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German Pages 322 [310] Year 2021
Júlia Wéber, Kai Brauer (Hg.) Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit
Histoire | Band 195
DIESER BAND IST ALL DENJENIGEN GEWIDMET, DIE SICH VOR 1989 FÜR DIE ENTWICKLUNG EINER ZIVILGESELLSCHAFTLICHEN BASIS EINGESETZT UND DIE FRIEDLICHE REVOLUTION MÖGLICH GEMACHT HABEN.
Júlia Wéber (Dr. phil., Dipl. Soz. Päd., Dipl. Lehrerin für DaF), geb. 1976, ist seit 2018 Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik an der Hochschule Neubrandenburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Demokratie und soziale Ungleichheiten, Transnationale Soziale Arbeit, sowie subjektorientierte Übergangsforschung. Kai Brauer (Dr. phil., Dipl.-Soz.), geb. 1965, ist seit 2019 Professor für Gemeinwesenarbeit und Sozialraumentwicklung an der Hochschule Neubrandenburg. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind das Altern der Gesellschaft, Gemeindestudien, Fallanalysen und die Zivilgesellschaft.
Júlia Wéber, Kai Brauer (Hg.)
Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit Rückblicke und Ausblicke auf einen Epochenbruch: Zivilgesellschaft – Mitgestaltung – Hochschule
Die Herausgabe des vorliegenden Bandes wurde durch eine Förderung der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern sowie mit finanzieller und ideeller Unterstützung der RAA Mecklenburg-Vorpommern e. V. möglich.
Fotos der Plakate der friedlichen Revolution in Neubrandenburg 1989: Thomas Schulze. Dank an Dr. Rolf Voss, Regionalmuseum Neubrandenburg, für den Zugang zum Archiv. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Wotin, Neubrandenburg Lektorat: Dr. Sandra Pingel-Schliemann Korrektorat: Franziska Rämänen-Praße, Jenny Oster Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5955-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5955-3 https://doi.org/10.14361/9783839459553 Buchreihen-ISSN: 2702-9409 Buchreihen-eISSN: 2702-9417 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Grußworte ............................................................................. 9 Zur Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« Ein persönliches Vorwort der Herausgeberin .................................... 13
Einleitung Friedliche Einleitung zum revolutionären Gedenken 1989 als Zäsur und 30 Jahre Wandlungsprozess – Rückblicke und Perspektiven für die Soziale Arbeit und die Zivilgesellschaft Júlia Wéber und Kai Brauer................................................................ 21
Akteur*innen des Wandels — im Wandel Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern Das zentrale Erinnerungszeichen des Landes in Waren (Müritz) Jochen Schmidt und Anne Drescher ...................................................... 47
Jugendhilfe vor 30 Jahren und danach – ein schwieriger Rückblick Werner Freigang ......................................................................... 57
Everyday, I have the Blues »Offene Arbeit« als zivilgesellschaftliche Basis der Herbstrevolution Kai Brauer ............................................................................... 65
Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR Reflexion zum Workshop »Über die Rolle von Frauen in der Friedlichen Revolution« von Dr. Marina Grasse, OWEN e.V. Sophie Ressin und Kim Florentine Hofeditz................................................ 101
30 Jahre Vorpommern: Vom Neuen Forum und dem UFV zur AfD – trauriger Norden, negative Identität? Probleme und Perspektiven Matthias Pfüller .......................................................................... 113
Ostdeutsche Identitäten im Wandel Die Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation Erfahrung der Anpassungsqualifikation ostdeutscher Pädagoginnen in Kindertageseinrichtungen und ihre Haltung dazu Claudia Nürnberg ........................................................................ 121
30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland Matilde Heredia ......................................................................... 129
Gedanken zur »unendlichen Geschichte der ostdeutschen Identität« Eine erkenntnistheoretische Gegenüberstellung Joachim Köhler .......................................................................... 141
Psychosoziale Beratung als politischer Bildungsprozess Reflexion zum Vortrag »Die unendliche Geschichte der ostdeutschen Identität – Identität und Identifikation in der deutsch-deutschen Nachwendegeneration« Anna Nabrdalik ......................................................................... 153
»Ich war immer nur ein Solist« Ein Interview mit Volker Keßling Erdmute Finning ........................................................................ 165
Devianzerfahrungen und demokratische Öffentlichkeit im ländlichen Raum Die Ausstellung LETHE an der Hochschule Neubrandenburg Jens A. Forkel........................................................................... 175
Kraftakt. Die Aufarbeitung des Doping-Missbrauchs im DDR-Spitzensport Ein Interview mit dem Journalisten André Keil Silke Gajek .............................................................................. 187
Kulturpädagogische und biographische Rückblicke »Erzähl mir Deine Geschichte« Erzählcafés als Methode der politischen Bildung Steffi Brüning und Claudia Kühhirt ....................................................... 197
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg Constanze Jaiser........................................................................ 203
Tanz als Protestform Wirkungsweisen und Deutungen aus Tänzer*innen-Sicht Sophie Dietel............................................................................ 219
Welche Bedeutung hat der Transformationsprozess als gesellschaftlicher Umbruch für die Beteiligten? Reflexionsbericht zum intergenerationellen Erzählcafé vom 14. November 2019 Nadine Meyer ........................................................................... 233
Kommentar zum Aufsatz von Nadine Meyer Barbara Bräutigam und Matthias Müller .................................................. 247
Wo die Revolution weiter gehen sollte Im Schatten der Geschichte Zum Einfluss von Erinnerungskulturen und transgenerationalen Übertragungen auf den Umgang mit Geflüchteten Uta Rüchel .............................................................................. 251
Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen für die heutige migrantische Gesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern Jana Michael, Patrice Jaeger und Zsófia Torma .......................................... 265
»Die Gleichberechtigung der Frau ist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft…« Politik und Praxis der Gleichberechtigung in der DDR Jenny Linek............................................................................. 281
»Demokratie und Rassismus – Rassismen und Rassismuskritik in der DDR und der Bundesrepublik« Rezension des Vortrags von Tahera Ameer Susanne Richter ........................................................................ 293
Anhang Die Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?« ....................................................................... 307 Die Autor*innen ..................................................................... 313
Grußworte
Gerd Teschke, Rektor der Hochschule Neubrandenburg Liebe Leser*innen, bevor ich Ihnen meine Perspektive auf das vorliegende Buch schildern darf, ist es mir ein Anliegen, hervorzuheben, dass ich dankbar bin für dieses Buch, die Geschichte seiner Entstehung und vor allem für das entfachte Engagement innerhalb und insbesondere im Umfeld der Hochschule Neubrandenburg. Ich persönlich erhoffe und wünsche mir, dass dieses Buch das Potenzial entfaltet, die vielen unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema »30 Jahre Friedliche Revolution« zu erkennen, zu verstehen und mit erlebten Erfahrungen und Sichtweisen im individuellen Geschichtsbewusstsein zu verankern. Ich bin überzeugt, dass dieses Buch somit dazu beitragen kann, die Bedeutung eines*einer jeden Einzelnen bei der Gestaltung unserer gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft sichtbar zu machen. Die friedliche Revolution von 1989 ist sehr eng verwoben mit der Entstehung der Hochschule Neubrandenburg. Aus diesem Grund sind zeitgeschichtliche Betrachtungen jener Zeit immer auch ein Stück erlebte und weitergegebene Geschichte bei uns im Hause. Wie für sehr viele Menschen, so war auch für mich die »Wende« eine sehr prägende Zeit und biografischer Scheideweg. So verwundert es sicher nicht, dass der 30. Jahrestag des Mauerfalls für mich als gegenwärtiger Rektor der Hochschule Neubrandenburg ein wichtiger und vor allem einmaliger Anlass war, mit den Studierenden und dem Kollegium ins Gespräch darüber zu kommen, wie wir das bedeutende geschichtliche Ereignis aus unseren Fachlichkeiten heraus gebührend würdigen können. Zu diesem Zeitpunkt kam ich mit Frau Dr.’in Wéber, der neuberufenen Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik, in Kontakt. Mit ihr habe ich viele Gespräche über Demokratieentwicklung, Öffnung der Mauer und die Rolle von der Hochschule in diesem Zusammenhang geführt. Frau Wéber hat im Wintersemester 2019/20 die Initiativen zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls koordiniert und zusammengeführt. In enger Zusammenarbeit mit großen Teilen des Kollegiums, den Studierenden sowie vielen externen Partner*innen ist ein hochkarätiges Pro-
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Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit
gramm für eine Vortragsreihe von April bis November 2019 und die Projektwoche unter der Überschrift »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« entstanden. Im Rahmen der einzelnen Veranstaltungen wurde mit großer öffentlicher Beteiligung auf sehr vielfältige Weise der Transformationsprozess der »Wende« und die Zeit danach beleuchtet. Persönliche Berichte und Erfahrungen wurden ausgetauscht und es wurde über die Bedeutung und Rolle der Betrachtung von Geschichte und die Verantwortung eines*einer jeden Einzelnen bei der Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft diskutiert. Das vorliegende Buch gibt einen Eindruck über Schwerpunkte der Themenwoche und ermöglicht so eine inhaltliche Rückschau. Es vermittelt aber auch gleichzeitig einen noch laufenden Erkenntnisprozess. Es werden viele Fragen formuliert, die uns auch zukünftig mit Neugier in die Geschichte blicken lassen werden und von uns Verantwortung für die Zukunft fordern. Ich wünsche Ihnen eine spannende und unterhaltsame Lektüre und bedanke mich bei allen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Prof. Dr. Gerd Teschke Rektor der Hochschule Neubrandenburg
Grußworte
Silvio Witt, Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg Sehr geehrte Leser*innen, Sie halten in Ihren Händen eine spannende Lektüre, die in dieser Form einzigartig ist. Wenn Sie einen Blick in dieses Werk werfen, werden Sie sofort erkennen, dass die Hochschule Neubrandenburg gemeinsam mit der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg ein umfangreiches Werk der geschichtlichen Aufarbeitung präsentiert. »Die Friedliche Revolution und die Soziale Arbeit« ist ein Sammelband, der seinen Ursprung in einer gemeinsamen Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« anlässlich des 30. Jahrestages der friedlichen Revolution fand. Der Sammelband beschäftigt sich umfangreich und unter den unterschiedlichsten Aspekten mit den Ereignissen von vor mehr als drei Jahrzehnten. Mir sei an dieser Stelle ein kleiner Rückblick auf die damalige Zeit in unserer Stadt gestattet. Am 7. Oktober 1989 wurde durch den Friedenskreis in einem symbolischen Akt die erste öffentliche Aktion initiiert. Brennende Kerzen wurden als »Licht der Hoffnung« in viele Neubrandenburger Fenster gestellt. Zum ersten Friedensgebet am 11. Oktober 1989 in der Johanniskirche folgten 350 Teilnehmende einer Einladung, die nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda die Menschen erreichte. Beim zweiten Friedensgebet mit einem Schweigemarsch zur katholischen Kirche waren bereits fünftausend Teilnehmende dabei. Am 24. Oktober gründete sich das Neue Forum in der Vier-Tore-Stadt. Der Höhepunkt der Ereignisse fand am 25. Oktober statt, als 30- bis 40-tausend Teilnehmende im Anschluss an das dritte Friedensgebet auf die Straße gingen. Was für eine Dynamik! 30 Jahre nach der friedlichen Revolution haben wir Vier-Tore-Städter die mutigen Menschen von damals mit der Wilhelm-Ahlers-Medaille geehrt. Dabei handelt es sich um die Mitglieder der Gruppe »Augenzeugen 89«, die symbolisch für all jene Menschen stehen, die sich damals aktiv an den Veränderungsprozessen beteiligt haben. Sie wirkten im Neuen Forum und anderen Bürgerrechtsinitiativen mit, obwohl niemand wusste, ob diese Revolution friedlich bleibt. Die Gruppe selbst bildete sich erst nach der »Wende« aus wichtigen Protagonist*innen der friedlichen Revolution von 1989. Lange waren die Mitglieder aktiv, um die Erinnerung an diese große gesellschaftliche Zäsur des zwanzigsten Jahrhunderts wach zu halten, insbesondere der Jugend zu erklären, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern der ständigen aktiven Erneuerung durch die Menschen bedarf. Die »Augenzeugen 89« haben anhand von Fotos, Schriftstücken und Ausstellungen die Ereignisse der »Wende«-Zeit für die Nachwelt dokumentiert. Die Ereignisse in der Vier-Tore-Stadt sind nur ein Beispiel dafür, was im Herbst 1989 die Bewohner*innen der DDR bewegt hat. Die vorliegende Lektüre trägt dazu
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bei, dass die mutigen Taten, die Ereignisse, die Beweg- und Hintergründe und vor allem die Ziele von damals nicht in Vergessenheit geraten. Ich verspreche Ihnen einen interessanten und aufschlussreichen Lesestoff und freue mich auf den Austausch mit Ihnen bei der einen oder anderen Gelegenheit. Denn Demokratie lebt vom Mitmachen. Silvio Witt Oberbürgermeister der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg
Zur Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« Ein persönliches Vorwort der Herausgeberin
Als seit September 2017 an der Hochschule Neubrandenburg dozierende und im Mai 2018 berufene Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik musste ich feststellen, dass ich – abgesehen von einigen wenigen Urlaubsbesuchen – das erste Mal berufsbiografisch bedeutsame Zeit im Osten von Deutschland verbringe. Nach meinen Stationen in Studium und Lehre in Köln, Budapest und Berlin lebte ich nun im Osten Deutschlands. Mit der Erinnerung an spannende Gespräche mit Freund*innen und Familienmitgliedern über das Leben in der DDR, die mir aus Spiel- und Dokumentarfilmen ein Stück weit bekannt waren, begab ich mich auf eine historische Spurensuche in Neubrandenburg. Gleichzeitig setzte bei mir auch eine biografische Reflexion von Sozialisationserfahrungen aus Ungarn der 1980er und -90er Jahre ein. In Auseinandersetzung mit diesen begann ich mich explizit mit den Erfahrungen der Bürger*innen aus der Region Mecklenburgische Seenplatte, die in der ehemaligen DDR aufwuchsen, auseinanderzusetzen. Auch beschäftigte mich die Frage, welche Bilder, Haltungen, Normen und Werte die Studierenden des Fachbereichs Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung (SBE) der Hochschule Neubrandenburg hinsichtlich ihrer Konzepte und Fragen nach Gesellschaft, Normalität und pluralistischer Demokratie prägten oder von welchen sie sich abgrenzten. Schließlich sind diese Fragen mit der Entwicklung einer professionellen Identität der Studierenden von B. A. Sozialen Arbeit, der B. A. Berufspädagogik für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Kindheitspädagogik, B. A. Early Education/Pädagogik der Kindheit, M. A. Social Work/Wissenschaft Soziale Arbeit, M. A. Beratung oder M. A. Organisationsentwicklung und Inklusion untrennbar verbunden. Die kritische und reflexive Begleitung dieser Identitätsentwicklung aus Dozierenden-Sicht erschien mir in meiner neuen beruflichen Rolle von hoher Bedeutung, schließlich lassen sich direkte oder familiär vermittelte Bezüge in den Biografien Einzelner zu 1989 herstellen und damit zu der bedeutendsten Zäsur der Nachkriegsgeschichte.
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Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit
Für die vielen ertragreichen Gespräche über diese Themen im Kollegium und mit den Studierenden im Fachbereich SBE, die eher am Rande der Lehrveranstaltungen und eher im kleinen Kreis stattfanden, bin ich sehr dankbar. Um die Dialoge aus den Lehrveranstaltungen und im Kollegium fort- und zusammenzuführen und auf der Gesamt-Hochschulebene zu bearbeiten, bot es sich an, den 30. Jahrestag der friedlichen Revolution 1989 als historisch einmaligen Bezugspunkt mit einer Veranstaltungsreihe zu würdigen. Unterstützt durch die Fachbereichs- und der Hochschulleitung formierten wir im September 2018 eine Arbeitsgruppe (AG): Maureen Grimm (MA), wissenschaftliche Mitarbeiterin aus dem Verbundprojekt »Hochschule in der Region« im Arbeitsbereich »Dialog Hochschule Gesellschaft«, Peter Scheifler von der Koordinierungs- und Fachstelle »Partnerschaft für Demokratie Neubrandenburg CJD Nord – Die Chancengeber« und ich. Die Arbeitsgruppe wurde anfangs durch Anna Reiff und ab Mai 2019 durch Anna Kopplin als studentische Hilfskräfte aus dem Studiengang B. A. Soziale Arbeit tatkräftig unterstützt. Wir hatten damit ein Vorhaben angestoßen, dessen Umfang und Aufwand zunächst nicht absehbar war. Fest stand jedoch, dass das öffentliche Interesse groß sein wird, die Studierenden stärker als sonst einbezogen werden sollten und wir Rückhalt und Engagement seitens der Angehörigen an der Hochschule brauchten. Der Reihe gaben wir gemeinsam mit dem damaligen Dekan des Fachbereiches SBE, Professor em. Dr. Werner Freigang den Titel »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?«. Denn durch eine rückblickende Verbindung auf das Friedliche und Revolutionäre um 1989, auf Brüche und Kontinuitäten in Ost und West und auf aktuelle Herausforderungen des demokratischen Zusammenlebens in der Bundesrepublik sollte eine dialogische und intergenerationale Auseinandersetzung mit dem bildungspolitischen Erbe der DDR und dem demokratischen Auftrag von Hochschule, Stadtöffentlichkeit und der organisierten Zivilgesellschaft in der Region Mecklenburgische Seenplatte aus einer vornehmlich sozialwissenschaftlichen Perspektive erfolgen. Die Zielsetzung der Veranstaltungsreihe fügte sich nicht nur in die des Verbundvorhabens »Hochschule in der Region« im Sinne eines regional engagierten Profils und eines nachhaltigen Strukturwandels mit Fokus auf die soziale Komponente von Nachhaltigkeit ein. Angehörige verschiedener Generationen – Zeitzeug*innen, Bürger*innen, Expert*innen und Studierende – und Vertreter*innen der Fachdisziplinen Kindheitspädagogik, Soziale Arbeit, Beratung, Berufspädagogik und Pflegewissenschaft initiierten einen interdisziplinären Beitrag zur demokratischen Diskussions- und Streitkultur, für den sich die Hochschule als sozialer Ort öffnete. Der Dialogprozess war nicht nur an der Hochschule und nur für Hochschulangehörige konzipiert, sondern für alle Interessierten aus der Stadt Neubrandenburg und der Region Mecklenburgische Seenplatte. Die Stadt Neubrandenburg beteiligte sich dankenswerter Weise von Anfang an im Rahmen einer Kooperation, so dass der Dialog neben den Hochschulstandorten an besonderen öffentlichen Orten wie im Regionalmuseum Neubrandenburg,
Zur Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?«
im Stadtarchiv, dem Programmkino Latücht und dem Albert-Einstein-Gymnasium ausgestaltet werden konnte. Dass die zunächst aus einer sehr kleinen Gruppe entwickelte Initiative dann bei so vielen Kolleg*innen im Fachbereich SBE sowie im Fachbereich Gesundheit, Pflege und Management Anklang fand, war ein bereichernder kollegialer Prozess mit viel Austausch, wofür ich allen Kolleg*innen sehr dankbar bin. Der Rückhalt der Hochschulleitung, vor allem durch Professor Gerd Teschke, Rektor der Hochschule Neubrandenburg, der die Initiative wie die Durchführung ideell und materiell unterstützte, haben unserer AG Stabilität verliehen. Auch für die verlässliche Unterstützung und immer sachgerechten Zuarbeiten des Dezernats II/F und des Referats Marketing und Kommunikation möchte ich meinen ausdrücklichen Dank für die engagierte Bearbeitung der vielen Anträge und Formulare 2019 aussprechen. Dieser Band entstand als Beitrag zur Aneignung der jüngsten Geschichte an einem ostdeutschen Hochschulstandort. Die Erkenntnisse sind keineswegs abgeschlossen, die bearbeiteten Schwerpunkte seitens (angehender) professioneller Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen werfen viele neue Fragen auf und führen zu weiteren notwendigen Aneignungsprozessen in der Zukunft. Im Vorfeld der Druckfreigabe des Bandes, gut anderthalb Jahre nach diesem partizipativen Aneignungsprozess von jüngster Geschichte im Spiegel sozialer Professionen danke ich allen Referent*innen, Dozent*innen der Hochschule Neubrandenburg, Zeitzeug*innen, Expert*innen aus Mecklenburg-Vorpommern – aus Schwerin, dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, Neubrandenburg und Rostock – sowie Berlin und Hamburg herzlich. Auch gilt mein besonderer Dank Professorin Julia Franz (seit 2020 ASH Berlin) und Professorin Claudia Steckelberg, die 2016-17 sich prominent für die Einrichtung der deutschlandweit einmaligen Hochschulprofessur Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik eingesetzt haben und damit den Weg für die akademische Bearbeitung aktueller gesellschaftlicher Vergewisserungen, Aushandlungsprozesse und Konfliktdynamiken geebnet haben. Auch geht mein Dank an alle Fachbereichsratsmitglieder für die Unterstützung. Schließlich möchte ich an den Appell von Professor Steffen Mau erinnern, dessen Streitgespräch mit Professor Sighard Neckel im Stadtarchiv Neubrandenburg am 15. November 2019 einen denkwürdigen Abschluss der Projektwoche über die soziologische Deutung der Geschehnisse der deutschen Geschichte in den letzten 30 Jahren darstellt: »Zunächst einmal muss es um eine selbstbewusste und differenzierte Aneignung der Geschichte gehen, jenseits von Verteufelung oder Verherrlichung der DDR. (…) Immerhin handelt es sich um ein politisch umkämpftes Bedeutungsfeld, wo stets die Vereinnahmung oder Abwehr von Erkenntnissen droht. Jürgen Habermas hat
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jüngst in einem Interview angemahnt, es hätte ›seit Langem informierte und anhaltende Debatten über die Fehler beider Seiten beim Modus der Wiedervereinigung geben sollen‹. Erst wer sich Geschichte selbstbewusst und kritisch aneignet, kann verstehen, warum vieles noch nicht so zusammengewachsen ist, wie man es politisch erwartet hatte. (…) Wir brauchen Vorstellungen und Begriffe davon, was die Entfremdung und das Ressentiment im Osten Deutschlands antreibt, welche politischen Bewusstseinsformen sich ausgebildet haben. Dazu gehört, dass der Osten unverstanden bleibt, wenn man ihn nur im Hohlspiegel des Westens analysiert, nicht im Eigensinn der Kultur und Mentalitäten vor Ort. Es scheint eine Erkenntnis der jüngeren Entwicklung zu sein: Das Erbe der DDR und die sozialen Schattenseiten der Transformation lassen sich nicht einfach so abschütteln. Nur wer diese Brüche versteht, kann politische Handlungsfähigkeit gewinnen. Dazu gehört auch, dass die ostdeutsche Gesellschaft selbst Konflikte um die eigene politische Kultur offen austragen muss, die in den drei Jahrzehnten der Einheit zu oft von politischer Schönrednerei weggeredet wurden.«1 In diesem Sinne wünsche ich allen eine spannende Lektüre in der Gewissheit, dass eine fachbereichsübergreifende Aufarbeitung der jüngsten Geschichte an der Hochschule Neubrandenburg in Kooperation mit der Stadt Neubrandenburg und den Akteur*innen der organisierten Zivilgesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern im 30. Jubiläumsjahr der Hochschulgründung ihre Fortsetzung findet. Neubrandenburg, im September 2021 Júlia Wéber
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Mau, Steffen (2020): Der Osten als Problemzone? Eine Skizze zur ostdeutschen Soziopolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 70, H. 28-29, S. 11-16.
Foto: Thomas Schulze
Friedliche Einleitung zum revolutionären Gedenken 1989 als Zäsur und 30 Jahre Wandlungsprozess – Rückblicke und Perspektiven für die Soziale Arbeit und die Zivilgesellschaft Júlia Wéber und Kai Brauer
1989 steht mit seinen gewichtigen Ereignissen in Mittel- und Osteuropa für den bedeutendsten Epochenbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Revolution erfasste 1989 den gesamten Ostblock. Sie wurde mit der Zulassung freier Gewerkschaften in Polen – Runder Tisch – und dem Zusammenwirken von exit & voice in der DDR eingeleitet, die im Sommer in Ungarn zur Grenzöffnung und im Herbst zu den größeren Demonstrationen führte sowie in der »Samtenen Revolution« in Prag kumulierte.1 Obwohl Revolutionen in der Regel mit Gewaltanwendung verbunden sind, konnte fast überall (außer in Rumänien) ein Blutvergießen verhindert werden. Viele, wie der Historiker Martin Sabrow haben sich mit dieser glücklichen Wendung befasst, die als »Wunder von 1989« bekannt ist.2 Auch der friedliche Verlauf der Demonstration am 9. Oktober 1989 auf den Leipziger Ring wurde »Wunder von Leipzig« genannt, weil bis dahin die sogenannte »Chinesische Lösung«3 drohte. Die schließlich im November des gleichen Jahres an der Bornholmer Straße in Berlin erzwungene Grenzöffnung war ebenso »wunderbar« friedlich, was auch durch die vielen zivilgesellschaftlichen Aktionen und die dadurch eroberten Freiheiten möglich und notwendig geworden war.4 Mit der Öffnung des »Eisernen Vorhangs« und dem Zerfall des Ostblocks im Zuge des Umbruchs 1989/90 ging die Nachkriegsepoche zu Ende, die sich immerhin über fünf Jahrzehnte erstreckt hatte. Sie war durch die andauernde Gefahr eines Atomkriegs zwischen den Blöcken gekennzeichnet und mit massiven Einschränkungen der Menschenrechte verbunden. Das Ende
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Vgl. Siebold 2014, S. 3. Vgl. Sabrow 2012, S. 9f. In seinem Band finden sich acht Beiträge zu den einzelnen Ländern. Vgl. Schäfer 2012. »Die Mauer fiel nicht einfach. Erst recht öffnete sie kein SED-Politbürokrat oder ein DDRGrenzer. Die Gesellschaft schmiss am Abend des 9. November 1989 die Mauer um« (Kowalczuk 2019, S. 24).
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der Bipolarität in so kurzer Zeit – und auf diese Art – war Mitte 1989 noch unwahrscheinlich. Plausibler erschien damals weiterer andauernder Stillstand, ein atomarer Overkill oder eine sehr langsame beidseitige Annäherung über weitere Jahrzehnte. Eine plötzliche und restlose Auflösung eines der Machtblöcke, dazu von innen heraus durch zivilgesellschaftliche Proteste in wenigen Monaten 1989, erschien bis dahin geradezu grotesk. Dass der Epochenbruch einen sehr glimpflichen Verlauf nahm, muss als eine großartige Leistung der Akteur*innen angesehen werden, die sich für eine friedliche Lösung eingesetzt haben. 1989 als Zäsur steht somit einerseits für den friedlichen Zusammenbruch der sozialistischen Herrschaftsverhältnisse unter der Führung der Sowjetunion. Zum anderen war damit die Aufgabe eingeläutet, Demokratien als Herrschaftsform erst zu etablieren. Denn mit dem Ende des diktatorischen Systems waren Mitbestimmung und Parteienkonkurrenz möglich. Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform5 stand aber erst am Anfang und war keineswegs sicher. Für den vorliegenden Band wird dieses prozessuale Demokratieverständnis als Ausgangspunkt verwendet. Demokratie ist dabei prinzipiell kein status-quoZustand, der selbstverständlich gegeben ist, sondern interessiert als ein Projekt, das von Bürger*innen eingeklagt, durch Sozialität hervorgebracht und auf einen auf pluralistische Werte geeichten, respektvollen und kritischen Dialog ausgerichtet ist. Theoretisch gefasst geht es hier eher um Demokratie als Lebensform, als um eine Frage der Mehrheitsfindung. Die dafür notwendigen Praktiken sind auf der Ebene der demokratischen Gesellschaftsform angesiedelt.6 Diese gilt es stetig zu reflektieren und auf ihr gesellschaftsförderndes Potenzial hin zu überprüfen – eine stetige Herausforderung auch in der institutionellen Praxis der Sozialen Arbeit. Die Bezüge der Sozialen Arbeit zu den demokratischen Ereignissen von 1989 lassen sich mit Blick auf ihre Definition herleiten: »Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit«.7 Die direkten Bezüge zu demokratischen Prinzipien und Gestaltungsansprüche in der international verbindlichen Definition beruhen auf dem 1989 geforderten prozessualen Demokratieverständnis, also der Förderung von gesellschaftlichem Zusammenleben auf
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Himmelmanns stellt heraus, dass ist die Bedeutung »horizontaler« Beziehungen unter den Wählenden mindestens ebenso entscheidend sind, wie die »vertikal« angeordneten Machtverhältnisse (vgl. Himmelmann 2007, S. 37). Himmelmann fasst Demokratie als Herrschaft-, Gesellschafts- und Lebensform (Himmelmann 2016). IFSW 2014.
Friedliche Einleitung zum revolutionären Gedenken
der Basis sozialer Gerechtigkeit und der Menschenrechte. In Theoriemodellen der Sozialen Arbeit wird auf die Menschenrechte als Realutopie, konzeptionellen Anspruch, ethischen Bezugsrahmen fachlichen Handelns, als Referenz zur Orientierung im Umgang mit menschenrechtswidrigen Forderungen rekurriert. Ein Großteil der Praktiker*innen betrachtet die Menschenrechte als visionäre und zugleich konkrete Orientierung für das eigene fachliche Handeln. Die Ausweitung und Realisierung von Menschenrechten bilden auch den Horizont sozialer Bewegungen und Zusammenschlüssen von Adressat*innen.8 Tatsächlich ging die Profession Soziale Arbeit »zu einem wesentlichen Teil auch aus Kämpfen um Demokratie hervor«9 : Demokratie als Wert und handlungsleitendes Prinzip stellt zu Beginn einen zentralen Bezugspunkt in der Theoriebildung und Praxis der Pionierinnen der Sozialen Arbeit wie Jane Addams (1860-1935) und Alice Salomon (1872-1948) dar. Seit ihren Anfängen ist die professionelle Soziale Arbeit darauf ausgerichtet, durch Partizipation ein solidarisches Miteinander zu kultivieren, »um die Anliegen marginalisierter Bevölkerungsgruppen sichtbar und hörbar werden zu lassen, sowie Ausgrenzung und Entmenschlichungsmechanismen aufzuzeigen (Böhnisch 2018)«.10 In ihren Angeboten, Institutionen und Organisationen differenzierte sich Soziale Arbeit »als wohlfahrtsstaatliche Antwort auf (potenzielle) soziale Desintegration von Individuen, Familien und größeren Bevölkerungsgruppen«11 aus. Allerdings zeigt sich das Wechselverhältnis von Sozialer Arbeit und Demokratie auch als widersprüchlich und umstritten: Soziale Arbeit ist »von Beginn an Teil politischer Systeme und damit eingewoben in Macht- und Herrschaftsverhältnisse«12 , was sie anfällig für demokratiegefährdende Einflüsse macht. Auch ist das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Zivilgesellschaft aus der Perspektive des doppelten Mandats notgedrungen ambivalent: Auf der einen Seite befriedigt Soziale Arbeit »staatsnah rechtlich und öffentlich abgesicherte Leistungserwartungen, auf der anderen Seite entwickelt sie sich aus intrinsisch motiviertem, zivilgesellschaftlichen Handeln in gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen (vgl. Bode 2014)«.13 Erst der Einbezug professioneller Maßstäbe sowie der ethischen Positionierung im konkreten Praxisfeld kann hier eine Lösung bieten. Wie Soziale Arbeit angemessen wirken kann, ist daher eine Frage der Professionalität und der damit verbundenen Ethik, die in der oben erwähnten Deklaration des internationalen Fachverbandes vorgegeben ist und mit der jüngsten Geschichte der Demokratieentwicklung verknüpft bleibt.
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Spatscheck/Steckelberg 2018, S. 11. Oehler 2019, S. 238. Köttig/Röh 2019, S. 11. Ebd. Ebd. Gille et al. i. E.
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Júlia Wéber und Kai Brauer
Der vorliegende Band dokumentiert eine Veranstaltungsreihe, die unter dem Titel »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« in Neubrandenburg 2018 initiiert und 2019 durchgeführt wurde. Die Workshops, Vorträge, öffentlichen Lehrveranstaltungen und Diskussionsrunden wurden von Angehörigen der Hochschule Neubrandenburg organisiert und kooperativ mit der Stadt sowie fördernden Institutionen und Akteur*innen der organisierten Zivilgesellschaft umgesetzt. Es handelte sich dabei um ein Vorhaben, mit dem zum einen an die 30. Wiederkehr jener Ereignisse erinnert wurde, die zum Ende der SED-Herrschaft in der ehemaligen DDR führten, wobei das Interesse insbesondere dem Nordosten der ehemaligen DDR galt. Zum anderen standen zivilgesellschaftliche Perspektiven im Fokus, die aktuell geboten und auch zukünftig gefragt sein werden im Hinblick auf die Zäsur 1989, die eine Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und eine biografische Aneignung des Wandels impliziert. Des Weiteren richtete sich das Erkenntnisinteresse auf diejenigen Auswirkungen, die sich im gesellschaftlichen Wandlungsprozess der letzten 30 Jahre in Mecklenburg-Vorpommern und insbesondere in der Mecklenburgischen Seenplatte eingeschrieben haben. Denen wurde in alternativen Formaten der Hochschullehre in Sozialen und Gesundheitsprofessionen und dabei prominent in der Sozialen Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Warum, wie und woran wurde an der Hochschule Neubrandenburg gedacht, 30 Jahre nach dem Herbst 1989? Eigentlich wäre es vermessen, ein nationales Gedenken ohne ausdrückliches Mandat auszurufen und für eine Institution zu reservieren. Allerdings ist der Charakter der hier zu bewahrenden Entwicklungen und Ereignisse einer, der im Kern durch zivilgesellschaftliche Aktionen und Haltungen geprägt ist. Diese sollten durch spezifische, eigenverantwortliche Initiativen getragen werden. An diese Überlegung wurde bei der Organisation der Veranstaltungsreihe an der Hochschule angeknüpft. Menschen, Institutionen und Vereine, die sich den Idealen der friedlichen Revolution14 verpflichtet fühlen, haben gemeinsam etwas geschaffen, was über eine im traditionellen Gedenken befangene Feierkultur hinausweisen möchte. Geboten wurde ein weit gesteckter und anspruchsvoller Rahmen, an dem sich eine Vielfalt unterschiedlichster Akteur*innen beteiligen konnte – das betrifft auch das Zustandekommen dieses Dokumentationsbandes –, um die eigene Geschichte in der Stadt und der Region fassbar zu machen und aktuellen
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Im Band werden wir unterschiedliche Schreibweisen des Begriffes friedliche Revolution berücksichtigen. Während manche Autor*innen den Begriff als Eigennamen verwenden und großschreiben, wird in anderen Artikeln des Bandes die Schreibweise aus dem Sachstandsbericht für die Bundesregierung: »Der Begriff ›Wende‹ als Bezeichnung für den Untergang der DDR«, Aktenzeichen: WD 1 - 3000 - 024/19 vom 31. Oktober 2019 berücksichtigt.
Friedliche Einleitung zum revolutionären Gedenken
Geschehnissen und Prozessen auf den Grund zu gehen, auf der Suche nach deren Entstehungskontexten bis in die 1980er Jahre. Im Vorfeld des 30. Jubiläumsjahres der friedlichen Revolution hatte sich am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung der Hochschule Neubrandenburg eine Arbeitsgruppe gebildet, um für 2019 eine große und umfassende Veranstaltungsreihe »der besonderen Art« ins Leben zu rufen. Von Vornherein war geplant, das historische Datum zu würdigen und damit die Kraft zivilgesellschaftlicher Artikulation in den Mittelpunkt der Lehre zu stellen. Unter engagierter Mitwirkung aller Bereiche der Hochschule, der Stadt sowie vieler sich im städtischen Raum ehrenamtlich einsetzenden Akteur*innen konnte dieser ambitionierte Plan umgesetzt werden. Die Veranstaltungsreihe umfasste eine Vortragsreihe im Zeitraum von April bis November 2019 und eine Projektwoche, die vom 11. bis zum 17. November 2019 an der Hochschule und bekannten Orten der Stadt unter hoher Publikumsbeteiligung stattfand. Als Referent*innen beteiligten sich neben den Lehrkräften der Hochschule Neubrandenburg Zeitzeug*innen, Wissenschaftler*innen, Expert*innen aus Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Hamburg. Unter den Teilnehmenden befanden sich Bürger*innen der Stadt Neubrandenburg und der Region sowie Studierende und Mitarbeiter*innen der Hochschule. Der hier nun vorliegende Band wurde, vor dem Hintergrund der zum Teil sehr aufwändigen organisatorischen Vorarbeiten der Projektwoche, erst im Ablauf der Veranstaltung erdacht und gestaltet. Er soll damit nicht nur Inhalte bewahren und zur weiteren Diskussion stellen, sondern vor allem auch die aktive Beteiligung der Studierenden der Hochschule Neubrandenburg in der gesamten Veranstaltungsreihe würdigen. Mit der im Kern als Projektwoche umgesetzten Veranstaltungsreihe zum Themenbereich ging es vorrangig um das bedeutendste historische Ereignis der Nachkriegsgeschichte in Europa. Augenmerk wird in diesem Band weniger auf die bereits vielfach und dezidiert beschriebenen und spektakulären Großereignisse gelegt, sondern auf die unzähligen Aktionen in der Lebens- und Alltagswelt kurz vor und seit der Auflösung der DDR, so auch in der Stadt Neubrandenburg und ihrer Umgebung, die 1989 noch den gleichnamigen Bezirk bildete. Was sich hier durch die friedliche Revolution ereignete, war weder vorbereitet, noch gab es dafür einen Plan oder Vorbilder. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive spielen hier Wirkungen von »bottom-up«-Prozessen eine Rolle, deren Entwicklungen bis zu einem gewissen Grad immer offenbleiben und damit sowohl für ihre Zukunft wie auch für die nachträgliche Rekonstruktion kaum einen einzigen Fixpunkt bieten. Im Nachhinein werden dafür vielerlei scharfsinnige Erklärungen und schlüssige Theorien geboten, von denen allerdings vorher kaum die Rede war. Die Intention der Autor*innen dieses Bandes ist es, ohne den Anspruch auf alle gesellschaftlich relevanten Bereiche einen Einblick in diese sehr breitgeführte wissenschaftliche und
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politische Diskussion zu bieten. Dazu werden ausgetretene Pfade zu verlassen und einen Bogen von der DDR-Realität und ihrer Konflikte über die friedliche Revolution bis hin zu den Fragen geschlagen, die uns in der Auseinandersetzung mit sozialpolitischen und -pädagogischen Inhalten weiterhin beschäftigen werden. Wichtig und wertvoll für den Ansatz der hier beschriebenen Projektwoche sind die Formen des Zuhörens und des Spurensuchens im erfahrbaren Umfeld, was dank Zeitzeug*innen möglich war. Dies soll für Verständnis und Nachvollziehbarkeit am vorgeblich »Normalen«, am weniger Beachteten sorgen; etwas, was oft außerhalb abstrakter Theorien, Außenbetrachtungen und selektiver journalistischer Schlaglichter liegt, deren Überblick dies weder leisten kann noch muss. Daher war von Vornherein eine große Vielfalt unterschiedlicher Einblicke und Präsentationsformen für die Projektwoche wichtig. Zentrales Anliegen war es, möglichst über Interaktionen zwischen Teilnehmenden und Vortragenden Brücken zwischen dem Einst und dem Jetzt zu schlagen. Nicht nur, um in einem intergenerationellen Austausch über Lebensgeschichten und -welten neue Verstehensräume aufzuschließen, sondern ebenso, um die Relevanz lebensweltlicher Sensibilität hinsichtlich einer Historizität und regionalen Verortung im Professionsverständnis zu schärfen. Bei einer Veranstaltungsreihe, die maßgeblich durch Lehrende der Sozialen Arbeit organisiert wurde, sollte nicht zuletzt Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeitspraktiken nachgespürt werden. Dies ermöglicht die lohnenswerte Auseinandersetzung mit professionstheoretischen Fragen zum ethischen Verständnis sozialer Berufe, die sich vor, sowie nach der friedlichen Revolution stellten und für die die sozialen Verhältnisse im zusammenwachsenden Deutschland essentiell sind. Ob und welche Aufgaben für die heutigen Perspektiven aus dem Rückblick abzuleiten sind, wurde in der Veranstaltungswoche und darüber hinaus kritisch bis emotional diskutiert. Die Aufnahme des Themas der friedlichen Revolution in die selbstreflexive Vergewisserung der heutigen (fachlichen) Positionierungen und Verortungen der Sozialen Arbeit wurde auch im Hinblick auf die demokratische Professionalität im Professionsdiskurs gestärkt, welche vor wenigen Jahren als »eine weitgehende Leerstelle« ausgewiesen wurde.15 Der Zugang zum Thema musste ein verstehender sein, sowohl gegenüber den Lebensrealitäten und Bewältigungsprozessen der Menschen, deren Biografien vor und durch 1989 bis heute fundamental geprägt (worden) sind, als auch dem institutionellen Wandel gegenüber, der im Osten von Deutschland in sozialen Berufen spannungsvolle Dynamiken hervorgebracht hat. Somit widmeten sich die Veranstaltungen, wie auch dieser Band, weniger dem Rückblick und harmonisierenden Verklärungen oder stereotypen Deutungen, sondern fokussierten sich im Hinblick auf die Profession der Sozialen Arbeit auf Herausforderungen, denen sich Demokratien und ihre konflikthaften Ungleichheitsgefüge immer wieder stellen müssen. 15
Oehler 2018, S. 173.
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Die mit der friedlichen Revolution einhergehende Dynamik ist nicht etwa auf geheime Kräfte oder einzelne Führungszirkel zurückzuführen, sondern lässt sich in den strukturellen Gegebenheiten der Lebenswelten der Akteur*innen verorten. Es gilt somit, den fachlichen Blick für die fallstrukturellen Besonderheiten und regionalen Eigenarten zu öffnen. Folgende allgemein gehaltene Fragestellungen wurden bei der Zusammenstellung der Themen der Veranstaltungen aufgeworfen: Was verbinden die Bewohner*innen von Mecklenburg-Vorpommern als Bürger*innen und professionelle Praktiker*innen mit dem historischen Ereignis der friedlichen Revolution von 1989? Was ist aus dem »Geist« dieser friedlichen Revolution in der Region heute noch präsent, welche Erinnerungen sind damit verbunden? Wie haben Menschen die dramatischen Veränderungen der Folgejahre bewältigt und wie können soziale Professionen auf diese Bewältigung anerkennend Bezug nehmen? Auf welche Weise könnte ein »Erbe« der friedlichen Revolution entdeckt und für die Region bewahrt werden? Welche Gefährdungen der Demokratie zeichnen sich im Rückblick auf die letzten 30 Jahre ab und inwiefern wird damit die Erinnerung an 1989 verwoben oder droht gewissermaßen selbst diskreditiert zu werden? Welche Brüche und blinde Flecken wurden bis heute nicht Gegenstand von Auseinandersetzungen? Welche Gestaltungsanforderungen stellen sich dabei für einzelne Fachdisziplinen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen? Inwiefern sind Menschenrechtsgrundsätze, als entscheidende Treiber der friedlichen Revolution, im Alltag und im institutionellen Gefüge der Region – quasi als basaler Teil des demokratischen Ganzen – verankert? Die Konzeptionierung der Veranstaltungsreihe erforderte daher eine Schwerpunktsetzung für Studierende, Lehrende, Zeitzeug*innen und Bürger*innen der Region auf vorrangig partizipativ angelegte Formate. Es wurden sowohl die politischen Kontextbedingungen und Anforderungen des DDR-Alltages in den Blick genommen als auch die immensen Leistungen gewürdigt, die angesichts des schnellen Wandels mit vielen Brüchen und Diskontinuitäten auf die Biografien wirkten. Genutzt wurden dabei Erfahrungen und Ansprüche der Geschichtswerkstätten bzw. deren Anregungen. Der lebensgeschichtlichen Expertise von Zeitzeug*innen wurde hierbei eine zentrale Rolle zugedacht. Die Veranstaltungsreihe sollte ihnen ein Podium bieten, um ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Ansichten zu teilen, ihre Relevanzhorizonte in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und ihre Sicht auf die Jahre des gesellschaftlichen Umbruchs hervorzuheben. Demgegenüber war es mit der Veranstaltungsreihe nicht beabsichtigt, da nicht einlösbar, dem »oppositionelle[n] Konzept eines »Dritten Wegs«, das »nachhaltig von der Agenda des
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politischen Handelns verschw[u]nden«16 ist, in der Region MSE auf den Grund zu gehen.17 Der Einbezug der jüngeren Generationen, die mit ihren Fragen den angestrebten Dialogprozess erst ermöglichten und damit die Perspektiven des Austauschs zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen lebendig und fassbar werden ließen, erwies sich als sehr produktiv. Für einige jungen Erwachsenen wurden dabei die Freiheitsräume der aktuellen freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsform erstmalig aus der Ebene der Selbstverständlichkeit gehoben. Für andere wurden alltägliche DDR-Realitäten und Transformationszumutungen in einer Form deutlich, die aus einer fachlich exponierten Sicht bislang eher marginal bzw. vernachlässigbar erschienen. Ergebnis dieser Veranstaltungen war somit auch ein Auftrag an die Hochschulentwicklung. Das Potenzial solcher dialogischen Veranstaltungsreihen, in unterschiedlichen Kombinationen der Fächer und Formate als fachliche Auseinandersetzung mit der lokalen sozialen Wirklichkeit und der Lebenswelt der Menschen, scheint noch nicht ausgeschöpft zu sein. Dies wird aber dringender denn je gebraucht und sollte weiter gefördert werden. Insofern erwiesen sich die Begegnungen mit den Zeitzeug*innen und der Austausch mit Vertreter*innen der organisierten Zivilgesellschaft nicht nur als ein dem Thema angemessenes Format, sondern auch ein Modell zukünftiger Partizipationsmöglichkeiten im transkulturellen und intergenerationellen Austausch. Möglich war die Einbeziehung der Studierenden auch durch die Integration der Themenwoche in den Lehrbetrieb der Hochschule. Das Ziel, möglichst viele Lehrveranstaltungen in die Themenwoche einzubeziehen und/oder an diese thematisch anzuknüpfen, stieß auf reges Interesse und mündete in einer Vielfalt von innovativen Beiträgen und Veranstaltungskonzepten, an deren Planung und Organisation auch Studierende beteiligt waren. Neben diesen Annäherungen an unterschiedliche Facetten der jüngsten Geschichte in der Region stand auch der Umgang mit dieser historisch einmaligen Phase der DDR an der Hochschule an. Die Auseinandersetzung mit dem Thema stellt sich immer – zumindest latent – als private und professionelle Herausforderung an das Kollegium dar. Ein professionelles Vorgehen würde es erfordern, als Lehrende sozialer Disziplinen die strukturelle Einbindung in den oben umrissenen Wandel verstehen und erklären zu können, was allerdings voraussetzen würde, dies explizit diskursiv aufzuschließen und dialogisch zu bearbeiten. Die aktuellen Gegenwartsdiagnosen zu sozialen Lagen in Ostdeutschland allgemein und in der
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Sabrow 2010, S. 6. Vgl.: »Wir wußten, daß die Mehrheit der Bürger der DDR sich der von den Herrschenden in Ost und West erfundenen Weisheit, daß keine Alternative jenseits der zwischen dem real existierenden Sozialismus und Kapitalismus denkbar wäre, unterwarf« (Klein 1999, zit. n. Sabrow 2010, S. 6).
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Region im Speziellen können in kaum einem Fach der Hochschullehre ignoriert werden. Ihr Bezug zum Wandel und der Transformation seit 1989 liegt auf der Hand. Die bundesweiten Diskussionen und Reaktionen im Kontext der CoronaPandemie machen dies nochmals überdeutlich. Aufkeimende und wiedererstarkende Formen von Rechtspopulismus und Verschwörungserzählungen hinsichtlich des Ursprungs der Covid-Pandemie haben die Notwendigkeit der in diesem Buchprojekt zu besprechenden Themen nochmals verschärft. Selbstverständlich gab es aber auch vorher schon genug Gründe, die auf die Aktualität des Themas hinwiesen. Anzeichen von persistentem Rassismus und damit verbundenen rechtsextremen und -radikalen Tendenzen im Alltag, den Medien, der Politik – von der kommunalen Ebene bis zur Bundesebene – sowie wachsende soziale Ungleichheiten, die zur Ausgrenzung von Menschen in marginalisierten Lebenslagen führen, zeigten bereits zuvor eine notwendige und aufmerksame Reflexion der eigenen Positionen und Haltungen in der Profession sowie einer Stärkung zivilgesellschaftlicher Potentiale an. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen boten mehr als genügend Anlässe, um sich basalen demokratischen Formen mittels einer kritischen historischen Perspektive anzunähern. Dabei bildet der hier dokumentierte Dialogprozess ein breites Themenspektrum ab: von der vergleichenden Analyse der Kindheitspädagogik der Bundesrepublik Deutschland und der DDR 1989 über die regionale Identität Vorpommerns, ostdeutsche Identität bis hin zu kolonialer Spurensuche in Neubrandenburg und zu Migrationsbewegungen vor 1989 und seit 2015. Neben den vier Vorträgen, die von April bis Oktober 2019 jeweils einen eigenen Schwerpunkt einführten, wurden im Rahmen der Projektwoche weitere interdisziplinäre Bezüge zur Transformation und deren Aufarbeitung und Aneignung hergestellt.18,19 Der darstellende Blick der Themenwoche wird mit den an der Hochschule Neubrandenburg präsentierten Ausstellungen zum Thema friedliche Revolution und Freiheit deutlich. Gestaltet wurde von Studierenden zum Beispiel eine imposante Graffiti-/Street-Art-Kollektion. Der Street-Art-Workshop fand am 15.11.2019 unter der Leitung von Marie-Hélène Pawlik, B. A. Soziale Arbeit statt. Die dort entstandenen zwölf Kunststücke auf je einem Stück Holzwand, die an die 1961 aufgestellten Mauerblöcke symbolisch erinnerten, wurden im Hauptgebäude der Hochschule bis Ende 2020 ausgestellt. Zu nennen ist hier auch die vom stellvertretenden Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Herrn Burkhard Bley Ende November 2019 eröffnete Ausstellung »Aufbruch im Norden«, die zu regen Diskussionen unter den Teilnehmenden führte. So wurde die Erwartung geäußert, diese
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Vgl. u.a. Lindqvist 1989. Auch an dieser Stelle gilt unser Dank den Vortragenden Constanze Jaiser, Ruth Misselwitz, Uta Rüchel, Anja Schmidt und Henning Utpatel.
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Ausstellungsinhalte im Stadtarchiv Neubrandenburg und auch an anderen Stellen und Gelegenheiten einem interessierten Publikum nahe zu bringen. Die hier nun kurz einzuleitenden Beiträge des Bandes sollen einen Einblick in die einzelnen Veranstaltungen der Projektwoche ermöglichen. Dieses Konzept wurde während der Themenwoche partizipativ erarbeitet und folgt nicht den typischen Formen von Tagungsbänden als deren verschriftlichte Referate. An der Erstellung der Dokumentation sollten Studierende und Gastreferent*innen ebenso beteiligt werden wie auch Lehrende der Hochschule und Zeitzeugen*innen – für die Vielzahl der Beiträge sei an dieser Stelle besonders gedankt. Somit umfasst der Band Beiträge von Menschen in unterschiedlichen beruflichen Stationen und spiegelt deren unterschiedliche Perspektiven wider. Die meisten Artikel gehen auf Referent*innen, Lehrende, Forschende und Expert*innen zurück. Dem Anliegen und der Themenstellung des zivilen Engagements als Form der Partizipation hätte es widersprochen, Studierende hier nur als aufmerksame Zuhörende einzubeziehen. Ihre Rolle sollte, mehr als sonst, eine individuell mitproduzierende sein. In einer hochschulweiten Ausschreibung wurde daher zum Verfassen schriftlicher Beiträge zu den Veranstaltungen aufgerufen. In einem Wettbewerb wurden die besten Einreichungen von einer Jury ausgewählt und in einer feierlichen Veranstaltung vom Rektor der Hochschule, Gerd Teschke, persönlich ausgezeichnet. Die Prämierten und weitere ausgewählte studentische Autor*innen haben durch den vorliegenden Band die Möglichkeit erhalten, sich der Öffentlichkeit mit ihren Publikationen zu präsentieren. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, alle Formate der Veranstaltungsreihe zu präsentieren, finden sich im Band Beiträge zu jedem der Themenblöcke; (1) zu den Akteur*innen des Wandels, (2) zu ostdeutschen Identitäten im Wandel, (3) zu kulturpädagogischen und biographischen Rückblicken (4) und zu zukünftigen Perspektiven zivilgesellschaftlichen Engagements. Die gebotenen Beiträge seien im Folgenden kurz umrissen. Der Beitrag von Jochen Schmidt, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und Anne Drescher, Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur eröffnet aufgrund seiner Bezugnahme auf ein regionalgeschichtlich bedeutendes Ereignis 2020 den Band. Der Beitrag thematisiert die Entstehung und Umsetzung des zentralen Erinnerungszeichens zur friedlichen Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern in der Stadt Waren (Müritz), das in dieser Hinsicht bisher bundesweit ein einmaliges Gedenksymbol im öffentlichen Raum darstellt. Fotografien laden ein, sich mit dem in Anlehnung an Demonstrationsplakate gestalteten Erinnerungszeichen und den dort aufgebrachten zentralen Forderungen der friedlichen Revolution 1989 auseinanderzusetzen. Am Abend des 11. November 2019 fand im Café International in der Innenstadt Neubrandenburgs ein »Kamingespräch zur Nachwende-Jugendhilfe« statt,
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das vom damaligen Dekan des Fachbereichs SBE, Professor em. Werner Freigang organisiert und moderiert wurde. Seiner Einladung folgten Expert*innen, die 1990 in leitenden Positionen der Kinder- und Jugendhilfe tätig waren. Brisant ist, dass die Jugendhilfe der DDR ab 1990 radikal in Frage gestellt werden musste. Heimerziehung und insbesondere Jugendwerkhöfe waren Disziplinierungsinstrumente, die mit den Anliegen der Sozialen Jugendarbeit nicht kompatibel bzw. politisch funktionalisiert waren. Am Gespräch haben sich Akteur*innen aus den Jahrzehnten vor und nach 1989 beteiligt, die als Fachkräfte und Expert*innen in der Jugendfürsorge der ehemaligen DDR tätig waren und nach 1990 neue Funktionen übernahmen. Welche Spuren diese Prozesse bei den Akteur*innen hinterlassen haben, welche wechselseitigen Lernprozesse möglich wurden, aber auch welche Verlierer*innen und Gewinner*innen es gab, wie sich Besonderheiten der heutigen Jugendhilfe aus dieser Zeit erklären lassen, wurde einerseits fachlich kontrovers, andererseits weniger emotional geführt als noch vor wenigen Jahren. Werner Freigang hat dies in seinem Beitrag so dokumentiert, dass die Stimmungen und Befindlichkeiten der Zeitzeug*innen und der Dialogpartner*innen, aber auch die anstehenden Aufgaben hinsichtlich einer noch einzufordernden Aufarbeitung recht deutlich werden. Der Beitrag »Everyday, I have the Blues: ›Offene Arbeit‹ als zivilgesellschaftliche Basis der Herbstrevolution« bildete einen Teil der Antrittsvorlesung von Professor Kai Brauer, der ab September 2019 die Professur »Gemeinwesenarbeit und Sozialraumentwicklung« an der Hochschule Neubrandenburg übernahm. Dass die Kirchen der DDR für die Revolution 1989 eine wichtige Rolle spielten, wird von kaum jemandem bezweifelt. Jedoch scheint in Vergessenheit zu geraten, wie sich eine zivilgesellschaftliche Basis ab den 1970er Jahren in kleinen lokalen Gruppen einer spezifischen Form der protestantischen Jugendarbeit entwickelte. Im Beitrag geht es also darum, wie in der DDR die Möglichkeiten des Andersseins über professionelle »Offene Arbeit« gepflegt wurden, die den Prinzipien des zivilen Engagements entspricht. Trotz vieler Drohungen und Repressalien und im Konflikt mit der eigenen Kirchenleitung wurde sie zu einer entscheidenden Keimzelle der Revolution 1989. Die im Beitrag vorgestellten Geschichten und Dokumente bieten eine Möglichkeit zur Erinnerung und laden zum Anknüpfen an die zentralen Inhalte und Methoden der Sozialen Arbeit im Sinne der oben erwähnten internationalen Deklaration der IFSW ein. Der nachfolgende studentische Beitrag setzt einen genderspezifischen Fokus und geht auf die »Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR« ein. Sophie Ressin (derzeit Master-Studentin Berufspädagogik für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Kindheitspädagogik an der Universität Rostock) und Kim Florentine Hofeditz (derzeit Absolventin im Studiengang Bachelor Soziale Arbeit) befassen sich mit biografischen Ressourcen und Erfahrungen aus der Zeit vor und nach 1989/90 und legen dabei den Fokus auf das Engagement von Frauen. Der Beitrag
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knüpft an den von der Zeitzeugin Marina Grasse (OWEN – Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V.) geleiteten Workshop an, der unter dem Titel »Frauen als Akteurinnen von Geschichte – Eine biographische Betrachtung der DDR-Geschichte« in der Projektwoche stattfand. Die feministische Perspektive auf die SBZ/DDR-Geschichte und die Geschichten von Frauen als Akteurinnen und Gestalterinnen intendiert eine kritische und (selbst-)reflektierende Auseinandersetzung mit dem Ziel, Teilnehmer*innen auf die eigene Rolle bei der Gestaltung ihrer Lebensgeschichte im gesellschaftlichen Kontext aufmerksam zu machen. Im nachfolgenden Beitrag nimmt Professor em. Matthias Pfüller in seinem Beitrag »30 Jahre Vorpommern: Vom Neuen Forum und dem UFV zur AfD – trauriger Norden, negative Identität? Probleme und Perspektiven« auf die sozioökonomischen Entwicklungen in Vorpommern Bezug und problematisiert dabei die Eigenwahrnehmung des Landesteils, sich als benachteiligt und »abgehängt« zu deuten, auch wenn es sich um integrierte und aktiv teilnehmende Akteur*innen Mecklenburg-Vorpommerns handelt. Der Beitrag diskutiert, inwieweit Vorpommern als Gebiet einer »internen Peripherie« in Mecklenburg-Vorpommern ein eigenes Profil entwickeln und eine Perspektive für seine und mit seinen Bewohner*innen finden kann, auch um den Erfolgen der AfD nachhaltig entgegenzutreten. Der Themenblock zu den Identitäten des Wandels beginnt mit einem Beitrag von Professorin Claudia Nürnberg, Studiengangsleiterin Bachelor Early Education – Bildung und Erziehung im Kindesalter, die mit ihrem Vortrag »Kindheitspädagogik im Wandel zweier Gesellschaftsformationen« am 11. November 2019 in einem voll ausgebuchten großen Seminarraum die Projektwoche eröffnete. Der Beitrag diskutiert ausgewählte Befunde der mit Maria Schmidt, Professorin für Theorien der Pädagogik und der Sozialen Arbeit/Forschung an der FH Erfurt durchgeführte Studie »Der Erzieherinnenberuf auf dem Weg zur Profession. Eine Rekonstruktion des beruflichen Selbstverständnisses im Kontext von Biografie und Gesellschaft«. Auf der Grundlage der Analyse biographisch-narrativer Interviews wurden die Erfahrungen ostdeutscher Pädagoginnen in Kindertageseinrichtungen und ihre Haltung zur sogenannten Anpassungsqualifikation rekonstruiert. Die von der DDR geprägten biographischen und beruflichen Erfahrungszusammenhänge der Erzieherinnen lassen insbesondere die Veränderungen der Berufswirklichkeit im Zusammenhang der gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland bedeutsam werden. Der Erzieherinnenberuf wurde bei der Neugestaltung in ein westdeutsches Wissens- und Kategoriensystem eingebettet. Den Transfer erlebten die Akteure nicht selten als ein Angriff auf ihre pädagogische Professionalität – ein Phänomen, das bei den Weiterbildungen und der Anpassungsqualifizierung nicht ausreichend und sorgfältig bedacht worden ist. Es folgt der Beitrag der seit 2020 als Professorin für Kindheitspädagogik an der IUBH tätigen ehemaligen Kollegin Professorin Matilde Heredia. Unter ihrer Anlei-
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tung konzipierten Studierende eine Ausstellung für die Projektwoche zum Thema »30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland«, woran sie in ihrem Aufsatz anschließt. Im Rahmen eines ihrer Seminare im WS 2019/20 bereiteten Studierende des Bachelorstudienganges Early Education eine Ausstellung mit Fundstücken von Kinderbüchern aus der DDR vor und stellten zeitgenössische Kinderbücher gegenüber. Zielsetzung des Formats war es, Studierenden einen Raum zu bieten, in dem sie sich auf die Suche nach mündlich erzählten oder gedruckten Geschichten, Gedichten, Liedern und Reimen aus Kinderbüchern machen können, die sie in den eigenen Familien und in ihrem persönlichen Umfeld kennengelernt haben und welche die Jugend derer prägten, die heute ihre Eltern und Lehrende sind. Das gesammelte Material wurde in der Lehrveranstaltung besprochen, reflektiert und anschließend in der Ausstellung präsentiert und diskutiert. Die als »Friedliche Revolution der Bücher« benannte Aktion wurde in der Zeit von November 2019 bis Januar 2020 von Kindern einer benachbarten Horteinrichtung, die zu regelmäßigen interaktiven Workshops die Hochschule besuchten, genutzt und durch die Gestaltung von »Lesekisten« weitergeführt. Die Kinder hielten sich vor Schulbeginn, während der Mittagszeit aber auch nach Schulschluss meistens im Foyer und in der Kantine der Hochschule auf. Das Ziel war hier, Kinderbücher für die Kinder, aber auch für die sie begleitenden Erwachsene zugänglich zu machen und Dialoge zwischen den Angehörigen verschiedener Generationen mit Bezug auf die Bücher aus Ost- und Westdeutschland zu initiieren. Eine Bücherbörse an der Hochschule mit Tauschmöglichkeiten erinnert an dieses Kinderbuchprojekt bis heute. Es regt an, die Möglichkeiten der oral history und die Förderung von literacy in Zukunft professionell weiterzuführen, aber auch den Umgang mit Differenzen und Differenzsetzungen, zu bereichern. An dritter Stelle in diesem thematischen Block steht der von der Jury des »Best paper award« ausgezeichnete studentische Beitrag von Joachim Köhler, Absolvent im Masterstudiengang Social Work. Er geht auf den Vortrag von Daniel Kubiak zur Untersuchung ostdeutscher Identitäten am 14.11.2019 ein. Dabei wird eine spannungsvolle Konstruktion nationaler Identität entworfen, die den exkludierenden Charakter der Zugehörigkeitsmerkmale »ostdeutsch« und »Mensch mit Migrationshintergrund« zusammenführt. Köhler fasst seinerseits die Erträge des Ansatzes von Kubiak zusammen und entwirft eine anspruchsvolle eigenständige »erkenntnistheoretische Deutung mit hegelianischer Dialektik«. Er fordert in seinem Aufsatz »Gedanken zur unendlichen Geschichte der ostdeutschen Identität – eine erkenntnistheoretische Gegenüberstellung« die Dekonstruktion von abstrakter Identität. Dabei verfolgt er die Intention, die in Ost und West gespaltene Gesellschaft auf die überall wirkmächtigen sozialen Ungleichheiten hinzuweisen und damit gleichsam den einen mit dem anderen Missstand (dialektisch) zu widersprechen.
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Der Artikel von Anna Nabrdalik, Absolventin des Masterstudiengangs Beratung, gehört ebenso zu den preisgekrönten studentischen Beiträgen. Im professionstheoretisch ausgelegten Beitrag wird das Potenzial von psychosozialer Beratung als politischer Bildungsprozess hervorgehoben. Anlass ist ebenso der vorhin genannte Vortrag von Daniel Kubiak. Nabrdalik plädiert hier für eine diversitätssensible Beratungspraxis, die die systemwechselbedingten Einschnitte in Biografien in Ostdeutschland nicht ausblendet, sondern den Lebensleistungen ehemaliger DDR-Bürger*innen grundsätzlich anerkennend gegenübersteht. Anhand von Unterschieden professioneller Beratungsangebote bei westdeutschen und ostdeutschen Adressat*innen zeigt der Beitrag das wirkungsmächtige Erbe der DDR bzw. der geschichtlichen Ereignisse um 1989/90 auf. Dies ruft wiederum in Erinnerung, dass die Aufarbeitung der letzten 30 Jahre als professionelle Herausforderung in sozialen Berufen weiterer intensiver interdisziplinärer Diskussionen und weiterhin professioneller Handlungsansätze bedarf. Der preisgekrönte studentische Beitrag der Absolventin des Masterstudiengangs Pflegewissenschaft/Pflegemanagement Erdmute Finning, die seit Juni 2021 im Fachbereich SBE im Projekt »Inklusive Bildung in Mecklenburg-Vorpommern« mit der Qualifizierungsleitung befasst ist. Ihr Beitrag »Ich war immer nur ein Solist – ein Interview mit Volker Keßling« würdigt das Lebenswerk des langjährigen »Behindertenbeauftragten« der Stadt Neubrandenburg. Die Experten-Biografie der besonderen Art wird anhand wichtiger geschichtlicher Ereignisse und überraschender Besonderheiten der Inklusionsdebatte im Osten aufgespannt. Auch wird auf das von Keßling 2019 publizierte Buch »Die Bestattung eines Herings – Leben und Schreiben in drei deutschen Staaten« Bezug genommen, das den persönlichen Rückblick des Autors in die Strukturen der Transformationsprozesse mit viel Humor und Weitblick einbindet. Der Artikel des Soziologen Jens Forkel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Gesundheit, Pflege und Management, knüpft an die Ausstellung LETHE an der Hochschule Neubrandenburg an, welche auf Basis des Forschungsprojekts »Lebensqualität und Erinnerung in dörflichen Gemeinschaften« Devianzerfahrungen und demokratische Öffentlichkeit im ländlichen Raum in den Blick nimmt. Im Erkenntnisinteresse des Projektes stand das Empowerment soziokultureller und gesundheitlicher Selbstwirksamkeit älterer Menschen. Für die Auswertung der empirischen Daten wurde ein Ansatz entwickelt, der die noch weitestgehend unverstandenen Zusammenhänge von sozialer, territorialer und gesundheitlicher Ungleichheit im dörflichen Sozialfeld empirisch nachvollziehbar macht. Im letzten Beitrag dieses Abschnittes geht es um den Umgang mit der Aufarbeitung des Doping-Missbrauchs im DDR-Spitzensport. Die Zeitzeugin Silke Gajek, Absolventin des Masterstudiengangs Social Work (2020) interviewte in der Projektwoche den Regisseur André Keil zu dessen Dokumentationsfilm »Kraftakt«. Der Film ist eine Folgeproduktion des Halbstunden-
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films »Kindheit unter Qualen« (2017), in dem ein Team um André Keil, der in der Nähe von Schwerin geboren wurde und selber DDR-Leistungssportler war, in einer weitbeachteten Dokumentation für die ARD das Schicksal von DDR-Sportlerinnen anhand von biografischen Dokumenten und Erzählungen aufgedeckt hatte. Die Frauen waren typischerweise im jungen Alter, als kleine Mädchen in das Leistungssportsystem gekommen und gehören zu denjenigen, die ein Leben lang mit Folgeschäden und Traumata belastet sind, die durch überzogenen Leistungsdruck und Missbrauch an den Leistungszentren der Kinder- und Jugendsportschulen der DDR verursacht wurden. In einer Stadt, die sich wie Neubrandenburg auch über Erfolge bei Weltmeisterschaften und Olympiaden definiert, sind solche Aufarbeitungen zuweilen schmerzhaft und können kaum ohne Emotionen geführt werden, insbesondere wenn die Erlebnisse mit Erfahrungen von Repressionen der Staatssicherheit verbunden waren. Umso anerkennenswerter ist es, dass Silke Gajek nach der Filmvorführung des Filmes »Kraftakt« in der Projektwoche eine öffentliche Diskussion organisierte, in der auch die Möglichkeit bestand, den Regisseur André Keil persönlich zu sprechen. Im Interviewbeitrag werden zentrale Befunde aus dem Aufarbeitungsprozess reflektiert, der für andere Sportbereiche noch aussteht bzw. von relevanten politischen und zivilgesellschaftlichen Entscheidungsträger*innen vorangetrieben werden sollte. Auch kommen Bedarfe ehemaliger Sportlerinnen sowie gesellschaftlicher Institutionen zur Sprache, die durch Beratung und Aufarbeitung sowie unter Mitwirkung von Fachkräften sozialer Berufe zu adressieren sind. Der Abschnitt zu den kulturpädagogischen und biographischen Rückblicken beginnt mit dem Beitrag von Steffi Brüning, Leiterin der Dokumentations- und Gedenkstätte der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit Rostock in Trägerschaft der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und Claudia Kühhirt, Studienleiterin für Demokratiebildung im Regionalzentrum für demokratische Kultur Landkreis und Hansestadt Rostock. Die Autorinnen stellen in ihrem Beitrag »Erzähl mir Deine Geschichte – Erzählcafés als Methode der politischen Bildung« das Potenzial von Erzählcafés für die Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung der jüngsten Geschichte heraus. Rekurrierend auf eigene Erfahrungen mit der Methode des Erzählcafés in der politischen Bildungsarbeit, die aus der Biografiearbeit mit älteren Menschen bekannt ist20 , setzt ihre Eingangsfrage bei den Identitäten Ostdeutscher an, die durch die gesellschaftlichen Umbrüche auf besondere Weise gekennzeichnet sind. Wie sich dies auf die Biografien in Mecklenburg-Vorpommern bis in die Gegenwart auswirkt, lässt sich als Plädoyer verstehen, individuelle Erlebnisse für die Demokratie-Bildung nutzbar zu machen. Die Autorinnen resümieren ihre Erfahrungen mit den von ihnen initiierten Erzählcafés, die sie im 30. Jubiläumsjahr von 1989 mit verschiedenen Kooperationspartner*innen in Mecklenburg-Vorpommern umgesetzt hatten. Die Methode 20
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gibt Impulse zur biografischen Arbeit und schärft den Blick für die Verknüpfung von biografischen Erfahrungen mit Einstellungs- und Handlungsmustern. Der darauffolgende Beitrag von Constanze Jaiser, Leiterin des Projekts zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung in der Trägerschaft der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V., beschäftigt sich mit einer Projektwoche zur »Kolonialen Spurensuche in Neubrandenburg«. Gemeinsam mit Bianka Bülow, ehem. Leiterin des EU-geförderten Medienprojektes YEAD sowie der Studentin Josephine Janshen, 2021 Absolventin des Masterstudiengangs Social Work, führte sie das Bildungsprojekt mit Jugendlichen in benachteiligenden Lebenslagen, darunter Geflüchtete aus verschiedenen Ländern, in Kooperation mit der Stadt Neubrandenburg, durch. Im Mittelpunkt stand eine beeindruckende Sammlung von Alltagsgegenständen und Fotoaufnahmen aus Samoa und Polynesien, die der Neubrandenburger Arzt Bernhard Funk im ausgehenden 19. Jahrhundert dem damals noch jungen Neubrandenburger Regionalmuseum durch eine Schenkung vermachte. Der Beitrag erläutert die Herausforderungen des prozessorientierten Vorgehens, die Vielfalt der partizipativen Methoden und die Chancen eines subjektorientierten Lernens in einer diversen Lerngruppe. Insbesondere werden erfolgversprechende Potenziale außerschulischer Jugendbildung in einem unterstützenden Setting in Kooperation von Schule und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Partnerorganisationen verdeutlicht. Der dritte Beitrag dieses Abschnittes von Sophie Dietel, Absolventin des Masterstudiengangs Social Work, »Tanz als Protestform – Wirkungsweisen und Deutungen aus Tänzer*innen-Sicht« ist die Verschriftlichung des Vortrages der Autorin vom 13.11.2019, welchen sie im Rahmen des Panels »Demokratie adé? – Präsentation aus dem Forschungsseminar der Fachbereiche Gesundheit, Pflege und Management und Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung« hielt. Das Medium Tanz ist eine der ältesten Kultur- und Ausdrucksformen, dessen Potenziale hinsichtlich ihrer politischen Dimensionen oft vernachlässigt und unterschätzt werden. Im Zentrum des Beitrags werden Fragen tanzkünstlerischer Arbeit behandelt und das Vermögen insbesondere zeitgenössischer Tanzprojekte und -Performancen herausgestellt, die die Bewusstmachung, den Erhalt und die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft bearbeiten. Der Fokus liegt hierbei auf Aspekten der Partizipation, der Toleranz, der Selbstwirksamkeit sowie auf Fähigkeiten von Differenzierung und Pluralisierung als körperliche Erfahrungen. Welche künstlerischen und sozialen Strategien und Strukturen diesbezüglich in tanzkünstlerischen und tanzvermittelnden Prozessen wirken, welche Handlungswerkzeuge bereits zur Verfügung stehen und welche noch entwickelt werden müssten, sind Leitfragen des Beitrages. Inwiefern Tanz auch Ausdruck von Protest sein kann, wird auf Basis von 2018-19 geführten Expert*innen-Interviews mit Mitgliedern einer namhaften Tanzkompanie aus der Mecklenburgischen Seenplatte diskutiert.
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Der Abschnitt wird mit dem Bericht von Nadine Meyer, Absolventin des Masterstudiengangs Beratung, abgeschlossen. Das im Beitrag beschriebene Erzählcafé wurde von Barbara Bräutigam, Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie, und seit 2020 Prorektorin der Hochschule Neubrandenburg sowie Matthias Müller, Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung konzipiert und am 14.11.2019 moderiert. Der im Titel angekündigten erkenntnisleitenden Fragestellung »Welche Bedeutung hat der Transformationsprozess als gesellschaftlicher Umbruch für die Beteiligten?« geht Meyer anhand der Erzählungen von Zeitzeug*innen und deren Kindern nach, Bezug nehmend auf die Umgangsformen der verschiedenen Generationen mit den prägenden Ereignissen um 1989 in Mecklenburg-Vorpommern. Die Abhandlung beleuchtet auch das Potenzial professioneller Unterstützungsarrangements in Sozialer Arbeit und Beratung mit Schwerpunkt auf Traumabewältigung im intergenerationalen Kontext. Der Artikel von Nadine Meyer wird aus der Perspektive der konzipierenden Professorin Barbara Bräutigam und Professor Matthias Müller gewürdigt und reflektiert. Der letzte inhaltliche Abschnitt fasst jene Aufsätze zu der Themenwoche zusammen, die sich mit zukünftigen Entwicklungen der Zivilgesellschaft befassen und über die engere Revolutionsthematik hinausweisen. Der Aufsatz der Soziologin Uta Rüchel stellt in ihrem Beitrag »Im Schatten der Geschichte. Zum Einfluss von Erinnerungskulturen und transgenerationalen Übertragungen auf den Umgang mit Geflüchteten« die These vom Epochenbruch in Frage. Gesellschaftliche Systemumbrüche haben zweifellos gravierende Auswirkungen auf die von ihnen betroffenen Individuen. Und doch ist die Geschichte eines Einzelnen wie auch einer Gesellschaft immer geprägt von ihrer Vergangenheit. In diesem Sinne zeigt der Beitrag, welche Auswirkungen die verschiedenen Erinnerungspolitiken in Bezug auf den Nationalsozialismus sowie Flucht und Vertreibung hatten. Gleichzeitig wird deutlich, welche bedeutsame Rolle ein eher familiär geprägter Umgang mit der Vergangenheit für die Gegenwart spielt. Im Vergleich hierzu scheinen Systemunterschiede zwischen Ost und West zweitrangig zu sein. Und trotz »Epochenbruch« bleibt das individuelle wie kulturelle Erinnern immer Teil eines Aushandlungsprozesses. Der nachfolgende Beitrag geht auf ein Autor*innenkollektiv zurück, dessen Mitglieder sich für Frauenrechte, für die Sichtbarkeit von migrantischen Lebenslagen in Mecklenburg-Vorpommern, für Empowerment von Menschen mit einer Migrationsbiografie und die Stärkung von Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland aktiv einsetzen. Jana Michael, Patrice Jäger und Zsófia Torma stellen die historischen Bedingungen des unaufgearbeiteten Rassismus der DDR und aktuelle Perspektiven der migrantischen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt. Der bis heute unzulängliche öffentliche Diskurs über Rassismus im Alltag in den ostdeutschen Bundesländern wird aus migrantischer Perspektive mit der Intention thematisiert, die Aufarbeitung migrationsgesellschaftlicher Phänomene und Verän-
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derungen vor und nach 1989 im Nordosten einzufordern. In der aktuellen CoronaPandemie zeichnet sich eine besondere Brisanz auch dieser Thematik ab: Die Krisensituation erschwert eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen in Migration am öffentlichen Leben zusätzlich und begünstigt Gewalt und Diskriminierung gegen sie. In ihrem Aufsatz »Die Gleichberechtigung der Frau ist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft…« geht die Historikerin Jenny Linek, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Gleichstellungsbüros der Hochschule Neubrandenburg dem Thema in 40 Jahren DDR-Geschichte auf den Grund. Eingangs wird begründet, wie Gleichberechtigung in der Verfassung von 1949 verankert wurde und welches politikkonforme Frauenbild für die neue, als gleichberechtigt proklamierte Ära beansprucht wurde. Diskutiert werden die politischen Grundsätze und Maßnahmen der SEDPolitik, die auf eine Integration der Frauen in den Beruf zielten. Leerstellen der Umsetzung der Gleichberechtigung werden schlaglichtartig benannt, welche neben den emanzipatorischen Ausrichtungen im kollektiven Gedächtnis auch Widersprüche und notwendige Differenzierungen aufzeigen lassen. Susanne Richter, Absolventin des Masterstudiengangs Beratung, würdigt abschließend den Workshop von Tahera Ameer »Demokratie und Rassismus – Rassismen und Rassismuskritik in der DDR und der BRD«, der am 12. November 2019 stattfand. Nach der Wiedergabe zentraler Inhalte des Inputs von Ameer, seit 2016 Projektleiterin von Aktion Schutzschild in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung, nimmt die Autorin eine persönliche Reflexion des Themas vor, in der sie sich für die Sichtbarmachung und Beachtung von Rassismus als »ein maßgeblich die Gesellschaft strukturierendes Merkmal« und somit als Gegenstand von professioneller Beratung in zweierlei Hinsicht ausspricht. Einerseits geht es Richter um die Sichtbarmachung gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich durch Interaktionen reproduzieren und andererseits um die strukturelle Dimension von Rassismus. Der Beitrag rückt die kritische (Selbst-)Reflexion der persönlichen Involviertheit in rassistische gesellschaftliche Praxen als professionelle Herausforderung in den Fokus: Wie lässt sich die eigene institutionelle Praxis auf rassistische Handlungsmuster hin analysieren? Mit den kurz umrissenen Beiträgen können sicher nicht alle oben aufgeworfenen Fragen geklärt und die Breite der Veranstaltungen vollständig dokumentiert werden. Es waren so viele interessante Aspekte und Formate, die eingebracht und diskutiert wurden, dass sie den Umfang dieses Sammelbandes bei weitem überschritten hätten. Zudem war eine lückenlose Verschriftlichung ursprünglich nicht angedacht, zumal der Charakter einer freiwilligen Teilnahme seitens der Studierenden an den alternativen Lehrveranstaltungen 2019 beibehalten werden sollte. Unser Ziel war es, die Mitwirkung der Studierenden bei der thematischen Ausein-
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andersetzung auch in der dabei erdachten Buchpublikation deutlich hervortreten zu lassen. Allerdings sollten an dieser Stelle nicht die vielen anderen Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex vergessen werden, die im Programm im Anhang zu sehen sind und von denen einige auch gut in Erinnerung geblieben sein dürften. Ein Vortrag über die Entstehung des 2014 in Anklam von jungen Menschen gegründeten Jugend- und Kulturzentrums »Demokratiebahnhof« mit anschließender Diskussion über lokale Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven fand am 11. November 2019 statt. Das Planspiel »Festung Europa« fand am 12. November 2019 als gemeinsames Angebot des Regionalzentrums für demokratische Kultur MSE und der Europa-Union MV an der Hochschule statt, während abends im Programmkino Latücht die Filmvorführung »Die Architekten« (Regie: Peter Kahane, DDR, 1990) sowie die lehrreiche Lesung von Holm-Henning Freier, Vorstand des Latücht Film & Medien e.V., zum Thema »Die DDR-Gesellschaft im DEFA-Film zwischen Idealisierung und Kritik« stattfanden. Der autobiografisch motivierte Film »Zonenmädchen«, dessen Vorführung am 13. November 2019 stattfand, wurde mit der Regisseurin Sabine Michel vom Publikum besprochen. Nach der Vorlesung über die »Kultursoziologie der Nachwendezeit« diskutierte Professor Matthias Tischer mit seinen Hörer*innen über »Wende«-Erfahrungen von Produzent*innen, Rezipient*innen und Kulturverwalter*innen und wie der politische und ökonomische Wandel seitens der Künste reflektiert wurde. Mit dem Hörspiel »Gretchenfrage 2.0« wurde an den dem DDR-System gegenüber kritisch eingestellten Lehrer Jürgen Raßbach (Deutsch, Latein) gedacht, der 1982 an der damaligen EOS »Richard Wossidlo« Berufsverbot erhielt. Das partizipativ konzipierte Hörspiel entstand in Zusammenarbeit mit Schüler*innen der Sekundarstufe II und der Lehrerin Dr. Dorothea Rother unter fachlicher Begleitung der RAAbatz Medienwerkstatt (RAA MV) unter Leitung von Anja Schmidt und Andy Krüger (Medienpädagoge, Medientrecker der Medienanstalt MV), in Kooperation mit dem NB Radiotreff 88,0 Neubrandenburg. Moderiert von Professorin em. Vera Sparschuh fand am 19. November 2019 eine internationale Diskussion zum Thema »The generation change 30 years later« unter Beteiligung von Dr.in Éva Kovács, Ungarische Akademie der Wissenschaften aus Budapest (H), und Dr.‘in Susan Hollinrake, Associate Professor for Social Work, University of Suffolk (UK), mit einer transnationalen Perspektive auf zentrale Veränderungen in jugendlichen Lebenslagen in Europa seit 1989/90 statt. Ein abschließender Höhepunkt der Themenwoche war schließlich die Diskussionsrunde »Waldleben, Lütten-Klein – und Neubrandenburg? Friedliche Revolution und der Zerfall von Ordnungen« im Stadtarchiv Neubrandenburg, die Professor Kai Brauer und Jenny Linek moderierten. Als Gäste waren mit Professor Steffen Mau und Professor Sighard Neckel zwei prominente deutsche Soziologen geladen. Letzterer ist durch Publikationen und Medienpräsenz zur Deutung, Umgang und Folgen der Finanzkrise, aber auch zur Nachhaltigkeit einem breiteren Publikum
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bekannt. Er zählt zu den führenden Stimmen der deutschen Soziologie, die er durch seine grundlegenden Studien zu Status und Scham, zur Erfolgskultur der Marktgesellschaft, zu ethnischer Exklusion sowie mit der Refeudalisierungsthese bereichert hat. Viele wissen nicht, dass er einer der ersten Westdeutschen war, der ethnographische Studien in der noch existierenden DDR durchführte. Die in diesem Zusammenhang erschienene Gemeindestudie »Waldleben – Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989«21 wurde ab November 1989 in Eberswalde durchgeführt und zählt heute zu den Klassikern der deutschen Community Studies. Autor und Publikum kamen in einen sehr interessierten Austausch über die erste Zeit nach der Revolution und die spezifischen Entwicklungen, die das Systemwechsel mit sich brachte. Es konnte an die ungeahnten Herausforderungen erinnert werden, die notwendig wurden, um sich in einem neuen System zu bewähren und sich als vollwertige Gesellschaftsmitglieder empfinden zu können. Anstrengungen, die kaum je zu einer adäquaten Anerkennung geführt haben. Sighard Neckel zur Seite saß mit Steffen Mau ein jüngerer Soziologe, der seit 2015 den renommierten Lehrstuhl für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin innehat und sich vor allem mit ungleichheitssoziologischen Werken und seinem kritischen Blick auf die »Macht der Zahlen« einen international beachteten Namen gemacht hat. In seiner Publikation »Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft« befasste er sich aus einer autobiographischen Perspektive mit der Transformation, da er im Titel genannten Stadtteil von Rostock aufwuchs und die Revolution selber bei Aktionen gegen Waffenlager der Staatssicherheit hautnah miterlebte. Beide Vortragende teilten die Einschätzung, dass ostdeutsche Gemeinden außerhalb der bekannten Zentren für die westdeutsche Wahrnehmung mehr oder weniger uninteressant waren und bis heute blieben, obwohl sich gerade hier jene folgenreichen Spannungen zuspitzten, die eine genauere ethnographische Betrachtung erfordert hätten. Die Figurationen von Akteur*innen in Lebenswelten mit extremer Veränderung aller institutioneller Rahmen und lokaler Machtgefüge sind einzigartig: chancenreich, aber auch brisant und für viele enttäuschend. Letztere suchen Erklärungen und die Wiederherstellung jener vollwertigen Anerkennung, die ihnen durch die Entwertung der meisten Fixpunkte ihrer lokalen und biographischen Maßstäbe abhandenkamen. Hilfe dafür sollten auch zivilgesellschaftliche Institutionen bieten – und nicht deren erklärte Feinde. Die Diskussion war eingebettet in die Methodenwerkstatt »Gemeindestudien/Ethnographie/Stadtsoziologie: Lebensumstände, Bedarfe und Strukturen in lokalen Kontexten erkennen« von Kai Brauer und wurde im Rahmen der Hochschulreihe »Lehre an besonderen Orten« in den zentral gelegenen Saal des Stadtarchives verlegt, der schnell restlos ausgebucht war. 21
Neckel 1999.
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Gedankt sei an dieser Stelle allen Förder*innen, die die Veranstaltungsreihe 2019 finanziell und ideell unterstützt haben: der Stadt Neubrandenburg, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Partnerschaft für Neubrandenburg im Rahmen des vom BMFSFJ geförderten Programm »Demokratie leben!« und der Europa-Union Mecklenburg-Vorpommern. Auch möchten wir unseren Dank an alle 2019 beteiligten Diskutierenden aus Neubrandenburg und der Region MSE sowie die vielen Studierenden richten, die der Veranstaltungsreihe 30 Jahre… ihre Aufmerksamkeit widmeten. Allen Beitragenden, deren Artikel die Weiterführung des Dialogs und schließlich diese Publikation ermöglicht haben, gilt unser besonderer Dank. Ohne die organisatorische Hilfe der Hochschule wäre die Fertigstellung in dieser Form nie möglich gewesen. Vom damaligen Dekan Werner Freigang, über Maureen Grimm vom Arbeitsbereich Dialog Hochschule-Gesellschaft und dem seit 2020 tätigen Leiter des Referats Marketing & Kommunikation André Hesse-Witt bis zum Rektor Professor Gerd Teschke waren alle vom Erfolg und der Notwendigkeit einer solchen Form der Dokumentation überzeugt und haben für unsere Strecke die entsprechenden Weichen gestellt und positive Signale gesendet. Großer Dank gilt dem Journalisten Thomas Schulze, der die Plakate und Demonstrationstransparente aus dem Herbst 1989 kurz vor Redaktionsschluss im Archiv des Regionalmuseums Neubrandenburg abgelichtet und die Fotos zur ersten Veröffentlichung freigegeben hat. Für die großzügige finanzielle Förderung gilt unser besonderer Dank Herrn Jochen Schmidt und den Mitarbeitenden der Landeszentrale für politische Bildung MecklenburgVorpommern, die eine Veröffentlichung des Bandes beim transcript Verlag ermöglicht haben. Für die ideelle und finanzielle Förderung der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V., namentlich Christian Utpatel und Constanze Jaiser, sind wir ebenso großem Dank verpflichtet. Auch danken wir Sandra Pingel-Schliemann für ihr fachkundiges Lektorat und den dabei entstandenen fachlichen Austausch. Für die redaktionelle Überarbeitung, Korrektorat und Layouting gilt unser Dank Jenny Oster und Franziska Rämänen-Praße, die als wissenschaftliche Hilfskräfte und Monika Schmidt, die als studentische Hilfskraft das Buchprojekt in der Abschlussphase im Sommer 2021 umsichtig und präzise betreut haben. Schließlich danken wir an Miriam Galley und allen Mitarbeitenden des transcript Verlags für die wertvolle Zusammenarbeit. Neubrandenburg, im September 2021 Júlia Wéber und Kai Brauer
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Quellen- und Literaturverzeichnis Bode, Ingo (2014): Wohlfahrtsstaatlichkeit und Dritter Sektor im Wandel: die Fragmentierung eines historischen Zivilisationsprojekts. In: Zimmer, Anette; Simsa, Ruth (Hg.): Forschung zu Zivilgesellschaft, NPOs und Engagement. Quo vadis? Wiesbaden: Springer VS, S. 81-96. Böhnisch, Lothar (2018): Die Verteidigung des Sozialen. Ermutigungen für die Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa. BpB – Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (2016): Vor 25 Jahren: Ende des Warschauer Paktes. In: Hintergrund aktuell. https://www.bpb.de/politik/hint ergrund-aktuell/223801/1991-ende-warschauer-pakt (Abfrage: 29.05.2021). Gille, Christoph/Jagusch, Birgit/Krüger, Christine/Wéber, Júlia (i. E.): Ambivalente Verhältnisse und steigende Einflussnahmen: Soziale Arbeit und die extreme Rechte. In: Simon, Stephanie/Thole, Werner (Hg.): Recht extrem – Dynamiken in zivilgesellschaftlichen Räumen. Wiesbaden: Springer VS. Himmelmann, Gerhard (2016): Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Himmelmann, Gerhard (2007): Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. 3. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. IFSW – International Federation of Social Workers/Generalversammlung (2014): Globale Definition der Sozialen Arbeit www.ifsw.org/what-is-social-work/glo bal-definition-of-social-work/ (Abfrage: 30.05.2020). Keßling, Volker (2019): Die Bestattung eines Herings. Leben und Schreiben in drei deutschen Staaten: zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. AdmannshagenBargeshagen: BS-Verlag-Rostock. Kohn, Johanna/Caduff, Ursula (2010): Erzählcafés leiten. Biografiearbeit mit alten Menschen. In: Haupert, Bernhard/Schilling, Sigrid/Maurer, Susanne (Hg.): Biografiearbeit und Biografieforschung in der Sozialen Arbeit. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 193-237. Köttig, Michaela/Röh, Dieter (2019): Demokratie und Soziale Arbeit – ein herausforderndes Wechselverhältnis. In: (Dies.) (Hg.): Soziale Arbeit in der Demokratie – Demokratieförderung in der Sozialen Arbeit. Theoretische Analysen, gesellschaftliche Herausforderungen und Reflexionen zur Demokratieförderung und Partizipation. Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich, S. 11-20. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2019): Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München: C.H. Beck. Lindqvist, Sven (1989): Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Bonn: Dietz. Mau, Steffen (2017): Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp.
Friedliche Einleitung zum revolutionären Gedenken
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Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern Das zentrale Erinnerungszeichen des Landes in Waren (Müritz) Jochen Schmidt und Anne Drescher
Einleitung Das Erinnern an die Friedliche Revolution von 1989 beginnt in MecklenburgVorpommern schon kurze Zeit nach den Ereignissen selbst. In den 1990er Jahren waren es vor allem Akteur*innen der Friedlichen Revolution, die auf lokaler und regionaler Ebene Dokumente sammelten und Ausstellungen und Veranstaltungen zu den entsprechenden Jahrestagen initiierten und organisierten. So entstanden neben der Wanderausstellung »Aufbruch im Norden. Die friedliche Revolution in Mecklenburg-Vorpommern 1989/90«1 auch lokale Erinnerungszeichen, die aber häufig nicht expressis verbis auf die Friedliche Revolution, sondern auf die Besetzung der Stasi-Zentralen ab Dezember 1989 oder die deutsche Einheit rekurrieren. Die Ausnahme blieben dabei Zeichen im öffentlichen Raum, die explizit die Friedliche Revolution 1989 in den jeweiligen Orten thematisieren. So weist z.B. in Schwerin eine kleine Gedenkstele am »Arsenal«, dem früheren Sitz der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und dem heutigen Sitz des Innenministeriums, auf die große Demonstration vom 23. Oktober 1989 hin. In Proseken nahe Wismar erinnert eine Tafel an der Kirche an die regionale Gründung des Neuen Forums. Erst im Jahr 2017 gab eine parlamentarische Initiative den Anstoß dazu, die Friedliche Revolution von 1989 auch in der Erinnerungslandschaft MecklenburgVorpommerns sichtbar zu verankern. Mit einem gemeinsamen Antrag von CDU und SPD, dem auch alle anderen in Landtag vertretenen Fraktionen zustimmten, wurde die Landesregierung zunächst beauftragt, ein Konzept für einen Gedächtnisort zur Friedlichen Revolution im Land zu erarbeiten.2 Dieses Konzept
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LpB o.J.a. Landtag MV 2017.
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legte die Landesregierung 2018 vor. Erarbeitet wurde es von der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur (LAMV) und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern (LpB) in einem Diskussionsprozess unter Einbeziehung von Akteur*innen der Friedlichen Revolution und politischen Bildner*innen.3 Folgende grundsätzliche Überlegungen dienten als Leitfaden für die im Konzept vorgestellten Vorschläge: 1. Die Friedliche Revolution von 1989 in der DDR steht für den Aufbruch in Freiheit und Demokratie und für die Befreiung der Bürger*innen von der SEDDiktatur gegen die Widerstände der Macht von Partei und Staat. Sie steht für eine offene und demokratische Gesellschaft und für das Überwinden von Grenzen. 2. Das friedliche Engagement von Bürger*innen war neben den internationalen Entwicklungen entscheidend für die Wiedererlangung der demokratischen Selbstbestimmung und für die Deutsche Einheit. Dieses Engagement ist ein bleibendes Vermächtnis und Anlass für eine positive Identifikation der Bürger*innen mit ihrem Land. 3. Die Friedliche Revolution erlangte ihre entscheidende Kraft durch ihren Charakter als dezentrales Ereignis. Sie ging nicht von der Metropole Berlin, sondern von den einzelnen Bezirken, Kreisen und Gemeinden aus. Auch in den Bezirken war die Friedliche Revolution geprägt durch Demonstrationen, Zusammenkünfte und Diskussionen in unzähligen kleineren Städten und Gemeinden. Dies gilt nicht zuletzt auch für das heutige Mecklenburg-Vorpommern. 4. Gedenken und Erinnerung sind dann zukunftsfähig, wenn sie mit einer dauerhaften Bearbeitung von Themen in der historischen und politischen Bildungsarbeit verbunden werden.
Das erarbeitete Konzept schlug für die Etablierung der Friedlichen Revolution als wichtiges Element der Erinnerungskultur des Landes drei Säulen vor: erstens die Etablierung eines zentralen Gedächtnisortes für das Land insgesamt in Waren (Müritz), zweitens die Schaffung eines Fonds als Anreiz für Kommunen, lokale Erinnerungszeichen zu errichten4 und drittens die Verstärkung der digitalen Erinnerung durch die Bereitstellung eines Informationsportals im Internet.5 Zur Ausgestaltung des Gedächtnisortes in Waren (Müritz) sah das Konzept neben dem Aufbau einer Dauerausstellung zur Friedlichen Revolution im Norden der 3 4 5
Landtag MV 2018. Kommunen können für Gedenkzeichen, Tafeln o. ä. auf Antrag bei der LpB hierfür einen Zuschuss von 1989 Euro erhalten. LpB o.J.d.
Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern
DDR die Schaffung eines zentralen Erinnerungszeichens bzw. Denkmals für das Land vor. Für den Vorschlag von Waren (Müritz) als zentralen Gedächtnisort für Mecklenburg-Vorpommern gaben sowohl historische Kriterien als auch die zentrale Lage und Erreichbarkeit den Ausschlag. In Waren (Müritz) fand nach derzeitigem Forschungsstand am 16. Oktober 1989 nachweislich erstmals ein Demonstrationszug im Norden der DDR mit 400 Teilnehmer*innen statt. Nach dem Fürbittgottesdienst in der St.-Georgen-Kirche machten sich Menschen mit Kerzen in den Händen auf den Weg von der Kirche St.-Georgen zur St.-Marienkirche und beanspruchten so den öffentlichen Raum für sich.6 In der Folge wird hier die Entwicklung, Entstehung und Errichtung des zentralen Erinnerungszeichens beschrieben, dessen Umsetzung nach der Annahme des Konzepts durch den Landtag trotz widriger Bedingungen aufgrund der CoronaPandemie im geplanten Zeitraum umgesetzt werden konnte.
Auf dem Weg zum zentralen Erinnerungszeichen – künstlerischer Wettbewerb Die Stadt Waren (Müritz) hatte den Beschluss des Landtages und das Konzept begrüßt und war bereit, eine der wenigen verfügbaren städtischen Flächen mit historischem Bezug zum 16. Oktober 1989 vor der Kirche St. Georgen für die Errichtung des zentralen Erinnerungszeichens zur Verfügung zu stellen. Der Gedenkstein, der hier bis 2019 lag, wurde mit Zustimmung seines Initiators, Andreas Handy, entfernt und wird einen neuen Platz in der künftigen Dauerausstellung finden.7 Nach der Klärung dieser Rahmenbedingungen wurde durch die LpB in Abstimmung mit dem Künstlerbund Mecklenburg-Vorpommern ein zweistufiges Verfahren in Anlehnung an die künstlerischen Wettbewerbe »Kunst am Bau« entwickelt.8 In einem ersten Schritt erfolgte eine bundesweite Ausschreibung. Im Anschluss wurden aus den eingegangenen Bewerbungen durch einen Sachverständigenausschuss zehn Künstler*innen ausgewählt und eingeladen, »eine künstlerische Intervention zu entwickeln, die sich mit dem beschriebenen Thema auseinandersetzt und dabei über eine hohe künstlerische Qualität und Aussagekraft verfügt«. Die inhaltlichen Vorgaben wurden bewusst weit gefasst: »Das Erinnerungszeichen soll die Bedeutung und Dynamik der Friedlichen Revolution 1989 darstellen. Charakteristisch für die Friedliche Revolution 1989 waren 6 7 8
Siehe auch: Kniesz 2020, S. 32-35. Andreas Handy war einer der Protagonisten der Friedlichen Revolution in Waren (Müritz) und Mitorganisator der sog. »Turnhallenforen« in der Stadt im Jahr 1989. Die Autor*innen danken Frau Uta Rüchel, die im Auftrag der LpB und der LAMV den Prozess koordinierte.
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Aufbruch, Dialog und Vielfalt. In diesem Sinne soll die Erinnerung an den selbstbewussten Akt der Aneignung des öffentlichen Raums durch die Bürger sowie an die Forderung nach freiheitlichen und demokratischen Strukturen gestärkt werden.«9 Die zehn eingereichten Wettbewerbsbeiträge deckten eine große Bandbreite im Zugang und der Bearbeitung des Themas ab.10 Vor der Befassung der Jury wurden die Beiträge online11 und im Rahmen einer Wanderausstellung in Anklam, Bergen, Demmin, Dummerstorf, Gnoien, Greifswald, Grevesmühlen, Güstrow, Ludwigslust, Neubrandenburg, Neustrelitz, Pasewalk, Rostock, Schwerin, Stralsund, Ueckermünde, Waren (Müritz) und Wismar öffentlich präsentiert. Die Rückmeldungen der Besucher*innen wurden gesammelt und der Jury vor ihrer Entscheidung vorgelegt. Die stimmberechtigten Mitglieder der Jury12 entschieden sich am 23. September 2019 für den Wettbewerbsbeitrag »Perspektiven zur Freiheit« von Dagmar Korintenberg und Wolf Kipper. In der Begründung für den Siegerentwurf, der an die Transparente der Demonstrationen des Herbes 1989 erinnert, heißt es: »Die begehbare Installation aus Stelen und Tafeln mit Losungen der Friedlichen Revolution ist eine sehr zeitgemäße künstlerische Antwort auf die Wettbewerbsaufgabe. Sie weckt Neugier, bietet Informationen, lädt zum Erinnern wie auch mit Sitzgelegenheiten zum Verweilen ein. Die Stelen und Tafeln assoziieren in ihrer großen Zahl eine friedliche Demonstration mit Transparenten. Im Blick nach oben zum freien Himmel erscheinen die Parolen der Friedlichen Revolution in ausgestanzter Schrift auf rechteckigen Tafeln. Sonnenlicht lässt Schatten spielen und Schrift spiegelt sich auf dem Boden. Das Erinnerungszeichen hat mit seinen authentischen Losungen einen didaktischen Anspruch ohne den Zeigefinger zu heben. Es lockt mit seiner Offenheit und Leichtigkeit zu Austausch und Begegnung und eröffnet ›Perspektiven zur Freiheit‹.«13
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LpB o.J.c. Alle Wettbewerbsbeiträge sind einsehbar unter: LpB o.J.b; LpB o.J.c. Neben der Präsentation auf www.lpb-mv.de hatte der Nordkurier alle Beiträge vorgestellt und die Leser zum Online-Voting aufgerufen. Stimmberechtigte Jurymitglieder waren: Dr. Leonie Beiersdorf, Kunsthistorikerin (Karlsruhe); Bernd Engler, freier Künstler (Ückeritz); Udo Rathke, freier Künstler (Plüschow); Annekathrin Siems, Kunsthistorikerin (Schwerin); Prof. Berndt Wilde, freier Künstler (Berlin); Andreas Handy, Zeitzeuge (Waren (Müritz)); Florian Mausbach, Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung a. D. (Berlin); Norbert Möller, Bürgermeister der Stadt Waren (Müritz); Beate Schlupp, Vizepräsidentin des Landtags Mecklenburg-Vorpommern. LpB o.J.c
Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern
Das Erinnerungszeichen Nach der öffentlichen Präsentation des Siegerentwurfs bei der Festveranstaltung des Landes zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution am 16. Oktober 2019 in Waren (Müritz) wurde das Erinnerungszeichen am 16. Oktober 2020 im Rahmen eines Festakts der Öffentlichkeit übergeben. Die besondere Bedeutung der Friedlichen Revolution und des Erinnerungszeichens für das Land insgesamt kam in der protokollarisch außergewöhnlichen Mitwirkung sowohl der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig als auch der Präsidentin des Landtags Mecklenburg-Vorpommern Birgit Hesse an beiden Veranstaltungen zum Ausdruck.
Abb. 1: »Perspektiven zur Freiheit«: Das zentrale Erinnerungszeichen MecklenburgVorpommerns an die Friedliche Revolution 1989 vor der St. Georgenkirche in Waren (Müritz).
Foto: LpB
Auf Initiative der Künstlerin und des Künstlers wurde die Installation zusätzlich mit einer Augmented-Reality-Erweiterung versehen: mit Nutzung einer App können Besucher*innen durch die Ausrichtung ihres Smartphones auf die Losun-
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Abb. 2: Das zentrale Erinnerungszeichen aus der Vogelperspektive.
Foto: Dagmar Korintenberg/Wolf Kipper
Abb. 3: Anwendung der medialen Erweiterung des Erinnerungszeichens.
Foto: Dagmar Korintenberg/Wolf Kipper
Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern
Abb. 4: Einweihung des Erinnerungszeichens am 16. Oktober 2020. V.l.n.r.: Künstlerin Dagmar Korintenberg, Zeitzeuge Christoph de Boor, Landtagspräsidentin Birgit Hesse, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, Zeitzeugin Dietlind Glüer, Künstler Wolf Kipper.
Foto: LpB
gen des Erinnerungszeichens Originalaufnahmen und -videos aus dem Herbst 1989 abrufen.14 Eine besondere Würdigung der Gestaltung des Erinnerungszeichens erfolgte im April 2021 durch die Auszeichnung mit dem iF Design Award und im Juni 2021 mit dem European Design Award.15
Ausblick Als erstes Bundesland erinnert Mecklenburg-Vorpommern seit 2020 mit einem eigenen Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum an die Friedliche Revolution von
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Bei der App handelt es sich um die im Museumsbereich verbreitete Anwendung »Artivive«. LpB 2021a; LpB 2021b.
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1989. Auch im Bund ist es bislang nicht gelungen, die schon beschlossenen Planungen für ein »Einheits- und Freiheitsdenkmal« in die Tat umzusetzen. Dies ist umso bedauerlicher, als die Friedliche Revolution nicht nur aus der Perspektive der deutschen Geschichte positiv herausragt. Dieses zentrale Ereignis der jüngeren deutschen und europäischen Demokratiegeschichte bietet auch eine Vielzahl von Ansatzpunkten, um über Demokratie und Diktatur, Freiheit, Partizipation und Teilhabe ins Gespräch zu kommen. Die ersten Rückmeldungen zum Erinnerungszeichen in Waren (Müritz), die aufgrund der Corona-Pandemie naturgemäß nur eingeschränkt eingingen, deuten darauf hin, dass genau diese – z.T. kontroverse – Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Demokratie mithilfe dieser symbolischen Erinnerung im öffentlichen Raum stattfindet. Von großer Bedeutung ist deshalb auch die Umsetzung der weiteren Elemente des oben skizzierten Konzepts und die Schaffung eines Ortes der Bildung und Begegnung. Besonders für junge Menschen sollte dies ein Ort sein, an dem sie sich über das historische Geschehen informieren können, sich gleichzeitig aber mit Fragen nach Gegenwart und Zukunft der Demokratie in ihrem Land konfrontiert sehen.
Erinnerung an die Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern
Quellen- und Literaturverzeichnis Balzer, Thomas/Stippekohl, Siv (2015): Atlas des Aufbruchs. Geschichten aus 25 Jahren Mecklenburg-Vorpommern. Berlin: Ch. Links Verlag. Kniesz, Jürgen (Hg.) (2020): Herbst ›89 in Waren (Müritz). Zeitzeugen berichten über die Friedliche Revolution. Lüchow: Jeetzel. Landtag MV (Hg.) (2017): »Antrag ›Friedliche Revolution – Kraft und Engagement für zukünftige Generationen bewahren‹, Drucksache 7/529 vom 03.06.2017«. http://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Parlam entsdokumente/Drucksachen/7_Wahlperiode/D07-0000/Drs07-0529.pdf (Abfrage: 01.06.2021). Landtag MV (Hg.) (2018): »UNTERRICHTUNG durch die Landesregierung. Konzept ›Gedächtnisort Friedliche Revolution 1989 in Mecklenburg-Vorpommern‹«. http://www.lpb-mv.de/fileadmin/user_upload/Dateien/Downloads/Foerderu ng/konzept_gedaechtnisort_friedliche_revolution_1989_in_mecklenburg_vorp ommern.pdf (Abfrage: 01.06.2021). LpB MV (Hg.) (2021a): »Erinnerungszeichen erhält renommierten Designpreis«. www.politik-mv.de/2021/04/29/erinnerungszeichen-erhaelt-renommiertendesignpreis/(Abfrage: 23.05.2021). LpB MV (Hg.) (2021b): »Erinnerungszeichen erhält zweiten internationalen Designpreis«. www.politik-mv.de/2021/07/08/erinnerungszeichen-erhaeltzweiten-internationalen-designpreis/ (Abfrage: 20.08.2021). LpB MV (Hg.) (o.J.a): »Ausstellung. Aufbruch im Norden. Die Friedliche Revolution in Mecklenburg-Vorpommern 1989/90«. http://www.mv1989.de/ausstellung (Abfrage: 23.05.2021). LpB MV (Hg.) (o.J.b): »Künstlerischer Wettbewerb ›Erinnerungszeichen 1989‹«. http://www.lpb-mv.de/themen/kuenstlerischer-wettbewerb-erinnerungszeic hen-1989/ (Abfrage: 23.05.2021). LpB MV (Hg.) (o.J.c): »Material. Künstlerischer Wettbewerb. Erinnerungszeichen Friedliche Revolution 1989«. http://www.mv1989.de/material/kuenstlerischerwettbewerb (Abfrage: 23.05.2021). LpB MV (Hg.) (o.J.d): »Wir sind das Volk«. http://mv1989.de/ (Abfrage: 01.06.2021).
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Jugendhilfe vor 30 Jahren und danach – ein schwieriger Rückblick Werner Freigang
Im Rahmen der Woche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« fand sich am 11.11. 2019 im Café International in der Neubrandenburger Innenstadt eine Gesprächsrunde von Menschen zusammen, die das gemeinsame Merkmal haben, in den Jahren nach dem Umbruch in und an den Veränderungen der Jugendhilfe in der Stadt Neubrandenburg und im Land Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet zu haben. Einige der Gesprächsteilnehmer*innen sind in den letzten Jahren in den Ruhestand gegangen, die anderen sind auch heute noch in den Erziehungshilfen tätig. Als Moderator war ich einer von zwei ehemals Westdeutschen in dieser Runde, Ende 1992 an die Hochschule Neubrandenburg gekommen und seither Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung lehrend. Mit allen an der Gesprächsrunde Beteiligten hatte und habe ich langjährige Verbindungen, war sowohl in meiner Funktion als Hochschullehrer (z.B. durch Praxisbegleitung) als auch als Akteur in der regionalen Jugendhilfe (Praxisberatung, Gremienarbeit in der Jugendhilfe, z.B. Jugendhilfeausschuss und Landesjugendhilfeausschuss) am Wandel der Jugendhilfe in Neubrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beteiligt. Allerdings war ich nicht an der Aufarbeitung der Geschichte der Jugendhilfe in der Region beteiligt, wusste bis auf wenige Berichte von Personen, die nicht in die Runde eingeladen waren, kaum etwas über die konkreten Tätigkeiten in der DDRJugendhilfe. Die moderierte Gesprächsrunde sollte dem Rückblick auf die Schwierigkeiten und Chancen der Umbrüche in der Kinder- und Jugendhilfe nach 1989/90 dienen und die fachlichen Erfahrungen der Kolleg*innen aus dieser Zeit reflektieren. Meine Verbindung mit den unterschiedlichen Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe in der Region war sicherlich ein Grund dafür, dass die Teilnehmer*innen der Einladung zu diesem »Kamingespräch« (ohne Kamin, aber immerhin mit fast rundem Tisch) folgten. Ich habe mich dafür entschieden, die Teilnehmer*innen an der Gesprächsrunde in diesem Beitrag nicht namentlich zu benennen. Es gab – nicht unerwartet – an dem Abend und auch nach der Veranstaltung Beiträge von Betroffenen, die ihre immer noch großen emotionalen Belastungen durch die Folgen der DDR-Jugendhilfe
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Werner Freigang
beschrieben und Teilnehmer*innen in der Gesprächsrunde als Akteur*innen des Systems mit in die Verantwortung stellten. In Diskussionen mit dem Publikum kam es dabei zu wenigen, aber zum Teil heftigen Kontroversen. Die Teilnehmer*innen haben die berechtigte Erwartung, dass ich sie vor möglichen Anfeindungen schütze, so dass ich für die Veröffentlichung nur die Funktionen benenne und Aussagen nicht namentlich zuordne. Ich werde unten in meinen kurzen Deutungsversuchen darauf eingehen. Als geladene Gäste waren gekommen: •
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zwei ehemalige leitende Mitarbeiter*innen des Neubrandenburger Jugendamtes, die jeweils bereits vor der Wende im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – in den Bereichen Pionierarbeit und Unterbringung in Heimen – tätig waren; ein – vor und nach dem Umbruch in leitender Position tätiger – Mitarbeiter eines (Normal)-Kinderheims mit 120 Plätzen; der Geschäftsführer eines freien Trägers der flexiblen Erziehungshilfe in Mecklenburg-Vorpommern, der – in Kooperation mit einem Hamburger Träger – am Aufbau und Entwicklung ambulanter Erziehungshilfen im Land und in der Landeshauptstadt maßgeblich mitgewirkt hat; eine Mitarbeiterin der Neubrandenburger Jugendhilfestation desselben Trägers, die als Berufsfremde nach der Wende in diesen Bereich wechselte und berufsbegleitend studierte; ein aus Süddeutschland kommender ehemaliger Mitarbeiter eines westdeutschen Landesjugendamtes und langjähriger leitender Mitarbeiter des Landesjugendamtes Neubrandenburg.
Zwei weitere Gäste mussten aus gesundheitlichen bzw. familiären Gründen kurzfristig absagen. Am Tisch waren damit (ehemalige) Mitarbeiter*innen der DDRJugendhilfe, die auch nach der friedlichen Revolution wichtige Funktionen einnahmen, Mitarbeiter*innen aus Mecklenburg-Vorpommern, die nach 1990 neu in die Erziehungshilfe mit dem Ziel gekommen waren, neue Konzepte und Strukturen zu etablieren, Zugewanderte aus den ›alten Bundesländern‹, die an der Veränderung der Jugendhilfestrukturen in Mecklenburg-Vorpommern mitwirken wollten oder dafür abgesandt worden waren. Zu den Zugewanderten gehöre auch ich als Einladender, aus der Heimerziehung in Westdeutschland kommend wurde ich 1992 auf eine Professorenstelle an der Hochschule Neubrandenburg berufen. Im Publikum fanden sich mehrheitlich interessierte Menschen, die selbst keine - zumindest keine intensiven direkten – Berührungen mit der Thematik hatten, aber auch einige Menschen, die sich im Verlaufe des Abends als ehemalige Adressat*innen oder auch Opfer der DDR-Heimerziehung oder als mit diesen verbun-
Jugendhilfe vor 30 Jahren und danach – ein schwieriger Rückblick
den zu erkennen gaben. Idee des Abends war es, die Entwicklung der Jugendhilfe aus den unterschiedlichen Perspektiven in der »Kaminrunde« vorzustellen, und sie dann – unter Einbeziehung der anderen Gäste – zu diskutieren und zu bewerten. Ich will und kann den genauen Verlauf des Abends hier nicht im Einzelnen schildern, werde aber im Folgenden versuchen, die Spannungen, die deutlich wurden, einzuordnen und zu deuten. Die Überschriften in den nächsten Abschnitten sind bewusst nicht eindeutig gewählt: Kontinuitäten werden persönliche Kontinuitäten und Grundhaltungen genannt, die auf neue Rahmenbedingungen treffen und dort durchgesetzt werden (sollen), wie auch Kontinuitäten in Positionen und Strukturen, die auf veränderte Konzepte und Haltungen treffen und zu Spannungen führen. Dissonanzen werden die inneren oder innerhalb der Institutionen bestehenden Widersprüche zwischen den Aussagen der jeweiligen Diskutierenden genannt, also die NichtÜbereinstimmung bei grundlegenden Orientierungen in der Jugendhilfe, aber auch die Differenzen und Spannungen zwischen den Gästen der Veranstaltung, die zeitweise deutlich zu Tage kamen.
Kontinuitäten In der Vorstellungsrunde knüpften die westdeutschen Teilnehmenden der Runde an die Traditionen der Kritik an der Heimerziehung in den 1970er Jahren und die sich daran anschließenden Ideen der Heimreform und der Entwicklung neuer Hilfekonzepte an. Da 1990 das neue Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII, KJHG), das zu großen Teilen an die Ideen des 8. Jugendberichtes und der Orientierung an den Lebenswelten der jungen Menschen anschließt, sogar zuerst in den neuen Bundesländern in Kraft gesetzt wurde, schien hier die Chance gegeben, bessere Bedingungen zur Umsetzung neuer Konzepte vorzufinden als in den alten Bundesländern, in denen ein radikaler Systemwechsel wegen der etablierten und nicht grundsätzlich in Frage zu stellenden Trägerstrukturen als schwerer umsetzbar herausstellte als in der ehemaligen DDR, in der ohnehin ein Neuanfang gefragt war. Der Verbund Sozialer Projekte (VSP), der mit zwei Mitarbeiter*innen in der Runde vertreten war, verkörperte diese Idee, unterstützt von einem großen Träger und Motor der Heimreform in Hamburg, dem Rauhen Haus, aus dem mit Jochen Rößler auch ein Mitarbeiter zur Mitarbeit am Aufbau neuer Jugendhilfestrukturen ins Sozialministerium nach Schwerin1 wechselte. Auch die Teilnehmer*innen, die
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Das 1990 im Zuge der Neugründung von Mecklenburg-Vorpommern unter dem Namen »Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung« eingerichtete Sozialministerium wird
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erst nach der Wende neu ins Berufsfeld einstiegen, orientierten sich an der Kritik der alten Jugendhilfe in der BRD vor der Heimreform und an der Kritik der DDR-Jugendhilfe vor 1989. Gleichzeitig muss an dieser Stelle betont werden, dass die Reformbewegungen in der Kinder- und Jugendhilfe im Westen das System der Erziehungshilfen in der alten Republik bei weitem noch nicht durchgehend verändert hatten (und auch heute noch nicht haben). Das Fortbestehen der Kritik an den eher psychiatrisch orientierten Konzepten und die Diskussion um die Geschlossene Unterbringung in Einrichtungen der Jugendhilfe zeigen, dass auch ›im Westen‹ repressive Strukturen und Praktiken noch nicht grundlegend geächtet oder abgeschafft worden waren. Eine eindeutige Vorbildwirkung der westlichen Jugendhilfe konnte und kann auch heute noch nicht eindeutig beansprucht werden. Allerdings hatten sich die Diskussionen um Konzepte und institutionelle Bedingungen 1990 deutlich verändert: Mit dem Prozess der Verabschiedung des neuen Jugendhilferechtes begann sich eine partizipative, an den Interessen der Adressat*innen orientierte Praxis immer stärker in Jugendämtern und Einrichtungen zu etablieren. Für den größeren Teil der Teilnehmer*innen in der Runde stellte somit die Identifikation mit der modernen Jugendhilfe, verbunden mit der Kritik an autoritären Strukturen einen wesentlichen Teil der beruflichen Identität und Kontinuität dar, die in der Tätigkeit in der Jugendhilfe in der Erziehungshilfe weiterentwickelt werden konnte. Von Seiten der Teilnehmenden, die zu DDR-Zeiten im dortigen Jugendhilfebereich tätig waren, wurden in der ersten Gesprächsrunde andere Kontinuitäten in den Vordergrund gestellt bzw. andere Diskontinuitäten beklagt: Etwa die intensive, mit viel Personal ausgestattete Kinder- und Jugendarbeit in der DDR (die nach 1990 stark ausgedünnt wurde), die Einbeziehung von Betrieben in die Ausgestaltung von institutionellen Übergängen von der Schule in die Arbeitswelt, die Sicherheit von Beschulung, Ausbildung und Beschäftigung für junge Menschen, die besondere Rolle und intensive Beteiligung von Ehrenamtlichen (die allesamt in der Jugendhilfe nicht mehr die Rolle spielten wie vor 1989), die Mitwirkung unterschiedlicher gesellschaftlichen Gruppen in den Jugendhilfekommissionen (die ja als solche sehr schnell abgeschafft worden waren). Diese Elemente der DDR-Jugendhilfe hätten – so die Botschaft – vielleicht nicht strukturell, aber doch inhaltlich erhalten und in die neue Jugendhilfe integriert werden sollen.
seit 2016 unter dem Namen »Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung« geführt.
Jugendhilfe vor 30 Jahren und danach – ein schwieriger Rückblick
Dissonanzen Die Kontinuität in den Berufskarrieren der Ex-DDR-Jugendhilfemitarbeiter*innen geriet vor allem nach Öffnung der Runde für das Gespräch mit den weiteren Gästen immer stärker in den Blickpunkt. Insbesondere von den Opfern der DDRJugendhilfe wurde der politische und insbesondere der disziplinierende Charakter der Heimerziehung in das Gespräch eingebracht, mit Beteiligten der Gesprächsrunde identifiziert und als zentrale Thematik eingeklagt. Heimerziehung – insbesondere in der besonders drastischen Form der Jugendwerkhöfe – war für die Betroffenen nicht Hilfe, sondern bedeutete den Entzug von Freiheitsrechten und diente vor allem als Mittel der Bestrafung und Abschreckung für andere, so etwas verkürzt die Aussagen aus dem Publikum.2 Die z.T. fehlende Möglichkeit der Berufsausbildung, der Makel, in einer solchen Einrichtung gewesen zu sein, wirke auch nach 30 Jahren weiter. Repression sei kein Unfall und keine Nebenwirkung der »Erziehungs-« Maßnahmen gewesen, Adressat*innen seien die unangepassten und oppositionellen Jugendlichen insgesamt gewesen und teilweise auch deren Familien. Aussagen wie »an den Jugendwerkhöfen war ja auch nicht alles schlecht« riefen daher entschiedenen Protest von Seiten der Betroffenen und deren Begleiter*innen hervor. Es wurde an diesem Abend deutlich, dass die Geschichte der Jugendhilfe in der DDR nicht angemessen aufgearbeitet ist. Insbesondere die Fortsetzung der Tätigkeit von ehemals leitenden Mitarbeiter*innen der DDR-Jugendhilfe hat die Glaubwürdigkeit eines wirklichen Neuanfangs im Bereich der Erziehungshilfen nachhaltig untergraben. Dies bestätigte sich auch in meinen Gesprächen mit Betroffenen nach diesem Abend und in der Folgezeit in einigen Gesprächen mit ehemaligen »Heiminsassen«. Denn die Funktion der Disziplinierung beschränkte sich, wie mehrfach berichtet wurde, nicht nur auf Einrichtungen wie dem Jugendwerkhof Torgau, sondern sie prägte den Charakter auch in von der Öffentlichkeit wenig bekannten Einrichtungen und Behörden in Mecklenburg-Vorpommern. Deren pädagogische Ansätze wurden nach 1990 nicht intensiv genug hinterfragt und einige – nicht federführende, aber eben durchaus den Betroffenen bekannte – Vertreter*innen standen weiterhin noch viele Jahre in der Verantwortung für die Jugendhilfe.
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Dies entspricht auch den Einschätzungen der der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur. Ab 1965 diente die Heimerziehung per Verordnung zur »Umerziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« und wurde damit zu einem wichtigen Teil des Repressionsapparates (BS 2021). Kritik an der autoritären Praxis und militärischen Ausrichtung der Jugendwerkhöfe findet sich u. a. auch bei Krausz 2010 und im Artikel von Censebrunn-Benz 2017.
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Rekonstruktionen Biografien sind Konstruktionen – ich erinnere hier an das (Standard-)Beispiel von Winston Churchill, sinngemäß etwa: »Wer in seiner Jugend nicht Kommunist war, wird nie ein richtiger Demokrat.« Es handelt sich stets um Interpretationen von Lebensgeschichten zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Perspektiven. Menschen interpretieren Entscheidungen, Verläufe und Brüche in Lebenswegen im Kontext ihrer weiteren Entwicklung und im Wissen der Ergebnisse anders als zum Zeitpunkt der Entscheidung oder der Ereignisse. Lebensereignisse erhalten im Rückblick ihren Sinn im Kontext früherer oder auch späterer Ereignisse. Eine Theorie der Sozialwissenschaft (die der selbstwertdienlichen Verzerrung, »selfserving bias«3 ) besagt, dass Ereignisse bevorzugt so interpretiert werden, dass sie das eigene Selbstwertgefühl nicht beschädigen, sondern möglichst stärken. Vergangene Ereignisse werden in diesem Sinne so interpretiert, dass die Deutungen das eigene (positive) Selbstbild möglichst bestätigen. Dissonanzen werden durch solche Interpretationen vermieden, Kontinuitäten hergestellt.4 Vor dem Hintergrund dieses Wissens ist nachzuvollziehen, dass es immer schwieriger werden wird, eine für beide Seiten stimmige Neuinterpretationen der Vergangenheit zu rekonstruieren. Auf der einen Seite stehen beendete Berufsbiografien in der Verantwortung für ein ganzes System, dass diese ggf. nicht in seiner Gänze akzeptieren, aber eben doch daran gebunden bleiben. Auf der anderen Seite leiden deren ehemalige Adressat*innen auch 30 Jahre nach dem Ende dieses Systems unter der Erfahrung der eigenen Jugendhilfevergangenheit und der mangelnden Aufarbeitung. Ein Lernen aus den Fehlern und Verwicklungen der Vergangenheit lässt sich unter aktuellen Kontextbedingungen kaum noch umsetzen, was die beiderseitige Beschämung verstärken dürfte. Die Geschichte des Umgangs mit den Opfern der Jugendhilfe ist und bleibt damit – wie man u.a. auch an der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs z.B. in katholischen Einrichtungen in der alten Bundesrepublik sehen kann – weiterhin ein schwieriges Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe. Das betrifft nicht nur die hier skizzierten persönlichen Verwicklungen, sondern auch die institutionellen Verwicklungen. Eindeutige Bekenntnisse zur Verantwortung (sowohl öffentlicher wie auch freier Träger) könnten möglicherweise Rechtsansprüche Betroffener legitimieren – mit nicht absehbaren finanziellen Folgen für die verantwortlichen Träger. Den betroffenen Opfern geht es dabei – das zeigte sich auch an diesem Abend – weniger um Entschädigung als um Eingeständnis des Unrechts und um Gerechtigkeit.
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Vgl. Miller/Ross 1975. Vgl. Rosenthal 2010.
Jugendhilfe vor 30 Jahren und danach – ein schwieriger Rückblick
Ein Phänomen wurde mir – und wahrscheinlich auch anderen Teilnehmer*innen der Gesprächsrunde – an diesem Abend sehr deutlich, welches ich aufgrund meiner »Verwicklung« nicht in der Stringenz erwartet hatte: Eine neutrale Aufarbeitung der Wende in der Jugendhilfe erscheint heute nur noch schwerlich möglich, da die Bilanzen schwer revidierbar sind. Churchill behauptete mit seiner Aussage im Kern, dass er ohne seine Fehleinschätzung in früheren Jahren nicht das geleistet haben könnte, was er später geleistet hat. Am Ende eines Weges ohne Distanzierung von eigenen Irrtümern aber ist es schwer, eine solche Bilanz zu erstellen, da man das »Gelernt-Haben« nicht mehr durch späteres Handeln belegen kann. Dann erscheint es eher naheliegend, auf »Irrtümern« zu beharren. Natürlich ist dies kein Resümee dieser Veranstaltung im Herbst 2019, sondern eher ein Appell: Mögliche Irrtümer bei sich und den Anderen zu erkennen ist Voraussetzung für Versöhnung und auch für eigene Entwicklungsmöglichkeiten. Unser Beitrag im Rahmen der Aufarbeitung und Trauerarbeit kann vielleicht darin bestehen, den Opfern zu helfen, dass sie sich lösen können von den Abhängigkeiten von den damals Mächtigen und den damaligen Akteuren zu helfen, eigene Irrtümer einzugestehen.
Quellen- und Literaturverzeichnis BS - Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hg.) (2021): »Das System der Heimerziehung in der DDR (online veröff.)«. https://www.bundesstiftung -aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/heimerziehung-in-der-ddr/ueberblic k (Abfrage: 11.08.2021). Censebrunn-Benz, Angelika (2017): »Geraubte Kindheit – Jugendhilfe in der DDR. In: Deutschland Archiv, 30.6.2017«. https://www.bpb.de/geschichte/zeitgesc hichte/deutschlandarchiv/251286/geraubte-kindheit-jugendhilfe-in-der-ddr (Abfrage: 11.08.2021). Krausz, Daniel (2010): Jugendwerkhöfe in der DDR. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Hamburg: Diplomica Verlag GmbH. Miller, Dale T./Ross, Michael (1975): Self-serving biases in the attribution of causality: Fact or fiction? Psychological Bulletin, Jg. 82, H. 2, S. 213-225. Rosenthal, Gabriele (2010): Die erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Zur Wechselwirkung zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen. In: Griese, Birgit (Hg.): Subjekt – Identität – Person? Wiesbaden: Springer VS, S. 193-218.
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Foto: Thomas Schulze
Everyday, I have the Blues »Offene Arbeit« als zivilgesellschaftliche Basis der Herbstrevolution Kai Brauer
Einleitung Über die Jahre verändern sich Deutungen. Auch die von Revolutionen, bzw. wohl grade diese. Einige Erinnerungen schleifen sich ab, andere Ereignisse bleiben präsent, als seien sie gerade eben passiert. Vieles ist schon vergessen. Ob es sich 1989 um einen Zusammenbruch, eine Revolution oder gar einen Umsturz oder nichts von alledem handelte, ist zu einer wissenschaftlich brisanten Diskussion geworden, die in den Fächern Soziologie, Politologie und Geschichte geführt wurde und auch weiterhin geführt werden darf. Der Zweifel an der korrekten Verwendung von Begriffen der davon gefärbten Feierkultur bleibt ein vermintes Diskussionsfeld der Deutschen. Es zeichnen sich über die Jahre drei grobe Deutungsmuster im öffentlichen Diskurs ab. Die größte Gruppe von Deutungen beruft sich auf nationale Pfade, die das Verdienst einer »Wiedervereinigung« vor allem bei westdeutschen Institutionen (Steuerleistungen, Organisation der Regierung Kohl, deren Beamtenapparat und Kapital aus dem Westen) sehen. Diese Deutung hat die Transformation ab 1990 im Blick, scheint diese aber auch rückwirkend als Auslöser der Revolution zu sehen. Hierbei wird die Wichtigkeit der nationalen Einigung ab 1990 vor das Gendenken an DDR-interne Entwicklungen vor 1989 gestellt. Damit geht ein massives Erstarken alter und neuer nationalistischer Einstellungen einher, bzw. wird damit gefördert. Auf Hinweise, dass es lange vor der Transformation bereits eine beachtenswerte DDR-Opposition gab, die den Beitritt der DDR zur BRD auch erst ermöglichte, wird von dieser Seite meist herablassend bis allergisch reagiert. Die Relevanz der Revolution in der DDR wurde aber nicht hier bestritten, sondern in den westdeutsch dominierten Sozialwissenschaften. Im Gegensatz zu den Positionen der Zeitzeug*innen wurden in den Sozialwissenschaften vor allem externe, systembedingte Faktoren betont, die die DDR zusammenbrechen ließen. Kaum waren dabei Stimmen zu vernehmen, die die Bedeutung der engagierten Revolu-
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Kai Brauer
tionäre der DDR unterstützen und herausarbeiten wollten.1 In der Deutung von 1989 als Zusammenbruch ist die Überlegenheit des eigenen Systems ausschlaggebend. Dies macht die Revolution strukturell überflüssig bzw. unwahrscheinlich: »Daß ein Staat bei einem äußeren Anstoß wie ein Kartenhaus zusammenfällt, ist mit dem üblichen Begriffsverständnis von ›Revolution‹ schwer verträglich.«2 Allerdings machen gestürzte Regimes zwangsläufig immer erst nach Revolutionen den Eindruck von wackligen Kartenhäusern, kaum davor. Mit einer Geschichte des Zusammenbruchs ohne Revolution muss die »Leistung und persönlicher Mut der einzelnen und Gruppen [...] nicht bagatellisiert werden«3 , sie wird damit aber zu einer überflüssigen Randerscheinung bzw. zu einem romantischen Mythos. Dieser sorge für eine Selbstüberschätzung der beteiligten Akteure: »Die Behauptung, den Bürgerbewegungen sei die Revolution gestohlen worden, enthält eine völlige Fehleinschätzung der Antriebskräfte von Massenflucht, Massenprotest und schließlich Einheitsforderungen; sie ist eine Legende der sog. Kulturschaffenden.«4 . Detlef Pollak spricht bis heute von einem »Heldenmythos«, durch dem die Bedeutung der evangelischen Kirche vollkommen überbewertet werden würde. Die Demonstrierenden seien nur zufällig an den Kirchen vorbeigekommen, bzw. wurden von Pastoren eher aufgehalten als ermutig und gefördert.5 Diese Sichtweisen, so randständig sie hier erscheinen mögen, haben eine breite Basis und finden Beifall bei jenen, denen ziviles Engagement und die Basisarbeit in den DDR-Kirchen fremd geblieben sind. Dies hat dazu beigetragen, dass die Revolution von 1989 in den letzten 30 Jahren nicht zu einem integralen Element des kollektiven Bewusstseins aller Deutschen geworden ist, sondern etwas Fremdes, Mythisches blieb. Ihre Grundelemente, ihre zivilgesellschaftliche Dynamik bleibt kaum erschlossen, ist damit für produktive Diskurse kaum anschlussfähig oder wird missverstanden. Damit droht sich das Gedenken an 1989 in Beliebigkeiten zu verlieren. Schließlich werden Partikel der Erinnerungen zum Recyclingmaterial für erklärte Feinde der Demokratie. Hierin liegt eine neue reaktionäre Bedrohung, die auch eine neue Form der Diskreditierung der Aktiven von 1989 heraufbeschwört. Der Entwicklung der Demokratie als Prozess ist dies abträglich, weil deren zivilgesellschaftliche Basis unbeachtet bleibt. Eine unaufgeregte und wertschätzende Einordnung von historischen Prozessen sollte es ermöglichen, die Demokratie durch entsprechende Würdigungen
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Vgl. Habermas (1990, S. 218), wo immerhin noch »die Oppositionellen [...] die Stasi-Herrschaft umgestürzt« haben, um dann in der »nachholenden Revolution« auf bürgerliche Selbstverständlichkeiten zurückzufallen. Vgl. Joas/Kohli 1993, S. 9. Ebd. Zur verspannten Diskussion siehe auch Brauer 2021. Vgl. Zapf 1991, S. 42. Vgl. Pollack 2020, S. 16.
Everyday, I have the Blues
zu stärken. Einige Aspekte an die dazu angeschlossen werden könnte, sollen im Folgenden skizziert werden. Ich beginne dazu mit einer einfachen Erzählung, die zu der komplexeren Geschichte der Offenen Arbeit führen soll. Dabei habe ich in den Fußnoten die verwendeten Quellen offengelegt, ohne die diese Skizze nicht möglich gewesen wäre. In den erwähnten Arbeiten ist die Geschichte der Offenen Arbeit und der Bluesmessen schon gründlicher und umfassender dokumentiert als das hier in einem kurzen Aufsatz möglich ist. Die Werke der Buchgruppe Offene Arbeit und der Kirche von Unten sind hierbei hervorzuheben. Vieles hat mich an meine eigene Zeit bei deren Veranstaltungen erinnert, ohne dass hier meine zufälligen Erlebnisse von Belang wären. Peter Kochan und Michael Rauhut haben umfangreiches Material zur Bedeutung der einschlägigen Bands und ihrer Fans publiziert, ein Stoff, der im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Meine darauf beruhenden Ausführungen sollen aber nicht zum wehmütigen Rückblick verkommen. Es geht mit dem Rückblick darum, zivilgesellschaftliche Perspektiven für die Gemeinwesenarbeit (GWA) und die politische Bildung der Zukunft zu rekonstruieren. Im dazu hier genauer vorzustellenden Positionspapier der Offenen Arbeit Thüringen von 1981-83 liegen m.E. viele strukturelle Ansatzpunkte, an die angeschlossen werden dürfte. Begonnen wird aber mit einer Geschichte aus dem jugendkulturellen Kontext.
Die Geschichte, wie der Blues in die DDR-Kirche kam »Eines Tages klingelt es an der Wohnungstür. [...] Da stand dann ein Mann vor mir. Bisschen anders aussehend als icke. Lange wellige Haare, hatte och n Bart, ne Jeansjacke, ne Kutte über, n bisschen zermanschte Jeans, und stellte sich vor, und fragte ob er sich mal mit mir unterhalten dürfte.«6 . So beginnen Geschichten, die folgenreich enden werden. Sie wurde von Reiner Eppelmann erzählt, den die Stasi später auch als »Staatsfeind Nummer eins« bezeichnete. Nach seinem Vikariat und einer Ausbildung für Jugendarbeit war er Ende der 1970er Pfarrer der Berliner Samariterkirchengemeinde geworden und gleichzeitig neuer Kreisjugendpfarrer in Berlin Friedrichshain. Er setzt hier seine Geschichte mit einer interessanten Eröffnung an. Nicht er, der neue und ambitionierte Kirchenvertreter, ist auf aktiver Suche, um seine Jugendarbeit attraktiver zu gestalten, sondern es kommt eine Person, faktisch aus dem Nichts, unangemeldet, plötzlich. Er berichtet dann weiter, dass dieser Fremde eine Idee als Angebot mitbrachte. Dieser bleibt der Ideengeber und kommt auf die Kirche zu, nicht umgekehrt. Damit werden drei protestantische Sujets bedient, die für ihn, aber auch für die Entstehung von kirchlichen Basisgruppen konstitutiv sein dürften. Erstens wird ein ausgestoßener und eher 6
Zitat transkribiert aus: Eppelmann 2013.
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eigenartiger Mensch eingelassen. Hier demonstriert der Erzähler die Praxis des Jesuswortes »Keinen der zu mir kommt, werde ich zurückstoßen«. Dies war ein bekanntes und zentrales Diktum der damaligen kirchlichen offenen Jugendarbeit, die sich damals als »Offene Arbeit« in der Kirche formierte. Vor allem durch Werner Leich, der von 1978 bis 1992 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen war, wurde immer wieder betont, dass die Kirche in der DDR nicht nur für die (weniger werdenden) Gläubigen da sein darf, sondern immer auch für alle Bedürftigen offenbleiben müsse.7 Zweitens bringt der Bedürftige zwar seine Idee mit, aber er klingelt damit an. Entschieden und weiterentwickelt wird dann später von Eppelmann selber, der weiß wie man der Staatsmacht korrekt die Stirn bietet, was er dann auch kurz erklären wird (Kenntnisse zum Genehmigungswesen, zu den Gefahren und Chancen und was das für das Format bedeutet) und die richtigen Schritte vorgibt. Damit nimmt er die Rolle eines organizers im Sinne von Saul Alinsky8 ein. Drittens stellt er sich schließlich zwischen den Ansuchenden und die Kirchenführung bzw. den Staat. Mit dem »dort stehen und nicht anders können« (sich vor Bedürftige zu stellen, bzw. Glaubensfundamente gegen die Regeln der Organisation zu wenden) lehnt der sich an die Ethik Martin Luthers an. Seine Erzählung entspricht somit dem Selbstverständnis der protestantischen Kirche als Förderin einer notwendigen Opposition – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die hier präsentierte spontane Offenheit gegenüber dem abendlichen Besucher ist insofern eben nicht eine zufällige Konstruktion, sondern entscheidendes Strukturmerkmal der Basisarbeit der Kirche im realen Sozialismus. Die Fragen, die sich daran anschließen, richten sich auf den Kontext und die Macht, die er damit repräsentiert. Wie konnte es dem Erzähler gelingen, nach der Begegnung quasi aus dem Nichts die bekannteste nichtstaatliche Veranstaltungsreihe der DDR zu organisieren? Wo und wie kommen nun Helfende, Unterstützende und Umsetzende, wo die Gegenkräfte zu Wort? Spannend ist auch die Frage, woher dieser komische Bluser auf einmal herkommt. Warum landet er eines Abends bei dem neuen Jugendpfarrer in der der Samariterkirche, und nicht bei einer Veranstaltung, also einem Gottesdienst, oder einer Gemeindekirchenratssitzung? Der Kontext, die Geschichte vor dieser Geschichte kann uns heute einen Einblick in diese Form der zivilgesellschaftlichen Basisarbeit in der DDR vor dem Herbst 1989 geben. Dabei wird es viel um Blues und Punk als Ausdruck eines jugendkulturellen Lebensstils gehen, der einen tragendendes Element der Bewegung bildet. Deren Nähe zur kirchlichen Arbeit9 ist eine soziologische Besonderheit, die hiermit herausgearbeitet werden soll. Auch
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Vgl. Leich 2012, S. 52. Vgl. Alinsky 1971. Vgl. Rauhut (2017, S. 65ff.) beschreibt die Nähe der Bluesfans zur Kirche als Ort von Happenings. Die KvU (1997) und Schilling (2012a, 2002) sehen in dieser Ermöglichung einen elementaren Auftrag der protestantischen Jugendarbeit.
Everyday, I have the Blues
dies könnte zu einer »spannenden Erzählung« werden, die auch für die zukünftige Soziale Arbeit im Gemeinwesen interessant sein dürfte. Die Spannung in der Erzählung von Eppelmann wurde auch deswegen erzeugt, weil der auftretende Besucher von ihm als Fremder vorgestellt wird. Verstärkt wird dies durch die Beschreibung zu dessen Äußerem. Was hier mit fünf prägnanten Details skizziert wird, könnte auch unter dem Begriff »Hippie« subsumiert werden. Die Aufzählung hätte um besonderes Schuhwerk (»Kletties« oder »Jesuslatschen«) oder ggf. weitere Accessoires (Hirschbeutel, Hebammenkoffer, Stirnband, Nickelbrille, Fleischerhemd) erweitert werden können. So wäre ein Klischeebild eines »typischen Kunden«10 der DDR-Blueserszene perfekt. Die genannten Äußerlichkeiten reichen hier aus, um den Besucher als einen Vertreter jener exotischen Wesen zu kennzeichnen, deren Auftreten offenbar befremdlich wirkte. Der seltsame Besucher bietet dem Pfarrer an, mit seiner Bluesband seinen Gottesdienst zu füllen – mit den Fans seiner Musik. Die zunehmende Präsenz solcher auffälligen Figuren in der DDR-Öffentlichkeit war allerdings zu dieser Zeit schon zu einem Ärgernis für die SED geworden. Sie sahen deren Musikstil, ihre Bands, Fans und nicht zuletzt deren Nähe zur (ebenso verdächtigen) Kirche als Bedrohung. Auftrittsorte für solche Bands waren knapp und wurden zusätzlich behindert. Die notwendigen »Einstufungen«11 der Bands wurden restriktiv gehandhabt bzw. konnten auch jederzeit wieder entzogen werden. Wenn Konzerte möglich waren, fanden sie meist in noch privat bewirtschafteten Dorfsälen der Provinz statt. Wenn die technische, musikalische (und hygienische: die Toiletten – meist ein Horror) Qualität zuweilen zu wünschen übrigließ, tat dies der Stimmung keinen Abbruch: die Veranstaltungen waren immer vollkommen überfüllt. Und immer standen sie unter Beobachtung der Sicherheitsorgane. Sie lösten auch kaum Beifall bei den Anwohnenden der unmittelbaren Nachbarschaft aus, wurden eher als die Ordnung und Sauberkeit bedrohendes »Problem« angesehen. Dies bot Legitimation für das Einschreiten der Volkspolizei. Äußerlich leicht erkennbare Fans wurden oft schon »prophylaktisch« aufgegriffen, oft schikaniert und regelmäßig wurden die (immer mitzuführenden) Personalausweise verlangt und notiert. Besonders auffällige »Elemente«12 sollten entweder durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen auf den Pfad der sozialistischen Persönlichkeit zurückgeholt13 oder zur Ausreise gedrängt werden. Es konnten willkürliche 10 11
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Vgl. Rauhut (2017) zu den Begriffen »Kunde« und »Käthe« als positive Selbstbeschreibungen in der Szene. Es handelt sich bei den »Pappen« genannten Nachweisen der regelmäßig absolvierten »Einstufung« faktisch um so etwas wie behördliche »Auftritts-erlaubnis-scheine«. Die Impertinenz der Kulturbehörden und unfreiwillige Komik solcher Prozeduren ist am besten aus erster Hand beschrieben bei: Greiner-Pol 2000, S. 125ff. Stasi-Jargon. Vgl. auch den Beitrag von Werner Freigang in diesem Band.
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»Zuführungen« (bis 48h), allerlei Verbote der Bewegungsfreiheit und empfindliche Ordnungsstrafen schnell ausgesprochen werden. Es drohte auch die Einberufung zum 18-monatigen Wehrdienst bei der »Nationalen Volksarmee (NVA)« oder es wurden gleich Straftaten unterstellt, die dann zu drakonischen Haftstrafen führen konnten. Der Aufenthalt in DDR-Haftanstalten und Einrichtungen der staatlichen Jugendfürsorge (»Jugendwerkhöfe«) war menschenunwürdig und zurecht gefürchtet. Dies hat viele dazu getrieben aus der DDR zu flüchten oder einen Ausreiseantrag zu stellen. Es wurden auch Menschen gegen deren erklärten Willen über die Zonengrenze gewaltsam abgeschoben14 . Die Kirchenarbeit und insbesondere die Jungen Gemeinden standen permanent unter Beobachtung der Stasi, auch weil sie für diese widerborstigen langhaarigen »Typen« offen waren. Als Bluser in die Kirche zu gehen, bedeutete also staatliche Aufmerksamkeit zum Quadrat. Natürlich waren nie alle Blues-Fans der Opposition verbunden oder etwa alle Oppositionelle Blues-Fans. Aber die Durchmischung führte zu wechselseitigen Zuschreibungen und Interaktionsdynamiken. In der Offenen Arbeit mit den Punks sollte sich dies noch zuspitzen. Die Wechselwirkungen zwischen einer sich über Musikstile differenzierenden und distinguierenden Jugendkultur und einer politischen Opposition in und um die Kirchen haben beide gestärkt. Warum beschreibt aber Reiner Eppelmann im Jahr 2012, sich seiner herausgehobenen Stellung in der DDR-Opposition wohl bewusst15 , den langhaarigen Besucher von 1979 auf diese distanzierte (ja fast despektierliche) Weise? Warum sagt er nicht gleich, dass es sich bei dem Fremden mit den »zermanschten Jeans« um Günter »Holly« Holwas handelt, der Eppelmann dazu brachte, die bis dato eher mäßig besuchten Gottesdienste durch Bluesfans zu füllen? Immerhin wird ja hier die entscheidende Idee für die berühmten Berliner Bluesmessen ausbaldowert. Dem jungen, damals noch kaum bekannten Musiker wird damit ein freies Podium eröffnet, was in der DDR eine ordnungspolitische Provokation ersten Ranges darstellt.16 Ob der Erzähler tatsächlich damals keine Idee davon hatte, was er damit auslösen würde? Sein Erstaunen darüber, die Kirche plötzlich voller Menschen zu sehen, »die aber alle so aussahen wie Holly!« wirkt nachvollziehbar. Zu einem Politikum werden diese Kirchenveranstaltungen später auch wegen der Inhalte. Sie sind dies aber schon wegen dem Äußeren der Blues-Fans.
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Ein besonders brutales Vorgehen ist im Fall Roland Jahn bekannt geworden, der sich seiner Abschiebung (und der von 40 weiteren Aktiven der Jenenser Friedensgruppe) widersetzen wollte und am 7.06.1983 per Reichsbahn gewaltsam über die Grenze gebracht wurde (vgl. BpB 2019). Vgl. Eppelmann 1999, S. 3: »Ohne uns hätte es die friedliche Revolution nicht gegeben«. Diese Provokation wirkte und hat zu umfangreichen Maßnahmen der Stasi geführt, in deren Folge Holly mit seiner jungen Familie faktisch aus der DDR vertrieben wurde (vgl. Rauhut/Kochan 2009: S. 255).
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Die Bluesmessen der Samaritergemeinde mussten bald aus Kapazitätsgründen an zwei Orten stattfinden, später in die Erlöserkirche nach Rummelsburg verlegt worden. Die Wahl der randständigsten unter den in Frage kommenden Kirchen sollte einen woodstockartigen Auflauf von »Pennern und anderen subversiven Kräften«17 im hauptstädtischen Stadtkern verhindern. Dies gelang kaum, denn die Aufmerksamkeit und der Zuwachs der Szene aus der gesamten DDR stieg und war mit der Verlagerung kaum weniger augenfällig. Die Bluesmessen blieben zentrale Pilgerorte und damit auch die größten jugendkulturellen Veranstaltungen der DDR außerhalb der verstaatlichen Kultur- und Propagandaorganisation. Davon unterschieden sie sich formal und inhaltlich extrem. Sie waren in der Mischung von unangepasster Musik mit kurzen Wortbeiträgen und Spielszenen dabei kaum als Gottesdienste zu erkennen. Gleichzeitig waren es wiederum keine reinen Konzerte, Theateraufführungen, Kabarett oder gar Tanzveranstaltungen, auch wenn sie von allem etwas hatten und zuweilen in den Kirchen geraucht, getrunken und getanzt wurde. Es handelte sich eher um politisierte Happenings, als um religiöse Gemeindezusammenkünfte. Die Kirchen und deren spezifische Formen der offenen Jugendarbeit wurden damit bekannter. Sie waren damit die ersten – und lange Zeit auch die einzigen – nichtprivaten Orte, in denen Menschrechtsdefizite in der DDR unzweideutig offen thematisiert wurden. Die Kritik an der DDR war mehr als die allgegenwärtige Nörgelei in den Betrieben und Skandalisierung in den Westmedien, sie löste sich vom Mief der Stammtischparolen und dumpfem Antikommunismus. Es waren die recht anspruchsvollen Werte der osteuropäischen Zivilgesellschaftskonzeptionen, der Bekennenden Kirche und der weltweiten Friedensbewegung, die mit dem Sound der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vermischt, dargestellt, diskutiert und propagiert wurden. Ihr besonderer Entwicklungskontext und ihre Wirkung auf die DDR-Öffentlichkeit sowie der Dynamik zwischen Aktiven, Kirchenleitungen und Staat sind einzigartig und alles andere als bedeutungslos für die weiteren Entwicklungen. Die aus der historischen Entfernung doch recht kurze Geschichte der ca. 15 Bluesmessen (von 1979 bis 1986) und damit verbundener Aktivitäten ist derweil gut dokumentiert.18 Ihre Existenz war den meisten DDR-Jugendlichen der Jahrgänge 1950 – 1970 ein Begriff. Die Erzählungen darüber waren in den jugendkulturellen Szenen wichtig, zumal für die, die selber etwas Ähnliches in ihrem Umfeld organisieren wollten. In der Folge der Bluesmessen zogen die Anzahl von Werkstätten, Friedensdekaden und Rüsten überall in der DDR interessiertes Publikum in Räume, die die
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Stasi-Jargon. Während schon durch Wensierski/Büscher/Wolschner (1982) ihre Gestalt und Bedeutung bekannt gemacht worden war, liefern die KvU (1997, S. 32ff) und Moldt (2007) sehr detaillierte und umfassende Innensichten.
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evangelische Kirche dafür zur Verfügung stellte - bzw. stellen mussten, weil es Diakone und ihr Klientel von den Gemeinden forderten. Immer neue Vorbereitungs-, Informations- und Organisationsgruppen entstanden im Umfeld der Veranstaltungen und regten zu wesentlich konzentrierterer Menschrechts- und Umweltarbeit an, als dass die Bluesmessen je konnten. Sie waren bald überall in der DDR zu finden und für alle Interessierten offen. Es wurde nie nach einer Kirchenmitgliedschaft gefragt und auf jegliche offensichtliche Missionierung verzichtet. Das galt auch für die helfenden Engagierten und damit in die innerkirchlichen Auseinandersetzungen Involvierten, nicht nur für eine Art »Laufpublikum«. Der kaum abreißende Zulauf zu diesen Veranstaltungen mag durch die ansonsten eher ereignisarme Kulturlandschaft der DDR angetrieben worden sein. Der Zulauf zu den Friedensdekaden und Rüsten der evangelischen Gemeinden bleibt aus heutiger Sicht trotzdem frappant. Der Aufbau und die Ausgestaltung waren keine einfach verdauliche Kost. Eigenartige, altbackene und experimentelle Darbietungen standen neben anspruchsvollen offenen Gesprächsrunden auf hohem Niveau. Dies war stilbildend für eine DDR-typische Diskussionskultur fundierter Kritik, die sich vom ständigen Mäkeln über technische Missstände und materielle Engpässe absetzen wollte. Dass dies über die Anziehungskraft zum Blues angetrieben wurde und auch Punker inkludierte, war in besonderer Weise eigenartig. Die thematische Ausrichtung und explizite Politisierung machten den Geschmack und Stil für einige zu einem Bekenntnis. Blues und (»echter«) Punk war damit auch nachhaltiger wirksam, als dies für schnell wechselnde Moden weltweit typisch ist. In Westeuropa war die Blues-Welle längst abgebebbt und wirkte überkommen. Das dies in der DDR viel langsamer eingetreten ist, lag nicht nur an der für die Peripherie typischen Verlangsamung. Bluser blieben über die vielen selbstorganisierten Gruppenevents über den Stil verbunden und waren bald auch ethisch festgelegt. Eine Lebenseinstellung in Auseinandersetzung mit dem SED-Staat mit dem Risiko der Verfolgung wurde zu einem Teil der eigenen Identität, der sich nicht einfach wechseln ließ. In den Veranstaltungen in den Kirchenräumen und beim Konsumieren der Musik wurde dies bestätigt und über die sichtbare Gegenwehr des Staates zu einer Haltung gefestigt. Sicher wandelten sich ab den 1980er Jahren auch in der ostdeutschen Provinz die Musikstile. Der Punk hatte in Berlin den Blues als klarerer Widerstandstil auch in den Kirchengruppen nach 1983 abgelöst. Die von Dieckman (1999) und Rauhut/Kochan (2009) beschriebene Form der Jugendkultur war für die Durchlässigkeit der zivilgesellschaftlichen Basis entscheidend. Der alltägliche DDR-Blues blieb Metapher und Quelle von Kontrapunkten. Ausweisungen und andere Repressalien gegen die Besucher von kirchlichen Veranstaltungen haben ihn nicht vertrieben, sondern waren Quellen für beständiges oppositionelles Verhalten im Alltag. Besuche und Organisationen von Auftritten der unbotmäßigen oder verbotenen (was sehr schnell gehen konnte) Bands gehören zu jenen Aktionen, die eine stärkere Gruppenkohäsion evozierte, als dies reiner Mu-
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sikgeschmack je hätte auslösen konnte. Alltagsgespräche zwischen Besuchern von Bluesmessen und -Konzerten beschränkten sich kaum auf Musikinterpretationen. Zunächst ging es um die Frage, wie man überhaupt zu der Veranstaltung kam (per Anhalter oder mit der Bahn, dabei Kontrollen und Schikanen entgangen), warum es so wenig gute Veranstaltungen gibt und wo die nächste Zusammenkunft sein könnte. Und immer häufiger wurde gefragt, warum bestimme beliebte Bands (wie Freygang und zig andere) überhaupt verboten sein konnten. Der Schritt zu fragen, warum bestimmte Sichtweisen auf Abrüstung, Menschenrechte, Ökologie, Frauenunterdrückung und Anti-Rassismus nicht öffentlich thematisiert werden konnten, sondern nur hier, war dann nur noch gering. Die hier angesprochenen Themen der »Rüsten« und diverser anderer Formen der kirchlichen Jugendarbeit wurden für die Jugendlichen zu einer Möglichkeit der selbstbestimmten Individualisierung, in das Selbstkonzept mit aufgenommen. Blues als Bindeglied und Anziehungspunkt war für die Entstehung und Festigung der oppositionellen Gruppen somit kaum zu unterschätzen. Jazz, Folk, Reggae, Ska, New Wave, diverse Stile des Rock bis zum Heavy Metal waren in diesem Kreisen ebenso hoch im Kurs, durchaus aus Gospel und Soul. Niemals wurden jedoch Pop und Schlager aus Ost und West gehört oder gar gespielt. Bluesfans waren in den 1970er und bis zum Ende der 1980er Jahre in der DDR allerorten zu sehen, zumal sie recht mobil waren. Sie trampten von Event zu Event quer durch die DDR. Sie bevölkerten die Gigs der Bands, die niemals Werbung machen mussten, weil über mündliche Weitergabe immer mehr Fans kamen als Platz fanden. Und sie bildeten das Publikum der kirchlichen Veranstaltungen, und dies bald nicht mehr nur, wenn dort eine der einschlägigen Bands aufspielte19 . Dazu gehörten auch die »Friedensdekaden« der protestantischen Kirche. Sie waren in der DDR eine kirchliche Reaktion auf die weitere Militarisierung der Schule durch die Einführung des Faches »Wehrkunde« 1978. Die Friedensbewegung erlebte durch die Stationierung von Atomraketen auf beiden Seiten einen immensen Zulauf. Die Aktionen der Friedensgruppen waren in der Regel keine expliziten Konzerte, aber sie kamen dann doch nie ganz ohne Musik aus. Die aktiven Gemeinden wurden durch die Fangruppen der Bluser bereichert, zuweilen überschnitten sich die Gruppen bzw. waren nie voneinander zu trennen. Hier entstand auch 1980 das später als Aufnäher genutzte Signet »Schwert zu Pflugscharen«. Dies konnte zunächst als Annäherung zur staatlichen Abrüstungsinitiative verstanden werden, da das aus Schulbüchern bekannte Symbol einem von der Sowjetunion den Vereinten Nationen gespendeten Denkmal nachempfunden war. Der sich in Windeseile verbreitende Aufnäher der Kirchengruppe wurde schon nach einiger Zeit verboten, bzw. dessen Träger*innen von
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Vgl. zur Vermischung und Beziehung der DDR-Szenen: Rauhut/Kochan (2009); Dieckmann (1999); Rauhut (2017) insbesondere S. 61ff.
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staatlichen Stellen schikaniert, nicht selten auch Jacken und den teuren Parkas einfach herausgeschnitten. Beim Kirchentag in Wittenberg organisierte eine Gruppe um Friedrich Schorlemmer das öffentliche Schmieden einer Pflugschar aus einem Schwert durch den örtlichen Schmied. Im Publikum waren westliche Medien und der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker anwesend, die Aktion wurde gefilmt. Die 100.000 Aufnäher mit der Figur waren trotz aller Verbote nicht mehr aus dem DDR-Alltag zu tilgen und erstes öffentliches und professionell erstelltes Kennzeichen von bekennenden Pazifist*innen außerhalb der SED-Propaganda. Allein ein weißer leerer Kreis an der Stelle (des von der Volkspolizei herausgetrennten Aufnähers) war nun ein gutes Erkennungszeichen der friedensbewegten Jugend. Schikanen haben den Zulauf zu den Gruppen daher nie gestoppt, sondern haben eher ihre Reputation in der Öffentlichkeit verstärkt. Interessant war es somit nicht nur bei Konzerten missliebiger Bands dabei zu sein, sondern auch bei Happenings wie in Wittenberg. Andererseits fanden sich Kirchenvertreter plötzlich bei Bluesund Punkkonzerten, sei es, um mögliche Gigs für Kirchenveranstaltungen zu sondieren, sei es aus Kurzweil, sei es, weil die Diakone der Offenen Arbeit dort ihr Klientel trafen bzw. selber aus der Szene stammten. Diese Verbindung wurde erst mit den Bluesmessen oder danach augenfällig.
Die Organisation: Wie der Blues »bewaffnet« wurde Als erste Blues-Messe gilt der Jugendgottesdienst mit »Hollys Blues Band« am 1.6.1979, besucht von 250 »Freaks« (KvU 1997: 33). Ob dieses Erfolges folgte am 13.07. eine zweite ähnliche Veranstaltung, nun zum ersten Mal unter dem Titel »Blues-Messe«, mit deutlich mehr Zulauf. Kurze Zeit später überstieg der Andrang die Kapazität der Kirche (mit ca. 1000 Plätzen). Es ist ein Skandal, dass die Vertreibung von Günter Holwas und seiner jungen Familie aus der DDR 1981 durch den massiven Druck der Stasi heute kaum jemandem bewusst ist. Er war eines der ersten Opfer der »zersetzenden Tätigkeiten« gegen die Organisation der Blues Messen. Bis zum Auftrittsverbot und seiner Vertreibung war seine Idee der Blues-Messe aber schon zu einer prominenten Massenveranstaltung geworden. Die notwendige Organisationsgruppe war aus bestehenden Strukturen gewachsen. Hier Engagierte fielen jedoch nicht vom Himmel, so wie Holly bei Eppelmann.20 Es gab eine aktive Jugendarbeit, Diakone, die sich mit Blusern und den ersten Punkern befassten und auch schon Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen hatten. Die Vorläufer der Bluesmessen waren entscheidend. Sie gehen alle auf Aktionen der Offenen Arbeit der evangelischen Kirche in der DDR zurück. Die Wirkung dieser Events war bekannt und wurde von einigen Akteuren ganz offensiv 20
Vgl. hierfür und für Folgendes die detaillierte Dokumentation der KvU 1997, S. 32-63.
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angestrebt. So konnten Erfahrungen aus 15 Veranstaltungen unter dem Namen: »Gottesdienst – einmal ganz anders«, die es seit dem 1.12.1967 in Zella-Mehlis unter der Leitung von Pfarrer Jürgen Hauskeller21 gab, genutzt werden. Diese hatten eine ganz ähnliche Struktur. Es gab auch dort Spielszenen zu verschiedenen Themen (wie: Verantwortung und Gerechtigkeit) und dazwischen »volkstümliche« Musik (die sich als Rolling Stones-Interpretationen erwiesen). Der Zuspruch war groß, es wird von 500 Personen berichtet, die die Kirchenräume füllten. Auch hier waren die Spitzel der Stasi erstaunt, dass es sich »fast ausnahmslos um Langhaarige«22 handelte. Die Geschichte geht noch weiter zurück. Hauskeller konnte sich schon auf Erfahrungen der alternativen Gottesdienste seit 1963 von Dietrich Mendt und Theo Lehmann berufen.23 Hier war der Blues noch nicht titelgebend, jedoch war auch hier die Musikauswahl ein Stein des Anstoßes. Von den Spitzeln der Stasi wurde die Musik als (wörtlich): »amerikanische Neger-weisen«(!) tituliert24 . Auch wenn bestritten werden würde, dass es damals schon eine systematische Vernetzung der Friedens- und Bluesbewegung gab, hatten doch in Diskussionen zur offenen Jugendarbeit unter den Jugendpfarrern und Jugenddiakonen diese Formate Furore gemacht. Wie auch immer, der neue Plan für den Vorbereitungskreis der zweiten Bluesmesse – die ja schon am 13.07.1979 stattfinden sollte – wurde nicht von Eppelmann, sondern durch den Diakon Bernd Schröder geprägt. Er hatte just die Werkstatt der Offenen Arbeit JUNE 79 in Rudolstadt besucht und war begeistert. Er übernahm daraus viele der Kernelemente in das Konzept, dass er dem Vorbereitungskreis vorlegte.25 Dabei kam es auch erst zu der Namensgebung »Bluesmesse«. Zwar blieben die hier erwähnten Vorläuferveranstaltungen gegenüber der öffentlichen Aufmerksamkeit, die die Berliner Bluesmessen auslösen sollten, weit zurück. Nachdem die Stasi Holly vertrieben hatte, traten mit Stefan Diestelmann, Jonathan Blues Band und Monokel dort auch die Stars der Szene auf. Und dies in der Hauptstadt, quasi vor den Augen der SED-Elite! Auch wegen der hier agierenden West-Medien konnten diese Veranstaltungen nicht mehr als marginale Erscheinungen ignoriert werden.26 Daher waren immer mehrere Durchläufe der Gottesdienste nötig, um den Ansturm von bis zu 7.000 Personen zu bewältigen.27 Die sich zu Massenveranstaltungen entwickelnden Events blieben formell kircheninterne, nicht-kommerzielle Veranstaltungen. Sie mussten praktisch mit Frei21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Rauhut 2017, S. 73. Dort auch der Hinweis: Ab 30.09.1972 als »Gottesdienst in anderer Gestalt« (sic!). Ebd., S. 75. Ebd., S. 73. Ebd., S. 77. Vgl. KvU 1997, S. 33. Vgl. Wensierski/Büscher/Wolschner 1982; Wensierski 1987; Moldt 2007; Weiß 2014; u.v.a.m. Vgl. KvU 1997, S. 33ff.
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willigengruppen umgesetzt werden. Der Aufwand dafür war enorm und erforderte den Einsatz von ca. mindestens 40 Freiwilligen.28 Info-, Technik-, Sani- und Ordnungsteams mussten so organisiert werden, dass die Abläufe zu keinen Unfällen, Pannen, Missstimmungen oder gar Gewalt führen konnten. In und zwischen den Gruppen gab es – nicht nur von der Stasi lancierte – typische Konflikte, vor Allem die Art der Umsetzung und Gewährleistung der Sicherheit betreffend.29 Reinigungsdienste und die Organisation von Toilettenwagen mussten übernommen werden, da die staatlichen Stellen hier Ansatzpunkte für Verbote wegen »Störens der öffentlichen Ordnung« suchten. Eine andere Gruppe war für die »AlkoholGarderobe«30 zuständig, damit während der Andachten nicht getrunken wurde, bzw. in der Kirche die Flaschen nicht andauernd polterten (»Saufen und Rauchen während der Andacht verboten« oder ähnlich stand meiner Erinnerinnung nach auf einem Pappschild, das anlassweise von Helfenden ab und zu hochgehalten wurde). Die Hippies verwandelten den Kirchhof und umliegende Straßen derweil zu einem Happening, da draußen umso mehr getrunken (und gebalzt) wurde. Ergebnis war ein Gruppengefühl like Woodstock – vor allem was den prinzipiell friedlichen Duktus betrifft. Im Unterschied zu einem Konzert als reiner Konsum von Musikdarbietungen, war es hier nicht nur möglich mit Fremden zu diskutieren, es war quasi Pflicht. Es lag hier auch näher aktiv bei der Veranstaltung zu partizipieren und damit irgendwie »dazu zu gehören«. Dies war niemals eine Frage von privaten finanziellen Ressourcen, besonderen Fähigkeiten oder irgendwelchen »Bekenntnissen«, sondern zuerst, sich für die Inhalte der Veranstaltungsthemen zu interessieren. Wer kompetent und offen diskutierte, wurde in die Diskussionskreise inkludiert. Damit war zwar auch der Stasi Tür und Tor geöffnet. Dies wurde aber mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen. Da es kaum Möglichkeiten des leicht zugängigen, aber anspruchsvollen Diskurses außerhalb der staatlichen Sphäre gab, wurde hiermit ein Forum31 für Gedanken geschaffen, die sonst nur in privaten Kreisen geäußert wurden. Damit war der Beginn der Ausbildung informeller, aber öffentlich sichtbarer, zivilgesellschaftlicher Strukturen gesetzt. Aktiv war hier zunächst nur eine kleine Minderheit der DDR-Jugend. Allein ihre Existenz und deren für die SED geradezu unverschämte Offenheit wurde allerorten besprochen und durchaus wahrgenommen. Die Leichtigkeit hier aufgenommen werden zu können war bekannt und ein attraktives Angebot. Die Hürde aus der Gruppe der
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Vgl. ebd., S. 42: Die Zuträger der Stasi kalkulierten etwas übertreibend 60 Aktive in den Vorbereitungsgruppen. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 54. Das sich später die erste und größte öffentliche Gegenkraft gegen die SED »Neues Forum« nannte, war dementsprechend folgerichtig.
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zufällig Interessierten, der Ausreisewilligen oder der reinen Blues-Fans zu Helfenden bzw. »um Veränderung Bemühte« (kaum jemand hätte sich zu den »Oppositionellen« gezählt, oder selber so bezeichnet) war niedrig. Jedenfalls niedriger als die formale Mitgliedschaft in irgendeinem Verein oder z.B. als Mitglied oder Hilfskraft von Bands. Die hier erhältlichen Informationen zu anderen Veranstaltungen, zu Aktivitäten und Konzerte im Netzwerk, oder auch zum Bausoldatendienst bzw. zu den Chancen der Totalverweigerung32 verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Institution der Bluesmesse kann daher auch als Handlungsfeld und Aktion einer protestantischen Gemeinwesenarbeit bezeichnet werden, die keineswegs nur zufällig an einem Abend ausgedacht wurde. Die Offene Arbeit hatte damit eine wirksame »Brücke in die Gesellschaft«33 errichtet, die sonst dem Großteil der nichtkirchlichen Jugend verschlossen geblieben wäre. Dies ist in einem sehr atheistischen Staat34 bemerkenswert. Dies umso mehr, da missionarische Bemühungen bei diesen Veranstaltungen nicht zu bemerken waren. Die Themen der aufgeführten Spielszenen und der Ausstellungen waren allesamt politisch brisant und klar gegen Kriegsdienst und Gewalt in jeder Form ausgerichtet. Thematisiert wurden aber auch Probleme der Individuierung in einer Kollektivgesellschaft, von Konsumwahn, Karrieregeilheit, Alltagsrassismus, Frauendiskriminierung und der Ausbeutung der »Dritten Welt«. Eine Friedensdekade in der Berliner Samariterkriche bekam den bis heute aktuellen und anklagenden Titel: »Wir haben es satt, dass andere Hungern«. Die thematischen Veranstaltungen der Offenen Arbeit im Umfeld der Bluesmessen kamen nun zuweilen sogar ohne musikalische Einlagen aus und zogen trotzdem die Bluser und Punker an. Ob die ersten Gäste der Bluesmessen auch wegen der Friedensthemen herkamen, oder »nur« wegen der Musik, bleibt offen. Bei den kirchlichen Angestellten und unter den Freiwilligen, die für die Organisation und Umsetzung verantwortlich wurden, war dies bewusst. Diskussionen in den Vorbereitungsgruppen und die Durchführung der Veranstaltungen wandelten sich. In den Erinnerungen, Stasi-Berichten und eigenen Unterlagen lässt sich eine Entwicklung vom spontanen Durchwursteln zum professionell anmutenden Management erkennen. Es konnten – trotz dem viel zu großen Ansturm und teilweise tumultartigen Zuständen35 - sowohl einige große Massenveranstaltungen wie auch viele kleine und nicht weniger effektvolle Treffen und längere Gemeinschaftsaktionen (Rüsten, Friedensdekaden und immer wieder Konzerte) eingeübt werden. Die 32 33 34
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Vgl. Eisenfeld 1995. Ein Begriff aus der Selbstbeschreibung der Offenen Arbeit (vgl. Weiß 2014, S. 85). Vgl. Maser (1989), wo die rapide sinkenden Mitgliedszahlen der Kirchen dargestellt wird. Es fand praktisch kein Religionsunterricht statt, Konfirmationen waren sehr selten geworden – die atheistische Jugendweihe hat sie als staatliches Gegenkonzept verdrängt. Diese Verdrängung geschah nicht freiwillig, sondern wurde durch massive anti-kirchliche Agitation und Druck in den Schulen erreicht. Vgl. KvU 1997, S. 45.
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hier erworbene Kompetenz der Gruppen von Helfenden sollte später entscheidend werden. Die Bluesfans waren bereits untereinander locker vernetzt. Ihre Fanbasis war eine Quelle für Unterstützende aus allen Teilen der DDR, denen Drohungen, Verhaftungen und Schikanen bekannt waren und die sich davon immer seltener abschrecken ließen. Es entstanden somit subversive Organisationsformen, die einen gewissen Schutz durch Vernetzung und Beziehungen zur Kirche nutzten. Unter den repressiven Bedingungen der DDR hätten unabhängige Gruppen eigentlich im Stillen wirken müssen. Damit wäre sie aber von ihrer Basis abgeschnitten, bzw. unsichtbar geblieben. »Untergrundarbeit« der Umwelt-, Friedens-, Frauen-, und Antirassismus-Kreise konnte sich dann aber doch über die frei zugänglichen Veranstaltungen der Offenen Arbeit bekannt machen. Sie erreichten ein wachsendes Publikum, auf das sie bauen konnten. In kleinen privaten bzw. kirchlichen Zirkeln erarbeitete, konspirative Ideen hätten kaum eine Chance gehabt, sich als eine öffentliche Meinung festzusetzen. Ganz anders sieht es aus, wenn in Aktionen der Kirche solche Ideen langsam aufkommen, dort in den Diskussionen bestehen und damit stetig Interessierte anziehen, die sich dabei selber als Teile der Zivilgesellschaft erkennen. Trotz aller Einschränkungen, Überwachung, Zersetzungsarbeit und drakonischen Strafen konnte allein über den Fluss meist nur mündlicher Informationen die Zahl der Aktionen und Gruppenbildungen ansteigen und die Beteiligten und ihre Aktionen mutiger werden. Hinzu kamen die Möglichkeiten der innerkirchlichen Dienst- und Kommunikationswege. Kircheneigene Druckereien produzierten Informationen »für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« und verteilten sie über die Wege der Synoden in die Gemeinden. Damit wuchs die Zahl an Publikationen der Samisdatpresse. Es kursierten Videoaufnahmen von Bluesmessen, später wurden ganze Filme (über die Umweltzerstörung) produziert und in den Westen geschmuggelt. Langsam bekannter werdende Stars der Opposition bekamen ein Gesicht über Medienpräsenz. Das sehr risikoreiche Schmuggeln von Papieren und Videos aus den Basisgruppen zu den nun in Westberlin aktiven Ausgebürgerten (vor allem um Roland Jahn), war von unschätzbarem Wert. Es konnte eine Verbindung zum Westfernsehen hergestellt werden, was in den meisten Teilen der DDR empfangen und gesehen wurde. Die ausgebürgerten und ausgewanderten Dissidenten sorgten mit ihren Kontakten somit für die notwendige Öffentlichkeitsarbeit der zuerst nur im engen Kreis wirkenden Gruppen. Über das Linksautonome Radio 100 konnte ab 1987 sogar eine regelmäßige Radiosendung (»Radio Glasnost«) für Bürgerbewegte produziert werden. Die Strategie der SED, kritisches Potential durch Abschiebungen und freiwillige Ausreisen zu mindern, erwies sich als unterwartet gut – für die Stärkung einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit in der DDR. Über die Westmedien war deren Arbeit nun auch für die zu sehen, die sich hier (noch) nicht engagieren konnten oder wollten. Die Gruppen konnten sich dem Wachstum ihres Publikums sicher sein. Dieses war zwar sozial heterogen,
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aber ethisch homogen: den Werten der Friedens-, Antirassismus- und Umweltbewegung verpflichtet. Die Niedrigschwelligkeit der Aktionen der Offenen Arbeit ließ die Basis für immer neue Arbeitskreise und Diskussionsgruppen daher wachsen trotz stetiger Abwanderung in den Westen und perfider Zersetzungsmaßnahmen der Stasi. Bei der Organisation von Musikveranstaltungen hatten die Helfenden Planungskompetenzen erworben und übten sich in Konfliktschlichtung, Aufgabenverteilung und Publikumsöffnung. Dies ergab sicher nie eine statistisch sichere »Masse« im Sinne des demokratischen Parlamentarismus, der sich durch einfache Mehrheiten legitimiert. Dies musste in einer Diktatur mit Allmächtigkeitsanspruch und ohne freie Wahlen auch kein relevantes Ziel sein. Organisatorisch war eine nichtstaatliche, zivile Welt aus unerwünschter Musik, Kunst, Friedensarbeit und Umweltgruppen entstanden, die sich über die Samisdatpresse vernetzte und über die Pressearbeit im Westen öffentlich wurde. Die oben beschriebenen Veranstaltungen spielen hierbei eine Schlüsselrolle, da sie als praktische Engagementförderung für weiteren Zulauf sorgten. Die Reaktionen des Staates auf zuerst harmlose Blueskonzerte trieben deren Politisierung an. Jedenfalls reichten die zunächst lockeren und sehr offenen Organisationsstrukturen »friedlicher Kirchenveranstaltungen mit Musik« aus, um als Bedrohung der inneren Sicherheit aufgefasst zu werden und für helle Aufregung bis zur Staatsführung hin zu sorgen. Die Summe der vielen Aktionen unterschiedlicher Gruppen sollte die Allmacht der SED 1989 schließlich überfordern. Eine solche Entwicklung war weder abzusehen als sich Holly Holwas und Reiner Eppelmann zuerst trafen, noch war es deren Intention. Holly suchte ein Podium, was ihm die DDR-Kulturfunktionäre verweigerten. Die Aussicht die leeren Kirchen zu füllen war für die Kirche wiederum zu verlockend, um es per se ausschlagen zu können. Die weitere Entwicklung war alles andere als ausgemacht. Nachdem die Repressalien gegen diese Jugendlichen immer bekannter und bewusster wurden, wuchs auch ein gewisses Ansehen und Solidarität für diese Lebenswege und Ansichten. Die notwendige Vermittlung organsierte die Offene Arbeit. Die Frage, ob Bluser – und gar Punker – in den Kirchen Gottesdienste mitgestalten dürfen, wurde auch von vielen Pastoren und Mitgliedern der Kirchenleitungen kritisch gesehen (auch wenn sie nicht von der Stasi eingeschleust waren), weil sie »zermanschte Hosen« und Punksymbole an und in ihren Kirchen nicht mochten. Gemeindekirchenräte hatten Angst um ihr Kirchenmobiliar und erkämpfte Privilegien. Wo Offene Arbeit mit solchen Aktionen wie Bluesmessen arbeiten wollte, mussten die betreffenden Pastoren zunächst die Gemeindekirchenräte überzeugen. Dazu mussten die besonderen Veranstaltungen auch besonders gut »funktionieren«. Die Aufgaben in Gruppensitzungen von Laien ausdiskutieren zu lassen war hierbei ein mutiger Schritt, der ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und Moderationsgeschick verlangt. Es könnte sein, dass überall dort wo eine attraktive Offene
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Arbeit Erfolge zeigte, dies auf einen Vorteil bzw. hohe Kompetenz bei der Moderation zurückzuführen ist. Dies sind Qualitäten, die auch beim organizing im Stile Alinskys gefragt sind und von Gewerkschaften und in der GWA angewandt werden.36 Die Aufgabenverteilung der Offenen Arbeit im Kontext von (oft ängstlichen) Gemeinden, (bleibend repressivem) Staat und den Anliegen des Publikums nach Räumen für kulturelle und ideologische Freiheit hat zu spezifischen Organisationsstrukturen geführt. Sie entsprechen durchaus dem Triple-Mandat der Sozialen Arbeit.37 Wer sich in der Evangelischen Kirche auf Offene Arbeit einließ, konnte sich neben theologischen Argumenten auf den Nutzen und die ethischen Argumente einer Profession berufen und damit sicher sein, aus der Menschenrechtsperspektive das Richtige zu tun. Etwas, was keine legitime Macht verbieten kann. Heraus kam dabei der konsequente Einbezug von Engagierten durch praktische Solidarität und gemeinsame Aktion. Die solchermaßen autonomen Gruppen in den Kirchenräumen bildeten damit nicht einfache Diskussionszirkel um Konzertbesuche herum. Sie waren es, die diese erst organisierten – mit allen Konsequenzen bis zu Verhaftungen bzw. üblen Zersetzungsmaßnahmen der Stasi. Sie lernten dadurch geschickt zu agieren und Erfolge bei einem weiter gedachten Publikum zu gewinnen. Einfache Anliegen wurden zu konkreten Themen, die dann zu einem Motto verdichtet wurden, das einen Rahmen und Anlass bot, öffentlichkeitswirksame Aktionen zu starten. Das verbindende Genre (Blues) lag quasi auf der Straße. Ob dies auch mit Schlagermusik oder Elektropop gelungen wäre, wenn die SED dies verboten hätte, darf bezweifelt werden. Blues hatte den Vorteil, dass er von der SED nicht vereinnahmt wurde und durch die amerikanischen Bürgerrechtler geadelt war. Er schien weniger durch die Musikindustrie erfunden, als aus der Erfahrung der Unterdrückung heraus entstanden und respektiert worden zu sein. Zudem ließ er sich auch ohne aufwändige Tonanalage nachspielen. Da das Äußere der DDR-Bluser sie alleine deswegen zu verfolgten Außenseitern machte, ergaben sich Reibungspunkte für eine Jugend, die es besser machen möchte als ihre Eltern und Großeltern. Das aus dem Blues im Widerstand dann Punk wurde, spielte später für die Formen der Netzwerke und Aktionen kaum eine Rolle. Der Offenen Arbeit ging es darum, dass sich hier auch »Ungläubige« dem Schutz der Kirchenräume sicher sein sollten. Konnten sie von hieraus ihre Anliegen eigenverantwortlich organisieren, zog dies weitere Kreative und an Veränderung Interessierte magisch an.38
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Vgl. Alinsky 1971; Birke 2010; Mann 2017. Vgl. Staub-Bernasconi 2007, S. 21ff. Vgl. z.B. die Entwicklung der jungen Regisseurin Freya Klier (1988) zur Oppositionellen. Sie führt über ein kirchliches Friedensforum am 13.02.1982 in Dresden (Seite 15), über ihre Kontakte zu Pfarrer Meckel, der als Pastor in Vipperow übel von der Stasi verleumdet wurde (Seite 21) bis zu dem Fahrrad-Picknick im Juni 1983 (Seite 33ff.), bei dem sie noch knapp ihrer ersten Verhaftung entgeht.
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Die neuen Formen der kirchlichen Jugendarbeit wurden zuerst in der Provinz, vor allem im Dreieck Saalfeld-Braunsdorf-Rudolstadt erprobt. Später entwickelten sie sich in einigen Berliner Gemeinden zur Kirche von Unten. Die Stasi lag in ihrer Analyse falsch, wenn sie annahm, durch die Beeinflussung der Kirchenleitungen (Bischoff Forck, Konsistorialpräsidenten Stolpe) und das Einschleusen von Spitzeln eine Auflösung dieser Netzwerke zu erreichen. Als selbstorganisierte zivilgesellschaftliche Basisgruppen mit einer autonomen Entwicklungslogik, hoher Wertbindung und einer schier unerschöpflichen Quelle an Interessierten konnten sie Rückschläge und Inhaftierungen offenbar verkraften. Die vom Staat selber ausgehende Verschärfung der Konflikte sorgte mit dem passenden Befreiungssound für bleibende Anziehungskraft. So könnte gesagt werden, dass mit der Öffnung der Kirche über die Offene Arbeit die Begeisterung für Blues und Punk zunächst nur zur Umwelt- und Friedensarbeit führte. Erst durch das gewaltvolle und paranoide staatliche Bekämpfen von bislang eher kleinen Freizeitgruppen wurde aus denselben erst eine engagierte zivilgesellschaftliche Basis.
Bedeutung der Art der Musik Neben mehr oder weniger bekannteren Gruppen waren bei den Blues-Messen regelmäßig explizit verbotene Künstler wie z.B. Stephan Krawczyk zu sehen. Dies waren für sie die einzigen Möglichkeiten vor Publikum zu spielen, was umso mehr Anlass für Diskussionen bot. Es steigerte die Zahl und Aufmerksamkeit der Zuhörenden – die sonst die nicht wirklich eingängigen Lieder ggf. ignoriert hätten. Die kommunal verorteten SED-Kulturabteilungen konnten diese Konzerte der von ihnen verbotenen Künstler nicht verbieten, weil sie für »innerkirchliche« Veranstaltungen (»Gottesdienste mit Musik«) nicht zuständig waren. Es gab hierfür auch keine Plakate und Werbung, sondern nur »Mundpropaganda« und max. einen »auffällig unauffälligen« Hinweis in den Kirchenräumen mit dem expliziten Hinweis: »Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch«.39 Meist hätte es keine Aushänge gebraucht, denn die Netzwerke waren weit genug und die Aufmerksamkeit so hoch, dass eine gezielte Nachricht über einen möglichen Auftritt einer Band ausgereicht hätte, um ganze Kirchen zu füllen. 39
Vgl. Meyerbeer (2014): Der ostentativ aufgedruckte Zusatz war für interne Papiere der Kirche vorgesehen und dort (juristisch) wichtig, nicht für Aushänge. Der Aufdruck hatte aber eine gewisse Wirkung gegenüber Ordnungshütern und ermöglichte die Entwicklung einer unabhängigen Samisdat-Presse. Ein solcher Aufdruck als Hinweis macht ja nur Sinn, wenn diese Schriften theoretisch doch auch aus den Kirchenräumen herausgelangen könnten – was sie ja auch taten. Schließlich ebnete die wachsende Zahl an Periodika (vgl. Moldt 2005; Wensierski 2019) und Streitschriften auch die Einrichtung der Umweltbibliothek im Keller der Zionsgemeinde in Berlin Mitte. Auch sie trug entscheidend zur Revolution bei.
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Musik war hier nie als rein geschmackliche Attitüde zu verstehen, sondern wichtiger Teil eines nach Sinn suchenden Lebensstils jenseits der parteilichen Ideologien und des Konsums.40 Die Blues-Messen waren sicher nur eines unter vielen Eventzielen der Tramper, aber sicher die bekanntesten und die politisch eindeutigsten. Mit Auftritten von Freygang und Pasch wurde später der Übergang vom Blues zur offen subversiven Aktion markiert. André Greiner-Pol (Freygang) prägte übrigens mit dem Titel »Der Blues muss bewaffnet sein!« eine schlagende Verballhornung der SED-Propaganda (»Der Friede muss bewaffnet sein!«). Seine Band Freygang spielt als erklärte Amateurband eine Schlüsselrolle. Sie stellten z.B. ihre passable Musikanlage für die Bluesmessen zur Verfügung41 und sorgten damit für professionellen Sound, der die Texte der Spielszenen besser Verständlich machte (übrigens auch zur Freude der mitschneidenden Stasi). Er selber vollzog stilistisch den Übergang vom getragen und flehenden Blues zum lauteren Blues-Rock und schließlich zum aggressiveren Punk und nahm dabei die meisten seiner Fans mit. Er machte Rio Reisers Hausbesetzerband »Ton-Steine-Scherben« (die bis zur Gründung von »Radio 100« im Jahr 1987 auch von den Westberliner Sendern nie gespielt wurde) und die anspruchsvolle Westberliner Krautrock Formation Mon Dyh in der DDR bekannt, und damit einen neuen Stil zum Markenzeichen. Zu einem unausgesprochenen Motto der Aussteigerkultur wurde: »Es darf keine angepasste Musik gehört oder nachgespielt werden«. Ein Song, der es in die Playlists der Radiosender Ost wie West schafft, war damit eigentlich schon entwertet. Für den somit notwendigen Tausch von »besonderen« LPs (Vinyl) und Überspielsessions (Tonband, Cassetten) war der Zugang zu dafür kompetenten Netzwerken wichtig. Plattenverkäufe auf dem Gelände der Erlöserkirche habe ich selber beobachtet, schienen m.E. bei Bluesmessen aber als unpassend angesehen zu sein. Die erst nur im Außenbereich der Blues-Messen geduldeten Punkbands (zuerst »Namenlos«) sorgten dann für den Durchbruch anarchistischer Töne in die DDR-Kirchenwelt. Zuerst erschienen sie als Störung, später verdrängten sie allmählich die Allmacht der Hippiekultur. Es gab keinen allgemeinen Stilwechsel und die barttragenden Langhaarigen (von Punkern auch »Fellfressen« genannt) blieben bis zum 1989 bei den Publikumsveranstaltungen in der Mehrheit. Die Punker wurden mit ihren viel direkteren Ansagen und radikaleren Ansichten aber zu den Motoren der Offenen Arbeit, da sie Grenzen und Konflikte in der Kirchenarbeit selber aufzeigten. Die Aktionsweise in der innerkirchlichen Opposition erlaubte somit eine Basisarbeit mit explizit widerständiger Jugend, die weder von der Kirchenleitung noch von der Stasi jemals wieder unter Kontrolle gebracht werden konnte. Die Organisation der Bluesmessen zerrieb sich später unter dem Druck der Stasi. Sie wurde durch
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Vgl. die Argumentation bei Rauhut/Kochan (2009); und bei Dieckmann (1999). Vgl. KvU 1997, S. 42.
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die oben erwähnten anderen Formate (Werkstätten, Rüsten) jedoch mehr als ersetzt. Bis dahin hatten sie in kurzer Zeit eine Erfahrung in der DDR-Wirklichkeit hinterlassen, die Hoffnung auf fundamentale Veränderung weckte und bei der komischerweise Blues und Punk keinen trennenden Widerspruch erzeugten, sondern eine brisante politische Mischung. Die Kirchenleitungen und die meisten Gemeinden (auch Reiner Eppelmann) warfen die unbotmäßigen Punks aus ihren Räumen, was die Stasi zunächst beklatschte. Die Offene Arbeit der Kirche fühlte sich aber weiterhin verpflichtet und die sich formierende Bürgerbewegung sah sich ethisch herausgefordert. Mit dem offenen Aufstand der betroffenen Gruppen der Offenen Arbeit beim Kirchentag 1987 in Berlin wird die Existenz einer »Kirche von Unten« zu einem Politikum ersten Ranges.42 Deren Demonstration bei der Abschlussveranstaltung an der »Alten Försterei« war für die Kirchenleitung ein höchst gefährliches Ereignis. Für die Stasi war es ein markantes Debakel, dass ihr ihre Grenzen deutlich aufzeigte. Der Konflikt, den sie zunächst um ein paar Bierlachen (oder war es etwas Anderes?) und missverstandene Sprüche selber angezettelt hatte und zur Spaltung zwischen Offener Arbeit und Kirchenleitung führen sollte, hat eine respektable neue Oppositionsgruppe hervorgebracht. Deren Kreativität und Renitenz ließ sich nun aber nicht mehr über gute Kontakte zur Kirchenleitung oder eingeschleuste Spitzel beeinflussen. Pfarrer, die sich der Offenen Arbeit widmeten und sie persönlich förderten, sollten immer wieder reglementiert werden. Warum dies keinen Rückgang der Offenen Arbeit erbrachte, sondern eher deren Bedeutung stärkte, soll im Folgenden aus derer Entwicklungsgeschichte herausgearbeitet werden.
Offene Arbeit aus Braunsdorf Ob die Revolution ohne Opposition, die Opposition ohne eine Basis, eine Basis ohne Bluesmessen und ähnliche Veranstaltungen der Kirche usw. möglich gewesen wären, bleiben Fragen der Geschichtsschreibung oder Bewegungsforschung43 ,
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KvU 1997, S. 235ff. Während Opp (1993, S. 196f., 216) einen vielbeachteten Beitrag zur Revolution lieferte, in dem auch die Basisgruppen der Kirche und die von ihr geförderte Gewaltlosigkeit eine Rolle spielen dürfen; zudem eine Masse kenntnisreicher Studien von Neubert (1997, 1999a,b); Meuschel (1993); Knabe (1996); Kibelka (1996); Fricke (1999); Eisenfeld (1995); Eisenfeld/Eisenfeld (1999); Dietrich/Jander (1999); Ilsen/Leiserowitz (2019); Kowalczuk (1999, 2015) und viele Andere den Beitrag der protestantischen Opposition für die Revolution differenziert beschreiben und als entscheidend ansehen, wiesen z.B. Zapf (1991) und Pollack (2020) dies brüsk zurück. Letzteres hat nicht dazu beigetragen, revolutionäre Basisarbeit zum Thema der Sozialwissenschaften zu machen.
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die je nach Interessenlage und persönlichem Standpunkt unterschiedlich ausfallen.44 Niemand wird jedoch bezweifeln können, dass die Bluesmessen und die öffentlichkeitswirksamen Werkstätten und Proteste der Kirche von Unten ohne die Offene Arbeit hätten durchgeführt werden können, von der oben schon die Rede war. Die mit der Offenen Arbeit befassten waren jeweils die Träger und Veranstalter der Aktionen, meist kamen die Ideen dafür von hier.45 Dies zu erwähnen soll nicht noch einmal die hier herausgestellte hohe Bedeutung für die Revolution von 1989 betonen. Es soll nun deutlich werden, inwiefern die Offene Arbeit in ihrer DDR-Ausprägung auch für die Soziale Arbeit der Zukunft, insbesondere die Gemeinwesenarbeit und politische Bildung, von Belang sein könnte. Dazu muss ihre Gestalt natürlich bekannt sein.46 Sie sollte auch nicht mit gleichlautenden anderen Ansätzen verwechselt werden. Was aktuell in der Fachliteratur der Sozialen Arbeit unter dem Stichwort »offene Arbeit«47 firmiert, hat mit der Offenen Arbeit in der DDR-Kirche nur wenig zu tun. In einer geschlossenen, »vormundschaftlichen«48 Gesellschaft wie der DDR war es ein Ansatz der Kritik an der Diktatur und derer einengenden Willkür. Die offene kirchliche Jugendarbeit richtete sich damit prinzipiell an junge Erwachsene und forderte den Ausbau derer »Mündigkeit« im Sinne politischer Sozialisation. Im Kontext der SED-Diktatur liegt die Sprengkraft einer Forderung nach mehr »Mündigkeit« offen zu Tage, war doch Meinungspluralität schlicht verboten. Es wäre nun zu klären, ob eine solche Ausrichtung der Offenen Arbeit überhaupt heute noch gefragt ist. Ist sie auch in der Demokratie in der Lage, zivilgesellschaftliches Engagement zu prägen? Was davon wäre für die Arbeit mit Gruppen und in
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Ehemalige SED-Kader werden weiterhin die Revolution als Niederlage sehen und deren Akteur*innen als Irregeleitete. Leider scheint es aber auch vielen Westdeutschen bis heute schwer zu fallen, der grauen DDR überhaupt etwas Bewahrenswertes abgewinnen zu können, auch wenn dahinter anspruchsvolle zivile Konzepte stecken. Ostdeutsches bleibt per se irgendwie verdächtig, veraltet und unbrauchbar. Diese Folgen von Ethnisierungen werden meist nur in der Außenperspektive augenfällig, wie in den amerikanischen German Studies. Vgl. dazu z.B. Howard (1995); Brauer/Bachmann (1999). Vgl. z.B. Burghardt 2014; Gehrke 2014a,b; KvU 1997, etc. Sie ist natürlich jenen bekannt, die selber mit ihr Berührung hatten und daher aus eigenem Erleben zwischen den Ansätzen vergleichen können, wie z.B. Affolderbach (2016). Es ist aber die Frage, ob für eine breite Diskussion im Fach diese Kenntnisse genutzt werden. Vgl. die Beiträge in Deinet (2013), die für die Jugendarbeit immerhin einen Bezug zum Sozialraum herstellen. Ein Hinweis zur Offenen Arbeit der DDR Kirchen ist dort nicht zu finden. Die Anleitungen von Dörfler (1994) und von Weise (2008), bzw. Hoppe (2008) sind reine Anwendungen in Kindergärten, bzw. Anleitungen für die Arbeit in interessengeleiteten Arbeitsgruppen während der Unterbringung der Kinder in Einrichtungen (die diese eben nicht selbständig verlassen können – womit das Attribut »offen« dort eben gerade nicht im Wortsinne zu verstehen ist). Dieser Begriff geht auf die gute Beschreibung der DDR von Henrich (1989) zurück.
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der Gemeinwesenarbeit nutzbar? Wenn nicht in seiner Gänze, dann ggf. in Teilen, oder ganz und gar nicht? Daher sollen im Folgenden ihre Hauptelemente aus dem vorliegenden Material umrissen werden. Die Offene Arbeit in der DDR entwickelte sich nicht in urbanen Zentren, sondern in der Abgeschiedenheit der thüringischen Provinz. Es war der Braunsdorfer Pfarrer Walter Schilling, der sie maßgeblich prägte. Dazu gibt es bereits eine ganze Reihe an fundierten Darstellungen, die hier genutzt werden.49 Nichts davon hat bislang Eingang in den (westdeutsch geprägten) Lehrkanon der Sozialen Arbeit gefunden. Die in den 1960er Jahre in Freiwilligenarbeit zum Jugendrüstzeitheim umgebaute Scheune auf Schillings Grundstück wird allgemein als der Geburtsort und das wichtigste Experimentierfeld der Offenen Arbeit anerkannt. Seine Biografie, die Entwicklung und Bedeutung der Jugendstätte Braunsdorf, sowie der Offenen Arbeit Saalfeld und Rudolstadt wurde von der Forschung erschlossen und ausführlich beschrieben.50 Für den hier vorliegenden Aufsatz wird nun die Offene Arbeit anhand eines zentralen Positionspapieres umrissen, dass 1981-1984 von einem Arbeitskreis um Walter Schilling für die Landeskirche Thüringen verfasst wurde.51 Bevor auf den Inhalt des erfrischend kurzen Papiers eingegangen wird, zuerst noch zwei Sätze zu dessen Duktus und Kontext. Es handelt sich um ein explizit innerkirchliches Dokument, dass sich zuerst an die eignen Mitstreiter*innen richtet, bzw. der Kirchenleitung die Ausrichtung der Arbeit offenlegt. Es war aber klar, dass es staatlichen Organe zugetragen werden wird, die hieraus ggf. Verbote und Strafen ableiten. Dementsprechend durften Formulierungen nicht juristisch angreifbar gefasst sein. Trotzdem ist die erreichte Eindeutigkeit der Formulierungen (auch in Vergleich zu heutigen Arbeitspapieren der Sozialen Arbeit) beispielhaft klar und verständlich. Dies ergibt einen guten Rahmen für die nun folgende analytische Skizze der Offenen Arbeit in der DDR. 49
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In dem Band der Buchgruppe Offene Arbeit (2014) mit Beiträgen von Praktiker*innen (Wolfgang Musigmann, Karl Meyerbeer und Walter Schilling) gibt Bernd Gehrke einen umfassenden Überblick und hinten ist das hier verwendete Grundsatzpapier (Arbeitsgruppe 1981-84) abgedruckt. Genutzt wurden hier vorrangig die Selbstdarstellungen der Kirche von Unten (KvU 1997), in dem auch jene Punker zu Wort kommen, die die Diakone wohl als Klienten bezeichnet hätten. Weitere hier genutzte und zu empfehlende Quellen sind neben den Originalbeiträgen von Schilling (2002, 2012a,b) der Band von Eisert-Bagemihl/Kleinert (2002); Stiebritz/Geiß (2012); Koerrenz/Stiebritz (2013) und Stiebritz (2010), in denen auch Originalquellen zu finden sind. Ebd. Vgl. Arbeitsgruppe »Offene Arbeit« (1981-1984). Da es Walter Schilling wichtig war, die Arbeitsgruppe als Autorin zu nennen (und nicht nur ihn), wird hier dieser Vorgabe gefolgt. Sollte zuweilen in der Literatur von einem »Schilling-Papier« die Rede sein, dürfte es sich um das gleiche Dokument handeln. Es kann heute genutzt werden, weil es dankenswerter Weise in einem Band der »Buchgruppe Offene Arbeit« vollständig abgeduckt wurde.
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5.052 (Präambel) »Es handelt sich... bei der Offenen Arbeit um einen laufenden Prozess der Konzeptentwicklung.53 Damit wird gleich zu Beginn (noch vor dem Punkt null) verankert, dass hier ein Zwischenergebnis längerer Diskussionen vorgestellt wird, mit nur vorläufigem Charakter. Es müsse nach »3 - 5 Jahren wieder zur Diskussion gestellt werden«. Im Punkt null wird zudem von einem »relativ jungen Arbeitszweig«, gesprochen, dessen Beginn in die 1960er Jahre gesetzt wird.54 Der Hinweis der Vorläufigkeit dient als Aufforderung zu Veränderungen. Es wird auf apodiktische Festlegungen verzichtet und somit Offenheit für Neues nicht nur in der Praxis, sondern auch hier in der Rahmensetzung gefordert. Erwähnt werden in der Einleitung zuerst die »unspektakulären« Arbeitsweisen: 1. »Ein Raum in dem man sein kann, wie man ist«; 2. »eine offene Tür«; 3. »ein Gespräch ohne Verurteilungen«). Damit sind die drei Hauptaspekte der Offenheit allem Weiteren vorangestellt. Wir würden sie heute wohl mit: Individualität und Diversität, niedrigschwelliger Optionalität und Akzeptanz umschreiben. Eine noch offenere Einladung zur Partizipation (die in sich noch logisch und praktikabel ist), lässt sich Gedankenexperimentell nicht konstruieren. Dem angeschlossen und damit ebenfalls herausgehoben werden dann: »auffällige Phänomene, z.B. Werkstätten und Gottesdienste mit mehreren tausend jungen Menschen«. Damit ist der wichtigste Streitpunkt mit den Gemeinden und Kirchenleitungen noch vor dem ersten Punkt offengelegt: die organische Einbettung von (auffälligen) Großveranstaltungen als zentrales Element der Offenen Arbeit. Schilling hatte in der Stadtkirche Rudolstadt mit »JUNE 1978« und »JUNE 1979« die ersten großen Wochenendhappenings veranstaltet, die später zur Blaupause für Bluesmessen und ähnliche Formate werden sollten. Diese Veranstaltungen mussten gegenüber den staatlichen Stellen von den Kirchenleitungen verteidigt werden 52
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Die folgende Nummerierung (mit »Null« beginnend) ist dem oben genannten Originaldokument (Arbeitsgruppe »Offene Arbeit« 1981-1984) angelehnt. Um unzählige »ebd.« zu ersparen, wurden die hieraus entnommenen wörtlichen Zitate – sofern nicht anders gekennzeichnet – kursiv gestellt und nicht zusätzlich mit Quellenfußnoten versehen, zumal die gut gegliederte Quelle mit vier Seiten recht übersichtlich ist. Zuerst hatte Schilling die Kirchenleitung mit der dialektischen Formulierung des »Konzeptes der Konzeptlosigkeit« offenbar überfordert (Stibitz 2010, S. 67f.). Die offene Arbeit musste spontan reagieren, war aber nie wirklich konzeptlos. Die frühen Vertreter aus Thüringen wie Uwe Koch, Wolfgang Thalmann, Thomas Auerbach (bei Stibritz 2010, S. 58-75); wie auch Wolfgang Musigmann und später die KvU wehrten sich damit jedoch gegen vorschnelle Regeln und Restriktionen. Detaillierte Konzepte zeugen von einem geringen Zutrauen zu den Klient*innen, mit denen sie gemeinsam etwas schaffen wollten. Zu viele, zu überpräzise und zu geschlossene Konzepte stellen nichts Anderes dar, als Kontrolle durch abzuarbeitende Pläne und verhindern demnach die angestrebte Offenheit (vgl. auch Schilling 2012b). In seinen Reden und Schriften bezieht sich Schilling direkt auf die 1968er Ereignisse in Westberlin (wie den Schah-Besuch) und die Unruhe, die die »ganze Welt« erfasst hätte, und auch in der DDR wirke, hier sich aber »nur anders, ganz anders« darstelle (Schilling 2012a, S. 138).
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können, was bekanntermaßen schwierig und auch für diese ärgerlich war. Das Positionspapier konnte hier eine Legitimation bieten, da es als professionelle Fundierung fachlicher Arbeitsinhalte verfasst war. Damit ist das eigentliche Anliegen entwaffnend offen an den Anfang gestellt: Zu unserem Konzept gehören die Großveranstaltungen, und alles andere macht ohne sie wenig Sinn. Erst nach dieser Klarstellung werden die Ausrichtungen Inhalte der Arbeit umrissen. 5.1 (Zielgruppe) Die Arbeit hat es zu tun: »[...] mit Menschen, die eine neue Form von Gemeinschaft suchen.« An den Anfang der Zielgruppenbeschreibung werden damit nicht problematische Lebenswege und persönliche Krisen gestellt, sondern der Wille und die Hoffnungen auf Veränderung. Wird »Gemeinschaft« als »Gesellschaft« gelesen, ist das 1984 publizierte Papier brisanter als die Positionen der sich 1989 gründenden Foren und Parteien. Dies durfte es sich erlauben, weil es noch als explizit innerkirchliches Papier galt. Die Zielgruppe wird hier als Potential vorgestellt, die eine Chance für sich und die Gesellschaft im gemeinsamen Handeln sucht. Die Formulierung der »neuen Formen der Gemeinschaft«, kommt neben den »neuen« ohne weitere inhaltliche Attribute aus. Dies unterstreicht das Paradigma der Offenheit. Auffällig ist auch, dass in einem Kirchenpapier an dieser Stelle die üblichen konfessionellen Hinweise (wie: stärker glaubensorientierte, Jesus bejahende, gottgefällige Gemeinschaften) fehlen. Die neuen Formen wenden sich damit offenbar alleine gegen die aktuellen Zustände in der DDR und bleiben gleichermaßen gegenüber utopischen und konservativen Lösungen (eines Rückbezuges auf traditionelle Glaubens-, Bekenntnis- oder Wesens-) Gemeinschaften reserviert. Im zweiten Absatz der Beschreibung der Zielgruppe wird dann das Prinzip der Akzeptanz gegenüber der Klientel stark gemacht, in dem »auffällige junge Menschen, die anders sind und sein wollen« hervorgehoben werden. Erst dann werden die »klassischen« Probleme benannt, für die die diakonische Seite der Offenen Arbeit zuständig sein sollte: »überangepasste, ziellose, bindungsschwache bis zu suizidgefährdeten« Menschen werden aufgezählt. Wobei auch diese Reihenfolge bemerkenswert ist und von den traditionellen Stereotypen der Sozialfürsorge abweicht. Zuletzt werden die »aus der Bahn geratenen« genannt, explizit Alkoholabhängige und Verurteilte. Die Kirche war die einzige Institution in der DDR, von der letztgenannte Hilfe erwarten konnten, die über die »Eingliederung in die Produktion«, medizinische Versorgung bzw. Einweisung in die Psychiatrie hinausging. Süchte und Kriminalität waren in der DDR-Phänomene des Kapitalismus, die nicht offiziell besprochen, bzw. verleugnet wurden. Betroffene wurden in der Regel »behandelt«, »erzogen« oder schlicht durch Freiheitsentzug (Jugendwerkhöfe und andere Formen der
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Zwangsarbeit) bestraft.55 Für die notwendige Zuwendung und professionelle Hilfe von Haftentlassenen waren die kirchlichen Angebote unverzichtbar. Aufgrund dieser Samariterrolle konnten Angebote der Jugenddiakonie staatlicherseits kaum delegalisiert werden. Unterstützung für Hilfesuchende anzubieten war für den diakonischen Zweig der Offenen Arbeit selbstverständlich. Er wurde wegen der staatlichen Versorgungslücke zusätzlich zu einer Art Versicherung. Haftentlassene, die aus politischen Gründen einsaßen, wurden vom Staat als »nicht resozialisierbar« angesehen, sondern sollten isoliert und abgeschoben werden. Eine Hinwendung zu deren Bedürfnissen durch kirchliche Angestellte war den Behörden sicher ein Dorn im Auge und erschien verdächtig. Die Formalisierung der Ausbildung von Fachpersonal (Diakonie) in Berlin Weißensee56 hat dazu beigetragen, politische Einschränkungen durch Argumente professioneller Wirkung abzuwehren. Die Professionalität der »Seelsorge« war insofern aus humanitärer Sicht notwendig und gleichzeitig ein starkes Argument zum Ausbau von fachlichen Hilfskompetenzen in der Offenen Arbeit. Die Argumentation lautete, dass mit Außenseitern nur dann gearbeitet werden könne, wenn eine Nähe zu diesen aufgebaut wird. Dies musste auch fachfremden SED-Funktionären einleuchten. Die Voranstellung bewusster Unangepasstheit und die Suche nach neuen Lebensformen, ist somit konstitutiv für die Offene Arbeit geworden, schon und grade in der DDR der 1980er Jahre. Sie war nicht nur offen für Menschen in den »klassischen« problematischen Lebenslagen oder einer Diagnose, sondern für alle die nach Veränderung suchen. Damit nimmt diese Formulierung der Zielgruppen die aktuellen Ansprüche der Inklusion57 vorweg.
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Von Zeng (2000) wird dargelegt, wie schnell weniger angepasste Menschen in der DDR Justiz als »Gammler« und »Assis« bezeichnet wurden – mit strafrechtlichen Folgen. Vgl. auch Korzilius (2005). Dass mit Ausreisewilligen, Flüchtlingen und mutmaßlichen Helfenden menschenverachtend umgegangen wurde, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Vgl. dazu grundsätzlich Fricke (1986); und die Fallstudien bei Raschka (1998). Es wird von ca. 200.000 »politischen Gefangenen« ausgegangen, bzw. von jedem dritten bzw. fünften Häftling in den ca. 80 Anstalten. 1968 erhält der Kirchlich-Diakonische Lehrgang (KDL) der Stephanus-Stiftung den Rechtsstatus als anerkannte Diakonenausbildung im Auftrag der Evangelischen Kirche (vgl. Stephanus Stiftung 2003, S. 13). Das Gebot der Inklusion ist erst nach der Salamaca-Erklärung (UNESCO 1994) zu einem allgemein bekannten Auftrag geworden und stößt in Deutschland immer wieder an bürokratische und kulturelle Grenzen; es stellt sich damit als vergleichsweise neue Aufgabe und Herangehensweise der Sozialen Arbeit dar (vgl. Scherr 2004). Eine nicht unbedeutende Rolle für die moderne Ausrichtung der Offenen Arbeit dürfte auch die Form der Arbeit mit Benachteiligten im Stephanus-Stift in Berlin-Weißensee gehabt haben, an der die Ausbildung der Diakone angegliedert war.
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5.2 (Ethische Ausrichtung) Gesellschaftliche Hintergründe: Unterstützt werden soll bei den Jugendlichen »[...] das Verlangen nach Autonomie in einer Welt voller Fremdbestimmung, in der Institutionen, Machtapparate und Strukturen kaum mehr einsehbar und beeinflussbar erscheinen [...]«. Wiederum stehen die Belange der Subjekte über denen der Institutionen (womit Schulen, Betriebe, Polizei wie alle weiteren staatlichen Organe gemeint sind). Deren Wirken wird hier als anonym und nicht nachvollziehbar kritisiert. Damit wird der brisante Begriff der »Willkürherrschaft« umgangen, der aber wohl gemeint ist. Der Schutz der Klientel ist somit ein doppelter: Ihnen werden keine Defizite unterstellt, die sie zu beheben hätten, noch werden jene Reizworte verwendet, die die Suchenden zu potentiellen Staatsfeinden oder Willküropfern machen würden. Bezüglich der professionellen Einstellung wird hier eine recht moderne, bzw. zivilgesellschaftlich angemessene Position eingenommen, die sich immer wieder schützend vor die eigene Klientel stellt. Mit der Benennung von Ursachen, die das Leiden an der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen, bekommt das Papier den Charakter einer Anklage. Die unmissverständliche Mahnung für das Menschenrecht auf Selbstentfaltung wurde zum Kennzeichen und zur Kernaufgabe der Offenen Arbeit. Walter Schilling war es wichtig, dass die Jugendlichen einen Raum finden, um zu sich kommen zu können. Umschrieben wird dies mit den Punkten zum »Verlangen nach einem vollen Leben«, dass wertzuschätzen sei, und nicht »überall sofort an Zäune und Verbote« stoßen dürfe. Letzteres konnte als Kritik an der Mauer verstanden werden, wendete sich aber gegen viel grundsätzliche Einengungen im Alltag – bis zur rigiden Einstufungspraxis für Bands. Innerhalb der Offenen Arbeit sollte es genügend Gelegenheiten geben, aktiv zu werden, ohne vorher um eine staatliche Erlaubnis zu fragen. Ziel solcher Projekte wie JUNE 78 und 79 war daher auch nicht vordergründig eine politische Aktion oder ein »gutes Werk«. Selbstwirksamkeit (Lebenssinn) sollte im Engagement entdeckt werden können, z.B. bei einem Event, »der nicht so vorgefertigt ist, dass er nur noch zu erfüllen ist; mir deutlich macht, daß ich gebraucht werde und [...] wichtig bin; und der über die Werteskala der bürgerlichen Familie hinausgeht.« Daher sollten die Aktionen eben nicht von der Kirchenleitung geplant und erdacht werden, sondern faktisch umgekehrt. Sie wurden an der Basis erdacht und sorgten bei der Kirchenleitung für Action und die Auseinandersetzung mit dem Staat. Eigentlich eine Aufgabe, die ihr von jeher zukommt. In dieser Konstellation gaben aber die Basisgruppen die Themen vor und trieben quasi die Kirchenleitung vor sich her. Diese Themen kamen dabei nicht von ungefähr, sondern wurden von den Diakonen und den Pfarrern, die die Offene Arbeit erdachten und praktizierten, moderiert. Als Anliegen von Gruppen mit gleichermaßen diakonischem Auftrag, ethischem Anspruch und politischer Brisanz konnten sie nicht einfach ignoriert werden – zumal der SED-Staat deutlich reagierte. Die praktische Umsetzung von Aktionen durfte dazu nie aus der Hand gegeben werden und vor Ort entschieden werden. Sie musste von der Eigenart der Basis geprägt blei-
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ben und ein gemeinsames Anliegen ausdrücken, für das man sich engagiert. Ein solches Vorgehen kann das der Jugend zugewiesene »Verlangen nach Solidarität« im praktischen Tun befriedigen. 5.3 (Ziele) Zielstellungen der Arbeit: Es wird die »Erprobung des Modells einer offenen Gemeinde« als »Beispiel einer offenen Gesellschaft« angepeilt. Dies könnte als Experiment für sektenartige Absonderungen von der Mehrheitsgesellschaft gedeutet werden. Indes wird hier als erster Punkt der »Prozess der vorurteilslosen Annahme« genannt. Die von Bischoff Leich bis Pfarrer Eppelmann bemühte Figur öffnet zunächst die Soziale Arbeit der Kirchen für Nichtgläubige. Darüber hinaus wendet sich dieses Prinzip aber grundsätzlich gegen jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung, die ja für sich abschottende Sekten konstitutiv wäre. Die weiteren Ziele sind eher als Aufgaben zu sehen: »Lebenshilfe, Vorsorge, Begleitung, Hilfe zur Sozialisation«. Auffällig ist auch der Unterpunkt: »Hilfe einen Platz in der Gesellschaft zu finden. [...]«. Schlägt hier das Anliegen der staatlichen Stellen durch, Jugendliche zu braven Staatsbürgern zu machen? Dies ist kaum zu glauben, da Schilling, die Offene Arbeit, die KvU und wohl die meisten Oppositionellen in der DDR das Ideal des Staatsbürgers eher mit Bonhoeffer teilen als mit dem der SED. Daher wird folgerichtig in einer Klammer ein Satz mit Ausrufungszeichen angefügt: »[...] (was nicht gleichbedeutend ist mit Anpassung!)«. Die Offene Arbeit geht somit auf jene zu, die am Rande stehen und nimmt sie so an wie sie sind, konserviert und fördert dabei aber nicht deren Status als Ausgeschlossene. Es geht um Inklusion im eigentlichen Sinne, der Anerkennung der vollen Rechte und Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung fordert, ohne dies auf eine devote Aufgabe von Individualität hinauslaufen zu lassen. Der letzte Unterpunkt im dritten Abschnitt dürfte größere Kontroversen in der DDR ausgelöst haben. Ziel der Offenen Arbeit sei demnach das »Aufmerksammachen der Gesellschaft auf Defizite und Schäden«. Ganz offensichtlich sind hier nicht »Defizite und Schäden« einzelner Menschen oder Gemeinschaften gemeint. Neben den Friedensgruppen hatten sich Anfang der 1980er bereits unabhängige Umweltgruppen gebildet, deren Aktivitäten natürlich im Fokus der Stasi standen und daher kirchliche Deckung suchten. Mit dem unauffälligen Passus im Positionspapier konnten deren Aktionen ausdrücklich an die Offenen Arbeit angeschlossen werden, der Schutz der Kirche war sicher. Es ging dabei nicht nur um einfaches Obdach, sondern den Arbeitsauftrag der Offenen Arbeit, auf Defizite und Schäden hinzuweisen. Wie soll man die Gesellschaft aber auf etwas hinweisen, wenn es keine freie Medienlandschaft gibt, die technischen Möglichkeiten beschränkt sind und eine Weitergabe von Nachrichten zur Westpresse mit hohen Strafen geahndet wird? Der hier zu Tage tretende Charakter der Offenen Arbeit ist daher einer, der unter dem Schlagwort »Glasnost« firmierte, was allerdings erst später, mit dem neuen Kurs der Reformer im sowjetischen Machzentrum bekannt wurde. Glasnost for-
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derte auch noch keine freie Presse, aber das allgemeine und offene Thematisieren von Missständen, die vorher nirgendwo auch nur erwähnt werden durften. 5.4-7 offene Entwicklung Formen, Konflikte, Fragen und Probleme: In vier letzten Punkten werden Formen (wie Werkstätten) und bislang deutlich gewordene Reibungspunkte (Ordnung, Alkohol) thematisiert. Das Papier endet mit drei Punkten, die als Aufgabe anstünden und gelöst werden müssten, bzw. als Forderungen zu verstehen sind. Offene Arbeit brauche: 1. »genügend geeignete Räume«, 2. »Ausbildung auch für Frauen« (es gab bis dato tatsächlich nur Diakone), 3. »Eine berufsbegleitende Ausbildung für bisher ehrenamtliche Mitarbeiter bzw. Kurse für deren Förderung.« Bis hierhin können folgende Kennzeichen der Offenen Arbeit festgehalten werden, die sich aus dem Konzept rekonstruieren lassen. Offene Arbeit ist demnach eine Art des Umganges miteinander, der eher auf Gesellschaftsveränderung ausgerichtet ist als auf die Heilung und Anpassung der Klientel an bestehende Verhältnisse. Der Topos der Eingliederung oder Resozialisation spielt keine Rolle, bzw. ist dem Ziel der Gesellschaftsveränderung nachgeordnet. Die größten Hoffnungen liegen bei der Klientel selber, die nicht defizitär und schwach, sondern als Gruppe beschrieben wird, die ungerechtfertigt benachteiligt wird. Sie soll dem nicht ausliefert bleiben und bezähmt werden, sondern mit anderen zusammen befähigt, sich selber zu äußern und sich Gehör zu verschaffen. Diesem Gusto ordnen sich alle weiteren Punkte unter. Wie sie tatsächlich umgesetzt wurden, könnte wissenschaftlich überprüft werden. Es wäre eine Aufgabe rekonstruktiver Sozialforschung, die in der Lage ist, Kontexte und Strukturzusammenhänge zu erschließen. Subsumtionslogische Zuordnungen werden dies ebenso wenig leisten können, wie Deskriptionen bürokratischer Artefakte, die zu tausenden durch die Stasi verfasst wurden. Insofern letzteren Unterlagen mit großer Vorsicht zu begegnen ist und vorliegende Selbstzeugnisse und Erinnerungen ein gutes Material darstellen, aber damit noch keine Ergebnisse von Analysen bieten, muss die Zusammenfassung der Offenen Arbeit genauso offenbleiben, wie ihr Arbeitspapier – es ergibt nur einen vorläufigen Schluss. Für die Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement und die Gemeinwesenarbeit bieten die Konzepte der Offenen Arbeit eine ganze Palette an Inspirationen und Anknüpfungspunkten. Dies betrifft vor allem den Versuch, die Klientel in den Mittelpunkt zu stellen und das Ungleichgewicht zwischen Helfenden und Hilfesuchenden durch Einbezug zu minimieren. Durch die gemeinsame Konzeption und Organisation von Aktionen muss nicht für Partizipation bei dem Klientel geworben werden, sondern diese müssen gemeinsam um Mitarbeit bei der zuständigen Verwaltungen werben. Es ist ein Kennzeichen der Offenen Arbeit, die Forderung nach Partizipation quasi vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Insofern scheinen die Ansprüche der Offenen Arbeit, die der Gemeinwesenarbeit und
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des modernen Organizing58 zu übertreffen. Ihre Methoden sind konsequenter auf Inklusion durch Empowerment gerichtet. Ebenso scheint die praktizierte Transparenz die der heutigen Möglichkeiten zu übertreffen. Zwar scheinen sich in offenen Informationsgesellschaften Fragen der Offenheit in das Gegenteil zu verkehren und eher ein Problem bei der Auswahl relevanter Informationen zu liegen. Trotzdem bleiben Verständigungsgrenzen, Disparitäten bei Datenzugang und Informationsvorsprünge (z.B. bei der Stadtentwicklung) eklatant. Auch unklare Mittelflüsse bleiben eine Quelle von Misstrauen gegenüber Institutionen. Die Offene Arbeit war in dieser Hinsicht entwaffnend offen. Ein letztes Wort zur Rolle des Blues, der für die Entwicklung der Offenen Arbeit in Braunsdorf, Rudolstadt und Saalfeld als tragendes Bindeglied zwischen Aktiven und Publikum deutlich geworden ist. Er findet im Papier natürlich kein Wort der Erwähnung, weil dies die Offene Arbeit auf eine spezifische Fangruppenarbeit reduziert hätte, was sie ja nie wollte. So zentral der Blues für die Szene war, in der die Offene Arbeit entstand, die prinzipielle Offenheit durfte auch dieses zentrale Bindeglied nicht bevorzugend erwähnen. Insofern sind die heutigen Ansätze der Fanarbeit, Suchthilfe, Mädchenarbeit etc. viel stärker auf einzelne spezifische Gruppen und deren Befriedung ausgerichtet als der hier vorgestellte holistische Ansatz. Offene Arbeit ist daher eher eine Art von Gemeinwesenarbeit bzw. Community Organizing als eine Form von Jugendarbeit. Sie könnte ein gutes Mittel gegen rassistische, nationalistische und frauenfeindliche Tendenzen in Gemeinden sein. Sie könnte sich z.B. für Räume und Mittel für Qualifikation von Einwohnenden einsetzen, die heute an den Rand der Gesellschaft gestellt werden, insbesondere Migrierte aller Alters- und Religionsgruppen.
Fazit: War die Offene Arbeit für den Herbst 1989 relevant und ist sie es drüber hinaus? Die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Basisgruppen der DDR für die Revolution anzuerkennen misslingt, wenn die Hypothese der DDR als »durchherrschte« oder »totalitäre« Gesellschaft mit der empirischen Realität der DDR verwechselt wird. Es ist zwar Ziel und Kennzeichen für fundamentalistische Herrschaftsstrukturen, alle Gruppen und Lebensstile zu unterdrücken bzw. auch zu verbieten, die deren Vorgaben nicht entsprechen. Die DDR war allerdings nie so perfekt organisiert, wie es sich die SED gerne gewünscht hätte. Es ließ sich nachweisen, dass staatliche Repressionen zwar erhebliche Leiden erzeugten und erfolgreich Missgunst schürten, aber die Struktur der zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht schädigten. Die
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Vgl. Mann 2017; Stövesand 2013.
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Rede von »kleinen Freiheiten«59 und der Begriff der »Nischengesellschaft« beruhen auf guten lebensnahen Beobachtungen aus dem Alltag der DDR und scheinen dem zu entsprechen. Allerdings standen SED Herrschaftsanspruch und Zivilgesellschaft nicht in einem harmonischen Nebeneinander, sondern ersterer wollte letztere nicht zulassen. Die SED unterlag. Ohne die Aktionen der Offenen Arbeit und die dort erprobten Organisationserfahrungen wären weder die Aufdeckung des Wahlbetruges im Mai noch Friedfertigkeit der sich daran schließenden Demonstrationen und Mahnwachen erfolgreich gewesen. Insofern waren die zivilgesellschaftlichen Gruppen in der DDR nicht nur ein Baustein des Machtverlustes der SED, sondern ihr entscheidender Gegenpart in der Öffentlichkeit. Ohne zivilgesellschaftliche Basis kann eine Demokratisierung nicht erfolgreich sein, ein (militärischer, nichtziviler) Umsturz oder (ökonomisch evozierter) Zusammenbruch schon. Dass es sich im Herbst 1989 um eine zivile Revolution handelte, keine gewalttätige Revolte, einen Putsch oder eine militärische Niederlage, ist offensichtlich. Indes sind die Pläne und der Willen der SED, ihren Machterhalt militärisch gewaltsam abzusichern ausreichend gesichert. Es lagen Listen für über 80.000 Internierungen vor, entsprechende geheime Lager wurden allerorten errichtet.60 Auf dem Neubrandenburger Lindenberg, Neustrelitzer Straße 120 kann, wer es möchte, ein Eindruck über den gigantischen Aufwand des Repressionsapparates gewonnen werden. Der bis 1990 zuständige Leiter dieses Areals der Stasi Bezirksverwaltung mit damals 2000 Kräften samt zehntausenden Maschinenpistolen und -gewehren, Handgranaten und Fahrzeugen, Generalmajor Peter K. hat sich im Mai 1990 nach seiner Verhaftung suizidiert. Sein Rostocker Kollege Rudolf M. hat noch am 26.10.1989 bedauerte: »Wir dürfen nicht schießen […] Auch wenn bei den Beschimpfungen unser Herz blutet und der Finger juckt.«61 Wären die Demonstrationen 1989 am 7.10 und 8.10 in Berlin, Plauen und am 9.10. in Leipzig so eskaliert wie am Bahnhof in Dresden am 3.10., hätten sich die geheimen Wünsche der Stasigranden wahrscheinlich erfüllt. Die Masse an Demonstrierenden zur Friedfertigkeit (»keine Gewalt!«, »Wir sind keine Rowdies«, »Lass Euch nicht provozieren«, »Reiht Euch ein!«) zu bringen, ist als entscheidender Erfolg der beteiligten kirchlichen Gruppen zu erkennen. Nachdem es trotzdem zu brutalen, willkürlichen Festnahmen in Berlin am 7. und 8. Oktober kam, war eine bislang beispiellose Solidarisierung in der breiten Bevölkerung das Resultat. Die sichtbaren Ansätze einer militärischen Operation gegenüber friedlichen Passant*innen entzog der SED-Herrschaft ihre letzte Legitimation. Alle Internierten mussten in den kommenden Tagen wieder freigelassen werden. Dies
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Vgl. Mau 2019, S. 99f. Vgl. Auerbach 1994, S. 7. Vgl. Catrain 2019, S. 135 bzw. BStU MfS, BV Rostock, AGL, Nr. 16, Teil I: »Einweisung der Kräfte für geplante Demonstration am 26.10.1989«, S. 53.
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war kein plötzliches humanitäres Einlenken der SED-Führung, sondern lag an dem immer besser organisierten Protest dagegen. Dem funktionierenden Telefondienst und Informationsnetzwerk ist es z.B. zu verdanken, dass Namen von Inhaftierten bekannt gemacht wurden und auf allen Kanälen dagegen protestiert wurde – nicht mehr nur auf den stillen Wegen der Kirchendiplomatie. Es war die KvU, die dies zum Schutz vor Stasi- und Polizeiwillkür aufgebaut hatte, übrigens auch von Walter Schilling maßgeblich organisiert. Die Bilder der Mahnwachen in der mit Transparenten drapierten Gethsemanekirche wurden in der Bevölkerung als Aufruf verstanden, gegen Willkür zu protestieren – aber eben nicht gewaltsam, sondern dem Beispiel der Kirchengruppen folgend unter allen Umständen friedlich. Am 8. und 9. Oktober gab es im halben Prenzlauer Berg keine Straßenbeleuchtung, warum auch immer. Die Straßen waren aber trotzdem erleuchtet: von hunderten Kerzen in den Fenstern. Sie wurden nichtmehr nur von Angehörigen der Kirchengruppen angezündet, sondern waren in fast allen Fenstern zu sehen. Sicher darunter auch einige von Genossen der SED. Ihre Parteiführung hatte Stasi, NVA und Kampfgruppen alleine darauf vorbereitet, einen Gegenschlag gegen Gewalttätige führen zu können. Dies war durchschaubar und in den Basisgruppen bekannt. Sie übten spätestens seit JUNE 1978 Formen des friedlichen Protestes, der Selbstorganisation, Deeskalation und Diskussion. Dem hatten die Staatsorgane 1989 nichts mehr entgegenzusetzen. Versatzstücke aus dem bunten Repertoire der Bürgerbewegung der DDR jetzt gegen die Demokratie zu richten, wird bei der Sammlung von Gleichgesinnten einen gewissen Erfolg haben. Dieser wird jedoch in jeder Hinsicht beschränkt bleiben. Antidemokratische politische Kräfte können zwar die Gestalt von zivilen Protestformen nutzen. Sie können wegen ihrer normativen Ausrichtung strukturell jedoch nie »offen« sein. Damit fehlt ihnen erstens ein zentrales Strukturprinzip zivilgesellschaftlicher Bewegungen. Sie bleiben partikular und zielen immer auf irgendeine Form der Abschottung. Zweitens fehlt es ihnen am Prinzip der Gewaltlosigkeit. Durch ihre rigorosen Ziele und der Vision stärker zu sein als ihre (minderwertig betrachteten) Feinde, fehlt ihnen die für zivile Formen des Protestes notwendige Friedfertigkeit. Es ist ein riesiger Unterschied, ob »Wir sind das Volk!« der DDR-Volkspolizei entgegnet wird, die sich anschickte Zehentausende zu internieren, oder die gleichen Worte aggressiv gegen demokratische Mehrheitsverhältnisse gewendet werden. Letzteres kann nur als Anmaßung verstanden werden und bleibt faktisch zahnlos. Insofern ist der Missbrauch von Insignien und Slogans von 1989 zwar geschmacklos – aber auch folgenlos für den Erhalt der Pluralität offener Gesellschaften. Wenn sich um Liberalität und sozialen Ausgleich bemühte Gesellschaften treu bleiben, werden sie sich weiter öffnen: Vor allem für Migrant*innen und Menschen in vulnerablen Lebenslagen. Ein Bemühen darum ist allerdings aktiv notwendig. Dazu braucht es auch heute aktive Basisgruppen, die sich gegen konservative und exkludierende politische Strömungen stellen, dabei etwas riskie-
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ren und sich für die basalen Normen der Zivilgesellschaft einsetzen. Solange sie wirken, droht keine Gefahr. Etwas Anderes ist es mit dem Gedenken an 1989. Eine Abwertung des Mutes der Basisgruppen und die Dekonstruktion der Revolution zum »Zusammenbruch« oder »Wende« hatten dem erreichten Stand zivilgesellschaftlicher Entwicklung eher geschadet als irgendwem genutzt. Für den Erhalt einer humanen Demokratie ist immer auch ziviles Engagement und Solidarität notwendig, mit denen, die benachteiligt sind. Für diesen Einsatz gibt es kein Einkommen oder eine angemessene materielle Entschädigung. Gezahlt wird hier mit Anerkennung auf der Ebene von Werten, die z.B. im Gedenken repräsentiert werden. Insofern wäre es gut, wenn die Geschichte der Offenen Arbeit und ihrer Aktionen zukünftig in der Sozialen Arbeit eine stärkere Bedeutung erfahren würde, und ihre zivilgesellschaftlichen Erfolge zu einem Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses werden, das nicht relativiert zu werden braucht.
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Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR Reflexion zum Workshop »Über die Rolle von Frauen in der Friedlichen Revolution« von Dr. Marina Grasse, OWEN e.V. Sophie Ressin und Kim Florentine Hofeditz
Einleitung Während der Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« der Hochschule Neubrandenburg wurden verschiedene Seminare, Workshops und Vorlesungen angeboten. Diese wurden für alle Interessierten geöffnet und von einer Vielzahl von Menschen besucht. Der Grund für die Projektwoche war das 30-jährige Jubiläum des gesellschaftspolitischen Wandels. Es wurde zum Anlass genommen, um sich rückblickend, vielfältig und interaktiv mit der friedlichen Revolution auseinanderzusetzen. So wurden auch das bildungspolitische Erbe der DDR sowie aktuelle Herausforderungen des wiedervereinigten und demokratischen Deutschlands diskutiert. Motiviert durch gesellschaftspolitische Diskurse innerhalb und außerhalb der Hochschule nahmen wir als Studierende an der Projektwoche teil. In unserem Bericht »Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR« möchten wir auf den Workshop von Dr. Marina Grasse »Über die Rolle von Frauen in der Friedlichen Revolution« eingehen.
Beschreibung des Ablaufs und der Inhalte des Workshops Der Workshop wurde von Dr. Marina Grasse vom OWEN – Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V. mit Sitz in Berlin gestaltet. Der Verein OWEN wurde 1992 gegründet. Er setzt sich für die Stärkung und Entwicklung von Zivilgesellschaft, Geschlechterdemokratie und Frieden durch politische Bildungsarbeit ein. National und international bietet er Kurse und Veranstaltungen an. Die Methoden sind partizipativ und interaktiv.1 Zu den Aktivitäten
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des Vereins gehört auch die Bildungsarbeit mit Lehrenden und Lernenden. In Neubrandenburg wurden die Teilnehmenden während des zweitägigen Workshops auf hohem Niveau an eigene Entwicklungsprozesse herangeführt und es wurde auf die subjektiven Erfahrungen und die konkrete Praxis der Teilnehmenden eingegangen.2 Der erste Tag des Workshops beinhaltete einen Rückblick auf die DDR von 1949 bis 1989 und nahm erlebte und erzählte Geschichten in den Blick.
Kennenlernen Zu Beginn des Workshops lagen um einen Blumentopf verteilt Bilder von Frauen. Die Bilder waren schwarz-weiß gedruckt und wirkten wie aus einer anderen Zeit. Die Kleidungsstile, Frisuren und die Qualität der Bilder unterschieden sich von den heutigen maßgeblich. Als Einstieg sollten die Teilnehmenden jeweils ein Bild auswählen und sich selbst vorstellen sowie die Wahl des Bildes begründen und es beschreiben. Während des Austausches gaben die Teilnehmenden auch ihre Beweggründe für die aktive Teilnahme an der Projektwoche bekannt. Durch das Kennenlernen wurde die Heterogenität der Gruppe deutlich, die sich im Geschlecht, im Alter und in den individuell unterschiedlichen biografischen Erfahrungen spiegelte. Im weiteren Verlauf des Workshops wurde dieser Fakt als Vorteil für die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen genutzt.
Historischer Rückblick Die Bilder aus der ersten Einheit des Workshops wurden auch direkt mit der zweiten verknüpft, indem sie zu einem späteren Zeitpunkt an einen Zeitstrahl angebracht wurden. Der Zeitstrahl visualisierte die gesamte DDR-Zeit und die Teilnehmenden waren verantwortlich dafür, diesen mit verschiedenen Fakten auszuschmücken. Im Laufe des Lehr-Lern-Prozesses füllte sich der Zeitstrahl stetig mit weiteren Informationen und bot gleichzeitig eine Strukturierung. Frau Grasse ging, ebenfalls mithilfe des Zeitstrahls, auf die verschiedenen Generationen in der DDR ein. Innerhalb der Generationen setzten wir uns gezielt mit Akteurinnen auseinander, die vorher schon auf den Bildern visualisiert waren und stellten die Frage: Welche biografischen Ressourcen und Erfahrungen aus der Zeit vor 1989/90 lassen sich mit dem Engagement von Frauen während der friedlichen Revolution in Verbindung bringen?3
2 3
Vgl. ebd. Vgl. Hochschule Neubrandenburg o.J.
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Abb. 1: Dr. Marina Grasse zeigt uns am Zeitstrahl die verschiedenen Generationen der DDR.
Foto: Marina Grasse
DDR: Ereignisgeschichte und Erlebnisgeneration Nach dieser intensiven Informationsphase wurden die Teilnehmenden inspiriert, mit Knete eigene Empfindungen, Einfälle oder Erlebnisse in Bezug auf die DDR darzustellen. In diesem Prozess entstanden u.a. Figuren, die Jung- und Thälmannpioniere symbolisieren: neben der Freien Deutschen Jugend (FDJ) die wichtigsten Kinder- und Jugendorganisationen in der DDR.
Analyse eines Fallbeispiels Im weiteren Verlauf des Workshops wurde anhand von ausgewählten biografischen Verläufen und Erzählungen die Rolle von Frauen als gesellschaftspolitische Akteurinnen thematisiert. Methodengrundlage waren ausgewählte narrative biografische Interviews mit DDR-Frauen, die von der Frauenorganisation OWEN e.V. im Rahmen des Forschungsprojekts »Frauengedächtnis« zwischen 1998 bis 2003
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Abb. 2: Freie Demokratische Jugend – FDJ; Mauer – schwarz und weiß; Bildungswege in der DDR
Foto: Marina Grasse
durchgeführt worden sind und die durch Biogramme und Kontextmaterialien ergänzt und analysiert wurden.4 Mithilfe der sogenannten »Sherlock Holmes Methode« untersuchten die Teilnehmenden ein Fallbeispiel von Frau M. Kober. Sie bekamen, wie auch in der qualitativen Sozialforschung als sequenzanalytisches Vorgehen bekannt, verschiedene Abschnitte ihrer Biografie zu lesen. Dabei handelte es sich um Fakten, aber auch erzählte Erinnerungen der Akteurin selbst. Dies zusammen bildete die Grundlage, um Hypothesen über den weiteren Verlauf des Lebens dieser Frau in der DDR aufzuzeigen. Die Thesen konnten sich im nächsten Abschnitt belegen oder widerlegen lassen. Dies sorgte für eine hohe intrinsische Motivation bei den Teilnehmenden des Workshops. Die Handreichungen, die wir Abschnitt für Abschnitt bekamen, waren durch etliche Begriffserklärungen ergänzt, wodurch wir diese dem zeitgeschichtlichen Geschehen sowie dem Werdegang Frau Kobers zuordnen konnten.
4
Vgl. Hochschule Neubrandenburg o.J.
Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR
Diese intensive Auseinandersetzung mit einer DDR-Biografie konnte nicht am ersten Tag beendet werden und wir beschlossen, den Prozess am nächsten Tag weiterzuführen.
Abb. 3: »Sherlock- Holmes-Methode« in Anwendung
Foto: Marina Grasse
Präsentationen der Ergebnisse aus der Analyse des Fallbeispiels Am zweiten Tag führten die Teilnehmenden unter Beteiligung der Referentin Marina Grasse die Methode »Sherlock Holmes« vom Vortag zu Ende und brachten diese in einen gesellschaftspolitischen Kontext. Dabei führte Marina Grasse auch weitere historische Fakten an, die das Thema »Frauen in Politik und Gesellschaft« betrafen oder das Engagement von Frauen während der friedlichen Revolution.
Das Zeitzeuginnen-Gespräch Zur Vorbereitung des Zeitzeuginnen-Gesprächs erhielten wir eine kurze biografische Darstellung von Martha Grün. Auf Grundlage dieses Einblicks in das Leben der Frau konnten nun offene Fragen entwickelt werden. Als jedoch keine weite-
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re Person den Raum betrat, löste Frau Grasse auf, dass Martha Grün sie selbst ist. Daraufhin konnten die Teilnehmenden Fragen zu ihren individuellen biografischen Erfahrungen in der DDR stellen.
Abschlussgespräch: Die Rolle von Frauen in der friedlichen Revolution Überleitend führten die Teilnehmenden auch ein resümierendes Gespräch über die Beteiligung von Frauen an der friedlichen Revolution. Sie konnten ihre Gedanken zur Sprache bringen und sich über die vielen Informationen austauschen.
Abb. 4: Die Referentin entpuppt sich als Zeitzeugin.
Foto: Marina Grasse
Kernpunkte der anschließenden Präsentation und Diskussion Im Zuge des Workshops haben wir uns mit dem Thema »Emanzipation und die Rolle der Frau in der DDR« beschäftigt und dies auch in einer Präsentation verarbeitet. Zunächst widmeten wir uns dem Definieren der Begriffe Emanzipation, Gleichberechtigung und Gleichstellung, um diese voneinander abzugrenzen, aber
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auch in Beziehung zueinander zu setzen. Weiterhin gingen wir auf folgende Inhalte ein: berufliche Bildung, Berufstätigkeit, Frau und Familie sowie Frauen in Politik und Gesellschaft. Abschließend leiteten wir mit der Frage »Waren Frauen in der DDR gleichberechtigter als Frauen von heute?« die Diskussionsrunde ein. Der Begriff »Emanzipation« ist ein weitreichender und in unseren Breitengraden sehr gebräuchlicher Begriff. Er lässt sich in den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Richtungen ausmachen: in der Soziologie, der Religion, der Geschichte und nicht zuletzt in der Pädagogik. Daher gibt es auch eine Vielzahl von Definitionen, die den Begriff der Emanzipation zu fassen versuchen und zum Teil von der jeweiligen geisteswissenschaftlichen Richtung, der sich die Wissenschaftler*innen zugehörig fühlen, abhängig sind. In einer stark individualisierten Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung aller Menschen von so fundamentaler Bedeutung ist wie in unserer, verwundert es nicht, dass »Emanzipation« als Begrifflichkeit geradezu inflationär verwendet wird. Um dem entgegenzuwirken, macht es Sinn, sich zunächst einmal den Grundgedanken von Emanzipation zu nähern und den Begriff dann erst mit den Begriffen Gleichberechtigung und Gleichstellung in Verbindung zu setzen. Emanzipation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie »Freilassung«, also die »Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit; Verselbstständigung«.5 So ist »der Grundsinn von Emanzipation die Freilassung in dem Sinne, dass eine bestimmte Gruppe innerhalb einer Rechtsgemeinschaft die Grundrechte aller Mitglieder der Rechtsgemeinschaft erhält (Gleichberechtigung).«6 Gleichberechtigung ist somit das Ziel von Emanzipation und bedeutet, dass alle die gleichen Rechte haben, also keine Benachteiligung erfahren, und vor dem Gesetz gleich sind. Dementsprechend ist Gleichberechtigung gleichzusetzen mit Chancengleichheit. Die Frauen in der DDR waren von Anfang an genauso erwerbstätig wie die Männer, da sie als Arbeitskraft für die Erfüllung des Plansolls wichtig waren. Das Recht und die Pflicht auf Arbeit waren für Frauen genauso gültig wie für Männer und so gingen 91,1 Prozent (1989) der Frauen einer vollen Erwerbstätigkeit nach. Die Mehrheit der Frauen waren Arbeiterinnen oder Angestellte.7 Frauen waren aber in allen (auch spezifischen) Bereichen tätig, allerdings waren die Arbeitsbereiche eher durch ein differenziertes Anspruchsniveau sowie durch Routine gekennzeichnet. Die Frauenerwerbstätigkeit zeigte zudem eine große Vielzahl von Zeitmustern wie Teilzeitarbeit sowie Schichtarbeit. Es gab aber auch eine hohe Ausfallquote und Fluktuation aufgrund von familiären Verpflichtungen. Verschiedene Faktoren bewirkten eine sichtliche Differenzierung im Einkommen zwischen weiblichen und 5 6 7
Wissenschaftlicher Rat der Dudenreaktion 1990, S. 221. Willmann-Institut München 1977, S. 219. Vgl. Miethe 1990, S. 57.
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männlichen Erwerbstätigen.8 So hatten Frauen in der DDR ungleiche Entwicklungsmöglichkeiten, Rechte und Chancen und es gab eine geschlechtstypische Prägung der Beschäftigungsstrukturen in ihrer Berufstätigkeit. »Charakteristisch war in den 80er Jahren nicht nur eine 91-prozentige Berufstätigkeit, sondern gleichermaßen, dass über 90 Prozent aller Frauen mindestens ein Kind zu Welt gebracht haben.«9 Somit war das vorherrschende Lebenskonzept die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft, welches keine Alternative, sondern ein Muss war.10 Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf konnte nur durch verschiedene Maßnahmen seitens des Staates erfolgen. So gab es in der DDR eine volle Bedarfsdeckung an staatlichen und betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung, die bezahlte Freistellung für Kindererziehung und Betreuung sowie die verkürzte Arbeitszeit für berufstätige Mütter ohne Lohnminderung.11 Aufgrund des langen Arbeitstages von 8,45 Stunden, des hohen Arbeitsaufwandes an Hausarbeit sowie durch die ungleich verteilten Familienpflichten auf Frauen und Männer wurde der Doppelanspruch der Frau zur Doppelbelastung. Zudem wurden Frauen aufgrund ihrer familiären Pflichten im Berufsleben nicht qualifikationsgerecht eingesetzt, konnten oft nur eingeschränkte bis gar keine beruflichen Spitzenleistungen erbringen und kaum Leitungstätigkeiten wie auch anderen Aufstiegschancen nachgehen.12 Frauen hatten trotz kürzerer Arbeitszeit, trotz eines monatlichen freien Hausarbeitstages und Teilzeitbeschäftigung über Jahre hindurch konstant weniger Freizeit13 und weniger Urlaub14 als Männer. In der Diskussionsrunde wurden verschiedene Argumente und Standpunkte geäußert, die die Frage »Waren Frauen der DDR gleichberechtigter als Frauen von heute?« kritisierten, aber auch neue Aspekte sowie andere Fragestellungen aufwarfen. Einstimmiger Konsens war, dass Frauen in der heutigen Gesellschaft gleichberechtigter sind als damals, da z.B. der heutige Arbeitsmarkt Frauen mehr Möglichkeiten bietet und zudem die Arbeits- und Freizeitanteile selbst von ihnen bestimmt werden können. Kritisch betrachtet wurde, ob aufgrund der unterschiedlichen politischen Systeme (DDR/Bundesrepublik) diese Fragestellung überhaupt erläutert werden könne, da die Voraussetzungen und Hintergründe andere seien. Als ein positiver Punkt der DDR wurde die staatlich sowie auch betrieblich verwaltete Kinderbetreuung genannt, die auch heute noch entlastend wirken könnte. Darüber hinaus wurde diskutiert, ob Teilzeitarbeit, die geschlechtsspezifische Entlohnung
8 9 10 11 12 13 14
Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 79. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Gysi 1990, S. 133. Vgl. ebd., S. 137.
Emanzipation und die Rolle von Frauen in der DDR
von Erwerbsarbeit sowie die Aufteilung von familiären und häuslichen Pflichten heute ähnliche Strukturen wie in der DDR aufweisen, ob es Parallelen oder Gemeinsamkeiten gibt und wie sich diese Themen eventuell verändert haben. Ein weiterer Punkt war die stereotypisierte Berufswahl, die damals wie heute vorhanden ist. Die Diskussion zeigte im Ergebnis, dass Männer und Frauen bis heute nicht gleichberechtigt sind. Dies manifestiere sich u.a. darin, dass Frauen weniger verdienen würden als Männer. Zu einem ähnlichen Schluss kamen die Teilnehmenden, als es um die Aufteilung von familiären und häuslichen Pflichten ging. Heutzutage, so der Tenor, herrsche immer noch eine geschlechtsstereotype Aufteilung vor, auch wenn diese aufgebrochener ist als damals.
Reflexion der Inhalte mit Bezug zur Profession Die Thematiken Emanzipation und die Rolle der Frau in der DDR zeigen für die Profession der Berufspädagogik, der Sozialen Arbeit, der Sozialpädagogik und der Kindheitspädagogik auf, dass Themen wie soziale Gerechtigkeit immer noch Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses sind. Berufspädagog*innen sind aufgrund ihrer Profession dazu verpflichtet, negativer Diskriminierung in Bezug auf Merkmale wie beispielsweise Fähigkeiten, Kultur, Alter, Geschlecht, Familienstand, sozioökonomischen Hintergründen und sexueller Orientierung entgegenzutreten. Insbesondere Schüler*innen müssen gegenüber diesen Merkmalen und internalisierten Zuschreibungen sensibilisiert werden und lernen, eigene Diskriminierungsprozesse und -erfahrungen zu reflektieren. Lehrer*innen, heute wie damals, stehen im Spannungsfeld des Triple-Mandats, also zwischen den staatlichen Anforderungen (z.B. Rahmenlehrplan, zeitliche Richtlinien) sowie der eigenen Profession und den individuellen Ansprüchen der Schüler*innen. Aufgrund des stetig fortlaufenden Prozesses der Emanzipation und den damit verbundenen wandelnden Diskussionsinhalten und Begrifflichkeiten ist es wichtig, die eigene Profession flexibel zu betrachten, also die eigene professionelle Identität als ständigen Prozess zu begreifen, der sich durch Faktoren wie (Berufs-)Erfahrung, Wandel des Arbeitsfeldes sowie durch politische Einflüsse verändert.15 Durch die behandelten Inhalte konnten wir unser Repertoire an emanzipatorischem wie auch historischem Wissen erweitern sowie mit heutigen Diskursen in der Gesellschaft verknüpfen und damit einen weiteren Reflexionsprozess anregen. Dieser ist stets in einer doppelten Gewichtung zu betrachten: Denn während Berufspädagog*innen sich durch Selbstreflektion weiterentwickeln, sind sie stets als 15
Vgl. Harmsen 2004, S. 302ff.
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Modell zu betrachten. Modell meint hier im Sinne von Albert Banduras sozialkognitiver Theorie das Lernen am Modell, das durch die ständige Wechselwirkung von Lehrkraft und Schüler*innenschaft entsteht, und zur Übernahme und Reflexion des professionellen Handelns anregen soll. Dies bedeutet, dass Lehrkräfte als Vorbild fungieren und somit einen Lernprozess aus einer Wechselwirkung von Person und Umwelt initiieren.16
Theorie-Praxis-Transfer Die Inhalte des Workshops sind noch heute äußerst relevant, da Emanzipation als ein fortlaufender Prozess verstanden werden kann. Demnach war er nicht nur für die Profession der Teilnehmenden ein essentieller Bestandteil, sondern auch für die in unserem Aufgabenbereich fallende adäquate Ausbildung von Sozialassistenten*innen und Erzieher*innen. Diese begleiten wir auch im Hinblick des Rahmenlehrplans Mecklenburg-Vorpommern. Wir zeigen ihnen Wege zum professionellen Handeln auf, insbesondere wenn es darum geht, als Fachkraft für Gleichberechtigung einzustehen. Im Hochschulmodul 3 »Gestaltung von Gruppenprozessen und Beziehung« werden wir explizit auf Gender sowie Gender-Mainstreaming, Geschlechtervielfalt, Chancengerechtigkeit und Partizipation eingehen.17 Mit dem Wissen, das uns im Workshop vermittelt wurde, können wir sensibel auch historische Fakten in die Darstellung heutiger Herausforderungen einfließen lassen. Auch im Berufsalltag können wir vor dem Hintergrund historischen Wissens besser auf Heterogenität und Diversität eingehen und in multiprofessionellen Teams, bestehend aus verschiedenen Generationen, mehr Empathie und Wertschätzung erzeugen. Der Workshop bot auf mehreren Ebenen eine qualitativ hochwertige LehrLern-Atmosphäre. Es können auch eine Vielzahl von Methoden für die spätere Berufspraxis übernommen werden. Besonders hervorzuheben ist dabei die so genannte »Sherlock-Holmes-Methode«, die auch auf die Berufspraxis der Berufspädagogik anwendbar ist. Auch das sequenzanalytische Vorgehen ist methodisch von Interesse.
Ausblick Der Workshop hat gezeigt, dass sich die gesellschaftlichen und politischen Diskurse in Bezug auf Frauen und ihre Emanzipation in den letzten Jahrzehnten nicht 16 17
Vgl. Hobmaier 2012, S. 170ff. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern 2016, S. 40f.
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groß verändert haben. Es kristallisierte sich heraus, dass sich die Diskurse um den Gender-Pay-Gap, die stereotypisierte Aufteilung von familiären Pflichten, die zahlenmäßige Vertretung von Frauen und Männern in der Politik sowie auch auf den beruflichen Ebenen keine wesentlichen Veränderungen erfahren haben. Was sich jedoch zeigt ist, dass wir die Diskussion um Gleichberechtigung erweitert haben zu einer Diskussion um Gleichstellung. So wurde das dritte Geschlecht divers rechtlich verankert und weitere Personengruppen verschafften sich Gehör und Sichtbarkeit. Die soziale Rolle (engl. Gender), die Menschen zugewiesen wird, wurde breit diskutiert, sichtbar gemacht und die Strukturen wurden durch einen sensibilisierten Sprachgebrauch aufgebrochen. Der heutigen Vielfalt von Lebensentwürfen wird man sprachlich gerechter, wenn man Texte unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten und nicht diskriminierend verfasst. Unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, nicht nur von Gleichberechtigung, sondern eben auch von Gleichstellung zu sprechen. Und Gleichstellung sollte sich nicht nur auf den Diskurs in der Gender-Debatte beziehen, sondern alle Minoritäten in unserer Gesellschaft einbeziehen. Unsere Gesellschaft sollte allen nicht nur die gleichen Chancen bieten, sondern auch gleichwertig die Bedürfnisse und Forderungen aller betrachten, wertschätzen und die daraus resultierenden Ergebnisse in einem gleichgestellten Teilhabeprozess umsetzen.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Gysi, Jutta (1990): Frau und Familie. In: Winkler, Gunnar (Hg.): Frauenreport ›90. Berlin: Verlag Die Wirtschaft, S. 101-152. Harmsen, Thomas (2004): Die Konstruktion professioneller Identitäten in der Sozialen Arbeit. Theoretische Grundlagen und empirische Befunde. Heidelberg: Springer. Hochschule Neubrandenburg (o.J.): »30 Jahre Friedliche Revolution. Die Rolle der Frauen in der Friedlichen Revolution«. http://www.hs-nb.de/hochschule/aktu elles/30-jahre-friedliche-revolution/ (Abfrage: 10.02.2019). Hobmaier, Hermann (2012): Das Lernen am Modell. In: Hobmaier, Hermann (Hg.): Pädagogik. Köln: Bildungsverlag EINS, S. 170-187. Luther, Inga (2021): »Wer wir sind«. http://www.owen-berlin.de/ueber-uns/index.php (Abfrage: 15.02.2020). Miethe, Horst (1990): Berufstätigkeit. In: Winkler, Gunnar (Hg.): Frauenreport ›90. Berlin: Verlag Die Wirtschaft, S. 55-100. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (2016): »Vorläufiger Rahmenplan. Fachschule für Sozialwesen. Bildungsgang: Staatlich anerkannte Erzieherin/Staatlich anerkannter Erzieher. Bildungsserver Mecklenburg-Vorpommern«. http://www.bildung-mv.de/export/sites/bild ungsserver/downloads/unterricht/rahmenplaene-fachschulen/rp_fs_erzieher. pdf (Abfrage: 01.06.2021). Willmann-Institut München (Hg.) (1977): Wörterbuch der Pädagogik. Freiburg: Herder. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (1990) (Hg.): Duden. Fremdwörterbuch. Band 5. 5. Auflage. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag.
30 Jahre Vorpommern: Vom Neuen Forum und dem UFV zur AfD – trauriger Norden, negative Identität? Probleme und Perspektiven Matthias Pfüller
Annäherung 1: Alleinstellungsmerkmal Vorpommerns Vorpommern ist als Region ein »negatives Produkt« der NS-Kriegsverbrechen; Vorpommern hat keine eigene Geschichte, die vor 1945 als solche zu verstehen wäre. Sowohl der Name der Region wie auch ihr Gebietsbestand sind seit 1945 mehreren Veränderungen ausgesetzt gewesen; auch in der Region selbst hat es immer wieder Veränderungen durch Gebietsreformen gegeben. Daher kann es nur eine vage regionale Identität geben, die implizit auf einer »Echowirkung« auf den Bestand der ehemaligen Provinz Pommern beruht. Deswegen sind auch die Ereignisse und Ergebnisse der friedlichen Revolution und der Landesbegründung von 1989/90 eher diffus, da sie quasi zwischen den Bezirken Rostock und Neubrandenburg »aufgeteilt« sind. Die Gebiets- und Kreisreformen seit 1990 sind bis in die Gegenwart hinein spürbar; sie haben die Diffusion nicht beseitigt. Die Einsetzung eines eigenen Staatssekretärs für Vorpommern mit Teilzeitsitz in Anklam hat weder eine neue Klarheit noch eine besondere Verbesserung der Lage in der Region mit sich gebracht. Damit hat die Region in der Bundesrepublik ein gewisses »Alleinstellungsmerkmal«.
Annäherung 2: »Negative Homogenität« Die Bevölkerung in der Region ist seit Kriegsende 1944/45 immer wieder durchgemischt und neu zusammengesetzt worden: zu Beginn durch die Flüchtlinge und Vertriebenen, die die Bevölkerungszahl oftmals mindestens verdoppelten; durch die Flucht aus der SBZ bzw. DDR, die bis 1961 anhielt; durch die Zuwanderungen insbesondere aus dem Süden der DDR im Zuge der Industrialisierung (herausragendes Beispiel: das Kernkraftwerk (KKW) »Bruno Leuschner« Greifswald-Lubmin mit bis zu 15.000 Arbeitsplätzen); dann die Abwanderung nach 1989/90 sowie durch
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die durchgreifenden Veränderungen in den Betrieben seit 1989 – weitaus weniger durch Zuwanderung von Ausländer*innen. Daraus ist in den jeweiligen Orten ein »Kern« von »Einheimischen« entstanden, der einerseits die schon vor 1945 dort Lebenden umfasst, daneben die Zugewanderten, die seit 1945 dort ansässig geworden sind. Man kann davon ausgehen, dass dieser »Kern« auf Stabilität und Besitzstandswahrung fixiert ist, um Orientierungssicherheit zu wahren.
Annäherung 3: Stabilitäts-Effekte Bereits in der DDR-Zeit gab es Versuche, die eigene ökonomische, soziale und kulturelle Situation zu stabilisieren – und zwar gegen die fortwährenden Eingriffe des Staates und der SED. Ein wichtiger Punkt war dabei die Bildung von Besitz, am besten in Form eines Hauses und eines eigenen Grundstücks. Das wurde als Absicherung gegenüber dem Staat und nach 1989/90 auch als allgemeine soziale und wirtschaftliche Absicherung gegen die Unwägbarkeiten der allgemeinen Entwicklung begriffen. Daher wandte sich ein großer Teil der Bevölkerung in Vorpommern nach 1990 der CDU zu, weil diese Partei solchen Bestrebungen am ehesten entgegenkam. Das Resultat ist ein »liberaler Besitz-Konservatismus«, der bis in die Gegenwart ungebrochen fortbesteht und als »zukunftssicher« gelten kann. Sicher ist allerdings nicht, ob er sich über die CDU hinaus an die AfD »ankoppeln« kann.
Annäherung 4: Tourismus und Identität Ein Großteil der Bevölkerung – vor allem, aber nicht nur an der Küste – arbeitet im Tourismus, der sich als Wachstumsbranche etabliert hat. Ihm können zwei Auswirkungen zugeschrieben werden: Auf der einen Seite versuchen die vom Tourismus lebenden Orte eine gefällige Fassade aufzubauen und aufrecht zu erhalten, um weiterhin touristisch attraktiv zu sein. Auf der anderen Seite kann es, bedingt eben dadurch, zu gravierenden Veränderungen kommen: An den touristischen Brennpunkten wird das Leben so teuer, dass die Einheimischen an andere Orte ausweichen müssen. Darüber hinaus werden die Orte im Aussehen durch die touristisch bedingten Investitionen gleichförmiger und austauschbarer – insbesondere dann, wenn auch Investitionen von außerhalb kommen. Damit werden die lokale und regionale Authentizität sowie Identität ausgehöhlt.
Vom Neuen Forum und dem UFV zur AfD – trauriger Norden, negative Identität?
Annäherung 5: Interne Peripherie als Kehrseite und Bedingung Der Hintergrund für den Boom des Tourismus ist, dass das Bundesland MV im Rahmen der BRD ein Land der internen Peripherie ist – und Vorpommern ist wiederum im Bundesland die eindeutige Peripherie. »Interne Peripherie« heißt nicht nur »Land am Rand«, sondern auch: ungleicher ökonomischer und sozialer Tausch mit dem Zentrum (in diesem Fall der Landeshauptstadt Schwerin) und Verurteilung zur Fortdauer dieses Zustandes. »Ungleicher Tausch« heißt: Die interne Peripherie versorgt das Zentrum mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und ausgebildetem Nachwuchs; sie stellt den Raum für die Regenerierung von Arbeitskräften – und damit auch für den Tourismus; die interne Peripherie übernimmt die Entsorgung von Abfällen; sie stellt den Raum für das Militär und für Problemfälle (wie Strafvollzug, aber auch manche Bereiche der Medizin). Dafür könnte sie nicht nur die Versorgung mit Infrastruktur erwarten, sondern auch noch weitere Ausgleichsleistungen – und eine Perspektivvorgabe. Das alles leistet das Zentrum Schwerin entweder nur begrenzt oder gar nicht. Das ist im Übrigen in den Beziehungen zwischen Zentren und den dazugehörigen Peripherien nahezu überall der Regelfall.
Annäherung 6: Zweimal falsche Hoffnungen Alternativen zum Status der internen Peripherie schienen in Sicht zu sein, als das jeweilige Zentrum die interne Peripherie als verfügbaren Wachstumsraum entdeckte. Das war nach 1933 im Nationalsozialismus so, als im Raum des heutigen MV vor allem die Rüstungsindustrie mit dem Schwerpunkt Flugzeugbau aufgebaut wurde und der High-Tech-Standort Peenemünde innerhalb kürzester Zeit mit bis zu 15.000 Arbeitsplätzen hochgezogen wurde. Das Ende der NS-Diktatur war gleichzeitig das Ende dieser Aufbau-Entwicklung – nur Reste des Schiffbaus blieben übrig. Der zweite Versuch wurde in der DDR gemacht: In den Nordbezirken wurde kräftig industrialisiert, vor allem der Schiffbau und die Kernenergie mit dem KKW Lubmin erlebten einen Aufschwung. Das Ende der DDR war nicht nur das Ende für das KKW, sondern auch das Ende des Industrialisierungsschubs. Das Land kehrte in den Status der internen Peripherie zurück. In dieser Art des Endes wird auch deutlich, dass dieser Status im Kontext der BRD für funktional gehalten wurde.
Annäherung 7: Interne Peripherie und AfD Schon lange vor der Entstehung der AfD sprach man allgemein davon, dass Vorpommern insgesamt »abgehängt« und benachteiligt sei. Diese Sicht der Dinge war
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zwar dem Zentrum in Schwerin durchaus bekannt, und sie wurde nicht bestritten. Abgesehen von der Tourismusförderung und den Versuchen, den Schiffbau zu erhalten und zu stärken, geschah aber wenig. Nur die Küstenstädte Stralsund und Greifswald profitierten langfristig. Unter diesen Umständen hatte die NPD gerade in Vorpommern Erfolg in der Rolle der »Kümmerer«-Partei. Gegenwärtig übernimmt die AfD ansatzweise diese Rolle, kann aber keine Perspektive benennen. Ihr Erfolg ist dort am größten, wo das Defizit in der Versorgung der Bevölkerung am deutlichsten wird (so z.B. in der medizinischen Versorgung im Einzugsbereich von Wolgast, vor allem auf der Insel Usedom). Ein Zusammenhang zwischen dem Peripherie-Status und dem AfD-Erfolg liegt nahe – das scheint ein Vergleich mit der sächsischen Lausitz zu belegen. Er ist aber nicht zwingend, da es andere Gebiete mit einem solchen Status gibt, in denen die AfD nicht so stark auftritt.
Annäherung 8: Interne Peripherie mit gehobenem Status Generell zeigt der Langzeit-Vergleich, dass Regionen mit dem Status der internen Peripherie, der seit der Industrialisierung bzw. über das ganze 20. Jahrhundert hinweg bestand, in diesem Status verblieben sind. Frühe wirksame Entwicklungs»Maßnahmen« wie etwa der Eisenbahn-, Straßen- oder Kanalbau erwiesen sich nach 1945 als wirkungslos. Auch der Bau von großen Industrieanlagen – wie z.B. der Werke von VW in Emden oder südlich von Kassel – erwies sich nicht als »Initialzündung«. Ein möglicher Entwicklungsweg müsste also anders angelegt sein. Ein Beispiel dafür könnte das Hannoversche Wendland sein, also der Landkreis Lüchow-Dannenberg, der früher als »niedersächsisches Sibirien« galt. Als deutlicher Peripheriestandort bekam der Landkreis über lange Jahre die sogenannte »Zonenrandförderung« und später zusätzliche Leistungen, als eine Wiederaufarbeitungsanlage für Atommüll und ein Endlager in Gorleben geplant waren. Parallel dazu erfolgte aus den Großstädten Berlin (West), Hamburg und Hannover ein Zuzug von Journalist*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen, die Ruhe und eine intakte Natur suchten. Im Verlauf von ca. 20 – 25 Jahren entwickelte sich nicht nur ein besserer »Ruf« der Region, sondern auch – dem Gorleben-Problem zum Trotz – ein bescheidener Wohlstand. Heute kann die Region als ökonomisch, sozial und kulturell stabil gelten; die AfD erreichte bei der Europa-Wahl 2019 dort lediglich 7,5 Prozent.
Annäherung 9: Die mögliche Perspektive Mit großindustriellen Projekten und Investitionen rechnet gegenwärtig in Vorpommern niemand. Umso wichtiger wäre die konsequente Förderung von Klein-
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und Mittelbetrieben, die dazu beitragen könnten, die Abwanderung aus der Region weiter zu begrenzen, womöglich sogar in einem spürbaren Maß in Zuwanderung umzukehren. Ansätze dazu gibt es – entweder konventionell wie auf dem Gelände des ehemaligen KKW oder neu begründet wie ein Bootsbaubetrieb in Freest oder eher alternativ wie das Postel-Projekt in Wolgast. Dort entstehen längerfristig stabile Arbeitsplätze. Damit lassen sich Gegengewichte gegen die Industrialisierung des Tourismus vom Typus der »Kaiserbäder« setzen, der von auswärts finanziert ist und bei dem die Gewinne aus der Region abfließen.
Annäherung 10: Mehr Spielräume und bessere Perspektiven für Frauen Ein wichtiger Faktor bei der Ausbremsung der Abwanderung aus der Region sind Arbeitsmöglichkeiten für Frauen. Dass sie ihre Chancen nutzen, lässt sich vielfach beobachten. Dazu das Beispiel Lubmin: Die Kurverwaltung wird von Frauen geleitet und betrieben. Die Apotheke und zwei Allgemeinmedizin-Praxen werden von Frauen betrieben. Die Heimvolkshochschule leitet eine Frau und sie beschäftigt mehrheitlich Frauen. Die Pfarrstelle von Lubmin-Wusterhusen nimmt eine Frau ein. Den Vorsitz der örtlichen CDU hat eine Frau. Hinzuweisen ist auch auf die wachsende Bedeutung von Frauen in der Kirche – die Pastorinnen sind ausgesprochen aktiv und kritisch eingestellt. Damit lässt sich ein Ziel des ehemals bestehenden, leider nur kurzlebigen Unabhängigen Frauen-Verbandes erreichen, der die friedliche Revolution 1989/90 kräftig mitgetragen und mitgestaltet hat.
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Foto: Thomas Schulze
Die Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation1 Erfahrung der Anpassungsqualifikation ostdeutscher Pädagoginnen in Kindertageseinrichtungen und ihre Haltung dazu Claudia Nürnberg
In der DDR wurden Frauen entweder zur Kindergärtnerin, Krippenerzieherin, Hort- oder Heimerzieherin ausgebildet. Mit der Wiedervereinigung wurde auf dem Gebiet der ehemaligen DDR diese Differenzierung aufgegeben und das Ausbildungssystem der alten Bundesländer übernommen2 . Zwischen der Ausbildung der Erzieherinnen in der Bundesrepublik Deutschland und der staatlichen Ausbildung der Kindergärtnerinnen in der DDR gab es sowohl in inhaltlicher als auch in struktureller Hinsicht erhebliche Unterschiede. Strukturell unterschieden sich die spezialisierten Ausbildungen der DDR von der breitangelegten Erzieherinnenausbildung. Um die Anerkennung als »staatlich anerkannte Erzieherin« der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten und damit in allen sozialpädagogischen Tätigkeitsfeldern arbeiten zu dürfen, wurde von der Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegt, dass die Bewerberinnen »an einer einjährigen Anpassungsfortbildung in mindestens einem nicht die vorliegende Qualifikation betreffenden Teilbereich teilgenommen und diese Fortbildung mit einem Kolloquium erfolgreich abgeschlossen haben. Eine mindestens dreijährige Berufspraxis wird auf die Dauer der Anpassungsfortbildung mit einem halben Jahr angerechnet. Die Anpassungsfortbildung umfasst Theorie- und Praxisanteile, wobei die Theorieanteile, bezogen auf eine halbjährige Fortbildung, mindestens 100 Stunden umfassen.«3
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Dieser Beitrag gibt Ergebnisse der biografie-analytischen Forschung mit in der DDR ausgebildeten pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen wieder, die ich gemeinsam mit Dr. Maria Schmidt, seit 2016 Professorin an der FH Erfurt, durchgeführt habe und die in der Monografie »Der Erzieherinnenberuf auf dem Weg zur Profession« 2018 veröffentlicht wurden. Vgl. Nürnberg/Schmidt 2018, S. 70ff. KMK 1991, S. 3.
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Claudia Nürnberg
Damit die Berufsbezeichnung »staatlich anerkannte Erzieherin« geführt werden konnte, mussten vorgegebene Schritte absolviert werden, die für den Statusübergang von der Kindergärtnerin oder der Krippenerzieherin etc. zur staatlich anerkannten Erzieherin verbindlich waren. Der Statusübergang von einer in der DDR erworbenen Spezifizierung des pädagogischen Berufs hin zur »staatlich anerkannten Erzieherin« war in der Regel durch eine zu absolvierende Anpassungsqualifizierung institutionalisiert. Was Monika Müller für den Statusübergang von der Fürsorgerin in der DDR zur Sozialarbeiterin in der Bundesrepublik zum Begriff der Anpassungsqualifizierung ausführte, gilt gleichermaßen für die Anpassungsqualifikation der DDR-Kindergärtnerinnen: »Buchstabiert man den Terminus sogenannter Anpassungsqualifizierung aus, so geht es – wörtlich genommen – darum, dass etwas, das ›unangepasst‹ ist, durch Hinzufügen besonderer Fähigkeiten an (neue) Bedingungen adaptiert wird«.4 Die Anpassungsfortbildungen wurden von westdeutschen Dozent*innen anerkannter freier Bildungsträger durchgeführt und mussten mit einem Abschlusskolloquium beendet werden. So wurden die in der Praxis tätigen Krippenerzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Hort- oder Heimerzieherinnen durch Anpassungsqualifikationen in den Beruf der Erzieherin überführt. Die Anpassungsqualifikation war ein formales Verfahren zur Herstellung von Passungsfähigkeit. Für die Kindergärtnerinnen, die nach Absolvieren der Anpassungsqualifikation die staatliche Anerkennung als Erzieherinnen erhielten, galt es, die von der institutionellen Ordnung gesetzten Vorgaben, die sowohl vertraut als auch fremd waren, individuell zu integrieren. In der Anpassungsqualifizierung fand der komplexe Prozess der Aneignung neuer beruflicher Orientierungsund Handlungsmuster, der zwischen Resozialisation und sekundärer Sozialisation5 schwankte, einen ersten sozialen Rahmen. Nachfolgend werden vier Personengruppen im Hinblick auf die Anpassungsqualifikation unterschieden und anhand von je spezifischen Aneignungsmodi der Bewältigung der professionellen Transition vorgestellt.
Staatlich ausgebildete DDR-Kindergärtnerinnen »Es ist einfach ganz klipp und klar gesagt worden (…) eh ihr habt doch nur Politisches gemacht. Ihr habt doch die Kinder direkt euch, es ging doch nur drum Sozialisten zu erziehen. Alles andere war euch doch nicht wichtig, so zum Beispiel. Oder diese Gleichmacherei, die, ich kann mich erinnern an Bilder die es damals gab in Zeitungen. Alle Kinder auf einem Topf in der Krippe oder alle hatten gestreifte 4 5
Müller 2006, S. 128. Vgl. Berger/Luckmann 1980, S. 172.
Die Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation
Bademäntel an (…) Und da gabs n paar, der Großteil hat immer. Das hat viele Kollegen sehr gekränkt, und dann irgendwann kam’s aus der Versenkung wieder zurück. Diese Entwicklungsbögen zum Beispiel für Kinder, klar warn die bei uns von den von hier sowjetisch von der angehaucht. Aber der Inhalt war nicht anders. Da wurde genau das eingeschätzt was heut eingeschätzt wird. Heute heißt’s Portfolio (…) und nicht mehr so was. Un für diese Erkenntnis ich mein naja und dann kam’se aus’m Westen. Wir mussten da 100 Stunden machen. Ich mein, ich hätte das auch gern gemacht, wenn’s mir was gebracht hätte. Aber so, so saß’mer da, die kamen und ham uns n Video reingeschoben. Sind nach vier Stunden wieder gefahrn und das wars dann. Jeden Samstag.« (Luise Kramer, Kindergärtnerin, Z: 612-629) Der Prozess der Veränderung war vor allem für die staatlich ausgebildeten DDR-Kindergärtnerinnen schwierig. Es gab Kindergärtnerinnen, die den Veränderungsprozess ablehnten, weil sie darin keine Notwendigkeit sahen. Die DDR-Kindergartenpädagogik war für diese Kindergärtnerinnen ein Erfolgsmodell, dem die Bundesrepublik eher nacheifern solle. Eine kritische Perspektive wurde von diesen Kindergärtnerinnen kaum eingenommen. Die politisierte sozialistische Erziehung schon sehr junger Kinder wurde von ihnen als lapidar und nicht im Vordergrund stehend betrachtet. Aber auch für die Kindergärtnerinnen, die die politische Färbung der DDR-Pädagogik kritisierten und nicht bagatellisierten und den Veränderungsprozessen mit Offenheit gegenüberstanden, waren die strukturellen Veränderungen nicht immer nachvollziehbar. Aus ihrer Sicht wurde lediglich eine andere Terminologie eingeführt. Kindergärtnerinnen waren enttäuscht, ihnen wurde dabei aber vielfach nicht deutlich, dass diese andere Terminologie auch tatsächlich Neues bringt. Dieser nominalistischen Auffassung der Kindergärtnerinnen, dass mit der bloßen Namensänderung keine Veränderung der Realität einhergeht, setzte niemand etwas entgegen. Es fehlten Berater*innen, die die Perspektive der Kindergärtnerinnen berücksichtigten und sie an die Ziele der neuen Pädagogik heranführten. Außerdem wurde zu dieser Zeit nicht bedacht, dass mit dieser Form des Systemumbruchs bisher keinerlei Erfahrungen vorlagen. Es fehlten distanzierte Berater*innen, die den DDR-Pädagoginnen Verständnis und Respekt entgegenbrachten und in ihnen eine Haltung des Realismus auslösen konnten. Es wurde nicht transportiert, dass die veränderten pädagogischen Begriffe auch veränderte Handlungen zur Folge haben würden und nicht die veränderte Semantik vordergründig war. Häufig wird von den interviewten Erzieherinnen zwischen den Begriffen, »früher hieß das« … oder »jetzt heißt das anders« oder »jetzt heißt das immer noch so« verglichen. Die Veränderungen werden im Wesentlichen als eine Änderung der Kategorien bzw. der Benennungen der Klassifikationen betrachtet. Die Einordnung erfolgt danach, ob Benennungen zur »alten« Terminologie der DDR oder zur »neuen« Terminologie der Bundesrepublik
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Deutschland gehören. Diese Veränderungen werden oftmals geschäftsmäßig betrachtet und als eine nominalistische Änderung von Bezeichnungen eingeordnet mit der Folge, dass im Grunde kongruent weitergearbeitet werden kann.
Krippenerzieherinnen »Hab dann glaub ich ´92, war noch mal diese Anpassung gemacht, da gab’s noch mal so ne Erzierherinnenpassung, so nen 100- Stundenprogramm und ja das befähigt mich jetzt auch Kinder zu erziehen von 0-18. Obwohl ich mir das nicht zugetraut hab jetzt auf Knall und Fall, also ich musste mir da noch (.) mir schon einige Sachen noch aneignen.« (Andrea Kleine, Krippenerzieherin, Z: 239-243) Für die Krippenerzieherinnen eröffnete die Anpassungsqualifizierung zur staatlichen Anerkennung als Erzieherin unter anderem auch die Möglichkeit, im Kindergartenbereich zu arbeiten. Die Anpassungsqualifizierung stellte keine Degradierung ihrer bisherigen beruflichen Qualifikation dar, sondern eine Erweiterung der beruflichen Möglichkeiten. Das ist der Grund dafür, dass ausgebildete Krippenerzieherinnen keine Ressentiments gegenüber den Fortbildner*innen aus der Bundesrepublik Deutschland zur Sprache bringen. Sie sehen einen Wissenszuwachs von Inhalten, die ihre Ausbildung der basalen Pädagogik nicht leistete. Die Einführung einer veränderten Terminologie gegenüber der von ihnen erlernten und der Veränderung bis dahin gebräuchlicher Begriffe thematisieren die Krippenerzieherinnen im empirischen Material in gleicher Weise wie die Kindergärtnerinnen. Bei ihnen dominiert allerdings nicht, wie bei den Kindergärtnerinnen, das Degradationsgefühl und die damit verbundene Abwertung der Professionalität, sondern sie sehen vor allem eine Erweiterung des beruflichen Möglichkeitsspielraums. Die Aussicht, als Erzieherin in Kindergärten zu arbeiten, wird vielfach als berufliche Chance begriffen.
Quereinsteigerinnen »Da habe ich mir gesagt, also wenn du Erzieher machst, da hatte ich schon meine Ausbildung als Erzieher, dieses 100-Stunden-Programm begonnen, habe ich mir so gedacht, also dass wäre auf alle Fälle deins was du machen könntest, wo du dich auch rein versetzen kannst. Von deinem Lehrer runter, paar Stufen runter und bist du auch im Kindergartenbereich, das kriegste hin. Singen kannst du, habe ich mir gesagt, Sport hatte ich dann als Motopäde viel gehabt und Kunsterziehung hatte ich in der Ausbildung und das Mathematische oder so, dass kann man sich mit aneignen. Man muss ja wirklich ein paar Stufen runtergehen, dass
Die Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation
man dann so in der Grundlage bleibt bei Kindergartenkindern.« (Margot Aurich, Quereinsteigerin, Z: 667-676) Die Anpassungsqualifikation war für sogenannte Quereinsteigerinnen eine Möglichkeit, in ihren beruflichen Entwicklungen nach verschiedenen Qualifikationsmaßnahmen in sozialpädagogischen und pädagogischen Bereichen die staatliche Anerkennung als Erzieherin zu bekommen. Wie im Fallbeispiel einer Freundschaftspionierleiterin deutlich wurde, erhielten Freundschaftspionierleiterinnen einzelner besonders staatsnaher Ausbildungsstätten der DDR keine berufliche Anerkennung ihrer Qualifikation in der Bundesrepublik Deutschland. Für diese Quereinsteigerinnen bedeutete die Anpassungsqualifikation, dass sie auch etliche Jahre nach dem politischen Umbruch die besondere Chance sahen, in einem pädagogischen Beruf tätig sein zu können. Der Umgang mit den Inhalten der Anpassungsqualifikation ist für sie produktiv und entlastend, da mit ihr eine neue berufliche Perspektive eröffnet wird und darüber hinaus die Akteure durchaus an vormals gelernten Wissensbeständen anknüpfen konnten.
Konfessionell ausgebildete Kindergärtnerinnen »Und das Kuriose ist ja, eigentlich im Nachhinein, als dann die »Wende« kam und dann die Zeit kam äh, dass, wer bekommt jetzt diesen Erzieherinnenstatus, dass diese kirchliche Ausbildungen die Einzigen waren, die auch wirklich, ohne dass dieses 100-Stundenprogramm oder was weiß ich noch für zusätzliche Sachen die die dort äh bekommen haben, so. (unter Lachen) Hat mich eigentlich dann auch nur noch in dem bestätigt in dem was ich gemacht hab. Ja wäre am Ende sicherlich auch nicht das Problem gewesen, aber ich bin einfach so, im Nachhinein auch wirklich froh und dankbar, dass ich, also die Dinge, die mir wichtig sind im Leben äh auch weiter zu leben und zu vermitteln, dass ich das in meiner Arbeit dann auch so tun konnte ohne dass ich mich dann verbiegen oder verstellen musste.« (Elisabeth Rau, konfessionell ausgebildete Kindergärtnerin, Z: 789-799) Die konfessionellen Abschlüsse der Erzieherinnenausbildung in der DDR wurden nach der Wiedervereinigung anerkannt. Die konfessionell ausgebildeten Erzieherinnen mussten keine Anpassungsqualifizierung absolvieren. Sie besuchten ebenfalls Weiterbildungen, auch wenn es dabei nicht um eine berufliche Anerkennung ging. Insofern konnten sie sich auf die von Weiterbildner*innen aus der Bundesrepublik durchgeführten Fortbildungen bruchloser und unproblematischer einlassen. Sehr häufig war ihnen schon während der DDR-Zeit das Ausbildungsmaterial aus der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt worden und hin und wieder wurden sie schon vor dem Mauerfall von westdeutschen Dozent*innen angeleitet. Sie
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waren somit in der Zeit ihrer Ausbildung in die westlichen Entwicklungen der Pädagogik einbezogen. Den konfessionellen Erzieherinnen standen auch in den Einrichtungen Handreichungen aus der Bundesrepublik zur Verfügung. So waren sie sowohl in der Ausbildung als auch im Berufsalltag mit Gedankengut westdeutscher Pädagogik vertraut.6 Dieser Faktor ist bei der Frage der Haltung zu pädagogischen Entwicklungen nach dem politischen Umbruch mit zu bedenken. Eine Kindergärtnerin oder Kinderdiakonin, die in der konfessionellen Ausbildung bereits entsprechende Lerninhalte, Denkstrukturen und Muster erlernt hatte, empfand das Neue weniger als Bedrohung als eine Kindergärtnerin, die eine staatliche Ausbildung absolviert hatte und nicht Bescheid wusste, was auf sie zukam. Somit konnten sich konfessionell ausgebildete Kindergärtnerinnen und Kinderdiakoninnen unvoreingenommenen auf Weiterbildungen zu westdeutscher Elementarpädagogik einlassen. Sie waren weniger verunsichert und hatten einen leichteren Zugang zu den vermittelten Kategorien der Pädagogik als ihre Kolleginnen aus dem staatlichen Dienst. Sie konnten die pädagogischen Fachkategorien approximativ einordnen. Die Erzieherinnen, die eine staatliche Ausbildung in der DDR durchlaufen hatten, haben nach dem politischen Umbruch dagegen zunächst den Eindruck, zahlreiche Inhalte der Anpassungs- und Weiterbildungsqualifikationen seien andere als die der in der DDR gelernten Pädagogik. Die Terminologie war in weiten Teilen eine andere als diejenige, die sie aus ihren bisherigen DDR-Aus- und Fortbildungen kannten. Im Vollzug der Anpassungsqualifizierung stellten viele staatlich ausgebildete Kindergärtnerinnen fest, dass es erhebliche Parallelen der pädagogischen Handlungswirklichkeit gibt. Nach der durchgeführten Anpassungsqualifizierung durch westliche Weiterbildner*innen war eine große Zahl der Erzieherinnen verärgert. Sie resümierten, dass auch in der von ihnen gelernten Kindergartenpädagogik der DDR Sämtliches vorhanden war, was ihnen mit anderen Begriffen dort vermittelt worden sei. Beides, sowohl die aus konfessionellen Ausbildungen bekannte als auch die aus der staatlichen Ausbildung unbekannte Zuordnung der Terminologie ist nachvollziehbar und verständlich. Eine nachträgliche Bewertung beider Gruppen muss unterbleiben. Eine Gefahr besteht darin, konfessionell ausgebildeten Kindergärtnerinnen mehr guten Willen und Initiative bei der Umsetzung der westlich vermittelten Veränderung pädagogischer Inhalte zu unterstellen als den staatlich ausgebildeten Kindergärtnerinnen. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass die konfessionell ausgebildeten Kindergärtnerinnen und Kinderdiakoninnen das westliche Vokabular und die westlichen Denkmuster schon in ihrer konfessionellen Ausbildung gelernt hatten. Sie hatten es nach der Transformation leichter, da sie Namen, Begriffe und Kategorien nicht neu ordnen mussten.
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Vgl. Nürnberg/Schmidt 2018, S. 50ff.
Die Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation
Die übergroße Mehrheit der Kindergärtnerinnen der DDR war staatlich ausgebildet. Sie erlebten die Umbenennung von Begrifflichkeiten, die sowohl in der Ausbildung als auch durch die Kontroll- und Beratungssysteme während der Ausübung des Berufs in der Praxis tief verinnerlicht waren. Die staatlich ausgebildeten Kindergärtnerinnen waren in ihrem Selbstverständnis professionelle Pädagoginnen. Die beschriebene Entwertung der für sie geltenden pädagogischen Terminologie stellte ein Angriff auf ihre Professionalität als Kindergärtnerinnen dar. Den Kindergärtnerinnen, die schon Jahrzehnte in ihrem Beruf arbeiteten, fehlten Anknüpfungspunkte an die westdeutschen pädagogischen Modelle und Theorien, so konnten die neuen pädagogischen Inhalte die Kindergärtnerinnen nur bedingt oder gar nicht erreichen. Sicher gab es auch staatlich ausgebildete Erzieherinnen, die sich eilends auf die westliche Terminologie einlassen konnten. Allerdings ist zu bedenken, dass die westdeutschen Lehrpersonen, die die Anpassungsqualifikationen durchführten, vor einer großen Herausforderung standen, da sie nicht wussten, wie sie mit dieser diffusen Umbruchssituation umgehen sollten und was notwendig zu tun ist. In den meisten Fällen kannten sie das DDR-Bildungs- und Erziehungssystem zu wenig und waren diesem System gegenüber nicht vorurteilsbewusst. Bei einem analysierenden Vorgehen hätten sich sehr viel mehr Schnittstellen finden lassen. Bei der Einführung des bundesdeutschen Jungendhilfeapparates, zu dem die Kindergärten gehören, wurde der Fehler gemacht, ohne eine umfassende Analyse der Situation in den Kindergärten der DDR grundlegende Veränderungen einzuführen. Dem Erzieherinnenberuf wurde bei der Neugestaltung unbedacht ein westdeutsches Wissens- und Kategoriensystem aufgezwungen. Es ist versäumt worden, darüber nachzudenken, wie man diesen zu vollziehenden Kategorienwechsel für die Erzieherinnen innerlich akzeptabel machen kann. Diese durch die staatlich ausgebildeten Kindergärtnerinnen gefühlte Entwertung der Professionalität wirkt bis in die Gegenwart im Sinne von Enttäuschungen und Stigmatisierungserfahrungen. Es ist festzuhalten, dass der durch den unüberlegten Transfer verursachte Angriff auf die Professionalität der DDR-Pädagoginnen in den Kindergärten bei den Weiterbildungen und der Anpassungsqualifizierung nicht ausreichend und sorgfältig bedacht worden ist. In diesem Sinne kann von einer Unangepasstheit der Anpassungsqualifikation gesprochen werden.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer. Kultusministerkonferenz (KMK) (1991): Anerkennung von nach Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR abgeschlossenen Ausbildungen in Erzieherberufen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 14.06.1991 in der Fassung vom 27.01.1995, Beschlusssammlung der KMK, Beschluss-Nr. 428.1. Müller, Monika (2006): Von der Fürsorge in die Soziale Arbeit. Fallstudie zum Berufswandel in Ostdeutschland. Opladen: Barbara Budrich. Nürnberg, Claudia/Schmidt, Maria (2018): Der Erzieherinnenberuf auf dem Weg zur Profession. Opladen: Barbara Budrich.
30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland Matilde Heredia
Einleitung Nicht selten sind Erinnerungen aus der Kindheit mit Kinderbüchern, Liedern, Märchen, Reimen und Geschichten verbunden, die Erwachsene selbst während der Kindheit innerhalb der Herkunfts- oder Pflegefamilie, in Kindertagesstätten oder in Schulen vorgelesen, gesungen und erzählt bekommen haben. Diese ersten Begegnungen mit Büchern und Geschichten sind unter einer »soziale[n] Praxis«1 einzuordnen, innerhalb welche »Literacy […] in die Aktivitäten des Tages« eingebettet ist.2 Ebenso ist davon auszugehen, dass der Umgang mit Büchern, Geschichten, Reimen und Liedern in der sozialen Praxis von Literacy, die häufig als »eine kompetente Verwendung des Lesens und Schreibens«3 verstanden wird, während der Kindheit emotional und identitätsstiftend sein kann und möglicherweise sowohl die Weltanschauung sowie die Handlungen als Erwachsene prägt. Ausgehend von dieser Perspektive sind während der Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« an der Hochschule Neubrandenburg die Fragen aufgeworfen worden: Wie präsent sind Kinderbücher aus der Zeit der DDR in Familien und Bildungseinrichtungen heute? Findet im pädagogischen und/oder im privaten Kontext ein Austausch oder eine Reflexion über die Kinderliteratur aus der Zeit der DDR statt? Eine genauere Betrachtung der Bücher aus der Zeit der DDR zeigte, dass BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour)4 auf den ersten Blick stereotypisiert dargestellt worden sind. Die Analyse der Darstellung von schwarzen und heterogenen
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Nickel 2015, S. 7. Ebd. Ebd. BIPoC: Black, Indigenous and People of Colour. Übersetzung der Autorin: Schwarze, Indigene und Menschen mit verschiedenen Hautfarben.
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Figuren in Kinderbüchern gewinnt aktuell mit dem Blick auf die Pädagogik der Vielfalt5 an Bedeutung. Nach einer kurzen Darstellung der Begriffe Literacy und Literacy-Erfahrungen wird im vorliegenden Beitrag das Kinderbuchprojekt vorgestellt, das während der Projektwoche an der Hochschule Neubrandenburg im Wintersemester 2019/2020 stattgefunden hat. Anschließend wird die Darstellung von BIPoC-Figuren in Kinderbüchern aus der Zeit der DDR anhand des Kinderbuches »Kimani« von Götz R. Richter (1964) diskutiert. Mit der Analyse dieser Thematik wird nicht mit dem Finger auf die Kinderliteratur der DDR gezeigt, sondern es wird eher versucht, neue Diskussionsräume zu eröffnen, die möglicherweise einen Beitrag zu einer vielfältigen und von Rassismus freien pädagogischen Praxis leisten können.
Literacy und Literacy-Erfahrungen Die Sprache kann zwischen der Sprache der Nähe, also der gesprochenen Sprache, sowie der Sprache der Distanz, der geschriebenen Sprache,6 differenziert werden. Im Gegensatz zur Sprache der Nähe, die mit Gestik und Mimik unterstützt werden kann, verfügt die Sprache der Distanz über »graphische Kodes«7 als Kommunikationssymbole, um die geschriebene Sprache zu übermitteln. Die Sprache der Distanz, das Geschriebene, ist weder zeitlich noch ortsgebunden, denn geschriebene Sprache kann über einen längeren Zeitraum aufbewahrt und wieder gelesen werden. Geschichten und Erzählungen bleiben uns so lange erhalten. Ein Beispiel hierfür sind die Volksmärchen. Der Begriff Literacy könnte auf Deutsch mit Literalität übersetzt werden. Darunter definiert man die Begegnungen mit Büchern und mit der Schriftsprache. Diese Darstellung entspricht aber »dem Literacy-Begriff nur teilweise«.8 Er erfasst vielmehr einen breiteren Bereich des Spracherwerbs und besonders einen Lebensbereich im Umgang mit Büchern, Geschichten, Erzählungen und Erlebnissen, die rund um die Schriftsprache erfahren werden. Menschen begegnen Literacy von Beginn des Lebens an und dies in vielfältigen Kulturen und Lebenssituationen, wodurch davon auszugehen ist, dass Literacy ein Teil der sozialen und kulturellen Realität der Kinder ist und ebenso einen Einfluss auf deren Identitätsbildung haben kann bzw. hat. Aus der Perspektive von verschiedenen Disziplinen wird Literacy als »soziale Praxis«9 verstanden. Sven Nickel (2015) fasst es wie folgt zusammen: »Li-
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Vgl. Wagner 2017, S. 14. Koch/Oesterreicher 1985. Ebd., S. 17. Nickel 2015, S. 7. Ebd.
30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland
teracy wird in unterschiedlichen Kulturen, Schichten und Milieus mit ihren spezifischen Einstellungen und Wertehaltungen stets neu ausgehandelt.«10 Womit davon auszugehen ist, dass die Bücher und die Geschichten, die wir während der Kindheit vorgelesen bekommen haben und die wir möglicherweise im familiären oder im pädagogischen Kontext auswählen, in einen historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind. Diese Feststellung impliziert die Handlungsaufforderung in pädagogischen Kontexten einen genaueren Blick auf historische, kulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte in der Kinderliteratur einzunehmen, um die Reproduktion von diskriminierenden Aspekten zu verhindern. Nickel bringt es auf dem Punkt: »Literacy-Events sind eingebunden in eine Literacy-Praxis. Menschen bringen wiederum ihr kulturelles Wissen in diese Praxis ein. Jede Literacy-Praxis ist wiederum eingebunden in einen übergreifenden sozialen Zusammenhang.«11 Wenn wir die Literacy-Praxis aus der Perspektive der gesellschaftlichen Veränderungen betrachten, wird die Dringlichkeit deutlich, Kinderbücher auf mögliche rassifizierende und/oder diskriminierende Aspekte kritischer zu betrachten. Das übergeordnete Ziel hierbei ist, einen bewussten Umgang damit zu gewinnen. Bei der Bücher- und Geschichtenauswahl von Erwachsenen (Eltern, Großeltern, pädagogische Fachkräfte) in Vorlesesituationen oder Geschichtenerzählungen ist davon auszugehen, dass Erwachsene dazu tendieren, Geschichten und Bücher zu wählen, die sie selbst kennen und möglicherweise als Kinder/Jugendliche vorgelesen bekommen haben oder selbst gelesen haben. Bei der Frage nach dem Besonderen von Vorlesesituationen beziehen sich Kinder und Erwachsene überwiegend auf emotionale und positive Aspekte, die die Beziehung zu der Vorleseperson oder Zuhörer*in in den Mittelpunkt stellen. Es wird über eine Geschichte oder eine Erzählung berichtet, die mit einer Erinnerung aus der Kindheit verbunden ist, beispielsweise eine häufig vorgelesene Geschichte in einer ritualisierten Situation im familiären Kontext. Auch häufig gehörte Reime können ein Leben lang in Erinnerung bleiben und langfristig mit positiven Gefühlen in Verbindung gebracht werden. Bücher, Geschichten, Reime und Lieder stehen in Verbindung mit der Umgebung, in der das Kind aufwächst.12 Ebenso können Literacy-Angebote im pädagogischen Alltag die Umgebung des Kindes und seiner Familie positiv beeinflussen. Positive Vorleseerfahrungen, die Kinder und Erwachsene im pädagogischen Alltag gemeinsam erleben, werden zu Hause wiederholt und im Idealfall übernommen. Bildungs- und Bücherprojekte, die Familien
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Literacy-Angebote13 näherbringen, deuten darauf hin, dass das Interesse an Literacy und Literacy-Erfahrungen im Bereich der Frühen Kindheitspädagogik wächst. Literacy-Erfahrungen standen im Mittelpunkt der Projektplanung für die Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo Vadis Demokratie?«. Wenn gesellschaftliche Transformationsprozesse in den Blick genommen werden, ist bislang nicht primär der Fokus auf die Kinderliteratur und Kinderbücher der DDR gelegt worden. Es ist wenig darüber bekannt, ob im pädagogischen oder im privaten Kontext der Kinder und Familien aus Neubrandenburg und andernorts eine Reflexion und/oder Verarbeitung der Kinderliteratur aus der Zeit der DDR zwischen den Generationen stattfand oder stattfindet.
Kinderbücher – Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo Vadis Demokratie? Die Vorlesesituation als Beginn der »literarischen Sozialisation«14 und als prägende emotionale Erfahrung15 im frühen Kindesalter gilt als eine Schlüsselsituation im Erwerb von Sprache und von Literacy, da sie für den Bildungsprozess der Kinder zentral ist. »Der Literacy-Erwerb ist Teil der sprachlichen Bildung. Entsprechend gestalten Sprache und Literacy in den Bildungsplänen häufig einen gemeinsamen Bildungsbereich.«16 Das Vorlesen kann einen starken identitätsstiftenden Charakter bei den Zuhörer*innen erzeugen und gleichzeitig eine hohe emotionale Situation für vorlesende Erwachsene sein, die möglicherweise eigene Kindheitserfahrungen anhand von bekannten Büchern und Geschichten aus der eigenen Kindheit wieder erleben. Doch wie präsent sind Erzählungen und Geschichten aus der DDR im Alltag der Kinder heute? Aus heutiger Perspektive, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, wurde im Rahmen der Literacy-Workshop-Reihe »30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland« dieser Frage nachgegangen. Dafür wurde ein LiteracyAngebot für Kinder durchgeführt. Die Workshop-Reihe begann im Herbst 2019 un-
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Literacy-Projekte und Angebote haben in Deutschland in den letzten 10 Jahren an Bedeutung gewonnen und zeigen positive Entwicklungen in den Bildungsbiografien der Kinder. Eine der ersten und wichtigsten Projekte ist das Projekt FLY (Familiy Literacy) von Frau Dr. Gabriele Rabkin entwickelt, das als Modell für weitere Literacy-Projekte dient (vgl. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg o.J.). Bauer 2011, S. 9. Hering 2019. Nickel 2017, S. 667.
30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland
ter meiner Leitung und wurde gemeinsam mit einer Gruppe von Studierenden17 der Hochschule Neubrandenburg konzipiert und in Kooperation mit einer Grundschule in Neubrandenburg durchgeführt. Zur Eröffnung der Workshop-Reihe hielten Diana Heinsel und Nils Heinen18 einen interessanten Vortrag, der Kinderbücher aus der Zeit der DDR mit aktuellen Kinderbüchern verglich. Diana Heinsel hat verschiedene Berufsfelder und Rollenverständnisse vorgetragen. Daraufhin hat Nils Heinen den Umgang und die Darstellung von Emotionen analysiert und in einer Diskussionsrunde noch einmal aufgegriffen. Im Laufe des Semesters besuchten viele Kinder aus der Grundschule die Hochschule, da sie jederzeit mit ihren Eltern/Familien die Bücherecke und die Bücherbörse nutzen konnten. Dieses gelungene Angebot endete im Januar 2020.
Abb. 1 (links): Vernissage der Ausstellung »30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland«; Abb. 2 (rechts): Dialograum Bücherprojekt mit Wandgestaltung durch Kinder der Grundschule West Am See
Fotos: Dr. Jutta Helm
Mit dem Einverständnis der Erziehungsberechtigten haben die zuständigen pädagogischen Fachkräfte der Hochschule Grundschüler*innen zu einem Leseund Gesprächs-Nachmittag eingeladen. Dafür wurde eine Lichtung im 2. Obergeschoss im Haus 1 mit Möbeln eingerichtet. In dieser gemütlichen Atmosphäre bekamen die Kinder die Geschichte Matti im Wald von Edith Rimkus und Horst 17
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Bengta Leopold, Alexandra Langolf und Sarah Biermann aus dem Studiengang BA Berufspädagogik für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Kindheitspädagogik haben beim Projekt aktiv mitgewirkt. Diana Heinsel und Nils Heinen waren zu der Zeit Studierende des Studiengangs BA Early Education, den sie mittlerweile erfolgreich abgeschlossen haben.
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Beseler aus dem Jahr 1966 vorgelesen. Anschließend fand ein Gespräch mit den Kindern über den Inhalt statt. Im Austausch mit den Kindern wurde dann auch gefragt, welche/s Lieblingsbuch oder Lieblingsbücher sie haben. Welche Bücher lesen ihnen die Eltern und/oder Großeltern vor? Nach dem Vorlesen und dem Austausch konnten die Kinder auf großem Papier die zentralen Figuren und die für sie wichtigen Aspekte aus der Geschichte Matti im Wald malen. Die Bilder wurden in der Lichtung und im Flur des 2. Obergeschosses während des Semesters ausgestellt. Zum Ende des Semesters bekamen die Kinder die Bilder zurück, worauf sie auch bestanden hatten. Am Rande des Kinderbuchprojektes wurde darüber hinaus eine Bücherbörse eingerichtet, die von den Kindern, den Studierenden und Hochschulbesucher*innen zum Büchertausch genutzt wurde. Erste Erfahrungen aus der Literacy-Workshop-Reihe »30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland« gaben den Ausgangsfragen mögliche Antworten. Aus der Perspektive von Literacy, als »Schnittstelle zwischen [dem] sprachliche[n] und [dem] literarische[n] Lernen«19 wurde anhand des LiteracyAngebots erkennbar, dass den Kindern, die an dem Angebot teilgenommen haben, regelmäßig vorgelesen wird und im familiären Kontext Bücher eine zentrale Rolle spielen. Wiederum spielte für die Kinder eine Differenzierung zwischen Kinderbüchern aus der Zeit der DDR oder aktuellen Büchern keine Rolle. Überwiegend haben sie Kinderbücher genannt, die aktuell erschienen sind. Bücher aus der Zeit der DDR wurden von den Kindern nicht übermittelt. Insgesamt hatten die Kinder wenig bis kaum Information über die DDR. Mitarbeiter*innen, Eltern/Großeltern und weitere Erziehungsberechtigte, die die Kinder abgeholt haben, berichteten über Bücher aus der Zeit der DDR und ebenfalls darüber, »dass sie viele Bücher von damals20 noch haben, aber diese den Kindern oder Enkelkindern nicht vorlesen.«21 Bei der Frage über die Bücher aus der Zeit der DDR nannten die Erwachsenen aber vorrangig nicht die Bücher, sondern eher die schönen Momente, die sie innerhalb von Literacy-Erfahrungen damit in Verbindung gebracht haben. Die Analyse von Themenkomplexen wie Emotionen und Berufsfelder oder Rollenverständnisse, die von Diana Heinsel und Nils Heinen recherchiert und vorgestellt wurden, aber ebenso die gesammelten Erfahrungen während des Kinderbuchprojektes zeigen, dass die Literacy-Erfahrungen und Kinderbücher aus der Zeit der DDR heute wenig präsent sind und dies auf eine mögliche Zäsur in den
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Barkow/Müller-Brauers 2017, S. 181f. Bücher, wie beispielsweise »Vom Igel, der keiner mehr sein sollte« (von Isolde Stark und Petra Wiegandt), »Ferdinand der Stier« (Munro Leaf) oder »Erzähl mir was vom kleinen Angsthasen: Die schönsten Kindergeschichten der DDR« (Corinna Schiller). Aussage einer Mitarbeiterin aus der Hochschule Neubrandenburg.
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individuellen Biografien und ebenso in der institutionellen Geschichte, beispielsweise in Kindertageseinrichtungen und Schulen, hindeuten kann. Um diese mögliche Zäsur genauer einschätzen zu können, sollten konkrete Literacy-Aspekte von Kinderbüchern analysiert werden, die möglicherweise die Identität22 im Leben der Kinder damals und heute geprägt haben beziehungsweise noch prägen. Innerhalb dieses Themenkomplexes stellten sich auch die Fragen: Wie wurden nicht weiße und nicht-heteronormative Figuren in den Kinderbüchern aus der Zeit der DDR dargestellt und sind in diesen Büchern rassifizierende Aspekte zu finden?
BIPoC Figuren in Kinderbücher aus der Zeit der DDR Die Darstellung des Anderen, des Fremden, war in der deutschen Jugendliteratur zum Ende des 19. Jahrhunderts von »Indianer«-Figuren und vom Wild-West geprägt.23 In vielen dieser Bücher sind stark stereotypisierte Figuren sowie klar definierte heteronormative Rollen zwischen Frauen und Männern zu finden. In der Kinderliteratur aus der Zeit der DDR sind ebenfalls einige solche stereotypisierten »Indianer«-Figuren zu erkennen, beispielsweise in Büchern wie »Graue-Eule« von Michail Prischwin (1955) oder »Pablo der Indio« von Karl Brückner (1948). Die Darstellung von People of Colour in Kinderbüchern aus der Zeit der DDR wird an dieser Stelle anhand des Buches »Kimani« von Götz R. Richter aus dem Jahr 1964 kurz skizziert. Kimani ist ein schwarzer Junge aus Kenia, der mit seiner Familie auf dem Land in Armut und Knappheit lebt. Kimani träumt von einem besseren Leben und von Reichtum, so wie er es bei den britischen Kolonialist*innen in Kenia erkennt. Stellvertretend in der Geschichte für dieses Leben in Reichtum und für die Kolonialmacht steht Mr. Morris, ein Farmbesitzer, der die Arbeiter*innen ausbeutet, unfreundlich und unbeliebt ist. Kimani, die zentrale Figur in der Erzählung, wird aus heutiger Perspektive stark mittels rassifizierender Aspekte dargestellt. Schon zu Beginn des Buches heißt es: »Kimanis Haut ist glatt und braun, so glänzend und braun wie die gebrannten Kaffeebohnen. Nur die Innenflächen seiner Hände und seiner Fußsohlen schimmern hell wie eure.«24 Die Hautfarbe als äußeres Merkmal, um Kimani zu beschreiben, ist in eine Dualitätsstruktur eingebettet, in der Kontraste dominieren, aber die rassifizierenden Aspekte auf den ersten Blick wenig im Vordergrund zu sein scheinen. Dualitäten sind z.B.: schwarz-weiß, reich-arm, gut-böse, wir (die weißen Leser*innen)
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und sie (Kimani, seine Familie und Freund*innen), aber ebenso Kolonialist*innen/Kapitalist*innen-Sozialist*innen. In der Erzählung »Kimani« sind mehrere Ebenen zu erkennen. Zum einen geht es um die Erfahrungen, die Kimani macht, wenn er als Einzelgänger versucht, den Berg zu besteigen und daran scheitert. Zum anderen wird implizit Kritik am Kolonialismus/Kapitalismus sowie am Individualismus spürbar. Bei der Bergbesteigung verläuft sich Kimani und die Männer der Dorfgemeinschaft retten ihn, wodurch die Gemeinschaft höher als die individuellen Wünsche gestellt wird. »In diesem Augenblick merkt Kimani zum ersten Male in seinem Leben, wie sehr er die anderen Menschen alle braucht.«25 Die implizite Darstellung von rassifizierenden Elementen erfolgt, wie Eggers es versteht, in einer Komplementarität, »durch die rassistisch markierte ›Andere‹ in Beziehung gesetzt werden zu weißen Personen oder Kollektiven.«26 Es findet außerdem eine Positionierung der rassifizierenden Aspekte auf gleicher Ebene mit weiteren Charakterisierungen in der Erzählung und auch im Kontext einer Dualitätsstruktur statt, worin die Stereotypisierung der Schwarzen als so gegeben oder Ist-Zustand erkennbar ist. Dadurch wirken diese naturalisiert und könnten von den Leser*innen möglicherweise weniger in Frage gestellt werden. In der Geschichte sind Hierarchisierungen als Machtstrukturen erkennbar, beispielsweise die Hierarchisierung zwischen Weißen und Schwarzen sowie zwischen Männern und Frauen. Innerhalb der hier genannten Dualitätsstruktur ist eine heteronormative Rollenzuweisung27 von Frauen und Männer zu finden. Die Männer dominieren die Erzählung, werden mit Namen genannt und genauer charakterisiert, während die Frauen eher in einer sekundären Erzähllinie positioniert und mit allgemeinen Beschreibungen dargestellt werden. Frauen sind überwiegend anhand der Beziehungen zu den zentralen männlichen Figuren als Großmutter, Ehefrau oder Mutter dargestellt. Die Hierarchisierung ist außerdem anhand von Zuschreibungen bezüglich der Hautfarbe der Figuren zu erkennen. »Im Kontext von rassifizierten Kategorien sind Weiße überlegen und mächtig, während Schwarze das dialektische Gegenteil darstellen.«28 In Kimanis Geschichte ist er die schwarze Hauptfigur, verfügt aber über weniger Macht als die Weißen, die reich sind und alles haben, also all das, was er sich wünscht. Entgegen dieser Dysbalance der Macht wird in der Erzählung die Kraft der Gemeinschaft als Bild des Sozialismus, als ideale Gesellschaftsstruktur, dargestellt.
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Ebd., S. 91. Eggers 2005, S. 61. Vgl. Hartmann 2016, S. 105-134. Mätschke 2017, S. 254.
30 Jahre Kinderbücher und erzählte Geschichten in Deutschland
Die Weißen werden als Kolonialisten überwiegend negativ charakterisiert. Nur eine Ausnahme bildet die Frau des Farmers, die wie folgt dargestellt wird: Die »Frau des Farmers, Bessies Mutter, war eine gute Frau gewesen, freundlich; sie lachte sehr gerne, und sie sang auch.«29 Anhand dieser kurzen Darstellung ist zu vermuten, dass die rassifizierenden Elemente und Kategorien in den Kinderbüchern der DDR komplex und häufig mit politischen sowie propagandistischen Komponenten verzahnt sind. Möglicherweise wurden Stereotypen als unterstützende Komponente in der Darstellung der sozialistischen Weltanschauung verwendet. Das sind Aspekte, die die Dringlichkeit der weiteren Analyse und Forschung in diesem Kontext verdeutlichen.
Ausblick Die hier behandelte Thematik bringt uns zu einer aktuellen und noch zentraleren Diskussion: Mit welchen Figuren identifizieren sich Kinder in Büchern oder Geschichten, wenn darin keine heterogenen Figuren vorkommen und sie sich selbst dort nicht wiederfinden können? Rassismus in Kinderbüchern ist kein neues Thema30 , aber so wie Mätschke es treffend sagt: »Rassifizierende Darstellungen sind in Kinderbüchern vorhanden und beeinflussen gestern wie heute kindliche Vorstellungswelten.«31 In der Projektwoche wurde erneut deutlich, dass LiteracyAngebote eine gute Grundlage für einen Dialog dazu bilden.32 Beim Vorlesen werden »zentrale Prozesse der Imagination, der Identifikation, der Empathie, der Antizipation und der sozialen Perspektivübernahme«33 unterstützt. Welche emotionalen Erfahrungen erleben Kinder beim Lesen/Vorgelesen von rassifizierenden und diskriminierenden Geschichten? Welche emotionalen Reaktionen erleben Kinder, wenn sie rassifizierende Elemente oder Kategorien in Kinderbüchern oder Kindergeschichten erkennen und wie bedingen sich gegenseitig die Selbstwahrnehmung und Selbstkategorisierung?34 In Kinderbüchern werden Figuren aus anderen Kulturen wenig differenziert und stereotypisiert oder People of Colour, wie in Kimanis Geschichte der Fall, werden als arm und bedürftig dargestellt. Für Kinder aus der dargestellten Kultur oder mit der stereotypisierten Darstellung der Hautfarbe wird die Möglichkeit der Identifizierung nicht gegeben und die Selbstwahrnehmung über die eigene Kultur oder Hautfarbe wird anhand der
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Richter 1964, S. 15. Vgl. Wollrad 2014, S. 10-16. Mätschke 2017, S. 249f. Vgl. Ulich 2003, S. 10. Nickel 2017, S. 670. Vgl. Eggers 2005, S. 44.
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Stereotypisierung möglicherweise verzerrt. Kinder aus anderen Kulturen und mit unterschiedlichen Hautfarben bilden weiterhin eine Ausnahme in Kinderbüchern, während in der Lebenswelt der Kinder die Heterogenität zunehmend präsenter ist.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Abels, Heinz/König, Alexandra (2016): Sozialisation: über die Vermittlung von Gesellschaft und Individuum und die Bedingungen von Identität. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer. Arndt, Susan/Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy (Hg.) (2017): Mythen und Masken. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast. Barkow, Ingrid/Müller-Brauers, Claudia (2017): Frühe Literalität. In: Frühe Bildung 6, H. 4, S. 181-182. Bauer, Edith (2011): Wie Kinder ins Schreiben kommen. Zur Funktion von Bildern, Worten, Zeichen und Schrift in der frühen Kindheit. In: TPS – Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 2011, H. 6, S. 6-15. Brückner, Karl (1948): Pablo der Indio. Berlin: Neues Leben. Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.) (2019): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung, Studien zur Kinder- und Jugendliteratur und -medien 1. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Berlin: J.B. Metzler. Eggers, Maureen Maisha (seit 2017: Maisha Maureen Auma) (2005): »Rassifizierung und kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und weiße Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln auf der Ebene von Identität«. http://macau.uni-kiel.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dissertation_deri vate_00002289/Dissertation_Maureen_Eggers.pdf (Abfrage: 11.10.2020). Hartmann, Jutta (2016): Doing Heteronormativity? Funktionsweisen von Heteronormativität im Feld der Pädagogik. In: Fereidooni, Karim/Zeoli, Antonietta P. (Hg.): Managing Diversity: Die diversitätsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung. Wiesbaden: Springer, S. 105-134. Hering, Jochen (2019): Vom Glück der Kinder. In Bilderbüchern dem Glück begegnen. Weimar: Verlag das Netz. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichten. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (o.J.): »Family Literacy (FLY)«. http://li.hamburg.de/family-literacy/4552940/artikel-family-li teracy/ (Abfrage: 08.11.2020). Mätschke, Jens (2017): Rassismus in Kinderbüchern: Lerne, welchen Wert deine soziale Positionierung hat! In: Fereidooni, Karim u. El, Meral (Hg.): Rassismus und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer, S. 249-268. Nickel, Sven (2015): Was ist Literacy? In: Pädagogik Leben 2015, H. 1., S. 7-10. Nickel, Sven (2017): Sprache und Literacy im Elementarbereich. In: BrachesChyrek, Rita (Hg.): Handbuch Frühe Kindheit. Leverkusen: Opladen.
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Richter, Götz R. (1964): Kimani. Berlin: Kinderbuchverlag. Rimkus, Edith/Beseler, Horst (1966): Matti im Wald. Berlin: Kinderbuchverlag. Prischwin, Michail (1955): Graue-Eule. Berlin: Kinderbuchverlag. Ulich, Michaela (2003): Literacy – sprachliche Bildung im Elementarbereich. In: Kiga heute 2003, H. 3, S. 6-18. Wagner, Petra (2017): Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg/Basel/Wien: Herder. Wollrad, Eske (2014): Rassismus in Kinderbüchern. In: Integrationsagentur der Diakonie Düsseldorf (Hg.): Sprache – Macht – Rassismus. Dokumentation der Fachtagung vom 22.10.2014, S. 10-16.
Gedanken zur »unendlichen Geschichte der ostdeutschen Identität« Eine erkenntnistheoretische Gegenüberstellung Joachim Köhler
Einleitung Eine im Rahmen der Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« vorgestellte Studie zur Identitätskonstruktion von Daniel Kubiak1 , die dieser selbst präsentierte und die durch den aktuellen Inhalt sowie ihre spannenden Thesen auffiel, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei wird zunächst die methodische Herangehensweise von Daniel Kubiak zur Untersuchung konstruierter Identitäten aus erkenntnistheoretischer Perspektive analysiert. Kubiaks Forschung befasst sich mit der Konstruktion von Identitäten sowohl von Personen, die sich als »ostdeutsch« identifizieren, als auch von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich als muslimisch verstehen. Eine Darstellung hierzu erfolgt einleitend in Kapitel »Der Fall ›Ostdeutschland‹«. Es wird zudem der Frage nachgegangen, wie seine Forschung in den systemtheoretischen Hintergrund einzuordnen ist und wie seine Methodenwahl vor diesem begründet werden kann. Das Kapitel schließt mit einer Beschreibung der während der Veranstaltung stattgefundenen Diskussion. Im darauf folgenden Kapitel folgt die Gegenüberstellung von systemtheoretischer Erkenntnistheorie und hegelianischer Dialektik. Das Kapitel gestaltet sich derart, dass zunächst die Gedanken Hegels zum erkennenden Subjekt festgehalten und beschrieben werden, um daraufhin den Transfer zu Kubiaks Darstellungen der Identitätskonstruktion zu leisten. Zu erwähnen ist hierbei, dass es sich bei den gewählten Erkenntnistheorien wissentlich um sehr gegensätzliche Positionen handelt, wodurch es nicht der Anspruch sein kann, sich beiderseits konstruktiv auf den Gegenstand des Falls zu beziehen.
1
Daniel Kubiak ist war 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter (seit 2020 Post Doc) an der Humboldt-Universität Berlin tätig. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Identitätskonstruktion von in Ostdeutschland lebenden Menschen.
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Im letzten Kapitel sollen eine abschließende Auswertung sowie eine persönliche Einschätzung für die Verwendung der beiden Erkenntnistheorien als Grundlage für wissenschaftliche Aussagen gegeben werden.
Der Fall »Ostdeutschland« In seinem Vortrag an der Hochschule »Die unendliche Geschichte der ostdeutschen Identität«, der auch titelgebend für diese Arbeit ist, beschäftigt sich Kubiak mit der Konstruktion nationaler Identität in West- und Ostdeutschland und versucht, ihren exkludierenden Charakter anhand des Vergleichs zweier Phänomene abzubilden. Seine These gründet auf der Annahme, dass es sich sowohl bei als »ostdeutsch« identifizierten Personen, wie auch bei »Menschen mit Migrationshintergrund« um Fälle handelt, die in den meisten Eigenschaften übereinstimmen, besser bezeichnet als »most similar cases«.2 Das betrifft vor allem Verhaltensmuster beider Gruppen im Zuge ihres Integrationsprozesses.3 Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die systemtheoretische Definition Niklas Luhmanns von Nationen. Dieser beschreibt Nationen als »künstliche Einheit von diversen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Sprachen, Bräuche und Religionen«4 , welche als Funktionssysteme in der Gesellschaft angelegt und somit Teilsysteme dieser sind. Durch Narrative und Mythen wird diese künstliche Einheit den sich auf sie beziehenden Subjekten zugänglich gemacht. Ein Nebenprodukt dieser Erzählungen ist die Exklusion von Personengruppen, welche zwangsläufig aus der Abgrenzung des Systems »Nation« von anderen, ihr gleichen Systemen hervorgeht. Um Exklusion und Inklusion in die Systeme nachvollziehen zu können, ist es demnach relevant, eine Untersuchung der jeweiligen Narrative zu leisten. Vor diesem Schritt gilt es jedoch, die Frage des erkennenden Subjekts zu erörtern.
Erkenntnistheoretischer Bezugspunkt Im Folgenden soll versucht werden, die Systemtheorie als Erkenntnistheorie darzustellen und auf den Fall zu beziehen. Es gilt die Grundannahme des Konstruktivismus, dass das Subjekt die in der Welt befindlichen Gegenstände durch das eigene Erkennen konstruiert und sich somit eine Vorstellung der Wirklichkeit schafft, welche diese jedoch nicht objektiv abbildet und abbilden kann. Luhmann spricht bei diesen Konstrukteur*innen von Systemen und konzentriert sich in seiner Er-
2 3 4
Kubiak 2018, S. 27. Vgl. ebd. Ebd., S. 26.
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läuterung auf deren Funktionieren.5 Die Systeme, die durch die sie umgebende Welt bestimmt werden, beginnen ihre Schlüsse über diese Welt durch Beobachtungen selbiger zu ziehen. Beobachtung meint hier zweierlei: zum einen die Differenzierung einzelner Phänomene voneinander, zum anderen die Bezeichnung dieser. Auf diese Art der Strukturierung schaffen sich die Systeme ein eigenes Verständnis der Umwelt, um in dieser aktiv zu werden. Die vom System bezeichneten Gegenstände bilden hierbei nie die tatsächliche Realität ab, sondern nur die vom System geschaffene Wirklichkeit. Die Beobachtung der eigenen systeminternen Differenzierungen und Bezeichnungen ermöglicht die Reflexion der systemeigenen Beobachtungen, wofür Subsysteme innerhalb des Systems geschaffen werden, deren Beobachtungen wiederum nur für sie selbst Geltung haben. Auf die These von Kubiak angewandt bedeutet dies, dass die festgestellten Erzählungen die Selbstbezeichnungen der nationalen Systeme sind. Das Subjekt kann diese Bezeichnungen für sich annehmen und sich per Eigenkonstruktion dem System, in diesem Fall der Nation, zugehörig fühlen. Ob dies jedoch auch umgekehrt in Erscheinung tritt, also die Nation das jeweilige Subjekt als zu sich zugehörig erkennt oder auch nicht, liegt im konstruierten Narrativ verankert. So kann es geschehen, dass sich ein »Kleinstsystem« in Gestalt eines menschlichen Subjekts einer Konstruktion von Wirklichkeit annähert, weil dieses den Schlüssen der eigenen Beobachtung entspricht, das konstruierende System jedoch den Ausschluss, respektive die Exklusion vorsieht. Umgekehrt kann dies auch bedeuten, dass z.B. nationale Systeme sich anderen Systemen unterordnen, obwohl diese sich nicht als Teil des Konstrukts verstehen.
Theorie der Neo-Identität Durch die Exklusion der beiden eingangs genannten Gruppen durch die vorherrschende Bezeichnung des nationalen Systems erfahren die Gruppen eine Abwertung. Diese Abwertung unterscheidet sich jedoch in ihrer Auswirkung auf die jeweiligen Gruppen. So halten Foroutan und Kubiak in einer Studie zu diesem Thema fest: »Die Erfahrungen von Ostdeutschen und Migranten ähneln sich nicht, wenn es um die Erfahrung von Rassismus geht. Dort wo Ostdeutsche aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, die ihnen immer schon ermöglicht, wählen zu gehen, ihres Phänotyps, der es ihnen ermöglicht unsichtbar zu werden, ihrer Sprache, die als Akzent Belustigung auslösen kann, aber nicht zu systematischem Ausschluss vom Arbeitsmarkt und zur systematischen Mindererwartung schon in den Grundschulen führt, privilegiert sind, gibt es seit Jahrzehnten etablierte Ungleichheiten und
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Vgl. Reitze/Schülein 2005, S. 194.
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rassistische Erfahrungen bei migrantischen Gruppen, die strukturelle Benachteiligungen nach sich ziehen.«6 Neben diesen deutlich zutage tretenden Unterschieden gibt es jedoch auch Gemeinsamkeiten. So weisen nach Kubiak beide Gruppen ähnliche stereotype Abwertungsmerkmale auf, welche sich als Negativbestimmung der positiven Eigenkonstruktion der Dominanzkultur darstellen. Diese wiederum sei westlich codiert und beanspruche Eigenschaften wie demokratisch, tolerant, zukunftsoffen.7 Demgegenüber fänden sich eine unterstellte Unproduktivität und Vorwürfe der Larmoyanz, die sich durch die von den exkludierten Gruppen angeblich eingenommenen Opferrollen begründen ließen. Die Entstehung einer Neo-Identität entspränge aus der anhaltenden Erfahrung als »Andere« dargestellt zu werden und sei als solches Resultat der Reflexion der eigenen Beobachtung. Zunächst würde eine Übereinstimmung mit dem herangetragenen Bild hergestellt, welche internalisiert oder bekämpft werden kann. Für beides ist zwangsläufig eine Identifikation notwendig. Mit dieser Identifikation geht die Subjektivierung einher, welche entweder aus Trotz erfolgt (»Wenn ihr mich so seht, dann bin ich eben so.«) oder aus einem Moment der Solidarität. Bei letzterem ist vor allem die moralische Verpflichtung gegenüber einer diskriminierten Gruppe von Bedeutung, welcher sich das Individuum sonst nicht zugehörig fühlen würde.8 Mit der Neo-Identität findet demnach eine Neuordnung der zuvor getroffenen Bezeichnungen statt. Sie hat die Funktion, sich aufgrund von Exklusionserfahrungen in ein neues System einzugliedern, indem die diesem System zugeordneten Narrative als die eigenen angenommen und neu interpretiert werden.
Angewandte Methoden Basierend auf den zuvor ausgeführten Annahmen wählt Kubiak zwei Methoden, um die Identitätskonstruktionen seiner Proband*innen herauszustellen. Das Forschungsinteresse bringt er wie folgt zum Ausdruck: »Der Fokus der Daten liegt auf der Frage, wie ›ostdeutsche‹ und ›westdeutsche‹ Identitäten konstruiert werden und in der sozialen Praxis eine Wirkmächtigkeit erhalten.«9 Zunächst sollen die Methoden kurz dargestellt werden, um sie dann in den erkenntnistheoretischen Zusammenhang zur Systemtheorie zu stellen.
6 7 8 9
Foroutan/Kubiak 2018, S. 96. Ebd. Vgl. ebd., S. 101ff. Kubiak 2018, S. 31.
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Imitation Game Beim Imitation Game treten sich Personengruppen gegenüber, in diesem Fall Menschen aus den neuen Bundesländern sowie aus den alten Bundesländern, die über einen Computer miteinander kommunizieren und versuchen durch Fragestellungen, die natives Wissen erfordern, die Zugehörigen ihrer Gruppe herauszufinden und sich als Teil der anderen Gruppe qua Imitation auszugeben. Damit dies gelingt, ist eine jeweilige Expertise bezüglich der möglichen Narrative vonnöten. Kubiak geht davon aus, dass es den Minderheitengruppen besser gelingt, sich als Teil der Mehrheit darzustellen, diese also über ein umfangreiches Wissen sowohl über vorherrschende Diskurse als auch über die Normen der Dominanzkultur verfügen.
Gruppendiskussion Die Gruppendiskussionen fanden mit den Teilnehmer*innen des Imitation Game statt und waren dementsprechend in die gleichen Kategorien, neue und alte Bundesländer, unterteilt. Es handelte sich ausschließlich um Studierende, welche, angeleitet durch vereinzelte Fragestellungen, in drei Blöcken ihre jeweiligen Erfahrungen zum Thema Identität diskutierten. So wurde im ersten Block über die Bedeutung des Begriffs gesprochen, im zweiten über den Selbstbezug zur deutschen Identität und im dritten über die subjektiv empfundene Zugehörigkeit zu Ost- und Westdeutschland bzw. die damit verbundene Identitätskonstruktion. Die Diskussionen dienten, neben einer Evaluation des Imitation Game, primär der anschließenden Analyse der vorgefundenen Diskursstränge. Die angewandten Methoden sind vor dem abgebildeten Hintergrund nachvollziehbar, beziehen sie sich doch auf die Theorie eines systeminternen Konstrukts. Dieses findet seinen Ausgangspunkt in den nationalen Narrativen, auf die sich die Proband*innen beziehen. Vor allem die marginalisierte Gruppe der »Ostdeutschen« bedient sich einer konstruierten Neo-Identität.10 Die Neo-Identität, welche sich hier auf die Identität der »Gesamtdeutschen« bezieht und sich unter diese subsumiert, dient den Subjekten als Orientierung und dem Zwecke der Selbsteinordnung. Auffällig ist, dass bei den in der Studie aufkommenden Fällen keine Emanzipationsbemühungen vom dominanten Identitätskonstrukt festzustellen sind. Dies könnte durch vorherrschende Machtstrukturen und daraus folgende Abhängigkeiten zu erklären sein, welche durch Abkopplung zu einer Instabilität des Systems führen könnten. Das ließe sich jedoch nur durch weitere Überlegungen ergründen. Kubiak hält fest, dass sich die Identitätskonstruktionen dreifach begründen: erstens durch die eigene Sozialisation, indem sowohl biografische Marker sowie die Berichterstattung der Medien als Wissensquelle fungieren; zweitens durch die Erfahrung der symbolischen Abwertung und die Reaktion darauf. In diesen Fällen wird in bestimmten Situationen die abgelehnte Identität aktiviert. Und drittens 10
Vgl. ebd., S. 40.
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durch das Othering der »Ostdeutschen«. Es findet keine »westdeutsche« Selbstzuschreibung statt, sondern eine Fremdidentifikation, bei der das »Andere« mit Werten und Vorstellungen benannt wird, die nicht den eigenen entsprechen. Hierbei handelt es sich demnach um eine Negativbestimmung des eigenen Bildes.11
»Ich fühle mich ertappt« – Persönliche Eindrücke zur Diskussion Die von Kubiak festgestellten Grundmuster der Identitätskonstruktion ließen sich auch in der Diskussion im Rahmen der Veranstaltung an der Hochschule wiederfinden. Deshalb soll an dieser Stelle mein persönlicher Eindruck mit dem Versuch abgebildet werden, die Aussagen der Diskutant*innen mit der zuvor aufgeführten Theorie zu verknüpfen. Mit dem Ausspruch »Ich fühle mich ertappt« kommentierte eine Teilnehmerin ihre persönliche Betroffenheit und das von ihr reflektierte Verhaltensmuster bezüglich ihrer Identitätsbildung. Sie stand damit stellvertretend für eine Mehrheit der Personen, die ihre jeweiligen Identitäten durch ihre Sozialisation bedingt begriffen. Durch diese Annahme funktionalisiert sich die Identität mit den systeminternen Bedingungen. Eigentümlich an dieser Begründung ist der Umstand, dass die persönlichen Motive keinerlei Erwähnung finden, also lediglich ein Ist-Zustand festgestellt wird, ohne dafür das »Warum« anzugeben. So drehte sich ein Großteil der Diskussion um den Umstand, dass in den neuen Bundesländern die AfD bei Wahlen mehr Stimmen bekam als in den alten Bundesländern. Die inhaltliche Ablehnung der AfD schien in der Gruppe Konsens zu sein, deshalb wurde viel über die Möglichkeiten einer Distanzierung debattiert. Es sollte demnach ein handhabbarer Weg geschaffen werden, eine Gruppe – in diesem Fall Sympathisant*innen der AfD – aus dem System, mit welchem sich die Teilnehmenden identifizieren, zu exkludieren. Auffällig hieran ist, dass eine Distanzierung nur von etwas erfolgen kann, was prinzipiell mit der eigenen Identität übereinstimmt, es also auf der Ebene des nationalen Systems durchaus Überschneidungen geben muss. Auf welcher Grundlage die Exklusionsbemühungen stattfanden, wäre für unbefangene Außenstehende nicht erkenntlich, da die angewandten Narrative nur der In-Group verständlich waren. Die Identitätskonstruktionen wurden von allen Anwesenden unhinterfragt angenommen und in den, für mich nur zu vermutenden, systemeigenen Zweck – der Aufrechterhaltung des nationalen Systems und den darin anerkannten, durch Narrationen konstruierten Werten – eingeordnet.
11
Vgl. ebd., S. 34ff.
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»Das Wesen der Dinge« nach G.W.F. Hegel Im folgenden Kapitel soll versucht werden, eine andere erkenntnistheoretische Sicht auf den Fall anzuwenden. Anders als die konstruktivistische Systemtheorie geht Hegel nicht von einer Trennung des erkennenden Subjekts und der es umgebenden Umwelt aus, sondern von einer Einheit beider. Diese ergibt sich durch den über die Welt nachdenkenden Geist.12 Mit diesem Ansatz verwirft Hegel seinerseits die Vorstellung von dem begrenzten Erkenntnisvermögen des menschlichen Denkens, was auch bedeuten würde, dass nicht das Subjekt seine Umwelt begrifflich unabhängig von dieser konstruiert, sondern sie objektiv zu fassen in der Lage ist. Als Kritik an Kant, welcher einer der prominentesten Vertreter der Nicht-Erkennbarkeit von Objektivität ist, schreibt Hegel: »Indem aber auf der andern Seite diese Erkenntnis sich als die Erkenntnis nur von Erscheinendem weiß, wird das Unbefriedigende derselben eingestanden, aber zugleich vorausgesetzt, als ob zwar nicht die Dinge an sich, aber doch innerhalb der Sphäre der Erscheinung richtig erkannt würde, als ob dabei gleichsam nur die Art der Gegenstände verschieden wäre und die eine Art, nämlich die Dinge an sich, zwar nicht, aber doch die andere Art, nämlich die Erscheinungen, in die Erkenntnis fielen. Wie wenn einem Manne richtige Einsicht beigemessen würde, mit dem Zusatz, daß er jedoch nichts Wahres, sondern nur Unwahres einzusehen fähig sei. So ungereimt das letztere wäre, so ungereimt ist eine wahre Erkenntnis, die den Gegenstand nicht erkennte, wie er an sich ist.«13 Ein Wissen darüber, dass das eigene Denken beschränkt ist, kann es nach Hegel nicht geben. Dies liege daran, dass eine Täuschung, respektive ein Irrtum, erst dann auch als solche in Erscheinung treten, wenn ein richtiges Wissen über die Sache erlangt wurde. Andersherum wäre auch kein Mangel am Erkenntnisvermögen festzustellen: wenn die Dinge, so wie das Subjekt sie wahrnimmt, nur dem Subjekt als wahr erscheinen, dann könnte der Fehler dessen nie bewiesen werden. Daraus könnte folgen, dass eine Beschäftigung mit Konstruktionen, denen nicht nachgewiesen werden kann, ob sie wahr oder falsch sind, irrelevant sei, da niemals eine Aussage über sie getroffen werden könnte. Auf dieser Grundlage entwirft er ein anderes Modell der Erkenntnis, in welchem er sich nahe an den Philosophen der Antike orientiert. Ausschlaggebend sind hierfür die drei Axiome des logischen Denkens nach Aristoteles und das vierte, später hinzugekommene Axiom nach Leibnitz.14 Wenn der menschliche Geist sich fortwährend mit der ihn umgebenden Welt auseinandersetzt, er sie demnach dauerhaft erfasst und zu begreifen versucht, so gilt 12 13 14
Vgl. Reitze/Schülein 2005, S. 93. Hegel 2013a, S. 38. Vgl. Eisler o.J.
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es zu unterscheiden: zum einen gibt es die sinnliche Gewissheit, den Moment, in welchem sich das Subjekt wahrnehmend auf die es umgebende Welt bezieht. Dies ist jedoch trüglich, da sich die Welt in einem Zustand permanenter Veränderung befindet.15 Zum anderen gibt es die Erkenntnis, das Feststellen der Kontinuität von Wesensmerkmalen. Erst das Nachdenken über die Dinge, was eine Abstraktion von diesen darstellt, macht die Dinge ihrem Wesen nach erfassbar und erlaubt es dem Subjekt, Gesetzmäßigkeiten über sich und die Welt herauszufinden. Dieser Prozess, in dem die Widersprüche des Denkens, also der Abstraktionen, immer wieder neu überprüft und abgeleitet werden, gestaltet sich mit dem Aufstellen von Thesen, dem Widerlegen bzw. Bestreiten dieser Thesen mit Antithesen und dem anschließenden Zusammenführen der Erkenntnis zu einer Synthese, aus welcher neue Thesen erwachsen können. Hegel nennt dies, in Anlehnung an die griechischen Philosophen, Dialektik.
Abstrakte Identität Da der Geist die Welt erfasst und mit dieser eine Einheit bildet, welche sich dynamisch weiterentwickelt, ist das Nachdenken über sie eine Sache der Logik, also eine Leistung des Verstehens. Die Identität des Dings, wie Hegel es nennt, ist demnach eine Reflexionskategorie und nichts Greifbares beziehungsweise real Existierendes. Als Verhältnisausdruck nimmt sie die Form A = A an.16 Hierbei handelt es sich jedoch um eine Tautologie, da die Sache mit sich selbst erklärt wird. Diese ist zwar grundsätzlich nicht widerlegbar, sagt aber über die Sache selbst nichts aus. Die Dialektik erlaubt durch These und Antithese die geistige Annäherung an die Identität, doch stellt sie gleichzeitig klar, dass Identität nichts ist, wessen man habhaft werden kann. Jeder Versuch, sie zu fassen, wäre zum Scheitern verurteilt, »er [der Versuch, Anm. d. Verf.] führt, weil an die Addition von ›Merkmalen‹ gebunden, nur zu Indizienschlüssen, und aus solchen wird allenfalls eine Hypothese, nie aber ein Argument.«17 Die gedankliche Reflexion, die sich nicht am Gegenstand orientiert und versucht herauszufinden, was der Zusammenhang der notwendigen Eigenschaften des Dings ist, sondern die Eigenschaften getrennt vom Gegenstand ausfindig zu machen sucht, konstruiert in der Tat eine abstrakte Identität. Mit einem Ausspruch wie z.B. »ich bin ostdeutsch« entfernt sich das erkennende Subjekt vom Gegenstand seiner Erkenntnis, in diesem Fall von sich selbst und gibt sich ein Prädikat, welches sich nicht aus sich selbst ableiten lässt. Hier lassen sich Überschneidungen zur Theorie der Neo-Identität ausmachen, wobei gleichzeitig ein entscheiden15 16 17
Vgl. Reitze/Schülein 2005, S. 99. Vgl. Hegel 2013a, S. 27. Steinfeld 2018, S. 9.
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der Unterschied zu Tage tritt: Beschäftigt sich der systemtheoretische Ansatz mit der funktionalen Erklärung, wie die Konstruktion zustande kommt und setzt dabei voraus, dass alles konstruiert ist, so würde die abstrakte Identität nach Hegel schlichtweg die Wirklichkeit nicht darstellen, womit es sich bei ihr um eine Falschaussage handelt. Herausstellen ließe sich dies an den Gründen der Konstruktion, welche beim konstruierenden Subjekt zu suchen wären. Nach Hegel ist der Bezug auf eine konstruierte Identität etwas gänzlich anderes als das Feststellen einer tatsächlichen Identität. Die konstruierte Identität bildet die Stellung des Subjekts zum Objekt ab, ohne eines von beidem zu erklären. Und mehr noch, Hegel fällt ein wenig charmantes Urteil über diese Art von Identitäten, wenn er schreibt »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.«18 Am Beispiel der nationalen Identität deutlich gemacht, bedeutet dies, dass die Subjekte ihr Handeln nach einer Sache ausrichten, welche nicht natürlich existiert, sie damit von ihren eigenen Bedürfnissen absehen und gleichzeitig bereit sind, andere Menschen unter die von ihnen gültig gemachte Abstraktion zu zwingen. Das sich daraus ergebene Konzept der Ideologie, ausgearbeitet Karl Marx, wird von der Kritischen Theorie als zentraler Erklärungsansatz für gesellschaftliche Phänomene verwendet.19
Kritik der Methodologie Der Annahme, die Welt und das denkende Subjekt bildeten eine sich ständig fortentwickelnde Einheit, folgt in Hegels Logik der Schluss, dass jegliche Art der Methodenanwendung zum Zwecke der Erforschung eines Gegenstandes überflüssig ist. Die Begründung hierfür liegt darin, dass Methoden stets die Differenz zwischen Denken und Gegenstand zu überwinden versuchen, weil sie bemüht sind, das Denken nach einer bestimmten Struktur ablaufen zu lassen. Diese Anwendung von Methoden geschieht mit der Vermutung, ohne einen zuvor festgelegten Ablauf des Nachdenkens würde sich die Sache, über welche nachgedacht wird, nicht erschließen. Hegel kritisiert dies wie folgt: »Das Erkennen wird vorgestellt als ein Instrument, die Art und Weise, wie wir uns der Wahrheit bemächtigen wollen; ehe man also an die Wahrheit selbst gehen könne, müsse man zuerst die Natur, die Art seines Instruments erkennen. Es ist tätig; man müsse sehen, ob dies fähig sei, das zu leisten, was gefordert wird, – den Gegenstand zu packen; man muß wissen, was es an dem Gegenstand ändert, um diese Änderungen nicht mit den Bestimmungen des Gegenstandes selbst zu 18
19
Er bemängelt damit, dass das Subjekt, welches sich auf Abstraktionen bezieht und diese zur Anwendung bringt, die Einheit von Geist und Welt vernichtet, da es eine erfundene Sache real geltend machen will (vgl. Hegel 2013b, S. 330). Vgl. Reitze/Schülein 2005, S. 129ff.
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verwechseln. – Es ist, als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte.«20 Hegel macht damit etwas Zirkuläres ausfindig. Wenn der eigene Verstand erst auf seine Tauglichkeit hin überprüft werden muss, ob er das Ding, mit welchem er sich beschäftigt, auch erfassen kann, dann geht dies nicht, ohne eben diesen Verstand zu nutzen. Damit wird das zu Prüfende gleichzeitig die Prüfinstanz. An dieser den Maßstab anzusetzen, ob sie mit der Realität übereinstimmt, führt zu einem Zweifel, der den Beweis zwangsläufig schuldig bleibt. In der hegelianischen Logik stellt sich die Frage, warum über eine Sache, die zu erfassen das Subjekt schon geleistet hat, nun eine Methode angewandt werden soll, um über diese Sache etwas herauszufinden. Die Denkleistung erfolgte ja bereits ohne Methode. Ebenso ließe sich durch die Methode kein Denkfehler bereinigen, da für die Nutzung dieser ebenfalls wieder das Denkvermögen herangezogen werden müsste. Für den Fall »Ostdeutschland« würde Hegels Kritik sich vielleicht so äußern: Die Interpretation der Forschungsergebnisse kann keine Informationen über den Gegenstand der abstrakten Identität hervorbringen, da sie einzig die subjektive Stellung des Forschenden zum Objekt wiedergibt. Um herauszufinden, dass es sich um eine abstrakte Identität handelt, müsste sich der Mensch angeschaut werden, der diese Identität von sich behauptet, und eine Überprüfung stattfinden, ob diese Identität real an ihm*ihr existiert oder nicht. Zur Ergründung der Identitätskonstruktionen wäre es notwendig, die Proband*innen direkt danach zu fragen, ihre Argumente zu prüfen und ihnen, so es sich um eine abstrakte Identität handelt, die Fehler ihres Denkens aufzuzeigen. In diesem Prozess würde die Identität als abstrakte dekonstruiert und aufgelöst werden. Des Weiteren setzt die Systemtheorie mit ihrer Grundannahme der funktionalkonstruierenden Systeme bereits das voraus, was in der Studie belegt werden soll. Ohne die Frage nach dem Grund, so könnte das hegelianische Urteil lauten, tritt der*die Wissenschaftler*in nicht an, um etwas zu suchen, sondern um etwas zu finden. Die Fragestellung richtet sich demnach nicht an die Welt, sondern an das Subjekt, welches die Frage stellt. Die konstruierte Identität wäre somit Ausgangsund Endpunkt der Forschung, ohne die Fragen »Warum ist es« und »Was ist es« am Gegenstand geklärt zu haben.
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Hegel 2013b, S. 333.
Gedanken zur »unendlichen Geschichte der ostdeutschen Identität«
Das Ende der Geschichte ostdeutscher Identität? Im Abschluss folgt nun eine kurze persönliche Einschätzung. Hierfür sollen zunächst noch einmal die Unterschiede betrachtet werden. Die systemtheoretische Erkenntnistheorie versteht mit ihrem konstruktivistischen Ansatz die Welt als eine das Subjekt bestimmende, aber von diesem nicht erkennbare. Sie versucht, sich daher zu erklären, wie sich die Subjekte als Systeme und Systembildner*innen auf die sie umgebene Welt beziehen und stellt dabei Mechanismen heraus, die das Verhalten einzelner Individuen, aber auch ganzer Gesellschaften, zueinander deuten lassen. Dem gegenüber behauptet die hegelianische Dialektik die Einheit zwischen Welt und Subjekt sowie die dynamische Weiterentwicklung von Erkenntnis. Hierfür stellt es sich als notwendig heraus, dass das Erkennen der Welt objektiv erfolgt und die Kategorien »wahr« und »falsch« existieren, da erst sie ein Urteil über die Gegenstände erlauben, mit welchen dann ein Fortgang der Erkenntnis möglich ist. Die Dialektik Hegels setzt somit auf die Erklärung der Welt oder, wie es oben bereits ausgedrückt ist, »was etwas ist« und »warum es ist«. Herauszufinden wie Menschen ihre Identitäten konstruieren und aufeinander beziehen, kann den Nutzen haben, ein Verständnis für die individuellen Ansichten der in dieser Gesellschaft lebenden Subjekte zu entwickeln. Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution kann somit etwas über die Gesamtkonstruktion der Gesellschaft und ihre Differenzierung in Ost und West herausgefunden werden, in unserem Beispiel durch die Narrative, welche die konstruierten Identitäten ausmachen. Kubiaks Forschung leistet hier einen wichtigen Beitrag für ein tiefergehendes Verständnis dahingehend, wie sich die subjektive Bezugnahme der Individuen auf die Gesellschaft und ihre Mitglieder gestaltet. Doch gleichzeitig ist es auch das Beforschen solcher Identitäten unter der Grundannahme ihrer Funktionalität, welches ihren dauerhaften Bestand sichert. Denn: auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution sind es konstruierte beziehungsweise abstrakte Identitäten, die diese Gesellschaft prägen. Ihre Erklärung nach den Prinzipien der Dialektik kann hervorbringen, dass sie zuweilen nicht nur nicht zweckdienlich, sondern sogar schädlich für die Individuen sind. Wenn es auch nicht gelingen mag, den Gründen von Exklusion und Diskriminierungen unmittelbar habhaft zu werden, so wäre eine Widerlegung abstrakter Identitäten ein denkbarer Schritt der Wissenschaft, um sich gegenständlicher Differenzen innerhalb von Gruppen sowie zwischen diesen und den aus ihnen folgenden Schwierigkeiten für die Konstitution unserer Gesellschaft anzunähern.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Eisler, Rudolf (o.J.): »Wörterbuch der philosophischen Begriffe«. https://www.phil oreal.de/websystem/popup.php?Popup=popup-vierlogischedenkaxiome.html (Abfrage: 10.02.2020). Foroutan, Naika/Kubiak, Daniel (2018): Ausschluss und Abwertung. Was Muslime und Ostdeutsche verbindet. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2018, H. 7, S. 93-102. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2013a): Wissenschaft der Logik. In: Holzinger, Michael (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke. Berlin: Edition Holzinger, S. 27-38. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2013b): Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, 1. Teil. In: Holzinger, Michael (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke. Berlin: Edition Holzinger, S. 330-333. Kubiak, Daniel (2018): Der Fall »Ostdeutschland«. »Einheitsfiktion« als Herausforderung für die Integration am Fallbeispiel der Ost-West-Differenz. In: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, Special Issue: Migration und Integration als politische Herausforderung – Vergleichende Analysen zu politisch-kulturellen Voraussetzungen der Migrationspolitik und Reaktionen 2018, H. 1, S. 25-42. Reitze, Simon/Schülein, Johann August (2005): Wissenschaftstheorie für Einsteiger. 2. Auflage. Wien: utb. Steinfeld, Thomas (2018): Ich weiß nicht, wer ich bin. In: Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2018, S. 9.
Psychosoziale Beratung als politischer Bildungsprozess Reflexion zum Vortrag »Die unendliche Geschichte der ostdeutschen Identität – Identität und Identifikation in der deutsch-deutschen Nachwendegeneration« Anna Nabrdalik
Einleitung Am 14. November 2019 nahm ich im Rahmen der Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo Vadis Demokratie?« der Hochschule Neubrandenburg am Vortrag »Die unendliche Geschichte der ostdeutschen Identität – Identität und Identifikation in der deutsch-deutschen Nachwendegeneration« teil. Als Studentin der Hochschule Neubrandenburg studierte ich während der Projektwoche im dritten Fachsemester den Master in Beratung. Mit Enthusiasmus besuchte ich die Veranstaltung, auch weil ich dieser Generation angehöre. So folgte ich besonders interessiert den Ausführungen, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden und anschließend mit dem politischen Bildungsauftrag der Professionen Soziale Arbeit und psychosoziale Beratung reflektiert werden sollen. Der Referent Daniel Kubiak erforschte im Rahmen seiner Promotion »die Identitätskonstruktionen bezüglich der Ost-West-Differenz«1 von Menschen, die zwischen 1990 und 1995 in den neuen und alten Bundesländern geboren wurden, ihren Schulabschluss dort absolvierten und über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Mittels zweier qualitativer Forschungsmethoden untersuchte er, »wie ›ostdeutsche‹ und ›westdeutsche‹ Identitäten konstruiert werden und in der sozialen Praxis eine Wirkmächtigkeit erhalten.«2 Die Proband*innen waren ausschließlich Studierende.
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Kubiak 2018, S. 25. Ebd., S. 31.
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Kubiaks Untersuchung und Erkenntnisse Mit 84 Teilnehmer*innen führte Kubiak Imitation Games in Berlin, Bremen und Rostock durch. Die Proband*innen wurden in zwei Spielgruppen aufgeteilt: Gruppe »neue Bundesländer« sowie Gruppe »alte Bundesländer«. Sie sollten versuchen, die Gruppe der anderen Bundesländer zu imitieren und die eigene Gruppe zu erkennen. Die These des Imitation Games lautet, dass die Minderheitsgruppe eher in der Lage ist, die gesetzten Normen der Mehrheit zu imitieren. »Die Teilnehmer*innen der Imitation Games mussten vor allem auf ihr Wissen über sich selbst und der anderen zurückgreifen, um die Imitator*innen zu erkennen und selbst erfolgreich imitieren zu können.«3 Die Fragen und Antworten im Imitation Game entwickelten die Teilnehmer*innen selbstständig (Proxi-Researcher). Festgestellt wurde, dass Ostdeutsche besser imitieren können. Sie sind in der Lage, immanentes Wissen über beide Regionen abzurufen. In sieben Großstädten führte der Referent Fokusgruppendiskussionen mit durchschnittlich fünf Teilnehmer*innen durch. Der Inhalt der zweistündigen Diskussionen wurde in drei Themenbereiche untergliedert: Was bedeutet Identität für euch? Was bedeutet deutsche Identität für euch? Was bedeutet ostbzw. westdeutsche Identität für euch? Die Westdeutschen benannten identitätsstiftende Faktoren wie Familie, Religion und Popkultur. Die ostdeutschen Student*innen benannten die ostdeutsche Herkunft als größten Faktor. In den Gruppendiskussionen ließ sich die Wahrnehmung wiederfinden, dass in der BRD der Ost-West-Diskurs »durch eine westdeutsche als normalisiert empfundene Position bestimmt wird«, wie Kubiak es formuliert.4 Gruppenteilnehmer*innen der ostdeutschen Nachwendegeneration berichteten, dass die Erzählungen ihrer Eltern von den Inhalten des regulären Bildungssystems abweichen. Im Schulunterricht seien vor allem negative Aspekte der ehemaligen DDR unterrichtet worden. Weiterhin empfinden Proband*innen aus den neuen Bundesländern eine (hauptsächlich mediale) Abwertung ihres Ostdeutschseins. »Diese wahrgenommene Abwertung führt zu einem verstärkten Zugehörigkeitsgefühl [Selbstidentifikation] zum Ostdeutschsein«, resümiert Kubiak.5 Die westdeutsche Nachwendegeneration zeigt hingegen keine Selbstidentifikation als Westdeutsche. Sie definiert sich eher über die Abgrenzung zu den anderen, den Ostdeutschen. Dieses Phänomen wird im postkolonialen Zusammenhang als Othering ausgedrückt. Westdeutschsein wird als Norm empfunden: »Angesprochen auf die eigene ›westdeutsche‹ Identität, nutzt der Teilnehmer das ›andere‹ Gegenüber, um diese Identität überhaupt ergründen zu können. Das Eigene wird 3 4 5
Ebd., S. 32f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35.
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als so ›normal‹ empfunden, so dass es nicht hinterfragt wird. Jegliche Abweichung wird registriert«.6 Aus Kubiaks Forschungsergebnissen lässt sich festhalten, dass die Annahme der Zuschreibung ostdeutsch bzw. westdeutsch situationsbedingt ist. Mediale Berichterstattung, politische Bildung sowie Sozialisation haben großen Einfluss auf die Identitätsbildung der Nachwendegeneration. Im letzten Teil des Vortrages ging der Referent auf Analogien zu Migrant*innen ein. Er stellte u.a. fest: »[Migrant*innen sowie] ›Ostdeutsche‹ wurden in der Vergangenheit mehrfach als eine soziale Gruppe dargestellt, die noch Integrationsprozesse durchlaufen müssen.«7 Im Vortrag wurde deutlich, dass in der BRD eine »Einheitsfiktion« überwiegt, die die kulturelle Einheit mit der politischen Einheit gleichstellt.8
Die anschließende Diskussion Nach dem ca. 60-minütigen Referat schloss sich eine von Kubiak moderierte ca. 60minütige Diskussion an. Um im Seminarraum eine angenehme Atmosphäre auf Augenhöhe zu schaffen, bauten die Zuhörer*innen und der Referent gemeinsam einen Stuhlkreis auf. Alle Anwesenden hatten die Möglichkeit, sich in die Diskussion einzubringen. Eine allgemeine Diskussion über die Ost-West-Debatte wurde durch die vorgestellte Forschung über die Identitätskonstruktionen der Nachwendegeneration angeregt. Folgende Ausführungen entnehme ich meiner Mitschrift, sie geben einige Kernpunkte der Diskussion wieder. Einleitend wurde von einzelnen ostdeutschen Gesprächsteilnehmer*innen berichtet, dass sie die im Vortrag betonte symbolische Abwertung des Ostens erleben. Wenngleich teils nicht zur Nachwendegeneration zählend, fanden sie sich in der Aussage wieder, das alltägliche Leben im Osten aufgrund der (medialen) Abwertung verteidigen zu müssen. Es ist ihnen wichtig, die durch Medien oder durch in Westdeutschland sozialisierte Menschen verfälschten Angaben über den Osten zu berichtigen. Im gesamten Diskussionsverlauf mitschwingend fragten sich einige Teilnehmer*innen besorgt, weshalb so viele Menschen die AFD wählten. Vermutet wurde, dass die AFD eine Partei ist, die sich aus wahltaktischen Gründen bemüht, das ostdeutsche Narrativ zu akquirieren. Augenscheinlich versucht die AFD, sich als »DIE Stimme des Ostens« durchzusetzen. Mehrere Gesprächsteilnehmer*innen glaubten, dass die AFD nicht ausschließlich von rechtsextremen Mitbürger*innen ge6 7 8
Ebd., S. 37. Ebd., S. 27. Vgl. Ebd., S. 35f.
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wählt wurde, sondern auch von Menschen, die denken, dass sie nun, nach langer Zeit, endlich gehört und gesehen werden. Viele Diskussionsteilnehmer*innen äußerten ihre Sorge vor noch größerem politischem Einfluss der AFD bei weiterem Stimmenzuwachs. Während der Diskussion wies Kubiak auf eine zeithistorische Forschungslücke hin. Er stellte sich die Frage, weshalb es notwendig war, die Wiedervereinigung ziemlich schnell zu vollziehen. Nach der Wiedervereinigung halfen sogenannte Transfereliten, vor allem Verwaltungsbeamte aus der BRD, die demokratischen Strukturen der ostdeutschen Verwaltung aufzubauen, während viele ehemalige DDR-Bürger*innen ihren Arbeitsplatz verloren und sich umorientieren mussten. Es waren ihrerseits hohe Anpassungsleistungen an das neue politische Staats- und Wirtschaftssystem der BRD erforderlich. Ein Diskutant der Nachwendegeneration betonte, dass nach einer Studie 70 Prozent der DDR-Bürger*innen den Wunsch nach einem eigenständigen Staat besaßen. Die Wünsche vieler DDR-Bürger*innen wurden nicht gehört. Nach seiner Meinung fand keine gleichberechtigte Wiedervereinigung statt, sondern lediglich ein Beitritt zur BRD. Viele Diskussionsteilnehmer*innen teilten diese Auffassung. Eine Gesprächsteilnehmerin ergänzte, dass es ein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetztes war.9 Sie setzte sich damals für eine Wiedervereinigung nach Artikel 146 des Grundgesetzes ein. Die Gesprächsteilnehmerin erinnerte, dass vor der letzten Volkskammerregierung in der DDR bereits am Zentralen Runden Tisch ein Vorschlag für eine gemeinsame Verfassung erarbeitet wurde. Christa Wolf verfasste eine Präambel. Dort waren u.a. Fragen des Umweltschutzes manifestiert. Die Diskussionsteilnehmerin betonte, dass im Grundgesetz festgeschrieben ist, dass das Volk über eine Verfassung abstimmen solle: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«10 Es herrschte Einigkeit zwischen den Diskussionsteilnehmer*innen über die Notwendigkeit, eine gemeinsame Verfassung zu etablieren. Deutliche Zustimmung bekam der Satz einer Gesprächsteilnehmerin: »Ich glaube, diese Gesellschaft braucht Veränderung, und die können wir nur gemeinsam entwickeln.« 9
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»Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des bundesdeutschen Grundgesetzes nach Artikel 23 war ein möglicher Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands. Eine zweite Möglichkeit wurde durch Artikel 146 des Grundgesetzes eröffnet: die Ausarbeitung einer neuen, gemeinsamen Verfassung. […] Vom 3. Oktober 1990 an gab es im Grundgesetz zunächst keinen Artikel 23 mehr. Durch ein Gesetz vom 21. Dezember 1992, das am 25. Dezember 1992 in Kraft trat wurde der heutige Artikel 23 des Grundgesetzes, der sogenannte Europa-Artikel an seiner Stelle neu eingefügt.« (RBB o.J.) Art. 146 GG, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2019.
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Reflexion der Inhalte mit Bezug zur Profession Psychosoziale Beratung, als Teildisziplin der Sozialen Arbeit, schließt einen politischen Bildungsauftrag mit ein. Staub-Bernasconi erweiterte das Doppelmandat der Sozialen Arbeit (Mandat der Gesellschaft/Träger vs. Mandat der Klient*innen) zu einem Tripelmandat. Das Dritte Mandat, die »Verpflichtung gegenüber der Profession als solche«11 , steht für »selbstdefinierte Aufträge seitens der Profession«.12 Es beinhaltet u.a. die Einhaltung des Berufskodex sowie die Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte.13 So eröffnet das dritte Mandat politische Teilhabe als Querschnittsaufgabe der Profession. Die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) betont, dass sich »Beratung an Menschen- und Grundrechten sowie den Erfordernissen von Gerechtigkeit und Partizipation«14 orientiert. Auch die Berufsethik des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH) definiert eine professionelle »Haltung zum politischen Einsatz für eine menschenwürdige Gesellschaft.«15 »Ziel ist die Befähigung der Menschen, ihr Leben in freier Entscheidung zu gestalten und ihr eigenes Wohlbefinden und die Lebensqualität zu stärken.«16 Im Beratungskontakt werden die psychosozialen Anliegen der Ratsuchenden mit dem Ziel der Stärkung der Selbstermächtigung der*des Ratsuchenden bearbeitet. Die DBSH verankert in den berufsethischen Prinzipien: »Die Professionsangehörigen ermöglichen, fördern und unterstützen durch ihr professionelles Handeln in wertschätzender Weise Menschen zu ihrer Selbstbestimmung und Teilhabe. Daraus ergibt sich die Verpflichtung zur Stärkung und Befreiung der Menschen.«17 Zur Verbesserung der individuellen Situationen der Ratsuchenden kann es notwendig sein, sie im Beratungskontakt zu befähigen, als »politische Menschen« durch politische Teilhabe gesellschaftliche Prozesse anzustoßen, um strukturelle Veränderungen zu initiieren. Oskar Negt beschreibt mit folgenden Worten Merkmale des »politischen Menschen«: »Kein Mensch wird als politisches Lebewesen geboren, deshalb ist politische Bildung eine Existenzvoraussetzung jeder friedensfähigen Gesellschaft. Das Schicksal einer lebendigen demokratischen Gesellschaftsverfassung hängt wesentlich davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Sorge tragen, dass mit der berechtigten Realisierung eigener Bedürfnisse und Interessen das Gemein-
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Staub-Bernasconi 2017, S. 42. Ebd. Vgl. ebd. Deutsche Gesellschaft für Beratung o.J., S. 2 Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit 2014, S. 27. Ebd. Ebd., S. 30.
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wesen nicht beschädigt wird, in welchem Maße sie also bereit sind, politische Verantwortung für das Wohlergehen des Ganzen zu übernehmen.«18 In den Gruppendiskussionen, im Rahmen der Forschung zur Identität und Identifikation der Nachwendegeneration, berichteten Angehörige der Nachwendegeneration, dass sie sowohl aus den Medien als auch aus der Schule überwiegend negative Aspekte des Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik erfahren. Betont werden besonders Defizite. Kubiak fasst zusammen, dass Westdeutschsein als Norm postuliert wird, der Osten als davon abweichend konstruiert und aus dieser Norm ausgeschlossen wird.19 Ostdeutschsein wird aus westdeutscher Sicht überwiegend als negativ bewertet. Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger*innen werden entwertet, sie werden ihrer öffentlichen Ausdrucksmöglichkeiten langfristig beraubt. Der politische Bildungsauftrag der Beratung legt nahe, gemeinsam mit den Ratsuchenden ein Bewusstsein für Beeinflussung zu entwickeln, sie darin zu unterstützen, (selbstbewusst) unabhängige Informationsquellen zu finden sowie vielfältige Informationsmöglichkeiten zu nutzen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Ostdeutsche besser die Westdeutschen imitierten, da sie als Minderheitsgruppe über immanentes Wissen beider Gruppen verfügen. Den Westdeutschen gelang es weniger, die Ostdeutschen zu imitieren. Vermutlich können sie wenig Wissen über die Minderheitsgruppe abrufen. Die westdeutsche Nachwendegeneration definiert ihre westdeutsche Identität über das Anderssein der Ostdeutschen (Othering). Soziale Arbeit kann im Rahmen ihres politischen Bildungsauftrags einen Beitrag leisten, Lernprozesse zu eröffnen, welche es der Mehrheitsgruppe ermöglichen, besser über die Kultur der Minderheit informiert zu sein. Abwertungstendenzen können so aufgedeckt werden und Ostdeutsche sowie Westdeutsche entwickeln gegenseitiges Verständnis. Psychosoziale Beratung und Soziale Arbeit geben Kraft, vermitteln Sachwissen, eröffnen Lernprozesse und bieten Orientierung. Die Professionen könnten durch Hilfestellungen zur Kompetenzentfaltung die Herausbildung der Klient*innen zu politischen Menschen unterstützen. Die beschriebenen Überlegungen können mittel- und langfristige Aufträge der psychosozialen Beratung sowie der Sozialen Arbeit sein. Es kann zu Synergieeffekten zwischen kurz- und langfristigen Zielen der Professionen kommen. Aus dem Referat und der angeschlossenen Diskussion leite ich folgende Gedanken für die kurz- bis mittelfristige Beratung ab: DDR-Bürger*innen waren nach der Wiedervereinigung häufig fundamentalen Umbrüchen ausgesetzt. Hier zeigt sich die Wichtigkeit, kultursensibel zu beraten:
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Negt 2019, S. 28. Vgl. Kubiak 2018, S. 31.
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Adressat*innen der Beratung, die Verluste beklagen, bedürfen der Würdigung ihrer Leistungen und der Annahme ihrer Empfindungen, um im Anschluss deren aktuelle Anliegen gemeinsam bearbeiten zu können. Gelingende Lernprozesse benötigen eine emotionale Grundlage, um den angestoßenen kognitiven Prozessen Dynamik und Stabilität zu verleihen. Auf dieser Grundlage ist es langfristig möglich, die Ratsuchenden zu befähigen als politische Menschen gesellschaftliche Prozesse anzuregen. Die Anpassungsleistungen der Bürger*innen aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an das neue politische System der Bundesrepublik könnten im Beratungsprozess artikuliert und als besondere Leistungen ihrer Biografie anerkannt werden. Wird jedoch ein eventuelles Misslingen der Anpassung als persönliches Versagen empfunden, kann die Beratung, um Versagensängsten vorzubeugen bzw. diese abzumildern, eine andere Sichtweise eröffnen. So ist zum Beispiel eine Anpassung manchmal schlichtweg nicht möglich und hat mit eigenem Versagen nichts gemein. Beratung sollte die jeweilige Situation der Ratsuchenden berücksichtigen. Bei westdeutschen Adressat*innen kann das Anliegen fokussiert und wenn erforderlich auf die individuellen biographischen Ereignisse eingegangen werden, während der*die Berater*in im Kontakt mit ehemaligen DDR-Bürger*innen die durch den Systemwechsel bedingten Einschnitte ihrer Biografien besonders im Auge behalten sollte.
Ausblick Politische Bildung als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit und Beratung erweitert die Autonomiefähigkeit der Adressat*innen. Das Erkennen ihrer Interessen und Bedürfnisse sowie der selbstbewusste Ausdruck derer werden gefördert. Die Adressat*innen entwickeln individuelle Veränderungsziele und die Leidenschaft, diese Ziele zu erreichen. Jedoch stellt sich für mich die Frage: Was nutzt ein durch Beratung politisch leidenschaftlich gewordener Mensch, wenn die Gestaltungsmacht und Wirkmächtigkeit der Gesellschaftsmitglieder eingeschränkt ist? Im Referat und in der Diskussion wurde eine starke Ausprägung der Abwertung ostdeutscher Lebensverhältnisse deutlich. Empörungen über Abwertungserfahrungen und strukturelle Unterschiede waren während der Diskussion spürbar. Die Bundeszentrale für politische Bildung, die Wochenzeitung Die Zeit und die Deutsche Bundesbank stellten eine unterschiedliche Einkommens- und Vermögensverteilung zwischen den Bürger*innen der alten und neuen Bundesländer fest. Fazit: Der Osten hat die Verhältnisse der alten Bundesländer noch nicht erreicht:
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»Bei der differenzierten Betrachtung der gesamtdeutschen Einkommensverteilung sind weiterhin Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zu beobachten.«20 »Ein Vollbeschäftigter im Osten hat monatlich im Schnitt 1.000 Euro brutto weniger als einer aus dem Westen […]. Eine Fachkraft verdient in den neuen Ländern bislang durchschnittlich 34.308 Euro im Jahr […]. Im Westen sind es 42.968 Euro. Ein Fünftel mehr.«21 »Der Medianhaushalt im Osten Deutschlands kam im Jahr 2017 auf ein Vermögen von 23.400 €, der Medianhaushalt im Westen dagegen mit 92.500 € auf etwa viermal so viel.«22 Weitere Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern sind in der Repräsentation Ostdeutscher in elitären Positionen zu beobachten. Die Autoren Gebauer, Salheiser und Vogel liefern eine Bestandsaufnahme ostdeutscher Eliten: »Ein wesentliches Ergebnis dieser Bestandsaufnahme ist die markante und anhaltende Unterrepräsentation von Ostdeutschen in den Eliten der ostdeutschen Bundesländer, aber auch im gesamten Elitesystem der Bundesrepublik Deutschland.«23 Auch Die Zeit stellte fest, dass Ostdeutsche in Führungspositionen unterrepräsentiert sind: »Nur ein Bruchteil der Führungsposten in der Bundestagsverwaltung ist mit Ostdeutschen besetzt. […] In den Führungsebenen der Bundestagsverwaltung arbeiten […] fast keine Ostdeutschen.«24 Negt verweist darüber hinaus darauf, dass Politiker*innen an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verlieren. Der Verlust des Vertrauens in den Legitimationsanspruch der Institutionen sowie der Glaubwürdigkeitsverlust der Politiker*innen entspringen vermutlich der Antiquiertheit des Selbstverständnisses von Politiker*innen.25 Die erwähnten Unterschiede zwischen Ost und West, die überwiegend vorherrschende Einheitsfiktion, die Empörung der Bürger*innen sowie der Glaubwürdigkeitsverlust von Politiker*innen liefern Hinweise darauf, dass die politische Kultur, sowie Maßnahmen der politischen Bildung nur unzureichend dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen in den alten und neuen Bundesländern aneinander anzugleichen. Für die Politikwissenschaftlerin Ute Scheub macht die Demokratie in der Bundesrepublik noch einen sehr ausbaufähigen Eindruck.26 Scheub kritisiert das Fehlen des wichtigsten Elements der Demokratie: »[…] die Anerkennung, dass die Be20 21 22 23 24 25 26
Bundeszentrale für politische Bildung 2018. Hähnig, Anne; Machowecz, Martin u. Valerie Schönian 2018. Deutsche Bundesbank 2019. Gebauer, Ronald; Salheiser, Axel u. Lars Vogel 2017, S. 28. Die Zeit (2018). Vgl. Negt 2010, S. 528. Vgl. Scheub 2018, S. 56.
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völkerung der oberste Souverän ist, dass sie mit bundesweiten Volksbegehren das erste Wort und mit Referenden das letzte Wort haben sollte, um Parlament und Regierung zu korrigieren.«27 Die Wünsche und Forderungen der Bürger*innen als eigentlicher Souverän werden zwischen den Wahlen kaum wahrgenommen.28 Im alltäglichen Politikbetrieb fehlt die Einbindung der menschlichen Potenziale zur Konfliktregulierung, Problemlösung und Entscheidungsfindung.29 Alle Akteurinnen und Akteure bleiben weit unter ihren Möglichkeiten. Mausfeld geht noch weiter und sieht in der Bundesrepublik eine Umwandlung der Demokratie zur Autokratie. Er analysiert die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in der BRD wie folgt: »Demokratie bedeutet heute in Wirklichkeit eine Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten, bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind; damit liegen zugleich weite Teile der gesellschaftlichen Organisation unseres eigenen Lebens außerhalb der demokratischen Sphäre.«30 Bürger*innen vor Ort haben kaum die Möglichkeit mit ihren Wahlentscheidungen auf Handlungen der Wirtschaft, die das Leben im Gemeinwesen zentral mitbestimmen Einfluss zu nehmen sowie Bereiche der Wirtschaft mitzugestalten. Die demokratische Leitidee der Aufklärung stellt das Bemühen in den Vordergrund, unterschiedliche (Partikular-)Interessen und Perspektiven auf friedlichem Wege miteinander zu verbinden. Der Austausch darüber, wie diese miteinander in Einklang gebracht werden können, findet im öffentlichen Debattenraum einer Demokratie statt. In diesem Raum sollten sich die Menschen frei und gleichberechtigt austauschen können.31 Scheub, Mausfeld und Negt erläutern in ihren Werken, dass der politische Debattenraum (Masufeld), der Raum der Verständigung (Scheub) bzw. der öffentlich ausgetragene Prozess zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaftsordnung (Negt) heute sehr eingeschränkt und verengt ist, viele Bürger*innen hätten keinen Zugang dazu. Die Autor*innen fordern mehr öffentliche Räume zum politischen Austausch und sehen da die politische Bildung noch mehr im Zugzwang. Die Einengung des politischen Debattenraumes, sowie den Ausschluss von Menschen aus diesem aufzudecken, könnte eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung sein. Politische Bildung ist notwendig, um den eingeschränkten
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Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Mausfeld 2019, S. 8. Vgl. ebd., S. 8f.
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öffentlichen Austausch zu erweitern und die Menschen zu befähigen, sich mit umfassenden Informationen kompetent in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Negt erläutert zur politischen Bildung: »Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt. Wo leben wir? Was sind die bestimmenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Wenn diese Fragen als modernisierungsschädlich ausgegrenzt werden, ist politische Bildung lediglich Verdoppelung der Realität«32 . Ein Gelingen der gesellschaftlichen Organisation unseres eigenen Lebens schließt das Stellen der Systemfrage mit ein. Soziale Arbeit und psychosoziale Beratung können mit ihrem politischen Bildungsauftrag dazu beitragen, dass zusammen mit dem Stellen der Systemfrage neue Perspektiven und Chancen für die friedliche Weiterentwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik entwickelt werden können. In der Diskussion zum Referat herrschte unter den Gesprächsteilnehmer*innen Einigkeit über die Notwendigkeit der Etablierung einer gemeinsamen (nachträglichen) Verfassung. Die Entwicklung einer gemeinsamen Verfassung könnte dem öffentlichen politischen Debattenraum notwendige Impulse zu einer Erweiterung liefern. Nach Scheub sollte eine Verfassung vor ihrem in Kraft treten durch die Bevölkerung als oberster Souverän per Volksabstimmung legitimiert werden.33 Um die Wirkmächtigkeit und Gestaltungsmacht der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen, scheint es sinnvoll und notwendig, die parlamentarische Demokratie durch eine partizipativere, inklusivere, mitbestimmendere und direktere Demokratie zu erweitern.
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Ebd., S. 25. Vgl. Scheub 2018. S. 91.
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Rundfunk Berlin-Brandenburg RBB (Hg.) (o.J.): »Artikel 23 Grundgesetz in: ›Chronik der Wende‹ Lexikon« https://www.chronikderwende.de/lexikon/glossar/gl ossar_jsp/key=art23.html (Abfrage: 11.06.2021). Scheub, Ute (2018): Demokratie. Die Unvollendete. München 2018. Staub-Bernasconi, Silvia (2017): Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft. In: LobHüdepohl, Andreas/Lesch, Walter (Hg.): Ethik Sozialer Arbeit – Ein Handbuch. Paderborn: utb, S. 20-54.
»Ich war immer nur ein Solist« Ein Interview mit Volker Keßling Erdmute Finning
Abb. 1: Volker Keßling
Foto: privat
Er habe zu DDR-Zeiten einen Bestseller geschrieben, sagt Volker Keßling, Autor des Buches »Tagebuch eines Erziehers«1 . Während der Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« liest er aus seinem neuen Buch.
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Keßling, Volker (1980): Tagebuch eines Erziehers, Berlin: Verlag neues Leben.
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»Die Bestattung eines Herings – Leben in drei deutschen Staaten« betrachtet die Biografie des Schriftstellers, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geboren wurde. Seine Kindheit verbrachte Keßling im Schatten des Krieges; er verlor einen Bruder in Italien, ein zweiter Bruder kam schwer verwundet wieder heim. Volker Keßling ist das jüngste von zwölf Kindern. Über seine Schulzeit sagt er, es seien »neun Jahre Angst« gewesen. Trotzdem wollte er studieren und es seinen Geschwistern gleichtun. Mit dieser Motivation und der hoffnungsvollen Zuversicht, dass das Lehrerdasein besser gestaltet werden könne, als er es selbst erlebt hatte, beginnt er über Umwege ein Studium am Institut für Lehrerbildung in Weimar. Seitdem kümmerte er sich zuerst um lernbehinderte sowie geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Später in Neubrandenburg als Behindertenbeauftragter der Stadt im Büro des Oberbürgermeisters fühlte er sich verantwortlich für die Belange aller Bürger*innen – er wollte einen »sozialen Mehrwert« für die Mitmenschen schaffen. Nach der Lesung am 13. November 2019 erklärt sich Volker Keßling für ein Interview bereit. Dabei erzählt er von seinem Leben, seiner Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und der Kooperation zwischen DDR und der Bundesrepublik.
Finning: Herr Keßling, vielen Dank, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. In Ihrem Buch »Von der Bestattung eines Herings – Leben in drei deutschen Staaten« beschreiben Sie unter anderem auch Ihre Zeit als Lehrer in der DDR. Können Sie davon mehr erzählen? Keßling: Also die Besonderheit ist die, dass ich von Anfang an eigentlich im Sonderschulbereich arbeitete, obwohl ich dafür noch nicht ausgebildet war. Ich habe also zwei Jahre in verschiedenen Schulen in Roßleben und in Bad Frankenhausen gearbeitet und danach bin ich noch mal zum Studium nach Berlin gegangen, um den Abschluss als Sonderschulpädagoge zu haben. Dann kam ich zurück in meine Heimatstadt Artern in Thüringen. Da hatte der frühere Schulleiter einen Bock geschossen. Jedenfalls war die Stelle vakant und ich wurde sofort der Herr Schuldirektor. Ja, das war nicht so einfach. Da musste ich kleine Rotznase den alten erfahrenen Lehrern vorschreiben, was sie für Unterricht machen, in welchen Fächern und in welcher Zeit. Ewig saß ich über der Stundentafel, um alles einzuordnen. Und ich hatte den Eindruck, dass man mehrere Jahre braucht, ehe man das eigentlich so richtig kann und sich mit den Lehrern dann auch gut verständigt. Finning: Was haben Sie denn vorher, bevor Sie das Studium gemacht haben, unterrichtet? Woher hatten Sie die Kompetenzen zu unterrichten? Keßling: Ich ging zuerst nach Rostock und arbeitete dort bei der Bauunion als Hilfsarbeiter am Überseehafen. Da muss ich einen guten Eindruck gemacht haben. Jedenfalls meinte man dort, ich sei zu mehr fähig als das und man könnte mich zu
»Ich war immer nur ein Solist«
einer Ausbildung befördern. Ich war jedenfalls ein Vertreter der Arbeiterklasse und war würdig zu den Federn der Wissenschaft zu greifen.Außerdem habe ich nebenbei gerne gesungen, hatte Gesangsunterricht und hatte mich auch an der Musikhochschule in Berlin beworben. Bei der Aufnahmeprüfung war ich nicht so sehr erfolgreich. Als Chorsänger hätten sie mich genommen, aber nicht als Solist. Ich bin der Meinung, ein Keßling ist immer nur ein Solist und niemals ein Chorsänger. Also habe ich das gelassen, hab mich in Weimar beim Institut für Lehrerbildung beworben. Nach drei Jahren hatte ich meinen Abschluss als Lehrer, mit der Bewertung »sehr gut«. Ich war der Beste von allen 300 Studenten und habe dann angefangen, in Roßleben in einer Schule zu arbeiten. Das war ganz nett. Ich hatte eine siebte und achte Klasse zusammen in einem Klassenraum, wie das so früher in Dörfern war. Es gab nicht so viele Kinder und so hatte man mehrere Altersstufen in einer Klasse. Das bedeutete aber, dass diese unterschiedlich bedient werden mussten, entsprechend ihrer Entwicklungsstände. Das war eine nette Schule oben auf dem Berg, eine alte Villa. Alle trugen Hausschuhe. Der Hausmeister kochte für die Pause einen Kaffee oder einen Tee. Das war richtig gemütlich. Für eine Sache schäme ich mich allerdings. Ich habe mal einen Schüler, der direkt vor mir saß, eine Ohrfeige gegeben. Der war gar nicht schuld. Eigentlich war ich blöd, nicht die Kinder. Na, jedenfalls meinten auch in Roßleben alle, ich sei zu Höherem fähig. So wurde ich auserwählt, zur Humboldt-Uni zu gehen und ein Sonderschulpädagogikstudium aufzunehmen. Dann war ich noch ein Jahr in Bad Frankenhausen und danach ging ich nach Berlin für zwei Jahre. Ich wohnte, wie es sich gehört, im Prenzlauer Berg. Das war interessant, das Studium. Ich hätte eigentlich gerne mein Leben lang weiter studiert. Das Studienfach nannte sich damals Rehabilitationspädagogik. Das habe ich erfolgreich abgeschlossen. Nebenbei habe ich kleine Geschichten geschrieben. Eine Geschichte habe ich mal den in der DDR bekannten Schriftstellern Arnold Zweig und Anna Seghers geschickt. Beide haben mir zurückhaltend positiv geschrieben, ich solle das mit dem Schreiben doch probieren. Arnold Zweig schrieb mir: »Sie sind ein ordentlicher Schriftsteller auf dem Anmarsch«. Das war typisch Arnold Zweig. Völlig andere Generation. Jedenfalls kam ich dann zurück und wurde Schuldirektor. Und das blieb ich mit meinen Ideen für fünf/sechs Jahre. Ich weiß nicht mehr genau. Meine Idee war jedenfalls immer: Integration. Denn wer ausgesondert wurde, kam zu DDR-Zeiten in eine Sonderschule, wurde also aus seinem sozialen Milieu herausgenommen und in ein künstliches, staatlich verordnetes Milieu geschickt. Dort sollte er soziale Kompetenz erlernen, was natürlich ein Unding ist. Soziale Kompetenz kann man nur erlernen, wenn man in der sozialen Gemeinschaft lebt, in die man hineingeboren ist. Die Kinder und Jugendlichen wurden unterschiedlichen Sonderschulen zugeordnet, die in
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A, B und C gegliedert wurden. Einige galten als nicht-schulbildungsfähig. Es gab sogar welche, die galten als überhaupt nicht bildungsfähig. Das ganze System, das sagte mir nicht zu. Ich war der Meinung: Wir bilden und erziehen alle Kinder. Egal wie sie sind. Egal wie viel sie können. Egal welche geistige, körperliche oder sonstige Behinderung sie haben. Die soziale Kompetenz ist das Entscheidende. Aber die Sonderschüler von damals blieben ihr Leben lang Außenseiter, weil sie nie gelernt haben in einer Gemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden, zu leben. Oder nur mit sehr viel Mühe. Jedenfalls habe ich das ein paar Jahre gemacht und eckte immer wieder an. Auf der einen Seite mit dem Schulrat, der mir erklärte, für die geistig Schwerbehinderten sei ich nicht zuständig, das sei Aufgabe des Gesundheitswesens. Auf der anderen Seite mit dem Kreisarzt. Der Kreisarzt meinte, für die geistig schwerbehinderten Kinder sei er zuständig. Somit sei er auch zuständig dafür, alle Äußerungen zu kontrollieren, die ich von mir gebe. Ich hatte für eine Medizinzeitschrift Artikel geschrieben und der Kreisarzt meinte, die solle ich ihm erst vorlegen, ehe ich diese veröffentliche. Das habe ich natürlich nicht getan. Ich habe mich dann in verschiedenen Nervenkliniken und anderen Einrichtungen beworben. Mein Ziel war es, für die geistig Schwerbehinderten zu sorgen und einen Schritt zu ihrer Integration zu gehen. Ich fand eine Stelle in Neubrandenburg. Die suchten jemanden, der sich um die geistig Schwerbehinderten der Stadt kümmerte. Die Stadt hatte fast 100.000 Einwohner. Das war also schon eine ordentliche Aufgabe. Und dann habe ich begonnen, in Neubrandenburg Einrichtungen zu schaffen, wo geistig Schwerbehinderte auch eine pädagogische Betreuung erfuhren. Wir hatten alle Freiheiten. Es gab bei uns keine Pioniere, keine FDJ, keine politischen Vorschriften. Auch die Obrigkeit kam nicht gerne zu uns, denn manche Kinder so zu sehen, war für Außenstehende ein Problem. Für mich eigentlich nicht. Das danke ich wahrscheinlich meiner Mutter. Jedenfalls lebten wir in einer Nische der Gesellschaft und lebten da sehr gut. Wir kriegten alles, was wir brauchten, auch genug Geld. Selbst in der pädagogischen Arbeit konnten wir machen, was wir uns einfallen ließen. Das war jedenfalls eine ganz großartige Sache. Wir hatten eine ausgezeichnete ärztliche Betreuung. Zu uns kamen auch regelmäßig eine Zahnärztin und eine Augenärztin. Letztere war übrigens Volkskammerabgeordnete. Das war nicht verkehrt. Wir hatten gute Verbindungen nach oben. Und es hieß auch bei uns immer, wir machen das, was wir für richtig halten, nicht das, was das Ministerium sagt. Das war eine Form der Rechtsbeugung, aber das war eine positive Rechtsbeugung. Es gab in der DDR eben auch leider jede Menge negative Rechtsbeugungen. Das ist ein staatliches Problem, die Bevormundung. Wir aber hatten alle Freiheiten. Wir machten Ferienlager mit den Kindern. Das fand der Gesundheitsminister hervorragend und zeichnete mich aus mit einem Orden und ernannte mich zum Diplom-Psychologen. Warum, weiß ich nicht.
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Ich fuhr dann in den Kreisen des Bezirkes Neubrandenburg rum und wir schauten uns alte leerstehende Gebäude an, mit der Aufgabe zu prüfen: Kann man daraus eine Tagesstätte machen? Denn das Ziel war, dass jeder Kreis im Bezirk eine Tagesstätte für geistig behinderte Kinder bekommt und kein Kind mehr nach Ueckermünde in die Nervenklinik muss, wo die Bedingungen katastrophal waren. Das haben wir alles Stück für Stück aufgebaut. Ich war dann Fachberater für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern beim Bezirksarzt. Das war aber bloß so nebenbei. In der Hauptsache war ich Leiter der Tagesstätte bis 1988. Diese wurde immer größer. Wir hatten bald nicht nur eine Tagesstätte, sondern auch eine geschützte Werkstatt für Mädchen. Diese machten Hilfsarbeiten für die Klinik, also Binden rollen, Platten legen. Eine geschützte Werkstatt hatten wir darüber hinaus beim Dienstleistungskombinat. Dort montierten sie zum Beispiel Föhne, die hießen in der DDR »Luftdusche«. Und dann hatten wir noch eine in einem Fleischverarbeitungsbetrieb. Es entstanden im Land überall geschützte Werkstätten. Oft arbeiteten in diesen nur bis zu neun junge Menschen. Nach der Wende wurde uns erklärt, nur mit 60 Behinderten in einer Werkstatt sei es wirtschaftlich vertretbar. Was wir aber hatten, das waren eben diese kleinen Einrichtungen, die vielen, die sozial so sehr gut waren. Die waren wirtschaftlich nie vertretbar, aber sozial. Und ich war der Meinung: Wichtig ist das Soziale, nicht das Wirtschaftliche. Jedenfalls wurden wir immer größer und da wurde beschlossen, dass das ein Betrieb wird: ein Rehabilitationsbetrieb. Ich muss noch anmerken – ich hatte davor ein Buch geschrieben, das sehr erfolgreich war, Auflage 100.000. Das erschien 1980. Dadurch bekam ich noch mehr Freiheiten. Ich war seitdem nicht nur Leiter der Tagesstätte und Berater des Bezirksrates, ich war auch ein Autor und Kandidat des Schriftstellerverbandes. Dieses war mit sehr vielen Privilegien verbunden. Wenn man auf die Idee kam, ich müsste mal gucken, wie das in den europäischen Staaten mit der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ist, dann wurde ich dahin geschickt, wo ich hinwollte. So war ich 14 Tage in Budapest, 10 Tage in London. Dafür sorgte der Schriftstellerverband. Ich bin gefragt worden – Was will ich als Schriftsteller? Da habe ich geschrieben: Aufklärung! Aufklärung über dieses gewöhnliche Menschsein! Auch für den Menschen, der nur ein Bein hat oder nur einen Arm oder auch nicht den Verstand hat. Darüber wollte ich schreiben und über Mitmenschlichkeit! Dann habe ich das Kinderbuch geschrieben: »Rene ist mein Bruder«. Der Bruder ist geistig schwer behindert. Morbus Down, wie man das damals nannte. Und dann hatte ich noch ein zweites Kinderbuch geplant. Das betraf das Integrieren in die Schule. Dieses erschien aber erst 1992, beim Jungbrunnenverlag in Österreich. Zu DDR-Zeiten konnte das Buch nicht erscheinen, also unter der Volksbildungsministerin Margot Honecker.
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Dann wurde ein Mediziner berufen, der sollte Direktor des Rehabilitationszentrums werden. Ich bin mit dem einmal durch die Tagesstätte, um ihm zu zeigen, was seine betriebliche Verfügung wird, wenn er Direktor ist. Ich fragte, wollen wir nicht mal, Herr Doktor, reingehen zu den Kindern und gucken? Die spielen gerade oder lernen oder machen dies und das. Da sagte er zu mir: »Herr Keßling, das werden Sie nie erleben, dass ich einen solchen Gruppenraum betrete. Meine Aufgabe ist, darüber zu wachen, dass die sozialistische Gesetzlichkeit eingehalten wird.« Das war also das Gegenteil von all dem, was ich im Kopf hatte. Zu der Zeit hatte ich schon länger Kontakt nach Weitin. Dort entstand ein kirchliches Heim. Und mir hatte schon früher mal die Kreisärztin gesagt: »Herr Keßling, Sie können sich ja mal umhören, was denn die Kirche so in Sachen unserer behinderten Kinder macht. Sie sind doch offen für solche Fragen.« Ja, dafür war ich natürlich offen, für diese Fragen. So ergab sich, dass ich nach Weitin ging. Dann kam die Wende, und es wurden Behindertenorganisationen gegründet. In Neubrandenburg entstand der erste Behindertenverband. Damals wurde zu mir gesagt, dass wir einen Vertreter in der Politik brauchen, der die Interessen von Menschen mit Behinderung im Auge hat. Ich wurde gefragt, ob ich das machen würde. Ich habe ein bisschen hin und her überlegt und dann zugesagt. So wurde ich Behindertenbeauftragter im Büro des Oberbürgermeisters der Stadt Neubrandenburg. Das blieb ich dann für zehn Jahre bis zum Ruhestand und war für eigentlich alles zuständig. Zwei wichtige Sachen gab es. Alle Druckvorlagen, die in die Stadtvertretung kamen, und bei denen es um Bauprojekte ging, wurden auch mir zur Kontrolle vorgelegt. Ich konnte mir die Druckvorlagen angucken und dann sagen: »Nee, nee, da fehlt der Paragraph, der festschreibt, dass die Geschäfte zugänglich sein müssen: für Rollstuhlfahrer genauso wie für Kinderwagen. Der schöne Steg im Landschaftspark, der darf auch keine Stufen haben und muss zugänglich für alle sein.« Meine Aufgabe war es auch dafür zu sorgen, dass eine Schule gebaut wird. Diese hieß dann »Schule für individuelle Lebensbewältigung«. Das war der erste Schulneubau, glaube ich, der gemacht wurde. Ich wurde auch gefragt, ob ich Lust hätte, die Leitung der Schule zu übernehmen. Aber das wollte ich nicht. In der Stadtverwaltung habe ich als Behindertenbeauftragter dafür gesorgt, dass heute in der Innenstadt von Ecke zu Ecke die Bordkanten abgesenkt sind, so dass man mit dem Rollstuhl halbwegs rüberkommt. Ich bin mit einem Rollstuhlfahrer, der hier im Stadtgebiet wohnt, in der Stadt rumgefahren und wir haben das ausprobiert und haben notiert: die Kreuzung, die Kreuzung. Und das ging dann auch in die Stadtvertretung. Die andere Sache war: Ich gehörte zu einer Gruppe von Behindertenbeauftragten, die regelmäßig mit den Ministerien redeten. Das heißt, alle Minister waren verpflichtet, auch mit uns zu reden, unter Leitung des Bürgerbeauftragten. Denn ein großes Problem war die Bauordnung und damit die Zugänglichkeit zu Gebäuden. Es hieß dann immer: »Ja, bei öffentlichen Ge-
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bäuden können wir das anordnen, aber privat kann jeder so viele Stufen bauen, wie er will. Und wenn er später mal im Rollstuhl sitzt, dann hat er Pech gehabt.« Da gab es keine Vorschriften. Es gab also viele Diskussionen darüber, ob man den Bürgern das vorschreiben darf oder nicht. Zu einer anderen Arbeitsgruppe hatte der Sozialdemokrat Björn Engholm, damals Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, eingeladen. Engholm meinte, wo können wir in der Arbeit und im Umgang mit Behinderten voneinander lernen? Wir trafen uns dann zu mehreren Ausschusssitzungen in Flensburg, in Timmendorfer Strand, in Rostock, in Stralsund und in Neubrandenburg. Von überall kamen wir zusammen, Behindertenbeauftragte, Bürgerbeauftragte und Vertreter der Ministerien, die wir dazu eingeladen hatten. Dann haben wir aufgeschrieben, was wir alles für gut halten. Ich hatte etwa dafür plädiert, dass man niemanden von der Wahl ausschließt. Der Westen meinte, geistig Behinderte dürften nicht wählen, weil sie nicht wissen würden, was gewählt wird und was das bedeutet, wenn gewählt wird. Ich war der Meinung, das wissen auch 30 Prozent der Bevölkerung nicht. Aber es wurde darauf bestanden, dass Listen gemacht werden, wer wählen darf und wer nicht. Das war für mich eine Aberkennung bürgerlicher Rechte. Ich vertrat die Auffassung: Das geht auf keinen Fall! Es hat sich heute ein bisschen gelockert. Glücklicherweise ist heute auch die behindertengerechte Zugänglichkeit zu öffentlichen Gebäuden eine Selbstverständlichkeit. Nur bei denkmalgeschützten Gebäuden ist es schwierig. Wir sagen dann spaßeshalber immer: »Wir kämpfen für die Zugänglichkeit der Eiger-Nordwand für Rollstuhlfahrer!« Das ist der gefährlichste Bergsteigerweg. Jedenfalls sollte die Tendenz immer dahin gehen, dass die Gesellschaft, in all ihren Facetten, für jeden zugänglich ist. Das ist ein sozialer Mehrwert! Wir haben die Zugänglichkeit eines Gebäudes nicht nur für die Rollstuhlfahrer gemacht. Das wurde uns immer vorgeworfen: »Ach ja, die! Für die alles! Und für uns interessiert sich niemand!« Dummes Gerede. Es geht dabei nicht nur um den Rollstuhlfahrer, sondern um alle Bürger. Denn wer mit dem Kinderwagen kommt, fährt in das Gebäude rein und ist mittendrin, ohne dass er über Stufen irgendwie Probleme hat. Wenn einer mit einem Koffer kommt, der ein bisschen groß ist, der kann auch problemlos rein. Wenn einer humpelt, kann er es auch. Das ist der soziale Mehrwert. Und wir müssen immer versuchen deutlich zu machen, was wir für Menschen mit Behinderungen wollen, dass man also Kennzeichnungen für Blinde hat oder Kennzeichnungen für Hörbehinderte, Hinweise, die darauf zielen, dass diese Menschen beachtet werden. Bei mir war mal ein Mann, der konnte nicht lesen und schreiben. Er war schon älter. Das Wohnungsamt hatte ihm einen Antrag wegen Wohngeld oder so in die Hand gedrückt. Er hat denen gesagt, dass er das nicht kann, das Ausfüllen. Ihm wurde dennoch nicht geholfen. Das geht nicht. Wenn man alles freundlicher, zu-
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gänglicher, informativer macht, Bodenindikatoren auch für Sehbehinderte setzt, damit sie an den Füßen merken, ist da eine Kante oder ist da keine Kante, dann hat auch das sozialen Mehrwert. Behindertenpolitik ist also nicht, wie immer gesagt wird, für Behinderte da, sondern alle profitieren davon. Denn so entsteht eine Gesellschaft, die freundlicher, liebevoller ist. Das ist aber noch ein weiter, aber vernünftiger Weg. Finning: Aber die Sonderschule, die es hier in Neubrandenburg gab, die gab es zu DDRZeiten noch nicht? Keßling: Nein. Als Schule für geistig schwerbehinderte Menschen gab es die nicht. Da gab es nur die Tagesstätte. Im Wesentlichen war das auch eine Namensgebungsfrage. Wir hatten eine Tagesstätte und aus der Tagesstätte wurde eine Schule für die individuelle Lebensbewältigung für geistig Schwerbehinderte. Finning: Ist die Schule für individuelle Lebensbewältigung das, was auch heutzutage als Förderschule angesehen wird? Keßling: Nein. Förderschulen gab es immer. Für die Lernbehinderten gab es die Förderschule, die hieß früher mal Hilfsschule. Da waren Lernbehinderte mit einem niedrigen IQ untergebracht, nicht unter 80, wenn man das so berechnen wollte. Die Rechnung ist aber Quatsch. Dann gab es die Schule für individuelle Lebensbewältigung, das war die Schule für die geistig Schwerbehinderten. Die waren ganz früher mal in der Hilfsschule Abteilung C integriert. Es gab verschiedene Hilfsschultypen für die behinderten Menschen in der DDR, so dass es ein ganzes System von Sonderschulen gab. Ich habe irgendwann mal gesagt: Die Sonderschule ist die Schule, die das Problem schafft, das sie zu verhindern vorgibt. Es gab eine extra Schule für Körperbehinderte, extra Schule für Blinde, extra Schule für Sehbehinderte, extra Schule für Hörbehinderte bis Gehörlose, extra Schule für Lernbehinderte, extra Schule für nicht-schulbildungsfähige Schwerstbehinderte und so weiter. Lauter Extras, außerhalb des sozialen Gefüges. Und das ist das Dumme und das Schlechte. Das gibt’s auch heute noch. Es mehrt sich aber das Bestreben zur Integration, also dass ein Lernbehinderter mit Anderen gemeinschaftlich unterrichtet werden kann in der Regelschule, in der Realschule oder egal welcher Schule. Aber es ist wenig, was sich da tut. Bei Rollstuhlfahrern macht man heutzutage eigentlich nicht mehr so viele Probleme. Wenn die Gebäude zugänglich sind, nimmt auch jede Schule einen Rollstuhlfahrer auf, weil man dann sagt: »Na ja, der ist ja intellektuell dem gewachsen, was wir machen.« Wenn es danach geht, wer was leisten könne, dann muss man wahrscheinlich auch so manchen in seinem Amt entfernen. Jedenfalls: Das Sonderschulsystem musste überwunden werden. Neulich hatte ich einen großen Streit mit meiner Frau, Tochter eines Pastors, die die DDR immer sehr viel kritischer sah als ich. Ich gehe da noch einmal zeitlich zurück in meine ersten Lehrerjahre: Über Kinderheime in der DDR wurde sehr negativ berichtet. Ich hatte eine Klasse Schulkinder in Bad Frankenhausen in Thü-
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ringen, das waren alles Heimkinder, oder fast alle waren Heimkinder aus einem Kinderheim. Es ging uns sehr gut. Und es ging denen auch ziemlich gut. Da waren Familiengruppen in diesem Heim. Das war richtig fortschrittlich. Gut geführt von anständigen Menschen. Von einem solchen Heim wurde nicht berichtet. Es wurde bloß negativ berichtet. Ungefähr so, als wäre die DDR ein einziges Gefängnis gewesen. So etwas gab es sicherlich auch. Aber nicht nur. Mein Heim wurde nicht erwähnt. Meine Frau meinte, es wäre schrecklich, wenn ich sage: Es gab auch positive Heime. Und es gab auch soziale Verhältnisse in Familien, wo man sagen muss, dass es besser war, das Kind nicht in der Familie zu belassen. Das gibt es in allen Ländern. Meine Frau sagt, ich rede die DDR schön. Nee. Ich möchte einfach nur eine realistische Darstellung. Und wir waren nicht alle blöd. Und wir waren auch nicht alle eingesperrt. Dass ich fünf Mal im Westen war, unter anderem also auch in England, das war sicher ein Sonderfall. Viele sagen, das durfte man überhaupt nicht. Ich jedenfalls konnte zum Geburtstag meiner Mutter in den Westen fahren. Finning: Beschreiben Sie doch bitte noch einmal die Gründe, warum Sie Lehrer geworden sind? Keßling: Ich war das jüngste von zwölf Kindern in der Familie. Meine Brüder hatten alle eine ziemlich ordentliche Karriere gemacht. Das wollte ich auch. Ich wollte studieren, obwohl ich in der Schule unmöglich war. Mein Notendurchschnitt war wahrscheinlich vier. Oft hatte ich Fünfen. Ich war so neidisch auf meine Geschwister. Zuerst begann ich eine Lehre. Da war ich ziemlich gut. Und auch in vielen anderen Zusammenhängen wurde ich eigentlich doch anerkannt und gelobt. Da dachte ich, wieso eigentlich nicht? Ich kann ja versuchen zu studieren. Und da wurde ich mit zehn Bänden Goethe unterm Arm von Rostock zu dem Institut für Lehrerbildung in Weimar geschickt. Da wurde ich gefragt: »Warum wollen Sie denn Lehrer werden?« Und da habe ich gesagt: Ich hatte in meinem Leben so viele beschissene Lehrer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nicht besser zu machen ginge. Und diese Begründung fanden die in Ordnung. So habe ich also drei Jahre in Weimar studiert und dann später noch in Berlin. Das war eigentlich eine ganz interessante Ausbildung. Denn ein Sonderschullehrer lernt auch etliches in Anatomie, in Physiologie und über die Funktionsweise des Zentralnervensystems und des Gehirns. Er weiß dann auch, wie man mit Epilepsie umgeht. Manchmal war ich zum Abendessen bei meinem Bruder. Der war inzwischen fertig mit dem Studium in Berlin. Das Abendessen bei ihm war billiger als mein eigenes. Da haben wir immer schön diskutiert und ich habe festgestellt, es ist eigentlich eine ganze Menge, was ich weiß, aber was er nicht weiß. Ich dachte immer, ein Psychiater sei jemand, der ziemlich alles wissen muss. Aber das ist nicht der Fall. Das bestätigte mir, dass mein Studium eigentlich ganz gut war, wenn auch mit manchen Beschränkungen. Wir haben zum Beispiel mal im Freundeskreis beschlossen, wir gehen nicht nach Herzberge zu den Vorlesungen in die Klinik. Wir gehen in die Charité. Wir fanden
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es interessanter, was die Charité in ihrem Programm bot. Da bekamen wir Ärger. »Es steht einem sozialistischen Studenten nicht zu, sich einfach auszusuchen, zu welchen Vorlesungen er geht«, wurde uns gesagt. Heute ist dies viel offener. Als ich dann irgendwann mit dem Zeugnis unterm Arm durch das Tor schritt, an den Brüdern Humboldt vorbei, da war ich ganz schön stolz auf mich. Finning: Und waren Sie denn ein besserer Lehrer als ihre Lehrer früher? Keßling: Ich hoffe das. Ich hoffe das sehr. Ich glaube, dass ich Verständnis für die Kinder aufbringen konnte, auch Verständnis für das Nicht-Können. In meiner Schulzeit hatte ich doch das Gegenteil erlebt. Nur im Sportunterricht war ich erfolgreich und bekam immer Einsen. Aber sonst war das eine schreckliche Zeit. Eigentlich neun Jahre Angst. Manchmal habe ich auch die Schule geschwänzt, aber sehr selten. Und durch meine persönlichen Erfahrungen habe ich immer Verständnis für diejenigen aufbringen können, die es nicht so gut konnten. Zudem hatte ich den Optimismus, dass aus ihnen auch noch etwas werden wird. Einem Schüler, der viele Fehler hatte, dem wurde mal von einer Kollegin nach der Korrektur eines Diktats gesagt: »Junge, was soll bloß aus dir werden, wenn du groß bist?« Der Junge hat sich das alles angehört und dann gesagt: »Ach, das findet sich alles!« Da hat er sicher auch recht. Es findet sich alles, mehr oder weniger. Bei mir hat sich das irgendwie auch gefunden. Beim Studium in Weimar da hatte ich nie eine andere Zensur in Psychologie als Eins, weder mündlich noch schriftlich noch sonst. Über drei Jahre. Also ganz so doof, wie ich das in meiner Schulzeit erfahren hatte, muss ich vielleicht dann doch nicht gewesen sein. Und ich denke, dass ich als Lehrer relativ vernünftig gearbeitet habe, denn an Auseinandersetzungen mit Schülern oder auch mit Eltern kann ich mich nicht erinnern. Finning: Herr Keßling, vielen Dank für Ihre Offenheit und die interessanten Ausführungen über Ihr Leben und Ihre Karriere. Diese vereint ja verschiedene Fachbereiche, nicht nur die der Pädagogik, sondern insbesondere auch die der Sozialen Arbeit.
Devianzerfahrungen und demokratische Öffentlichkeit im ländlichen Raum Die Ausstellung LETHE an der Hochschule Neubrandenburg Jens A. Forkel
In der Veranstaltungswoche zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR wurden die zahlreichen Forschungen und Initiativen der Hochschule in der Region mit der Gegenwart verknüpft. Wie es sich für Jubiläen gehört, waren dabei Erinnerungsarbeiten zentral. Das öffentliche Angebot einer Führung durch die Dauerausstellung LETHE, die seit 2017 an der Hochschule präsentiert wird, trat aus diesem vorrangig sozialwissenschaftlich geprägten Feld ein wenig heraus. Mit der Präsentation der Ausstellung war doch eher eine kulturhistorische Annährung an die 30 »Nachwendejahre« zu erwarten. Doch diese Vermutung wurde mit dem etwas reißerischen Titel, der Devianzerfahrungen und demokratische Öffentlichkeit in diesem Medium zu verbinden versprach, schnell wieder zunichte gemacht. Tatsächlich musste während der Führung durch die Ausstellung hierfür auch weiter ausgeholt und von der direkten Anschauung gelegentlich abgerückt werden. Nun ist mit diesem Beitrag Gelegenheit gegeben, die Hintergründe für diese Titelakrobatik offenzulegen und einen kurzen Einblick in die damit verbundenen Forschungen zu gewähren. Die Ausstellung entstand im Zuge eines Forschungsprojekts, welches unter dem Akronym LETHE firmierte.1 Dabei war dieses Label Auftrag und Mahnung zugleich, ist doch ›Lethe‹ einer der Ströme in der Unterwelt der griechischen Mythologie, der das Vergessen als Reinigung und als Bedrohung gleichermaßen symbolisiert.2 Das Projekt folgte einer Forschungsfrage, die aus vorangegangenen Untersuchungen im Rahmen der ›Landgesundheitsstudie‹ in den Jahren 2008 bis
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Forkel/Grimm/Elkeles 2017. Die Toten trinken vor Eintritt in den Hades das Wasser, welches die Erlösung und die Bedrohung des vollständigen Vergessens bringen. Der Schwesterfluss ›Mnemosyne‹ hingegen trägt alle Erinnerungen. Im ›Zauberberg‹ ist Vergessen heilende Reinigung: »Zeit, sagt man, ist Lethe, aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher.« Befreiung (Dante) und Reinigung steht aber immer auch gegen die Pathogenese neurologischer Erkrankungen im Alterungsprozess (siehe Forkel 2019b).
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2011 entwickelt wurde.3 Mit den sozialepidemiologischen Untersuchungen in 14 ländlichen Gemeinden des ehemaligen Bezirkes Neubrandenburg und Erhebungsdaten aus den Jahren 1973, 1994 und 2008 konnte gezeigt werden, dass trotz einer Modernisierung der Lebensführung die Lebenszufriedenheit und Gesundheit im Zeitverlauf und vor allem im innerdeutschen Vergleich vergleichsweise höher belastet waren und sind.4 Es konnte nachgewiesen werden, dass mit erhöhten sozioökonomischen Risiken negative Effekte für die Lebensqualität, Morbidität und Mortalität regional einhergehen.5 Und auch wenn sich die gesundheitlichen Unterschiede zwischen Ost und West weiter angleichen6 , sind diese Differenzen in der regionalen Verteilung von Gesundheitschancen zwischen wirtschaftlich prosperierenden und Regionen mit geringeren regionalen Wertschöpfungen eine nicht zu vernachlässigende Ungleichheitsdimension. Offenbar wurde die alte Disparität von Zentrum und Peripherie zunehmend einer Logik von Wachstum und Schrumpfung unterworfen, welche die sozialkritischen Aspekte dieser Entwicklung immer wieder gegen Planungs- und Verwaltungserfordernisse in den Kommunen ausspielte. Ein Schlagwort für diese Entwicklung war der Befund einer bewusst in der Verlaufsform zum Ausdruck gebrachten Peripherisierung.7 Damit sind die Zusammenhänge von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit als Ausdruck diskriminierender Alternsbedingungen anzusehen, die als territoriale gesundheitliche Ungleichheit die föderalen Grundsätze der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse existenziell auf die Probe stellen.8 So gerieten Grundprinzipien der Daseinsvorsorge in die Krise, welche neben den kommunalen Versorgungsstrukturen eben auch den Zugang zu Kultur, Bildung, Mobilität und Versorgung immer weiter relativieren mussten.9 3 4 5
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Elkeles et al. 2010. Elkeles et al. 2012. »Auch in einem reichen Land wie Deutschland, das zudem über gut ausgebaute soziale Sicherungs- und Versorgungssysteme verfügt, sind die Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen sehr ungleich verteilt« (Lampert/Koch-Gromus 2016, S. 151; vgl. Richter/Hurrelmann 2016; Mielck 2005). Robert Koch-Institut 2015. Keim 2006, Barlösius/Neu 2008, Kühn/Weck 2013. »Ausgedrückt in Jahren ist die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Kreisen mit hoher und niedriger Deprivation im Beobachtungszeitraum [1998/2000 – 2011/2013] bei den Frauen von 1,4 auf 1,7 Jahre angestiegen. Bei den Männern nahm diese Differenz von 2,6 auf 3,0 Jahre zu« (Kroll et al. 2017, S. 110). In der deutschen Verfassungs- und Verwaltungslehre hat von den späten 1920er bis in die 1970er-Jahre der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff Daseinsvorsorge als »sozialwissenschaftlich inspirierte Legitimationstheorie« von Herrschaft in der Industriegesellschaft (Kersten 2006) entfaltet. Forsthoff, Schüler Carl Schmitts, war bis Mitte der 1930erJahre glühender Nationalsozialist und Autor des Buches »Der totale Staat« (1934) (Kersten 2006).
Devianzerfahrungen und demokratische Öffentlichkeit im ländlichen Raum
Das wurde bereits in den begleitenden qualitativen Befragungen der ›Landgesundheitsstudie‹ deutlich. Die umfassenden Segregationseffekte des Alters, des Geschlechts und der Bildung haben im nordostdeutschen ländlichen Raum das Zusammenleben und die Lebenszuversicht in den zwei Jahrzehnten nach dem politischen Umbruch weitgehend negativ beeinflusst. Gerade in ländlichen Räumen führte die umfassende Deindustrialisierung10 und der agrarindustrielle Umbau im Zuge der ostdeutschen Transformation11 zu einem massiven Arbeitsplatzabbau und zu einer fortschreitenden Zentralisierung der Institutionen der Daseinsvorsorge. Vor allem die vergleichsweise besser gebildeten jüngeren Einwohner*innen wanderten in Zentren mit adäquaten Arbeits- und Bildungsangeboten ab. Die Auswirkungen der Regression und die Entwertung der ländlich-peripheren Lebensräume auf die Menschen waren immens. Die Privatisierung der Risiken im neoliberalen Wohlfahrtsstaat verunsicherten die zumeist an Haus und Hof gebundenen Menschen nach der kollektivierten Verantwortung in den LPG-Dörfern12 nicht nur im Privaten, sondern beeinflussten ebenso den sozialen Zusammenhalt in der Gemeinde. Bald verschlossen sich die Gelegenheitsstrukturen des Gemeindelebens: der Konsum, das Kulturhaus, die Kinos, Diskos und Kneipen. Schulen wurden geschlossen, die Agrarbetriebe übertrugen die schwere Landarbeit an moderne Maschinen, und langsam wurde es stiller in den Dörfern. Allein der ›Lebensqualitätsgewinn‹ durch diese Ruhe und der vermeintliche Zusammenhalt der Nachbarschaft sollten nun die Defizite in der Versorgung und in den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten ausgleichen.13 Das war natürlich zynisch und doch eng verbunden mit der Romantik des Dörflichen.14 Man kann eben weder allein noch mit den Wölfen bowlen.15 Die Marginalisierung der Lebenslage am Rande führte zu Erfahrungen der Ausgegrenztheit, auf die mit weiteren Rückzügen reagiert wurde. Diese Selbstausgrenzung verdeutlicht die Habituierung von Vernachlässigung, da mit der zunehmenden Nichtbeteiligung in den demokratischen Institutionen der kommunalen Interessenvertretungen die Spirale der Kapitalvereinsamung im Sinne einer Mitsprache, eines Miterlebens, auch in anomische Verhältnisse führen konnte.16 Antiinstitutionelle Reflexe und die politische Distanz der (ausgedünnten)
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Ewald 1998, Land 2003, Mertens 2020. Land 2002. D.i. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG). Forkel/Maureen 2014. Nell/Weiland 2014. So das Plädoyer für eine Stärkung des sozialen Kapitals in dörflichen Gemeinschaften mit Rekurs auf Putnams »Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community« aus dem Jahr 2000 und der Bezeichnung des ländlichen Raums als Wolferwartungsland, in dem in Zukunft den Menschen eine Nebenrolle zugedacht wäre (vgl. Brauer 2015). Vgl. Merton 1995, S. 169-183.
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Vertretungsinstitutionen kollektivieren diese Devianzerfahrungen über die rhetorische Dichotomie von Oben und Unten hinaus. Insofern sind in den peripherisierten Kommunen der »Nachwendezeit« Formen einer ritualisierten und rückzügigen Anpassung an den gesellschaftlichen Diskurs zu verzeichnen, die nach und nach rebellische Formen annehmen konnten.17 Die Folgen der rebellischen Ablehnung der kulturellen Ziele und der institutionellen Mittel zeitigen die Erfolge rechter Bewegungen und Parteien, die wohl in den Städten ihre Öffentlichkeit fanden, doch weitgehend auch von Teilen der ländlichen Bevölkerung gestützt wurden.18 Das unterstreicht eine im Modernisierungsprozess bürgerlicher Gesellschaften jahrhundertealte Dynamik, die nicht erst seit Marx die Entgegensetzung von Stadt und Land als Gradienten des Fortschrittes der bürgerlichen Vergesellschaftung definiert.19 Doch gerade die Zentralisierung demokratischer Revolutionen unter dem Leitbild des Humanismus im Städtischen stellt immer wieder die Frage nach der Ausgestaltung einer demokratischen Öffentlichkeit im dörflichen Sozialraum.20 Damit war ein Problemfeld aufgespannt, welches allein mit Sicht auf Gesundheit, soziale Kohärenz oder Regionalentwicklung nicht zu erfassen war. Es musste ein Ansatz gefunden werden, der die noch weitestgehend unverstandenen Zusammenhänge von sozialer, territorialer und gesundheitlicher Ungleichheit im dörflichen Sozialfeld empirisch nachvollziehbar macht. In einer Region zu forschen, in der diese Dimensionen in vielen Bereichen ebenso exemplarisch ausgeprägt sind, wie deren beharrliche und kreative Lösungsansätze, bot sich eine einmalige Chan-
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Vgl. ebd., S. 135-154. Im weitesten Sinne gilt dies auch für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa. Die Analyse der PEGIDA-Demonstrationen in Dresden (Rehberg et al. 2016, Geiges et al. 2015) zeigte den erheblichen Anteil der ländlichen Bevölkerung, die nicht zuletzt bereits in den 1990er-Jahren die selbsternannten ›national befreiten Zonen‹ zumindest hinnahm (Schröder 1997 und Schobert 2000). Das zeigt immer wieder, auch wenn der Begriff im ländlichen Raum kaum zu umgehen ist, die »Grenzen der Gemeinschaft«, wenn diese nationalistisch ausgelegt sind. Nicht umsonst hat Plessner in den 1920er-Jahren unter diesem Titel ein Plädoyer für das Gesellschaftliche verfasst (vgl. Eßbach et al. 2002). Darin erinnert die Analyse immer noch an einen unterstellten und bis heute diskutierten dörflichen ›amoralischen Familismus‹ in einem süditalienischen Dorf von Edward Banfield aus dem Jahr 1958 (Moral Bases of a Backward Society). Adornos Verdikt, »dass wahrscheinlich die Entbarbarisierung auf dem platten Land noch weniger als sonst wo gelungen ist« (Adorno 1970: 98), beinhaltet noch, neben der kulturalistischen Stadt-Land-Dichotomie, das Problem der Agrarfrage der Sozialdemokratie von 1870. Bourdieu selbst stand dem Bäuerlichen und Eigenheimischen des dörflichen Lebens nicht zuletzt aus eigener Erfahrung immer differenziert gegenüber (vgl. Bourdieu 2008).
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ce, mit den Menschen vor Ort gemeinsam nach dem Eigensinn des genius loci und jener spukhaften, gesellschaftlich vermittelten ›dörflichen Kultur‹ zu suchen.21 Ausgangspunkt musste dementsprechend eine Theorie der Praxis sein, die Struktur und Handlung, Hilfe und Hilflosigkeit, Engagement und Distanzierung gleichermaßen zu erfassen imstande ist. Diese wurde in den Begrifflichkeiten einer relationalen Praxeologie im Sinne Pierre Bourdieus gefunden, in der eine kommunikative (Habitus) und eine generative Ebene (Feld) unterschieden und als rekursive Ermöglichungsbedingungen in der Praxis analysiert werden können.22 In dieser Konzeption war es möglich, die von Bourdieu differenzierten Kapitalsorten des sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals in die Erhebungs- und Analyseinstrumente einzuarbeiten und als kommunikative Bedingungen einzelner Felder zu verstehen.23 Ohne auf die Konvertierbarkeit der Kapitalsorten in der habituellen Ausprägung näher eingehen zu können, soll dennoch der essenzielle Stellenwert des kulturellen Kapitals in der Ausprägung klassenspezifischer Handlungsweisen an dieser Stelle hervorgehoben werden. Denn mit diesem Ansatz kann eine Abkehr von der Defizitorientierung in die Transformationsforschung, Gesundheitsförderung und Gemeinwesenarbeit so eingebracht werden, dass Kapitalverteilungen in den sozialen Feldern als Machtstrukturen deutlich gemacht werden können.24 Diese Einsichten führten einerseits zu einer mikrospatialen Typisierung kleinerer und kleinster Gemeinden im Landkreis Mecklenburgische-Seenplatte.25 Andererseits versprach ein beobachtender und biographischer Zugang zum Gemeindeerleben in einem erweiterten Verständnis fruchtbar zu sein. So heißt es bei Bourdieu, »gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte«.26 Das bedeutet, dass sich vergangene Erfahrungen und Handlungen auf der generativen Ebene der sozialen Felder zum Ausdruck bringen, in denen Kapital »als akkumulierte Arbeit, entweder in Form von materialen Objekten oder in verinnerlichter, ›inkorporier-
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Genau genommen war es seitdem eine von vielen, denn das apokalyptische Bild, das für die ersten zwei Jahrzehnte nach dem politischen Umbruch noch Entsprechungen fand, ist heute keineswegs mehr gerechtfertigt (vgl. Forkel 2019a, Gabler/Willisch 2013). Vgl. Wacquant 1996, S. 17-93. Bourdieu 1987. Eine praktische Umsetzung des Konzeptes konnte im Rahmen von Gemeindewerkstätten im Land Brandenburg eingebracht werden (Forkel 2019c). Das Verfahren der Mikrospatialen Typisierung (MISP) kategorisierte hierzu aus verschiedensten statistischen Quellen und Beobachtungdaten ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen und konnte so aus der Homogenität der Siedlungskategorie (peripher ländlich) der gängigen Regionalplanung arrivierte, kompensierende und deprivierte Gemeindetypen herausarbeiten (Forkel/Fischer 2014). Bourdieu 1983, S. 183.
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ter‹ Form« wirksam ist.27 Was wäre also, wenn man als Grundüberlegung für die Analyse sozialer Repräsentationen die Ebenen der Sozialstrukturen zunächst zurückstellt und die Inkorporation und Manifestation von vergangener Zeit in den biographischen Erzählungen über sich selbst und über die Gemeinde in den Mittelpunkt rückt? Denn Geschichte ist ebenso wie der Habitus immer nur kommunikativ verfügbar.28 Damit war die Idee geboren, nicht mit den problemgeladenen Perspektiven einer marginalisierten Wohnlage an die Menschen in den Dörfern heranzutreten, sondern zunächst mit einer ethnographisch geschärften Neugier auf die Geschichte des Dorfes und die Erinnerungen der Einwohner*innen zuzugehen.29 Im Prozess der Felderschließung wurde daher ein gemeinsames Ziel aufgestellt, das an alle im Dorf gerichtet war. Die Ergebnisse der historischen und biographischen Arbeit sollten zu einer Ausstellung im Museum Neubrandenburg führen. Das neugierige Zuhören und Beobachten konnte so in der sensiblen Felderschließung des Dörflichen legitimiert und Vertrauen aufgebaut werden.30 Schlagartig waren alle im Dorf hochkompetent und hatten etwas zu erzählen – wenn sie wollten.31 Um diesen Prozess der Öffnung aus der Privatheit des häuslichen Umfeldes in die Öffentlichkeit der Gemeinde und darüber hinaus zu überführen, bedurfte es eines Anlasses. Dazu wurde auf die Idee der Geschichtswerkstatt zurückgegriffen, die im städtischen Milieu der 68er-Bewegung die Aufklärung der Vergangenheit als soziale Kraft institutionalisiert hat.32 Im Idealfall erhofften wir uns, aus den diskutierten Geschichten und dem präsentierten Material in den neun Gemeinden theatres
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Ebd. Bourdieu 2004. Wie intim und abseits der gängigen Stereotype ein Zugang mit einer ethnographisch Perspektive geschafften werden kann, zeigte die Studie: Pragmatismus und Visionen. Eigenarbeit in der ostdeutschen ländlichen Gesellschaft von Christine Nebelung aus dem Jahr 2007. Der Dokumentarfilm Am Ende der Milchstraße von Leopold Grün und Dirk Uhlig aus dem Jahr 2013 griff diese Inspirationen auf. Auch im Projekt LETHE konnte diese Sicht durch die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Ethnologin Maureen Grimm gewahrt werden. Die Sensibilität des ethnographischen Feldzugangs und die Konstitution des Feldes sind gerade bei Gemeindestudien im dörflichen Kontext essenziell. In einem Bild des monetären Vertrauens könnte man sagen: »Wie in der Kreditwirtschaft geht es um die Erzeugung von Kreditwürdigkeit sowie darum, einen Wechsel auf die Vertrauenswürdigkeit in die Zukunft zu ziehen.« (Breidenstein et al. 2013, S. 50) Es konnten insgesamt 49 biographisch erzählgenerierende Interviews mit Einwohner*innen geführt werden, die älter als 60 Jahre waren. Die Ausrichtung des Förderprogramms Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, aber auch die gewählte Erinnerungsperspektive begründete diese Stichprobenauswahl. Das Konzept der Geschichtswerkstatt wurde im Zuge der Oral-History-Bewegung in den 1970er-Jahren entwickelt (z.B. Lindqvist 1989) und in den 1980er-Jahren auch in Deutschland (Berlin, Hamburg) umgesetzt.
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of memories zu erschaffen, welche die sinnstiftende Kraft des Kollektivsingulars Geschichte als Gemeinschaftskommunikation zu erwecken in der Lage sind.33 Mit dieser Erarbeitung einer historischen Abstraktion war der Gedanke verbunden, die Alltäglichkeit des dörflichen Lebens und die scheinbare Banalität der Alltagsgegenstände so einzubringen, dass mit den Effekten der Musealisierung eine Aufwertung der verborgenen – und, wie gesehen, marginalisierten – Lebensführung verbunden werden konnte.34 Die Aufwertung der individuellen biographischen Erfahrung als Teil einer öffentlich beachteten Geschichtsrepräsentation folgte in der Ausstellungskonzeption den zwei Pfaden der Forschungen in den Gemeinden. So wurden zunächst die in den Dörfern gefundenen Urkunden, Objekte und Fotos als Leihgaben in eine Ausstellung eingearbeitet, die den großen Wurf eines historischen Rundumblicks in die Sozialgeschichte Mecklenburgs und Vorpommerns wagte. Dann jedoch kamen auch die Menschen selbst zu Wort, deren persönliche Erinnerungen und Geschichten aus den Dörfern an Biografiestationen der jeweiligen Epochen nachzulesen waren. Mit der gut besuchten Eröffnung der Ausstellung und den Ritualen der bürgerlichen Institution des Museums, den Ansprachen des Landrates, des Bürgermeisters und des Museumsdirektors wurde die Bedeutsamkeit des eigenen Lebens und des Lebensumfeldes als Teil der demokratischen Öffentlichkeit wieder bekannt gemacht. Die Schautafeln der Ausstellung an der Hochschule geben bis heute Anlass, diese Öffentlichkeit zu pflegen und der begleitende Ausstellungskatalog35 verstetigt die Auseinandersetzung in den Gemeindezentren und Gesprächsrunden in den Dörfern. So hat sich LETHE selbst als Erinnerung an das Vergessene eingebracht und die belebende Dynamik einer diskursiven Öffentlichkeit36 gezeigt.
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Diesen revolutionären Impetus, mit der damit verbundenen Bewusstmachung und Aktivierung in der ›Sozialarchäologie‹ unterprivilegierter Schichten, bezogen wir aus der Verve der history-workshops von Raphael Samuel (Samuel 1980 und 1994). »Alle Semiophoren sind zweiseitige Gegenstände: Sie weisen einen materiellen und einen semiotischen Aspekt auf« (Pomian 1998, S. 84). »Semiophoren verbinden die sichtbare Welt der Gegenwart mit der unsichtbaren Welt der Vergangenheit und ermöglichen die Kommunikation zwischen beiden Welten« (Thiemeyer, S. 41; vgl. Assmann 1988). Forkel/Elkeles/Grimm 2016. Die Unterscheidung von liberaler und diskursiver Öffentlichkeit ist gerade in der Dynamik von Refeudalisierungen der Öffentlichkeit bis heute Auftrag für Analysen der Gegenwart (vgl. Habermas 1990, Gerhards 1997, Neckel 2016).
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Kraftakt. Die Aufarbeitung des Doping-Missbrauchs im DDR-Spitzensport Ein Interview mit dem Journalisten André Keil Silke Gajek
Abb. 1: André Keil
Foto: privat
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Gajek: Herr Keil, ich freue mich, dass wir heute das Interview in Auswertung der Veranstaltung an der Hochschule Neubrandenburg im November 2019 »30 Jahre Friedliche Revolution« machen. Sie und Benjamin Unger haben im Dokumentationsfilm »Kraftakt« vier ehemalige DDR-Turnerinnen und Gymnastinnen mit der Kamera begleitet. Worum geht es in diesem Film und wie ist er entstanden? Keil: Dieser Film ist eine Folgeproduktion des Halbstundenfilms »Kindheit unter Qualen«. Dort haben wir erstmals geschädigte DDR-Sportler*innen gesucht und befragt, die sehr jung in den Leistungssport gekommen sind, die mit neun Jahren schon zur Kinder- und Jugendsportschule gingen, getrennt von den Eltern in den Sportinternaten lebten, in Leipzig zum Beispiel oder in Halle. In den Sportarten Rhythmische Sportgymnastik, Turnen, Wasserspringen und Eiskunstlauf kam man so früh in den Hochleistungssport. Wir haben uns auf die Rhythmische Sportgymnastik und das Turnen konzentriert. Wir haben uns angeguckt, wie die ehemaligen Sportlerinnen heute klarkommen. Das sind ja Frauen, die heute so Anfang bis Mitte 40 sind, Mütter, deren Kinder vielleicht gerade so aus dem Haus sind oder um die 15, 16 Jahre alt. Also wie kommen sie mit den physischen Schäden, die der Leistungssport angerichtet hat, klar? Was ist auf das Doping zurückzuführen? Und natürlich gingen wir der Frage nach: Welche psychischen Belastungen müssen die Frauen noch heute aushalten, die ihren Ursprung in ihrer Leistungssportzeit haben? Wir sind einen langen Weg gegangen, um ehemalige Athletinnen zu finden und deren Vertrauen zu erlangen. Die Frauen haben uns in ihr Leben gelassen. Das hat auch uns verändert. Das ist mehr, als man normalerweise journalistisch zulässt. In der reinen Lehre muss man natürlich schon seine Distanz wahren. Das ging in diesem Fall aber nicht, weil ansonsten kein Vertrauensverhältnis zustande gekommen wäre. Um diese Geschichten erzählen zu können, mussten wir sehr dicht dran sein. Wir haben dann den Beitrag »Kindheit unter Qualen« produziert. Der Film hat sich mehr mit den praktischen Abläufen in der Sportmedizin und im Trainingsalltag befasst: UV-Blutbestrahlung, Vergabe von Doping-Präparaten und begleitenden Medikamenten und mit den intensiven Trainingslagern beispielsweise in der Sportschule Zinnowitz. Bei unseren Recherchen stießen wir zunehmend auf das Thema sexualisierte und sexuelle Gewalt gegenüber diesen Frauen. Das, was sie kaum äußern konnten, kam mehr und mehr ans Tageslicht. Daraufhin haben wir gesagt: Okay, wir sollten dazu eine Nachfolgedokumentation machen und haben dann den »Kraftakt« produziert. Wir haben vier Frauen zusammengebracht, die ihre Erfahrungen ausgetauscht haben. In Einzelinterviews haben wir zudem die individuelle Situation erkundet. So ist letztlich der »Kraftakt« entstanden und damit haben wir ein Bild über die Spätfolgen des DDR-Sports zeichnen können.
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Trotz der sehr persönlichen Geschichten der Frauen lassen sich die Aussagen aus meiner Sicht für diese Generation der Athlet*innen verallgemeinern. Gajek: Ich habe den Film gesehen. Er zeigt sehr viel Leidensdruck, Verdrängtes, diese erfahrene Gewalt und verlorene Kindheit. Was mich in dem Zusammenhang interessiert, ist der sexuelle Missbrauch. Er kommt im Film nicht wirklich als Wort vor. Keil: Das hängt damit zusammen, dass wir bei den Dreharbeiten den Fokus nicht auf den sexuellen Missbrauch gelegt haben oder anders gesagt: Wir haben das nicht direkt hinterfragt. Wir wussten davon schon aus Gutachten, die Psycholog*innen und Mediziner*inn im Zuge des Dopingopferhilfegesetzes erstellt haben. Man darf aber nicht unterschätzen, dass die Frauen nicht in der Lage sind, darüber zu reden – was für mich nachvollziehbar ist. Nach wie vor gilt für die ehemaligen DDR-Sportler*innen: Die, die ihre Geschichte erzählen und sagen, dass sie nicht gut aus dem DDR-Sport rausgekommen sind, gelten häufig als Nestbeschmutzer*innen und dann machen sie sehr schnell zu. Wir haben noch keine richtige Atmosphäre für die Aufarbeitung, keine offene Atmosphäre und schon gar keine Atmosphäre der moralischen Verantwortung. Den Betroffenen geht es nicht um eine finanzielle Entschädigung. Das Thema sexualisierte Gewalt kam in den Gesprächen auf, als der Missbrauchsskandal bei den Turnerinnen in Amerika öffentlich wurde. Da fassten die Athletinnen auch bei uns Mut, darüber andeutungsweise zu reden. Sie waren aber nicht in der Lage, schon gar nicht vor der Kamera, über die Erlebnisse im Detail zu sprechen. Das hätte auch massive Auswirkungen auf ihre aktuelle Situation gehabt. Manche von ihnen sind in Therapien, um ihre traumatischen Erlebnisse einigermaßen zu verarbeiten. Gajek: Das ist ein gutes Stichwort. Wo holen sich die Frauen Hilfe und Beratung? Wie sieht es aktuell aus, wenn Frauen oder Männer merken, dass sie auch Opfer von Doping oder sexualisierter Gewalt waren? Keil: Es gibt mittlerweile jetzt Beratungsstellen. Die Dopingopferhilfe bietet Beratung an, aber es gibt auch kompetente Hilfe bei der Landesbeauftragten in Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung des SED-Unrechts. Dort gibt es professionelle Beratende und das hat natürlich den großen Vorteil, dass Selbsthilfegruppen entstehen. Da baut sich so langsam etwas auf und das ist eine gute Entwicklung. Das Dopingopferhilfegesetz ist allerdings ausgelaufen, jetzt geht es darum, sich dafür einzusetzen, dass die Betroffenen Therapien genehmigt bekommen. Therapien sind teuer, Therapeut*innen gibt es nicht so viele. Diese Hilfe müssen sie aber kriegen, ohne Wenn und Aber! Eine weitere mögliche Hilfe könnte über das Opferentschädigungsgesetz koordiniert werden, möglicherweise könnten so neue Rentenansprüche für die Geschädigten ausgehandelt werden. Es gibt noch keine Präzedenzfälle. Es ist momentan für die Betroffenen ein knallharter Kampf. Die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu entwickeln, zu
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novellieren – das steht ehrlich gesagt noch aus. Wenn dieser Schritt erreicht wäre, dann könnte man sagen: Jetzt wurde wirklich etwas Nachhaltiges für die Sportgeschädigten getan. Es wird keine sehr große Gruppe werden im Maßstab von 80 Millionen Einwohner*innen in Deutschland. Es wird sicherlich von 2000 bis 2500 Betroffenen auszugehen sein, größer wird diese Zahl nicht sein. Warum ist es also so schwer durchsetzbar, diesen Menschen dauerhaft zu helfen? Gajek: Am 28. Januar 2016 beschloss der Landtag Mecklenburg-Vorpommern einen Forschungsauftrag in Bezug auf die Aufarbeitung des Staatsdopings in den drei NordBezirken der ehemaligen DDR, also Schwerin, Neubrandenburg und Rostock. Wie ist der aktuelle Stand? Keil: Meines Wissens gehen einige Dissertationen in diesem Jahr [2019, Anm. d. Red.] in die finale Phase. Das heißt wir haben eine wissenschaftliche Aufarbeitung oder besser gesagt wissenschaftliche Erkenntnisse. Von Aufarbeitung können wir nur eingeschränkt reden, dazu ist noch viel zu viel unbearbeitet. Aber es wird zumindest ein paar neue interessante Erkenntnisse geben. Offen ist noch, wie die ehemaligen Sportler*innen miteinander besser ins Gespräch kommen und wie sie moralisch rehabilitiert werden können. Welche Hilfe können gesund gebliebene und erfolgreiche ehemalige Sportler*innen geben? Bisher gibt es da wenige Aktivitäten. Dazu muss die Rolle der Universitäten in der DDR-Leistungssportforschung und auch die Dopingforschung beleuchtet werden. In Greifswald war die Militärmedizin angesiedelt und die Uni Rostock war Kooperationspartnerin für das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport im Bereich der Gynäkologie. Ich denke, in den Archiven der Universitäten in Mecklenburg-Vorpommern, da lässt sich noch einiges herausfinden. Wenn – neben den Dissertationen – noch etwas Positives zu erwähnen ist, dann ist das die Arbeit der Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hat im Land den Auftrag bekommen, sich um die Sportgeschädigten zu kümmern. Dafür wurden ihr finanzielle Mittel bereitgestellt, die auch die Schaffung einer neuen Stelle beinhalteten. So können sich Betroffene an eine professionelle Beraterin wenden – damit ist Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich zu den anderen Ländern ziemlich weit vorn. Gajek: Wir haben den Film »Kraftakt« in der Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution« aus zwei Gründen gezeigt. Zum einen, weil die Thematik für Studierende aus dem Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung von Interesse sein könnte. Zum anderen gibt es in Neubrandenburg ein Sportgymnasium. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit gerade unter dem Aspekt der Aufarbeitung mit der ehemaligen Kinder- und Jugendsportschule (KJS)? Keil: Eine Zusammenarbeit gibt es meines Wissens nicht. In den vergangenen Jahren zeigte das Sportgymnasium eher Zurückhaltung. Das ist aber kein Spezifikum für Neubrandenburg. Das erleben wir an den anderen Sportschulen im Land auch.
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Also gerade die Sportschulen, die sich in der Nachfolge und in der Tradition der alten KJS sehen, arbeiten das DDR-Erbe in Sachen Sport nicht unbedingt auf, das muss man ehrlicherweise sagen. Die Sportschulen ziehen sich auf die Aussage zurück, dass sie mit dem Doping nichts zu tun hatten. Dafür sei der Sportclub um die Ecke verantwortlich. Die Trennung formal stimmt natürlich, aber in der Praxis war das natürlich mitnichten so. Es gab immer die engsten Absprachen und gern sind die Direktoren der KJS hinterher Sportclubchefs geworden und umgekehrt hat es natürlich auch funktioniert. Sich die eigene Vergangenheit noch mal anzugucken, die Archive zu besuchen, an die Sportler*innen auch noch mal ranzugehen, um der heutigen Generation an Sportler*innen etwas mitzugeben – da gibt es schon eine Fehlanzeige. Da passiert nichts, das ist schon ein bisschen schade. In Neubrandenburg gibt es noch mal eine besondere Situation. Diese Stadt hat sich früher über den Sport definiert. Die Einwohner*innen zu DDR-Zeiten waren stolz auf ihre Olympiasieger*innen und Weltmeister*innen. Das spüren die Athlet*innen auch heute noch. Aber wir haben zum Auslaufen des Dopingopferhilfegesetzes noch im Dezember eine 15-minütige Fernsehsendung produziert, noch einmal die Sachverhalte erklärt, ganz nüchtern. Wie sieht’s aus? Was muss man machen? Und da hat die Selbsthilfegruppe aus dem Neubrandenburger Raum noch mal ordentlich Zulauf bekommen. Aber wir haben in Neubrandenburg noch viele geschädigte Sportler*innen, die nicht mal ansatzweise an die Öffentlichkeit gehen können und wollen, weil sie Angst haben, in dieser Stadt nicht weiterleben zu können, weil sie gemieden werden. Wer in Neubrandenburg und Umgebung lebt, hat kaum die Möglichkeit, offen mit dieser Problematik umzugehen. Nach wie vor arbeiten in Neubrandenburg Trainer*innen von damals, zwar nicht als Angestellte des SCN, aber im Umfeld des SC Neubrandenburg. Gajek: Was möchten Sie den Studierenden und der Forschung noch mit auf den Weg geben? Keil: Ach, da hätte ich ein paar Ideen. Es liegt noch so viel vor uns. Ich würde mir wünschen, dass sich Mediziner*innen oder Historiker*innen mit dem Erbe befassen. Es gibt so viele unbearbeitete Akten, so viele Dinge, die noch aufzuarbeiten sind, von der Methodik bis zu ganz banalen Medikamenteneinsätzen. Wir sind in Deutschland vielleicht eine Handvoll Journalist*innen, die sich damit befassen und vor uns liegen tausende Akten, ja zehntausende Akten. Man wird sie nicht alle lesen können. Aber nehmen wir nur diesen Fall: Verletzte Athlet*innen mit Knorpelschäden sind mit Medikamenten gespritzt worden, die aus dem Westen kamen, aber keine Zulassung hatten. Davon weiß kaum eine*r was. Viele Athletinnen und Athleten haben diese Spritzenkur ins Gelenk bekommen und finden den Namen dieses Medikaments später in ihren Unterlagen. Sie fragen sich natürlich, was da eigentlich mit ihnen gemacht wurde. Das heißt, die Querverbindung, die es möglicherweise auch über Medikamententests gibt, muss aufgeklärt werden.
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Aber die Bearbeitung schaffen die paar Journalist*innen natürlich nicht. Das wäre ein Bereich für die Wissenschaft, für die Historiker*innen, für Mediziner*innen. Das Material ist da. Wir dachten mal, wir wären mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit recht schnell vorangekommen. Jetzt im Jahr 30 der Einheit wissen wir, dass es nicht so ist. Im Sektor Sport haben wir vielleicht 10-15 Prozent geschafft, alles andere wartet darauf, von irgendwem gelesen zu werden. Wenn wir nur in der heutigen Schlagzahl weitermachen können, dann wird es wohl ewig dauern, bis wir wirklich alles wissen. Gajek: Ja, dann hoffe ich, dass die geneigten Leserinnen und Leser Ansporn finden und interdisziplinär forschen. Vielen Dank für das Gespräch.
Kraftakt. Die Aufarbeitung des Doping-Missbrauchsim DDR-Spitzensport
Weiterführende Informationen Berendonk, Brigitte (1991): Doping-Dokumente. Von der Forschung zum Betrug. Berlin: Springer. Buhrmann, Jochen-Friedrich/Freyberger, Harald J./Geipel, Ines/Keil, André/Drescher, Anne (2017): Staatsdoping in der DDR. Eine Einführung. Schwerin: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Doping-Opfer-Hilfe e.V. (Hg.) (2019): »Über uns«. no-doping.org/doping-opfer-hil fe/ (Abfrage:: 17.05.2019). Geipel, Ines (2008): No Limit. wie viel Doping verträgt die Gesellschaft. 2. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.Hartmann, Grit/Berendonk, Brigitte (Hg.) (1997): Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports. Leipzig: Forum-Verl. Keil, André/Unger, Benjamin (2014): Unsere Gesichte – Unterstützende Mittel. Das Trauma des DDR-Sports [Dokumentarfilm]. Norddeutscher Rundfunk. Keil, André (2017): Kindheit unter Qualen. Missbrauch im DDR-Leistungssport [Dokumentarfilm]. Norddeutscher Rundfunk. Keil, André/Unger, Benjamin (2018): Kraftakt [Dokumentarfilm]. Norddeutscher Rundfunk. Spitzer, Giselher (2018): Opfer des DDR-Dopingsystems. Teil 1: Eine Dokumentation von 52 Lebensgeschichten. Teil 1: Wunden und Verwundungen (Doping, Enhancement, Prävention in Sport, Freizeit und Beruf). 2. Auflage. Hellenthal: Sportverlag Strauß. Spitzer, Giselher (2018): Doping in der DDR: Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis. Genese – Verantwortung – Gefahren (Doping, Enhancement, Prävention in Sport, Freizeit und Beruf). 5. Auflage. Hellenthal: Sportverlag Strauß. Spitzer, Giselher (2019): Opfer des DDR-Dopingsystems. Teil 2: Eine Dokumentation von 52 Lebensgeschichten. Teil 2: Methodische Aspekte und Schadensbilanzen (Doping, Enhancement, Prävention in Sport, Freizeit und Beruf). Hellenthal: Sportverlag Strauß. Sportschau (2021): Menschenversuche: die heimlichen Experimente im DDR-Sport [Dokumentarfilm]. ARD. Teichler, Hans Joachim (1999): Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jahren und im Prozess der Wende. Schorndorf: Hofmann.
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Foto: Thomas Schulze
»Erzähl mir Deine Geschichte« Erzählcafés als Methode der politischen Bildung Steffi Brüning und Claudia Kühhirt
Vorbemerkung Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden und den Umbruch der 1980er-Jahre sowie die Transformation ab Ende 1989 miterlebt haben, verfügen vielfach über andere biografische Erfahrungen als Menschen, die in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind. Das Leben der DDR-Bürger*innen in einem autoritären staatlichen System, das keine Freiheitsrechte zuließ, die Selbstermächtigung bei parallelem Überwachungs- und Repressionsdruck, prägen bis heute die Identität vieler Ostdeutscher. Die vollständige Transformation des politischen und wirtschaftlichen Systems ab Ende 1989 und die dadurch entstandene Zivilgesellschaft hatten und haben Folgen für Einzelne. Diese und andere gesellschaftliche Änderungen wirken in Mecklenburg-Vorpommern bis in die Gegenwart auf demokratische und demokratiefeindliche Einstellungen und Handlungen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass viele diese Erfahrungen aus vielfältigen Gründen auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution für sich behalten haben. Ein Grund dafür ist, dass diese nur begrenzt abgefragt und thematisiert wurden. Diese Erfahrungen sichtbar, sagbar und für Maßnahmen der DemokratieBildung nutzbar zu machen, war anlässlich des 30. Jubiläums der friedlichen Revolution 2019 ein besonderer Arbeitsschwerpunkt der Regionalzentren für demokratische Kultur der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Dafür entwickelten sie die Methode des Erzählcafés weiter und organisierten diese mit verschiedenen Kooperationspartner*innen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Methode gibt Impulse zur biografischen Arbeit und schärft den Blick für die Verknüpfung von biografischen Erfahrungen mit Einstellungs- und Handlungsmustern.
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Steffi Brüning und Claudia Kühhirt
Methodenbeschreibung Erzählcafé Ein Erzählcafé ist eine niedrigschwellige Methode der politischen Bildung, die sich auf unterschiedliche Gruppen anwenden lässt. Ziel ist es dabei vorrangig, dass Teilnehmende sich in kleinen Gruppen in entspannter Atmosphäre (»Café«) über angekündigte Themen austauschen und ins Gespräch kommen können. Die Methode endet mit einer Reflexion im Plenum. Die Begrüßung übernimmt das organisierende Team, es führt kurz in den Ablauf der Veranstaltung ein und lässt die Teilnehmenden dann im Café Platz nehmen. An mehreren Tischen treffen sich Menschen in meist zufällig zusammen gesetzten Kleingruppen (ideal fünf bis sechs Personen) und sprechen über vorher angekündigte Themenfelder. Begleitet wird jede Tischgruppe durch eine moderierende Person, die Erzählimpulse und erzählgenerierende Fragen stellen kann. Zur Anregung können thematisch passende Bilder und Objekte auf den Tischen verteilt werden. Um die entspannte und gemütliche Atmosphäre eines Cafés zu erzeugen, können die Teilnehmenden Getränke und Snacks (Kuchen, Kekse) erhalten, die Tische können mit Blumen o.ä. dekoriert werden. Das Erzählcafé umfasst einstündige Gesprächsrunden, in denen verschiedene Themen angesprochen werden. Dabei haben die Moderator*innen an den Tischen Themen und Leitfragen vorbereitet, behalten sich aber die Flexibilität vor, gegebenenfalls auf die spezifischen Gesprächsbedürfnisse der Gruppen einzugehen. Im Erzählcafé gibt es weder richtige noch falsche Aussagen, die Teilnehmenden müssen kein Programm abarbeiten oder Aufgaben erfüllen. Die Methode schließt mit einer gemeinsamen Reflexion aller Teilnehmenden, um die mitunter emotionalen Erzählprozesse verantwortungsvoll enden zu lassen. Das Team achtet bei der Tischmoderation und im Plenum insbesondere auf die Gefühlslage der Teilnehmenden, da die Gespräche oft sehr schnell in persönliche und durchaus intime Erfahrungen führen, die mitunter bislang nicht vor anderen Personen thematisiert wurden. Dies kann emotional aufwühlen. Deswegen ist die Abschlussrunde unverzichtbar, um Teilnehmende gegebenenfalls »aufzufangen« und nachbereitende Gespräche in kleinem Kreis anbieten zu können.
Vorbereitung Das Team der Regionalzentren für demokratische Kultur der Evangelischen Nordkirche hat für jede Veranstaltung umfangreiche Vorbereitungen getroffen. Die Erzählcafés bestanden jeweils aus unterschiedlichen Teilnehmenden, für die das Angebot bedarfsgerecht angepasst wurde. Ein Erzählcafé richtete sich zum Beispiel ausschließlich an Frauen und bot dementsprechend Raum für Erzählungen über spezifisch weibliche Perspektiven und Erfahrungen. Das Erzählcafé an der Hoch-
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schule Neubrandenburg am 14. November 2019 mit dem Titel »30 Jahre Friedliche Revolution« führte wiederum verschiedene Generationen zueinander: Junge Studierende aus verschiedenen Teilen der Bundesrepublik trafen auf Senior*innen, die vielfach Jahrzehnte in Neubrandenburg und Umgebung gelebt und die Umbrüche persönlich erfahren haben. Katharina Seuffert, Pastorin im Kirchenkreis Mecklenburg mit besonderem Fokus auf Senior*innen, knüpfte im Rahmen des Netzwerkes »Neues Leben im Alter« die Verbindung zwischen Mitgliedern ihres Kirchenkreises sowie Lehrenden an der Hochschule Neubrandenburg, wie z.B. zu Prof. Dr. Wolfgang von Gahlen-Hoops, Professor für Gesundheit und Pflege mit dem Schwerpunkt berufliche Didaktik, und Studierenden der Hochschule Neubrandenburg. Nach Eingrenzung des Teilnehmerkreises wurden potenzielle Themenbereiche ausgewählt, die das Oberthema »Transformationsprozesse in Ostdeutschland ab 1989« strukturierten. Dazu zählten vor allem persönliche Veränderungen durch die Umbrüche, wie die Veränderung und vor allem der Verlust von Arbeitsverhältnissen, die wirtschaftliche Transformation, das Ende und der Aufbau neuer staatlicher Institutionen sowie zivilgesellschaftliche Entwicklungen und Brüche im Privatleben. Einige Familien trennten sich räumlich durch Umzüge in den westlichen Teil der Bundesrepublik, Beziehungen endeten, Kinder trafen auf neue Bildungsformen, wobei das Wissen der Eltern oft grundlegend in Frage gestellt wurde. Die Folgen der Wiedervereinigung und Transformation umfassten oftmals alle Lebensbereiche. Insbesondere der Verlust des Arbeitsplatzes nach 1990 nahm oft großen Raum in den Erzählungen ein. Entlang der sozialistischen Ideologie wurde Arbeit in der DDR als wesentliches Identitätsmerkmal konstruiert und die Betriebe beeinflussten zudem die Infrastruktur des Privatlebens. Die wirtschaftliche Transformation nach der Wiedervereinigung wirkt auch deswegen bis heute besonders stark nach. Für die Moderationen ist es insgesamt unerlässlich, grundlegendes Wissen über die spezifische Geschichte der DDR und Bundesrepublik sowie eine Sensibilität für die Unterschiede und die emotionale Betroffenheit der Teilnehmenden in der Vorbereitung aufzubauen. Des Weiteren ist es sinnvoll, dass moderierende Personen sich darauf vorbereiten, dass Themen mitunter nur angerissen und nicht vertieft werden. Repressionen durch das Ministerium für Staatssicherheit und andere staatliche Institutionen der DDR, private Brüche im Zuge der Wiedervereinigung, aber auch der Verlust des Arbeitsplatzes haben tiefe Wunden bei Betroffenen hinterlassen. Mitunter können deswegen lange verdrängte Traumata aufbrechen. Dies sollte nicht in einem Erzählcafé bearbeitet werden, da weder Zeit noch Raum dafür ausreichen. Besonders bei diesen Themenfeldern müssen moderierende Personen also darauf achten, dass Fragen vorsichtig gewählt werden. Neben den genannten Themenbereichen griff das Team Besonderheiten aus der jeweiligen Region auf, in der das Erzählcafé stattfand. Neben staatlichen, ge-
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sellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen wurden dabei auch zum Beispiel Umbauten, prominente Personen der Regionen und bedeutsame Ereignisse recherchiert. Im Zentrum von Neubrandenburg verwandelte sich unter anderem das prägende »Haus der Kultur und Bildung« ab 2005 in ein Medien- und Verwaltungszentrum. Die umfangreiche Sanierung führte zu etlichen Problemen, die öffentlich breit diskutiert wurden und werden. Daneben wurde zum Beispiel der Umgang mit einer historischen Statue von Karl Marx, die 1969 erbaut, 2001 entfernt und zum 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 wieder aufgestellt wurde, thematisiert. Derartige stadthistorische Eigenarten lassen sich in Erzählcafé zur Illustrierung historischen Wandels sowie für Erzählimpulse gut nutzen und zum Beispiel als Bild auslegen. Für die Vorbereitung ist daher eine intensive Recherche zu empfehlen, um Themen aufgreifen zu können, die sowieso vorhanden sind und Teilnehmende in ihrer Region wahrnehmen. Das Team der Regionalzentren bereitete für die Moderator*innen Materialien vor, die erstens die regionalen Besonderheiten und Veränderungen in Form eines Zeitstrahls darstellten und zweitens Fragen formulierten, die als Erzählimpulse genutzt werden konnten. Letztendlich war es aber der Moderation freigestellt, die Erzählungen und die Gespräche intuitiv zu begleiten. Manchmal war auch anstelle einer Frage einfach nur das Reichen eines Taschentuches notwendig, das an jedem Tisch bereit lag und bei emotionalen Geschichten unabdingbar ist.
Reflektion und Fazit In Vorbereitung der Erzählcafés ergab sich unter anderem eine Fragestellung für die politische Bildung und Aufarbeitung: Gibt es die eine Geschichte der friedlichen Revolution oder lässt sich diese Geschichte eher als ein Netz aus persönlichen Geschichten begreifen? Wenn die zweite Vermutung zutrifft, wie kann politische Bildung damit umgehen? Erzählcafés bieten die Chance, gegenseitigen Respekt und vor allem Verständnis für verschiedene Biografien und dadurch entstandene Identitäten zu fördern. Gerade durch die gegenseitigen persönlichen Erzählungen fällt es Teilnehmenden mitunter leichter, sich in die Perspektive anderer Menschen zu versetzen, die möglicherweise konträre Erfahrungen und Einstellungen aufweisen. Aufbauend darauf können diese Gespräche dazu führen, dass Menschen sich als handelnde Akteur*innen in einem Zeitverlauf wahrnehmen und damit ihr Wirken innerhalb der Gesellschaft reflektieren können. Vor allem diese zwei Erfahrungen zeigen die große Chance von Erzählcafés innerhalb der politischen Bildung. Menschen erkennen mitunter, was Demokratie als Lebensform in der Praxis bedeutet: Sie bauen Empathie auf, gehen dadurch wertschätzend miteinander um und erleben unterschiedliche Dilemmata.
»Erzähl mir Deine Geschichte«
So erzählte eine Frau bei einem Erzählcafé mit ausschließlich weiblichen Teilnehmenden, dass sie in der DDR vollkommen von der sozialistischen Ideologie überzeugt war und deswegen früh aus eigener Initiative in die SED eintrat. Diese grundlegend identitätsstiftende Facette ihrer Biografie wiederum behielt sie im Alltag bis in die Gegenwart eher für sich, da sie sich vor Kritik und Unterstellungen fürchtete. Nach 1990 trat sie in eine Partei ein, brachte sich aber parteipolitisch nicht ein, da sie vollkommen verunsichert war. Das ist bis heute so bei ihr. Nach dieser persönlichen Erzählung erzählte eine andere Teilnehmerin: Sie hatte in der DDR stets einen großen Bogen um Politik gemacht, da sie immer die repressiven Eingriffsmöglichkeiten des Ministeriums für Staatssicherheit befürchtete, wenn sie sich politisch einbringen und äußern würde. Die SED war für sie mit der Staatssicherheit aufs Engste verknüpft, beide Institutionen machten ihr Angst. Diese Einstellungs- und Handlungsmuster blieben auch nach 1990 bestehen. Beide Teilnehmerinnen werteten die Erfahrungen der jeweils anderen nicht und erzählten einander stattdessen Momente ihrer Lebenswirklichkeit. Beide waren danach tief bewegt und überrascht, dass sie füreinander volles Verständnis aufbringen können. Erwartet hatten sie dies vorher nicht. Aus diesem konkreten Praxisbeispiel leiten sich verschiedene Schlussfolgerungen für die Demokratiebildung ab. Erstens können genau solche Erfahrungen für demokratisches Handeln gewinnbringend sein. Uns begegnen bei jeder gesellschaftlichen Fragestellung verschiedene Einstellungs- und Handlungsmuster. In Diskussionen um die »richtige« Entscheidung überwiegt dabei teilweise ein Einordnen der Meinungen in richtig und falsch, ohne diese in persönliche Kontexte einzubinden. Wenn wir es jedoch schaffen, diverse Meinungen erst einmal als legitim anzuerkennen, Kontexte verständlich machen, um dann diese Dilemmata miteinander auszuhandeln, können wir Demokratie als Lebensform erleben. Zweitens können in Erzählcafés sowohl inhaltliche Auseinandersetzungen als auch wertschätzende Kommunikationsformen geübt werden. Zur wertschätzenden Kommunikation gehören u.a.: aktiv zuhören, nachfragen, ausreden lassen und eine Ich-Perspektive einnehmen. Da biografische Momente thematisiert werden, fällt das vielen Teilnehmenden automatisch leichter. Drittens und darauf aufbauend bringen Erzählcafés Menschen einander näher. Da alle Teilnehmenden sich gegenseitig persönliche Erlebnisse erzählen, entwickeln sie Vertrauen zueinander. Sie fühlen sich in der Gruppe nicht mehr fremd, sondern nah. Diese Nähe zwischen Menschen etabliert und unterstützt wiederum einen respektvollen Umgang miteinander, der für demokratische Prozesse grundlegend ist. Vor allem für Menschen, die die DDR und die Transformationsphase nach 1990 erlebt haben, können Erzählcafés viertens Selbstwirksamkeitserfahrungen fördern und Teilnehmende erkennen lassen, dass sie (zu jedem Zeitpunkt) handelnde Akteur*innen waren. Viele Ostdeutsche zählen bis heute Ohnmacht und Handlungs-
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unfähigkeit zu Momenten ihrer Biografie. Während des Erzählens und durch Reaktionen der anderen Teilnehmenden erleben sie allerdings – manchmal zum ersten Mal – Anerkennung und Wertschätzung für das eigene Handeln innerhalb der Gesellschaft. Dieser Effekt hat sich eindrucksvoll beim intergenerativen Erzählcafé an der Hochschule Neubrandenburg gezeigt. Studierende gaben erzählenden Senior*innen empathische und wertschätzende Rückmeldungen. Hierdurch erkannten einige Teilnehmende erstmals, dass ihre Biografie eine tatsächliche Bedeutung hat. Dass dies auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung für Teilnehmende eine neue Erfahrung ist, zeigt, dass konkrete Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen im Alltag selten thematisiert wurden, trotz der umfangreichen Forschung und Aufarbeitung dieser Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit. Diesen weißen Fleck in der Gesellschaft können politische Bildner*innen und Multiplikator*innen niederschwellig mit Hilfe von Erzählcafés ausfüllen.
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg Constanze Jaiser
Einleitung »Was veranlasst einen Neubrandenburger Arzt, im 19. Jahrhundert nach Samoa auszuwandern und dort sein Glück mit der Tochter des dortigen Herrschers zu finden? Warum sind auf den überlieferten Fotos des Kriegsgefangenenlagers Fünfeichen schwarze Gefangene zu sehen? Woher kommen eigentlich Kakao, Kaffee und Ananas? Und was ist Fair Trade Schokolade? Ziel des Projektes ist es, über Menschen, die heutzutage in der Region Neubrandenburg leben, anderen Kulturen zu begegnen, über Museum und Gedenkstätte einen historischen Einblick in das Thema Kolonialismus zu nehmen und über Kunst eine Begegnung mit dem Fremden ohne Rassismus zu gestalten. Ein selbst produzierter Film wird das Beispiel lebendiger Neubrandenburger Erinnerungskultur dokumentieren.« So lautete ein Ankündigungstext für ein Kooperationsprojekt der besonderen Art: Das EU-geförderte Medienprojekt YEAD, das von der Freudenberg Stiftung geförderte Projekt zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung in Trägerschaft der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Mecklenburg-Vorpommern e. V. und das Regionalmuseum Neubrandenburg luden 2017 eine Schulklasse der Regionalen Schule »Am Lindetal« zu einer Projektwoche ein. Die Schule in der Neubrandenburger Oststadt nimmt als eine der Schlüsselschulen am Programm »Ein Quadratkilometer Bildung Neubrandenburg« teil1 ; außerdem stand sie in dieser Zeit vor der besonderen Herausforderung, vor Krieg und Chaos geflüchteten Kindern und Jugendlichen schulische Unterstützungsmaßnahmen und -Strukturen zu erarbeiten.
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Das Programm »Ein Quadratkilometer Bildung Neubrandenburg« wurde im Februar 2015 durch die RAA Mecklenburg-Vorpommern e. V., die Amadeu Antonio Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Günther Weber Stiftung, die Neubrandenburger Wohnungsbaugesellschaft (NEUWOGES) und die Stadt Neubrandenburg initiiert. Weitere Informationen über das Programm sind unter www.ein-quadratkilometer-bildung.org/wo/neubrandenburg einzusehen.
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Constanze Jaiser
Das Medienprojekt Young European Cultural Audience Development (YEAD)2 ermutigt junge Erwachsene in sechs europäischen Ländern, Kulturinstitutionen selbst zu entdecken. Über das Medium Film werden sie gleichermaßen zu Nutzer*innen und Produzent*innen von Kultur.3 Das Erinnerungsprojekt zeitlupe steht für eine Spurensuche durch die regionale Zeitgeschichte Neubrandenburgs. Im Rahmen des Projekts werden insbesondere junge Menschen angeregt, sich forschend und aktiv mit den Ereignissen rund um den Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Unter die Lupe kommen dabei scheinbar verschwundene oder vergessene Orte in Neubrandenburg und Umgebung, aber auch Menschen, die in der Region Spuren hinterlassen haben. Um die Schnittpunkte zwischen städtischer Gegenwart und gelebter Vergangenheit bunt und vielfältig zu markieren und eine lebendige Erinnerung zu gestalten, werden dabei auch neue, partizipative Projektformate erprobt. Unterstützung erhielten wir während der Projektwoche von dem Filmemacher und Medienpädagogen Toni Schwabe4 und vom Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC), die jeweils mit der anderen nicht am Schneidetisch beschäftigten Gruppenhälfte einen Antirassismus-Workshop durchführten.5 Während der Projektwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« im November 2019 bot ich an der Hochschule Neubrandenburg einen Workshop für Studierende und Interessierte an, in dem ich die partizipative, antirassistische Bildungswoche an der Regionalen Schule »Am Lindetal« zur Diskussion stellte. Eingehen möchte ich in diesem Beitrag auf den Ablauf dieses internationalen Projekts mit Jugendlichen in benachteiligenden Lebenslagen und auf die Rolle, die ein unterstützendes Vorgehen im Verbund mit verschiedenen Partner*innen spielen kann. Abschließend möchte ich noch einige Gedanken zum Umgang mit dem Thema Kolonialismus resp. der Aufarbeitung in der DDR/Bundesrepublik teilen, in der Hoffnung, den Bedarf für weitere Projekte anregen zu können.
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Die Projektleitung hatte hier Bianka Bülow inne, der ich auch wertvolle Hinweise bei der Erstellung dieses Beitrags verdanke. Dem Projekt wurde ein dynamisches Kulturverständnis zugrunde gelegt, das Kultur u.a. als »diskursives Herrschaftsinstrument« (Römhild 2018, S. 23), aber auch als »Wissens- und Handlungsraum, indem Identitäten und Grenzen kreiert, bewegt und verändert werden« (ebd.) fasst. Auch an dieser Stelle gebührt dem Kameramann und Mediengestalter Herrn Toni Schabe mein Dank. Seine Internetpräsenz ist unter www.trick16.de einsehbar. Vgl. Netzwerk für Demokratie und Courage o.J.
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
»Neubrandenburg goes Südsee« Im Mittelpunkt unserer Forschungen stand eine beeindruckende Sammlung von Alltagsgegenständen und Fotoaufnahmen aus Samoa und Polynesien, die der Neubrandenburger Arzt Dr. Bernhard Funk im ausgehenden 19. Jahrhundert dem damals noch jungen Museum durch eine Schenkung vermachte. Seine Auswanderung auf die deutsch kolonial besetzte Insel6 ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen, machten sich doch ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Millionen Deutsche auf und wanderten aus, darunter auch rund 180.000 Männer, Frauen und Kinder aus Mecklenburg. Wenn auch das Hauptziel Nordamerika war, so standen auch Brasilien, Australien, Neuseeland und eben entlegene deutsche Kolonialgebiete auf der Liste der damals nur mühsam erreichbaren Orte. Wenigstens erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass es in der Südsee sogar eine Insel gab, die Neu-Mecklenburg hieß.7 Das Besondere an Dr. Funks Sammlung war, wie der Mitarbeiter des Regionalmuseums Peter Maubach festhielt, dass es ihm »nicht um etwas Exotisches für die ›Heimat‹ ging, sondern um die Kultur und Lebensweise der Südsee, in die er sich selbst integriert hatte«.8 So war er nicht nur verheiratet mit Senitima, der Tochter eines Oberhaupts der Insel, er sprach auch fließend Samoanisch (und seine Ehefrau lernte übrigens umgekehrt auch die Sprache ihres Mannes), kannte sich aus mit den Gepflogenheiten und lebte mit seiner Frau 30 Jahre auf der Insel. Bei unseren vorbereitenden Recherchen zu kolonialen Spuren in der Region stießen wir auch noch auf weitere Aspekte: Wir fanden das Haus, in dem Dr. Funke lebte. Wir erfuhren von einem Kolonialwarenladen, den es einst in Neubrandenburg gab. Und zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, auch dies ein Aspekt, der zu den kolonialen Spuren gehört, befanden sich in dem großen Kriegsgefangenenlager
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Margarete Brüll führt hierzu aus, »[d]er Teil des Pazifiks, den das Deutsche Reich zwischen 1884 und 1914 als Schutzgebiet bezeichnete, umfasste fast alle Inseln Mikronesiens, das polynesische Samoa, den nordöstlichen Teil der Insel Neuguinea (Kaiser-Wilhelmsland), und den Bismarckarchipel mit den beiden Inseln Neubritannien (Neupommern), Neuirland (Neumecklenburg), den Salomonen und der Admiralitätsgruppe. Die Größe des deutschen Gebietes änderte sich einige Male […] Als einzige polynesische Insel war Samoa bis 1914 Teil des deutschen Kolonialreiches und bildete neben ›Deutsch-Neuguinea‹ ein eigenes Verwaltungsgebiet: ›Deutsch-Samoa‹« (Brüll 1995: o. S.). Neumecklenburg (heute Neuirland bzw. New Ireland) ist eine etwa 8.650 km² große Insel im Bismarck-Archipel in Papua-Neuguinea, auf der rund 110.000 Menschen leben. Sie gehört zusammen mit vielen kleinen vorgelagerten Inseln zur Provinz New Ireland mit der Hauptstadt Kavieng im Norden der Hauptinsel. Ihr Name in der papuanischen Verkehrssprache Tok Pisin lautet Niu Ailan. Maubach 1995, S. 93.
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Abb. 1: Nachdem das Eckhaus am Markt, Ecke Treptower Straße abgebrannt war, baute man dieses Jugendstilgebäude. Darin befand sich das Kolonialwarengeschäft des Kaufmanns Stegemann.
Foto: Archiv Regionalmuseum Neubrandenburg
Neubrandenburg-Fünfeichen Schwarze9 Soldaten, die Frankreich aus seinen Kolonialgebieten mit Gewalt verschleppt und im Krieg eingesetzt hatte.
Potenziale partizipativer Bildungsangebote Da das Team der Projektleitung Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik, der Menschenrechtsbildung und der Medienpädagogik mitbrachte, waren wir entschieden, mit vielfältigen Methoden und mit vielen Freiräumen ein selbsterforschendes Lernen zu ermöglichen. Gleichzeitig war das Thema allerdings aufgrund der Unbekanntheit in unserer neunten Klasse eine Herausforderung. Der begleitende Lehrer war zwar unserem Vorhaben ausgesprochen aufgeschlossen gegen9
In Anlehnung an Noah Sow bezeichnet Schwarz zu sein »keine Eigenschaft, sondern eine gesellschaftspolitische Position. Die Selbstbenennung ›Schwarz‹ markiert bestimmte gemeinsame Erfahrungshorizonte und somit auch Lebensrealitäten in einer weißdominierten Gesellschaft« (Sow 2019, S. 608).
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
Abb. 2: Historische Aufnahme aus dem Kriegsgefangenenlager NeubrandenburgFünfeichen, ca. 1943
Foto: Archiv Regionalmuseum Neubrandenburg
über, aber er war auch sehr skeptisch angesichts der zum Teil problematischen Ausgangslage im Klassenzimmer: Es wurden der respektlose Umgang untereinander, die mangelnde Akzeptanz von Autoritäten und die pubertäre Renitenz beklagt. Unser Anliegen war es, Bezüge des Themas zur Gegenwart herzustellen, nach dem Motto »Kolonialismus – lange her, aber doch noch aktuell?«. Von der Kakaoproduktion für die eigene Schokolade über die Kinderarbeit für das eigene TShirt bis hin zu Spuren kolonialer und rassistischer Menschenbilder und Ausbeutungsstrukturen – für die Geschichte vor der Haustür zu sensibilisieren und einen (selbst-)kritischen Diskurs zu gestalten, der auch einen respektvollen Umgang untereinander einschloss, das war, was wir erreichen wollten. Unsere Ziele waren: •
Eine Partizipation an kultureller Bildung ermöglichen und damit auch das offiziell verbürgte Menschenrecht auf Bildung realisieren (Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Artikel 28 der Kinderrechtskonvention)
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Kompetenzen von Jugendlichen in benachteiligenden Lebenslagen erweitern (gemeinsam organisierter Besuch eines Museums, Erstellen eigener Interviews und Filme) Trotz oft schwieriger Lernchancen eigenes »Empowerment« befördern Geschichtsbewusstsein und Medienkompetenz erweitern Reflexionsräume zum Thema »Flucht heute« eröffnen Schicksale von Menschen mit schwarzer Hautfarbe kennenlernen Kontinuitäten von Rassismus erkennen lernen und eigene Vorurteile und Sprachgewohnheiten einer kritischen Überprüfung unterziehen.
Überrascht wurden wir am ersten Tag davon, dass neben den Schüler*innen der neunten Klasse auch die Jugendlichen aus der Willkommensklasse beteiligt werden sollten. Dies war allein sprachlich eine Herausforderung, denn wir hatten es plötzlich mit sechs Muttersprachen zu tun, wobei zehn Kinder zu dem Zeitpunkt nur wenig Deutsch konnten. Versiert halfen sich diese allerdings gegenseitig mit Online-Übersetzungswerkzeugen, mit Englisch sowie mit Mimik und Gestik. Deutlich wurde ebenfalls schon zu Beginn eine gewisse Abwehrhaltung, die ihnen von Einzelnen aus der anderen Klasse entgegenschlug.
Was ist eigentlich Kolonialismus? Diese Frage musste zu Beginn unseres Projekts für alle geklärt werden. Nun ist sie tatsächlich schon im wissenschaftlichen Diskurs nicht einfach zu beantworten. In unserer Projektwoche standen wir erst recht vor mehreren Hürden: Es war freilich kaum mit sprachlichen noch mit ausreichenden Bildungsvoraussetzungen zu rechnen, um solche Fremdwörter und komplexe geschichtliche Zusammenhänge erfassen zu können. Außerdem war die Gruppendynamik geprägt von Vorurteilen und Abwertungen. Wir konzentrierten uns zunächst auf die Gruppenatmosphäre und führten mehrere Spiele durch, die nonverbale Annäherungen ermöglichen und vertrauensbildende Wirkung entfalten sollten; außerdem sollte der Unterricht einfach auch Spaß machen. Ein Quiz zu den Exponaten aus dem Regionalmuseum führte schließlich ins Thema ein. Josephine Janshen, Studentin der Sozialen Arbeit (BA, später MA) am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung der Hochschule Neubrandenburg, hatte es im Rahmen ihres Praktikums bei der RAA MV e. V. entwickelt. So traten die Gruppen »Ananas«, »Kiwi« und »Kokosnuss« am ersten Tag gegeneinander an, um herauszufinden, um was für Gegenstände aus der Kolonialzeit es sich handelte und wofür sie mutmaßlich eingesetzt wurden. Am nächsten Tag sollten sie
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
diese »live« im Regionalmuseum begutachten dürfen. Kreative (überzeugend erfundene) Antworten erhielten Extra-Punkte, bedeutete dies doch, als Gruppe miteinander ins Gespräch zu kommen und nicht aufzugeben, bloß weil man nichts gesichert wusste.
Abb. 3 und 4: Exponate aus der Sammlung des Dr. Bernhard Funke
Fotos: Josephine Janshen. Mit freundlicher Genehmigung des Regionalmuseums Neubrandenburg.
Nachdem wir sichergestellt hatten, dass alle, die Deutsch nicht als Muttersprache sprachen, mit Übersetzungswerkzeug ausgestattet waren (und zwei von uns fortan leise im Hintergrund tätig waren), gestaltete Bianka Bülow, die Leiterin des YEAD-Projekts, einen interaktiven Vortrag zum Thema. Intensiv hatte sie sich nach auch für uns notwendigen Recherchen zum Thema »deutscher Kolonialismus« mit der didaktischen Aufbereitung des schwierigen Stoffes befasst.10
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Ich dagegen mühte mich mit dem Erstellen eines Glossars, um Begrifflichkeiten in möglichst barrierearmer Sprache zu erklären. Ein Beispiel: »Kolonialismus nennt man den Vorgang der Übernahme der Herrschaft in einem fremden Land. Die Eindringlinge haben meist Interesse an den dortigen Bodenschätzen. Sie wollen ihr eigenes Land vergrößern. Die dort lebenden Menschen werden gezwungen zu gehorchen. Sie dürfen ihre eigene Kultur oder Religion oft nicht mehr ausüben. Sie müssen den neuen Herrschern dienen, z.B. als Sklavenarbeiter. Entweder werden alle Posten im Staat von den neuen Herrschern besetzt (direkte Herrschaft) oder aber es wird mit Personen, die sich anpassten, regiert (indirekte Herrschaft).«
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Hielt es der Geschichtslehrer zunächst für ausgeschlossen, dass die Schüler*innen sich länger als 15 Minuten konzentrieren würden, so wurde er eines Besseren belehrt: Fast eine halbe Stunde fesselte die Vortragende die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer*innen. Sie beobachteten, wie das interaktive Plakat wuchs. Sie stellten Fragen. Sie wollten verstehen. In der Auswertung hörten wir von der Mehrheit der Jugendlichen, es sei die beste Geschichtsstunde gewesen, an der sie je teilgenommen hatten. Und es war ein gewisser Stolz herauszuhören, denn, so vermuteten wir, sie fühlten, ihnen war etwas zugetraut worden. Sie fühlten sich ernst genommen und waren plötzlich motiviert, mehr zu erfahren.
Abb. 5 und 6: Das interaktive Tafelbild, das nach und nach im gemeinsamen Gespräch entstand.
Foto: RAA MV e. V.
Materialien der Arbeitsgruppen für selbst erforschendes Lernen Materialmappen für die Arbeitsgruppen sollten Hintergrundinformationen für die Arbeit an den Filmen und Anregungen für eigene Auseinandersetzung liefern. Nachdem dem Team der Projektleitung klar wurde, wie hoch die Sprachhürden für einige sein würden, nahmen wir aus den Mappen Unterthemen heraus (z.B. zu den schwarzen Kriegsgefangenen, zu »Menschenzoos«, zu Kinderarbeit in
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der Textilindustrie) und gaben damit das ursprüngliche Vorhaben, noch mehr Wahlmöglichkeiten anzubieten, auf. Es blieben drei Mappen: •
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»Was hat Neubrandenburg mit Kolonialismus zu tun?« enthielt Materialien zu dem nach Samoa ausgewanderten Arzt und seiner Südsee-Sammlung, die er dem Regionalmuseum vermacht hatte. »Was hat Essen mit Kolonialismus zu tun?« beschäftigte sich mit dem Kakaoanbau und Fair Trade Schokolade, mit Kolonialwaren allgemein und mit der früher üblichen rassistischen Werbung der Firma Sarotti. »Was hat Rassismus mit Kolonialismus zu tun?« widmete sich dem Schicksal des Erfurter Jugendlichen Gert Schramm, der wegen seiner schwarzen Hautfarbe von den Nationalsozialisten ins KZ Buchenwald verschleppt worden war.
Diejenigen, die nicht so viel lesen wollten oder konnten, durften von Anfang an andere Aufgaben übernehmen: Zusammen mit uns bereiteten sie Interviews vor (z.B. mit dem Museumsleiter, aber auch mit dem Inhaber des Neubrandenburger Bioladens) und übernahmen die Aufgabe, die Projektwoche filmisch zu dokumentieren; mit dem Medienpädagogen Toni Schwabe erlernten sie wesentliche Grundlagen zu Perspektiven, Kameraführung und Schnitt. Gemeinsam achteten wir darauf, dass sowohl Jungen als auch Mädchen die technischen Aufgaben übernahmen.
Exkursion ins Regionalmuseum Die Exkursion ins Regionalmuseum war für viele der erste Besuch in einem Museum dieser Art. Womit wir nicht gerechnet hatten: Wir konnten das Museum voll und ganz in Beschlag nehmen. Die Vitrinen wurden sogar vom Museumsleiter Herrn Dr. Rolf Voß wegen der Filmaufnahmen für uns geöffnet. Vieles konnten wir in die Hand nehmen; sogar das Klavier durften wir ausprobieren. Die Krönung jedoch war, dass Herr Dr. Voß uns die Samoa-Sammlung auf ungewöhnliche Weise zugänglich machte. Mit plaudernder Leichtigkeit machte er uns mit den Gegenständen und ihren Funktionen vertraut, während wir sie anfassen und filmen durften. Unser Wissen um Riten und Gebräuche wuchs mit jedem Exponat buchstäblich an, und die wertvollen Museumsobjekte belebten alle unsere Sinne.
Entscheiden – Filmen – Schneiden Die Arbeitsgruppen entwickelten nun eine Filmidee und wurden parallel von dem Medienpädagogen Toni Schwabe geschult. Mehrere Erwachsene standen zur Ver-
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fügung, um die nicht einfache Kommunikation zu unterstützen und Prozesse zu moderieren. Eine Arbeitsgruppe interviewte den Museumsleiter zu den Fotoaufnahmen der indigenen Menschen aus Samoa einerseits und aus dem Kriegsgefangenenlager Fünfeichen andererseits. Die andere Gruppe interviewte den Bioladenbesitzer und kam mit drei Tafeln Schokoladen mit Fair-Trade-Kakao zurück, um eine Verkostung vor laufender Kamera durchzuführen. Die dritte Arbeitsgruppe vertiefte sich in das Schicksal des von den Nationalsozialisten verfolgten Schwarzen Deutschen Gert Schramm (1928-2016).11 Alle machten sich Gedanken zu Dingen, von denen sie zuvor nie etwas gehört hatten. Offenbar liefen über die vielfältigen partizipativen Methoden und dem aufwändigen täglichen Evaluieren und Anpassen des Lernprozesses – vielleicht zusätzlich auch wegen des von uns immer wieder vorgelebten respektvollen Umgangs mit allen Beteiligten12 – auch noch andere Lernprozesse ab. Als Gruppe ermächtigt zu werden, einen eigenen Film zu drehen und dafür jede erdenkliche Unterstützung zu erhalten, das war eine Erfahrung, die bis dahin niemand gemacht hatte. Wir selbst waren erstaunt, welche Dynamik diese Projektwoche entfaltete. War es anfangs undenkbar, dass geflüchtete mit alteingesessenen Jugendlichen zusammenarbeiten, so fanden wir nach und nach Situationen vor, bei denen man sich gegenseitig half. Sprachhürden wurden gemeinsam genommen. Beim Ausprobieren im Museum wurden auch untereinander Fragen beantwortet. Unterschiedliche Talente traten zutage; Talente, die unabhängig vom Sprach- und Bildungsniveau einen Wert an sich darstellten. Die junge Syrerin zeigte sich etwa talentiert bei der Kameraführung, weil sie eine ruhige Hand bewies. Der anfangs lustlose Wortführer einer Untergruppe von Jungen, die vom Lehrer als »rechts« bezeichnet wurde, fand Freude und Anerkennung als Regisseur des Projektdoku-Teams. Sein aus Afghanistan stammender Mitschüler führte mit Geschick das eine oder andere Interview. Der anfangs herumpöbelnde Verweigerer aus der Oststadt entdeckte seine
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Vgl. hierzu das Porträt zu Gert Schramm in der Online-Ausstellung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas o.J.: »Du bist anders? Eine Online-Ausstellung über Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus.« Zum Beispiel begrüßten wir jeden Morgen alle Anwesenden in ihrer jeweiligen Muttersprache. Wir bemühten uns, mit jeder*jedem in großer Ruhe und Geduld zu sprechen und ließen keine Gelegenheit aus, positive Verhaltensweisen lobend hervorzuheben. Wir scheuten sogar nicht davor zurück, ein Warm-Up-Pantomimespiel mit Tier-Paarkarten in sieben Sprachen vorzubereiten und dabei wissentlich auch Fehler zu produzieren, z.B. beim Schreiben von den arabischen Schriftzeichen. Es gelang uns am Ende, die pubertären Hemmschwellen für eine Gruppenaktivität zu senken und den Effekt eines respektvollen Umgangs vorzuführen, denn wie erhofft, quittierten die jeweiligen Muttersprachler*innen unsere Mühe mit großer Freude, mit Humor und liebevollen Korrekturen.
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
Fertigkeit als Cutter und war am Ende sogar bereit, dem kurdischen Schulkameraden etwas beizubringen. Freilich befanden wir uns in dieser Projektwoche in einer luxuriösen Situation, denn der Betreuungsschlüssel war mit fünf bis sechs Personen aus verschiedenen Einrichtungen ausgesprochen gut. Aber auch nur so konnte es gelingen, die unterschiedlichen Belange und Bedürfnisse in dieser diversen Gruppe zu bewältigen.
Abb. 7 (links): Dr. Rolf Voß erklärt, was Kolonialwaren sind; Abb. 8 (rechts): Das Team führt vor laufender Kamera eine Fair-Trade-Schokoladenverkostung durch.
Quelle: Videoclip der AG »Was hat Essen mit Kolonialismus zu tun?«
Ausblick Das Pilotprojekt war ein Demokratieprojekt, allein schon, weil die gesellschaftliche Teilhabe aller Jugendlichen als solche gefördert wurde. Durch Kreatives selbst etwas zu erschaffen statt nur zu konsumieren, war eine wichtige Prämisse, die vielfältige Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zur Folge hatte. Das durchgängig partizipative pädagogische Setting trug dazu bei, dass junge Menschen einen eigenen Blick auf die Inhalte entwickeln mussten und konnten. Über die Auseinandersetzung mit Biografien – Lernen aus der Geschichte – kann eine Auseinandersetzung mit Demokratie und Menschenrechten heute gefördert werden. Und schließlich, so könnte man sagen, dürfen Dank der friedlichen Revolution heutzutage Themen diskutiert werden und Sachverhalte ausgesprochen werden, die vorher ideologisch unerwünscht waren. So waren zum Beispiel während der DDRZeit die drei Lager in Fünfeichen kein Thema. Rassistische Übergriffe wurden in der DDR nicht als solche geahndet oder wenigstens thematisiert. Denn Rassismus gab es offiziell nicht.13 13
Vgl. z.B. das Radiofeature von Klug (2020).
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Darüber hinaus war die Erforschung von Kolonialismus und Rassismus lange in beiden deutschen Staaten kein selbstverständliches Thema. Zwar gab es Ausstellungen und Veranstaltungen und auch die Neubrandenburger Sammlung wurde regelmäßig der Öffentlichkeit präsentiert. Doch waren diese in der Tendenz eher folkloristischer Natur. Man staunte über die Dinge und nahm oft genug gar nicht wahr, wie sehr man versehentlich Rassismen reproduzierte oder wie wenig man die Kontexte von Kolonialismus problematisierte. Die Kongo-Konferenz mit gut einem Dutzend Staatsvertretern Europas endete Anfang 1885 mit der Aufteilung des afrikanischen Kontinents, wodurch rund 1.000 afrikanische Regionen, Kulturen und Gesellschaften willkürlich voneinander getrennt und zu Kolonien zusammengefasst wurden. Diese am Reißbrett gezogenen, aufgezwungenen Grenzen und die daraus entstandenen kolonialen Herrschaftsgeschichten prägen die gesellschaftlichen Konflikte in den Regionen bis heute. Sie sind ein Element in der komplexen Bestandsaufnahme von Flucht- und Zwangsmigrationsbewegungen. In den Erinnerungsdiskursen der Nachkriegszeit fehlten die Bezüge und die vielen menschlichen Schicksale nicht nur in Deutschland. So fanden zum Beispiel hunderttausende Kolonialsoldaten aus Übersee auf europäischen Kriegsschauplätzen den Tod, ohne dass in den Statistiken je auf ihre Herkunft hingewiesen worden wäre. Hilfstruppen und Hilfsarbeiter waren in den Kolonien oftmals mit Gewalt rekrutiert worden. Allein Indien stellte 2,5 Millionen Kolonialsoldaten. In Äthiopien führte die faschistische italienische Besatzung des Landes Zwangsrekrutierungen durch. Auch die französische Armee konnte mit schätzungsweise 500.000 sogenannten Kolonialsoldaten auf ein wichtiges Kontingent zurückgreifen. Einige dieser Soldaten fanden sich als Kriegsgefangene in Neubrandenburg-Fünfeichen wieder. Gegen die Genfer Konvention setzten die Nationalsozialisten gefangene Soldaten als Zwangsarbeiter ein. Wie zeitgenössische Aussagen aus dem Neubrandenburger Stadtarchiv belegen, wurden die Soldaten sogar in diesem Kontext Ausgrenzungspraktiken ausgesetzt.14 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete keineswegs die Stunde Null und eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus in seinen Verstrickungen mit Kolonialismus, Rassismus oder Zwangsarbeit; auch eine regionalgeschichtliche Perspektive steht oft genug bis heute noch aus.
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Schwarze »Franzosen« sollten »vorläufig nicht zur Arbeit eingesetzt werden«, hieß es auch auf einem Plakat in Schwerin. Franzosen algerischer Herkunft sollten dagegen arbeiten, weil sie als »deutschfreundlich eingestellt« galten. Gewarnt wurde umso mehr vor den »tierischen Instinkten« der Franzosen afrikanischer Abstammung (…). Schon dieser Ausschluss Gefangener afrikanischer Herkunft vom Arbeitseinsatz verweist auf die rassistischen Motive für die Behandlung von Ausländern, die auch im Widerspruch zu den Verwertungsinteressen der Industrie stehen konnten« (Stamp 2001, S. 5).
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
Das Beispiel der Lerngruppe der Regionalen Schule Ost aus Neubrandenburg und ihre hier vorgestellte Projektwoche vermögen vielleicht die Richtung zu weisen, welche Elemente und Haltungen eine partizipative und die Teilnehmenden mitreißende, mit Geschichtsperspektiven angereicherte Menschrechtsbildung aufweisen könnte. Wie Susanne Schulz vom »Nordkurier« nach dem Besuch unserer feierlichen Abschlussveranstaltung im Museum schrieb: »Kolonien und Kolonialreiche – was war das doch für ein exotisches Thema damals in den Geschichtsstunden oder in spannenden Büchern und Filmen. Neubrandenburg allerdings kam darin nie vor, die mittelalterliche Stadt wuchs fern aller kolonialen Einflüsse vor sich hin – könnte man meinen.«15 Ja, und Neubrandenburg ist bestimmt nicht der einzige Ort in Mecklenburg mit kolonialen Spuren, der entdeckt werden könnte…
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Schulz 2017, S. 17.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Andrees Allgemeiner Handatlas (1906): »Karte der deutschen Samoainseln Savaii und Upolu. In: Bundesarchiv, Galeriebeitrag von Christian Buhlmann und Antje Märke«. https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellun gen/Eine-Deutsche-Musterkolonie-Samoa-Unter-Dem-Kosmopoliten-Wilhel m-Solf/eine-deutsche-musterkolonie-samoa-unter-dem-kosmopoliten-wilhel m-solf.html (Abfrage: 11.03.2021). Brüll, Margarete (1995): »Die deutschen Kolonien in der Südsee«. http://www.freib urg-postkolonial.de/Seiten/Adelhauser-Bruell1.pdf (Abfrage: 11.03.2021). Burgoyne, Leilani (2007): »Going ›Troppo‹ in the South Pacific: Dr. Bernhard Funk of Samoa 1844-1911. Die deutschen Kolonien in der Südsee«. https://cdn.auckland.ac.nz/assets/arts/Departments/german-slavonic/L eilani%20Burgoyne%20working%20paper.pdf (Abfrage: 11.03.2021). Klug, Thomas (2020): »Rassismus in der DDR – Das verdrängte Pogrom in Erfurt 1975«. https://www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-in-der-ddr-das-verd raengte-pogrom-in-erfurt-1975.1001.de.html?dram:article_id=482069 (Abfrage: 11.03.2021). Maubach, Peter (1995): Dr. Bernhard Funk (1844-1911). Ein Neubrandenburger in der Südsee. In: Neubrandenburger Mosaik 1995, H. 19, S. 87-93. Netzwerk für Demokratie und Courage (o.J.): »Angebote für Kinder und Jugendliche«. https://www.netzwerk-courage.de/web/2105.html (Abfrage: 12.05.2021). Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International e. V. (Hg.) (2005): »Unsere Opfer zählen nicht« – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Hamburg/Berlin: Verlag Assoziation A. Römhild, Regina: Kultur. In: Gogolin, Ingrid/Georgi, Viola B./Krüger-Portratz, Marianne/Lengyel, Drorit/Sandfuchs, Uwe (Hg.): Handbuch Interkulturelle Pädagogik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 17-23. Schulz, Susanne (2017): Filmische Erkundung mit Spaßfaktor. In: Nordkurier vom 20.07.2017, S. 17. Sow, Noah (2019): Schwarz für Weiße. In: Arnt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 3. Auflage. Münster: Unrast Verlag, S. 608-610. Stamp, Friedrich (2001): Zwangsarbeit in der Metallindustrie 1939 – 1945. Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. Eine Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung. Berlin: Otto Brenner Stiftung. Starsy, Peter (2002): Die Auswanderung aus Mecklenburg im 19. Jahrhundert. Annäherung an ein sozialhistorisches Phänomen. In: Bade, James/Braund, James/Maubach, Peter/Starsy, Peter (Hg.): Von Mecklenburg nach Neuseeland.
Koloniale Spurensuche in Neubrandenburg
Auswanderung im 19. Jahrhundert. Schriftenreihe des Regionalmuseums Neubrandenburg. Neubrandenburg: o. Verlag. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (o.J.): »Porträt zu Gert Schramm in der Online-Ausstellung ›Du bist anders? Eine Online-Ausstellung über Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus‹«. https://www.dubistan ders.de/Gert-Schramm (Abfrage: 12.05.2021).
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Tanz als Protestform Wirkungsweisen und Deutungen aus Tänzer*innen-Sicht Sophie Dietel »Tanz ist die höchste, die schönste der Künste, denn es ist nicht bloß Übersetzung vom Leben: es ist das Leben.« (Havelock Ellis)
Einleitung Die Fachkonferenz »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« war für mich der Anlass, mich mit dem Thema »Tanz als Protest« auf einer anderen Ebene auseinanderzusetzen. Dabei stellt das Element der Demokratieförderung einen entscheidenden Aspekt dar. Am Ausgangspunkt steht die Frage, welche Beiträge besonders zeitgenössischer Tanz für die Bewusstmachung, den Erhalt und die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft leisten kann sowie welche Formen aktuell von Bedeutung sind. Der Fokus liegt hierbei auf Aspekten der Teilhabe, der Toleranz, der Eigenwirksamkeit und auf Fähigkeiten von Differenzierung und Pluralisierung. Im Zuge dessen werden Choreografien als Protestform sowie der Straßenprotest unter dem Aspekt der Ästhetisierung des Politischen betrachtet. Hier zeigt sich bereits die gegenwärtig populärste Form des Flashmobs mit der ihm eigenen Gruppendynamik. Involviert ist ferner ein kurzer Überblick über Tanzstile in der Geschichte der Menschheit, die in der Wahrnehmung mit Protest verknüpft sind. Diese bilden u.a. den Ansatz für Experteninterviews mit drei Tänzer*innen und einem Choreografen der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz, Stiftung für traditionellen Tanz im Land Mecklenburg-Vorpommern. Deren Erfahrungswerte fließen in die Beantwortung der am Anfang aufgeworfenen Fragestellung ein und münden mit den theoretischen Ergebnissen in einem Fazit. Im Alter von vier Jahren begann ich selbst mit dem Tanzen. Seither begleitete Tanz mich über viele Jahre und prägte mein Leben. So schrieb ich meinen Bachelor zum Thema »Der Einfluss von Tanz auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern« und meine Masterarbeit beschäftigte sich mit gesellschaftlichen Unterstüt-
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zungsmöglichkeiten für Tänzer*innen am Karriereende. In den letzten drei Jahren leitete und organisierte ich Ferienkurse sowie einen Jahreskurs an der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz, gefördert durch das Bundesprogramm »Kultur macht stark«, dessen Fokus auf Kindern aus sozial schwächeren Familien liegt. Noch immer ist es mir ein Bedürfnis, am tanzkulturellen Leben teilzuhaben. Ich besuche regelmäßig die Inszenierungen der Deutschen Tanzkompanie und darüber hinaus bekannte Häuser in Berlin, Leipzig und Dresden. Mit ihrem gesellschaftskritischen Blick haben sich mir »Die Nibelungen«, »Le sacre du printemps« oder »Labyrinth« (»Black Milk«) eingeprägt. Im Rahmen meines Masterstudiums nahm ich am Seminar »Forschungswerkstatt, Demokratie und Kulturpädagogik« bei Frau Prof. Dr. Júlia Wéber teil und führte anregende Gespräche mit ihr. Im Zuge dessen reifte die Idee, im Rahmen der Veranstaltung »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« den Aspekt von Tanz als Protest einzubringen und auf Möglichkeiten der Demokratieförderung zu verweisen. Kann Tanz also die Rolle des Protestes übernehmen und im Zuge von Veränderungen Bestandteil revolutionärer Umwälzungsprozesse werden? Tanz stellt eine der ältesten Kultur- und Ausdrucksformen dar. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte begleitet er uns in verschiedenen Formen von Huldigung, Opfergabe, Ritualen, Meditation, Unterhaltung, aber auch Protest. Tanz gab und gibt den Menschen die Möglichkeit, Gefühle und Stimmungen vielschichtig auszudrücken und mitzuteilen, wirkt universell und unmittelbar. Tanz nutzt Körperlichkeit, setzt Gedanken und Gefühle in Bewegungen um, arbeitet mit Mimik und Gestik und bedarf im engeren Sinne keiner weiteren Hilfsmittel. Die Aussageund Ausdruckskraft kann jedoch tiefgründig durch Requisiten, vor allem durch Kostüme und Make-up unterstrichen werden. Dies ermöglicht eine weitere Akzentuierung.
Choreografie als Protestform Politisch motivierte Flashmobs und Performances reagieren mit populären und zeitgenössischen Tanzformen auf aktuelle Fragen der Gesellschaft. Welche Gründe hat es, dass sich viele Menschen auf öffentlichen Plätzen zusammentun und tanzen? Zum einen finden die Teilnehmer*innen einen Reiz daran, etwas Außergewöhnliches zu tun. Vielleicht wollen sie provozieren oder im Mittelpunkt stehen, ohne dabei wirklich im Auge des*der Betrachter*in der Mittelpunkt zu sein, denn aufgrund der großen Teilnehmer*innenzahl verliert sich das Individuum in der Masse. Das heißt, man kann Teil einer aufsehenerregenden Aktion sein, ohne dass man selbst dabei unmittelbar entlarvt wird. Die Gruppe anonymisiert den*die Einzelne*n. Das macht zum anderen einen Flashmob auch für
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Menschen zugänglich, die allein niemals in der Lage wären, etwas Performatives in der Öffentlichkeit zu tun. Es ist eine Gruppendynamik, die entsteht und die dafür sorgt, dass die Beteiligten ihre Hemmungen fallen lassen.1 Natürlich kommt auch der Spaßfaktor in zweierlei Aspekten zum Tragen, zum einen in der Freude an der Aktion selbst, zum anderen im Unterhaltungswert, der in der Verblüffung der Passant*innen besteht.2 Der Flashmob kann Performance-Kunst sein oder nur ein Kindheitstraum, der in die Tat umgesetzt wird. Man kann Grenzen überschreiten, ohne dabei jedoch »zu weit« zu gehen. Der Streich der Flashmobber*innen ist meist witzig oder kurios, aber nicht illegal. Er verblüfft lediglich, aber verletzt niemanden in seiner*ihrer eigenen Privatsphäre. Er nutzt den Moment. Kritik gegen den Flashmob in seiner unterhaltenden Form gibt es genug. Hauptkritikpunkt: Das Potential einer solchen Organisationsform wird verkannt. Aus diesem Grund hat sich der Smart Mob entwickelt, dessen Hauptunterschied darin besteht, dass er versucht, mit dem Mob etwas zu verändern oder zumindest auf Probleme aufmerksam zu machen. Er kommt daher einer Demonstration sehr nahe. Der Protest hat sich schon immer ästhetischer Mittel bedient. Aber vor allem seit den 1960er-und 1970er-Jahren – und in einem weiteren »Schub« nach den 1980er-Jahren – hat die ästhetische Praxis in den Protestkulturen im Zuge einer steigenden Bedeutung von medialer Bilderpolitik nicht nur zugenommen, sondern diese auch grundlegend verändert. Welche Rolle spielen Körper und Bewegung, Choreografie und Performance in den neuen Protestkulturen im urbanen Raum?
Ästhetisierung des Politischen: Straßenprotest Die neuen Protestkulturen sind in einer Zeit entstanden, in der Städte radikale Transformationsprozesse erlebten. Mit der Ästhetisierung der Innenstädte verändern sich die choreografierte Ordnung der Stadt sowie die sozialen Choreografien der ›Menschenströme‹, ihr Bewegungsflow. Das heißt, es wandelt sich der choreografierte Raum der Stadt: Fußgängerzonen, Radwege, ›Plazas‹ und Tempo-30Zonen markieren die Ordnung der Stadt, die sich als eine materialisierte Form der Choreografie beschreiben lässt. Somit realisiert sich zugleich ein Stadtkonzept, das anders als die funktionalisierte Stadt der Moderne den »Bewegungsfluss« und die »Menschenströme« lenkt. Dieser Umbau der industrialisierten Stadt zu einem theatralischen Environment bildet den Rahmen für eine neue soziale, ästhetische und körperliche Praxis 1 2
Dafert 2004, o.S. Ebd.
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des Protests im öffentlichen Raum. Seit Ende der 1980er Jahre etablierten sich bekanntlich – ermöglicht durch mediale Kommunikationsnetze (Internet, Facebook, Twitter, Email, SMS) – Protestbewegungen, die neue Formate der Öffentlichkeit erprobten: karnevalsartige Umzüge, Straßentheater, Performances und Paraden, Besetzungen von Häusern, Straßenkreuzungen, Bauplätzen oder Bahngleisen, SitIns, Flash Mobs oder Freezen lieferten spektakuläre Medienbilder und sorgten in der jüngsten Vergangenheit für ein Anwachsen und eine rasante internationale Verbreitung des Protestes. Mit der Ästhetisierung der Protestbewegungen verändert sich das Verhältnis von Form und Inhalt: Die Inhalte werden immer mehr über die Form transportiert. Mit der Breite der Themen und Ziele ändern sich auch die sozialen Figurationen des Protestes.3 In den neuen Figurationen des Protestes zeigt sich eine neue Qualität darin, dass Politik und Ästhetik sich nicht ausschließen. Die Ästhetisierung des Protestes führt demnach nicht zu dessen Entpolitisierung. Vielmehr wirken das Ästhetische und das Politische in den neuen Protestformen zusammen und zwar im Sinne einer gleichzeitigen und ineinander greifenden Bewegung, einer Ästhetisierung des Politischen und einer Politisierung des Ästhetischen. Es sind Protestbewegungen, bei denen das Wort »Bewegung« durch die körperlichen, szenischen und choreografischen Aktionen nicht nur metaphorisch, sondern wörtlich zu nehmen ist; eine Tatsache, der in den Theorien der Neuen Sozialen Bewegungen bislang nicht Rechnung getragen worden ist. Selbst die aufschlussreichen soziologischen Arbeiten, die die Körperlichkeit des Protests in den Blick nehmen, konzentrieren sich auf den »Körpereinsatz« beim Protest. Sie verstehen also den Körper als Mittel zum Zweck, als »Waffe«.4 Aus der Perspektive einer kritischen Theorie der Moderne, die die kulturellen Muster einer Gesellschaft vor allem in den körperlichen Praktiken des Alltags, in den Mikropolitiken ausmacht, ist die Perspektive der interagierenden Körper von besonderem Interesse. Denn der Körper ist nicht nur Medium des Protests, insofern er dessen Träger von Zeichen und Symbolen ist, oder, wie bei Selbstmordattentäter*innen, aufs Spiel gesetzt wird. Vielmehr wird in der choreografischen Organisation der Körper, also in der Materialität der sozialen Figuration, der Protest erst performativ hervorgebracht, indem die Körper den öffentlichen Raum besetzen und dessen Ordnungen unterlaufen. Öffentlicher Protest heute revolutioniert nicht, sondern interveniert. In unserer heutigen Zeit bilden Flashmobs die bekannteste Form. Deren Verlauf ist dabei stets der gleiche. Plötzlich und unerwartet erscheinen die Akteur*innen auf öffentlichen Plätzen, wo sie auf ein Signal hin eine kurze, scheinbar sinnlose Handlung synchron durchführen, um sich danach wieder in alle Winde zu verstreuen. 3 4
Vgl. Elias 2003, S. 88-91. Pabst 2007, S. 94-98.
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Gemeinsam wird getanzt, gehüpft, gesungen oder ein kollektiver Bewegungsstillstand erprobt. Dabei kennen sich die Teilnehmer*innen meist nicht. Sie haben sich über das Internet informiert und verabredet.
Stilrichtungen im Tanz und deren Bezug zum Protest Die Geschichte des Tanzes wird durch die historische und gesellschaftliche Entwicklung von verschiedenen Formen des Protestes geprägt. Einzelne entscheidende Formen sollen nur betrachtet werden. Die bekannteste ist sicherlich der Rock ’n’ Roll, der die Generation der 1960er-Jahre prägte. Jedoch steht außer Frage, dass die älteste Form der Capoeira ist. Im 16. Jahrhundert entstanden, verbindet diese brasilianische von Sklaven ausgehende Kampfkunst Elemente von Tanz, Akrobatik und Musik. In einem Kreis, Roda, stehen sich zwei Kontrahenten gegenüber und tragen spielerisch ein Duell aus. So umging man das Verbot öffentlicher Kämpfe. Der Moderne Tanz grenzt sich gegenüber dem klassischen Ballett ab und wird um 1900 von den USA nach Europa gebracht. Pionierinnen sind Loie Fuller, die mit Stäben meterlange Seidenstoffe in Bewegung setzte, sowie Isodora Duncan und Ruth Saint Denis. Letztere tanzte mystisch, orientalisch, sinnlich und intensiv. Basierend auf dem Expressionismus wurden Gedanken und Gefühle, das Innere, transformiert. Ende der 1920er Jahre entstand mit dem Swing ein extrovertierter Improvisationstanz, der dem Rock ’n’ Roll entgegensteht. Weiße Country- und Westernmusik werden mit schwarzem Rhythm & Blues verknüpft. Als »unmoralischer« Affentanz bleibt der Rock ’n’ Roll lange abgelehnt, füllt aber gerade bei der Jugend ein gesellschaftliches Vakuum und ist Ausdruck der Rebellion. Mangel an Kontrolle wird als fundamentale gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Der Mitte der 1970er Jahre entstandene Punk ist gekennzeichnet von non-konformistischem, provozierendem Verhalten und Rebellion. Er zeigt die aggressive und resignierende Haltung gegenüber der Gesellschaft und betont die Freiheit des Individuums. Pogo, der Tanz der Punks jedoch, unterliegt einem Ehrenkodex, bei dem auf Schwächere und Gestürzte Rücksicht genommen wird. Daher nennt man ihn auch »Rebellion mit Ordnung«. Die Jugendbewegung der Ghettos mit Wurzeln im afroamerikanischen Funk und Soul, der Hiphop ist immer gegen Rassismus, Diskriminierung, Faschismus und Frauenfeindlichkeit gerichtet. In der Dark Wave und Gothic-Szene werden in den 1980er Jahren die Werte der Konsumgesellschaft abgelehnt und die »normale« Bevölkerung als konservativ, intolerant, egoistisch und negativ wahrgenommen.
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Ergebnisse der Interviews Die Datenauswertung erfolgte anhand der Inhaltsanalyse nach Mayring5 . Die Teilnehmer*innen stellen eine heterogene Gruppe dar und wurden durch mich ausgewählt. Die Datenerhebung erfolgte im Zeitraum vom 20. Juni bis 18. Juli 2019. Im Folgenden werden einzelne Ergebnisse der Befragung dargestellt: In der Unterkategorie Tanz als Protest wird als erste Assoziation der Flashmob erwähnt. »Flash Mob fällt mir jetzt ein, als Tanz, als Protest zum Beispiel. Auf der Straße dann etwas zu blockieren. […] um zum Beispiel gegen die Schließung eines Theaters zu protestieren, so etwas eben, dann vor dem Rathaus extra nochmal zu tanzen oder bei denen in der Sitzung nochmal zu tanzen oder so und eben deutlich zu machen, dass es uns überhaupt gibt.«6 Abb. 1: Protest der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz bei einer Abgeordnetensitzung
Quelle: Ulrich Krieger
Der Zwiespalt im Bezug zur Heimat zeigt sich besonders in der Choreografie »Perfect Tragic Place« aus der Inszenierung »Heimat – Drei Bekenntnisse, Drei Choreografien«.
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Vgl. Mayring 2010. Interview mit Axel Rothe am 26. Juni 2019.
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»[…] wenn man das so ein bisschen als Kriegsschauplatz-Analogie sehen könnte: Du hast dort eine Front und hier ist die Gegenfront. […] Und dabei setzt der Tanz ein Ausrufezeichen […] Tanz kann ein sehr, sehr, sehr starkes Symbol für Protest oder direkt mit ihm verbunden sein.«7 Abb. 2: »Perfect Tragic Place« (2018), Choreografie Julia Maria Koch
Quelle: Oliver Hohlfeld
Besonderen Wert legen die Interviewpartner*innen auf den Aspekt der Freiheit der Kunst und zeigen die Gefahr der Instrumentalisierung auf. »Kunst muss frei bleiben. Und wenn man auf der Bühne, jeder Tanzbühne, das Gleiche sieht, dann ist definitiv etwas falsch gegangen.«8 »Kunst muss sich keinem Kader zuordnen. Sie kann auch völlig unpolitisch sein. Um das gewisse Etwas, den gewissen Funken Genie überspringen zu lassen, muss sie nicht politisch sein.«9 »Man muss natürlich aufpassen, dass man sich nicht instrumentalisieren lässt und zu einem Spielball von modischen Bewegungen wird.«10
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Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019. Interview mit Philipp Repmann am 18. Juli 2019. Ebd. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019.
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Tanz ist in jeder Form gesellschaftlich und politisch relevant. Dafür sprechen auch folgende Aussagen: »Und dann ist man in der Notwendigkeit oder ist man in der Gefahr, die Notwendigkeit zu sehen, besser zu wirtschaften, also Sachen zu produzieren und zu choreografieren und auf die Bühne zu bringen, die besser verkäuflich sind.«11 »Manchmal hilft es, den Politikern und den Entscheidungsträgern auf drastische Art vor Augen zu führen, dass an ihren Entscheidungen menschliche Existenzen […] und letzten Endes auch menschliche Kulturwerte hängen. […] aber dagegen anzutanzen ist eine sehr starke Form des Protestes, weil die einfach entwaffnend ist.«12 Ein Höhepunkt in der Geschichte der Tanzkompanie in Form des Protests zeigte sich im Kampf gegen deren Schließung 2016. »Das war ein Marsch, ein Protestmarsch, wenn man das so nennen mag. Wir sind mit einem Transparent in der Hand vor das Arbeitsamt und haben der Presse Fotos geliefert, damit diese abstrakte Entscheidung, die Tanzkompanie muss weg, auch ein Gesicht bekam. Dieses Foto ging durch die Presse und hat, glaube ich, für sehr viel Wirbel gesorgt. Und das war eine choreografische Inszenierung und war auch eine sehr starke Form des Protestes.«13 Aber man darf nicht nur die offensichtlichen Formen des Protestes betrachten, sondern muss auch im Kleinen den stets vorhandenen Spiegel der Gesellschaft bedenken, der in jeder Kunstform gegeben ist. »Also ich finde, es ist schon ein wichtiges Mittel, weil du damit den Leuten den Spiegel auch vorhältst. […] Es ist einfacher, sich etwas anzugucken als jetzt Bücher zu lesen.«14 »Alles hat seine Vor- und Nachteile, bei jeder Seite. Aber dieser Diskurs ist, glaube ich, sehr wichtig in unserer heutigen Gesellschaft. Individuum und Kollektiv und das ist ja im Tanz ganz existenziell auf der Bühne.«15 »Es geht um Inhalte, die wir transportieren und da ist es ganz egal, woher jemand kommt und deswegen leben wir genau genommen die offene Gesellschaft und Demokratie und Liberalismus und alle Menschen sind gleich, natürlich bei uns. Alle Menschen haben die gleichen Sehnsüchte und Ängste.«16
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Interview mit Philipp Repmann am 18. Juli 2019. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019. Ebd. Interview mit Clarissa Gehring am 04. Juli 2019. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019. Interview mit Axel Rothe am 26. Juni 2019.
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»Und insofern ist in jeder Inszenierung ein Körnchen Protest, dass man könnte mal auseinander nehmen.«17 »›Faust‹« zum Beispiel ist ein Abbild der Gesellschaft. Deshalb sind auch extra der Osterspaziergang, Auerbachs Keller und die Walpurgisnacht als eine gesteigerte überhöhte Gesellschaftskritik dargestellt.«18 Abb. 3: Die Tänzer*innen der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz mit Transparent vor dem Arbeitsamt.
Quelle: Marlies Steffen und Paul Zinken
Die alles entscheidende Frage bleibt jedoch die nach der Wirksamkeit von Protest. Auch hierzu gibt es Bezüge der Interviewten. »Die Bildsprache, mit der ich ›Die Nibelungen‹ aufgebaut habe; die Art von Schminke, die die Tänzer zum Beispiel trugen; das war ja keine Schminke, die man rekonstruiert hat wie die Nibelungen wahrscheinlich damals geschminkt waren, sondern das war brachiales Straßentheaterschminken. […] Also es war in gewisser Art ein sympathisch gemeinter Protest gegen diese Armseligkeit des Straßentheaters, was wir hier teilweise auch bespielen. Die Kargheit der Ausstattung war in gewisser Weise ein Protest gegen einen Mangel.«19 »›Völker wandern – 53 Grad Nord‹ haben wir 2016 inszeniert. Ja, und da stand die Tanzkompanie vor dem Aus. Also wir haben gegen unsere Vernichtung mit einer 17 18 19
Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019. Interview mit Philipp Repmann am 18. Juli 2019. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019.
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Abb.4: »Faust« (2019), Choreografie Lars Scheibner
Quelle: Oliver Hohlfeld
Abb. 5 und 6: »Die Nibelungen« (2015), Choreografie Lars Scheibner
Quelle: Oliver Hohlfeld
Produktion angetanzt, ganz klar. […] Und das Schlussbild war inszeniert auch richtig als ein Stück im Stück. […] Wenn ihr mich vernichten wollt, wenn ihr mich beseitigen wollt, dann müsst ihr mich beseitigen mit Gewalt.«20 »Also, wenn ich jetzt an ›Kriemhilds Rache‹ denke, an den Anfang mit den Zügeln, dass man doch eigentlich immer irgendwie und irgendwo festgehalten wird. Sei es in einer sozialen Schicht oder in irgendeiner […] Schleife, die immer wiederkehrt. […] Also diesen Teil würde ich schon auch als Protest sehen.«21 20 21
Ebd. Interview mit Clarissa Gehring am 04. Juli 2019.
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Abb. 7: »Kriemhilds Rache« (2017), Choreografie Lars Scheibner
Quelle: Oliver Hohlfeld
Eine nicht unerhebliche Frage ist die, inwiefern Tanz überhaupt demokratiefördernd wirken kann. Die Mitglieder der Deutschen Tanzkompanie reflektieren dies vorrangig in Bezug auf ihre Truppe und das Zusammenleben in der Kompanie als auch in der Besetzung der Inszenierungen. »Ja, untereinander ist es natürlich so, dass wir eigentlich die offene und die liberale Gesellschaft leben. Wir sind eine Mischgruppe. Wir sind eine EinwanderungsTanzkompanie. Bei uns also tanzen sehr viele, fast sogar mehrheitlich ausländische Kollegen. Und das bereichert uns. Wir sehen, dass es funktioniert. Wir haben einheitliche Normen und deswegen leben wir bei uns genau genommen die offene Gesellschaft und Demokratie und Liberalismus und alle Menschen sind gleich.«22 »Wir leben hier Demokratie und Integration auf höchstem Niveau. […] Also ich brauche sowohl die individuelle Persönlichkeit des Künstlers, aber ich brauche auch das synchrone Kollektiv, wenn es erforderlich ist. […]. Besseres Vorleben davon, wie Demokratie funktionieren kann, kann man, glaube ich, nicht tun.«23 »Ja, selbstverständlich. Guck dir den ›Karneval der Kulturen‹ […] in Berlin […], wo
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Interview mit Axel Rothe am 26. Juni 2019. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019.
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die ganze Welt zusammen tanzt. Das ist eine nonverbale Verständigung. Das war immer so. […] Ein besseres, verbindendes Element gibt es, glaube ich, gar nicht.«24 »Und Demokratie, das Erleben, das körperliche Erleben, dass man zusammen mehr ist. Das man zusammen eine Kraft ist, dass ist, glaube ich, das Wichtigste, um demokratische Entscheidungen überhaupt erst möglich zu machen.«25 »Normalerweise bin ich der Torero in ›Carmen‹ und ich habe fast nur spanische Kollegen. Verstehst du? [….] Es funktioniert schon noch. Es wird nicht nur so gecastet und Rollen vergeben und das ist auch gut so.«26 Abb. 8 (links): »Carmen« (2018), Choreografie Lars Scheibner; Abb. 9 (rechts): »Das kalte Herz« (2019), Choreografie Lars Scheibner
Quelle: Oliver Hohlfeld
Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: 1. Protest im Tanz tritt immer dann auf, wenn das ausgedrückt werden kann, was man innerlich fühlt. 2. Je mehr versucht wird, bestimmte Tanzformen zu standardisieren, desto mehr geht der individuelle Ausdruck und somit auch der Protest im Tanz verloren.
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Interview mit Axel Rothe am 26. Juni 2019. Interview mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019. Interview mit Philipp Repmann am 18. Juli 2019.
Tanz als Protestform 3. Protest im Tanz bedeutet, dass die Welt, wie sie sich der tänzerische Mensch vorstellt, in tänzerischer Bewegung ausgedrückt wird. 4. Der Protest im Tanz wird häufig durch die Musik als Auslöser aktiviert, kann aber auch durch eine andere Art von »Zündfunken«, wie z.B. einem Bild oder – wie im Capoeira beschrieben – durch eine physische Gefahr aktiviert werden. 5. Protest im Tanz kann sich in vielfältiger Weise äußern. 6. Tanz wirkt demokratiefördernd: sowohl innerhalb der Strukturen einer Kompanie als auch gesellschaftlich in der Besetzung der Inszenierungen und deren Thematik.
Tanz kann verschiedenartig als Ausdrucksform des Protests genutzt werden, wirkt politisierend, unterstützt den Toleranzgedanken und kann ausgleichend in Konfliktsituationen agieren. Als Spiegel der Gesellschaft stellt er wie andere Kunstformen auch ein grundlegendes Handlungsfeld des Menschen dar. Gebündelt kann diese Kraft, wie bei der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz, ein riesiges Potential freisetzen. Dies beginnt bei der Auswahl der Werke bzw. des Stoffes, führt über die Inszenierung und neue dramaturgische Ansätze in die Gegenwart. Dabei stellt das Ergebnis immer eine Mischung des gewählten Inhaltes (Stoff, Sujet) und seiner dramatischen Bearbeitung, der Interpretation des Choreografen, der Ideen einzelner Tänzer*innen und der Gruppe als Gemeinschaft dar.
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Sophie Dietel
Quellen- und Literaturverzeichnis Dafert, Gerhard (2004): Horn-Schulstadt und Keilboden. Festschrift zum 100. Stiftungsfest der Katholischen-Österreichischen Studentenverbindung. Horn: KÖStV Waldmark Horn. Elias, Norbert (2003): Figuration. In: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. Stuttgart: Springer, S. 88-91. Elias, Norbert (2004): Was ist Soziologie? Weinheim: Beltz. Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Weinheim/Basel: Beltz. Pabst, Andrea (2007): Body Politics. Körper und Straßenprotest. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft, H. 1/2007, S. 94-98.
Interviews Interview mit Clarissa Gehring am 04. Juli 2019. Interview mit Philipp Repmann am 18. Juli 2019. Interview mit Axel Rothe am 26. Juni 2019. Interview mit mit Lars Scheibner am 20. Juni 2019.
Welche Bedeutung hat der Transformationsprozess als gesellschaftlicher Umbruch für die Beteiligten? Reflexionsbericht zum intergenerationellen Erzählcafé vom 14. November 2019 Nadine Meyer
Einleitung Der gesellschaftliche Transformationsprozess, der mit dem Sturz der Mauer 1989 einhergeht, barg eine Vielzahl an Veränderungen in sich. Dieser Bericht setzt sich mit unterschiedlichen Fragestellungen auseinander, so unter anderem: Wie erlebten Zeitzeug*innen diesen Lebensabschnitt? Wie beeinflusst er heute noch die Generation sowie deren Nachkommen? Inwieweit geben Eltern ihre Erlebnisse, die auch mit Traumata wie Angstzuständen verbunden sein konnten, an ihre Kinder weiter? Welche Bedeutung kommt bei der Traumabewältigung im Kontext der Transformation 1989/90 der Sozialen Arbeit zu? 2019 war ein Jahr des Jubiläums: 30 Jahre friedliche Revolution begleiteten das vereinte Deutschland. Im Rahmen der Festwoche »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?« im November 2019 an der Hochschule Neubrandenburg bot sich Studierenden die Möglichkeit, sich mit unterschiedlichen Themen der friedlichen Revolution und dem gesellschaftlichen Transformationsprozess tiefgreifender auseinanderzusetzen. Unter anderem wurden Zeitzeug*innen unterschiedlichen Alters eingeladen, die sowohl über ihre Erfahrungen aus der Zeit als auch über die Folgen berichteten, die bis heute nachwirken. Neben einem Ehepaar und einer Mutter mit ihrer jetzigen erwachsenen Tochter waren zwei Frauen eingeladen. Eine der Frauen erlebte die DDR als einen Staat, der ihr Sicherheit gab, wohingegen die andere ihn als einengend und bevormundend erfahren hat. Die Veranstaltung lebte von diesen Erfahrungsberichten der Beteiligten. Zunächst werde ich einen minimalen Abriss über die Unterschiede der beiden Staatssysteme geben, um zum Thema hinzuführen. Anschließend greife ich Schwerpunkte aus der Veranstaltung auf und werde diese vertiefender erörtern. In meiner Ausarbeitung
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werde ich mich vorrangig auf die Publikation »Der Gefühlsstau« von Hans-Joachim Maaz beziehen.1
Die beiden deutschen Staaten: Ein kurzer historischer Abriss Nach dem Kriegsende 1945 war Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen wurden durch die Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich in den jeweiligen Zonen festgelegt. Dabei gingen die Siegermächte verschiedenen politischen Interessen nach. Die Folge war, dass sich in Deutschland zwei unterschiedliche Staaten bildeten. In den drei westlichen Besatzungszonen wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Diese folgte dem Prinzip der freien Marktwirtschaft, in dem sich Angebot und Nachfrage beeinflussten. Im weiteren Verlauf entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem demokratischen Verfassungsstaat, in dem beispielsweise eine Parteienvielfalt herrschte und demokratische Abstimmungen (freie Wahlen) erfolgten. Aus der sowjetischen Besatzungszone entwickelte sich die spätere Deutsche Demokratische Republik (DDR). In der DDR wurde die Einparteienherrschaft etabliert, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) präsentiert wurde. Das hatte u.a. zur Folge, dass keine freien Wahlen abgehalten wurden und Bildungschancen bzw. der berufliche Aufstieg an die Wertvorstellungen der kommunistischen Überzeugungen gekoppelt waren.2 Um die wiederkehrenden Flüchtlingswellen in die Bundesrepublik zu unterbinden, wurden anfangs Kontrollpunkte, später perfektionierte Sperranlagen entlang der innerdeutschen Grenze errichtet. Am 13. August 1961 wurde als Antwort auf die Fluchtwelle auch Berlin durch eine Mauer dicht gemacht.3
Die Zeitzeug*innengespräche: Leben in der DDR Wie erlebten die Zeitzeug*innen die DDR? Eine der beiden Frauen beschrieb die DDR als ein Regime, in dem Unterdrückung ein gängiges Machtmittel war, in dem den Menschen die eigene Meinungsfreiheit und Kritikfähigkeit abgesprochen wurde. Sie äußerte, dass es sich in dem System nur aushalten ließ, wenn sich die Menschen anpassten und Lippenbekenntnisse machten, wenn sie nicht selbstständig dachten und dem System Gehorsam schenkten. Diese Frau erzählte, dass ihr Vater
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Maaz 1991. Vgl. Hertle 1998, S. 20f. Ebd., S. 22f.
Welche Bedeutung hat der Transformationsprozess als gesellschaftlicher Umbruch?
promovierte und sich in der DDR in seiner beruflichen Entwicklung blockiert fühlte, weil er nicht linientreu war. Sie war zu der Zeit noch ein Kind. Dennoch erinnert sie sich daran, wie sie zuhause gemeinsam über die Zustände in der DDR diskutierten. Diese Auseinandersetzungen prägten sie in ihrer Entwicklung, so dass sie keine Verbundenheit zur DDR entwickelte. Sie sprach davon, dass sie belehrt, beschämt, vorgeführt oder aber ausgeschlossen und ausgegrenzt wurde. In dem Werk »Der Gefühlsstau« von Hans-Joachim Maaz beschreibt der Autor ähnliches. Als Erwachsene wurden die Menschen in ihren Entwicklungsverläufen behindert, sie wurden bedroht und bestraft. Die Rechte eines jeden Menschen nach Anerkennung und Weiterentwicklung wurden gewährt, wenn die Bürger*innen sich dem Staat fügten und zu dessen Wohl agierten. Folgten die Bürger*innen diesem nicht, so verloren sie ihre moralische Würde und persönliche Integrität.4 Der Staat erzog seine Bürger*innen durch autoritäre und militärische Methoden. Die Indoktrinierung etwa in Kindergarten, Schule und Beruf führte zu Unterordnung, Disziplin und Gehorsam.5 Die Frau äußerte einen weiteren störenden Aspekt. Aus ihrer Sicht ähnelten sich die Bürger*innen zu sehr. Es gab wenig Vielfalt und Eigensinn. Die Prinzipien eines*r DDR-Bürgers*in lagen in der Disziplin und Ordnung. Diese zeigten sich in seiner*ihrer Pünktlichkeit, in seinem*ihrem Gehorsam, in seinem*ihrem Ein- und Unterordnen in ein Kollektiv. Eines der wichtigsten Ziele in der Erziehung war es, die Individualität zu unterdrücken und den eigenen Willen des Individuums zu untergraben.6 Im Gegensatz zu den genannten Schilderungen gibt die zweite Zeitzeugin einen anderen Einblick in die DDR. Sie genoss in dem Staat Sicherheiten und konnte sich mit dem System arrangieren. Ihr Tagesablauf war strukturiert, sie ging einem Beruf nach, während ihr Kind betreut wurde. Auf den Kindergartenplatz musste sie zu der Zeit nicht warten. Nach Dienstschluss holte sie ihr Kind aus der Einrichtung ab und kam dann den häuslichen Verpflichtungen nach. Ihrer Aussage zufolge lebte sie nicht in der Nähe der Grenze, so dass diese für sie nicht von großer Bedeutung war. Sie wusste, die Mauer existiert und mit ihr auch die Ausreiseverbote. Dennoch sagte sie offen, dass sie nicht viel vermisst hatte. Sie ist in dem Rahmen, in dem es ihr möglich war, gereist. Einen weiteren Aspekt sprach die Frau noch an. Sie zeigte auf, dass es innerhalb der DDR so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl gab. Innerhalb der Nachbarschaft waren alle hilfsbereit. Das Gefühl, allein zu sein, kannte sie nicht. Auch für die Kinder gab es unterschiedliche Angebote, die diese wahrnehmen konnten. Sie betonte damit, dass auch die DDR eine Vielfalt bot. Die Frage war aus ihrer Sicht, wie diese Vielseitigkeit in dem System genutzt und gelebt wurde? Gleichermaßen hob sie hervor, dass die DDR sowohl über eine gute 4 5 6
Vgl. Maaz 1991, S. 17. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 25.
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Infrastruktur als auch über ein gutes Versorgungssystem verfügte. In ihren Augen fehlte ihr nicht viel. Maaz beschreibt in seinem Buch ein ähnliches Phänomen. Die Menschen in der DDR hatten ihr Auskommen. Sie hatten Möglichkeiten gefunden, in diesem Staat zu leben. Es gab zwar nicht alle Konsumgüter wie in der Bundesrepublik, dennoch hatten sie genügend zu essen und zu trinken. Sie empfanden ihr Leben nicht als schlecht. Die Bürger*innen fanden Nischen und erfreuten sich an den kleinen Dingen des Lebens. Ihr Leben war einigermaßen gesichert und durch einen strukturierten Tagesablauf gekennzeichnet.7
Die Zeitzeug*innengespräche: Folgen der Transformation In den Zeitzeugengesprächen ging es neben dem Leben in der DDR auch um die Erfahrungen während der Transformationsprozesse. Ein gewichtiges Thema, das sich bei der Mehrheit der Teilnehmenden zeigte, war das der Angst. So äußerten mehrere Frauen, dass sie während der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 Angst vor Arbeitslosigkeit hatten und davor, mit den neuen und rasant verlaufenden Entwicklungen nicht Schritt zu halten. Sie begleiteten die Sorgen, die Umstrukturierungen und die Herausforderungen nicht bewältigen zu können. So erzählte eine Zeitzeugin, dass sie während der Transformationsprozesse vermehrt sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen8 ausübte. Diese empfand sie als sehr erniedrigend, denn die Entlohnung war unangemessen gering. Das Empfinden von Wertlosigkeit war eines der Gefühle, an das sie sich heute zurückerinnert. Die Zeitzeugin hatte auch das Gefühl, mit der wachsenden Vielfalt auf dem Arbeitsmarkt und den damit verbundenen Entwicklungen nicht mithalten zu können. Das schürte ihre Angst noch einmal mehr. Des Weiteren nahm sie unter den Menschen einen enormen Konkurrenzkampf wahr, den sie zuvor so nicht erlebt hatte. Die Bürger*innen der Bundesrepublik hatten Bedenken, dass die Menschen aus der ehemaligen DDR ihnen die Arbeitsplätze streitig machen könnten. Eine zweite Teilnehmerin äußerte, dass sie innerhalb ihrer Arbeitsstätte eine neue Position aufnehmen musste. Sie hatte jahrelang mit ihrer Kollegin zusammengearbeitet, sie 7 8
Ebd., S. 137f. Unter einer ABM-Maßnahme kann folgendes verstanden werden: Laut § 260 SGB III ist es eine Maßnahme zur Arbeitsförderung, die einer drohenden Arbeitslosigkeit entgegenwirken bzw. eine Arbeitslosigkeit verkürzen soll. Gleichermaßen soll die Maßnahme individuelle Kompetenzen fördern und Kenntnisse, Fähigkeiten sowie Fertigkeiten ausbauen und stabilisieren (§ 260 SGB III). Die Arbeitsagentur wies förderungsbedürftige Arbeitnehmer*innen unterschiedlichen Unternehmen zu. Im Weiteren schlossen beide Parteien ein Arbeitsverhältnis ab. Die Arbeitnehmer*innen führten demnach Tätigkeiten aus, die im öffentlichen Interesse lagen (vgl. COMPASS Gesellschaft für Informationsmanagement und Projektentwicklung et al. 2006, S. 22).
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waren gut eingespielt und aufeinander abgestimmt. Die Zusammenarbeit wurde aufgelöst, sie wurde versetzt und die Kollegin übte ihre Tätigkeit nicht weiter aus. Neben der Angst um den Arbeitsplatz beschreibt der Psychologe Maaz aus meiner Sicht eine weitere prägende Herausforderung, die auch durch die Teilnehmer*innen in der Diskussion zur Sprache kam. Sie lebten viele Jahre in einem Staat, der Pluralität ablehnte, in dem es ein geringes Maß an Entscheidungsfreiheit gab und die Menschen in ihrer Entwicklung stark beeinflusste und einschränkte. Mit den Umbrüchen standen die Bürger*innen der DDR plötzlich vor der Schwierigkeit, sich einem System anzupassen, in dem Pluralität, Individualität, Meinungsfreiheit und die Würde des Menschen geachtet werden. Maaz beschreibt den Prozess wie folgt: Die Ängste der DDR-Bürger*innen mussten schrittweise überwunden werden. Die Würde der Menschen musste wachsen, der aufrechte Gang musste ebenso gelernt werden wie eine klare Entschlossenheit. Dafür mussten aber auch Tabuthemen gebrochen werden. Die Bürger*innen mussten lernen, aus sich herauszugehen, ihre Stimmen zu erheben, Hemmnisse abzulegen und für sich selbst einzustehen. Dieser Prozess konnte im Sinne der kollektiven Verbundenheit gelingen.9 Die Herausforderungen und auch die veränderten Werte sowie Normen hatten zur Folge, dass sich innerhalb der familiären Strukturen ebenso Veränderungen ergaben. Einige Frauen hatten ihren Arbeitsplatz verloren und gingen nun in die Rolle der Hausfrau und Mutter über, wohingegen der väterliche Elternteil neuen Bildungschancen nachging und somit oftmals durch Abwesenheit der Familie fernblieb. Das unterschiedliche Gefühlsgefälle hielt nicht jede Ehe aus, so dass es vermehrt zu Ehescheidungen kam. Eine Zeitzeugin berichtete: Durch die unterschiedlichen Werte und Normen lebten sie und ihr Partner sich auseinander, ihre Ehe hatte keinen Bestand mehr. Sie mussten beide feststellen, dass sie sich in verschiedene Richtungen entwickelt hatten. Die Beispiele zeigen, dass die Auswirkungen des Umbruchs sehr ambivalent waren. Eigentlich sollten die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten für die Menschen ein Akt der inneren Befreiung sein, der sich durch Freude und Stolz manifestierte. Aber das war nicht bei allen so. Die Transformationsprozesse lösten auch Unruhe und Hektik aus, die mit hohen Krankheitswerten und angestauten Gefühlslagen sowie Überreizbarkeit der Betroffenen einhergingen. Das Gefühl von Angst und von Verlusten war zu dieser Zeit stark vertreten10 . Maaz führt in seinem Werk weitere Aspekte an, die bei den Menschen 1989 und den folgenden Jahren eine zentrale Rolle in ihrer Lebenswelt spielten: Neben dem
9 10
Vgl. Maaz 1991, S. 144f. Ebd.
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Recht auf Arbeit sowie dem Erzielen eines hinreichenden Einkommens, der Absicherung bei Krankheit oder aber der Betreuung der Kinder in den institutionellen Einrichtungen, die in den Zeitzeugengesprächen schon als wichtig hervorgehoben wurden, nennt Maaz auch die Angst vor drohenden Konkurrenzkämpfen oder vor den notwendigen beruflichen Weiterqualifikationen. Auch die Folgen der StasiHerrschaft seien nach Maaz bedrohlich gewesen und hätten unter den Bürger*innen grundlegendes Misstrauen geschürt. Gleiches gilt im Hinblick auf das neue Gesellschaftssystem und die Anpassung an neue Lebensweisen. Die vielen Reize und Eindrücke stellten eine Überforderungssituation für die DDR-Bürger*innen dar. Neben den realen Bedrohungen entwickelten sich auch neurotische Ängste wie zum Beispiel die Angst vor der Freiheit und vor Eigenständigkeit. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele Bürger*innen in der DDR-Diktatur angepasst lebten, sich unterordneten, um vom System versorgt zu werden. Doch mit der friedlichen Revolution und ihren Folgen waren die Individuen innerhalb einer kurzen Zeitspanne auf sich allein gestellt und mussten sich um sich selbst kümmern, sonst bestand das Risiko, den Anschluss an die neue Gesellschaft zu verlieren. Charakteristisch für diesen Prozess war die gefühlte Schutz- und Orientierungslosigkeit der DDR-Bürger*innen. Fragen, wie beispielsweise: »Wo gehöre ich hin? Was will ich? Was darf ich? Inwieweit muss ich mich verändern?«, standen damals auf der Tagesordnung. In den meisten Fällen gab es hierfür zwei Alternativen: Entweder orientierten sich die Menschen um oder sie begegneten den Transformationsprozessen mit verstärkter Abwehr.11 Vielfach ist in diesem Text schon aufgezeigt worden, welche Folgen die Transformationsprozesse für die Menschen der ehemaligen DDR hatten. Die Angst vor dem »Unbekannten« nahm in den Zeitzeug*innengesprächen einen besonderen Stellenwert ein und Angst hat körperliche und seelische Folgen. Angst ist eine Reaktion auf Gefahrenreize und zeigt sich in den meisten Fällen auch durch körperliche Reaktionen wie Herzrasen, Schwitzen, Kurzatmigkeit oder Symptomen wie Unwohlsein und Unruhe.12 Prägende und belastende Lebensereignisse können diese Form der Angststörung fördern. So können die notwendigen Anpassungsleistungen und Umstrukturierungen während des gesellschaftlichen Umbruchs ein Indikator für eine generalisierte Angst sein. Eine Folge dieser Überforderungssituation besteht darin, benötigte Sicherheiten nicht erfahren und gegebenenfalls Beziehungserfahrungen ungenügend verinnerlicht zu haben. Unterschiedliche Reize werden so interpretiert, dass diese eine bedrohende Situation für den Menschen darstellen. Die empfundene Angst wird verstärkt wahrgenommen, tritt häufiger und auch langanhaltender auf als angemessen. Die Betroffenen verfügen in diesen Situationen über unzureichende Bewältigungsstrategien und 11 12
Ebd., S. 17. Vgl. Bandelow et al. 2014a, S. 42.
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können somit kaum auf vorhandenen Ressourcen zurückgreifen. Jede Form von Unterdrückung wirkt sich negativ auf die Angststörung aus und intensiviert diese weiter.13
Herausforderungen für die Beratung und frühkindliche Erziehung Wie können die Anzeichen und Symptome von Angstzuständen bei ehemaligen DDR-Bürger*innen im Bereich der Beratung aufgegriffen werden? Zuvor muss gesagt werden, dass je nach Ausprägung die Art und Weise der unterstützenden Begleitung variiert: von unterschiedlichen therapeutischen Behandlungen über Pharmakotherapie bis hin zu Selbsthilfemaßnahmen. Sozialarbeiter*innen und andere in dem Bereich der Sozialen Arbeit Tätigen können die Betroffenen dahingehend bestärken, wieder Vertrauen in sich selbst zu gewinnen. Damit steuern sie Prozesse der Selbsthilfe an. Dabei sind sie Begleiter*innen für die Ratsuchenden und unterstützen sie, einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden. Das heißt, der*die Betroffene muss lernen, seine*ihre Empfindungen zu erkennen, zu benennen, um daran anschließend den Mut aufzubringen, sich mit seinen Gefühlslagen auseinanderzusetzen. Grundlage dieses Prozesses ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Ratsuchenden und dem*der Begleiter*in. Das Arbeitsbündnis muss durch ein feinfühliges Vorgehen geprägt sein. Der*Die Aufsuchende wird ermutigt, sich mit seiner*ihrer Gefühlslage zu beschäftigen, um die Faktoren für den Gefühlsstau zu erörtern. Dabei geben die in der Sozialen Arbeit Tätigen dem*der Betroffenen Hoffnung, zeigen Verständnis für seine*ihre Symptomatik und zeigen auch auf, dass diese behandelbar ist. Auf Seiten des*der Beteiligten wird diese*r von eigenen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen als auch Versagensgefühlen entlastet.14 Neben den genannten grundlegenden Einstellungen können auch alternative Maßnahmen wie Entspannungstechniken/progressive Muskelentspannung zur Regulierung der körperlichen Symptome verwendet werden. Gleichermaßen können auch sportliche Aktivitäten diesen Effekt erzielen15 . Im Umgang mit Menschen, die Formen von Angststörungen aufweisen, ist es wichtig, dass sie sich durch eine feinfühlige und vertrauensvolle Beziehung angenommen fühlen. Die Scham, sich zu öffnen, darf nicht im Vordergrund stehen. Ist das Bündnis tragfähig, kann der*die Begleiter*in den*die Ratsuchende*n in seiner Selbstwirksamkeit unterstützen. Dabei ist zu beachten, dass überfordernde Situationen gemieden und kleine Etappenziele erarbeitet werden. Eine Strategie
13 14 15
Ebd., S. 46f.; Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen 2017, S. 3f. Vgl. Bandelow et al. 2014b, S. 17. Ebd., S. 19.
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für das Erleben von Selbstwirksamkeit kann sein, dass der*die Betroffene stressbesetzte Situationen durchlebt und somit die eigene Handlungsfähigkeit erkennt. Das hat zur Folge, dass der*die Aufsuchende eine Aufwertung in seinem*ihrem Selbstwertgefühl erlebt und sich als selbstwirksam wahrnimmt.16 Der Mensch ist in der Lage, seine Erlebnisse und Erfahrungen zu reflektieren. Durch den Reflexionsprozess ist das Individuum im Stande, seinen Erfahrungen Bedeutungen zuzuschreiben. Auf dieser Grundlage entwickelt das Individuum ein Bild von sich selbst. Dieses Selbstbild beinhaltet einerseits die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften sowie andererseits die Zuschreibung und Bewertung dieser. Diese Konstruktion des Selbst lässt das Individuum in der Realität handlungsfähig werden. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt aktualisiert sich das Selbst und entwickelt sich weiter. Ziel dieses Prozesses ist es, eine Kongruenz zwischen Umwelt und Selbst herzustellen. Die Aktualisierungstendenz kann auf Grund äußerer Bedingungen blockiert werden und wirkt sich demnach hemmend auf die Weiterentwicklung des Selbstbildes aus. Somit kann der Bewertungsprozess zu einer Spaltung der Aktualisierungen führen. Das heißt, je starrer das individuelle Selbst ist, desto mehr wehrt es neue Erfahrungen ab bzw. nimmt sie verzerrt wahr oder leugnet sie gar gänzlich. Ein Spannungsverhältnis zwischen der Aktualisierungstendenz und der Bedürfnisbefriedigung kann Ängste auslösen, die sich im Weiteren dann manifestieren17 . Der beschriebene Aspekt wird als Inkongruenz bezeichnet und wird durch belastende Lebensereignisse hervorgerufen, die nicht mit den bestehenden Bewältigungsmustern bearbeitet werden können. In Bezug auf die im Zusammenhang mit dem Umbruch von 1989 stehenden Erlebnisse können folgende Symptome auftreten: • • • • • • • • 16 17 18
belastende Erinnerungen und Gedanken an das Geschehene, beispielsweise bildhafte Erinnerungen, verbunden mit Schlafstörungen und Albträumen anhaltende psychische Belastungen durch Konfrontationen mit inneren und äußeren Triggern Überregungssymptome wie Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, gesteigerte Aggressivität, Konzentrationsstörungen etc. anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu erleben depressive Reaktionen, Probleme bei den Sozialkontakten moralische Verletzungen, Schamerleben, Schuldgefühle nicht kontrollierbare Angstzustände, intensive Stimmungsschwankungen emotionale Taubheit, Gefühlsabflachungen, Teilnahmslosigkeit18 Ebd. Vgl. Nußbeck 2019, S. 58. Vgl. Flatten 2019, S. 8.
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Betroffenen fehlt es bei den oben genannten Beispielen an Orientierungs- und Handlungsstrategien.19 In der Beratung werden die Inkongruenzerfahrungen auf drei Instanzen thematisiert. Auf der ersten Ebene spielt das Selbstkonzept eine Rolle sowie das eigene Erleben und Handeln. Einen weiteren Bereich stellt die Wahrnehmung dar. Hier werden problematische Aspekte verdeutlicht, konkretisiert und differenziert. In dem Prozess wird das Individuum mit den Aspekten konfrontiert. In diesem Zusammenhang werden alternative Sichtweisen und Wahrnehmungen aufgezeigt. Die daran anschließende Ebene bezieht sich auf das Planen und das Ausprobieren neuer Bewertung- und Handlungsmuster.20 Um dem*der Betroffenen Raum für sein*ihr Anliegen zu bieten, ist es wichtig, ihn*sie als Person in das Zentrum des Beratungssettings zu setzen. Demnach bietet sich ein personenzentrierter Ansatz an, wie beispielsweise der Klientenzentrierte Ansatz nach Carl Rogers. Der beratenden Person kommt hierbei eine bedeutende Rolle zu. Denn zum einen hat der*die Berater*in dem*der Klient*in gegenüber authentisch zu sein. Das bedeutet, der*die Beratende darf in seiner*ihrer Rolle dem*der Ratsuchenden nichts »vorspielen«. Er*Sie selbst ist angehalten, mit seinen*ihren eigenen Gedanken und Gefühlen in Kontakt zu stehen, diese anzunehmen und in den Beratungsprozess mit aufzunehmen. Dabei geht es nicht um eine absolute Offenheit, sondern vielmehr um Aufrichtigkeit dem*der Betroffenen gegenüber. Nicht alles, was er*sie denkt, muss gesagt werden. Aber vielmehr muss das, was gesagt wird, kongruent mit seinen*ihren Empfindungen sein.21 Neben dem Aspekt der Kongruenz spielt auch die Empathie eine wesentliche Rolle in dem Beratungsprozess. Denn sie befähigt den*die Berater*in, sich auf die Gefühlswelt seines*ihres Gegenübers einzulassen. Das heißt: Durch den Perspektivwechsel kann er*sie die innere Realität des*der Klient*in wahrnehmen.22 Ein weiteres Merkmal ist die Akzeptanz und die damit verbundene Wertschätzung dem Individuum gegenüber. Dieses beinhaltet, dass der Mensch mit der Fähigkeit gesehen wird, sich weiterzuentwickeln und selbstständig für sich Sorge zu tragen. Ziel ist es, die Selbstachtung des*der Klient*in zu stärken. Demnach verfolgt der personenzentrierte Ansatz das Ziel, den*die Betroffene dahingehend zu unterstützen, Strategien zu erarbeiten, um Problemlagen bewältigen zu können.23 Ähnliches kann auf das Erleben der Kinder übertragen werden. Die Traumata der Eltern können auch bei ihnen Folgeerscheinungen hervorrufen, wie z.B.
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Vgl. Nußbeck 2019, S. 59. Ebd. Ebd., S. 60; Trabandt 2020, S. 120. Vgl. Nußbeck 2019, S. 60. Ebd.
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• • • • •
erhöhte Trennungsängste regressives Verhalten (Bettnässen, Daumenlutschen, Rückfall zur Babysprache) Entwicklungsverzögerungen; Beeinträchtigungen beim Autonomiebestreben Ängste vor Ausgrenzungen bei der Peergroup Störungen des Sozialverhaltens (aggressives oder auch dissoziales Verhalten)24
Kinder und Heranwachsende mit diesen Symptomen neigen dazu, eine räumliche Nähe zu ihren Bindungspersonen herzustellen, die Schutz und Sicherheit bieten sollen. In den Momenten, in denen kritische Lebensereignisse präsent sind, klammern sich die Menschen oftmals an ihre Bindungspersonen. Es entsteht ein ambivalentes Verhalten zwischen Anklammern und Autonomiebestrebungen. Diese Widersprüchlichkeiten wirken sich hemmend auf die Entwicklung aller Beteiligten aus. Das wiederum hat zur Folge, dass sich die Angststörungen und die Symptomatik steigern.25 Im Hinblick auf die Kinder, bei denen ein Elternteil von Angststörungen betroffen ist, kann es bedeuten, dass dieser Elternteil zu einer Überbehütung neigt. Einerseits reduziert der*die Betroffene die Angst vor unvertrauten und gegebenenfalls herausfordernden Ereignissen. Andererseits nimmt diese*r dem Kind die Möglichkeit, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um in Stresssituationen adäquat reagieren zu können.26 Ein weiterer Risikofaktor besteht nach Goldstein und Chambless darin, dass Kinder, wenn sie ihre Gefühle äußern, Kritik erfahren oder gar Bestrafungen erleben. Das kann zur Folge haben, dass die Kinder ihre eigenen Gefühle als beängstigend erleben. Auch das Erleben von unkontrollierten Gefühlsausbrüchen der Betroffenen kann eine Assoziation hervorrufen, dass Gefühle etwas Bedrohliches darstellen und somit mit Angst besetzt sind.27 Demnach scheint die Ausprägung der elterlichen Angst sich bei der Entwicklung von Ängsten bei den Kindern widerzuspiegeln28 . Neben den genannten Faktoren spielt der Aspekt des elterlichen Erziehungsstils eine erhebliche Rolle. So können überbehütendes und kontrollierendes Verhalten wie eine zu geringe emotionale Zuwendung und fehlende Feinfühligkeit sich hemmend auf die Entwicklung der Heranwachsenden auswirken und eine Angststörung hervorrufen29 . Die Erfahrungen und Erlebnisse während des Umbruchs können sich bei den betroffenen Generationen als Traumata festsetzen. Für die Folgegenerationen kann das bedeuten, dass die traumatischen Erfahrungen an sie weitergegeben und die Themen der Eltern auf sie projiziert werden. Bestehende interpersonelle Grenzen
24 25 26 27 28 29
Vgl. Flatten 2019, S. 10. Bandelow et al. 2014a Vgl. Fegert 2012, S. 558. Ebd., S. 259. Ebd. Ebd.
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werden zwischen den Generationen aufgehoben. Für die Kinder kann dies bedeuten, dass die kindliche Entwicklung gehemmt ist und sich Entwicklungsverzögerungen zeigen.30 Die damit verbundene Projektion stellt eine Belastung für die Eltern-Kind-Beziehung dar. Denn in der frühen Kindheit internalisiert das Kind die Themen der Eltern und verinnerlicht diese als seine eigenen psychischen Belastungen. Der Ablöseprozess zum eigenen ICH wird somit erschwert.31 Die Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung liegen darin begründet, dass größtenteils die Mütter während der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nicht adäquat in der Lage waren, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. So wurden Konflikte innerhalb der Familie gemieden, negative Gefühle wurden nicht geäußert, vor allem aber durften diese nicht gespürt werden. Die Rolle der Kinder war es, ihre Eltern zu schützen, damit sie an den Folgen ihrer traumatischen Erlebnisse nicht zerbrechen. Für die heranwachsende Generation kann das zur Folge haben, dass sie selbst starke Gefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht entwickeln bis hin zu anhaltenden Angststörungen.32 Für die pädagogischen Arbeitsfelder sind die bedrohlichen Erlebnisse und die damit verbundenen elterlichen traumatischen Erfahrungen von Bedeutung. Durch die Abspaltung des ICHs bleiben die Betroffenen lebensfähig, jedoch werden die belastenden Ereignisse nicht aufgearbeitet. Charakteristisch für eine belastende Beziehung können elterliche Ängste, welche leicht zu aktivieren sind bzw. Gefühle von unerträglicher Hilflosigkeit oder dem Ausgeliefertsein sowie impulsive Gefühle wie Ärger und maßlose Wut, aber auch der Impuls, sich Situationen zu entziehen und von ihnen abzuwenden, wenn diese nicht auszuhalten sind, sein.33 Um den Bindungsstörungen in den Folgegenerationen entgegenzuwirken, bedarf es Präventionsangeboten, die sich auf die Stabilisierung der elterlichen Kompetenzen beziehen. So können beispielsweise Familienhebammen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Eine frühzeitige Förderung kann einen Faktor darstellen, die transgenerationale Weitergabe unsicherer oder desorganisierter Bindungsstile zu hemmen.34 Als Beispiel sei genannt: Mit dem Bekanntwerden der Schwangerschaft beginnt für die werdenden Eltern ein Veränderungsprozess, der sich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch darstellt. Sinnvoll erscheint die Begleitung der Erziehungsberechtigten ab Schwangerschaft bis ungefähr ins zweite Lebensjahr hinein. Ziel ist es, sowohl Mutter als auch Vater während der ersten Autonomiephase des Kindes zu unterstützen. Denn diese Zeitspanne beinhaltet
30 31 32 33 34
Vgl. Rauwald 2013, S. 57. Ebd., S. 102. Vgl. Kamier-Zamberk 2013, S. 77. Vgl. Rauwald 2013, S. 149. Ebd., S. 153f.
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erste Ablöseprozesse des Kindes von den Eltern. Traumatisierte Eltern können unter dem anhaltenden Babystress und Belastungen einen auslösenden Moment erfahren. Ziel dieses Angebotes ist es, Eltern dahingehend zu unterstützen und zu fördern, dass sie ihren Kindern positive Bindungserfahrungen ermöglichen können. Das heißt, trotz der schmerzlichen Erfahrungen in der eigenen Biografie müssen sie lernen, die Signale und Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und feinfühlig darauf zu reagieren. So können die Kinder in ihrer individuellen Entwicklung positiv begleitet werden.35 Zusammenfassend kann gesagt werden: In der Beratungsarbeit müssen die Erfahrungen der Menschen in einer Diktatur stärker berücksichtigt werden. Ebenso wichtig ist es, auch die persönlichen Folgen der Transformationsprozesse in den Blick zu nehmen. Denn sie können, wie aufgezeigt wurde, als Ursache für verschiedene Traumata begriffen werden. Beratung hat viele Möglichkeiten, den Ängsten, Ohnmachtsgefühlen, Depressionen und anderen fortdauernden Krankheitsbildern von ehemaligen DDR-Bürger*innen entgegenzuwirken.
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Sann 2016, S. 63ff.
Welche Bedeutung hat der Transformationsprozess als gesellschaftlicher Umbruch?
Quellen- und Literaturverzeichnis Bandelow, B./Wiltink, J./Alpers, G. W./Benecke, C./Deckert, J./Eckhardt-Henn, A./Ehrig, C./Engel, E./Falkai, P./Geiser, F./Gerlach, A.L./Harfst, T.; Hau, S./Joraschky, P./Kellner, M.; Köllner, V./Kopp, I./Langs, G./Lichte, T./Liebeck, H./Matzat, J./Reitt, M./Rüddel, H.P./Rudolf, S./Schick, G./Schweiger, U./Simon, R./Springer, A./Staats, H./Ströhle, A./Ströhm, W./Waldherr, B./Watzke, B./Wedekind, D./Zottl, C./Zwanzger, P./Beutel M.E. (2014a): »Deutsche S3Leitlinie Behandlung von Angststörungen«. http://www.awmf.org/uploads/t x_szleitlinien/051-028l_S3_Angstst %C3 %B6rungen_2014-05-abgelaufen.pdf (Abfrage: 21.01.2020). Bandelow, B./Wiltink, J./Alpers, G. W./Benecke, C./Deckert, J./Eckhardt-Henn, A./Ehrig, C./Engel, E./Falkai, P./Geiser, F./Gerlach, A.L./Harfst, T.; Hau, S./Joraschky, P./Kellner, M.; Köllner, V./Kopp, I./Langs, G./Lichte, T./Liebeck, H./Matzat, J./Reitt, M./Rüddel, H.P./Rudolf, S./Schick, G./Schweiger, U./Simon, R./Springer, A./Staats, H./Ströhle, A./Ströhm, W./Waldherr, B./Watzke, B./Wedekind, D./Zottl, C./Zwanzger, P./Beutel M.E. (2014b): »PatientenLeitlinie. Behandlung von Angststörungen«. http://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/051-028p_S3_Angstst %C3 %B6rungen_2017-10-abgelaufen.pdf (Abfrage: 13.05.2021). COMPASS Gesellschaft für Informationsmanagement und Projektentwicklung/IMU – Institut für Medienforschung und Urbanistik GmbH/SÖSTRA Institut für Sozialökonomische Strukturanalysen GmbH/PIW ProgressInstitut für Wirtschaftsforschung GmbH (2006): »Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission – Arbeitspaket 1: Wirksamkeit der Instrumente, Modul 1c: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – Endbericht«. http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-265071 (Abfrage: 30.05.2021). Fegert, Jörg M./Eggers, Christian/Resch, Franz (2012): Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. 2. Auflage. Berlin/Heidelberg: Springer. Flatten, Guido (2019): »S2k – Leitlinie: Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung«. http://www.awmf.org/uploads/tx_szlei tlinien/051-027l_S2k_Diagnostik_Behandlung_akute_Folgen_psychischer_Tra umatisierung_2019-10.pdf (Abfrage: 20.11.2020). Hertle, Hans-Hermann (1998): Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. 7. Auflage. Berlin: Ch. Links Verlag. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (2017): »Generalisierte Angststörung«. http://www.gesundheitsinformation.de/gener alisierte-angststoerung.2707.de.pdf?all_backgrounds=1&all_details=1&all_lexi cons=1&all_reports=1&overview=1&print=1&theme=1 (Abfrage: 21.01.2020).
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Nadine Meyer
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Kommentar zum Aufsatz von Nadine Meyer Barbara Bräutigam und Matthias Müller
Nadine Meyer beschreibt anhand eines in der Anwesenheit von Studierenden geführten und moderierten Gesprächs mit Zeitzeug*innen die sehr unterschiedlichen innerfamiliären Verarbeitungsweisen der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung, die in ihren Auswirkungen mitunter als ambivalent und nicht nur befreiend erlebt wurden. Darunter fallen Verlustängste, Gefühle von Wertlosigkeit und Befürchtungen, zu versagen. Diese im Rahmen des gesellschaftlichen Umbruchs nach wie vor präsenten und auch mitunter transgenerational weitergegebenen Emotionen verdeutlichen Handlungsnotwendigkeiten für ein beraterisches Tun, das im Rahmen der sozialarbeiterischen Praxis erfolgen kann und sollte. Frau Meyer bezieht sich hier vor allem auf eine familienbezogene Beratung, um eine gesellschaftlich bezogene Unsicherheit nicht zu einer bindungsbezogenen Unsicherheit zwischen Eltern und Kindern werden zu lassen. Sie macht damit zugleich deutlich, dass die Folgeerscheinungen der innerfamiliären Verarbeitungsweisen der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung Themen sind, deren Bearbeitung in den frühpädagogischen und beratungsorientierten Arbeitsfeldern präventive Kraft entfalten können. Für das von Frau Meyer bearbeitete Thema zeigt sich, dass es einer stärkeren intergenerationellen Kommunikation über die Vergangenheit bzw. über das Leben in der DDR bedarf, die weder das erfahrene Unrechtsgeschehen noch die mit der »Wende« einhergehenden Wertverluste und tiefgreifenden Verunsicherungen seitens der Betroffenen tabuisieren. Damit greift der Text von Nadine Meyer die wesentliche Intention des moderierten Gesprächs auf und zieht daraus auf relevante und interessante Art und Weise Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit, die Beratung und die Frühpädagogik.
Foto: Thomas Schulze
Im Schatten der Geschichte Zum Einfluss von Erinnerungskulturen und transgenerationalen Übertragungen auf den Umgang mit Geflüchteten Uta Rüchel
Einleitung Krieg, Bombennächte, Flucht und Vertreibung erschienen nach dem Fall der Mauer 1989 nicht zuletzt als willkommenes, weil gesamtdeutsches Narrativ. Darüber gerieten die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Ost und West allzu schnell aus dem Blick. Auch wenn über die Weitergabe von Traumata und Kriegsfolgen an nachfolgende Generationen gesprochen wird, werden die unterschiedlichen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit kaum diskutiert. 30 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist die Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland immer noch geringer1 und fremdenfeindliche Aussagen finden mehr Zustimmung als im Westen2 . Die Frage liegt nahe, wieviel Vergangenheit hier präsent ist. In diesem Beitrag geht es insbesondere darum, ob der unterschiedliche Umgang mit Krieg, Flucht und Vertreibung in Ost und West im vereinigten Deutschland nachwirkt. Wie haben sich kollektives Gedächtnis und individuelles Erinnern beeinflusst? Finden sich bis heute Spuren davon in den Haltungen gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das Projekt »Verschwiegene Erbschaften. Wie Erinnerungskulturen den Umgang mit Geflüchteten prägen« in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Regional- und Zeitgeschichte e.V., dessen Ergebnisse hier skizziert werden. Neben einer umfangreichen Literaturrecherche beruht das daraus entstandene Buch3 auf 20 lebensgeschichtlichen Interviews, die 2016 in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein geführt wurden.
1 2 3
Vgl. Zeit Online 2020. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung o.J. Rüchel 2019.
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Alte und neue Heimat – Erinnerungspolitik im Wandel Nietzsche zufolge gibt es drei Formen, sich auf die Vergangenheit zu beziehen: die »monumentale«, die »antiquarische« und die »kritische Historie«. Jede dieser Formen kann dem Lebendigen dienen, es aber auch gefährden.4 Die meisten Einheimischen wie auch die Flüchtlinge und Vertriebenen definierten ihre Identität nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren Wurzeln, ihrer Herkunft her. Ein solcher »antiquarischer« Bezug auf die Vergangenheit bietet viel Halt und engt gleichzeitig ein. Das Neue und Werdende, das allem Lebendigen eigen ist, wird vor allem als Bedrohung der Traditionen wahrgenommen und abgelehnt. In der Bundesrepublik setzten Politik und Vertriebenenverbände in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten auf eine Doppelstrategie. Einerseits wurde eine schnelle Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen angestrebt. Andererseits wurde versucht, ihre ethnisch bzw. völkisch definierte Identität und ihren Rückkehrwillen aufrechtzuerhalten. So sollte nicht zuletzt der politisch vertretene Rechtsanspruch auf die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 gestützt werden. Die antikommunistische Propaganda begründete Flucht und Vertreibung vor allem mit einem sowjetischen Expansionsdrang. Das Motiv der Rache und Vergeltung ist in den Schulbüchern der Bundesrepublik bis heute dominanter als die Hintergründe der alliierten Beschlüsse.5 Die versöhnungspolitischen Initiativen der Kirchen wie die neue Ostpolitik beendeten den oben beschriebenen Spagat. 1969 wurde das Vertriebenenministerium aufgelöst. Mit dem Wandel der Erinnerungskultur war in Westdeutschland der Bann eines »antiquarischen« Bezugs auf die Vergangenheit, der auf das Bewahrende und das von alters her Bestehende setzt, gebrochen. 1965 wäre etwa die Hälfte aller Bundesbürger*innen bereit gewesen, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren, sofern dies zur Wiedervereinigung beitragen würde. Die andere Hälfte wollte in jedem Fall an den Grenzen von 1937 festhalten. Angesichts der Tatsache, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen etwa 16 Prozent der Bevölkerung ausmachten, ist dies eine immer noch bemerkenswert hohe Zahl. In der DDR bejahten zur selben Zeit 22 Prozent eine Wiederherstellung der alten Grenzen6 , was in etwa dem Anteil der von Flucht und Vertreibung Betroffenen entsprach. Eine zwangsläufige Verbindung zwischen der Haltung zur Grenzfrage und einem erlebten Heimatverlust ist damit nicht belegt. Doch offenbar wirkte der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit durchaus meinungsbildend. In der DDR gab es von Anbeginn einen in erster Linie »kritischen« Umgang mit der Historie. Mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der bürgerlichen 4 5 6
Vgl. Nietzsche 1994, S. 161ff. Vgl. Scholz 2018, S. 386f. Vgl. Schwartz 2008, S. 114.
Im Schatten der Geschichte
Gesellschaft sollte gebrochen werden. Der Kommunismus als Utopie war in der Zukunft verankert. Die Oder-Neiße-Grenze galt als unhinterfragbares Ergebnis des Krieges. In der offiziellen Lesart hatte das deutsche Volk durch seine Unterstützung des Nazi-Regimes Schuld auf sich geladen und damit den Anspruch auf die ehemals deutschen Gebiete moralisch verloren. Die SED-Funktionäre – vor allem jene, die selbst betroffen waren − ahnten, dass diese Sichtweise bei vielen Betroffenen auf Gegenwehr stoßen würde. Sie wussten, dass die Flüchtlinge unter dem Verlust ihrer Heimat, ihres Besitzes und ihrer sozialen Position litten und viele darüber hinaus Übergriffe, Willkür und Gewalt durch die Rote Armee erfahren hatten. Doch nicht nur in einer ablehnenden Haltung gegenüber den osteuropäischen Verbündeten sah die SED eine Gefahr. Sie fürchtete auch die Apathie, mentale Rückwärtsgewandtheit und mangelnde Bereitschaft der Flüchtlinge, sich am Aufbau der neuen Gesellschaft zu beteiligen. So war alsbald nur noch von »Umsiedlern« und »Neubürgern« die Rede, jegliche Bezugnahme auf die alte Heimat in der Öffentlichkeit untersagt. Den Menschen nicht nur die Illusionen zu nehmen, sondern ihre Erinnerungen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, setzte auf das alte Mittel des Beschweigens und Vergessens. Die politischen Umwälzungen drängten jegliche Ambivalenz an den Rand. Die neuen Grenzziehungen zu vertreten, ohne das damit verbundene Leid zu ignorieren, schien zu dieser Zeit unmöglich. Beinahe spiegelbildlich betonte die westdeutsche Erinnerungskultur in den ersten beiden Jahrzehnten nicht die nationalsozialistischen Verbrechen, sondern die eigenen leidvollen Erfahrungen. Damit gab es zumindest einen öffentlichen Raum für die Belange der Flüchtlinge und Vertriebenen, auch wenn sie in ihrem persönlichen Umfeld nicht selten gedemütigt und ausgegrenzt wurden. Gleichzeitig standen so das eigene Leid und die eigene Definition als Opfer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Letztlich war der individuelle wie kollektive Umgang mit Flucht und Vertreibung in beiden Gesellschaften untrennbar mit dem jeweiligen Bezug auf den Nationalsozialismus verbunden. Lange Zeit schien es, als würden Täterschaft und Opfersein einander ausschließen. Schuld konnte allenfalls kollektiv behauptet werden. Den Einzelnen ließ die verwirrende Mischung aus eigenem Leid, Scham- und Schuldgefühlen eher verstummen. Damit einher ging die von Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 in ihrem gleichnamigen Buch konstatierte »Unfähigkeit zu trauern«7 , die wohl eine gesamtdeutsche war. Im Zuge der Studentenproteste von 1968 schlug das Pendel zwischen Vergessen und Erinnern in der Bundesrepublik erstmals zur anderen Seite aus. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung geriet ins gesellschaftliche Abseits und galt nun – ähnlich wie in der DDR – als revanchistisch und revisionistisch. Stattdessen rückten die jüdischen Opfer ins Blickfeld und die Debatten wurden – anders als 7
Mitscherlich 1990.
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in der DDR − vielschichtiger. Darüber hinaus war eine Mehrheit der Flüchtlinge und Vertriebenen in Ost wie West inzwischen gut integriert. Sie hatten sich in der Gegenwart eingerichtet, Flucht und Vertreibung lagen in der Vergangenheit. Wie weit die unterschiedliche Erinnerungspolitik in Ost und West auch 15 Jahre nach dem Mauerfall fortdauerte, zeigten die Gedenkfeiern in Berlin zum 8. Mai 2005. Die Ostberliner Bezirke, einschließlich der über die ehemalige Grenze reichende Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, feierten den Jahrestag in gewohnter Weise als »Tag der Befreiung«, während es in den westlichen Bezirken um Themen wie »Flucht und Vertreibung der Deutschen« oder »Tiefe Spuren – Kriegsflüchtlinge« ging.8 Die hier zutage tretenden Erinnerungskulturen sind ganz offensichtlich mit den alten Grenzziehungen verbunden. Diese finden sich nicht zuletzt auch bei der ungleichen Verteilung von Vereinen und Aktivitäten zum Thema Kriegskinder und -enkel*innen in West und Ost.
Individuelles Gedächtnis und kultureller Rahmen Was aus der Vergangenheit im individuellen Gedächtnis bewahrt wird, ist stark durch die Familie geprägt. Sie bildet die erste Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft. Darin wird weitaus mehr transportiert als Erinnerungen an einzelne Ereignisse. Es wird ein fest umrissenes Bild konstruiert, das verpflichtend ist und Halt gibt. Das individuelle Gedächtnis ist mit diesem Bild weitaus enger verknüpft als mit anderen sozialen Rahmen. Harald Welzer verweist darauf, dass es im Unterschied zu Schulwissen und medialen Informationen ein emotionales Bild ist, »nicht Wissen, sondern Gewissheit«9 . Wo es keine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft gibt, bleibt eine Leerstelle zurück. Aber auch ein mit nebulösen Geschichten und Andeutungen gefülltes Familiengedächtnis kann eine schwere Hypothek sein. Die Suche nach verborgenen Wurzeln bleibt immer eine Gratwanderung. Im Frühjahr und Sommer 2016 führte ich 20 biographische Interviews in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Überall werden Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählt. Nicht zuletzt durch die sogenannte Flüchtlingskrise ein Jahr zuvor war das Thema öffentlich sehr präsent. Über die Väter und Großväter in der Wehrmacht oder in der SS fallen jedoch allenfalls Anmerkungen. Es liegt auf der Hand, wie viel einfacher es ist, Opfer- oder Heldengeschichten zu erzählen. Über mit Schuld und Scham behaftete Verstrickungen, die bis in die Familie reichen, wird vor allem geschwiegen, oder sie werden nur angedeutet und im gleichen Atemzug gerechtfertigt. Der Konflikt zwischen der schwer zu
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Vgl. Seidler 2009, S. 73. Welzer 2005, S. 171.
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hintergehenden Loyalität den Eltern bzw. Großeltern gegenüber und einer kritischen Bewertung ihrer Haltungen und Taten ist offensichtlich. Nicht zuletzt ist da eine Scheu, mehr zu erfahren. Zwei Frauen – die eine ostdeutscher, die andere westdeutscher Herkunft − erwähnen wie nebenbei, dass sie in den Tagebüchern ihrer Väter alles nachlesen könnten, dass es sie eigentlich auch interessiert. Sie haben es bis heute nicht getan. Über 50 Jahre nach Kriegsende wurden Kinder und Jugendliche untersucht, die Flucht und Vertreibung erlebt hatten. Etwa ein Drittel der Befragten zeigte Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Mehr als die Hälfte von ihnen litt noch immer unter wiederkehrenden Bildern, Flashbacks oder Alpträumen. Die weitaus größere Anzahl der Befragten schien kaum oder nur geringfügig belastet. Doch auch sie kommunizierten wenig emotional, sondern neigten dazu, Gefühle abzuwehren und zu leugnen.10 Traumatische Erfahrungen erschüttern das Verhältnis zur Welt nachhaltig. Körper und Seele gehen in Alarmbereitschaft, reagieren mit Angst und Stress, um das Überleben zu sichern. Affekte und bestimmte mentale Funktionen werden blockiert. Das Erlebte ist nicht vergessen. Es wird verleugnet, verdrängt oder abgespalten, um das innere Gleichgewicht wieder herzustellen. All das wird ebenso von Generation zu Generation weitergegeben, wie die erzählten Geschichten. Häufig hat das Nicht-Sagbare sogar eine größere Macht als das, was erinnert und besprochen werden kann. Diese Mechanismen sind erst lange nach Kriegsende, im Zuge der Arbeit mit Vietnamkriegsveteranen, HolocaustÜberlebenden und ihren Kindern, erforscht worden.
Die Weitergabe und Reaktivierung traumatischer Erfahrungen Die Erinnerungskulturen in Ost und West konnten zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen nur wenig beitragen. Sie hielten sich an das Sagbare. Was von einer Generation auf die andere übertragen wurde, blieb davon unberührt. Es waren nicht die Erfahrungen selbst. Es waren die Folgen von erfahrener Gewalt, Willkür und Ohnmacht, von Hunger, Obdachlosigkeit und nicht zuletzt dem Tod naher Bezugspersonen. Sie prägten das Sprechen und Schweigen, das Denken, Fühlen und Handeln der sogenannten Kriegskinder und -enkel*innen. Seit der Jahrtausendwende kommen diese verschwiegenen Erbschaften ans Licht, sind Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen und persönlicher Erkundungen. Der Psychoanalytiker Christoph Seidler berichtet, dass mehr als die Hälfte der in seiner Institutsambulanz behandelten Patient*innen – unabhängig davon, wo sie aufgewach-
10
Radebold 2012, S. 24f.
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sen sind – aus Familien kommt, die von Flucht und Vertreibung betroffen waren. Die Wurzellosigkeit bzw. das fehlende Wissen um ihre Wurzeln ist offensichtlich.11 Die Kölner Autorin Sabine Bode diagnostiziert eine zunehmende Entblockierung, eine Auflösung tiefsitzender Ängste.12 Ob dieser Befund ein gesamtdeutscher ist, bleibt offen. Selbsthilfegruppen und Seminarangebote für Kriegskinder und -enkel*innen haben im Westen Deutschlands regen Zulauf, im Osten dagegen vergleichsweise wenig. Es sind vor allem die Kinder der Flüchtlingskinder, die Interesse zeigen. Über ihre Eltern sagen sie: »Sie seien unglaublich frustriert und daher oft schwer erträglich. Sie vergolden wider besseres Wissen die DDR.«13 Sabine Bode interpretiert dies als Nachwirkung des in der DDR verordneten Schweigens über Flucht und Vertreibung, als unverarbeitete Traumafolge. Zweifellos hinterlässt es Spuren, wenn bestimmte Erfahrungen aus dem öffentlichen Narrativ ausgeschlossen werden. Das betraf in der DDR jedoch nicht nur Flucht und Vertreibung, sondern auch andere leidvolle Erfahrungen während und infolge des Krieges. Folglich kann die überdurchschnittliche Präsenz von Flüchtlingskindern bzw. -enkel*innen nicht allein mit dem verordneten Schweigen erklärt werden. Vermutlich entfaltet hier der öffentliche Diskurs über Flucht und Vertreibung seine Wirkung, während andere Themen eher beschwiegen werden. Ebenso ist in diesem Kontext daran zu erinnern, dass die ostdeutsche Erinnerungspolitik eine Selbstwahrnehmung als Opfer des Krieges eher verbot als beförderte. Sehr wohl nahmen viele ehemalige DDR-Bürger*innen sich jedoch als Opfer der sowjetischen Besatzung wahr. Die von mir geführten Interviews verweisen darauf, dass zudem die Erfahrungen der sogenannten Kriegskinder im Zusammenhang mit dem Systemumbruch 1989 in den Blick zu nehmen sind. Die Flüchtlingskinder standen – wie alle anderen ihrer Generation − mitten im Berufsleben, als die Mauer fiel. Zentrale Werte, Überzeugungen, Lebensformen, Rituale und Identitäten veränderten sich quasi über Nacht, der Anpassungsdruck war hoch. Etwa 2,5 Millionen Menschen verloren 1990 und 1991 mit ihrer Arbeit die finanzielle Basis und häufig auch einen wichtigen Lebensinhalt. Vergleichbares gab es in diesen Dimensionen in der deutschen Nachkriegsgeschichte bisher nicht. Was blieb, war ein Gefühl der Machtlosigkeit, das im kollektiven Gedächtnis Ostdeutschlands fortwirkt.14 Steffen Schmidt und Hartmut Rosa verweisen zudem auf eine westliche »Überschichtung« Ostdeutschlands15 aufgrund einer anhaltenden strukturellen Diskriminierung Ostdeutscher bei der Besetzung attraktiver und mit Gestaltungseinfluss verbundener Stellen.
11 12 13 14 15
Vgl. Seidler 2009, S. 81. Bode 2016, S. 15. Ebd., S. 21. Vgl. Schmidt/Rosa 2012, S. 420f. Ebd., S. 436.
Im Schatten der Geschichte
Eine Diagnose, die Tanja Bürgel für die in den 1950er Jahren in Ostdeutschland Geborenen stellt, trifft vermutlich auch auf die Kriegskinder zu: »Bei Aufsteigern wie bei Absteigern hinterließ der Anpassungsschock das verunsichernde Selbstgefühl einer ›kooptierten‹ Generation, die der Welt, in der sie sich zu bewähren hat, erst spät beigetreten war. Dieses Selbstgefühl führt zu einer Sprachlosigkeit, die von ihnen selbst selten als Problem thematisiert wird, wohl aber von ihren Nachkommen.«16 Das erklärt die häufige Frustration und Unzugänglichkeit, von der die Kriegsenkel*innen berichten, wenn sie über ihre Eltern sprechen. In verschiedenen Studien zeigte sich, dass die Erinnerungen an den SED-Staat bei den Ostdeutschen über den Erinnerungen an den Nationalsozialismus liegen.17 Für sie ist zunächst einmal nicht der Krieg, sondern das Ende der DDR der wesentliche Bezugspunkt. Dieser Zusammenbruch ist der jüngste, ihre Identität nachhaltig erschütternde und nach neuer Selbstvergewisserung verlangende Einschnitt in ihrem Leben. Gleichwohl erinnert die Notwendigkeit, trotz der einstmals gesicherten Existenz, nach 1989 von vorn beginnen zu müssen oder zumindest große Anpassungsbereitschaft zu zeigen, an die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945. Nicht selten wird die ostdeutsche Umbruchserfahrung auch als kollektive Migrationserfahrung beschrieben.18
Heimatverlust und Integration Bei Systemumbrüchen wie auch bei Migration geht es um einen Neuanfang, zumeist auch um die Beheimatung an einem neuen Ort. Heimat ist ein Gegenbegriff zu Entwurzelung und Entfremdung. Damit wird die Frage zentral, worin die eigene Verwurzelung begründet ist. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz verweist darauf, dass Beheimatung in erster Linie ein innerseelischer Vorgang ist.19 Zweifelsohne sind Verwurzelung und Stabilität, die sich aus einem frühen Weltvertrauen speisen, äußerst hilfreich. Doch nicht zuletzt haben viele Flüchtlinge und Vertriebene ein solches Weltvertrauen nie kennengelernt oder es verloren. Umso stärker suchen sie nach Stabilität, nach einer Heimat im Außen. Der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry hat den revoltierenden 68ern, denen Heimat leicht als etwas Verächtliches, als Domäne der Rechten galt, entgegnet: »Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.«20 Er
16 17 18 19 20
Bürgel 2012, S. 179. Vgl. Welzer/Moller/Tschuggnall 2002, S. 16; Wachsmuth 2008, S. 293f.; Leonhard 2002, S. 326f. Vgl. ebd., S. 173; auch: Staud 2003. Vgl. Maaz 2003, 22:40f. Améry 2000, S. 81.
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wusste, wie es sich anfühlt, aus seiner Heimat verjagt worden zu sein. Den Wunsch nach Heimat gering zu schätzen, es als spießigen Dünkel abzutun, wenn Menschen sich irgendwo beheimatet wissen wollen, erschien ihm unangebracht und hochmütig. Auf die Frage, wieviel Heimat braucht der Mensch, antwortete Améry in seinem gleichnamigen Essay: »Es lässt sich, was der Mensch an Heimat nötig hat, nicht quantifizieren. Und doch ist man gerade in diesen Tagen, da die Heimat an Reputation verliert, stark versucht, die bloß rhetorische Frage zu beantworten und zu sagen: Er braucht viel Heimat, mehr jedenfalls, als eine Welt von Beheimateten, deren ganzer Stolz ein kosmopolitischer Ferienspaß ist, sich träumen lässt. […] Was bleibt, ist die nüchternste Feststellung: Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben.«21 Geht einer in die Fremde, ob als Migrant*in, Vertriebene*r, Aussiedler*in oder Flüchtling, gilt es, sich andere Regeln des Zusammenlebens, eine andere Sprache anzueignen. Die Situation ist mit der eines Kindes zu vergleichen. Beobachtend, tastend, lernend muss neu verstanden werden, wie das soziale Miteinander funktioniert. Die meisten Erwachsenen verunsichert es, wieder so lernend zu sein wie als Kind. Wenn noch der Schmerz über den Verlust der alten Heimat hinzukommt, ist die Versuchung groß, sich in geschützte Räume, in das Vertraute zurückzuziehen. Geht es bei einem solchen Rückzug vor allem darum, die Anstrengungen einer Integration zu vermeiden, führt er langfristig gesehen in einen Zustand der Isolation. Letztlich können Prozesse der Migration wie der Integration auf beiden Seiten zu Identitätserschütterungen führen. Fühlen die sogenannten Ein-Heimischen sich nicht mehr heimisch, sondern eher fremd in der Gesellschaft, werden sie zu Verteidiger*innen der Vergangenheit. Kommen tief verankerte Ressentiments oder ein verlorenes Selbstwertgefühl hinzu, reagieren sie mit starker Abwehr auf die neuen Zugewanderten. Die Ablehnung eines Interviews ist im eigentlichen Wortsinn die Ablehnung einer Begegnung (entrevoir, franz: einander sehen, sich begegnen). In MecklenburgVorpommern war es leicht, Menschen zu interviewen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Doch diejenigen, die der Flüchtlingspolitik eher kritisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, standen für ein Interview zumeist nicht zur Verfügung. Sie wollten in keine rechte Ecke gestellt werden, niemand sollte ihnen das Wort im Munde verdrehen können. Das meinten sie aus der DDR zu kennen, dass gegen sie verwandt wird, was sie sagen. Es ist offenbar nicht nur ihre DDRSozialisation, die manche Ostdeutsche in der Öffentlichkeit lieber schweigen lässt. Auch die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Systemumbruch 1989 sind dabei von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Viele der sogenannten Kriegskinder, insbesondere die von Flucht und Vertreibung betroffenen Familien, hatten in den 1990er Jahren zum zweiten Mal einen mühevollen Neuanfang zu bewältigen. Der 21
Ebd., S. 101.
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Anpassungsdruck war hoch und brachte in einer bestimmten Generation ein verunsichertes Selbstgefühl mit sich. Nicht zuletzt erwuchsen daraus ein Schweigen und eine Frustration, die lange Zeit kein Ventil fanden. Zudem war die bundesdeutsche Erinnerungskultur in Bezug auf die DDR von der Aufarbeitung des SED-Unrechts und einer latenten Abwertung aller ostdeutschen Erfahrungen bestimmt. Das Paradigma der Erinnerung war weitestgehend vorgegeben – wie ehemals in der DDR in Bezug auf Krieg, Flucht und Vertreibung. Damit blieben bestimmte Erfahrungen zum zweiten Mal unverarbeitet. Für Trauer über den Verlust der Heimat beispielsweise gab es keinen Platz und kein Verständnis. Wo Anerkennung, Wertschätzung und Vorbilder fehlen, fehlt allzu schnell der Mut zum Sprechen. Das Ich bedarf der Bestätigung, dass es sozial akzeptiert wird. Dafür braucht es ein Gegenüber, das ähnliche Erfahrungen hat oder die Erzählungen des anderen anhört, ohne sie sogleich zu bewerten.
Wer nicht angekommen ist, kann andere nicht willkommen heißen Die geführten Interviews verweisen auf einige bemerkenswerte Aspekte im Zusammenhang mit den hier verhandelten Fragen. Wer mit seiner Familie gut aufgenommen wurde oder nach einigen Mühen in der neuen Heimat gut angekommen ist, hat den heutigen Flüchtlingen gegenüber zumeist eine aufgeschlossene Grundhaltung. Wer hingegen auf eine Zeit zurückblickt, die bis heute nicht verheilte Wunden hinterlassen hat, ist vielleicht nicht völlig verschlossen, aber weniger mitfühlend. Hier zeigt sich, dass das eigene nicht verarbeitete Leid, Verluste, die nicht betrauert wurden, Integration, die nicht gelungen ist, durchaus über Jahrzehnte wirken können. Die Offenheit gegenüber den ankommenden Flüchtlingen unterscheidet sich nicht unbedingt nach Ost- oder West-Herkunft. Auch eine familiäre Fluchtgeschichte und deren Verarbeitung liefert allein keine ausreichende Begründung. Auffällig ist, dass vor allem diejenigen eine skeptische bis ablehnende Haltung vertreten, die nach wie vor mit den Folgen der politischen, kulturellen und sozialen Umbrüche beschäftigt sind. Dazu gehören ehemalige DDR-Bürger*innen und Migrant*innen, aber auch Alt-Bundesbürger*innen, die in ihrer Identität verunsichert sind und die Ankunft von Fremden als Bedrohung für die eigene Existenz wahrnehmen. Es wird in übertragenem Sinne ein Heimatverlust befürchtet. Das betrifft nicht nur jene, die eigene Fluchterfahrungen in der Familie haben. Doch wer sie hat, wird durch die Begegnung mit Fremden nicht selten mit vergessenen und verdrängten Erinnerungen konfrontiert. Solche unverarbeiteten Erfahrungen im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung führen nicht zwangsläufig zu Fremdenfeindlichkeit. Es gibt auch sehr engagierte Menschen in der Flücht-
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lingshilfe, die überfordert sind, weil sie ungeahnt mit einem Teil ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert werden. Menschen, die mit traumatischen oder unverarbeiteten Erfahrungen leben, reagieren auf Stress wie auf unüberschaubare Veränderungen besonders stark. Dass Bewegungen wie Pegida und die AfD mit ihrer Kritik an der Flüchtlingspolitik in Ostdeutschland viel Zuspruch erfahren haben, wurzelt nicht zuletzt auch darin. Nach dem gerade mal – und nicht immer zur eigenen Zufriedenheit − bewältigten Systemumbruch befürchten viele einen neuerlichen kulturellen Wandel. Doch die Angst davor scheint auch dort groß, wo solche Umbrüche bisher ausgeblieben sind. Bis auf Ausnahmen – die allerdings eher in Westdeutschland zu finden sind − erwarten alle unisono eine hohe Anpassungsbereitschaft der Flüchtlinge. Parallel dazu wird die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft eher kritisch gesehen und eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen gefordert. In Ostdeutschland wird häufiger auf die schwierige Nachkriegssituation Bezug genommen, während in Westdeutschland in der Regel eine gewisse Zufriedenheit mit der derzeitigen Lebenssituation herrscht. Hier spielen zum einen tatsächlich vorhandene soziale Unterschiede eine Rolle. Zum anderen ist zu vermuten, dass nicht wenige Ostdeutsche sich als doppelte Verlierer*innen sehen. Schon das Leben in der Nachkriegszeit war – nicht zuletzt aufgrund der Reparationsleistungen gegenüber der Sowjetunion – weitaus weniger als in der alten Bundesrepublik durch ein Wirtschaftswunder abgefedert. Nach dem Systemumbruch in den 1990er Jahren mussten viele sich erneut großen Herausforderungen stellen, wofür die zeitweise extrem hohe Zahl an Arbeitslosen nur ein Beispiel ist. Einen einfachen kausalen Zusammenhang zwischen eigenen Fluchterfahrungen und der Haltung zu den ankommenden Flüchtlingen gibt es nicht. Dennoch zeigt sich in den Interviews, dass die jeweiligen Erfahrungen im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung bzw. – im Falle der türkischstämmigen Bevölkerung − mit Migration und deren Verarbeitung durchaus eine Rolle spielen. Hier wirken nicht zuletzt auch transgenerationale Übertragungen auf die Haltung der nachfolgenden Generationen. Wo Eltern oder Großeltern soziales Engagement und Offenheit gegenüber Anderen, Fremden vorleben, finden sich zumeist Kinder und Enkel*innen, die es ihnen nachtun. Wo das Gegenteil der Fall ist, gilt dasselbe. Im Schweigen wie auch in der Abwehr des Fremden finden sich schwer einzuordnende Spuren von Trauer, Schuld und Scham. Sie können mehr als 70, 50 oder auch erst 20 Jahre alt sein, einander überlagern und aktivieren. Je länger ihr Ursprung zurückliegt, je unzugänglicher sie dem Bewusstsein sind, desto schwerer ist es, sie wahrzunehmen. Ein öffentlicher Diskurs kann eine persönliche Auseinandersetzung nicht ersetzen. Aber wie anhand der sich wandelnden Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu beobachten war, ist es für das individuelle Erinnern durchaus von Belang, was im kollektiven Gedächtnis gespeichert und reproduziert wird und was
Im Schatten der Geschichte
nicht. Heimat ist der Ort, an dem das Dasein des*der Einzelnen bejaht wird, an dem er*sie auf seine*ihre Vergangenheit zurückblicken und seine*ihre Zukunft gestalten kann. Zu seinem*ihrem Dasein gehört seine*ihre Lebensgeschichte. Indem er*sie sie erzählen kann, nimmt seine*ihre Identität eine Gestalt an. Wie er*sie sie erzählt, was er*sie erinnert oder ausspart, ist auch eine Frage des Gegenübers und der jeweiligen Erinnerungskultur. In diesem Sinne ist es für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft durchaus von Belang, wie und von wem die Erinnerungskultur in Bezug auf das Leben in der DDR geprägt wird. Darum wird 30 Jahre nach der friedlichen Revolution durchaus noch gerungen – alles andere wäre einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.
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Im Schatten der Geschichte
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Einleitung: Zu unserem Verständnis von Rassismus Mit Noah Sow verstehen wir Rassismus als »die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Rassismus ist keine persönliche oder politische ›Einstellung‹, sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für weiße Alleinherrschaft wirken. Rassismus ist ein globales Gruppenprivileg, das weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt«.1 Mit dem Begriffsfeld Rassismus lassen sich »sowohl größere gesellschaftliche Verständnisrahmen und Ausgangsbedingungen als auch spezifische Formen der rassistischen Diskriminierung z.B. gegen schwarze Menschen2 , gegen Juden* und Jüdinnen*, gegen Sinti und Roma oder gegen muslimische oder als muslimisch wahrgenommene Menschen erfassen und analysieren. Auch wenn sie in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten, basieren alle diese Rassismen auf verwandten Prozessen der Erfindung und Herstellung von Differenz, der Markierung von Differenz und schließlich der Hierarchisierung von Differenz. Damit erfüllen alle diese Rassismen ihre eigentliche und wesentliche Funktion: die Ziehung sozialer Grenzen«.3
1 2
3
Sow 2019, S. 608-610. ›Schwarz‹ wird als politischer Begriff verwendet, nicht nur im Sinne eines direkten Bezugs zur afrikanischen Diaspora, sondern auch als Bündnisbegriff (vgl. Dean 2019, S. 598). »Schwarz zu sein ist keine Eigenschaft, sondern eine gesellschaftspolitische Position. Die Selbstbenennung ›Schwarz‹ markiert bestimmte gemeinsame Erfahrungshorizonte und somit auch Lebensrealitäten in einer weiß-dominierten Gesellschaft. Weiße können daher nicht bestimmen, wer Schwarz ist und wer nicht« (Sow 2019, S. 608). Auma 2018, S. 11.
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Diesem komplexen Verständnis vom Phänomen steht die in Deutschland gängige Reduktion von Rassismus »auf den Nationalsozialismus und einen sich bewusst in dessen Tradition stellenden Rechtsextremismus«4 u.a. mit der Folge der Negierung der Tatsache, dass People of Colour Rassismus erfahren. Die »Verleugnung des Rassismus« führt nach Sow des Weiteren dazu, »dass Rassismus unbenannt bleibt und dadurch strukturell und diskursiv unangetastet fortwirken kann«.5
Rassismus in der DDR – eine skizzenhafte Annäherung Die DDR bildete ein geschlossenes politisches und ideologisches System. Ihrem Selbstverständnis nach war die sozialistische Gesellschaft frei von Rassismus und Faschismus. Sie verstand sich als Gegenentwurf zur kapitalistischen westlichen Gesellschaft, der die Schuld für die Verbrechen und Gräuel im Zweiten Weltkrieg zugeschoben wurde. Die Mauer, als »antifaschistischer Schutzwall« in der DDRPropaganda dargestellt, war symbolhaft für diese politische Verortung. Die staatlich verordnete »Völkerfreundschaft« mit den »sozialistischen Bruderstaaten«, wie Kuba, Nicaragua, Angola und Mosambik, sollte Weltoffenheit und Solidarität suggerieren.6 Durch das Kolportieren einer weltoffenen und sozialistischen Gesellschaft seitens der DDR-Regierung wurde offenes Diskutieren von Rassismusproblemen unmöglich gemacht. Rassismus wurde in der DDR weitestgehend tabuisiert, denn er passte nicht in das Selbstbild. Eine gesellschaftliche Debatte um die Hintergründe und die eigene Verstrickung in die nationalsozialistische Vergangenheit fand ebenso wenig statt. Die sogenannten Vertragsarbeiter*innen aus Angola, Vietnam, Kuba und anderen Ländern lebten in den allermeisten Fällen isoliert von der DDRBevölkerung und waren von Anfang an Rassismus ausgesetzt.7 Dieser Rassismus der DDR zeigte sich subtil in Kinderbucherzählungen, in unreflektierten Stigmatisierungen vor allem nichtweißer Vertragsarbeiter*innen und im schlimmsten Fall in Verfolgung und sogar Mord an Menschen, die als »nicht zugehörig« angesehen wurden. Rassismus wurde in der DDR zudem kaum strafrechtlich verfolgt. Die Anweisungen der obersten Staatsführung der DDR etwa, die Ermittlungen gegen die beiden von Zeugen beobachteten Tatverdächtigen einzustellen, die für den Mord an den Kubanern Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret in Merseburg im August
4 5 6 7
Sow 2019, S. 37. Ebd. Staas 2021 (online veröff.). Über die Lebenslagen vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen siehe Mai 2020 (online veröff.).
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1979 verantwortlich waren, stehen exemplarisch für den Umgang des Staatsapparates mit Aufklärung.8 Dabei ist von etwa 9.000 neonazistischen, rassistischen und antisemitischen Propaganda- und Gewalttaten in der DDR auszugehen.9 Im Schatten des 40 Jahre währenden Staatssozialismus und der politisch erzwungenen Schweigekultur konnten sich rechtsextreme Bündnisse formen und entfalten, welche später die Pogrome in Rostock, Hoyerswerda oder den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) begünstigten. Auch der Anteil von Altnazis in der DDR war beträchtlich. Laut des Historikers Jan Foitzik waren 1954 »27 Prozent aller Mitglieder der SED zuvor in der NSDAP und 32,2 Prozent aller Angestellten im Öffentlichen Dienst der DDR ehemalige Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen.«10 Zudem muss erwähnt werden, dass es offenen Rechtsextremismus in der DDR sehr wohl gab, wenn auch diese Phänomene lange Zeit keinen Eingang in die Berichterstattung und damit in das kollektive Bewusstsein fanden. In die öffentliche Wahrnehmung ist der Rechtsextremismus 1987 gerückt, als Rechtsextreme eine Veranstaltung in der Berliner Zionskirche stürmten. Dieser Überfall bedeutete für die Staatsführung ein Fiasko, weil nichts mehr verschwiegen werden konnte, da die internationale Presse berichtete.11 Anders als in der Bundesrepublik konnte die in ihrer Reise- und Meinungsfreiheit und hinsichtlich weiterer Grundrechte eingeschränkte Mehrheitsgesellschaft der DDR Migration nie als selbstverständliche Kontinuität kennenlernen und erleben. Der Austausch mit Menschen ausländischer Herkunft wurde als zwanghaft, staatlich kontrolliert und medial inszeniert erfahren (z.B. bei Folkloreveranstaltungen, Sportfesten oder Schulfeiern). Über 40 Jahre lang konnten sich Vorurteile, Ressentiments, Feindbilder und Klischees in der DDR-Gesellschaft manifestierten, die auf Differenzen zwischen Menschen oder Gruppen fokussierten, die eine andere Sprache, Herkunft und/oder Religion hatten. Zum historischen Erbe der DDR zählt der sich latent bis offen zeigende Rassismus, dessen Auswirkungen bis in die Aufklärung des NSU-Terrors noch heute zu spüren sind.12 Eine weitere Kontinuität
8 9 10 11 12
Über den Mord an die Kubaner berichtete Sarah Ulrich am 16. 10. 2018 in der taz (Ulrich 2018). Diese Zahl wird in Anlehnung an den Historiker Harry Waibel in Ulrichs Beitrag genannt (s. Fn. 8.). Wagner 2018. Fugmann 2017. Die Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) weist zum einen auf die unaufgearbeitete Rolle von Antisemitismus bei der Radikalisierung der NSU-Mitglieder hin und zum anderen auf die hinsichtlich der oft verkannten Bedeutung von Frauen im Rechtsextremismus darauf, dass sich ein Gender-Bias und struktureller Rassismus in Sicherheitsbehörden, Medienberichterstattung und Gesellschaft wechselseitig bedingen können (vgl. Amadeu Antonio Stiftung 2018, S. 4). »Im Zuge der juristischen und politischen Aufklärung der NSU-Mordtaten wurden mehrere Hundert Zeugen befragt
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von Rassismus zeigt sich in der bis heute forcierten Konstruktion einer ethnisch homogenen Bevölkerung, die es faktisch nie gab. Das in der DDR propagierte Bild vom »Klassenfeind« scheint gegenwärtig in der Herstellung von Differenz entlang der Diversity-Dimensionen Sprache, Herkunft, Kultur und Religion zum Teil einen adäquaten Ersatz gefunden zu haben.
Wie sichtbar ist die Migration in den ostdeutschen Bundesländern? Im Jahr 2019 hatten 21,2 Millionen Menschen und somit 26 % der Bevölkerung in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund, d.h. eine eigene oder familiäre Migrationsbiografie – in Westdeutschland galt dies für 29,1 Prozent und in Ostdeutschland für 8,2 Prozent der Bevölkerung. Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind knapp zwei Drittel selbst eingewandert und gut ein Drittel ist in Deutschland geboren (64,4 bzw. 35,6 Prozent). 2019 hatten 40,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund, fast jede dritte Familie hat eine Migrationsgeschichte.13 In Ostdeutschland gibt es keine Erfahrung mit Migration, heißt es oft angesichts der Herausforderungen, die mit Migration überall einhergehen und wodurch die Bedarfe der eingewanderten Menschen verfehlt werden. 32 Jahre nach dem politischen Umbruch in der DDR wird mehr als deutlich, dass die Themen Integration und Demokratie lediglich um die migrantische Perspektive der alten Bundesländer ergänzt wurden und das auch nur begrenzt. Auch die DDR hatte eine Migrationsgeschichte, wenn auch darüber offiziell wenig gesprochen wurde. Im bundesdeutschen Narrativ werden diese spezifischen Entwicklungen kaum reflektiert. Die Thematisierung einer gemeinsamen Migrationsgeschichte fehlt auf der Makro-Ebene staatlicher oder bundesweiter Entwicklungen und der Meso-Ebene institutioneller Praktiken. Und es gilt ebenso für das öffentliche Bewusstsein auf lokaler, d.h. Mikro-Ebene: Die vielgestaltige Teilhabe von Migrant*innen an der Gesellschaft bleibt unsichtbar.
13
und hunderttausende Dokumente ausgewertet. Dabei wurden das vielfache Scheitern und teils dilettantische Vorgehen von Polizei und Verfassungsschutz offen gelegt. Laut Tanjev Schulz, Journalist und Autor eines Buches zum NSU, war die Liste der Fehler und Versäumnisse auf staatlicher Seite so lang, dass für viele ein Verdacht gezielter Sabotage nicht fernliegt« (Brandt 2020). Vgl. BpB 2020. Die statistische Kategorie »Migrationshintergrund« steht schon lange in der Kritik u.a. wegen ihrer stigmatisierender Wirkung und auch ihrer unterschiedlichen Verwendung (erfasst werden je nach Kontext Pass der Eltern oder aber die Familiensprache) etwa in den einzelnen Schulstatistiken der Bundesländer, was Vergleiche entlang der Kategorie unmöglich macht. Die Fachkommission Integrationsfähigkeit empfiehlt der Bundesregierung die Erfassung von »Eingewanderte[n] und ihre[r] Nachkommen« (Pürckhauer 2021).
Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen
Entgegen dem breiten Verständnis einer ostdeutschen Gesellschaft ohne Migrationserfahrung fand jedoch Migration schon zu DDR-Zeiten in verschiedene Richtungen statt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs flohen rund 14 Millionen Deutsche und sogenannte Volksdeutsche aus Osteuropa Richtung Westen aus den ehemaligen Kriegsgebieten. 1947 machten Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone rund ein Viertel der Bevölkerung aus, 1950 waren es 4,1 Millionen Personen. In der DDR wurden sie offiziell zunächst als »Umsiedler« und später als »Neubürger« bezeichnet. Das sollte der Bevölkerung signalisieren, dass die Flüchtlingsintegration abgeschlossen sei.14 In den 1950er-Jahren und beginnenden 1960er-Jahren war die Wanderung aus dem Westen in den Osten »durchaus ein Massenphänomen – wenn auch zahlenmäßig nicht annähernd so bedeutsam wie der Weg in die entgegengesetzte Richtung. Zwei Drittel der WestOst-Übersiedler kamen als Rückkehrerinnen und Rückkehrer, sie hatten nach 1945 also schon in der SBZ/DDR gelebt; ein Drittel waren neu Zuziehende. Auffällig ist, dass viele Übersiedler wieder in die Bundesrepublik zurückkehrten. Von denen, die seit Anfang 1954 bis Mitte 1961 in die DDR gingen, verließen 40 Prozent das Land wieder.«15 Nach der Staatsgründung der DDR bis zum Mauerbau 1961 gab es eine starke Abwanderung und danach eine von der Staatsführung initiierte und gesteuerte Anwerbung von sogenannten Vertragsarbeiter*innen. Auch wurden wenige Tausend Personen als politische Flüchtlinge aufgenommen. Schätzungen gehen davon aus, dass bis 1961 2,7 Millionen DDR-Bürger*innen aus politischen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen in den Westen flüchteten.16 Als Antwort auf den dadurch entstandenen erheblichen Arbeitskräftemangel wurden die Vertragsarbeiter*innen aus anderen sozialistischen Staaten in die DDR geholt. Die DDR-Regierung schloss ein Abkommen mit anderen sozialistischen Staaten ab – zunächst mit Polen und Ungarn, später mit außereuropäischen Staaten, darunter mit Kuba, Mosambik, Angola und Vietnam. 1966 waren rund 3.500 Vertragsarbeiter*innen in der DDR tätig, wobei Vietnames*innen die größte Gruppe bildeten. Der Arbeitseinsatz ausländischer Arbeitskräfte war also durchweg staatlich organisiert, die Anreise der Vertragsarbeiter*innen erfolgte in Gruppen, individuelle Vertragsverhandlungen zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gab es nicht.17
14 15 16 17
Vgl. Pürckhauer/Lorenz 2019. Fuchslocher/Schäbitz 2017. Vgl. Pürckhauer/Lorenz 2019. Vgl. ebd.
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Nach Darstellung der DDR-Printmedien waren die ausländischen Vertragsarbeiter*innen gut in die DDR-Gesellschaft integriert. Die »Zugereisten«, so der Tenor, hätten in der DDR eine »zweite Heimat« gefunden. Vertragsarbeitende durften aber nicht an der Gesellschaft teilhaben: Sie durften ihre Familien nicht nachholen und nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge mussten sie in ihre Herkunftsstaaten zurückkehren. Wenn Frauen schwanger wurden, mussten sie abtreiben oder ausreisen – diese Regelung wurde erst kurz vor dem politischen Umbruch geändert. Die Vertragsarbeitenden wurden zudem von der restlichen Bevölkerung abgeschottet: Sie waren in Gemeinschaftsunterkünften in der Nähe der Betriebe untergebracht, engere Kontakte zu DDR-Bürger*innen waren genehmigungspflichtig. Liebesbeziehungen und sexueller Kontakt zwischen Bürger*innen der DDR und Migrant*innen waren nicht erwünscht und mussten deshalb im Geheimen stattfinden.18 Hinsichtlich des nachbarschaftlichen Zusammenlebens von DDR-Bürger*innen und Arbeitsmigrant*innen gab es allenfalls halbherzige Integrationsversuche der Behörden. Zahlreiche Eingaben, in denen sich DDR-Bürger*innen über ihre ausländischen Nachbar*innen beschwerten, zeichnen das Bild eines angespannten nachbarschaftlichen Verhältnisses. Rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen waren in der Öffentlichkeit aber tabuisiert. Was sprachlich nicht artikuliert wurde, so die dahinterstehende Hoffnung, würde auch in der sozialen Wirklichkeit keinen Raum einnehmen. Als im Laufe des Herbstes 1989 die Spannungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht zunahmen, wirkte sich dies auch auf das Verhältnis zwischen DDRBürger*innen und Arbeitsmigrant*innen aus. Ausländer*innen wurden zur Projektionsfläche von Angst und Wut, und sie wurden verstärkt als Konkurrent*innen im Kampf um knappe Ressourcen wahrgenommen.19 1989 lebten rund 190.000 Ausländer*innen in der DDR, fast alle mit einem temporären Arbeitsstatus. Menschen aus Vietnam bildeten mit 59.000 Personen die größte Gruppe. Der Aufenthalt der Vertragsarbeitenden war von vornherein nicht langfristig angelegt, sondern folgte einem »Rotationsprinzip«: Nach vier bis fünf Jahren mussten die angeworbenen Fachkräfte in ihre Herkunftsländer zurückkehren, andere rückten nach. Offiziell kamen die Vertragsarbeitenden zu Aus- und Fortbildungszwecken, um nach der Rückkehr Aufbauhilfe in den sozialistischen »Bruderländern« zu leisten. Tatsächlich hatten aber gerade in den 1980er-Jahren viele von ihnen bereits eine Ausbildung und erhielten in der DDR keine Möglichkeit, sich weiterzubilden. Meist waren die Menschen in der Produktion angestellt
18 19
Vgl. ebd. Vgl. Rabenschlag 2016.
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und an einen Betrieb gebunden, teilweise wurde ein Teil des Lohnes direkt an die Regierungen überwiesen. 15 Prozent der Vertragsarbeitenden waren Frauen.20 Nur wenige Vertragsarbeitende blieben nach 1989 an ihren Arbeits- und Wohnorten. Die letzte DDR-Regierung beendete die einst geschlossenen Abkommen für die Vertragsarbeiter*innen. Lediglich Personen, die gerade erst angekommen waren, konnten noch bis zum Ablauf der Arbeitsverträge in Deutschland bleiben, jedoch verloren viele ihre Arbeit. Einige suchten den Weg in die Selbstständigkeit, andere nahmen Prämien der Regierung für eine freiwillige Rückkehr an. Die meisten Fachkräfte gingen in ihre Heimatländer zurück. 16.000 Vietnames*innen blieben. »Ab 1990 konnten sie eigene Familien gründen. Wer allerdings für die Reise in die DDR seine Familie in Vietnam zurückgelassen hatte, konnte diese meist erst ab 1997 nachholen.«21 In der DDR lebten nur wenige politische Flüchtlinge. In den 1950er-Jahren wurden griechische Kinder und Jugendliche aufgenommen, deren Eltern Kommunist*innen oder Partisan*innen waren, sowie Lehrer*innen und Parteifunktionär*innen. 1961 lebten 980 Erwachsene und 337 griechische Kinder in der DDR. Auch spanische Bürgerkriegsflüchtlinge wurden aufgenommen, ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Nach dem Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende erhielten in den 1970er- Jahren rund 2.000 Chilen*innen Asyl, unter ihnen viele ehemalige Parteifunktionär*innen. 1989 hielten sich noch 482 Personen mit griechischer und 334 mit chilenischer Staatsbürgerschaft in der DDR auf.22 Heute leben die wenigsten Menschen mit einer Migrationsbiografie und Ausländer*innen in den ostdeutschen Bundesländern. Der Anteil der Ausländer*innen an der Gesamtbevölkerung der Bundesländer war im Jahr 2016 in den Stadtstaaten Berlin (16,7 Prozent), Bremen (16,5 Prozent) und Hamburg (15,6 Prozent) am größten. Es folgten die Flächenländer Hessen (15,1 Prozent), Baden-Württemberg (14,5 Prozent) und Nordrhein-Westfalen (12,4 Prozent). 2016 lag der Anteil der ausländischen Einwohner*innen bei 4,0 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, bei 4,4 Prozent in Brandenburg und 4,4 Prozent in Sachsen-Anhalt. In Ostdeutschland (ohne Berlin) lag der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2016 bei 4,2 Prozent. In Westdeutschland (ohne Bremen und Hamburg) lag er im selben Jahr bei 12,1 Prozent und in den Stadtstaaten bei 16,4 Prozent.23 Die ostdeutsche Gesellschaft zeigt eine gänzlich andere Migrationsgeschichte als in Westdeutschland mit ihrer Gastarbeiter*innengeschichte auf. Daher bilden andere historische und transnationale sowie deutsch-deutsche Migrationserfahrungen die Ausgangspunkte zur Erfassung biographisch-subjektzentrierter Narra-
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Vgl. Pürckhauer/Lorenz 2019. Vgl. Mai 2020. Vgl. Pürckhauer/Lorenz 2019. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2018.
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tionen und Perspektiven. Vor diesem Hintergrund ist die ostdeutsche Gesellschaft sehr spezifisch und doch vielfältig von Zu- und Abwanderung geprägt. Dennoch wird diese Vielfalt im bundesdeutschen Migrationsnarrativ weder reflektiert noch in einer gemeinsamen Migrationsgeschichte thematisiert.24
Kurze Einblicke in die Entwicklung der Migrationsgeschichte nach dem politischen Umbruch in MV Nicht nur falsch, sondern für die Menschen mit einer Migrationsbiografie fatal, ist die Tatsache, dass im Zuge der Wiedervereinigung bis heute die Migrationsgeschichte von Ost- und Westdeutschen ausgeblendet wird. Dabei lebten in der Bundesrepublik fünf Millionen Menschen mit einer eigenen oder familiären Migrationsbiografie und in der DDR waren es 200.000 Personen.25 Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wuchs der offene Rassismus in Deutschland sehr schnell an. Die ersten Opfer rechtsextremer Gewalt waren 1990 der aus Polen stammende Andrzej Frątczak, der in Lübbenau (Oberspreewald-Lausitz) ermordet wurde und der aus Angola zu Studienzwecken eingereiste Amadeu Antonio Kiowa, der in Eberswalde getötet wurde.26 Im September 1991 kam es zu mehrtägigen gewalttätigen Ausschreitungen von Rechtsextremen im sächsischen Hoyerswerda gegen vietnamesische Händler*innen und Asylbewerber*innenheime, bei denen sich die Polizei machtlos zeigte. Letztendlich wurden knapp 300 Vertragsarbeiter*innen abgeschoben. Das war der Impuls zu einer Serie von Nachahmungstaten, überwiegend in Ostdeutschland. In MV wurden im Jahr 1992 insgesamt 207 rechtsextremistische Angriffe gemeldet und registriert, wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte. Deutschlandweit sind die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen aus dem Jahr 1992 bekannt. Es handelte sich zu dem Zeitpunkt um die massivsten rassistisch motivierten Angriffe in Deutschland, auch als Pogrom bezeichnet. An den Ausschreitungen beteiligten sich mehrere 100 teilweise rechtsextreme Personen und bis zu 3000 Zuschauer*innen. 120 angegriffene Vietnames*innen, einige Sozialarbeitende und ein ZDF-Team wurden schutzlos im brennenden Haus zurückgelassen, da sich die Polizei zurückgezogen hatte.27
24 25 26
27
Vgl. Ghelli 2014. Vgl. Ley 2020. Das Bezirksgericht Cottbus prüfte weder ein rassistisches Motiv des Mordes an Frątczak, noch spielte die rechte Gesinnung der Täter eine Rolle (vgl. Opferperspektive e.V. o.J.a). Auch wird im gesamten Prozessverlauf der rassistische Hintergrund des Mordes an Kiowa systematisch ausgeblendet (vgl. Opferperspektive e.V. o.J.b). Für weitere Details siehe MDR 2019.
Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen » Nach
den rassistischen Ausschreitungen 1992 in Lichtenhagen beschlossen die in Rostock lebenden Vietnamesinnen und Vietnamesen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und den Kontakt zu deutschen Einwohnerinnen und Einwohnern von Rostock zu suchen und zu gestalten. 1992 gründeten sie den Verein »Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V.«, in dem die vietnamesische Kultur auch heute noch eine besondere Rolle spielt. Bei »Diên Hông« engagieren sich mittlerweile Migrantinnen und Migranten verschiedener Herkunft wie auch Einheimische und gestalten Angebote, die sich an Zugewanderte und Einheimische richten«.28 Eine weitere Folge der rassistischen Übergriffe von Rostock-Lichtenhagen war die Gründung des Migrant*innenbeirats der Hansestadt Rostock. Die Idee entstand schon unmittelbar nach dem Mauerfall, aber nach dem Pogrom war es enorm wichtig, die Stimme der Migrant*innen und Geflüchteten sichtbar zu machen. Bis zum Jahr 2019 war es der einzige Migrant*innenbeirat in Mecklenburg-Vorpommern. Im Jahr 2009 hat sich das Netzwerk »MIGRANET-MV« gegründet. »MIGRANETMV« vernetzt mehr als 60 Migrant*innen-organisationen und sorgt für die politische Partizipation in allen Bereichen des Lebens in Mecklenburg-Vorpommern.
Die migrantische Gesellschaft: Unsichtbar, ignoriert und »kleingehalten« Für die »Akzeptanzprobleme« der Migration29 scheinen nicht Migrationsprozesse selbst ursächlich zu sein. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Erfahrung geringer Migration in einer deutschen Dominanzkultur die Projektion von Vorurteilen auf Minderheiten erleichtert. Das Phänomen der »Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer« ist seit langem bekannt. Dennoch gewinnen vor allem in Ostdeutschland Anhänger*innen der extremen Rechten seit 1990 wieder stark an Zulauf. Seit 2011 beobachten wir eine immer deutlichere gesellschaftliche Veränderung: Rassismus und Antisemitismus begegnen uns im Alltag öfter und offener, auch jenseits von Äußerungen der NPD. Mit der Gründung und dem anschließenden Wahlerfolg der AfD bewahrheiteten sich unsere Befürchtungen: Frauenverachtende, rassistische und antisemitische Äußerungen wanderten auch im täglichen Leben immer mehr in die Mitte der Gesellschaft. Seit 2015 sehen wir, wie sehr viele Migrant*innen unter antimuslimischem Rassismus leiden, wie geflüchtete und immigrierte Kinder, auch der zweiten Genera-
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Dien Hong o.J. Heinrich 2004, S. 279.
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tion, in Kitas und in Schulen ungleich behandelt und wie Migrant*innen in allen Lebensbereichen benachteiligt werden. Wir beobachten immer wieder viele offene Angriffe auf der Straße, beim Einkaufen, bei Ärzt*innen, in den öffentlichen Institutionen. Offener Rassismus ist mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt keine wirksamen Möglichkeiten für die migrantischen Perspektiven, sich Gehör zu verschaffen, sich gegen Bedrohungen oder Gefährdungen zu wehren oder Veränderungen hinsichtlich der Konstruktion oder Wahrnehmung von Menschen nichtdeutscher Herkunft zu bewirken.30 Schon lange kämpfen wir um eine Antidiskriminierungsstelle für das Land MecklenburgVorpommern. Ebenso mangelt es an Migrant*innen und ihren Interessensvertretungen in Politik und Verwaltung. Wiederholt werden wir mit einer sehr fest umrahmten, rassistisch aufgeladenen Zuschreibung konfrontiert, die uns eine Kompetenz oder gar Expertise in den gewählten politischen Feldern und Themen abspricht. In den letzten Jahren beobachten wir zusätzlich, dass autoritäre, antiliberale, vielfaltsfeindliche, nationalistische Dynamiken und menschenverachtende Ideologien stark die Gesamtheit der Gesellschaft erfassen. Begleitet werden sie von Sexismus, Homo-Trans*feindlichkeit und Antifeminismus. Nach wie vor werden die Themen Gender, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und sexuelle Selbstbestimmung emotional und hitzig diskutiert und besitzen ein hohes Mobilisierungspotential. Die Auswirkungen dieser rassistischen Haltung und Stimmung merken wir in der zivilgesellschaftlichen Demokratiearbeit. Gerade das rechtsterroristische Attentat in Hanau ist ein Beispiel dafür, wie ernst die Lage ist. Der Täter hatte sich vor allem über den ideologischen Dreiklang Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus radikalisiert. Antifeminismus wird weder in seiner demokratiegefährdenden Dimension noch in seiner Verwobenheit mit Rassismus und Antisemitismus öffentlich wahrgenommen noch in der politischen Arbeit und in der Präventionsarbeit ausreichend berücksichtigt. Besonders der Antifeminismus findet in MV wie in anderen ostdeutschen Bundesländern zunehmend Verbreitung und hat alle Teile der Gesellschaft erreicht. Viele Engagierte, die ehrenamtlich oder in Institutionen berufstätig sind, sind am Ende ihrer Kräfte und Ressourcen im Kampf gegen Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus. Das Zusammenspiel von Sexismus, Rassismus und Antifeminismus, die Abwertung von Minderheiten und Menschen mit Behinderung,
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Die Verdienste und Erfolge des Beratungsnetzwerks Demokratie und Toleranz MV sind augenscheinlich. Jedoch vermögen die einzelnen Institutionen und Träger es nicht, den in den gesellschaftlichen Verhältnissen verankerten strukturellen Rassismus und den sich stabil etablierten Alltagsrassismus aufzuhalten oder zu überwinden.
Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen
Homo- und Trans*Phobie führen zu einem immer rauer werdenden gesellschaftlichen Klima, was wir gerade jetzt erleben. Populismus und Rechtsextremismus werden zunehmend stärker, Konflikte werden vermieden, Migration wird im MegaWahlkampfjahr 2021 zum Randthema oder verschwiegen. Engagierte NGOs, migrantische Organisationen, Akteur*innen, aber auch Wissenschaftler*innen fühlen sich zunehmend als »Einzelkämpfer*innen«. Das gilt auch für Migrant*innenselbstorganisationen deren finanzielle Ressourcen prekär sind.
Ausblick in die Zukunft Die Migrant*innenselbstorganisationen stehen im Jahre 2021 vor besonders großen Herausforderungen: Durch die rasche Verbreitung des Corona-Virus und die daraus entstehenden Konsequenzen sind Nationalismus und Rassismus verstärkt zu spüren. Die Pandemie ruft Gefühle der Angst und Bedrohung bei jeder einzelnen Person hervor. In diesem Zusammenhang sprechen Soziolog*innen vom »Kriegsmodus ohne Krieg«31 , ein Modus, in den die (Welt-)Bevölkerung angesichts der Corona-Krise versetzt wird. Reflexartig wird nach Schuldigen für die Krisensituation gesucht. Extrem rechts orientierte Menschen wetteifern gegen Entscheidungsträger*innen in Politik, Virolog*innen, die demokratische Ordnung, Migration und Globalisierung. Alte Reflexe werden in dieser überkomplexen Situation automatisiert und gegen diejenigen am Rande der Gesellschaft gerichtet. Der dramatischen Situation von geflüchteten Menschen im Ausland sowie der kritischen Lage von Asylsuchenden und Geflüchteten in den Gemeinschaftsunterkünften Deutschlands wird in der Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
Was braucht die (post)migrantische Gesellschaft in MecklenburgVorpommern? Rassismus existierte in MV bereits vor 1989/90. In den letzten 31 Jahren bot er weiterhin einen Nährboden für Gewalt und bedarf einer dringenden Aufarbeitung. Die migrantische Gesellschaft im Osten Deutschlands braucht ein neues Image. Es muss endlich mit Stereotypen, wie Bildern von tanzenden, singenden, trommelnden, kochenden und bettelnden Migrant*innen, gebrochen werden. Es muss offen über Diskriminierungen, Rassismus und eine Willkommenskultur diskutiert werden. Die Mehrsprachigkeit muss als eine starke Ressource anerkannt
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Rapp 2020.
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werden. Die wirtschaftliche Selbstständigkeit auch von Menschen mit Migrationsbiografie ist wichtig, weil sie ein Motor für die Wirtschaft in MV ist (auch wenn sie unter dem Bundesdurchschnitt liegt). Es gibt Angebote für Selbstständige und Existenzgründer*innen, aber die Selbstständigkeit von Personen mit Migrationshintergrund ist kein dominantes politisches Thema in Mecklenburg-Vorpommern. Selbstständige migrantische Personen sind wenig vertreten in politischen Netzwerken oder wirtschaftlichen Organisationen; auch gibt es wenig Angebote zur systematischen Förderung für Personen, die sich selbstständig machen wollen. Migrant*innen sowie Geflüchtete mit hochqualifizierten Abschlüssen sind meist in die alten Bundesländer migriert. Die Anerkennung von Abschlüssen stellt nach wie vor ein großes Hindernis für den Zugang zum Arbeitsmarkt dar – trotz erheblichen Mangels an Fachkräften. In der Regel werden ihnen Arbeitsstellen angeboten, die weit unter ihrer ursprünglichen Qualifikation liegen. Auch die Entlohnung von Migrant*innen ist sehr unterdurchschnittlich, wodurch ihr Armutsrisiko enorm ansteigt. Hier müssen bessere Zugänge geschaffen werden.32 Der eingeschränkte Familiennachzug verhindert, dass Frauen* und Mädchen* über sichere Fluchtwege nach Deutschland kommen und die Teilhabeprozesse ihrer Familie in Deutschland stärken können. Frauen* und Mädchen* leiden am stärksten unter der menschenrechtswidrigen Behandlung durch die Verschärfungen im Asylgesetz. Daher muss die unmittelbare Zurücknahme dieser Maßnahmen und die Zulassung des Familiennachzugs als Gebot der Stunde betrachtet werden. Wir würden gern den Beitrag mit dem Satz »Wir schaffen das« beenden, aber wie und viele andere Migrant*innen kämpfen jeden Tag und hoffen, dass es zumindest unsere Urenkelkinder erreichen, in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft als gleichberechtigte Mitglieder leben zu können.
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Der Medianlohn von Deutschen ist von 2006 bis 2018 um fast ein Drittel von 2581 auf 3403 Euro gestiegen. Bei den EU-Ausländern ist das mittlere Entgelt um rund fünf Prozent gesunken, von 2560 Euro auf 2434 Euro. Bei Beschäftigten aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern stieg das Medianeinkommen bis 2014 kontinuierlich von 1510 Euro auf 1917 Euro an, ist dann aber auf 1894 Euro im Jahr 2018 gesunken (vgl. Specht 2020).
Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen
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Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen
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»Die Gleichberechtigung der Frau ist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft…« Politik und Praxis der Gleichberechtigung in der DDR Jenny Linek
Einführung In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit bereits in der Verfassung von 1949 verankert. In der DDR sollten die berufstätigen Frauen für ein neues unabhängiges Frauenbild stehen. Neben der Integration der Frauen in den Beruf setzte die Regierung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auch auf deren Weiterbildung und Qualifizierung. Doch wie viele Frauen sind letztlich in Führungspositionen gelangt? Und wer blieb zu Hause und kümmerte sich um den Haushalt, »wenn Mutti früh zur Arbeit« ging, wie es in dem allseits bekannten Kinderlied von Kurt Schwaen hieß? Diese und weitere Fragen zur Idee und Umsetzung der Gleichberechtigung in der DDR werden im Folgenden schlaglichtartig diskutiert. Dabei geht es einerseits darum, nicht nur die politischen Grundsätze und Maßnahmen der SED-Politik aufzuzeigen, sondern auch konkret nach deren Wahrnehmungen und Effekten zu fragen. Andererseits sollen auch Widersprüche und Unklarheiten innerhalb der Frauenpolitik benannt sowie Differenzierungen vorgenommen werden.
Politische Maßnahmen zur Gleichberechtigung Im Kommuniqué des Politbüros der SED »Die Frauen – der Frieden und der Sozialismus« vom Dezember 1961 findet sich ein bemerkenswerter Abschnitt: »Die Gleichberechtigung der Frau ist ein unabdingbares Prinzip des MarxismusLeninismus und eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft. Deshalb kann die Verwirklichung dieser Aufgabe nicht den Frauen und Mädchen selbst überlassen
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bleiben.«1 Zum einen klingt diese Idee der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung von Gleichberechtigung wie eine Art Vorreiter für die in der Bundesrepublik Deutschland erst 1994 verfassungsmäßig verankerte Einsicht, dass der Staat die Voraussetzungen für wirkliche Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern aktiv herbeiführen muss.2 Zum anderen lässt sich hier jener paternalistische Unterton herauslesen, der viele offizielle DDR-Verlautbarungen durchzog. Der Staat traute es den Frauen und Mädchen scheinbar nicht zu, diese Aufgabe selbst in die Hand zu nehmen. Zumindest waren Frauen in nicht allzu großer Zahl an der Ausarbeitung politischer Leitlinien beteiligt, schon gar nicht an denen des Politbüros der SED. Grundlagen für die formale rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern wurden bereits in der Verfassung von 1949 geschaffen: »Mann und Frau sind gleichberechtigt«, hieß es in Artikel 7, Absatz 1. Äußerst relevant war auch Absatz 2, der besagte, dass »[a]lle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, [.] aufgehoben [sind].« Zum Vergleich: In der Bundesrepublik blieb über das Gründungsjahr 1949 hinaus das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 in Kraft und somit auch das ›Letztentscheidungsrecht‹ des Ehemannes in allen ehelichen und familiären Angelegenheiten, das noch bis 1957 Gültigkeit besaß. Während im Westen Deutschlands Frauen in erster Linie Mütter waren – Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling (CDU) bezeichnete 1961 den »Mutterberuf« als »Hauptberuf« der Frauen, der wichtiger sei als jeder »Erwerbsberuf«3 – galt weibliche Vollerwerbstätigkeit in der DDR als Grundvoraussetzung für die Emanzipation der Frau. Im »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau« von 1950 wurden dementsprechend Maßnahmen für Frauen zur Sicherung ihres Rechts auf Arbeit in allen Produktionszweigen sowie zu ihrer Qualifizierung verankert und die Schaffung von Kinderkrippen und Kindergärten vorangetrieben. 1955 waren in der DDR bereits 52,5 Prozent der Frauen berufstätig. Auf diesen Wert kamen westdeutsche Frauen erst Ende der 1980er Jahre. 1980 war der Anteil arbeitender Frauen in der DDR auf 73,2 Prozent gestiegen und 1989 gingen – inklusive Lehrlingen und Studierenden – 91,2 Prozent der Frauen einer beruflichen Beschäftigung nach.4 Die staatliche Kinderbetreuung war in den 1950er Jahren noch nicht 1 2
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Neues Deutschland, 23. Dezember 1961, S. 1f. Zit. n.: Niehuss 1998, S. 422. 1994 wurde Artikel 3, Absatz 2– »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« – im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland um folgenden Passus ergänzt:»Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Wuermeling, Franz-Josef: Die Familie von heute und ihre Erziehungskraft. In: Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), Nr. 238, 21. Dezember 1961, S. 2241-2243 und Nr. 239, 22. Dezember 1961, S. 2249-2251. Zit. n.: Beck-Gernsheim 2008. Vgl. Judt 1998, S. 214. Zum Anteil der weiblichen Erwerbstätigkeit an der weiblichen Bevölkerung gibt es unterschiedliche Zahlen: Anna Kaminsky benennt für das Jahr 1955 einen Anteil
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flächendeckend ausgebaut. Ab den 1960er Jahren konnte in den Großstädten der Bedarf zu 80 Prozent gedeckt werden; in den 1980er Jahren standen hier für alle Kinder Plätze zur Verfügung. In den kleineren Städten blieb der Versorgungsgrad auf einem Stand von 80 Prozent.5 In den 1960er Jahren verschob sich der Fokus der Frauenpolitik von der bloßen Eingliederung der Frauen in die Erwerbssphäre hin zur beruflichen Qualifizierung, die am Ende der DDR-Zeit tatsächlich einen hohen Stand erreichte. Eine 17-jährige Auszubildende hob in einem Interview zum Thema Gleichberechtigung6 Ende der 1980er Jahre hervor: »Für mich ist Gleichberechtigung zum Beispiel das Recht […] Meisterlehrgänge mitzumachen«.7 Frauen erlernten auch Berufe in üblicherweise männlich dominierten Branchen: In Industrieberufen und der Landwirtschaft war fast die Hälfte der Stellen von Frauen besetzt. In der Datenverarbeitung waren ab den 1970er Jahren 80 Prozent der Lehrlinge weiblich, in der chemischen Industrie 60 Prozent und auch auszubildende Fernmeldemechaniker waren zur Hälfte Frauen.8 Der Studentinnenanteil in der Mathematik und den Naturwissenschaften stieg in den 1960er Jahren von 27 Prozent (1962) auf 42 Prozent (1969) an.9 Insgesamt gesehen blieb der Arbeitsmarkt in der DDR aber stark geschlechtlich segregiert. Den höchsten Anteil hatten Frauen immer noch im Bildungs- und Sozialwesen.
»Muttipolitik« statt Geschlechterpolitik Vieles hatte sich im Geschlechterverhältnis der DDR durch die gezielte Politik der Förderung der Frauenerwerbstätigkeit und der Qualifizierung sowie der staatlichen Kinderbetreuung verändert. Auch die Bilder von Frauen in den Medien waren vollkommen andere als die der Mütter aus den 1930er Jahren oder als die von den Hausfrauen im Westen, die ihren Ehemann versorgten, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Auf Fotos in DDR-Illustrierten waren Frauen in Blaumännern und mit Helmen an Maschinen oder als Kranführerinnen zu sehen. Das Bild die-
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von 38 Prozent erwerbstätiger Frauen und für Ende der 1960er Jahre dann schon über 80 Prozent. Für die 1980er Jahre geht sie ebenfalls von einer weiblichen Erwerbstätigkeitsquote von über 90 Prozent (vgl. Kaminsky 2016, S. 68). Vgl. Kaminsky 2016, S. 68. Ende der 1980er Jahre wurden vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig Interviews mit 1500 Jugendlichen und Älteren zum Thema Gleichberechtigung in der DDR durchgeführt. Zit. n.: Bertram,/Friedrich/Kabat vel Job 1988, S. 20. Vgl. Kaminsky 2016, S. 69. Vgl. Frevert 2000, S. 648.
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ser ›neuen‹ werktätigen Frau wurde jedoch mit »alte[n] Farben«10 gezeichnet, wie es die Historikerin Gunilla Budde treffend beschreibt. Denn in Bezug auf die häusliche Arbeitsteilung fand kein vergleichbares Umdenken statt. Nur die Rollen der Frauen wurden einer Prüfung unterzogen, während sich die Meinungen darüber, was für einen Mann ›normal‹ sei, über den gesamten Zeitraum der DDR-Geschichte nur minimal veränderten.11 Die althergebrachten Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung blieben weitestgehend erhalten. Die traditionell männlichen Aufgaben wurden also einfach den traditionell weiblichen hinzugefügt.12 Insofern ergab sich nicht nur eine Doppelbelastung der Frauen durch die Organisation von Beruf und Familie, sondern in Kombination mit den Bildungs- beziehungsweise Qualifizierungsmaßnahmen und den oftmals eingeforderten gesellschaftlich-politischen Aktivitäten sogar eine »Vierfachbelastung« im Vergleich zu den Männern.13 1966 wurden im Familiengesetzbuch zwar gemeinsame Rechte und Pflichten bei der Kindererziehung und im Haushalt festgeschrieben, häufig übten die Hausarbeit jedoch die Frauen aus. In der Analyse von Kinderliedern in der DDR wird die oftmals nur implizit vorgenommene Ungleichgewichtung der Tätigkeiten von Müttern und Vätern sehr deutlich.14 In dem Klassiker »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…« von Kurt Schwaen aus dem Jahr 1951 bestimmt zwar die Berufstätigkeit der Mutter durch die Titelzeile das Lied; dominanter Bestandteil der Strophen ist aber der private Bereich und die Hausarbeit. Das Kind bindet sich »eine Schürze um und feg[t] die Stube aus«, wischt Staub und kümmert sich um das »Puppenkind«. Somit wird der real existierende Konflikt zwischen Berufstätigkeit und Haushaltsführung sowie Kinderpflege nicht als problematisch dargestellt, denn zwei der drei Belastungen heben sich quasi auf, indem das Kind die Hausarbeit übernimmt. Wie bereits erwähnt war die staatliche Kinderbetreuung zu Beginn der 1950er Jahre noch nicht umfassend ausgebaut – Mitte der 1950er Jahre wurde nur ein Drittel aller 3- bis 6-Jährigen im Kindergarten betreut. 1972 wurde das Lied dann entsprechend des wachsenden Betreuungsgrades umformuliert. Die erste Liedzeile lautete nun: »Wenn Mutti von der Arbeit kommt, dann helf ich ihr im Haus.« Auffällig blieb aber weiterhin: die Abwesenheit des Vaters. Auch in anderen ostdeutschen Kinderliedern wurden Frauen immer als Mütter präsentiert, während die Berufstätigkeit eine untergeordnete Rolle spielte. In erster Linie kaufte die Mutter ein, kümmerte sich um die Wäsche und die Freizeit der Kinder. Wie Miersch feststellt, bestand Gleichheit also lediglich in Bezug auf die Aufnahme einer Erwerbstä-
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Budde 1999, S. 854. Vgl. Fulbrook 2011, S. 160f. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. Wierling 1999, S. 839. Der folgende Abschnitt stützt sich auf Erkenntnisse aus dem Beitrag von Uta Miersch 2014.
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tigkeit. Beim genauen Lesen der Liedtexte fällt des Weiteren eine Hierarchisierung im Geschlechterverhältnis auf: wie zum Beispiel in dem Lied »Die Mutter pflegt die Hühner all« von 1964. Dort heißt es: »Die Mutter pflegt die Hühner all, in unsrer LPG. Es sind gar viele braune drin und manche weiß wie Schnee. […] »Der Vater, der ist Agronom, in unsrer LPG. Er kennt die Felder ganz genau, pflegt Weizen, Mais und Klee.« Auch die Mutter ist Bestandteil der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) und somit des produktiven Bereichs. Als studierter Agrarwissenschaftler wird jedoch allein der Vater benannt. In den 1960er Jahren hoben die Medien und die Kampagnen der SEDRegierung, z.B. in der Gesundheitspolitik, noch verstärkt auf die Rolle der Frau als Mutter, auf ihre Natürlichkeit und das ›Wesen der Frau‹ ab, obwohl in der Verfassung bereits die Gleichberechtigung verankert war. Erst in den 1970er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Frauenpolitik dann deutlich auf die erwerbstätigen Mütter. Der Geburtenrückgang und die Abwanderung der Bevölkerung in den Westen hatten diese Verschiebung scheinbar notwendig erscheinen lassen. Sozialpolitische Maßnahmen wie beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes, die Geburtenbeihilfe in Höhe von 1.000 Mark, das Babyjahr und die bezahlte Freistellung bei Krankheit der Kinder wurden zwar von den Frauen begrüßt. Gleichzeitig wurde damit Frauenpolitik auf Familienpolitik, genauer auf die so genannte »Muttipolitik«, reduziert, hinter der andere Aspekte deutlich verschwanden (wie zum Beispiel die Bedürfnisse und Problemlagen von älteren Frauen, von Frauen mit Behinderung oder auch von alkoholkranken Frauen15 ). Aber auch der Umgang mit den Mehrfachbelastungen der Frauen war letztlich ihre Privatangelegenheit. Anfängliche Aufforderungen zur Mitarbeit der Männer im Haushalt verschwanden im Laufe der Zeit. Öffentlich wurden Vereinbarkeit von Berufsarbeit und Elternschaft oder Arbeitsteilung im Haushalt nicht diskutiert.16 Im offiziellen Bild der DDR meisterten die Frauen ihre vielfachen Aufgaben fabelhaft – die Besten unter ihnen bekamen am Frauentag Medaillen, Orden, Urkunden und andere Anerkennungen verliehen.
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In den 1980er-Jahren belief sich der Anteil der in stationären Suchtfachkrankenhäusern behandelten Frauen auf ca. 20 Prozent. Sie kamen insbesondere aus der Altersgruppe der 51bis 60-Jährigen. Mit dem Gewohnheits- und Problemtrinken fingen sie später an als Männer. Zudem zogen sich Frauen für den regelmäßigen und täglichen Konsum deutlich häufiger nach Hause zurück (80 Prozent) und tranken meist allein (75 Prozent). Diese unterschiedlichen genderspezifischen Verhaltensweisen und Motivlagen wurden von der Gesundheitserziehung jedoch nicht berücksichtigt oder aufgegriffen. Ernsthafte Gefährdungen überhöhten Alkoholkonsums wurden in der DDR generell kaum bis gar nicht thematisiert. Zum geschlechterspezifischen Alkohol- und auch Tabakkonsum in der DDR und dem zwiespältigen Umgang mit Genussmitteln siehe Linek 2016. Vgl. Bouillot, 2008.
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Konsequenzen In der Realität waren die Aufgaben, die Frauen zu bewältigen hatten, sehr herausfordernd und oftmals belastend. Von den Frauen, die nach Feierabend ihrer ›zweiten Schicht‹ beim »Schlangestehen und Herumrennen nach wichtigen Dingen des täglichen Bedarfs«17 nachgingen, gab es keine Fotos in den bunten Bildbänden, die die Erfolge der Emanzipation in der DDR priesen.18 Auch die langen Wege zur Kindertagesstätte und zur Arbeit – meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die häufig unpünktlich und im Winter ungeheizt waren – sowie der häufig sehr frühe Arbeitsbeginn erschwerten den Alltag.19 In einer Vorlage des Ministeriums für Gesundheitswesen zu Fragen der Gesundheitserziehung von 1970 wurde unter dem Punkt »Erholung« festgehalten: Das Freizeitverhältnis Mann Frau von 2:1 »bedarf dringend einer Veränderung«.20 Eine im selben Jahr vom Institut für Marktforschung durchgeführte Befragung zum Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Tätigkeiten ergab, dass Frauen von den durchschnittlichen 47,1 Stunden Hausarbeit pro Woche gut 79 Prozent (37,1 Stunden), Männer knapp 13 Prozent (6,1 Stunden) und »andere« 8,3 Prozent (3,9 Stunden) erledigten.21 Selbst in den 1980er Jahren übernahmen Frauen immer noch die Hauptverantwortung für den Haushalt und die Kinderbetreuung. Die britische Historikerin Mary Fulbrook zeigt mit einem Zitat aus einer Studie des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1982, dass die Mehrbelastung der Frauen von beiden Geschlechtern als selbstverständlich angenommen und akzeptiert wurde: »Die Vorstellung von der ›natürlichen‹ Eignung der Frau für die häuslichen Arbeiten ist weder bei Männern noch bei Frauen beseitigt. […] Dabei wird auch der in der Regel höhere Einsatz des Mannes im Arbeitsprozess von den Frauen in Rechnung gestellt«.22 Hier zeigt sich, dass patriarchalische Muster nicht einfach durch die Veränderung einiger Lebensbedingungen oder die Einführung sozialpolitischer Maßnahmen erschüttert oder in Frage gestellt werden.23 Der Staat konnte zwar die Rahmenbedingungen verän-
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Merkel 1994, S. 370. So z.B. der Bildband »Sie bei uns. Ein Bildbericht aus dem Leben der Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik«, hg. von Lieselotte Thoms-Heinrich u. Jochen Weyer. Leipzig 1974. Vgl. Kaminsky 2016, S. 73. Entwicklung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen der Bürger der DDR (1970). Komplex I: Konditionssteigerung und Erhöhung der Anpassungsfähigkeit, Teil 6: Persönliche Hygiene. In: Bundesarchiv Berlin – BArch, DQ 1/3654. Ausführlicher zum Aspekt der Gesundheitsvorsorge und des Gesundheitsverhaltens im Hinblick auf die Genderperspektive in der DDR siehe Linek 2016. Vgl. Fulbrook 2011, S. 178. Zit. n.: ebd., S. 179. Vgl. Dölling 1991, S. 245.
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dern – die Denkweisen der Individuen veränderten sich jedoch nicht automatisch mit. In der Studie von 1982 zeichnete sich jedoch auch ein Richtungswechsel ab, denn am Ende des Zitats heißt es: »Die Jugendlichen akzeptieren diese Haltung nicht. Sie fordern eine streng gerechte Verteilung der häuslichen Pflichten.«24 Empirische Untersuchungen aus dem bereits erwähnten Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig zeigen von daher auch eine Trendwende für die 1980er Jahre auf. Mehr Männer begannen, ihre Frauen stärker im Haushalt und bei der Kindererziehung zu unterstützen. 1988 brachte die Hälfte der Väter die Kinder in die Krippe oder den Kindergarten, etwa 50 Prozent badeten und fütterten ihre Kinder und 93 Prozent spielten mit ihrem Nachwuchs.25 In der Hausarbeit setzte sich eine gerechtere familiäre Arbeitsteilung dagegen nur zögerlich durch. Männer übernahmen nach wie vor eher kraftintensive und handwerkliches Geschick erfordernde Arbeiten wie beispielsweise Kohlen schleppen, Wohnungsrenovierungen oder Reparaturen. Frauen blieben hingegen die sich täglich wiederholenden und monotonen Aufgaben vorbehalten wie das Putzen, Waschen und Kochen.26 Die Umfragen des ZIJ ergaben, dass in vielen Ehen weiterhin zeitweilige Überforderungssituationen für berufstätige Mütter bestanden.27 Der psychologische Druck, »alles unter einen Hut zu bringen« und dabei das Gefühl zu haben, nicht ganz bei der Sache zu sein28 , war vielen Frauen in der DDR eigen.
Fazit und Ausblick Dieser kurze Einblick in das Zusammenspiel von Geschlechterpolitik und Geschlechteralltag zeigt, wie komplex und ambivalent dieser Bereich der DDRGeschichte war. Einerseits herrschte eine Art ›verordnete‹ Emanzipation, die nicht von der Selbstbestimmung der Frauen ausging und vordergründig darin bestand, Frauen entsprechend der Ideologie des Marxismus-Leninismus und aus der puren ökonomischen Notwendigkeit heraus als Arbeitskräfte einzubeziehen. Frauen hatten dementsprechend auch keine Auswahlmöglichkeiten: Ein Hausfrauendasein war nicht vorgesehen und selbst Teilzeitarbeit nicht erwünscht. Andererseits wurden reale Fakten durch die Frauenpolitik geschaffen: Die DDR ›produzierte‹ ökonomisch unabhängige, gut ausgebildete Frauen, die in verschiedenen Berufsfeldern tätig sein konnten, für die – auch für die Alleinerziehenden – die Kinderbetreuung während der Arbeitszeit geregelt war
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Zit. n.: Fulbrook 2011, S. 179. Vgl. Scholz 2010, S. 220. Vgl. Dölling 1991, S. 212; Scholz 2004, S. 65. Vgl. Bertram/Friedrich/Kabat vel Job 1988, S. 153. Merkel 1994, S. 372.
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und die über die Einbindung in den Betrieben ein soziales Netzwerk hatten. Der Geschlechteralltag in der DDR war ein anderer als der vor 1945 und als der in der Bundesrepublik Deutschland: Es ging deutlich weniger männerbündisch zu, dafür partnerschaftlicher. Äußerlichkeiten waren unwichtiger und der Fokus war nicht so stark auf das Trennende zwischen den Geschlechtern ausgerichtet. Dennoch war das Gesellschaftssystem unter der Hand ein patriarchales System. Die männliche Hegemonie in Staat und Gesellschaft geriet zwar durch die auf den Weg gebrachte Gleichstellung der Frauen »unter Spannung«, »erodiert[e] jedoch nicht«.29 Die symbolische Geschlechterordnung, d.h. die kulturelle und soziale Dominanz der männlich konnotierten Produktionssphäre über die weiblich konnotierte Reproduktionssphäre, blieb weiter bestehen.30 Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Frauen nicht wirklich in Führungspositionen vorgedrungen sind: Obwohl sie 50 Prozent der Studierenden ausmachten, erreichte nur jede 17. Absolventin eine leitende Position – bei männlichen Hochschulabsolventen gelang dies jedem dritten. Es gab nur wenige Professorinnen oder gar Rektorinnen. Lieselott Herforth, die 1965 Rektorin der Technischen Universität Dresden wurde, war immerhin die erste Frau im Rektorenamt einer deutschen Universität.31 Kein einziger DDR-Großbetrieb wurde von einer Frau geführt und nur ein Prozent leiteten landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Der Anteil von Frauen an Leitungsfunktionen in kleineren Betrieben betrug acht Prozent. Im gesamten Verlauf von 40 Jahren DDR gab es nur zwei Ministerinnen (für Justiz und für Volksbildung). Schließlich war keine einzige Frau Vollmitglied des Politbüros der SED – der Macht- und Schaltzentrale. Lediglich in mittlere politische Positionen konnten Frauen in angemessener Zahl vordringen, etwa als Bürgermeisterinnen oder als Abgeordnete in der Volkskammer.32 Es waren also überwiegend männliche Führungsfiguren, die den Kurs für die Emanzipation der Frauen in der DDR vorgaben, auch wenn sie sich dabei häufig auf eine der Vorkämpferinnen für Frauenrechte, die Kommunistin Clara Zetkin, beriefen. Selbstorganisieren konnten sich in der DDR nur wenige unabhängige Gruppen, weil dies außerhalb staatlicher Strukturen verboten war. In den 1980er Jahren etablierten sich landesweit Organisationen, wie Frauen für den Frieden oder lesbische Frauengruppen, die untereinander meist gut vernetzt waren und unter dem Schutzdach der evangelischen Kirche agierten. Kurz nach der friedlichen Revolution am 9. November 1989 trafen sich ca. 1.200 Frauen und Männer in der Berliner Volksbühne mit dem Ziel, einen unabhängigen Frauenverband zu grün-
29 30 31 32
Scholz 2004, S. 81. Vgl. ebd., S. 261. Vgl. #herstory. Sachsen und seine Akademikerinnen o.J. Vgl. Kaminsky 2016, S. 69-70.
»Die Gleichberechtigung der Frauist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft…«
den.33 Das Motto der Veranstaltung am 3. Dezember 1989 lautete: »Wer sich nicht wehrt, der landet am Herd.« Es wurde zum einen mit der »Selbstherrlichkeit einer männlich dominierten Führung« abgerechnet, zum anderen wurde diskutiert, wie Errungenschaften, etwa das Recht auf Arbeit sowie die Kinderbetreuung, verteidigt und auf eine neue qualitative Stufe gehoben werden könnten.34 Im vereinigten Deutschland mussten diese für Ostdeutsche selbstverständlich gewordenen Rechte (wie auch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch) mühsam neu verhandelt und erkämpft werden.35 Dass auch innerhalb der DDR-Generationen noch einige kritische Diskussionen zum Leitbild der berufstätigen »Muttis, die ihren Mann stehen, aber trotzdem Frau bleiben«36 zu führen sein werden, zeigen ganz aktuelle Gesprächsreihen und Publikationen.37 Dabei wäre es auch wichtig, einen Meinungsaustausch über Konzepte von Männlichkeit und die Rolle von Vätern zu befördern. Dies zeigt die Geschichte der Emanzipation in der DDR deutlich: Der Verwirklichung der Gleichberechtigung tut es nicht gut, wenn ausschließlich die Rolle der Frau neu definiert wird.
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35 36 37
Vgl. Lenz 2010, S. 876. Diese Passagen stammen aus dem Manifest »Ohne Frauen ist kein Staat zu machen« der Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel. Der Text wurde als vorläufiges Gründungsdokument des Unabhängigen Frauenverbandes angenommen, der sich bei dem Treffen am 3. Dezember 1989 in der Berliner Volksbühne gründete; abgedruckt in: Lenz 2010, S. 879. Vgl. Kaminsky 2016, S. 75. Budde 1999, S. 852. ZEIT im Osten 2020.
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»Die Gleichberechtigung der Frauist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft…«
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»Demokratie und Rassismus – Rassismen und Rassismuskritik in der DDR und der Bundesrepublik« Rezension des Vortrags von Tahera Ameer Susanne Richter
Einleitung Die Projektwoche der Hochschule Neubrandenburg im Jahr 2019 trug den Titel »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo vadis Demokratie?«. Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe hielt Frau Tahera Ameer von der Amadeu Antonio Stiftung den Vortrag »Demokratie und Rassismus – Rassismen und Rassismuskritik in der DDR und der Bundesrepublik«. Frau Ameer arbeitet seit 2004 für die Amadeu Antonio Stiftung und ist seit 2016 die Projektleiterin von Aktion Schutzschild.1 Die folgende Auseinandersetzung beruht auf meinem schriftlichen Protokoll des Vortrages.
Kernpunkte des Vortrags Zu Beginn betonte Frau Ameer, dass sie von einem Vergleich zwischen Rassismen in der DDR und der Bundesrepublik absehe, da dafür die Vortragszeit nicht reiche und das Feld zu divers sei. Stattdessen konzentriere sie sich auf den Rassismus als wesentliches Strukturmoment der Gesellschaft. Allerdings kam sie später im Vortrag doch auf einen Vergleich zu sprechen, als es um die Gastarbeiter*innen und Vertragsarbeiter*innen ging. Außerdem zeigte sie während des Vortrages zur Veranschaulichung mehrmals Ausschnitte aus der Dokumentation »Wer Gewalt sät – von Brandstiftern und Biedermännern« über die Ereignisse im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Im Film werden die massiven Ausschreitungen gegen vietnamesische Vertragsarbeiter*innen dokumentiert und analysiert. Circa 100 Neonazis und 3000 Schaulustige waren bei den Brandanschlägen auf die Unterkünfte der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen beteiligt. An diesem
1
Vgl. Amadeu-Antonio-Stiftung o.J.
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Beispiel zeigte sich Rassismus als Form von Hass. Die These, die Frau Ameer damit unterstreichen wollte, ist, dass Rassismus unsere Gesellschaft maßgeblich strukturiert. Die Frage im Vortrag war nicht, warum es Rassismus gibt, sondern was Rassismus für ein Phänomen ist. Zu Beginn unterschied Frau Ameer zwischen einem Alltagsbegriff und einem analytischen Begriff von Rassismus. Im Alltag wird Rassismus häufig mit Rechtsextremismus und rechtsextremer Gewalt gleichgesetzt. Ein analytischer Blick sieht Rassismus jedoch als strukturierendes Moment von Gesellschaften, weshalb jede*r in Rassismus verwickelt ist. Des Weiteren entlarvte sie die Begriffe »Fremdenhass« und »Ausländerfeindlichkeit« als zu unkritisch und verharmlosend. Diese Begriffe implizieren, dass es etwas an der anderen Person gibt, womit ich ein Problem haben darf, und zwar mit ihrem »fremd sein« oder »Ausländer*in sein«. Jedoch stellt sich die Frage, wer definiert, wer Ausländer*in ist. Begriffe wie »Fremdenhass« oder »Ausländerfeindlichkeit« haben einen verkürzten Blick auf die individuelle Haltung der Person. Sie betrachten nicht die strukturellen Momente von Rassismus. Sie implizieren, dass Rassismus ein Problem von einigen (wenigen) Menschen ist, die ein »Problem mit den Ausländer*innen« haben. Rassismus ist jedoch mehr. Frau Ameer betonte, dass manche Formen von Rassismus nicht als solche wahrgenommen werden, da sie unauffälliger sind, weil sie alltäglich sind. Ungleichheit erscheint normal und ist somit eine unauffällige Form des Rassismus, welcher viele Ausprägungsformen hat. Auf der strukturellen Ebene kann gesagt werden, dass Rassismus uns alle betrifft. Bei der Herstellung und Aufrechterhaltung rassistischer Verhältnisse, die die Angehörigen der deutschen Mehrheit privilegieren, wirken mehrere Kriterien zusammen: die Ungleichbehandlung auf staatlich-rechtlicher Ebene, die ökonomische Benachteiligung, die soziale Ausgrenzung und direkte Angriffe. Die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, ist nach wie vor ein Thema. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Bundesrepublik Asyl verfassungsrechtlich gewährleistet. Die DDR hingegen erteilte nur Asyl, wenn die SED diesem zustimmte. In beiden Ländern zeigten sich rassistische Praxen, die so nicht gewollt waren, aber so wirkten. Zum einen gab es in der Bundesrepublik sogenannte Gastarbeiter*innen und in der DDR Vertragsarbeiter*innen. Beide deutsche Staaten warben aus jeweils anderen Ländern Fachkräfte an, weil sie diese auf dem Arbeitsmarkt brauchten. In der DDR wurden die Fachkräfte aus kommunistischen Staaten und in der Bundesrepublik aus vor allem südeuropäischen Ländern und der Türkei abgeworben. In der Bundesrepublik gab es ein Anwerbeabkommen, um Gastarbeiter*innen ins Land zu holen. Eine Einwanderungsgesellschaft wollte die Bundesrepublik dennoch nicht sein, wurde es damit aber. Denn die meisten Gastarbeiter*innen blieben entgegen der ursprünglichen Idee dauerhaft. Um die strukturelle Ebene zu betonen, sagte die Vortragende, »rassistische Verhältnisse legen den Individuen rassistisches Verhalten nahe«. Frau Ameer schlug auch immer
»Demokratie und Rassismus«
wieder die Brücke in die 1990er Jahre und sagte dazu, dass die Gewalt- und Eskalationsfrequenz damals und heute ähnlich hoch ist, mit circa zehn Übergriffen am Tag auf Asylsuchende. Beim Blick in die 1990er Jahre zeigte sie einen Ausschnitt aus der bereits erwähnten Dokumentation über die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen und stellte die Frage, warum es in der Gesellschaft Brandstifter*innen gibt, die Unterkünfte für Asylsuchende oder Migrant*innen anzünden. In diesem Rahmen stellte sie auch die diskussionsanregende Aussage in den Raum, dass es zwar Lösungsmöglichkeiten für solche Probleme gibt, jedoch kein Interesse daran bestehe. Die Frage sei, wovon Rassismus ablenkt und weshalb die Gesellschaft wenig Interesse daran hat, die Ungleichheit kritisch wahrzunehmen. Sie nennt hierzu das Beispiel der AfD, welche die »Wende« in der DDR für ihre Selbstermächtigung reklamiert. Als weiteres Beispiel dafür, dass Rassismus genutzt wird, um von anderen Themen abzulenken, sind die Transformationsprozesse, die nach 1990 zu Sorgen in der Bevölkerung führten, etwa wie das Land nach der Wiedervereinigung zusammenwächst. Um davon abzulenken, wurde Asyl zum Thema auf der politischen Tagesordnung. Im nächsten Abschnitt erläuterte Frau Ameer die Wirkmechanismen von Rassismus. Um wirksam zu sein, braucht Rassismus Macht, welche er nutzt, indem Menschen in Privilegierte und Deprivilegierte eingeteilt werden. Dies dient dazu, Rechte, Zugänge zu Ressourcen und Privilegien unterschiedlich zu verteilen. Die Macht des Rassismus hat ihren Ursprung im europäischen Kolonialismus, welcher unsere Welt maßgeblich formte. Rassismus ist eine Praxis der Unterscheidung, er ordnet und platziert, weshalb er ein Strukturprinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit ist. Die Frage ist daher, wie wir als Gesellschaft mit diesem Strukturmerkmal umgehen. Rassismus konstituiert eine Fremdgruppe und unterteilt in »WIR« und »DIE«. Diese Unterteilung sagt indirekt etwas über mich aus, denn alles, was der Gruppe zugeschrieben wird, ist bei mir nicht so (Selbstdefinition durch Negation von Merkmalen der »anderen«). Außerdem stellt Rassismus Zusammenhänge zwischen äußeren Erscheinungsmerkmalen und inneren Äquivalenten her oder anders ausgedrückt: Er imaginiert genetische, kulturelle und ethnische Unterschiede zwischen Menschen. Das Wort Rasse ist heute ersetzt durch Kultur, jedoch meint beides dasselbe. Rassismus bewertet, hierarchisiert das »eigene« als höherwertig und das »andere« als minderwertig. Dieses Schubladendenken dient einerseits der Orientierung und einem Zugehörigkeitsgefühl, andererseits jedoch der Ein- und Ausgrenzung. Die Gruppe, die Macht hat, kann ihre Wirklichkeitskonstruktion durchsetzen. Alle Formen des Rassismus übersehen, dass Menschen Anlagen haben, die von der Umwelt geprägt werden. Wer rassistisch argumentiert, dem kann es in unserer Gesellschaft passieren, dass er soziale Aufwertung erfährt, an materiellen Vorteilen teilhaben kann und das Gefühl bekommt, wieder handlungsfähig zu sein.
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Zum Ende des Vortrags wies Frau Ameer noch einmal auf die Frage hin, warum sich so wenig Menschen gegen Rassismus engagieren. Es sei bequem, andere zum Sündenbock für die eigenen Probleme zu machen, wie für den Verlust der Arbeit. Dies führt dazu, dass der politische Wille dementsprechend gering ist, gegen Rassismus anzugehen. Zum Schluss schlug sie mit den Zuhörer*innen in der Diskussion den Bogen von den Anschlägen in Rostock über die AfD-Wähler*innen bis hin zu den Nachwirkungen, die Rassismus bei den DDR-Bürger*innen hinterlassen hat. In der Diskussionsrunde kam auf, dass die DDR bis heute nachwirkt und diese Geschichte noch nicht aufgearbeitet ist. Dazu bedürfe es aber einiger Jahrzehnte Abstand. In den 1990er Jahren hatten die Menschen ihre Probleme und Ängste bezüglich der Transformationsprozesse, über die wenig gesprochen wurde. Diese Themen sind nun 30 Jahre nach dem Mauerfall wieder in das Bewusstsein gerückt. Die Gesellschaft sollte vermehrt auf die Folgen der Transformation schauen, die eine Aufarbeitung nötig machen. Eine Zuhörerin äußerte, dass es in den 1990er Jahren verpasst wurde, über die »Wende« zu sprechen, aber jetzt die Chance da sei, diesen Diskurs demokratisch zu gestalten und ihn nicht der AfD zu überlassen. Die AfD-»Wendeerzählung« sei geprägt von Abstiegsangst und Rassismus. Diesen Diskurs neoliberalen Kräften wie der AfD zu überlassen, da waren sich die Diskutierenden einig, sei keine Option. Der Diskurs über die »Wende« muss selbst gestaltet werden. Die Brücke zu den Migrant*innen wurde geschlagen, als jemand äußerte, dass sowohl DDR-Bürger*innen als auch Migrant*innen beide gemeinsam das Gefühl haben, etwas verloren zu haben. Ein sensibler Umgang mit den Lebensrealitäten gelingt, indem Informationen darüber eingeholt werden, wofür die Menschen kämpfen, was sie brauchen und auch, was sie nicht brauchen. Das bedeutet: wahrnehmen, hinschauen und zuhören.
Reflexion von Rassismus in Bezug auf Beratung Nach der Definition von Rommelspacher ist Rassismus »ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren.«2 Rassistische Unterscheidung zeichnet sich dadurch aus, dass »biologische Merkmale mit Bedeutungen versehen [werden], um soziale Beziehungen zu strukturieren. […] Sie ist zudem mit der Abwertung der konstruierten Gruppe verbunden, legitimiert Machtverhältnisse und bringt sie selbst hervor.«3 Vertie2 3
Rommelspacher zit.n.: Köbberling 2018, S. 44. Ebd., S. 45.
»Demokratie und Rassismus«
fend befasste sich auch die Autorin Anja Weiß mit Rassismus. Sie betont (ähnlich formulierte es auch Frau Ameer): »Rassismus ist nicht gleich Rechtsextremismus und Gewalt.«4 Weiß formuliert zunächst Kritik an herkömmlichen, recht statischen, veralteten Definitionen von Rassismus, welche die Wandelbarkeit der Ideologie unterschätzt. Alte Definitionen würden zu dem Trugschluss führen, dass es weniger Rassismus gibt.5 Der aktuelle Rassismus tarnt sich mit dem Begriff der Kultur statt des veralteten Begriffes der Rasse. Beide Wörter sind jedoch gleichsam konstruiert als »statisch, vererbbar, in sich homogen und nach außen abgrenzbar.«6 Diese Klassifikation und Hierarchisierung in Verbindung mit dadurch entstehenden asymmetrischen Machtverhältnissen sind konstituierend für Rassismus7 . Personen, die die Kontrolle über die Legitimation dominanter Diskurse innehaben, besitzen auch die Konstruktionsmacht für Deutungen in der Gesellschaft, also für die Stabilisierung von Rassismus.8 Die »rassistisch dominante Gruppe« verfügt über die Macht, »ihre Zuschreibungen durchzusetzen«. Dennoch gibt es innerhalb dieser Gruppe soziale Hierarchien.9 Diese Hierarchien führen dazu, dass es in dieser Gruppe Personen gibt, die die Definitionsmacht haben und Personen, die nur von den entstehenden Privilegien profitieren, weil sie zur Gruppe gehören. Sie haben innerhalb der Gruppe einen niedrigeren Status, welcher allerdings im Vergleich zu rassistisch dominierten Gruppen, also etwa Migrant*innen, weiterhin höher ist.10 Rassistisch dominierten Menschen wird keine Definitionsmacht zugeschrieben, sondern sie haben sich der Definitionsmacht zu fügen. Was die stabile »Ungleichstellung von rassistisch Dominierten in den allgemeinen Märkten ermöglicht, [sind] die scheinbare Stabilität körperlicher oder quasi-körperlicher Merkmale.«11 Anhand dieser Merkmale wird die Zugehörigkeit zur dominierten oder dominanten Gruppe festgemacht. Eine endgültige präzise Definition von Rassismus ist auf Grund seiner Wandlungsfähigkeit nicht möglich. Es ist lediglich möglich, verschiedene Diskursstränge voneinander abzugrenzen. Eindeutig ist allerdings die im Rassismus vorherrschende Machtasymmetrie und die damit zusammenhängende Unterscheidung vermeintlich unterschiedlicher Menschengruppen. Diese Asymmetrie bedingt gesellschaftliche Strukturen maßgeblich.12 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Weiß 2013, S. 313. Ebd., S. 26. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 27f. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Vgl. ebd. Ebd., S. 58. Ebd., S. 30.
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Weiß hebt hervor, dass sich Strukturen und Interaktionen gegenseitig beeinflussen. Die Interaktion ist durch die Struktur beeinflusst, in der sie stattfindet. Diese soziale Struktur wird jedoch durch Interaktionen reproduziert.13 Diese Strukturen wirken auf Individuen als gegeben und unveränderlich. Sie beeinflussen somit den Handlungsrahmen der Individuen, da diese die durch die Strukturen vorgebebenen Grenzen verinnerlicht haben.14 »Menschen, die objektiv zu einer Klasse gehören, machen ähnliche Erfahrungen, leben in einem ähnlichen sozialen Möglichkeitsraum und werden sich dadurch ähnlich. Sie tragen die äußeren Grenzen in sich und entwickeln den Goffman’schen »sense of one’s place«, eine Beziehung zum Körper, zur Sprache und zur Zeit, die den objektiven Möglichkeiten ihrer Klasse entspricht.«15 Die vom Menschen vorgefundenen Strukturen determinieren das Handeln nicht zwangsläufig, sie strukturieren die freien Handlungen. Die Strukturen stabilisieren also die Interaktionen unabhängig davon, ob die Strukturen befürwortet oder abgelehnt werden.16 Durch Rassismus privilegierte Menschen, deren Umfeld durch Rassismus strukturiert ist, haben die Wahl, sich zu diesen für sie selbstverständlichen Strukturen zu positionieren.17 Die durch Rassismus konstruierten Unterschiede treten in Interaktionen zu Tage und bestätigen somit rassistische Strukturen.18 Diese Interaktionen sind also »ein Reproduktionsmodus dieser Strukturen«19 . Dass auch bei Mitgliedern antirassistischer Gruppen rassistische Effekte zu beobachten sind, zeigt »die Stabilität dominanzkultureller […] Klassifikationen«20 . Die Reproduktion von Rassismus geschieht durch rahmende soziale Strukturen und Interaktionen.21 In ihrer Forschung zu antirassistischen Gruppen fand Weiß heraus, dass diese es schaffen, durch soziale Kontrolle »einen sozialen Raum zu schaffen, der von offenem Rassismus weitgehend frei ist«22 . Ein Ziel der antirassistischen Gruppen ist es, die Interaktion zu ändern, was sie durch Selbstkontrolle lösen. Jedoch kämpfen sie in einer rassistischen Struktur, um diese aufzuheben oder um es mit den Worten von Weiß zu formulieren: »Die Kämpfe werden durch die Strukturen strukturiert, die sie aufheben sollen.«23
13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 63. Ebd. Vgl. ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 80. Vgl. ebd. Ebd., S. 237. Ebd.
»Demokratie und Rassismus«
Köbberling argumentiert in eine ähnliche Richtung. Er erkannte auch, dass Rassismus auf unterschiedlichen Ebenen zutage tritt und somit gesellschaftliche Verhältnisse mitgestaltet. Rassismus zeigt sich in sozialer, politischer sowie ökonomischer Segregation, beeinflusst institutionelle Abläufe und diskriminierende Verhaltensweisen bei konkreten Individuen.24 In der Pädagogik findet eine Auseinandersetzung mit Migrant*innen seit den 1970er Jahren statt.25 Diese Auseinandersetzung führte zu rassismuskritischen Perspektiven der Sozialen Arbeit und zu einer Sensibilisierung der eigenen »Reproduktion rassistischer Verhältnisse«. Wie eben beschrieben, zeigt sich Rassismus auf unterschiedlichen Ebenen, so auch in den Organisationsstrukturen Sozialer Arbeit, die »rassistische Verhältnisse reproduzier[en]«26 . Köbberling fordert daher, Soziale Arbeit soll politischer werden und nicht nur Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen üben. Über politische Einmischung und die Reflexion eigener Anteile an der Reproduktion rassistischer Verhältnisse erhofft sich Köbberling mehr soziale Gerechtigkeit.27 Der politische Aspekt sollte mehr Bedeutung bekommen, da der Versuch, »politische Probleme mit pädagogischen Mitteln zu bearbeiten«, den Blick für das eigentliche Problem verschiebt und die strukturelle Ebene verloren geht.28 Das der Sozialen Arbeit inhärente »Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft tritt bei der Arbeit mit Menschen, welche von Rassismus betroffen sind, eklatant zu Tage«29 . Das Spannungsfeld zeigt sich darin, dass die gesellschaftliche Struktur sich in individuellen Problemlagen abzeichnet und die persönlichen Probleme nur verstehbar sind, indem man deren Verflochtenheit in gesellschaftliche Bedingungen erkennt. Diese Begegnung und Verknüpfung der Ebenen geschehen in Beratung.30 Zunächst war und ist Beratung ein Handlungskonzept Sozialer Arbeit. Beratung kristallisiert sich seit einigen Jahren als selbstständige Disziplin heraus. Der Prozess der Professionalisierung von Beratung ist international weiter fortgeschritten als in Deutschland.31 Laut der DGfB ist Beratung »subjekt-, aufgabenund kontextbezogen«. Somit hat sie auch »soziale, gesellschaftliche, institutionelle, ökonomische und ethische Rahmenbedingungen«.32 Beratung ist ebenso wie Soziale Arbeit eine Dienstleistung auf individueller und gleichermaßen auf
24 25 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. Köbberling 2018, S. 46. Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 83f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Vgl. Schubert/Rohr/Zwicker-Pelzer 2019, S. 23. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 17.
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struktureller Ebene.33 »Beratung ist ein interdisziplinäres Denk- und Handlungskonzept«, welches sich auf die Lebenssituationen von Individuen bezieht.34 Mit Verweis auf Sickendiek definieren Wälte und Lübeck psychosoziale Beratung als unterstützende Interaktionsform von professionellen Fachkräften mit Klient*innen, welche auf psychosozialer Ebene nach Bewältigung ihrer Belastungen, Krisen o.ä. suchen.35 Psychosoziale Beratung verfügt über eine breite Kompetenzbasis und zahlreiche Strukturelemente, die in Verbindung mit dem breit gefächerten Klientel eine hohe Diversität an Beratungsangeboten zur Folge hat.36 Nestmann, Engel und Sickendiek definieren Beratung als Kommunikationsform und professionelle Intervention, die sich aus diversen theoretischen Bezügen, Methoden, Konzepten, Institutionen, Feldern und Settings speist. Des Weiteren beschreiben sie Beratung als professionelle und institutionalisierte Form der Unterstützung sowie der Hilfe, um anfallende Probleme bewältigen zu können.37 Als zwingend nötig sehen die Autor*innen spezifisches Fachwissen für das jeweilige Beratungsfeld und universale Kommunikations- und Handlungskompetenzen an.38 Beratung ist eine Hilfsform, die unterschiedliche Felder und Klientel anspricht, sich als »präventives und entwicklungsorientiertes Unterstützungsangebot« und als »eine in Lebensweltkontexte eingebundene offen eklektische Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs-, und Bewältigungshilfe« versteht.39 Beratung dient als Hilfeform in bestimmten Lebenslagen und hat das soziale Umfeld und den Alltag der Klient*innen mit im Blick.40 Zur Lebensgestaltung benötigen Menschen neben eigenen Kompetenzen auch Ressourcen von außen, wie die Beratung, die von anderen Menschen oder Institutionen zur Verfügung gestellt werden können.41 »Durch die Art und Weise, wie Individuum und soziale Umwelt ihre jeweiligen Erwartungen und Anforderungen kommunizieren, bewerten und aufeinander abstimmen, wie sie Ressourcen zur Bewältigung bereitstellen, untereinander zugänglich machen oder auch vorenthalten, gestalten und nutzen, erhalten und pflegen, beeinflussen sie gegenseitig ihre Gestaltungs- und Bewältigungsmöglichkeiten der Lebensführung.«42 Mit die-
33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. ebd. Ebd., S. 21. Vgl. Wälte/Lübeck 2018, S. 24. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. Engel/Nestmann/Sickendiek 2007, S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 37. Vgl. Großmaß 2007, S. 90. Vgl. Schubert/Rohr/Zwicker-Pelzer (2019), S. 26. Ebd.
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sen komplexen Situationen umzugehen, erfordert von Berater*innen eine offene Haltung und die Kompetenz, transdisziplinäre Verknüpfungen herzustellen.43 In der Beratung ist es wichtig, die individuelle, subjektive Wahrnehmung sowie den Umgang mit dem bestehenden Problem nachzuvollziehen. Die Erwartungshaltung sowie die Zielvorstellung der Klient*innen sind dabei nicht zu übersehen. Zu diesen verschiedenen Punkten kommt deren wechselseitige Beeinflussung hinzu. Um Menschen mit Problemen auf individueller, interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene unterstützen zu können, ist es notwendig, deren Probleme zu kartografieren und mit der nötigen professionellen Neugier und Entdeckergeist gemeinsam mit Klient*innen zu sortieren. Ich bediene mich hier dem Bild von Forscher*innen, die eine neue Insel entdecken und diese beginnen zu erforschen, um Zusammenhänge der Ökosysteme zu verstehen. Als Kompass dienen im Bild und bei der Erarbeitung eines Falls ethische Grundsätze.44 Die Interaktion zwischen einer Person und einem Umweltausschnitt führt auf beiden Seiten zu gegenseitiger Sinngebung.45 »Denn das Erfassen und Verstehen dieser komplexen interaktionalen Wechselseitigkeit zwischen Person und Umweltausschnitt (Lebenswelt) und der darin enthaltenen Intentionalität, Bedeutungszuschreibung und Sinngebung ist eine wesentliche Voraussetzung für eine angemessene und Erfolg versprechende Beratung und Intervention.«46 Köbberling beschreibt einige erfolgversprechende Methoden Sozialer Arbeit, die auch in der Beratung Anwendung finden können (und sollten). Sie bezieht sich auf den Lebensbewältigungsansatz, das Konzept der Parteilichkeit, das Konzept Empowerment und auf das der Gemeinwesenarbeit, da diese – am besten im Zusammenspiel – helfen können, Personen zu unterstützen, die von Rassismus betroffen sind, oder in Anlehnung an Weiß, die rassistisch dominiert sind. Der Lebensweltansatz von Thiersch geht davon aus, den Alltag der Klient*innen zu respektieren, teils zu dekonstruieren, um einen »gelingenderen Alltag« zu ermöglichen. Außerdem wird der Blick auf Wege zu sozialer Gerechtigkeit gerichtet und somit eine politische Perspektive eingenommen.47 Das Konzept der Parteilichkeit, also das professionelle Partei ergreifen für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte und sich somit gegen Rassismus zu stellen, beschreibt er gleichfalls.48 Das Konzept Empowerment verknüpft individuelle Problemlagen mit politischer Veränderung.49 Empowerment entstand 1976 in den USA. In Deutschland ist es
43 44 45 46 47 48 49
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 33f. Ebd., S. 36. Vgl. Köbberling 2018, S. 88. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd.
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seit den 1990er Jahren ein Begriff. Soziale Arbeit kann in die Falle treten, wenn sie den Empowerment-Ansatz nur auf das Individuum verkürzt. Es ist allerdings notwendig, auch an diskriminierenden Strukturen zu arbeiten, welche bei Menschen zu einem Defizit an Ausbildung emotionaler, kognitiver und sozialer Kompetenzen führt.50 Mit einer verkürzten Anwendung von Empowerment läuft man Gefahr, nur auf Individuen den Blick zu richten und sich in »neoliberale Selbstverantwortungsdiskurse« einzureihen.51 Als gute Ergänzung sieht Köbberling die Gemeinwesenarbeit52 (GWA), die qua ihres Selbstverständnisses die individuelle Ebene überschreitet.53 »GWA richtet sich auf die Verbesserung der materiellen, infrastrukturellen und immateriellen Lebensbedingungen in einem Gemeinwesen [mit der] Zielsetzung der Veränderung struktureller Rahmenbedingungen.«54 Köbberling positioniert sich eindeutig: Soziale Arbeit habe sich politisch einzumischen, da dies Teil des professionellen Selbstverständnisses ist. Ein Ziel sollte es daher sein, gesellschaftliche, strukturelle und individuelle Probleme zu verknüpfen.55 In ihrer Forschung untersuchte Weiß Akteur*innen, welche bisher nicht im Fokus der Rassismusforschung standen, nämlich »antirassistisch engagierte Gruppen aus der gebildeten Mittelschicht«.56 Ihr Ergebnis der Untersuchung ist, dass auch diesen explizit gegen Rassismus engagierten Menschen es trotz Bemühungen nicht vollständig gelingt, rassistische Diskurse und Praktiken zu vermeiden.57 Dies zeigt, »dass Rassismus nicht nur als offener Konflikt, sondern auch als objektive Strukturdimension des sozialen Raumes angesehen werden muss. […] Ich nehme an, dass Rassismus als Dimension sozialer Ungleichheit, Diskurse und Praktiken unabhängig vom Willen der Handelnden strukturiert.«58 Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Engagierten vor allem dann Rassismus reproduzieren, wenn sie ihn nicht erkennen. Weiß spricht sich stark dafür aus, Rassismus hauptsächlich als machtasymmetrische Struktur und weniger als Ideologie zu betrachten. Als
50 51 52
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Vgl. ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ab den 1990er-Jahren wurde GWA zu Sozialraumorientierung umbenannt und verändert. Damit ging eine Abkehr von gesellschaftlichen Widersprüchen einher (vgl. Köbberling 2018, S. 96). Schreier kritisiert, dass die Unterstützung nur innerhalb des Quartiers geschieht und nicht die Quartiere untereinander dazu angeregt werden. In dieser Form wirkt Sozialraumorientierung exkludierend, da der Zugang zu gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten verringert wird (vgl. ebd., S. 97). Vgl. ebd., S. 94. Ebd. Vgl. ebd., S. 100. Weiß 2013, S. 313. Vgl. ebd. Ebd.
»Demokratie und Rassismus«
wirksam betrachtet Weiß auf Grund ihrer Forschung Interventionen auf der Beziehungsebene und nicht auf inhaltlicher Ebene59 , was für die Soziale Arbeit und Beratung von Bedeutung ist. »Angehörige einer rassistisch dominanten Gruppe befinden sich in selbstverständlicher Übereinstimmung mit den dominanten Normen einer Gesellschaft. Die rassistisch dominierte Konfliktpartei wird hingegen unter Verweis auf dominante Normen delegitimiert und steht unter dem Druck, sich an die dominanten Normen anzupassen.«60 Rassismus reproduziert sich »in flexiblen, klassen- und situationsspezifischen kulturellen Übereinkünften […] als stabile und objektive soziale Struktur«61 .
Fazit Rassismus als ein maßgeblich die Gesellschaft strukturierendes Merkmal muss mehr Beachtung in der Beratung finden. Gerade die Forschung von Weiß hat die Brisanz des Themas verdeutlicht, da auch antirassistisch engagierte Menschen unbewusst Rassismus reproduzieren und somit stabilisieren. Meines Erachtens ist das Streben nach einer gerechteren Gesellschaft und nach einem möglichst nicht diskriminierenden Umgang mit Klient*innen eine Säule von Beratung wie auch von Sozialer Arbeit. Da sich psychosoziale Beratung mit intrapsychischen, individuellen, intrapersonellen Problemlagen genauso befasst wie mit jenen, die in und durch soziale Interaktionen geschehen, kann und sollte man auch die dritte Ebene der gesellschaftlichen Struktur mit bedenken. Diese beeinflusst die Interaktion. In der Interaktion werden Strukturen sichtbar und die Struktur entsteht aus Interaktionen. Frau Ameers Vortrag sensibilisierte für die strukturelle Dimension von Rassismus, die sich auch in der Literatur wiederfindet. Dieser erweiterte Blick ermöglicht es, Rassismus auch abseits vom Alltagsverständnis (Rechtsextremismus, Ideologie) zu betrachten und somit auch den Blick auf die eigene Praxis in Institutionen zu werfen und nach rassistischen Praxen hin zu analysieren.
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Vgl. ebd., S. 314. Ebd., S. 315. Ebd., S. 317.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Ameer, Tahera (2019): »Demokratie und Rassismus – Rassismen und Rassismuskritik in der DDR und der BRD«. Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe: »30 Jahre Friedliche Revolution – Quo Vadis Demokratie?« an der Hochschule Neubrandenburg am 12.11.2019. Engel, Frank/Nestmann, Frank/Sickendiek, Ursel (2007): »Beratung« – Ein Selbstverständnis in Bewegung. In: Engel, Frank/Nestmann, Frank/Sickendiek, Ursel (Hg.): Das Handbuch der Beratung. Band 1. 2. Auflage. Tübingen: dgvt-Verlag, S. 33-43. Großmaß, Ruth (2007): Psychotherapie und Beratung. In: Engel, Frank/Nestmann, Frank/Sickendiek, Ursel (Hg.): Das Handbuch der Beratung. Band 1. 2. Auflage. Tübingen: dgvt-Verlag, S. 89-101. Köbberling, Gesa (2018): Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention. Bielefeld: transcript. Schubert, Franz-Christian/Rohr, Dirk/Zwicker-Pelzer, Renate (2019): Beratung. Grundlagen-Konzepte-Anwendungsfelder. Wiesbaden, Springer. Weiß, Anja (2013): Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer. Wälte, Dieter/Lübeck, Anja (2018): Was ist psychosoziale Beratung. In: Wälte, Dieter/Borg-Laufs, Michael (Hg.): Psychosoziale Beratung. Grundlagen, Diagnostik, Intervention. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Amadeu-Antonio-Stiftung (Hg.) (o.J.): »Tahera Ameer«. http://www.amadeu-anto nio-stiftung.de/ueber-uns/kontakt-team/tahera-ameer/(Abfrage 13.02.2020).
Die Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
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Abb. 1: Plakat zur Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
Die Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
Abb. 2: Flyer (Vorderseite) der Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
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Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit
Abb. 3: Flyer (Rückseite) der Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
Die Veranstaltungsreihe »30 Jahre Friedliche Revolution. Quo vadis Demokratie?«
Foto: Thomas Schulze
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Die Autor*innen
Kai Brauer, Jg. 1965 Prof. Dr. Dipl. Soz., lehrt seit 2019 an der Hochschule Neubrandenburg Gemeinwesenarbeit und Sozialraumentwicklung, Schwerpunkte: Altern der Gesellschaft, Gemeindestudien, Fallanalysen und Zivilgesellschaft. Autor von »Bowling Together – zu den Strukturprinzipien des Sozialen Kapitals« und vieler Fachartikel zum Thema. Barbara Bräutigam, Jg. 1969 Prof.in Dr.in phil. habil., Professur für Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg, psychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für systemische Therapie (DGSF) und Supervisorin (DGSv). Seit März 2020 Prorektorin für Studium, Lehre, Weiterbildung und Evaluation der Hochschule Neubrandenburg. Steffi Brüning, Jg. 1987 Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Rostock und Greifswald, 2012-2014 Bildungs- und Beratungsarbeit in der Gedenkstätte der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Rostock, 2014-2017 Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, Abschluss als Dr. phil., 2018-2021 Studienleiterin für Demokratiebildung im Regionalzentrum für demokratische Kultur der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Seit 2021 Leitung der Dokumentations- und Gedenkstätte der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit Rostock in Trägerschaft der Landeszentrale für politische Bildung MV. Veröffentlichungen u.a.: Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel der Städte Leipzig, Berlin und Rostock 1968 – 1989, Berlin 2020; Materialien Demokratiefeindlichkeit im digitalen Raum. Fact Sheets und Tipps. Sophie Dietel, Jg. 1993 geboren in Stralsund, Abitur 2012 am Gymnasium Carolinum Neustrelitz, danach Freiwillliges Jahr in der Denkmalpflege an der Staatlichen Kunstsammlung Schwerin, anschließend Studium B.A. Early Education und Master Social Work an der
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Hochschule Neubrandenburg, nach Abschluss 2019 Erzieherin und Unterrichtsbegleiterin an der Peeneschule Groß Gievitz, momentan als Erzieherin in Neustrelitz tätig. In den letzten Jahren engagiert sich Sophie Dietel zudem als Projektleiterin/Projektmanagerin im Kunsthaus Neustrelitz e.V. und dem Tanzhaus der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz – Stiftung für traditionellen Tanz im Land MV. Anne Drescher, Jg. 1962 nach Tätigkeit als Kinderkrankenschwester ab 1994 Mitarbeiterin des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Zusatzausbildungen in den Bereichen seelsorgerliche Beratung, Gesprächstherapie und Psychotherapie nach Extremtraumatisierung sowie Studium der Geschichte und Philosophie an der Fernuniversität Hagen. Seit 2013 Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR an (seit 2019: Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur). Veröffentlichungen u.a.: Haft am Demmlerplatz. Gespräche mit Betroffenen. Sowjetische Militärtribunale. Schwerin 1945 bis 1953, Schwerin 2004; Das Lager Wöbbelin nach Kriegsende. 1945 bis 1948, Schwerin 2008, 2011; Bis ins vierte Glied. Transgenerationale Traumaweitergabe, Schwerin 2015 (Hg. mit Uta Rüchel und Jens Schöne). Erdmute Finning, Jg. 1983 geboren in Rüdersdorf bei Berlin, 2002 Abitur in Neubrandenburg, Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und Berufstätigkeit im Zentrum für Seelische Gesundheit des Dietrich-Bonhoeffer-Klinikums. 2020 Abschluss des Studiums »Berufspädagogin für Gesundheitsfachberufe« an der Hochschule Neubrandenburg. Bis 2021 beim Klinikum Neubrandenburg als Praxiskoordinatorin für die generalistische Pflegeausbildung angestellt, seitdem an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich SBE im Projekt »Inklusive Bildung in MV« als Qualifizierungsleitung tätig. Jens A. Forkel, Jg. 1972 ist Mag. Soziologie (Philosophie und Kunstgeschichte) und trägt seit 2019 die wissenschaftliche Leitung des Projektes »Generationenübergreifende Integration und Solidarität« (GENIUS) im Programm »Innovative Hochschulen«, Hochschule in der Region (HiRegion) an der Hochschule Neubrandenburg. Forschungsschwerpunkte: Gesundheitswissenschaften, Kultursoziologie, Methoden der qualitativen Sozialforschung, seit 2003 verschiedene Lehraufträge an der TU Dresden, HU Berlin und der Hochschule Neubrandenburg. Werner Freigang, Jg. 1954 Prof. Dr. Dipl.-Sozialpädagoge. Promotion bei Prof. Dr. Hans Thiersch zu geschei-
Die Autor*innen
terten Fällen in der Heimerziehung: Verlegen und Abschieben: Zur Erziehungspraxis im Heim, Weinheim 1984. Langjährige Tätigkeit in der Heimerziehung und Bereichsleitung der Jugendhilfe. Von 1992 bis 2021 Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik und mit Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung im Fachbereich SBE der Hochschule Neubrandenburg, seitdem als Seniorprofessor tätig. Veröffentlichungen u.a.: Gruppenpädagogik – Eine Einführung, Weinheim 2018 (Hg. mit Barbara Bräutigam und Matthias Müller). Silke Gajek, Jg. 1962 geboren in Schwerin, Ausbildung als Sekretärin, 1990 Aufbau des Autonomen Frauenhauses in Schwerin, Studium der Feministischen Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, 2011-2016 Mitglied des Landtages in der Bündnisgrünen Landtagsfraktion. Seit 2017 studiert sie den Master Social Work an der Hochschule Neubrandenburg und beschäftigt sich mit der Demokratiepädagogik in der Erzieher*innenausbildung. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufspädagogik an der Universität Rostock. Sie ist verheiratet und Mutter eines Sohnes. Matilde Heredia, Jg. 1974 geboren in Córdoba, Argentinien. Sie ist Journalistin und promovierte Soziologin und lehrte an der Hochschule Neubrandenburg, wo sie die Professur »Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung« im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung vertrat. Seit 2020 ist sie Professorin für Kindheitspädagogik an der Internationalen Hochschule in Bad-Reichenhall. Davor übte sie verschiedene leitende und beratende Funktionen bei unterschiedlichen Trägern der Kindertagesbetreuung in Norddeutschland aus. Veröffentlichungen u.a.: Kinder mit Fluchterfahrungen in Kitas. Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung, Göttingen 2019. Kim Florentine Hofeditz, Jg. 1997 geboren in Göttingen, Studentin an der Hochschule Neubrandenburg im Studiengang B.A. Soziale Arbeit. Patrice Jaeger, Jg. 1982 geboren in Rostock, Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Rostock (Master), seit sieben Jahren Bildungsreferent beim Eine-WeltLandesnetzwerk MV e.V. in Rostock. Dort organisiert er Antirassismustrainings als Qualifizierungsworkshops und Lehrer*innenfortbildung. Constanze Jaiser, Jg. 1964 Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Theologin und Psychologin, war einige Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freien Universität Berlin sowie (freie) Mitar-
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beiterin an zahlreichen Gedenkstätten. Seit Sommer 2016 arbeitet sie als Projektleiterin bei der RAA Mecklenburg-Vorpommern u.a. mit dem Projekt »zeitlupe | Stadt.Geschichte & Erinnerung«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind biographisches Erinnern, kreative Vermittlungsformen zur Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust, europäische Gedenkstättenpädagogik und Menschenrechtsbildung sowie ästhetische und kulturelle Bildung. Außerdem schreibt sie Gedichte und Lieder und singt in der Berliner Band Litebelew. André Keil, Jg. 1967 geboren in Crivitz, Studium der Journalistik in Berlin und Leipzig, seit 1992 Redakteur und Reporter beim Norddeutschen Rundfunk. Als ARD-Reporter berichtete er von Welt- und Europameisterschaften, von Olympischen Spielen und zahlreichen anderen Sportereignissen. Er befasst sich intensiv mit der jüngeren deutschen Sportgeschichte und ist Autor mehrerer Dokumentationen zu diesem Themenfeld. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet u.a. mit dem den AntidopingMedienpreis des Doping-Opfer-Hilfevereins. Derzeit arbeitet André Keil als multimedialer Chef vom Dienst im NDR-Landesfunkhaus Mecklenburg-Vorpommern. Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Joachim Köhler, Jg. 1987 M.A. Sozialarbeitswissenschaft, derzeit tätig in der ambulanten Wohnungslosenhilfe und als externer Dozent an der Hochschule Neubrandenburg. Claudia Kühhirt, Jg. 1972 Dipl. Ing., Pädagogin, Moderatorin, langjährige Arbeit in der politischen Jugendbildung mit dem Arbeitsschwerpunkt Kinder- und Jugendbeteiligung, seit 2008 Studienleiterin für Demokratiebildung im Regionalzentrum für demokratische Kultur der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die Beratungen pädagogischer Einrichtungen für Demokratiepädagogik und die Unterstützung und Begleitung von Akteuren zur Stärkung der Bürgergesellschaft im ländlichen Raum. Veröffentlichungen u.a.: Actionbound »Gedenken an Rostock-Lichtenhagen 1992«; POLIS 1/2019: Spiel mit den Grundrechten. Kreative Zugänge zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland; »Voneinander und miteinander Lernen – Zur Nachahmung empfohlen!«, Vitalisierung ländlicher Räume in Mecklenburg-Vorpommern. Jenny Linek, Jg. 1983 geboren in MV, 2002-2009 Studium der Fächer Geschichtswissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Greifswald, 2015 Abschluss als Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Professorinnenprogramm der Hochschule Neubrandenburg und wissenschaftliche Mitarbeiterin
Die Autor*innen
an der Universität Greifswald, Arbeitsfelder: DDR-Geschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Medizingeschichte, Veröffentlichungen u.a.: Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte; Beiheft 59) Stuttgart 2016; Geschlechterbilder in der Gesundheitsaufklärung im deutsch-deutschen Vergleich (1949-1990). In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 34 (2016); Greifswald 1918. Alltag zwischen Krieg und Frieden. In: Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.): November 1918. Revolution an der Ostsee und im Reich. Köln u.a. 2020. Nadine Meyer, Jg. 1983 geboren in Neubrandenburg, 2006 Abschluss der Ausbildung zur Bürokauffrau und langjährige Tätigkeit im Bereich. Von 2015 bis 2018 absolvierte sie das kindheitspädagogische Studium B. A. Early Education an der Hochschule Neubrandenburg und schloss im Februar 2021 das Masterstudium M. A. Beratung erfolgreich ab. Von 2019 bis 2021 war sie zudem als kaufmännische Angestellte im Sekretariat des Fachbereiches Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung tätig. Seit August 2021 Studiengangskoordination für B. A. Pädagogik der Kindheit. Jana Michael, Jg. 1978 ist interkulturelle Supervisorin und Dozentin. Im Jahr 2006 hat sie die Migrant*innenselbstorganisation (MSO) »Tutmonde e.V.« in Stralsund ins Leben gerufen und 2010 eine Dachorganisation für MSO in MV und Ostdeutschland mitbegründet. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklungspolitik aus migrantischer Perspektive, Migration und Trauma, Kultursensible Pädagogik, Gender im Migrationskonzept. Matthias Müller, Jg. 1968 Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge, Soziologe (Dr. phil.), Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik und Hilfen zur Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg, Case Manager/Case-Management-Ausbilder (DGCC), Dialogischer Qualitätsentwickler (KK), Sprecher der Fachgruppe Case Management in der Sozialen Arbeit (DGCC/DGSA). Anna Nabrdalik, Jg. 1994 geboren in Rathenow, Abitur 2013 danach Freiwilliges Soziales Jahr in einer WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen). 2017 staatliche Anerkennung als Sozialarbeiterin und Bachelor-Abschluss des dualen Studiums Soziale Arbeit/Soziale Dienste an der Berufsakademie Sachsen, Praxispartner JSA Regis-Breitingen. 2020 Master in »Beratung« an der Hochschule Neubrandenburg. Seit März 2020 freiberufliche Tätigkeit als gerichtlich bestellte Betreuerin.
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Claudia Nürnberg, Jg. 1979 Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiterin/-Sozialpädagogin, Professorin für Pädagogik, Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg. Matthias Pfüller, Jg. 1945 geboren in Chemnitz, Studium der Politologie an der Freien Universität Berlin, dann dort Dozent, 1996-2011 Professor an der Hochschule Mittweida, seit 1995 außerdem Leiter der Projektgruppe Gedenkstättenarbeit in MV, dann »Politische Memoriale«, Ruhestand seit 2012, seitdem Dozent in der politischen Bildungsarbeit, Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre u.a.: Regionalanalysen/Politik, Wirtschaft und Geschichte, Jugend- und Erwachsenenbildung, Rassismus, Rechtsextremis, Fundamentalismus, Antisemitismus; Gedenkstättenarbeit. Sophie Ressin, Jg. 1997 geboren in Bergen auf Rügen, Absolventin der Hochschule Neubrandenburg im Studiengang B.A. »Berufspädagogik für Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und Kindheitspädagogik«, derzeit Studentin M.A. Berufspädagogik für soziale Fachberufe an der Universität Rostock. Susanne Richter, Jg. 1994 geboren in Jena, Bachelor of Arts im Studiengang Soziale Arbeit mit gemeindepädagogisch-diakonischer Qualifikation von Oktober 2014 bis September 2018 an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, September 2018 bis Oktober 2020 Master of Arts im Studiengang Beratung an der Hochschule Neubrandenburg. Uta Rüchel, Jg. 1967 geboren in Stralsund, Ausbildung als Sekretärin, Heilerziehungspflegerin, Studium der Soziologie, Politik- und Erziehungswissenschaften an der FU Berlin, seit 2002 freischaffende Soziologin, Autorin und Filmemacherin, Schwerpunkte: Zeitgeschichte, Biografiearbeit, Demokratiebildung. Veröffentlichungen u.a.: Verschwiegene Erbschaften. Wie Erinnerungskulturen den Umgang mit Geflüchteten prägen (2018). Jochen Schmidt, Jg. 1964 Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Anglistik in Freiburg i.Br. und Grenoble/Frankreich, 1994-1999 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock, 19992007 Stellvertreter des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Seit 2007 Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern. Veröffentlichungen u.a.: Der Front National und Jean-Marie Le Pen, in: Nikolaus Werz (Hg.):
Die Autor*innen
Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 89-111; Rechtsextremismus und Demokratiestärkung in Mecklenburg-Vorpommern. Das Landesprogramm »Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!«, in: Uwe Wenzel, Beate Rosenzweig, Ulrich Eith (Hg.): Rechter Terror und Rechtsextremismus. Aktuelle Erscheinungsformen und Ansätze der politischen Bildungspraxis, Schwalbach/Ts. 2015, S. 167-174; Politische Bildung auf schwierigem Terrain. Rechtsextremismus, Gedenkstättenarbeit, DDR-Aufarbeitung und der Beutelsbacher Konsens, Schwerin 2016 (Hg. mit Steffen Schoon). Zsófia Torma, Jg. 1985 geboren in Pécs (Ungarn), hat Geschichte und Pädagogik in Ungarn und Köln studiert und arbeitet derzeit als Eine Welt-Promotorin für Migration und Entwicklung in Rostock. Júlia Wéber, Jg. 1976 geboren und Budapest, Ungarn, Dr.in phil., Dipl. Soz. Päd. (FH), Mag.a Deutsche Philologie/Dipl. Lehrerin für DaF, seit 2018 Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung der Hochschule Neubrandenburg.
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Geschichtswissenschaft Thomas Etzemüller
Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion September 2021, 294 S., kart., Dispersionsbindung 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2
Thilo Neidhöfer
Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 Juni 2021, 440 S., kart., Dispersionsbindung, 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4
Norbert Finzsch
Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 Mai 2021, 528 S., kart., Dispersionsbindung, 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Geschichtswissenschaft Frank Jacob
Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert April 2021, 88 S., kart., Dispersionsbindung 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0
Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)
Concepts of Urban-Environmental History 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0
Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)
WerkstattGeschichte 2021/2, Heft 84: Monogamie September 2021, 182 S., kart., Dispersionsbindung, 4 Farbabbildungen 22,00 € (DE), 978-3-8376-5344-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5344-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de