Volkstums" 582 lassen allerdings nicht erkennen, warum diese Volkstumsmetaphysik im Luthertum der zwanziger Jahre eine so hohe Zustimmung finden konnte. Gerade eine kritische Interpretation dieser Ethik muß versuchen, die Faszination, die eigentümliche Plausibilität und die ethische Leistungskraft dieser Begriffe für das damalige religiös-politische Bewußtsein zu erklären. Solche analytische Anstrengung zielt nicht auf die Rehabilitierung derartiger Vorstellungen. Der Streit um die lutherische Volkstumsmetaphysik ist in der Theologie zumeist in innerdogmatischer Begrifflichkeit, vor allem als Frage nach dem Verhältnis von Schöpfungsordnung und Christusoffenbarung behandelt worden. Eine pauschale Entgegensetzung von Schöpfungsethik einerseits und christozentrischer Ethik andererseits wird jedoch weder den lutherischen Ethikern der zwanziger Jahre noch auch ihren Kritikern, etwa Karl Barth, gerecht. Denn Holl, Hirsch, Brunstäd, Wendland und Althaus nahmen für sich selbst ausdrücklich in Anspruch, an diesem Punkt präzise zu unterscheiden 583 . Es würde deshalb keinen Gewinn an Erkenntnis bedeuten, nochmals zu zeigen, daß sie entweder diese Unterscheidung nicht vornahmen oder prinzipiell zwar festhalten wollten, aber de facto nicht durchgehalten haben. a. „Volksgemeinschaft" als Gegenmodell zu „Gesellschaft" Die Faszination, die dem Volksbegriff zueigen war, wird in Umrissen erkennbar, wenn man ihn als systematischen Gegenbegriff zum Gesellschaftsbegriff in den Blick nimmt und auf dem Hintergrund der bereits dargestellten 5 8 2 H . - D . WENDLAND, Volk und G o t t , S. 67. Z u m Volkstumsgedanken vgl. die Arbeit von W. TILGNER, Volksnomostheologie. Tilgner urteilt mit dem .sicheren' Maßstab derer, für die nach der Zeit des Nationalsozialismus das Verwerfliche der Volkstumsmetaphysik ohne große Mühen zu erkennen ist, und (re) - konstruiert dementsprechend die Vorgeschichte dieses Denkens. DERS., Volk, Nation, Vaterland. 5 8 3 H . - D . WENDLAND, Volk und G o t t , S. 59; vgl. P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum: „Aber die Wahrheit Gottes ist niemals nur Erfüllung der Menschheitssehnsucht, sondern zugleich das Gericht über sie, .... N u n verstehen wir, daß die rettende Offenbarung Gottes nicht überall da ist, sondern ... in einer bestimmten, einmaligen, besonderen Geschichte ergeht, auf G r u n d von Erwählung eines Ortes und Volkes - nicht als Geburt der Offenbarung aus dem Volksgeiste, sondern als H ö r e n eines einmaligen konkreten Wortes aus der Höhe, aus der Fremde, die aller Völker letzte Heimat ist" (S. 211).
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
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Krisendiagnostik betrachtet. Deren wichtigste Elemente sind via negationis in dieser Volksmetaphysik präsent. Das Volkstum stellt für die genannten Autoren die , konkrete' Gestalt der gesuchten sittlich-religiösen Gesamtintegration dar. In ihm glaubte man den Ansatzpunkt gefunden zu haben für die Überwindung der ethischen Substanzlosigkeit, des Relativismus, des egoistischen Individualismus und der abstrakt formalen, geschichtslosen Rationalität des liberalen, aufgeklärten Denkens, wie es sich für die Zeitgenossen politisch manifestierte in der parlamentarischen Demokratie. Für Wendland sind im „Erlebnis des Volkes" das Erlebnis der „große(n) geschichtliche(n) Zusammenhänge", in die das Individuum eingeordnet ist, damit das „Erlebnis der Gemeinschaft" und das Streben nach einer „neuen sozialen Sittlichkeit"584 unauflöslich verbunden. Nicht das rationale, aus den Interessen von Individuen und Gruppen gewonnene Kalkül, mit dem das Vertragsmodell der westlichen Gesellschaftsphilosophie operiere, sollte das politische Handeln bestimmen, sondern der sittliche Geist der ganzen Volksgemeinschaft. Dementsprechend sollte - darin stimmte das theologische Staatsdenken mit den Grundzügen der Integrationslehre überein - die Bindung politischer Machtausübung an die mit der Geschichte des eigenen Volkes gegebenen Werte und Gehalte, die formale, im Sinne der Kritiker aber inhaltsleere Bindung an Verfassung und parlamentarische Gesetzgebung ersetzen. Im Gedanken der Volksgemeinschaft äußerte sich die Suche und Sehnsucht nach einer sozialen Harmonie, die vorangetrieben und radikalisiert wurde durch die zunehmende, als Zersetzung und Krise erlebte und gedeutete Differenzierung und Mobilisierung in der modernen industriellen Massenkultur. So beklagte P. Althaus in seinem Vortrag „Kirche und Volkstum" auf dem Königsberger Kirchentag 1927, daß das Volksleben „krank" sei durch den Geist der „Zivilisation". Diese bedeute „rationale Organisation statt des gewachsenen Organismus, Zersetzung zur Masse statt Gliedlichkeit am Volksleibe, , Gesellschaft' unverbundener einzelner statt organischer Gemeinschaft, Entwurzelung und Entheimatung, äußerlich und innerlich, statt äußerer und innerer Bodenständigkeit... ohne Geschichte, statt der Verwurzelung in tragender Uberlieferung, Sitte und Form". „Sinnbild" dieser modernen Lebensform war für ihn die Großstadt 585 . Als Gegenprogramm rief Althaus die Notwendigkeit zu einer „Wiedergeburt des Volkslebens" aus: „Wiedergeburt der Arbeits-, Wirtschafts-, Geldverhältnisse aus dem Geiste echter Volksgemeinschaft; eine Ordnung des gemeinsamen Lebens, die unser großstädtisch werdendes Volk wieder fester bindet an Familie, Beruf, Arbeit, Boden, Heimat; Uberwindung der Zersetzung durch ein neues Erleben der Gliedlichkeit, durch Weckung opferwilligen Brudergeistes"586. H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 12/13. P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 205. 586 Ebd., S. 206. 584 585
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Im gleichen zivilisationskritischen Ton stimmte H . - D . Wendland 1931 H. Freyers Darstellung des Sinnes der „Revolution von rechts" ausdrücklich zu. In dieser Revolution bilde sich in der „Tiefe der Geschichte ein neues geschichtliches Subjekt", vollziehe sich „eine neue revolutionäre Einswerdung von Volk und Staat". Damit sei „die politische Revolution des Volkes gegen die industrielle Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im Gange..., die ihre Spitze in der Befreiung des Staates von den gesellschaftlichen Interessen hat und um neue Beherrschung und Sinnerfüllung des technisch-wirtschaftlichen Systems kämpft" 587 . Der Volkstumsglaube wurde von den Theologen auf zwei Ebenen entfaltet, auf der Ebene der individuellen Erfahrung und auf der der geschichtsmetaphysischer Spekulationen. Der Zusammenhang beider Ebenen wurde nur als eine allen empirischen Erfahrungen transzendente Einheit formuliert, und zwar in Gestalt der These, daß die Völker eine „Schöpferordnung" 588 , eine „Selbstbezeugung des Schöpfergottes" 589 , eine „göttliche Schöpfungsordnung" oder „Schöpfungsindividualität" 590 darstellten, d. h. einen, in seiner Tiefendimension allein theologisch erfaßbaren Gesamtzusammenhang, der sowohl den bestimmenden Rahmen für die Lebensgeschichte des Individuums wie für den Sinn der Gesamtgeschichte bilde. b. Volkstum als eine das Natürliche, Geistig-Sittliche und Religiöse umfassende Bindung Auf der Ebene der individuellen Erfahrung wurde für die Volkstumsmetaphysik beansprucht, an eine „unmittelbare Lebenswirklichkeit" 591 oder eine „natürliche" Grunderfahrung anzuknüpfen, die universal von allen Menschen gemacht wird: Jeder wird geprägt durch sein bestimmtes soziales Umfeld, die Familie, die Sprache, kulturelle Traditionen und die politischen Lebensformen, in denen er aufwächst. Für Brunstäd gibt es daher eine klare Rangfolge von Individuum und Gemeinschaft: „Nicht die Individuen sind das Primäre, nicht sie bilden Lebenszusammenhänge, sondern sie werden vielmehr von solchen Zusammenhängen hervorgebracht, die ihnen vorausH.-D. WENDLAND, Demokratie und Diktatur, S. 233. K. HOLL, Luthers Anschauung, S. 162. 589 P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 221. 590 F. BRUNSTÄD, Idee S. 204; DERS., Deutschland, S. 102. Weiteres Material zur zeitgenössischen Verwendung des Terminus bei Wünsch, Gogarten, Brunner, Brunstäd, Schreiner, Wendland, Althaus, Piper, de Quervain findet sich in der bei O. Piper angefertigten Arbeit von К. E. OLIM ART, Begriff der Schöpfungsordnung. Nach Olimart ist es das Bemühen darum, „der Kirche und Theologie (zu) helfen, ihre Ethik zu bereichern und auszugestalten, indem man sie mit der allgemeinen Geisteslage in Verbindung setzt" (S. 6), das hinter den verstärkten Bemühungen um den Begriff der Schöpfungsordnung steht. Ein „neues Gefühl für die Wirklichkeit" (S. 8) bringe sich mit ihm zur Geltung. Außertheologische Parallelen sieht er in der Wertethik Schelers und Hartmanns sowie in den Bemühungen um ein neues Naturrecht (S. 65 f.). 591 P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 204; vgl. E. HIRSCH, Liebe zum Vaterland, S. 6. 587
588
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
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gehen, ihr Leben bestimmen und tragen. Das Volk ist eine solche Lebenseinheit, ein sich fortzeugender Lebensgrund, aus dem die Menschen nach Art und innerem Formgesetze immer neu entstehen, eine Abstammungseinheit, eine Blutseinheit, die unsere Existenz bildet und unser Denken und Wollen lebendig beherrscht"592. Im Gegensatz zur Masse, „dem Haufen der absoluten Individuen", sei das Volk eine Sozialgestalt, in der eine „ursprüngliche Verbundenheit" die einzelnen innerlich zu einer „Ganzheit" zusammenbinde und verpflichte593. Deshalb empfinden wir, nach Hirschs Überzeugung, „des Volkes Leben ... als unser eigenes Leben"594. Aufgrund seiner inneren Verfaßtheit als reflektierendes Wesen müsse jeder Mensch zu dieser ursprünglichen Sozialität, die sich für die Theologen im „Volk" zusammenfaßte, Stellung nehmen. Dem Zusammenwirken von natürlichem Eingebundensein und reflektierender Stellungnahme wohne die Tendenz inne, über das bloß Natürliche hinauszuführen zum sittlichen Verhalten. Für Hirsch ist in „der Liebe zum eigenen Volk... rein als Tatsache des natürlichen Lebens, ohne jede sittliche Anstrengung gegeben eine freie Hinneigung des Ich zum Ganzen jenseits seiner. Das bedeutet eine gewisse Befreiung von dem Fluche der Selbstsucht, nichts zu kennen und zu achten als den eignen kleinen Willen"595. Diese Vaterlandsliebe „richtet... uns ... auf große sachliche Ziele"596. Für Hirsch ist die Volksverbundenheit ein ganz entscheidender Antrieb zur Charakterbildung, denn sie fördere die „Erziehung zur Treue ..., zum Opfer, zur Verantwortung"597. Aufgrund dieser überindividuellen Grundorientierung 598 , die durch die natürlichen Gegebenheiten angeregt und durch Reflexion bewußt gemacht und verstärkt werde, sei die Bindung an das Volk zwar eine „ursprüngliche Gegebenheit", aber keineswegs „einfach ein Stück Natur". Das Volkstum stelle vielmehr eine „geistige Wirklichkeit"599, eine „geistig-sittlich-kulturelle Verbundenheit"600 dar, die sich nicht der bewußten, rationalen Konstruktion von Individuen verdanke, sondern sich im Zusammenhang der Geschichte ausbilde. Für Wendland ist das Volk „nicht nur natürliche, sondern auch Wert- und Wertungsgemeinschaft, d. h. zutiefst sittliche Gemeinschaft, deren Werden sich in der Geschichte vollzieht"601.
5,2 F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 58; vgl. D E R S . , Deutschland, S. 100; E. lands Schicksal, S. 81; DERS., Liebe zum Vaterland, S. 8. 593 F. BRUNSTÄD, Idee, S. 206. 594 E . H I R S C H , Liebe zum Vaterland, S . 8. 595 E. H I R S C H , Deutschlands Schicksal, S. 89. 5 % E. H I R S C H , Liebe zum Vaterland, S. 15. 5,7 Ebd., S. 14. 598 Vgl. ebd., S. 16 f. 599 P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum. S. 205. 600 F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 22. 601 H.-D. W E N D L A N D , Volk und Gott, S. 69.
HIRSCH,
Deutsch-
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Die geistig-sittliche Erziehung hat auf einer weiteren Stufe eine Brückenfunktion für die religiöse Erfahrung. Sie ist für die Theologen eine - so Hirsch - „das Höhere vorbereitende Zucht" 602 , eine „Bereitung zur Begegnung mit Gott" 603 . Der gemeinsame Bezugspunkt für die religiöse und die sittliche Dimension wird in ihrer Orientierung hin auf sittliche Gemeinschaft gesehen. In begrenztem Umfang könne die Vaterlandsliebe „eben das, was das Christentum in viel tieferem und wahrerem Sinne zu sein vermag, jedoch allein in der Freiwilligkeit und Innerlichkeit glaubensgeborener Liebe, ... sie schafft im Irdischen, was das Christentum im Ewigen wahrhaft vollbringt - eine Gemeinschaft"604. In den je individuellen Entscheidungssituationen werden für Hirsch „die Gestalten dieser Erde durchsichtig" für die in ihnen liegende „ewige Verantwortung"605. Treue zu Gott und Treue zur Welt, Erfüllung der Verpflichtung gegenüber Gott und Erfüllung der irdischen Verpflichtungen schlössen einander nicht aus, sondern bildeten eine Einheit voll „unendliche^) Spannung", die zu einer „unendlichen Aufgabe" herausfordere: „Dies irdische Leben zu brauchen, um zu der wahrhaftigen Mannheit (!), der vollkommenen Reinheit heranzuwachsen, die den Bürger der ewigen Gottesstadt zieren soll"606. Gleichermaßen „übt sich" für Althaus „an der Volkstumstreue ... die Treue im Ewigen", und die Wiedergeburt des Volkstums impliziert für ihn auch eine Zeitenwende hinsichtlich der Gottesfrage: „Das bindungslose, selbstherrliche Ich der eben zu Ende gehenden Aufklärungszeit, des individualistischen Zeitalters, das sich die Augen zuhielt für die konkrete Abhängigkeit und Bindung des persönlichen Lebens, hatte jedenfalls einen viel weiteren Weg zur Ehrfurcht vor der freien Schöpfermacht, des Herrn über uns"607. Die Beziehung zwischen Hingabe an das Volkstum und religiösem Glauben wird von Althaus, über diese vorbereitende Funktion hinaus, als ein wechselseitig sich ergänzendes Verhältnis beschrieben. Auch das Volkstum bedürfe der Gemeinschaftsmacht der Religion. Für die Motivation zum Engagement für den Erhalt des Volkstums, gerade in Zeiten, in denen es bedroht ist, reicht für Althaus weder die „Kraft ursprünglicher Bindung" noch die „Nationalerziehung" aus. Dazu bedürfe es der Kraft, die aus der „unsichtbaren Gemeinde", dem Reiche Gottes, hervorgehe, der „Macht überweltlicher Liebe, die aus Gott ist, die alles glaubt, alles hofft, alles duldet" und dadurch die Bereitschaft zum Dienst am Ganzen und den nötigen „Opfergeist" schaffe608. Für Brunstäd hat deshalb nur ein Volk politische Macht, „das Glauben hat, Glauben an seine Berufung zum Dienst an der
E. HIRSCH, Liebe zum Vaterland, S. 12. E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 117. 604 E. HIRSCH, Liebe zum Vaterland, S. 12. 605 Ebd., S. 23. 606 Ebd., S. 22; vgl. BRUNSTAD, Deutschland, S. 102; WENDLAND, Volk und Gott, S. 77. 607 P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 214. 608 Ebd., S. 208. 602
603
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
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Gemeinschaft der unbedingten Persönlichkeit und daraus den unbeirrbaren Willen und die unbeugsame Kraft der Hingabe schöpft" 609 . Durch das Wissen darum, daß „Gottes Reich ... größer als jedes Volkstum" ist, sieht Althaus andererseits das Engagement für letzteres nicht nur gestärkt, sondern auch begrenzt und bewahrt „vor dem Ubermut, in dem ein Volk sich als Edelrasse aufbläht und sein Selbstbewußsein nur damit nähren kann, daß es die anderen gering macht und verachtet" 610 . Der Gedanke an Gottes Reich als dem Sinn allen geschichtlichen Geschehens halte den „nur relativen und begrenzten Wert der höchsten vaterländischen Güter" 611 im Bewußtsein. Sowohl „Kraft" wie „Demut" empfange das „völkische Wollen" aus der „Gewißheit um Gottes kommendes Reich" 612 , denn der Glaube wirke „verneinend und bejahend" 613 zugleich. Die dem Volksglauben immanente Gefahr, in Hochmut, Haß und Verachtung umzuschlagen, könne gerade durch das Wissen um die religiöse Tiefendimension des Volkstums gebannt werden614. Die Uberzeugung, zwischen christlichem Glauben und Volkstum bestehe ein Wechselverhältnis, bildet die entscheidende Voraussetzung für die Forderung, die Kirche müsse „wahrhaft Volkskirche" 615 werden. Wendland sieht 1926 eine „große und unvergängliche Aufgabe" für eine solche Volkskirche als „Wächterin über dem religiösen Quellgrund des Volkslebens und Hüterin der Verbindung der Volksseele mit dem Ewigen", eine Aufgabe, die sich für ihn darin begründet, daß die „Geschichte des Glaubens, der Frömmigkeit des Volkes ... Herz und Kern der deutschen Erziehung" 616 sein muß. Für Althaus kann und muß die Kirche das Volkstum innerlich stärken, reinigen und bewahren vor einer „nationalen Abgötterei" 617 und ihm mit „prophetischem Geist" 618 den „immer neuen Willen Gottes" deuten.
c. Völkerindividualitäten als Lebenswirklichkeit der Geschichte Religiös qualifiziert und legitimiert wurde das Volkstum aber nicht nur aus der Perspektive des individuellen Erlebens, sondern auch aus der Perspektive theologischer Geschichtsdeutung. In ihr erscheinen die Völker - so Wendland in Aufnahme des Rankeschen Diktums - als „Gedanken Gottes", als „Glie609
F. BRUNSTÄD, I d e e , S. 2 0 4 .
610
P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 212.
611
P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S. 50.
612
P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 213. 613 H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 613. 614 Vgl. P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 209. 615 Ebd., S. 215; vgl. H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 78; E. HIRSCH, Staat und Kirche, S. 50 f. 616 H . - D . WENDLAND, Geist der Erziehung, S. 223; DERS., Volk und Gott, S. 67. 617 P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 210. 618 H . - D . WENDLAND, Geist der Erziehung, S. 216; vgl. P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 38.
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
der der von Gott gewollten Schöpfungsordnung"619. Sie werden als metaphysische, individuelle Wesenheiten und Totalitäten hypostasiert, denen ein idealer sozialer Konsens innewohnen soll. Theologisch gedeutet werden sie als eine von der Heilsoffenbarung zu unterscheidende Pluralität von Manifestationen des göttlichen Geistes. Sofern hier der je besondere kulturell-politische Weg der Völker theologisch überhöht wird, läßt sich die Vorstellung einer von der Christusoffenbarung zu unterscheidenden Mannigfaltigkeit von Geschichtsoffenbarungen als theologischer Ausdruck der Sonderwegsideologie begreifen. Völker werden zu den eigentlichen, je individuell geprägten Subjekten des politischen Geschehens, aus deren Zusammenspiel sich die „Lebenswirklichkeit der Geschichte"620 bildet. Für Holl ist es „Gott, der die einen Völker natürlich wachsen, die anderen abnehmen läßt, wie Gott es ist, der den einzelnen wie den Völkern die Gaben verschieden austeilt, die einen befähigt, Schwierigkeiten zu meistern, an denen die anderen zugrundegehen." Geschichte ist nach diesem Verständnis ein Kampfplatz, auf dem Völker um ihre Existenzmöglichkeit und ihr Existenzrecht ringen müssen. „Denn die Völker sind nicht, wie die Sozialdemokraten und die Friedensfreunde es sich immer noch vorstellen, etwas ein für allemal Gegebenes"621. In nahezu gleichlautender Weise charakterisiert Althaus Geschichte: „Die Lebendigkeit der Geschichte aber besteht darin, daß Völker sich erfassen und verlieren, sich aufraffen und sich preisgeben, ihre Kraft einsetzen und ihre Kraft ausleben, jung sind und altern, ihren Tag beginnen"622. Die je individuelle Eigenart eines Volkes erscheint den Theologen als „eine besondere Ausprägung göttlichen Schöpferwillens"623; Althaus spricht vom „Beruf", der jedem Volk gegeben sei. Dabei gebe es „Völker, die den Beruf zum Führertum an der Stirne tragen, und andere, die ihn nicht haben"624. Die Erfassung des jeweilige „Berufs" eines Volkes entziehe sich aber in den unergründlichen Tiefen geschichtlichen Werdens aller rationalen Analyse. Nach Althaus muß jedes Volk im „Fragen, Horchen, Tasten, Gehorchen ... seinen Weg gehen"625. Für Hirsch ist Geschichte „ein unberechenbarer individueller Lebensprozeß", dessen innerer Zusammenhang allein im „dem Menschengeist verborgenen Rat" Gottes erahnt werden könne. Alles Handeln in der Geschichte hat für ihn daher immer den Charakter des Wagnisses: „Wir haben es nicht in der Hand, die Art zu bestimmen, in der wir dem großen geschichtlichen Werden als Glieder einverleibt (!) werden"626. So weist dieses 619
H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 6.
620
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S. 107.
621
K. HOLL, Luthers Anschauung, S. 162.
622
P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S. 40. F. BRUNSTÄD, I d e e , S. 203. P. ALTHAUS, S t a a t s g e d a n k e , S. 40.
623
624
625 626
Ebd., S. 41; vgl. E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 116. E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 35.
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
253
Geschichtsverständnis eine Affinität zum zeitgenössischen politisch-philosophischen Dezisionismus 627 auf. Das Pathos des Mutes zur rational uneinholbaren, individuellen Entscheidung tritt auch bei Brunstäd zu Tage. Für ihn bleibt in allem politischen Handeln ein „letzte(r) Sprung ... wir können das dunkle Schicksal nur mit dem Gewissen im Wagnis gläubiger Entscheidung für das, was wir sollen, deuten, fassen gestalten" 628 . Als letztes, aber legitimes Mittel für das Messen der Kräfte der Völker, als Ansporn zur Steigerung der „Wertanspannung"629 und für die Klärung der Frage, welchem Volk mit Recht eine Führungsrolle zukomme, gilt den Theologen der Krieg. Für Holl ist der Krieg „etwas Unvermeidliches. Es ist keine Gerechtigkeit, daß ein absterbendes Volk weite Räume innehat, während ein jugendkräftiges in engen Grenzen verkümmern soll" 630 . Hirsch sieht im Krieg ein „notwendiges Stück der göttlichen Schöpfungsordnung" 631 , und Brunstäd deutet ihn als „ein Stück göttlicher Weltordnung" 632 . Die theologische Volks- und Geschichtsmetaphysik endet in sozialdarwinistisch anmutenden Gedanken. Mit Brunstäds Erläuterungen läßt sich diese Geschichtsschau zusammenfassen: „Wachstum ringt sich im Kampfe durch, das ist ein Gesetz aller Natur, ein Stück Schöpfungsordnung ... Jedes Volk hat sein besonderes Recht in seiner besonderen Aufgabe und Berufung als lebendige Individualität ... Das Ringen der Völker um Lebensrecht und Beruf ist so die Lebendigkeit der Geschichte. Und die Deutung ihres Berufes kann zu Gegensatz und Widerstreit führen, der sich im offenen Kampf des Krieges entlädt" 633 .
d. Vom Volk zur Nation - die Aufgabe des organischen Staates Die Uberzeugung, daß Völker nichts natürlich und unvergänglich Gegebenes seien, ebenso wie die Rede vom „Beruf" des Volkes, den Aufgaben, die ein Volk zu erfüllen habe, zeigen an, daß die theologische Volkstumsmetaphysik durchzogen ist von einer Spannung zwischen normativen Postulaten und Beschreibungen von angeblich Gegebenem. Wie in der Integrationslehre läßt sich in ihr ein Schillern zwischen Sein und Seinsollendem erkennen. Einerseits wird unterstellt, dem Volk als überindividueller Ganzheit sei ein 6 2 7 Zum Dezisionismus in den zwanziger Jahren vgl. vor allem C . GRAF VON KROCKOW, Die Entscheidung. 628
F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S . 6 2 1 .
F. BRUNSTÄD, Idee, S. 203; vgl. DERS., Deutschland, S. 107 f. 6 3 0 K . HOLL, Luthers Anschauung, S. 162. 631 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 95, DERS., Liebe zum Vaterland, S. 28. 6 3 2 F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 107; DERS., Idee, S. 203; P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 40 f.; H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 71. 6 3 3 F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 64. Zur sozialdarwinistischen Geschichtsinterpretation 629
v g l . Β . FAULENBACH, I d e o l o g i e , S . 16 f .
254
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Ensemble von geschichtlich vorgegebenen, von allen anerkannten Traditionen und Werten, von sozialen und politischen Strukturen immanent, andererseits wird all dies als erst noch zu Verwirklichendes gefordert. Diese Spannung von Gegebenem und Aufgegebenem wurde formuliert mittels der Unterscheidung von „Volkstum" und „Volkheit" bzw. „Nation", wobei, unter dem Vorzeichen einer alle Lebensdimensionen moralisierenden Theologie, dem Seinsollenden, der Nation, noch eine herausgehobene, spezifisch religiöse Dignität zugesprochen wurde. Nach Althaus ist die „Volkheit", der die Volksglieder „unbedingte Treue" schulden, „nie gegeben". Sie ist „niemals das, was ist, sondern das, was werden soll, die Norm ... Volkheit ist der Wille Gottes über ein Volk. Wenn ein Volk sich vor dem unbedingten heiligen Herrn besinnt, dann leuchtet seine Volkheit auf, seine Sendung, seine Idee, als Synthesis des ewigen Gotteswillens über allem Menschentum und der besonderen Volksart" 634 . In gleicher Weise verwendet Wendland den Begriff „Volkheit". Dieser bezeichne die „Idee vom Wesen des Volkes und seiner Sendung im Gesamtwerden der Menschheit", die nur von „der religiösen Gotteserkenntnis aus" 635 begriffen werden könne. „Volkheit" setzt also immer schon jene theologische Gesamtperspektive voraus, in der die Geschichte von ihrem Ziel her, dem Reich Gottes, betrachtet werden kann. Brunstäd erläutert diesen Zusammenhang zwischen Gegebenem und Aufgegebenem durch den Vergleich mit der Persönlichkeitsbildung: „Wie der einzelne Mensch seine natürliche Individualität mit allem, was darin verborgen als Gabe und Aufgabe eingeschlossen ist, in seinem Leben gläubig und tätig zur Persönlichkeit gestaltet, so bildet und entfaltet sich ein Volk in seiner Geschichte zur Nation" 6 3 6 . Die Nation ist jene „überpositive Ordnung", jener Träger von substantieller Verbindlichkeit, an der sich alles politische Handeln als seiner normativen Grundlage zu orientieren hat und deren Verpflichtungsgehalt zugleich, wie auf der Ebene der individuellen Erfahrung, eine Brückenfunktion für die Wahrnehmung der religiösen Tiefendimension der Geschichte hat, die das abstrakte, rationalistische und individualistische Denken nie erfassen kann. Die Nation ist nach Brunstäd der „innere Wertgrund in der Verbundenheit des Volkstums, der Inbegriff von Werten und Idealen, die ihm in seinen Anlagen aufgegeben sind und ihm den Weg zum Ewigen weisen. Indem es diese in seinen Anlagen ihm aufgegebenen Werte und Ideale erfüllt und sich zum Ewigen bildet, der darin ergehenden Berufung zum Ewigen nachlebt, wird es Nation. Die Nation ist das Volk als Aufgabe" 637 . P. ALTHAUS, Kirche und Volkstum, S. 207; vgl. DERS., Staatsgedanke, S. 44 und 50. H . - D . WENDLAND, Volk und Gott, S. 69. 6 3 6 F. BRUNSTÄD, Weltanschauung, S. 59. 6 3 7 E b d . , S. 59; DERS., Deutschland, S. 101; DERS., IdeeS. 203. Z u m deutschen Nationalismus vgl. F. MEINECKE, Weltbürgertum und Nationalstaat. Zur Entwicklung des Nationalismus unter besonderer Berücksichtigung der protestantischen Kirchen im 19. Jahrhundert vgl. die aufgrund 634
635
Der Staat als „Wille des Volkes zur N a t i o n "
255
In Relation zu dieser Aufgabe der Nationwerdung definierten und legitimierten die genannten Theologen das deutsche Staatsideal, den „organischen Staat", als Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie 638 . In dieser Staatsauffassung spiegelt sich eine politische Geschichte, die über weite Strecken nationale Einheit zwar als kulturelle, aber nicht als staatlichpolitische kannte. Bildete sich in Frankreich das nationale Denken innerhalb eines bestehenden Staates, so wurde in Deutschland der Nationalismus zum wesentlichen Antrieb für einen zu schaffenden Staat. Im organischen Staatsideal bündeln sich zudem alle bisher beschriebenen Elemente, die Erfahrung der Kulturkrise mit ihrem angeblich zersetzenden Individualismus und amorphen Pluralismus, die Suche nach neuer Bindung und der Integration von nationaler Kultur, Sittlichkeit und lutherischem Gewissensglauben, sowie die Sehnsucht nach neuer sozialer Harmonie, derzufolge alle Glieder eines Volkes fähig sein sollen, auf dem Fundament einer gemeinsamen Tradition und eines Wertkonsenses in einer sinnvollen, je unterschiedlichen Weise zum Wohl des Ganzen zusammenzuwirken. Für Holl bildete sich auf der Grundlage lutherischen Denkens „unsere deutsche, die sogenannte organische Staatsauffassung" 639 . In ihr werde der Staat nicht nur als Rechtsstaat, sondern als „Kulturstaat" verstanden, als „das dem Einzelwillen Uebergeordnete, eine Stiftung, das für alle Bestrebungen des Volkes Richtunggebende" 640 , dem es obliege, die überindividuellen Güter des Volkes zu erhalten und weiterzubilden. Althaus spricht vom „organischaristokratischen Staatsideal", das es, als „tief in der deutschen Geschichte und deutschem ständischen Denken" begründet, zu verwirklichen gelte641. Brunstäd versteht unter Staat „die Selbstzucht des Volkes", den „lebendige(n) ihres Materialreichtums immer noch interessante Studie von R . WITTRAM, Nationalismus und Säkularisation. Zur Interpretation des Nationalismus im Kontext modernisierungstheoretischer Ansätze vgl. R . M. BERDAHL, Nationalismus in neuer Sicht. Uber den Funktionswandel des N a tionalismus von einer einst aus den Gedanken der französischen Revolution hervorgegangenen säkularen Massenmobilisierungsideologie zu einer Integrationsideologie des konservativen Bürgertums vgl. Η . A . WINKLER, Nationalismus und P. ALTER, Nationalismus. Zur Funktion des N a tionalismus auch VON KROCKOW, Nationalismus: „Egalisierung, Solidarisierung und Aktivierung bezeichnen den einen subjektiven Pol eines dialektisch vermittelten Prozesses, der seit Beginn der Neuzeit in Gang gekommen ist und den man ... als Prozeß der fortschreitenden Fundamentalpolitisierung bezeichnen könnte. Den anderen, objektiven Pol dieses Prozesses bezeichnet, sozio-ökonomisch gesehen, die sich vorbereitende und vollziehende Industrialisierung" (S. 21). „Der Vorgang der Fundamentalpolitisierung aber macht verständlich, ja als Notwendigkeit sichtbar, daß die von der Politik erfaßten Menschen zugleich in das jeweilige politische Handlungsgefüge einbezogen, daß sie politisch .integriert' werden. Nationalismus als Egalisierung, Solidarisierung und Aktivierung ist ein Instrument solcher Integration" (S. 23). P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 49. K . HOLL, Luther und die Schwärmer, S. 466. 6 4 0 K . HOLL, Kulturbedeutung der Reformation, S. 484; vgl. E. HIRSCH, Reich-Gottes-Begriffe, S. 24. 641 P. ALTHAUS, Religiöser Sozialismus, S. 49. 638
639
256
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Wille(n) eines Volkes zur Nation" 642 . Vorrangige Aufgabe des Staates sei die Pflege der nationalen Kultur. Er sei „unbeirrbarer Wille zur Wertverwirklichung" 643 . Er dürfe nicht als „Erzeugnis der Individuen" verstanden werden, sondern als ein „überindividuelles selbständiges Ganzes von eigener Lebenskraft und eigenem Lebensgrund", eine „Gesamtpersönlichkeit, die in unserer inneren persönlichen und sittlichen Bestimmtheit ihre Wirksamkeit hat" 644 und deshalb die Volksglieder zur organischen Gemeinschaft zusammenfassen könne 645 . Mittels des Volksgeistes, an den sowohl der Staat als auch die Individuen gebunden sein sollen, entsteht nach Brunstäd eine innere Ubereinstimmung zwischen individuellen Interessen und staatlichem Handeln: „Der einzelne gehorcht in ihm (dem Staat) nicht einem fremden Willen, sondern seiner eigensten inneren Bestimmung" 646 . Aufgrund der Rückbindung des Staates an das Volkstum beansprucht Brunstäd für dieses Staatsideal, es sei eine Verwirklichung von „konservative(r) Demokratie". Diese sei zu verstehen als „die Selbsttätigkeit aller in der Verwirklichung des Guten und der Werte überhaupt. Sie ist... Heranbildung der Volksgenossen zum Staat, Herauswachsen des Staates aus dem Volkstume"647. Für Wendland hat der Staat eine „Gehorsam heischende Hoheit" und „sittliche Würde" als „in der Geschichte wirkender Ordnungswille Gottes" 648 . Dieses Ordnungsdenken ist aber nicht traditionalistisch und rückwärtsgewandt. Der Staat repräsentiere den „Gedanken der Zukunft des Volkes, sein Ziel, sein Idealbild von sich selbst, in dem es (das Volk) seine Erfüllung sucht und findet" 649 . Auch bei Wendland trägt das Staatsverständnis moralisierende Züge und wird dem Volk ein eigener Wille zugesprochen: Es „will ... Staat werden und sieht in seiner Idee das letzte Ziel: Gemeinschaft und Wirklichkeit sittlichen Geistes als Formung und Gestalt des Volkes" 650 . Aufgrund der im Dienste der Verwirklichung von Sittlichkeit stehenden Verbindung von Volk und Staat habe letzterer auch „das Recht... seine Glieder zu erziehen" 651 . Für Hirsch erhält erst durch den Staat „das nationale Leben Festigkeit und Gestalt, bekommt das Volk einen Willen". Zur Kennzeichnung seines Staatsverständnisses, das er von einem „gewaltigen sittlichen Ernst" durchwaltet sieht, nimmt er die Definition Treitschkes auf: „Der Staat ist das als unabhängige Macht rechtlich geeinte Volk" 652 . Dieser Staat, der „aus eigener Kraft und mit vollkommener Selbst642
F. BRUNSTÄD, Idee, S. 204; D E R S . , Deutschland, S. 102. F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 103; D E R S . , Weltanschauung, S. 60. 644 Idee, S. 205, Staatsideen, S. 13. 645 Deutschland, S. 98. 646 Ebd., S. 117. 647 Staatsideen, S. 23. 648 H . - D . W E N D L A N D , Staatsgedanke, S. 7. 649 Geist der Erziehung, S. 223. 650 Volk und Gott, S. 69. 651 Geist der Erziehung, S. 223. 652 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 82; DERS., Geistige Lage, S. 62. 643
Der Staat als „Wille des Volkes zur Nation"
257
herrlichkeit sein Dasein hat und bildet" 653 , muß nach Hirsch so eingerichtet sein, „daß seine Lebensnotwendigkeiten sichergestellt sind auch gegen widerstrebenden Willen und mangelndes Pflichtbewußtsein bei seinen Bürgern" 654 . Dieser Staat könne nicht mehr nur „bloße Resultante der zusammenwirkenden Einzelwillen" sein. Er wird für Hirsch zu einer „dem einzelnen gehorsamheischend gegenübertretenden unabhängigen Ordnung des Ganzen" 655 . Er erscheint ihm „als lebendiges Wesen, als eine große Individualität neben anderen Individualitäten, ... als ein reicher und vielseitiger Organismus von bestimmtem Charakter" 656 . Er sei einer „Persönlichkeit" vergleichbar, da er „einen individuellen Gehalt und einen autonomen Willen" habe, der entscheidend durch den Volksgeist bestimmt sei. „Staatseinheit" ist deshalb für Hirsch „ohne Nationaleinheit nicht denkbar" 657 . Diese Durchdringung des Staates mit dem nationalen Geist ermöglicht nach Hirsch die entscheidende Integration zu einem starken einheitlichen politischen Wollen. Durch die „Verinnerlichung des Zwanges" mittels der nationalen Gesinnung höre der Staat auf, „reine Zwangsgewalt" zu sein und werde zu einer „freiwillig bejahte(n) Lebensgemeinschaft" 658 . In der Stärkung der inneren Bindungskräfte durch den religiös vertieften Volkstumsglauben liegt auch für Brunstäd die entscheidende Stärke des nationalen Kulturstaates. Er habe „eine Wertgrundlage, durch welche Menschen in der Wurzel eigenen Lebens verbunden sind, in der volkstümlich nationalen Kultur" 659 . Alle Macht des Staates sei in dieser Verbundenheit begründet, die die Bereitschaft zur Hingabe an das Ganze in den einzelnen wecke. Der Rekurs auf die Verbundenheit in der nationalen Kultur hat in diesem Staatsideal zugleich eine sozialintegrative Funktion. Im Nationalstaat sind für Hirsch alle durch eine „Gemeinschaft der Zwecke" verbunden, in der er das entscheidende Remedium für die sozialen Unterschiede sieht: „Ob Herr oder Diener, ob Unternehmer oder Arbeiter, ob Mann ob Weib, ob nah ob fern - und wenn es das noch gäbe, müßte man noch hinzufügen: ob König oder Untertan - , als Glieder eines Staats, als Deutsche haben wir nur eine Ehre und eine Schande". Das in der Liebe zum Vaterland wurzelnde Staatsbewußtsein schaffe eine „wirkliche Einheit des Lebens" 660 , die alle Klassenspaltung überwinde. Für dieses von Holl, Hirsch, Brunstäd, Wendland und Althaus propagierte Staatsideal sind drei Merkmale besonders kennzeichnend. Erstens wird der 653
Deutschlands Schicksal, S. 84. Ebd., S. 83. 655 Reich-Gottes-Begriffe, S. 23. 656 Deutschlands Schicksal, S. 79. 657 Ebd., S. 80. 658 Ebd., S. 81; vgl. S. 125. 654
659
F. BRUNSTÄD, W e l t a n s c h a u u n g , S. 6 2 .
660
E. HIRSCH, Liebe zum Vaterland, S . l l .
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Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
Staat zu einem gegenüber den Individuen eigenständigen Wesen hypostasiert, dem selbst eine geschichtlich gewachsene, individuelle Prägung zu eigen sei. Dementsprechend soll seine Legitimität nicht aus der Anerkennung durch die Bürger resultieren, sondern in der mit dem Volk immer schon gegebenen Substanz liegen. Zweites Merkmal dieses Staatsverständnisses ist eine extensive Staatszielbestimmung. Der Staat soll durch das Recht nicht nur die äußere Sphäre menschlichen Zusammenlebens regeln. Sein legitimer Aufgabenbereich soll auch das Innere, die Gesinnung der Volksglieder umfassen. Er wird zum Subjekt von Prozessen der Erziehung und Verwirklichung von Sittlichkeit, Einheit und organischer Gemeinschaft sowie zum Träger von nationalen Kulturgütern erhoben. Der Heraushebung der Selbständigkeit des Staates korrespondiert drittens die Betonung, daß jeder einzelne innerlich an diesen Staat gebunden sei, durch die sittliche, national-kulturfördernde Bestimmheit des staatlichen Handelns. Durch die Theologisierung des Staatsund Volksdenkens werden die Verbindlichkeitsforderungen des Politischen gesteigert zum Anspruch auf gesinnungsmäßige, innere Vergemeinschaftung. Jede Abweichung vom sittlich-nationalen Wertkonsens muß aus dieser Perspektive immer schon als moralisch illegitim und verwerflich erscheinen. Im Vergleich mit einem solchen moralisierenden Grundzug hat die Orientierung an einer Verfassung als positiver Rechtsordnung in diesem Staatsverständnis allenfalls noch eine beiläufige Bedeutung.
7. Verfassungspolitische
Optionen
So sehr Holl, Althaus, Brunstäd, Hirsch und Wendland von ,dem Staat' sprachen und das Leitideal eines neuen nationalen Kulturstaates theologisch zu begründen versuchten, so sehr waren sie darin zugleich implizit Kritiker der parlamentarischen Demokratie von Weimar. Im Unterschied zur Staatsrechtslehre der Zeit ist in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre zwar keine explizite Verfassungsdebatte geführt worden. Aber daß ihr Ideal des nationalen Kulturstaates notwendig verfassungspolitische Optionen beinhaltete, die auf eine Revision der tragenden Elemente der Weimarer Reichsverfassung von 1919 hinausliefen, wurde von den genannten Theologen selbst betont. Sie erarbeiteten allerdings keine ins Detail gehenden Entwürfe für eine Alternatiwerfassung des Reiches. Hinsichtlich der Antwort auf die Frage, wie denn die große Idee des nationalen Kulturstaates praktisch funktionieren soll, in welchen konkreten Verfassungsstrukturen und Regelungsmechanismen dieses Ideal zu realisieren sei, begnügten sich die Theologen mit - im Verhältnis zu Intensität und Umfang der Fundamentalkritik der parlamentarischen Demokratie - wenigen Anmerkungen. Die Pflege der rechten Staatsgesinnung war ihnen „wichtiger als alle Einzelfragen" 661 . 661
E . HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 151.
Verfassungspolitische Optionen
259
Die Grundtendenz der verfassungspolitischen Zielvorstellungen sprach Hirsch schon 1921 klar aus: Das Ziel müsse „die Errichtung einer strafferen Staatsverfassung"662 sein. Diese Straffung sollte auf der Ebene der Gesinnung durch ein „tieferes Verständnis der Freiheit" 663 erfolgen, einer Freiheit, die nicht Rechte für sich beanspruche, sondern primär als Ermöglichungsgrund der Erfüllung von Pflichten zu begreifen sei. Zur Einübung in solches Pflichtbewußtsein forderte Hirsch für die Jugend ein „Reichsarbeitsjahr ... als Schule der Staatsgesinnung" 664 . Fehle das tiefere Verständnis der Freiheit, so seien staatliche Zwangsmaßnahmen gerechtfertigt als ein Mittel, dem Individuum auf den rechten Weg zur Persönlichkeitswerdung zu verhelfen665. Neben Erziehungsmaßnahmen sollte die Stärkung der Staatsautorität auch dadurch erfolgen, daß die für die Weimarer Reichsverfassung zentrale Rechtsgleichheit der Bürger wieder aufgegeben werden sollte. Nach Brunstäd wirken in der organischen Volksgemeinschaft die Menschen gerade durch ihre „Verschiedenheit" und „Ungleichheit ... zum Ganzen" 6 6 6 zusammen. Der „Idee der Gerechtigkeit" entspreche es mehr, wenn jeder eine seinen Gaben und Fähigkeiten gemäße politisch-soziale Stellung einnehme667. An die Stelle der abstrakt numerischen Gleichheit solle deshalb die „Gliederung des Volkes auf ständischer Grundlage" 668 treten. Nach Hirsch soll im neuen Staatsverständnis die „Rechtsgleichheit im Sinne des 19. Jahrhunderts" aufgehoben werden und an ihre Stelle die „Ungleichheitsgerechtigkeit" treten. Auf allen Lebensgebieten müsse eine Ordnung geschaffen werden, „welche auf Auslese der Tüchtigen geht" 669 . Die anvisierte neue Ordnung sollte auch das Verhältnis von Staat und Wirtschaft neu regeln. Hirsch betonte, mit dem neuen Staatsideal müsse die „Uberwindung des Kapitalismus" durch einen „Staatssozialismus" 670 erfolgen. Der Staat habe „die wirtschaftlichen Großgewalten unter seine Aufsicht zu nehmen und ihnen für ihre Tätigkeit Vorschriften (zu) machen" 671 . Ebenso forderte Brunstäd einen „Primat des Staates als des Hüters und Ordners des kulturell-nationalen Lebensganzen über die Wirtschaft" 672 . Hirsch bedauerte ausdrücklich, daß die Stärkung der Staatsautorität nicht „durch Rückkehr zur deutschesten aller Staatsformen, zur Monarchie" 673 , 662
Ebd., S. 151.
663
F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 19.
664
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 151.
665
Vgl. F. BRUNSTÄD, Staatsideen, S. 19.
Ebd., S. 20. Deutschland, S. 113. 668 Ebd., S. 120. 6 6 9 E. HIRSCH, Geistige Lage, S. 63. 670 Deutschlands Schicksal, S. 124. 671 Ebd., S. 123. 666 667
672
F. BRUNSTÄD, Deutschland, S. 3 4 0 ;
673
E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 149.
260
Der nationale Kulturstaat als Leitideal lutherischer Theologen
geschehen könne. Auch Brunstäd votierte für die „Staatseinrichtung der Krone" 674 bzw. das „Volkskönigtum". Für ihn war das „Selbstherrschertum der Millionen Meyers und Schulzes... grundsätzlich nicht besser und tatsächlich je nachdem schlechter als das des absoluten Monarchen". Der Monarch soll nach Brunstäd „die überindividuelle Staatspersönlichkeit als solche" vertreten und „die staatliche Einheit über allem Parteileben" 675 repräsentieren. Als geeignetes Mittel zur Stärkung der Autorität des Staates erschien Brunstäd auch die „Bestellung der Regierung unabhängig vom Parlamente" 676 . Aufgrund des Festhaltens an der Fiktion der Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien, dessen materialer Gehalt über das in einer Verfassung Festgelegte hinausgehen soll, plädierten die Theologen für die Stärkung des sog. ,Ersatzkaisertums' in der Weimarer Verfassung. Es war wiederum Hirsch, der bereits 1921 die Grundtendenz der späteren verfassungspolitischen Entwicklung der Weimarer Republik vorwegnahm. Er forderte die „Mehrung der Rechte des Reichspräsidenten und des Reichswirtschaftsrates auf Kosten des Reichstages"677. 1932 begrüßte Hirsch die „Wendung zur Diktatur". Er sah in der „neue(n) Auslegung, die H . Brüning unsrer Verfassung mit dem § 48 gegeben hat" 678 , eine entscheidende Veränderung hin zur Stärkung der Staatsautorität. Die gleiche Option läßt sich auch bei Wendland erkennen. Er stimmte 1931 C. Schmitts Parlamentarismuskritik ausdrücklich zu und sah in den Forderungen, die Befugnisse des Reichspräsidenten mittels Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung zu erweitern, einen ersten Schritt hin auf die Stärkung des Staates679. Er erblickte darin eine legitime „antidemokratische" Diktatur, die nicht verglichen werden dürfe mit einer „cäsaristischen Diktatur" 680 . Mit der Befürwortung des Reichspräsidenten als dem eigentlichen Repräsentanten des Volkswillens bewegte sich das Staatsverständnis der genannten Theologen in Richtung auf die Bejahung eines ,charismatischen Führertums' als Alternative zu rationalen Formen der politischen Willensbildung und -ausübung. Da sowohl der „Beruf einer Nation" wie das „Ideal der Gerechtigkeit", an denen sich alles politische Handeln orientieren sollte, als „nichts objektiv Gegebenes" 681 betrachtet wurden, sahen sie die Notwendigkeit für ein verantwortliches, schöpferisches Führertum, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können 682 . Nach Althaus müssen sich in solch einem FühDeutschland, S . 122. Staatsideen, S. 25, 26; Weltanschauung, S. 65. 676 Deutschland, S. 125. 677 E. HIRSCH, Deutschlands Schicksal, S. 150. 678 Vom verborgenen Suverän, S. 9. 679 H . - D . W E N D L A N D , Demokratie und Diktatur, 680 Ebd., S. 231. 681 P. ALTHAUS, Staatsgedanke, S. 4 4 . 682 Ebd., S. 3 9 , 4 2 , 4 4 . 674
F . BRUNSTÄD,
675
S. 230.
Verfassungspolitische Optionen
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rer „ein tiefes Verstehen für die Anlage eines Volkes, für sein Schicksal und seine Kraft, verbinden mit dem wagenden Deuten der Geschichte und jeweiligen Lage. Historie, Divination, Prophetie sind beieinander. Das bleibt immer ein Irrationales" 6 8 3 . Führertum muß nach Brunstäd den Vorrang haben vor formalistischen, mit dem Majoritätsprinzip arbeitenden Entscheidungsverfahren. Das Verhältnis von Führer und Geführten stellt sich für Brunstäd folgendermaßen dar: „Nicht die Mehrheit schafft den Führer, sondern der Führer schafft mit Autorität die Mehrheit" 6 8 4 . Für Hirsch ist es „eine freie Gabe Gottes . . . " , daß „Führer und Volk zueinander finden"; die Staatslehre sah er herausgefordert dazu, „die Form des Führungsstaates geistig zu durchdringen" 6 8 5 . Die Stärkung staatlicher Autorität bedeutete für diese Theologen nicht, dem Staat eine schrankenlose Machtfülle zuzusprechen. Sie suchten gerade gegenüber der - aus ihrer Sicht - Willkür parlamentarischer Entscheidungen nach einer neuen Bindung der Staatsgewalt an sittliche Grundsätze, wie sie sie mit dem Volkstum gegeben sahen. Das Interesse an der Bindung des politischen Handelns an das „nationale Wertganze", als Alternative zur Volkssouveränität im Sinne der Weimarer Verfassung, führte Hirsch zur Vorstellung vom Volk als dem „verborgenen Suverän" (sie!), wie er sie 1932 in der Zeitschrift „Glaube und Volk" entfaltete. Dieses Verständnis des Souveräns steht nach Hirsch nicht in einfacher, inhaltlicher Kontinuität mit der Tradition evangelischen Staatsdenkens. Es beinhalte „eine innerlich völlig andere Stellung zur Regierung, als sie der evangelischen Staatslehre des 19. Jahrhunderts entsprochen" habe. Diese Veränderung sei ausgelöst worden durch die Einsicht, daß der Regierung „im neuen deutschen S t a a t . . . nicht mehr die Ehre der Obrigkeit.. gebührte", da sie jederzeit verfassungsgemäß abwählbar und veränderbar sei. Die „demokratisch verstandene Volkssuveränität" (sie!) ist für Hirsch nichts anderes als „ein karikierender Mißbrauch der wahren Dienstbarkeit des Staats am Volk und seiner Sendung" 6 8 6 . An die Stelle der Regierung als Obrigkeit sei im neuen evangelischen Staatsdenken die „Volkheit" als Substitut gerückt: „So haben wir im Verhältnis zur Volkheit eben das gefunden, was die Reformatoren an ihrer Beugung unter die Obrigkeit fanden: ein von Gott als dem Herrn der Geschichte gesetztes Dienstverhältnis, das uns in eine irdisch-geschichtliche Gemeinschaft leidend, gehorchend einfügt" 6 8 7 . Diese pathetischen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hirschs Lehre vom „verborgenen Suverän" letztlich dazu diente, den politisierenden Vertreter der,geistig-moralischen Elite' zu legitimieren, sich gegen die von einer dem Parlament verantwortlichen Regierung getroffenen 683
E b d . , S. 38.
684
F. BRUNSTÄD, D e u t s c h l a n d , S . 1 2 8 ; D E R S . , S t a a t s i d e e n , S . 2 8 f .
685
E . HIRSCH, Geistige Lage, S. 64/65. Vom verborgenen Suverän, S. 6. E b d . , S. 5.
686 687
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Entscheidungen zu stellen. Das Handeln des einzelnen im Staat soll nach Hirsch „unmittelbar" bestimmt werden „durch sein Gefordertsein zur Erfüllung des Lebens und der Sendung seines Volks" - wobei die nähere inhaltliche Bestimmung dieser Sendung offen bleibt. Das habe jeder einzelne, als „Deuter und Vollstrecker des Willens des verborgenen Suveräns", selbst in einem „Gewissensentscheid" zu prüfen. Das revolutionäre Potential, das in dieser Selbsternennung zum „Deuter und Vollstrecker" des Volkswillens liegt, hat Hirsch offen ausgesprochen. Schon 1921 verkündete er: „Es ist Unrecht, die Revolution in Bausch und Bogen zu verwerfen. Es kommt alles auf den Geist an, aus dem eine Revolution geboren ist" 688 . 1932, als der revolutionäre Geist von rechts wehte und stürmte, fühlte sich Hirsch bestätigt. Es sei nur „folgerecht" sich zu weigern, „die reformatorische Lehre von der Verwerflichkeit jeder Revolution zu wiederholen." Es gebe „im äußersten Fall ein Notrecht, gegebene Staatsformen zu zerbrechen, wenn es einen andern Weg, dem Volke zur Erfüllung seines Lebens und seiner Sendung zu helfen, nicht gibt" 689 . Hirschs Freund Tillich vermochte im „verborgenen Suverän" allerdings nur eine „mystische Realität" zu sehen. Und ablehnend attestierte er ihm, damit auf dem Boden des Luthertums „ein so uneingeschränktes, von allen objektiven Normen freies Revolutionsrecht" geschaffen zu haben, wie es „weder die altcalvinistische Lehre ... noch die sozialistische vom Klassencharakter des kapitalistischen Staates" 690 hervorgebracht habe.
688
Deutschlands Schicksal, S. 144. Vom verborgenen Suverän, S. 7. 690 P. TILLICH, Theologie des Kairos, S. 29. 689
ZUSAMMENFASSUNG: VON DER ,WERTSUBSTANZ' ZU EINER ETHIK DER RECHTSFORM
1. Die theologische Staatsethik von Repräsentanten des Luthertums wie Karl Holl, Emanuel Hirsch, Friedrich Brunstäd, Heinz-Dietrich Wendland und Paul Althaus stimmt mit der von von Erich Kaufmann, Günther Holstein, Julius Binder, Rudolf Smend, Hans Gerber, Gerhard Leibholz und Ernst Rudolf Huber entwickelten neuen Staatsrechtsmetaphysik der zwanziger Jahre zunächst in einer elementaren Voraussetzung überein: Die eigene Gegenwart wird als Zeit einer fundamentalen Krise all jener überkommenen ethischen Verbindlichkeiten erfahren, die als notwendige Bedingungen des Funktionierens des Gemeinwesens gelten. Folgt man der gängigen theologiegeschichtlichen Deutung der Krisistheologien der frühen zwanziger Jahre, dann steht diese Krisenerfahrung in einem engen Zusammenhang mit der Niederlage des deutschen Reiches im ersten Weltkrieg und der Revolution von 1918/19. Im Bewußtsein der Zeitgenossen ging es jedoch noch um mehr. Sie verstanden jene historische Zäsur, wie sie durch den Zusammenbruch der alten politischen Ordnung und die Konstitution der Weimarer Republik markiert wurde, gleichsam nur als die Außenseite einer Krise des geistigen Fundaments der modernen Kultur insgesamt. Im Prozeß der Rationalisierung bzw. der Ausdifferenzierung relativ autonomer Kultursphären habe sich die einst durch die unbestrittene Geltung der religiösen Tradition gestiftete homogene Wertbasis zunehmend zersetzt und in jene, Anarchie der Werte' aufgelöst, die für das Individuum den Verlust an eindeutiger ethischer Orientierung mit sich bringe. So wird die Krise der Gegenwart von den genannten Theologen und Juristen als Folge der Modernisierung und Industrialisierung gedeutet. 2. Die neue Staatsrechtsmetaphysik der zwanziger Jahre stimmt mit der lutherischen Ethik der Zeit aber nicht nur in der Krisendiagnostik überein. Konsens gibt es vielmehr auch bezüglich der Suche nach Auswegen aus der Krise. Hier wie dort sucht man nach Möglichkeiten, den für die moderne Kultur grundlegenden Pluralismus durch neue Homogenität zu überwinden. Diese Suche nach Ideen und Kräften, die eine neue sittlich-religiöse Gesamtintegration des Gemeinwesens bewerkstelligen sollen, vollzieht sich innerhalb eines gemeinsamen Orientierungsrahmens: der Annahme eines Gegensatzes von deutscher und westeuropäischer Sozialphilosophie, der damit verknüpften hohen Bewertung der lutherischen Tradition und der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus sowie der Abwendung von Liberalismus, Rationalismus und Aufklärung.
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Zusammenfassung
3. Die Orientierung an Traditionen der Gemeinwohlethik des Luthertums zeigt sich vor allem darin, daß sowohl bei den genannten Staatsrechtslehrern als auch bei den lutherischen Theologen der zwanziger Jahre der Staat als entscheidender Träger der Gesamtkultur gilt. Sie teilen ein extensives Staatsverständnis, in dem der Staat weniger unter Bezugnahme auf positives Recht und gegebene Verfassung, die Weimarer Reichsverfassung vom August 1919, sondern vor allem durch die Relation zur geschichtlich gewachsenen Substanz nationaler Kultur definiert wird. Vorrangiger Staatszweck soll nicht die Verwirklichung des liberalen Rechtstaates, sondern die Pflege der nationalen Kultur sein. Dieses Staatsverständnis beinhaltet nicht nur eine weitgehende Ablehnung der für den Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung typischen Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft. Indem der Staat zum Hüter des Gemeinwohls erklärt wird, ist vielmehr schon im Zentrum des Staatsverständnisses auch eine radikale Kritik eines weltanschaulichen und ethische Grundüberzeugungen betreffenden Pluralismus impliziert. Notwendig muß deshalb auch die parlamentarische Demokratie abgelehnt werden: Denn das Parlament gilt als Inbegriff jenes bürgerlich-liberalen, individualistischen und rationalistischen Geistes, der als Ursache der Krise diagnostiziert wird. 4. Die Orientierung an Traditionen des Luthertums bringt es zwar mit sich, daß in Theologie und Staatsrechtswissenschaft von Recht und Ordnung mit hohem Pathos gesprochen wird. Doch spielt man dabei zugleich den materialen Wertgehalt des Rechts im Sinne von, Gerechtigkeit' gegen die,bloße' Formalität positiven Rechts aus. Diese Abwertung des formalen Rechts und der gegebenen Verfassung ist die Kehrseite des Bemühens, eine neue Integration des Gemeinwesens durch Gemeinschaftswerte zu erzeugen. Gesucht wird deshalb nach stärkeren Integrationsfaktoren als Verfassung und formalem Recht: Moral, Gesinnung, unbedingtes Verantwortungsgefühl, gemeinsamer Geist, gemeinsame Werte in Gestalt der nationalen Tradition sollen als Gegenmittel gegen die sozialen Spannungen und zentrifugalen Kräfte in einer ausdifferenzierten Gesellschaft wirken. Dementsprechend konvergieren Theologen und Staatsrechtler in der Betonung der sittlichen Grundlagen des Politischen. Das ethische Pathos der Verwirklichung von Gerechtigkeit, ideeller Richtigkeit des Rechts, das Bewußtsein, auch in der Gestaltung der politischen Ordnung einen ,Dienst an ewigen Werten' zu vollbringen, kennzeichnet die Diskussionslage. Dieses moralisierende Staatsdenken ist mit einer Abwehr von dualistischen Verhältnisbestimmungen verbunden. Gesucht wird gerade die direkte Verbindung von Politik und Sittlichkeit, welche weitgehend ohne Rekurs auf die vermittelnden Regelungen von Recht und Verfassung erfolgt. Juristen und Theologen stimmen in dem Interesse überein, die Dualismen von Innerlichkeit des Gewissens und äußerer politischer Ordnung, Person und Beruf, Privatmoral und Amtsmoral, Legitimität und Legalität, Sittlichkeit und Macht sowie von Reich Gottes und Welt durch eine
Von der, Wertsubstanz' zu einer Ethik der Rechtsform
265
neue, politische Weltanschauung und Staatsgesinnung zu überwinden. An Stelle von Kompromissen sucht man neue weltanschauliche Eindeutigkeit. 5. Die Staatsrechtsmetaphysiker der zwanziger Jahre suchen Verbindlichkeit primär in Gestalt einer neuen Auslegung des Verfassungsbegriffs und hier insbesondere des Grundrechtsverständnisses: Die individuellen Schutzrechte des aufgeklärt-liberalen Grundrechtsdenkens werden zu substantiellen Gemeinschaftswerten umgedeutet, die das Individuum auf ,das Ganze' verpflichten. Innerhalb der lutherischen Theologie der zwanziger Jahre entspricht dem eine ,Grundwertedebatte'. Unter der Voraussetzung, die deutsche Kultur unterscheide sich von der Westeuropas wesentlich durch ihr lutherisches Erbe, verstehen sich lutherische Theologen wie Karl Holl, Reinhold Seeberg, Emanuel Hirsch, Paul Althaus und Heinz-Dietrich Wendland als Hermeneuten und Verwalter der sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens. Die besondere Aufgabe der Theologie im Organismus der Wissenschaften sehen sie darin, jene Werte, die durch die nationale Geschichte gegeben und aufgegeben sein sollen, als Legitimationsbasis für das politische System und als sachliche Integrationsfaktoren für die Volksgemeinschaft verbindlich auszulegen. Für den interdisziplinären Diskurs zwischen Staatsrechtswissenschaft und Theologie ist signifikant, daß dieses Selbstverständnis der Theologen von Juristen (und auch von Historikern) ausdrücklich bekräftigt worden ist. 6. In der Weimarer Staatsrechtswissenschaft wie in der lutherischen Theologie nach 1918/19 wird eine Debatte um die Legitimität der parlamentarischen Demokratie geführt, deren signifikantes Merkmal es ist, sich weitgehend abgekoppelt von der konkreten Verfassung und Rechtsordnung, als allgemeine Staatsdiskussion, zu vollziehen. Nicht der Erkenntnis der Legitimität der Legalität gilt das Interesse, sondern die Frage nach der Legalität wird ganz von der Frage nach der Legitimität aufgesogen. Die Legitimationsbasis wird jenseits der Gesellschaft und des sie kennzeichnenden Pluralismus im Uberindividuellen gesucht, im vermeintlich einheitlichen nationalen Wertganzen. Mit dem Volkstum .unterstellen Juristen und Theologen eine immer schon gegebene Bindung, die nicht willkürlich und künstlich gemacht, sondern als geschichtlich gewachsene und gottgewollte gegeben sein soll. 7. Theologen wie Juristen suchen in Gestalt des Volkstums eine „überpositive " Ordnung, in welcher der Individualismus und Relativismus grundsätzlich überwunden und so zugleich eine ethische Orientierung für das gesamte Gemeinwesen gewährleistet sein soll. Im Zentrum der Auslegung dieser Ordnung steht ein spezifisches Verständnis von Freiheit. Auf dem Hintergrund der Absage an den neuzeitlichen Subjektivismus', dessen zersetzende Kraft durch die ethische Kulturkrise offenbart worden sei, dienen Elemente der
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Zusammenfassung
religösen Tradition zur Stärkung eines romantisch inspirierten Verständnisses von ,freier Persönlichkeit'. Diese religiöse Interpretation menschlicher Freiheit zielt auf deren integrationalistische Neubestimmung. Die wahre Selbsterschließung des Subjekts soll gerade nicht zu Individualismus und Atomismus führen. Sie soll vielmehr die Einsicht ermöglichen, daß Freiheit sich in Bindung, Hingabe und Pflichterfüllung verwirklicht und Gemeinschaftsbezug einen konstitutiven Vorrang vor allen Rechten auf Selbständigkeit hat. Mit der Betonung der ,freien Persönlichkeit' intendieren die lutherischen Theologen aber keineswegs den quietistischen Rückzug in eine weltferne Innerlichkeit. Die theologische Interpretation des Verhältnisses von Selbstbezug und Situiertheit des Individuums in einem bestimmten historisch-sozialen Kontext dient gerade nicht einer Entpolitisierung des religiös-theologischen Freiheitsverständnisses, sondern zur Entdifferenzierung von Geltungsansprüchen äußerer Ordnungen und innerlicher Verbindlichkeit. Das Individuum soll auch noch in seinem Inneren sozialisiert und im Namen höchster ethischer Ideale vergemeinschaftet werden. Mit Hilfe der religiösen Tradition werden Individuum und Gemeinschaft so gleichgeschaltet, daß es kein politisch relevantes innerliches Jenseits' des Individuums gegenüber den ethischen Ansprüchen des politischen Gemeinwesens mehr geben kann. In dieser Gleichschaltung von Individuum und Gemeinschaft ist der Antipluralismus gleichsam ,ontologisch' verankert. Denn im Horizont dieser totalisierten Geltungsansprüche kann sich niemand mehr außerhalb der Gemeinschaft und der sie konstituierenden Wertbasis definieren, ohne als verantwortungslos und unsittlich zu gelten. 8. Die theologische Interpretation des Zusammenhanges von Religion, Sittlichkeit und Kultur führt zu einem monistischen Kulturverständnis, das Differenzen und Dissens nicht mehr zuläßt. Dementspechend wird der Staat als politische Ordnung mit der Aufgabe befrachtet, nicht nur einen geregelten Umgang mit Konflikten zu ermöglichen, sondern selbst zum Produzenten einer geistigen Einheitskultur zu werden, durch die Differenzen und Dissens zum Verschwinden gebracht werden können. Dieses Staatsverständnis beinhaltet notwendig eine entschiedene Kritik der parlamentarischen Demokratie von Weimar. Die Delegitimierung des gegebenen politischen Systems ist freilich nicht, wie oft behauptet, als Folge eines nur positivistischen Rechtsverständnisses zu deuten. Nicht eine ordnungstheologische Hypostasierung des positiven Rechts, sondern die mit hohem ethischen Pathos geführte Dauerdebatte um die Legitimität der Verfassungsordnung haben das Fundament der parlamentarischen Demokratie von Weimar unterhöhlt. Neue Staatsrechtsmetaphysik und lutherische Staatsethik der zwanziger Jahre stimmen gerade darin überein, die eigentliche Leistungskraft des vermeintlich nur Formalen, die Selbstbegrenzung in Hinblick auf substantielle weltanschauliche Wahrheiten, zu verkennen. Indem man nach eindeutigen
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substantiellen Werten für das Gemeinwesen gesucht hat, hat man die beklagte kulturelle Fragmentierung verstärkt, parteipolitische Interessengegensätze zu weltanschaulichen Fundamentalantagonismen dramatisiert und so gerade jene Fähigkeit zum pragmatischen Kompromiß moralisch diskreditiert, die der parlamentarisch-demokratische Staat immer schon in Anspruch nehmen muß, ohne sie selbst erzeugen zu können. Gerade das ethische Pathos hat es verhindert, die ethische Validität jener Konsensbildungsmechanismen zu erkennen, die in der Verfassung immer schon impliziert gewesen sind. Nicht das vermeintlich nur positivistische Festhalten am ,formalen' Charakter von Recht und Verfassung ist zur Bedrohung für die parlamentarische Demokratie geworden, sondern das Beschwören ethischer Ideale und überpositiver Werte.
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PERSONENREGISTER Die Namensnennungen ohne biographische Angaben beziehen sich auf allgemein bekannte Personen oder auf Autoren, die lediglich als Verfasser von Sekundärliteratur herangezogen werden. ACHTERBERG,
ALTER, Peter
Norbert
XIV
25.5
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APELT, Willibalt, * 18. 10. 1877, f 16. 6. 1965,
Jurist, o. Prof. Leipzig 1920-33, sächsischer Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident 1927-1929, o. Prof. München 1948 14, 22
BADEN, Prinz Max von 14 BADURA, Peter XXI, 124
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160
Wolfram 30,37,103,123 f. BAUMGARTEN, Otto, * 29. 1. 1858, f 21. 3. 1934, evangelischer Theologe, Privatdozent Berlin 1890, ao. Prof. Jena 1890, o. Prof. Kiel 1894, emeritiert 1926 29,179,191 BECHTHOLD, Hanmut 77 BELOW, Georg von, * 19. 1.1858,120. 1. 1927, Historiker, Privatdozent Königsberg 1888, ao. Prof. Königsberg 1889, o. Prof. Münster 1891, Marburg 1897, Tübingen 1901, Freiburg 1905 157, 162 BERDAHL, Robert M. 255 BAUER,
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rist, Privatdozent Würzburg 1898, ao. Prof. Rostock 1900, o. Prof. Erlangen 1903, Würzburg 1913, Göttingen 1919 110 f f , 126,169f., 175,192,194, 263 BIRKNER, Hans-Joachim 60,159
BISMARCK,
Otto von
BLAU, J o a c h i m
17, 240
39
Albert 136 Walter 213 BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang XIII f., 6, 13,17,136 BOEHMER, Gustav 164 BOLDT, Hans 3,24,179 BONHOEFFER, Dietrich, * 4. 2. 1906, f 9. 4. 1945, evangelischer Theologe, Privatdozent Berlin 1931, Pfarrer der Bekennenden Kirche 1933-1945, hingerichtet wegen Beteiligung am Widerstand gegen den Nationalsozialismus 151 BORN, Karl Erich 17 BLECKMANN, BODENSTEIN,
Heinrich, * 26. 6. 1901, f 21. 1. 1977, evangelischer Theologe, Privatdozent Tübingen 1925, o. Prof. Gießen 1927, Leipzig 1935, Heidelberg 1948 167, 213 BRACHER, Karl-Dietrich XX, 14, 66 BRAKELMANN, Günter 69 BREIPOHL, Renate 70 BRÜNING, Heinrich, * 26. 11. 1885, F 30. 3. 1970, Politiker, Reichskanzler 1930, Rücktritt 1932, Emigration in die USA und Prof. Harvard University 1934, Prof. Köln 1951, Rückkehr in die USA 1954 20, 59, 178, 260 BORNKAMM,
BRUHN, Wilhelm
111
Emil 151 BRUNSTÄD, Friedrich, * 22. 7. 1883, f 2. 11. 1944, evangelischer Theologe, Privatdozent Erlangen 1912, ao. Prof. für Philosophie Erlangen 1917, o. Prof. für Theologie Rostock 1925, zugleich Leiter der Evangelisch-sozialen Schule in Berlin-Spandau 19221934 60,68ff, 121,148,191,194,197f., 228 f f , 236ff, 263 BULTMANN, Rudolf, * 20. 8.1884, f 20.7.1976, evangelischer Theologe, Privatdozent Marburg 1912, ao. Prof. Breslau 1916, o. Prof. Gießen 1920, Marburg 1921, emeritiert 1951 65 BUSSMANN, Walter 20 BRUNNER,
Personenregister
CALVIN, J o h a n n e s 208, CASTANYE, J o s e p 191
285
GEYER, Hans Georg XI, 60 GIERE, Gustav 29,136
213f.
CRAEMER, R u d o l f , * 26. 5. 1903, f 14. 5. 1941,
Historiker, Privatdozent Königsberg 1932, Referent für Sozialgeschichte am Arbeitswissenschaftlichen Institut 1937, Entzug der Lehrbefugnis 1940 99,166
GIERKE, O t t o
109
GOGARTEN, F r i e d r i c h , * 13. 1. 1987, t 16. 10.
1967, evangelischer Theologe, Privatdozent Jena 1925, o. Prof. Breslau 1931, Göttingen 1935 62f., 66,148,150,151,191, 213 GRAF, Friedrich Wilhelm 29, 61, 65,158,199
DAHM, Karl-Wilhelm 190 DAHRENDORF, Ralf XI DIBELIUS, O t t o , * 15. 5. 1880, F 31. 1. 1967,
GRANER, R e n a t e 37 GREIFFENHAGEN, M a r t i n GRESCHAT, M a r t i n 160
evangelischer Theologe, Generalsuperintendent der Kurmark 1926, Bischof von Berlin 1945 000 DÖRING, Herbert 20,190 DOMBOIS, Hans, * 15. 10. 1907, Jurist, Mitarbeiter der Ev. Studiengemeinschaft Heidelberg^ IX, 99
GÜNTHER, Albrecht Erich, * 8. 1. 1893, F 29. 12. 1942, Schriftsteller, seit April 1926 Herausgeber des „Deutschen Volkstums" 99 GÜNTHER, Gerhard, * 29. 9. 1889, Schriftsteller, nach 1945 Leiter der Evangelischen Akademie Hamburg 99
DUCHROW, U l r i c h
HABERMAS, J ü r g e n 51 HARNACK, Adolf v o n 109 HASSELMANN, N i e l s XI HAUSER, R i c h a r d IX
Dux, Günter
XI f .
11
EBERT, F r i e d r i c h 15 EHMKE, H o r s t 9
ERDMANN, Karl Dietrich ERICKSEN, R o b e r t P.
XX, 65
47
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich 121,127,131, 201
70, 234
110,113 f.,
HELLER, H e r m a n n , * 17. 7. 1891, f 5. 11. 1933,
FAULENBACH, Bernd XVIII, 162 FICHTE, Johann Gottlieb 117,127, 223 FISCHER, Hermann 63,158 FOERSTER, E r i c h , * 4. 11. 1865, F 12. 10. 1945,
evangelischer Theologe, Pfarrer Hirschberg 1893, Deutsch-reformierte Gemeinde Franfurt/M. 1895, zugleich Honorarprofessor für Kirchengeschichte 1915 187 f f . FORSTHOFF, Ernst XV, 14,136 FRAENKEL, E r n s t
9, 23
FREYER, Hans, * 31. 7. 1887, Soziologe, o. Prof. Kiel 1922, Leipzig 1925, Gastprofessor Budapest 1938-1945, Ankara 1954/ 55, Münster 1955 163, 248 FRIEDRICH, Carl Joachim 6 f . FRIEDRICH, M a n f r e d 37 FRITZSCHE, K l a u s 47
GABLENTZ, Otto Heinrich von der GALL, L o t h a r
XVI
32
GERBER, H a n s , * 2 9 . 9 . 1 8 8 9 , F 1 6 . 1 0 . 1 9 8 1 , J u -
rist, Privatdozent Marburg 1923, ao. Prof. Marburg 1927, o. Prof. Tübingen 1929, Leipzig 1934, Freiburg 1941 111, 148, 152 f f , 174 f f , 190,194, 263 GERSTENBERGER, H e i d e GERSTENMAIER, E u g e n
67 69
Jurist, Prof. Berlin 1928, Frankfurt/M. 1932 4,8,10,39f., 87,125,134,, 179f., 204 HENNIS, W i l h e l m
XIV,
12
HENSEL, Albrecht, * 9. 2.1895, f 18. 10.1933, Jurist, Prof. Bonn 1923, Königsberg 1929, Pavia 1933 135,153 HERMELINK, H e i n r i c h HERMS, Eilert 220 HERODOT
161
60
HESSE, K o n r a d 3, 9,130 HINDENBURG, P a u l v o n 24
HINTZE, O t t o , * 27. 8.1861,125. 4. 1940, Historiker, Privatdozent Berlin 1895, ao. Prof. Berlin 1899, o. Prof. Berlin 1902, emeritiert 1921 123 HIPPEL, Ernst von, * 28. 9.1895, F 26. 9.1984, Jurist, Prof. Rostock 1929, Königsberg 1919, Köln 1940 111 HIRSCH, E m a n u a l , * 14. 6. 1888, f 17. 7. 1972,
evangelischer Theologe, Privatdozent Bonn 1915, o. Prof. Göttingen 1921, emeritiert 1945 XII, XVII, XVIII, 60, 68 f f , 111,129,148,160,192,194,197f., 2 0 4 f f , 220 f f , 231 f f , 263, 265 HITLER, A d o l f 168 HOBBES, T h o m a s 54 HÖLDERLIN, F r i e d r i c h
101
286
Personenregister
Heinrich, * 7. 5. 1874, f 12. 10. 1951, evangelischer Theologe, Privatdozent Leipzig 1905, o. Prof. Bern 1912, emeritiert 1944 158 HOFMANN, Hasso 51 HOLBORN, Hajo, * 18. 5. 1902, f 20. 6. 1969, Historiker, Privatdozent Heidelberg 1926, Berlin 1932, Prof. Yale University New Haven 1934 166 HOLD-FERNECK, Axel, * 10. 10. 1874, F 25. 1. 1955, Jurist, Privatdozent Wien, 1903, ao. Prof. ebd. 1912, o. Prof. ebd. 1922 106 HOLL, Karl, * 15. 5. 1866,f23. 5. 1926, evahgelischer Theologe, Privatdozent Berlin 1896, ao. Prof. Tübingen 1900, o. Prof. Berlin 1906 70, 99,160f., 169,194, 206ff., 213 ff, 231 ff, 263, 265 HOLSTEIN, Günther, * 22. 5. 1892, f 11· 11931, Jurist, Prof. Greifswald 1924, Kiel 1929 38, 107, 134 f . , 170 ff, 179, 194, 207, 263 HOFFMANN,
HONECKER, Martin IX, Χ, XIII Hsü, Dau-Lin 4 HUBER, Ernst Rudolf, * 8. 6. 1903, Jurist, Privatdozent Bonn 1931, o. Prof. Kiel 1933, Leipzig 1937, Straßburg 1941-1945, Freiburg 1952, Wilhelmshaven 1957, Göttingen 1962, emeritiert 1968 3,14, 27,136ff, 146, 151, 263
HUBER, W o l f g a n g HÜBINGER,
XI
Gangolf
JACKE, J o c h e n
39
XVI
Manfred IX, 190 JELLINEK, Georg, * 16. 6.1851, f 12. 1.1911, Jurist, Prof. Wien 1883, Basel 1889, Heidelberg 1891 3, 8,11,127 JELLINEK, Walther 15 JOACHIMSEN, Paul, * 12. 3. 1867, f 25. 1. 1930, Historiker, Prof. München 1915 165, 207 JACOBS,
KÄGI, Werner
10
Julius, ,!· 30. 9. 1848, f И. 9. 1926, evangelischer Theloge, Privatdozent Leipig 1873, ao. Prof. Basel 1873, o. Prof. Basel, 1881, Berlin 1883 200ff KANT, Immanuel 10,13,45 f . , 112 ff, 117,171, 217, 228, 230 KANTOROWICZ, Hermann, * 18. 11. 1877, F 12. 2. 1940, Jurist, Privatdozent Freiburg 1908, ao. Prof. Freiburg 1913, Gastprof. New York 1927, o. Prof. Kiel 1929 107 KAFTAN,
Erich, * 21. 9. 1880, f 5. 11.1972, Jurist, Prof. Königsberg 1913, Berlin 1917, Bonn 1920, Berlin 1934, nach der Emigration (Niederlande) München 1948 37, 40, 43 ff, 51, 57,103 f . , 188,192, 263 KELSEN, Hans, * 11. 10. 1881, F 19. 4. 1973, Prof. Wien 1917, Köln 1930, Emigration Genf 1932-40, Berkeley/California 19421952 41 f . , 87,123,179ff, 188,191, 204 KLEIN, Hans H. 136 KLEMPERER, Klemens von 67 KLUXEN, Kurt 23 К О С К А , Jürgen 24,162 KÖHLER, Walther XVIII KOLB, Erich 14,178 KRIELE, Martin XIV, 11,14,30 KROCKOW, Christian Graf von 9, 51, 66, 253, 255 KAUFMANN,
Richard, * 8. 3. 1884, f 2. 11. 1974, Philosoph, Prof. Freiburg 1919, Dresden 1924, Kiel 1919-1935, Emigration nach England 1938, New York 1941 121 KUHLMANN, Gerhardt 228 KUPISCH, Karl 67,160 KRONER,
Karl, * 23. 4. 1903, Jurist, Prof. Kiel 1933, München 1960 99,106,111,121, 194 LASALLE, Ferdinand 3 LEIBHOLZ, Gerhard, * 15. 11. 1901, f 19. 2. 1982, Jurist, Prof. Greifswald 1929, Göttingen 1931-1935, emigriert nach Großbritannien 1938, Prof. Oxford 1939-1946, Göttingen 1947, 1951-1971 Richter am Bundesverfassungsgericht Karlsruhe 107,136,143ff, 176,190, 263 LIETZMANN, Hans 99 LINK, Christoph XIII LARENZ,
LITT, T h e o d o r
126
138 LOEWENICH, Walther von LOEWENSTEIN, Karl 11
LOCKE,
John
LUDWIG X I V .
LÜBBE, H e r m a n n LUTHER,
Martin
159
94
XIX, 77
158,169ff,
205 ff, 213 f f .
Karl 47 Erich Martin, * 17. 11. 1861, f 22. 11. 1938, Historiker, Privatdozent Berlin 1887, o. Prof. Freiburg 1893, Leipzig 1894, Heidelberg 1901, Hamburg 1904, München 1914, Berlin 1922, emeritiert 1928 164
MANNHEIM, MARCKS,
Personenregister MARR, Heinz, * 6. 2. 1876, Soziologe, Privatdozent Frankfurt/M. 1924, Prof. ebd. 1926 199f. M A R X , Karl 82,235 M A Y E R , Hans 51,179 MEHLHAUSEN, Joachim XXI M E H N E R T , Gottfried XVI, 190 MEIER, Kurt
205
Jürgen 37,110,143 M E I N E C K E , Friedrich, * 30. 10. 1862, f 6. 2. 1954, Historiker, Privatdozent Berlin 1896, o. Prof. Straßburg 1901, Freiburg 1906, Berlin 1914, emeritiert 1928 20, 40,120f., 157, 164, 254 M O E L L E R VAN DEN B R U C K , Arthur, * 23. 5. 1876, f 30. 5. 1925, Schriftsteller 67
MEINCK,
MÖHLER, A r m i n
67
MOMMSEN ,
Wolfgang J . 24 MÜHLEN, Karl Heinz zur 2D M Ü L L E R , Christoph 37,3,186 MÜLLER, H a n s
69
MÜNZER, T h o m a s
Pois, Robert A. 190 POLSTER, Wilhelm 69 PREUSS, Hugo 15 f f . , 23 f f , 31, 95,181 PREUSS, Ulrich K .
70
208
MULERT, Hermann, * 11.1.1879, f 22. 7.1950, evangelischer Theologe, Privatdozent Kiel 1907, Halle 1909, Berlin 1912, ao. Prof. Kiel 1917, o. Prof. Kiel 1920, entlassen 1935, Lehrbeauftragter Leipzig 1948 194 f.
13
Alfred de, * 2 6 . 9 . 1 8 9 6 , | 3 0 . 1 0 . 1968, evangelischer Theologe, Dozent Elbenfeld 1935, emigriert 1938, Prof. Bern 1947 151,191
QUERVAIN,
Gustav, * 21. 11. 1878, f 23. 11. 1949, Jurist, Prof. Königsberg, Kiel, Heidelberg (1937-45), des Amtes enthoben, MdR 1920-24, Justizminister 1920/21 25 f., 40,179f., 204 RADE, Martin, * 4. 4. 1857, f 9. 4. 1940, evangelischer Theologe, Privatdozent Marburg 1900, ao. Prof. ebd. 1904, o. Prof. ebd. 1922, emeritiert 1928 187f., 195 f. RADBRUCH,
RANKE, Leopold von RATH,
MÜLLER, Hans Martin
287
Hans-Dieter
164, 225, 251
19,37, 51,143
RATHJE, C a r l - H e i n z REICHEL,
Peter
REIFNER, U d o
69
XI
143
Trutz XI, 6 f., 65,158 Klaus 43,107
RENDTORFF, RENNERT,
RIEDEL, Manfred
162
RINGER, Fritz К .
XX
Joachim 69 RITTER, Gerhard, * 6. 4. 1888, f 1. 7.1967, Historiker, Prof. Hamburg 1924, Freiburg 1927-1951 170,193, 207 RINGLEBEN,
Friedrich, * 25. 3. 1860, f 24. 8. 1919, evangelischer Theologe und Sozialpolitiker, MdR 1907-11 und 1914-18 27,137 N E U M A N N , Volker 51 NIPPERDEY, Thomas 18 NOWAK, Kurt XI, XVI, XXI, 65,190 NAUMANN,
RITTER, Gerhard A .
RITTER, Karl Bernhard ROTHE, Richard
23
99
201
Hubert R. 110 Hartmut 159,190
ROTTLEUTHNER, OERTZEN, OLIMART, PARSONS,
Peter von 163 Karl Edgar 248
Talcott
PAULS, T h e o d o r
SAINT-SIMON, C . d e
SASSE, H e r m a n n
Joachim 69 Detlev J . K . 29,32 PILATUS, Pontius 185 f. PIPER, Otto, *29.11.1891, F 13. 2.1982, evangelischer Theologe, Prof. Münster 1933, emigriert 1933, Gastprofessor Wales 1934, Princeton Theological Seminary 1938-194, don Prof. seit 1941 190,248 120
Helmuth
POHL, Heinrich
14,31
207
PEUKERT,
PLESSNER,
RÜRUP, Reinhard
X
PETZOLD,
PLATON
RUDDIES,
Χ, XII, 163
24 f .
235
61 f .
Dietrich, * 16. 5.1845, f 21. 1. 1929, Historiker, ao., Prof. Jena 1877, o. Prof. Breslau 1885, Tübingen 1888, Heidelberg 1896, Berlin 1903, emeritiert 1921 117,194 SCHAPIRO, J. Salwyn 32 SCHELLING, Friedrich Wilhelm Joseph 173 SCHEUNER, Ulrich XIII, 163 SCHIEDER, Theodor 32 SCHJ0RRING, Jens Holger 70 SCHLATTER, Adolf 213 f. SCHLEIERMACHER, Friedrich Daniel Ernst 173 SCHÄFER,
288
Personenregister
Wolfgang 39 Helmut XV SCHMITT, Carl, * 11. 7.1888,f9.5.1985, Jurist, Prof. Greifswald 1921, Bonn 1922, Köln 1932, Berlin 1933^5 XV, 3, 32, 41, 51 f f , 66,96,99,103,139,143,151,153,178,190ff, 211, 260 SCHNEIDER, Dorothea 69 SCHNEIDER-FLUME, Gunda 70 SCHOLDER, Klaus XXI, 66 SCHULZE, Hagen XIX, 23 SCHUMANN, Hans Gerhard 47 SCHLUCHTER, SCHMIDT,
SCHWAN, Alexander
66
Christian 234 SCHWIERSKOTT, Hans Joachim 67 SEEBERG, Reinhold, * 5.4.1835, f 23.10.1935, evangelischer Theologe, Privatdozent Dorpat 1885, o. Prof. Erlangen 1889, Berlin 1898, emeritiert 1927 6 8 f f , 90f., 109,197, 207, 265 SCHWARKE,
SMEND, Rudolf, * 15.1.1882, F 5. 7.1975, Jurist, Privatdozent Kiel 1908, ao. Prof. Greifswald 1909, o. Prof. Tübingen 1911, Bonn 1915, Berlin 1922, Göttingen 1935, emeritiert 1950 XIX, 4,37,40,59,91,104,123ff, 139,143,146 f f , 155,176ff, 181,188,190,192 SOMBART, Werner 199 SONTHEIMER, Kurt XVIII f., 5,37, 67,124 SPENGLER, Oswald 45, 62 STAFF, Ilse
39 f .
STAHL, Friedrich Julius STAPEL, Wilhelm
186
100
Horst XVII STIER-SOMLO, Fritz 24 STEPHAN,
STERN, Fritz STOLLEIS,
67
Michael
STROHM, T h e o d o r STROUP, J o h n 70 STÜRMER,
Michael
38,163 62
XX
THOMA, Richard, * 19. 12. 1874, f 2 6 . 6. 1957,
Jurist, Prof. Hamburg 1908, Tübingen 1909, Heidelberg 1911, Bonn 1928 19, 22, 24 f., 27 f f , 51 TILGNER, Wolfgang 246 TILLICH, Paul, * 20. 8. 1886, f 22. 10. 1965, evangelischer Theologe, Privatdozent Berlin 1919, ao. Prof. Marburg 1924, o. Prof. Dresden 1925, Leipzig 1925, Frankfurt 1929, entlassen 1933, o. Prof. New York 1933, Cambridge/Mass. 1955 68 f f , 151, 197 f., 206, 228, 262
TÖDT, Heinz Eduard 65 TÖNNIES, Ferdinand 163 TREITSCHKE, Heinrich von, * 15. 9. 1834, f 28. 4. 1896, Historiker, Prof. für Staatswissenschaft Freiburg 1863, für Geschichte Kiel 1866 164,225,256 TRILLHAAS, Wolfgang 69 TROELTSCH, Ernst, * 17. 2. 1865, f 16. 6. 1923, evangelischer Theologe, Privatdozent Göttingen 1890, ao. Prof. Bonn 1892, o. Prof. Heidelberg 1894, o. Prof. Berlin 1914, zugleich Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium für die evangelischen Angelegenheiten 1919-1921 XVIII, XIX, 1,19,40,60f., 66,98,109,151,157f., 167,169 f., 175,190, 208, 210, 243 WALLMANN,
Johannes
WALTER, Franz
160
70
WEBER, M a x , * 21. 4 . 1 8 6 4 , f 14. 6 . 1 9 2 0 , J u -
rist, Nationalökonom und Soziologe, Prof. Berlin 1893, Freiburg 1894, Heidelberg 1897-1903, München 1919 X, 6, 11, 19, 23 f., 40, 98,127,144,170, 208 WENDLAND, Heinz-Dietrich, * 22. 6. 1900, evangelischer Theologe, Privatdozent Heidelberg 1929, o. Prof. Kiel 1937, Münster 1955, emeritiert 1967 XVII, 64, 98f., 111, 192, 194 f., 197f., 207, 210 f f , 232 f., 235 f., 246f., 263, 265 WENZ, Gunther
70
WERBLOWSKY, R . J . Z w i
60
Otto, * 18. 2. 1891, f 15. 2. 1950, Historiker, Privatdozent Hamburg 1923, Prof. ebd. 1930, Göttingen 1932, Hamburg 1933 XVIII, 162 f., 166 WILKENS, Erwin IX W I N K L E R , August Heinrich 255 WITTRAM, Reinhard 255 WESTPHAL,
WOLF, Ernst XI WRIGHT, J o n a t h a n R . C . WÜRTENBERGER,
Thomas
Heinz 0 . 143 Wilhelm 32 ZILLESSEN, Horst IX ZIEGLER, ZIEGLER,
205
XIV
Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte Reihe B: Darstellungen Hrsg. im Auftrag der Ev. Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte von Georg Kretschmar und Klaus Scholder. Bei Subskription auf das Gesamtwerk 15% Ermäßigung. 1 Jörg Thierfelder · Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm 1975. X V I , 311 Seiten, geb. 2 Jonathan R. Wright Über den Parteien Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918-1933.1977. XIV, 276 Seiten, geb. 3 Heinz Brunotte Bekenntnis und Kirchenverfassung Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte. 1977. X , 261 Seiten, geb. 4 Johanna Vogel Kirche und Wiederbewaffnung Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956. 1978. 304 Seiten, geb. 5 Reijo E. Heinonen Anpassung und Identität Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933-1945. 1978. 302 Seiten, geb.
8 Kirchen in der Nachkriegszeit Vier zeitgeschichtliche Beiträge von Armin Boyens, Martin Gerschat, Rudolf von Thadden, Paolo Pombeni. 1979. 167 Seiten, geb. 9 Annemarie Smith-von Osten Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948 Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. 1981.400 Seiten, kart. 10 Joachim Beckmann Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte 1946-1974. 1981. X I I , 420 Seiten, kart. 11 Hartmut Rudolph - Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972 Bd. 1: Kirchen ohne Land. Die Aufnahme von Pfarrern und Gemeindegliedern aus dem Osten im westlichen Nachkriegsdeutschland: Nothilfe - Seelsorge kirchliche Eingliederung. Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse. 1984. X X I I I , 627 Seiten mit 5 Karten, geb. 12 Bd. 2: Kirche in der neuen Heimat. Vertriebenenseelsorge - politische Diakonie - das Erbe der Ostkirchen. 1985. XIV, 387 Seiten, geb.
6 Martin Norberto Dreher Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. 1978. 259 Seiten, 4 Abb., 1 Faltkarte, geb.
13 Carsten Nicolaisen (Hg.) Nordische und deutsche Kirchen im 20. Jahrhundert Referate auf der Internationalen Arbeitstagung in Sandbjerg/Dänemark 1981. 1982. 361 Seiten, kart.
7 Jens Holger Schjerring Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs. 1979. 354 Seiten, geb.
14 Johannes M. Wischnath Kirche in Aktion Das Evangelische Hilfswerk 1945-1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission. 1986. X V I , 491 Seiten, geb.
Vandenhoeck& Ruprecht · Göttingen und Zürich
Kirche und Konfession
Veröffentlichungen des Konfessionskundlichen Instituts des Ev. Bundes Bensheim Eine Auswahl
5 Cornells Α . de Ridder · Maria als Miterlöserin A. d. Niederl. v. Heinrich Quistorp. 1965. 176 Seiten, kart. 6 Fritz Vigener · Bischofsamt und Papstgewalt Zur Diskussion um Universalepiskopat und Unfehlbarkeit des Papstes im deutschen Katholizismus zwischen Tridentinum und Vatikanum. 2. Aufl. 1964. 113 Seiten, kart. 7 Gerhard Ebeling · W o r t Gottes und Tradition Studien zur Hermeneutik der Konfessionen. 2. Aufl. 1966. 235 Seiten, kart. 8 Hans Vorster · Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin L u t h e r 1965. 427 Seiten, kart. 10 Per E . Persson · Repraesentatio Christi Zum Amtsbegriff in der neueren römischkatholischen Theologie. A . d . Schwed. v. Herbert Petersen u. Hans Geißer. 1966. 186 Seiten, kart. 11 Erneuerung der Einen Kirche. Arbeiten aus Kirchengeschichte und Konfessionskunde Heinrich Bornkamm zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Joachim Lell. 1966. 323 Seiten, kart. 12 Richard Boeckler - Der moderne römischkatholische Traditionsbegriff 1967. 234 Seiten, kart. 13 Hans Düfel • Luthers Stellung zur Marienverehrung 1968. 288 Seiten, 4 Kunstdrucktafeln,
kart.
14 Christofer Frey · Mysterium der Kirche Öffnung zur Welt Zwei Aspekte der Erneuerung französischer katholischer Theologie. 1969. 317 Seiten, kart. 15 Gottfried M a r o n · Kirche und Rechtfertigung Eine kontroverstheologische Untersuchung, ausgehend von den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils. 1969. 288 Seiten, kart. 16 Reinhard Frieling - Die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910-1937 unter besonderer Berücksichtigung des Beitrages der deutschen evangelischen Theologie und der ev. Kirchen in Deutschland 1970. 321 Seiten, kart.
17 Martin Bogdahn · Die Rechtfertieungslehre Luthers im Urteil der neueren katholischen Theologie Möglichkeiten und Tendenzen der katholischen Lutnerdeutung in evangelischer Sicht. 1971. 296 Seiten, kart. 18 H a n s Geißer · Glaubenseinheit und Lehrentwicklung bei J o h a n n Adam Möhler 1971. 302 Seiten, engl, brosch. 19 Axel Denecke · Wahrhaftigkeit Eine evangelische Kasuistik. 1972. 284 Seiten, kart. 20 Volker Pitzer · Justinus Febronius Das Ringen eines katholischen Irenikers um die Einheit der Kirche im Zeitalter der Aufklärung. 1976. 214 Seiten, kart. 21 Manfred Marquardt - Praxis und Prinzipien der Sozialethik J o h n Wesleys 2. Aufl. 1986. 176 Seiten, kart. 22 H a n s J . Kühne · Schriftautorität und Kirche Eine kontroverstheologische Studie zur Begründung der Schriftautorität in der neueren katholischen Theologie. 1980. 166 Seiten, kart. 23 Johannes Dantine · Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit Die reformatorische Lehre von den "notae ecclesiae" und der Versuch ihrer Entfaltung in der kirchlichen Situation der Gegenwart. 1980. 158 Seiten, kart. 24 Ellert Herms · Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen Die ökumenische Bewegung der römischen Kirche im Lichte der reformatorischen T h e o logie. Antwort auf den Rahner-Plan. 1984. 208 Seiten, kart. 25 Gottfried M a r o n ( H g . ) - Evangelisch und ökumenisch Beiträge zum 100jährigen Bestehen des Ev. Bundes. 1986. 608 Seiten, geb. 26 Wolfgang Nethöfel · Moraltheologie nach dem Konzil Personen, Programme, Positionen. 1987. 151 Seiten, kart. 27 Klaus Reblin - Freund und Feind Franziskus von Assisi im Spiegel der protestantischen Theologiegeschichte. 1988. 327 Seiten mit 2 A b b . , kart.
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