Die Friedliche Revolution: Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 9783666369148, 9783525369142, 9783647369143


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Die Friedliche Revolution: Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90
 9783666369148, 9783525369142, 9783647369143

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369142 — ISBN E-Book: 9783647369143

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Clemens Vollnhals Band 38

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369142 — ISBN E-Book: 9783647369143

Michael Richter

Die Friedliche Revolution Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 Band 1

2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36914-2 Umschlagabbildung: Montagsdemonstration in Leipzig am 11. Dezember 1989 Foto: Karlheinz Müller

© 2010, 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: DD AG, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorbemerkung Zwanzig Jahre ist es her, seit couragierte Bürgerinnen und Bürger in der DDR die SED entmachteten und den Weg zur deutschen Einheit wählten. Dieses Buch ist allen gewidmet, die dazu beigetragen haben. Möglich wurde es durch die Mitarbeit vieler. Bedanken möchte ich mich bei allen Zeitzeugen, die mir in Inter views Auskunft gaben oder ihre Unterlagen zur Verfügung stellten. Mein Dank gilt den Mitarbeitern aller Archive, die mich bei meiner Arbeit unterstützten, sowie meinen Kolleginnen und Kollegen im Hannah - Arendt - Institut für Hinweise und Anregungen. Stellvertretend sei der kommissarische Direktor, Clemens Vollnhals, genannt. Wichtige Anregungen erhielt ich durch die Anbindung der Arbeit an das von Uwe Backes geleitete Projekt „Konsolidierung und Dekonsolidierung von Demokratien in den Transitionsgesellschaften Mittel und Osteuropas“ im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Programms „Marie Curie Host Fellowships for the Transfer of Knowledge“. Die Vorbereitung der Drucklegung lag in bewährter Weise in den Händen von Walter Heidenreich und Christine Lehmann. Herr Heidenreich trug maßgeblich zur Erstellung der Diagramme im Text bei. Für ihre präzisen Korrekturen bedanke ich mich bei Antje Borrmann und Annett Zingler. Im Rahmen befristeter Stellen halfen mir Ingrid Berthold, Gudrun Grau, Rita Liehnert und Ursula van Rems. Bei der Datenerfassung und Auswertung unterstützten mich im Laufe der Jahre als studentische Hilfskräfte Michal Belzyt, André Beyer, Adrienne Buchwald, Aline Fiedler, Konstantin Freiherr von Freytag - Loringhoven, Constanze Haug, Jan Klawitter, Lars - Detlef Kluger, Thomas Kühn, Henriette Kunz, Hans - Holger Malcomeß, Dagmar Nätsch, Constanze Sturm, Frank Tiesler und Christin Wiescholek. Peter W. Baumann erstellte in bewährter Präzision Karten. Unsere Bibliothekarinnen Claudia Kegel und Gabriele Schmidt halfen bei der Literaturrecherche. Frau Hannelore Georgi und Frau Evelyn Brock kümmerten sich um organisatorische Fragen. Allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Das Buch ist ebenso das Ergebnis ihrer Arbeit. Mein Dank gilt der Thyssen - Stiftung, die quantitative Untersuchungen zu den Ereignissen und zu den Forderungen der Demonstranten gefördert hat. Er gilt ebenso der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung für die Aufnahme in ihr Publikationsprogramm. Unterstützung erhielt ich auch von Herrn Landtagspräsidenten Erich Iltgen und von der Sächsischen Staatskanzlei. Dresden, August 2008

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Michael Richter

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Inhalt Band 1

I.

Einleitung

17

II.

Finale Krise des SED - Regimes

27

1.

Vor den „Kommunalwahlen“ im Mai 1989

27

1.1 1.2 1.3

Internationale Entwicklung Bonner Deutschlandpolitik Haltung der SED - Führung

27 41 56

Ablehnung von Reformen 56 Neue Sicherheitsdoktrin : Niederschlagung innerer Unruhen 59 Isolierungslager für Oppositionelle 65

1.4 1.5 1.6

Kirche am Ende des Sozialismus Ausreisebewegung Oppositionelle Gruppierungen

71 80 83

Vorgeschichte seit Ende der siebziger Jahre 83 Solidarität mit oppositionellen Gruppen in der ČSSR 89 Oppositionelle Gruppen in den sächsischen Bezirken Ende der achtziger Jahre 90 Kirchliche Basisgruppen aus SED - Sicht 94

1.7 1.8 1.9

Kollektive öffentliche Protestaktionen Fälschung der simulierten Kommunalwahlen im Mai 1989 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

97 103 116

2.

Zuspitzung im Sommer 1989

119

Internationale Entwicklung

119

2.1

Polen und Ungarn 119 Gorbatschow in Bonn 122

2.2 2.3

Neubestimmung der Deutschlandpolitik in Bonn Entwicklung in der SED - Führung

2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

Blockparteien und Massenorganisationen : LDPD als Reformkraft Massenflucht über Ungarn als Auslöser der Revolution Abschied von der „Kirche im Sozialismus“ Stimmung der Bevölkerung und in den Betrieben Einzelproteste Kollektive öffentliche Protestaktionen Die Opposition formiert sich

126 136

Stimmung an der SED - Basis 145

Oppositionelle Gruppen im Sommer 1989 208 Bildung des Neuen Forums 214 Künstler für Neues Forum 220 Bildung des

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148 158 165 170 191 195 208

8

Inhalt Demokratischen Aufbruchs 223 Gemeinsame Opposition ? 225 Sozialdemokratische Partei in der DDR 227 Demokratie Jetzt 230 Vereinigte Linke 231 Initiative für Frieden und Menschenrechte 232 Lila Offensive 232

2.11

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

232

3.

Auf zum letzten Gefecht – vor dem 40. Jahrestag

239

3.1

Aktivierung der Einsatzleitungen und Militärorgane zur Niederschlagung von Unruhen Ende September Aus Prag in den Westen – Zugdurchfahrt, Grenzschließung und Proteste 1. bis 3. Oktober

3.2

239 250

Erste Zugdurchfahrt Ende September Anfang Oktober 250 Regionale Proteste 1./2. Oktober 252 Grenzschließung 3. Oktober 255 Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs 257

3.3

Gewaltsame Proteste in Dresden und Massenfestnahmen am 4. Oktober

258

Dresden am Morgen 258 Massenfestnahmen und Einrichtung von Zuführungspunkten 259 Reaktionen der Bevölkerung 261 Einzelproteste 263 Grenzsicherung 265 Prag 266 Dresden am Abend 267 Beschluss zum NVA - Einsatz 269 Zugdurchfahrt Bezirk Karl - Marx - Stadt 272

3.4

Armee gegen die Bevölkerung am 5. und 6. Oktober

274

Hauptbahnhof Dresden 274 Regionale Einzelaktionen 281 Gemeinschaftliche und öffentliche regionale Proteste 284

3.5 3.6 3.7

Zuführungen und Zuführungspunkte bis zum 7. Oktober Stimmung der Bevölkerung vor dem 40. Jahrestag Neues Forum und Demokratischer Aufbruch Anfang Oktober

286 292 298

Haltung der Kirchen zum Neuen Forum 304 Konstituierung des Demokratischen Aufbruchs am 1. Oktober 305

3.8 3.9

Blockparteien und Nationale Front 1. bis 9. Oktober Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

306 311

III. Aufstand gegen die Diktatur

313

1.

Chinesische Lösung oder Dialog ? (7.–9.10.)

313

1.1

40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989

313

Gorbatschow in Berlin : Wie geht es weiter ? 313 Proteste am 7. Oktober : Gewalt des Staates u. a. in Hainichen und Plauen 317 Proteste von Künstlern 333 Haltung der Kirchen 336

1.2

Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR ( SDP ) am 7. Oktober

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337

Inhalt

1.3

Der 8. Oktober – Signale aus Dresden

9 343

Entwicklungen in der SED 343 Besprechung bei Mielke am 8. Oktober 344 Honecker aktiviert Bezirkseinsatzleitungen 346 Isolierungslager 347 Dresden : „Wir sind das Volk !“ Wende zum Dialog und Bildung der „Gruppe der 20“ 349 Proteste in Karl - Marx- Stadt und Leipzig 355

1.4

Der 9. Oktober – Entscheidung in Leipzig

357

Ankündigung der „chinesischen Lösung“ 357 Militärische Vorbereitungen 360 Dresden : Erstes Rathausgespräch und freie Volksversammlungen in Kirchen 365 Regionale Proteste 369 9. Oktober in Leipzig 372 Beteiligung der Landbevölkerung an Protesten in größeren Städten 385 Gründe für Deeskalation 388 Gewaltpotenziale / Morddrohungen 393

1.5

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

396

2.

„Wir sind das Volk !“ contra SED - Dialogstrategie (10.–23.10.)

399

2.1

Die Wende zum Dialog 10. / 11. Oktober

399

Stimmung der Bevölkerung 399 Demonstrationen 10.–12. Oktober 402 Individuelle Proteste 406 Stimmung an der SED - Basis 407 Sitzung des Politbüros am 10. / 11. Oktober 408 Pressekampagne ab 10. Oktober 409 Veröffentlichung der Erklärung des Politbüros am 11. Oktober 410 Reaktionen der SED - Basis 411 Reaktionen der Bevölkerung 414 Volksvertretungen 418

2.2 2.3 2.4

Blockparteien Neues Forum 10.–16. Oktober Proteste in Betrieben

419 426 431

Streiks und Streikandrohungen wegen der Grenzschließung 434 Kampfgruppen der Arbeiterklasse 436

2.5

Friedensgebete, Demonstrationen und Dialoge 12.–16. Oktober

439

Proteste von Künstlern 457 Kritik an „Wendehälsen“ 458 Reaktionen auf wachsende Forderungen nach deutscher Einheit 460

2.6

Krenz folgt Honecker als SED - Generalsekretär (17.10.)

461

Reaktionen an der SED - Basis und in der Bevölkerung 463

2.7 2.8

Neues Forum 17.–23. Oktober Friedensgebete, Demonstrationen, Dialoge, Rathausgespräche 17.–23. Oktober

468 473

Dialog unter Führung der SED 473 Individuelle Proteste 17. – 23. Oktober 490

2.9 Flucht und Ausreise 2.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

491 494

3.

„Neues Forum zulassen !“ (24.–31.10.)

499

3.1

Krenz wird Staatsratsvorsitzender (24.10.)

499

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Inhalt

10 3.2 3.3 3.4

Ökonomisch - finanzieller Kollaps Politbüro beschließt Reisefreiheit (27.10.) Öffentliche Proteste Ende Oktober : Lasst das Neue Forum zu !

502 506 508

SED - interne Diskussionen Zulassung des Neuen Forums 556

3.5 3.6 3.7

Auseinandersetzungen um Übergriffe der Volkspolizei Proteste in den Betrieben – Kritik am FDGB Situation an Schulen und Hochschulen sowie in der FDJ im Oktober 3.8 Proteste von Künstlern und im Kulturbund 3.9 Die Massenmedien im Oktober 3.10 Oppositionelle Gruppen im Oktober

558 566 574 583 586 590

Demokratischer Aufbruch 590 Demokratie Jetzt 592 Initiative für Frieden und Menschenrechte 593 Vereinigte Linke 593 Regionale Gruppen und Bürgerinitiativen 594

3.11 Blockparteien und Nationale Front Ende Oktober 3.12 Krise der SED Ende Oktober

597 603

Treffen zwischen Krenz und Gorbatschow 606

3.13 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

608

4.

Schluss mit der Führungsrolle der SED ! (1.–9.11.)

617

4.1 4.2 4.3

Massenexodus über die ČSSR nach Bayern (1.–5.11.) Berlin, Alexanderplatz (4.11.) Proteste bei Demonstrationen und Dialogen (1.–6.11.) Einzelaktionen und Gewaltandrohungen 664 Lage an der SED - Basis und Rücktritte regionaler Funktionäre Entwurf eines Reisegesetzes vom 6. November unter Fortdauer der Massenflucht Rücktritt der Regierung am 7. November Ausweitung der Demonstrationen (7.–9.11.) Proteste in den Betrieben und Ablehnung von Streiks

617 619 623

4.4 4.5 4.6 4.7 4.8

666 670 673 674 694

Krise des FDGB 698

4.9 Haltung der bewaffneten Organe ( MfS, Volkspolizei, NVA ) 4.10 Zulassung des Neuen Forums (8.11.) 4.11 Rücktritt von Teilen des Politbüros beim 10. Plenum des ZK der SED (8. / 9.11.) 4.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

720 722

5.

Fall der Mauer (9.11.–16.11.)

727

5.1 5.2

Öffnung der Grenze, erste Reisewelle und westliche Reaktionen Entwicklung in der SED

727 741

10. Tagung des ZK der SED (10. 11.) 741 Reaktionen der SED - Basis 742 11. Tagung des ZK der SED (13. 11.) 745 Entwicklung in der SED: Rücktrittswelle 745

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700 709

Inhalt

5.3

5.5

Wahl Modrows zum neuen Ministerpräsidenten (13. / 14.11.) MfS unter Modrow : Umbenennung in „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ) Bonner Deutschlandpolitik nach dem Mauerfall

5.6 5.7

Öffentliche Proteste und Sicherheitspartnerschaft Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

5.4

11

749 751 753

Baden - Württemberg und Bayern werden aktiv 755

758 776

IV. Deutsche Einheit oder DDR - Reform?

779

1.

Richtungskämpfe (17.11.–3.12.)

779

1.1

Regierung Modrow 17. November : Machterhalt und Erneuerung des Sozialismus

779

Maßnahmen gegen Wirtschafts - und Währungskrise 783 Haltung zur deutschen Frage 784 Umwandlung des MfS in ein „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ) 786 Verpflichtung der Volkspolizei auf erneuerten Sozialismus 790 Lage in der NVA 791

1.2

Demonstrationen und andere Proteste der Bevölkerung (17.–25.11.)

794

Situation in den Betrieben 812 Lage an den Schulen 814

Band 2 1.3

Entwicklung und Bedeutung der neuen politischen Gruppen und Parteien

817

Neues Forum 817 Sozialdemokratische Partei in der DDR 826 Demokratischer Aufbruch 831 Demokratie Jetzt 833 Vereinigte Linke 834 Die Grünen 834 Unabhängiger Frauenverband 835 Koordinierungsversuche sowie regionale Gruppen und Bürgerinitiativen 836

1.4

Entwicklung in der SED (17.–25.11.)

839

Aufdeckung von Korruption und Amtsmissbrauch 839 Reaktionen an der SED - Basis 841 Entwicklung in der FDJ 847

1.5

Bevölkerung zur Wiedervereinigung und Erklärung „Für unser Land“ (26.11.) Bevölkerung für Wiedervereinigung 850 DDR - Intellektuelle und Vertreter neuer Gruppen für Erhalt der DDR und demokratischen Sozialismus 853 Aufruf „Für unser Land“ und Gegenreaktionen 858 Kluft zwischen Bevölkerung und Intellektuellen 863 Stimmungsumschwung zugunsten deutscher Einheit 865

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850

12 1.6 1.7 1.8 1.9

Inhalt

Internationale Haltungen zur deutschen Frage Zehn - Punkte - Plan von Bundeskanzler Kohl (28.11.) Fortgang der Demonstrationen (26.11.–3.12.) Krise des Staatsapparates und Bildung Runder Tische

867 878 887 901

Krise sowie Neuausrichtung und - strukturierung der Volksvertretungen 901 Bildung regionaler und kommunaler Runder Tische 905

1.10 1.11

Entwicklung der Blockparteien im November bis zum Ende von Nationaler Front und Demokratischem Block (28.11.) Entwicklung in der SED (26.11.–3.12.)

910 925

Stimmung an SED - Basis Ende November 925 Streichung SED Führungsrolle der aus Verfassung (1.12.), Rücktritt von Politbüro und Zentralkomitee sowie Bildung eines Arbeitsausschusses (3.12.) 926

1.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 2. 2.1 2.2 2.3

Polarisierung auf den Straßen – Kooperation an Runden Tischen (4.–13.12.) Internationale Diplomatie zwischen Malta und Straßburg (3.–10.12.) Der „Fall Schalck - Golodkowski“ und die Bildung von Untersuchungsausschüssen gegen „Korruption und Amtsmissbrauch“ Demonstrationen, Stasi - Besetzungen, Bürgerkomitees und Streiks (4.–6.12.)

928 935 935 939 949

Sicherheitspartnerschaften 949 Gewaltbereitschaft 954 Bezirke und Kreise 955 Streiks 971 Proteste in den Bautzener Strafvollzugsanstalten 973

2.4 2.5

Machtvergessenheit und ideologische Ausrichtung neuer reformsozialistischer Gruppen sowie Distanz zur Bevölkerung Bildung Runder Tische auf allen Ebenen

978 982

Runde Tische in Bezirken, Kreisen und Kommunen 982 Bildung des Runden Tisches der DDR und Beschluss zur Auflösung des AfNS (7. 12.) 1001

2.6 2.7

Demonstrationen für deutsche Einheit, Sicherheitspartnerschaften und Auflösung der Bezirks und Kreisämter für Nationale Sicherheit (7.–13.12.) SED : Auflösen oder Umbenennen ?

1002 1019

SED vor dem Sonderparteitag 1019 Rücktritt von Krenz, Verhaftung von Mielke und Stoph 1020 Ende der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ 1023 Auflösung der SED - Betriebsstrukturen 1026 SED - Sonderparteitag (1. Session 8./9.12.) 1027

2.8 2.9

Treffen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges am 11. Dezember in Berlin Bonner Positionen : Die Bevölkerung der DDR entscheidet

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1030 1033

Inhalt

2.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

13 1035

3.

Modrows Kampf um den Erhalt der sozialistischen Staatsmacht – Demokratisierung der Parteienlandschaft (13.–22.12.) 1041

3.1

Regionale Proteste und Warnstreiks vor Weihnachten

1041

Proteste und Forderungen an Schulen 1045 Demokratiebestrebungen bei den Sorben 1046

3.2 3.3

Reiseverkehr, ständige Ausreise, neue Grenzübergänge und Städtepartnerschaften Bemühungen Modrows um Erhalt und Entwicklungen im Bereich der Staatsmacht

1049 1051

Unterstützung regionaler sowie lokaler Räte und Volksvertretungen 1054 Aktivitäten von Ex - Blockparteien und Räten der Bezirke zur Länderbildung 1057 Umwandlung des AfNS in Verfassungsschutz und Nachrichtendienst (13./14.12.) 1060 Lage bei Volkspolizei und NVA 1063

3.4 3.5 3.6

SED - Sonderparteitag : Umbenennung in SED - PDS (2. Session 16.–17.12.) SDP auf dem Weg zur SPD und zur deutschen Einheit Blockparteien im Dezember

1067 1070 1073

Austritt aus Block und Nationaler Front 1073 CDU - Sonderparteitag (15./16.12.) 1074 LDPD : Abkehr vom Sozialismus 1076 Profilierungsprobleme bei NDPD und DBD 1077

3.7 3.8

Erneuerung des FDGB oder neue Gewerkschaften Neues Forum – Partei oder Bürgerbewegung : Weg ins politische Abseits 3.9 Gründungsparteitag des Demokratischen Aufbruchs (16./17.12.) und Bildung neuer liberal - konservativer Parteien 3.10 Zweite Sitzung des Zentralen Runden Tisches (18.12.)

1078 1081 1087 1091

Regierung unterstützt Runde Tische und neue Gruppierungen (21. 12.) 1092

3.11

Nationale und internationale Handlungsebene

1094

Treffen Kohl - Modrow in Dresden : Vertragsgemeinschaft oder Konföderation (19. 12.) 1094 Mitterrand in Ost - Berlin (20./22. 12.) 1100 Entwicklungen in den „Bruderstaaten“ 1101

3.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1103

4.

Kampf dem Restaurationskurs der SED - PDS (17.12.–14.1.)

1107

4.1

SED - PDS „gegen rechts“ und deutsche Einheit sowie für einen Verfassungsschutz (17.–31.12.) Zentraler Runder Tisch gegen Verfassungsschutz – Unstimmigkeiten in der „Koalitionsregierung“ Ende Dezember Kundgebung „gegen rechts“ und deutsche Einheit in Berlin - Treptow (3.1.)

4.2 4.3

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1107 1113 1117

Inhalt

14 4.4

Stärkung der Staatsorgane durch Einbeziehung neuer Kräfte und Umwandlung der Nationalen Front in eine „nationale Bürgerbewegung“ (4.1.) 4.5 Volksvertretungen, Runde Tische, Bürgerkomitees 4.6 Proteste Anfang Januar 4.7 Tagung der Bürgerkomitees der Bezirke am 5. Januar und Lage in den Bezirksämtern der Staatssicherheit 4.8 Lage bei NVA und Volkspolizei 4.9 Die „rechte Gefahr“ 4.10 Proteste gegen den Restaurationskurs der SED - PDS (6.–14.1.)

1121 1125 1131 1133 1135 1141 1147

Demonstrationen und Warnstreiks 1147 Bonner Interventionen 1150 Zentraler Runder Tisch und Regierungsparteien gehen auf Distanz zur SED-PDS 1151 Demonstrationen und Streiks 1154 Volkskammertagung und Proteste am 11. Januar 1159 Regierung beschließt Aussetzung der Bildung von Geheimdiensten (12. 1.) 1162

4.11

Der 15. Januar

1165

Demonstrationen und Streiks 1165 Sitzung des Zentralen Runden Tisches 1169 Besetzung der Stasi - Zentrale in Berlin - Lichtenberg 1170 Auflösung des AfNS 1173

4.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1177

5.

Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf (16.–31.1.)

1183

5.1 5.2 5.3

Reiseerleichterungen und Ausreisewelle Internationale Rahmenbedingungen im Januar 1990 Protestdemonstrationen und Höhepunkt der Streikbewegung in der zweiten Januarhälfte

1183 1183 1187

Streiks im Strafvollzug 1200 Gewaltandrohungen 1203

5.4

Ex - Blockparteien im beginnenden Wahlkampf

1204

Westausrichtung, Differenzierungen, Bündnissuche 1204 LDPD und FDP 1208 NDPD 1210 DBD 1212 Ost - CDU und West - CDU, ein schwieriges Verhältnis 1213

5.5

SED - PDS zwischen Verbot und Kontrolle ( ca. 15.–24.1.)

1216

Sozialistische Splitterparteien bilden sich 1218

5.6

Neue Parteien und Gruppierungen im beginnenden Wahlkampf

1219

Von der SDP zur SPD 1219 Neues Forum : Trennung in Bürgerbewegung und „Deutsche Forumpartei“ (27./28.1.) 1225 FDP (27.1.) 1230 Demokratie Jetzt (20./21.1.) und andere Gruppierungen 1231 CSU / FDU 1232 DSU - Gründung (20./21.1.) – Demokratischer Aufbruch 1239 Allianz für Deutschland 1241

5.7

SED - PDS : Auflösen oder Umwandeln ? (25.–31.1.)

1245

Massenorganisationen im Abwind – FDJ, GST, FDGB 1252

5.8

Krise der Wirtschaft, der Finanzen und der Versorgung

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1254

Inhalt

5.9

Staatskrise und Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ Ende Januar

15

1257

Neue staatstragende Rolle des Zentralen Runden Tisches 1263 Staatskrise und neue Kooperationsformen auf Bezirks - und Kreisebene 1265 Veränderungen in der Presselandschaft und im Bildungsbereich 1283

5.10 Aktivitäten zur Neubildung des Landes Sachsen

1287

Wachsende Bedeutung von Kontakten nach Baden - Württemberg und Bayern 1287 Eigeninitiativen der Räte der Bezirke zur Neubildung Sachsens 1292

5.11

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1294

V.

Wege zu Demokratie und Einheit (1. 2.–18. 3.)

1299

Internationale Entwicklung Anfang Februar

1299

1.

Modrow in Moskau : Deutschland einig Vaterland (31.1./1. 2.) 1299 Reaktionen in der Bundesrepublik und im Ausland sowie Haltung der NATO (1.–6. 2.) 1301

2.

Wirtschafts - und Finanzpolitik Modrows und Kohls

1305

Bundesregierung bietet DDR Wirtschafts - und Währungsunion an (7. 2.) 1307

3.

Zeit der internationalen Diplomatie

1311

Baker in Moskau (7.–9. 2.) 1311 Kohl und Genscher in Moskau (10. 2.) 1312 Konferenz in Ottawa (12./13. 2.) 1313 Modrow in Bonn (13. 2.) 1317 Ende Februar / Anfang März : Sowjetische Führung gegen Beitritt nach Artikel 23 1320 Frage der deutsch - polnischen Grenze 1324 Haltung anderer ehemaliger Ostblockstaaten 1327

4.

Von den Demonstrationen zum Wahlkampf

1329

Demonstrationen und Wahlkampf in den sächsischen Bezirken 1335 Streiks 1348 Gewaltandrohungen 1350

5.

Entwicklung von Parteien und Gruppierungen

1352

PDS 1352 Allianz für Deutschland ( CDU, DSU, DA ) 1355 Bund freier Demokraten ( F.D.P., LDPD / LDP, DFP ) 1369 NDPD 1372 SPD 1373 Bündnis 90 1375 Grüne Partei, Grüne Liga und Unabhängiger Frauenverband 1376 Neues Forum 1377 Splitterparteien 1380

6.

Demokratisierung im Bereich Organisationen und Verbände

1381

FDGB 1382 FDJ 1385 Bereich Wirtschaft 1387 Demokratisierung der sorbischen Verbände 1389

7. 8.

Neuanfang im Bildungswesen Auflösung des MfS / AfNS Komitee zur Auflösung des MfS 1392 Selbstauflösung der HVA 1394 Aktenvernichtung 1396 Vernichtung der elektronischen Datenträger mit Personendaten des MfS 1396 Umwandlung von Einrichtungen des MfS

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1390 1392

Inhalt

16

in Wirtschaftsbetriebe 1399 Personelle Auflösung des MfS 1402 Forderungen nach Offenlegung der Namen von MfS - Mitarbeitern 1404

9.

Wirtschaftspolitik Modrows

1405

Bildung der Treuhand am 1. März 1406 Versorgung von SED Funktionären 1408

10. 11.

Entpolitisierung der NVA und der Volkspolizei Staatsapparat, Volksvertretungen, Runde Tische

1412 1415

Der Zentrale Runde Tisch 1415 Volkskammer 1417 Räte, Volksvertretungen, Runde Tische auf der Ebene der Bezirke 1418 Koordinierte Aktivitäten der Räte zur Landesbildung 1426 Räte, Volksvertretungen und Runde Tische in Kreisen und Kommunen 1427 Thematische Runde Tische 1436 Resümee Runde Tische 1437

12. 13.

Volksammerwahl am 18. März Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

VI. Fazit 1. 2. 3.

1440 1452 1457

War das SED - Regime zum Zeitpunkt seiner Entmachtung totalitär ? Wurde das sozialistische System in einer Revolution beseitigt ? Wer waren die Hauptakteure und wie waren ihre Interaktionen ?

1457 1465 1478

VII. Anhang

1501

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

1501 1510 1565 1576 1577 1577 1577 1579 1597 1610

Unveröffentlichte Quellen und Interviews Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Verzeichnis der Diagramme Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Karten Fotonachweis Personenverzeichnis Ortsverzeichnis (Deutschland) Chronologie

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I.

Einleitung

Am 17. Juni 1953 kam es in Ost - Berlin zu Protesten gegen Normerhöhungen. Sie gingen schnell in einen DDR - weiten Volksaufstand gegen das SED - Regime über, bei dem Forderungen nach Freiheit, Demokratie und deutscher Einheit dominierten. Der Aufstand wurde von sowjetischen Besatzungstruppen gewaltsam niedergeschlagen. Über Jahrzehnte war es danach die kollektive Erfahrung der Bevölkerung, dass das von Moskau gestützte SED - Regime durch interne Proteste nicht zu entmachten sei. 36 Jahre später hatte sich die Situation durch die Machtübernahme Michail S. Gorbatschows verändert. Die sowjetische Führung stellte es den bisherigen Vasallenstaaten nun frei, künftig ihren politischen Weg selbst zu bestimmen. Vor allem ab 1989 kam es daraufhin in der DDR erneut zu Protesten, deren Hauptforderungen denen des Jahres 1953 glichen. Der Unterschied zum Volksaufstand des 17. Juni lag darin, dass die sowjetischen Streitkräfte diesmal nicht eingriffen. In der friedlichen Revolution wurde das SED - Regime im Herbst und Winter 1989/90 in einem zähen Ringen Schritt für Schritt entmachtet und der Weg zur Wieder vereinigung Deutschlands freigekämpft. Während sich die Interpretationen hinsichtlich des Charakters des 17. Juni 1953 im Laufe der Jahrzehnte immer mehr angeglichen haben, gehen sie bezüglich der Ereignisse der Jahre 1989/90 noch heute weit auseinander. Von Revolution ist ebenso die Rede wie von Implosion, Anschluss oder Kolonialisierung. Die Implikationen sind vor allem politisch, was auf den Umstand hinweist, dass der Aufstand der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gerade einmal 20 Jahre zurückliegt. Versucht man sich vorzustellen, wie die Ereignisse in 200 Jahren beurteilt werden mögen, wird klar, dass ihre direkten Nachwirkungen noch andauern. Von einer Historisierung kann keine Rede sein. Jede Auseinandersetzung berührt aktuelle Geschehnisse. Man denke nur an die Rolle der Parteien damals und heute oder an die Folgen des Endes des sowjetischen Imperiums für die Globalisierung. Dem Historiker wird die Aktualität vor Augen geführt, wenn Akten, die er auswerten möchte, gerade an Gerichte oder parlamentarische Institutionen ausgeliehen sind. Die Zeitgeschichte sieht sich im Wettbewerb mit ihnen. So führen uns die Ereignisse der Jahre 1989/90 heute die Gegenwärtigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gegenwart vor Augen. Die Frage, ob der zeitliche Abstand groß genug ist, die Ereignisse angemessen zu deuten, ist berechtigt. Meines Erachtens fehlt die historische Distanz. Wie aber bereits seit dem Herbst 1989 parallel zur laufenden Entwicklung interessante Analysen vorgelegt worden sind, so können heute bereits Zusammenhänge geklärt werden, die damals nicht überschaubar waren. In den kommenden Jahren wird sich die Sichtweise wieder verändern. Wichtig scheint mir der Hinweis von Konrad H. Jarausch, dass Analysen der Gesamtentwicklung angesichts der Komplexität des Umbruchs von 1989/90 bislang kaum möglich sind. Wichtiger

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Einleitung

ist die Analyse relevanter Teilaspekte.1 Deren Integration in eine Gesamtperspektive muss schon deswegen der Zukunft vorbehalten bleiben, weil kommende Entwicklungen die Perspektive verändern werden. Da, wo bereits Gesamtinterpretationen vorgenommen wurden, sind sie meist politisch apologetisch und selbst Teil oder Nachhall der Ereignisse. Sie sind der Stoff für Mythen und Legenden.2 Die vorliegende Untersuchung möchte dem Rechnung tragen und als Teilaspekt die Rolle der Bevölkerung am Beispiel Sachsens im Rahmen der Gesamtentwicklung würdigen. Es wurden umfangreiche Aktenstudien betrieben, um Schlussfolgerungen auf ein gesichertes Fundament zu stellen und mit der Arbeit zur Versachlichung der Diskussion beizutragen. Es ist kein Widerspruch, dass der Autor dabei selbst bestimmte Interpretationen bevorzugt bzw. vornimmt. Was bei der Arbeit des Historikers oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass seine Aufgabe sich nicht darin erschöpft, sich innerhalb der scientific community über aktuelle Forschungsstandards auszutauschen. Er sieht sich immer auch in der Pflicht, die interessierte Öffentlichkeit über vergangene Ereignisse zu informieren. Beiden Ansprüchen möchte die Arbeit gerecht werden. Im Rahmen der Studie wurden zunächst die – insbesondere regionalen – Geschehnisse in Kleinarbeit aus den Quellen rekonstruiert. Ausgangspunkt war die Überlegung, auf Grundlage einer genauen Darstellung von Ereignissen und subtilen Zusammenhängen Schlussfolgerungen zu ziehen, die weniger eigenem Wunschdenken als empirisch gesicherten Tatsachen entsprechen.3 Dazu wurden nicht nur umfangreiche Archivbestände ausgewertet, sondern auch quantitative Methoden angewandt. Sie sind ebenfalls dem Bemühen geschuldet, belastbare Aussagen zu präsentieren. Geschichtstheoretisch folgt der Autor dabei einem Verständnis, nachdem sich bei Ereignissen im Nachhinein zwar Prozesse erkennen lassen, die Zukunft aber zum Zeitpunkt des Geschehens insofern offen ist, weil der geschichtliche Verlauf von Ursachen, Aktion und Kontingenz abhängt.4 Es handelt sich um eine zeitgeschichtliche Untersuchung bei Anwendung politikwissenschaftlicher Methoden ( insb. des akteurstheoretischen Ansatzes ) über die Entmachtung des SED - Regimes, den Beginn der Demokratisierung und die Entscheidung für den Weg zur deutschen Einheit am Beispiel Sachsens. Dabei werden verschiedene Handlungsebenen in ihren Wechselwirkungen untersucht. Auf der internationalen Ebene geht es u. a. um Mächte wie die USA, die UdSSR, Frankreich und Großbritannien, um die Europäische Gemeinschaft, die NATO, den Warschauer Pakt und weitere internationale Interessengruppen. Hier wurde ebenso wie bei der Beschreibung der Ebene der beiden deutschen Regierungen und der sie tragenden Parteien auf Sekundärliteratur zurückgegriffen. Für 1 2 3 4

Vgl. Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung ?, S. 549 f. Mit einigen beschäftigt sich Korte, Die Chance genutzt ?, S. 12–15. Vgl. dazu Joachim Gaucks Vor wort in Stolle, Der Aufstand, S. 10. Vgl. Marquard, Die Philosophie der Geschichten, S. 63; Patzelt, Evolutorischer Institutionalismus; Fritze, Systemimmanenz oder Kontingenz.

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die Partei - und Staatsführung der DDR wurden darüber hinaus relevante Akten ausgewertet, die für die internationale Ebene bislang kaum zur Verfügung stehen. Den Schwerpunkt der Arbeit bilden die bislang wenig untersuchten regionalen und kommunalen Ebenen. Beschrieben wird die Entwicklung in den Bezirken, Kreisen und Kommunen Sachsens.5 Behandelt werden die drei ehemaligen Bezirke Dresden, Karl - Marx - Stadt und Leipzig. Dadurch werden auch die damals zum Bezirk Leipzig gehörenden thüringischen Kreise Altenburg und Schmölln mitbehandelt. Vom ehemaligen Bezirk Cottbus wurden lediglich die beiden heute zu Sachsen gehörenden Kreise Hoyerswerda und Weißwasser einbezogen. Die Ebene des Bezirkes Cottbus wurde nicht untersucht.6 Sachsen wurde sowohl aus forschungspragmatischen Gründen als Untersuchungsgegenstand ausgewählt, als auch wegen seiner treibenden Rolle im revolutionären Prozess.7 Dabei ist klar, dass sich die Ergebnisse nicht auf andere Regionen übertragen lassen. Es wäre wünschenswert, wenn vergleichbare Studien – insbesondere zur Bevölkerungsmobilisierung – für andere Regionen folgen würden. Die Darstellung erschließt sich aus zwei Perspektiven. Bei einer bevorzugten Perspektive auf die DDR - Entwicklung samt übergeordneter Zusammenhänge ermöglicht der exemplarische Blick auf Sachsen eine genauere Analyse regionaler und kommunaler Ereignisse, die bei der Erfassung der gesamten DDR so nicht möglich gewesen wäre. Alternativ kann die Darstellung als Geschichte der friedlichen Revolution in Sachsen gelesen werden. In diesem Fall dienen die übergeordneten Handlungsebenen der Zuordnung der sächsischen Ereignisse. Um sich einen Überblick zu verschaffen, sei empfohlen, die jeweiligen Kapitelzusammenfassungen hintereinander zu lesen. Bei der Darstellung der Entwicklung in den sächsischen Regionen und Kreisen wurde dem Bemühen um eine möglichst breite Erfassung durch unterschiedliche Quellenlagen und - zugänge sowie durch die Leistungsfähigkeit im Rahmen eines solchen Projektes Grenzen gesetzt. Genauere regionale und kommunale Studien waren nicht zu leisten. Ziel war es vielmehr, einen Gesamteindruck der zahlreichen, divergierenden oder auch übereinstimmenden Entwicklungen zu geben und diese in Beziehung zu übergeordneten Prozessen zu stellen. Schon so ist das Resultat ein Buch mit erklärungsbedürftigem Umfang. Die fast epische Breite der Darstellung ist aber dennoch nicht vermieden worden, um wenigstens einmal das Gewicht und die Wucht der revolutionären Bewegung in den Regionen im gebührenden Umfang zu veranschaulichen. Die Reduzierung auf ein paar Zahlenreihen hätte den bislang vorherrschenden Eindruck, das Geschehen habe sich vor allem in Zentren wie Berlin, Leipzig oder Dresden abgespielt, nicht relativieren können. Die Lektüre der Ereignisse einer Revolutionswoche im Oktober, November oder Januar aber macht die Intensität des 5 6 7

Informationen und statistische Angaben zu den Kreisen alten Zuschnitts. In : Freistaat Sachsen 1991/92, S. 84–239. Vgl. zum Bezirk Cottbus u. a. Petrick / Weiß, Das Neue Forum. Vgl. Jesse, Sächsische Bürgerrechtler, S. 884 und 894; ders. ( Hg.), Friedliche Revolution und deutsche Einheit, S. 7, 281, 285.

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Geschehens abseits der Zentren deutlich. Insofern wird durchaus der Anspruch erhoben, die sächsische Entwicklung in ihrer Ereignisdichte einigermaßen adäquat darzustellen, möglichst viele relevante Informationen zu erfassen und einen kompendienartigen Überblick über die friedliche Revolution in Sachsen zu geben. Wer jedoch aus regionalgeschichtlichem Interesse hofft, alle Daten zur Entwicklung in seiner Region zu finden, wird wohl enttäuscht werden. Andererseits hat die Arbeit den Vorteil, dass regionale Entwicklungen, erschließbar über das Ortsregister, in den Zusammenhang der Gesamtentwicklung auf allen Ebenen gestellt wurden. Wichtig ist der Vergleich unterschiedlicher Bezirke, Kreise und Kommunen auch deshalb, weil sich nur so Aussagen darüber treffen lassen, ob bestimmte Abläufe und Organisationsformen einmalig waren oder mehrfach bzw. überall vorkamen. Die Arbeit behandelt im Wesentlichen die politische Hauptentwicklung im Zeitraum von den simulierten und zusätzlich gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 bis zur ersten freien und geheimen Volkskammer wahl am 18. März 1990. Die Darstellung konzentriert sich auf die Entmachtung des diktatorischen SED - Regimes und die beginnende Demokratisierung, oder, um es im SED - Jargon zu sagen, auf die Frage „Wer wen ?“. Nachgeordnete Aspekte wie die Entwicklung von Parteien oder Gremien werden nur insofern behandelt, als sie zur Analyse des Gesamtprozesses beitragen. Auch hier besteht kein Anspruch, hinlängliche Darstellungen zu präsentieren. In bisherigen Darstellungen wurden oft einzelne Akteursgruppen über - oder unterbewertet bzw. tendenziös dargestellt. Die Folge waren einseitige Interpretationen des Prozesses. Die Untersuchung erhebt den Anspruch, der Bedeutung aller beteiligten Akteure in einem höheren Maße gerecht zu werden. Da insbesondere zur internationalen und nationalen Handlungsebene sowie zu den Bürgerbewegungen bereits Untersuchungen vorliegen, galt das besondere Augenmerk dem Handeln der Bevölkerung. Hier gibt es erhebliche Defizite. Die Bevölkerung wird oft nur beiläufig, manchmal auch abschätzig, erwähnt, war aber die zentrale Akteursgruppe. Ihre Zurücksetzung führte zur erwünschten Überbewertung anderer Akteure. Um das Handeln der Bevölkerung genauer zu beschreiben, wurde Sachsen als Beispiel gewählt. Dieser Zugriff ist breit genug, um regionale Unterschiede zu verdeutlichen, aber auch eng genug, um die Handlungen gerade noch bis in Kommunen und Betriebe hinein darstellen zu können. Schon seit einiger Zeit ist die Frage des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in den Fokus der Forschung gerückt.8 Nachdem zunächst vor allem Oberzentren wie Berlin oder Leipzig Beachtung fanden, setzt sich die Einsicht durch, dass der in seinem Charakter spontane, ungeplante und dezentrale Aufbruch ohne Berücksichtigung der Regionen nicht adäquat zu beschreiben ist. So wenig die friedliche Revolution als Prozess aber allein auf der zentralen DDR - Ebene 8

Vgl. Vorwort von Walter Süß. In : Löhn, Unsere Nerven, S. 3; Dietrich / Jander, Die Revolution in Thüringen, S. 308 f.; Mrotzek, Die Wende, S. 392.

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dargestellt werden kann, so wenig genügt es andererseits, sich auf die Entwicklungen in den Regionen zu beschränken. Diese müssen vor dem Hintergrund übergeordneter Entwicklungen interpretiert werden. Leitende Fragestellungen: Die zentralen Fragestellungen gelten den Hauptakteuren der friedlichen Revolution. Wer waren die wichtigsten Akteure aller Handlungsebenen ? Wie waren deren Interaktionen in den verschiedenen Phasen der Entwicklung ? Welche Veränderungen an Zielen, Interessen und Meinungen lassen sich erkennen ? Wie sind sie zu erklären ? In welchem Verhältnis stand das Geschehen auf allen Handlungsebenen inhaltlich und zeitlich zueinander ? Waren die Demonstrationen in den Kreisen nur ein Nachhall zentraler Entwicklungen oder wurden hier Entwicklungen begründet oder durchgesetzt ? In diesem Zusammenhang ist in der Phase der Demokratisierung die Vielfalt an Formen von Transformationsgremien interessant, die in den Kreisen und Kommunen entstanden. Sie geben Auskunft über politische Intentionen der Akteure vor dem oder parallel zum zielgerichteten Transformationsprozess in Richtung Bundesrepublik. Besonderes Interesse gilt der SED als der Trägerin des entmachteten real sozialistischen Regimes. Was sagt deren Verhalten im Umbruch über den Endzustand des Regimes aus ? War der SED - Staat zuletzt totalitär ? War die SED von sich aus zu demokratischen Veränderungen bereit, wie in Polen oder Ungarn, oder wollte sie nur Modifizierungen des sozialistischen Regimes, um die eigene Macht zu retten ? Wenn ja, ab wann setzte sich die SED für eine freiheitliche Demokratie ein ? Gab es in der Partei eine Elitendifferenzierung in Hardliner und Reformer oder gar in Anhänger einer freiheitlichen Demokratie? Kann, wie oft behauptet wird, von einer Implosion der SED - Herrschaft gesprochen werden ? Der SED auf der einen Seite standen die Akteure gegenüber, die ein Ende der SED - Alleinherrschaft erkämpften. Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Bevölkerung und die Bürgerbewegungen ? Welche Ziele und Vorgehensweisen lassen sich erkennen ? Warum wird bislang die Rolle der Bevölkerung im Verhältnis zu den Bürgerbewegungen eher gering geschätzt oder gar negativ bewertet ? In welchem Verhältnis stehen die Massenflucht und das Demonstrationsgeschehen ? Wie erklärt sich die Bereitschaft, an den Runden Tischen mit der SED zu kooperieren, während auf den Straßen deren schnellstmögliche Entmachtung gefordert wurde ? Schließlich interessiert die Rolle der internationalen und bundesdeutschen Akteure. Vollzog sich in der DDR lediglich eine Entwicklung infolge veränderter globaler Strukturen ? Wenn ja, warum verlief die Entwicklung in den einzelnen Ostblockstaaten dann unterschiedlich ? Welche Auswirkungen hatte das Handeln bundesdeutscher Akteure, allen voran das der Bundesregierung, auf die Entwicklung in der DDR ? War das Geschehen gar, wie von der SED behauptet, von Bonn aus gesteuert ?

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Alle Aspekte zusammenfassend interessiert schließlich, wie das Geschehen zu bewerten ist. Hat in der DDR eine Revolution stattgefunden oder ist das System nur infolge globaler Veränderungen implodiert ? Quellen: Die Quellenlage ist gut. Probleme gibt es nur hinsichtlich Akten internationaler und bundesdeutscher Akteure. Für diese Handlungsebenen wurden Sekundärliteratur und veröffentlichte Quellen benutzt. Archivrecherchen betrafen relevante DDR - Quellen. Es ergibt sich eine interessante Mischung unterschiedlichster Quellen aller Ebenen, die sich gegenseitig ergänzen. In den sächsischen Bezirken, Kreisen und Kommunen war die Aktenlage bzw. die Bereitschaft, Akten zur Verfügung zu stellen, unterschiedlich. Einige Archive zeigten kaum Interesse, andere waren engagiert und warteten bereits mit eigenen Dokumentationen auf. Am schwierigsten war der Aktenzugriff im Bezirk Leipzig. Hier waren nach Auskunft in der Außenstelle der BStU wichtige AKGBestände noch nicht erschlossen. Sehr gut war der Aktenzugang dagegen in den BStU - Außenstellen Chemnitz und Dresden. Die meisten Bestände in allen Archiven und Registraturen sind noch unzureichend erschlossen und oft nicht paginiert. In den Fußnoten wurde deswegen auf den Hinweis der fehlenden Paginierung bzw. Erschließung verzichtet. Die politischen Analysen und Berichte zur Stimmungslage aus den einzelnen Kreisen von MfS und SED sind unterschiedlich. Teilweise wird sehr offen berichtet ( z. B. im Erzgebirge und Vogtland ), teilweise vorsichtig und zurückhaltend hinsichtlich kritischer bzw. oppositioneller Tendenzen und deutlich von Wunschdenken bestimmt ( z. B. Bautzen, Pirna ). Dadurch entstehen unterschiedliche Eindrücke von der Lage und es lässt sich nicht immer genau bestimmen, was Realität und was subjektiver Eindruck des Berichtenden ist. Insbesondere die Stimmungsberichte der MfS - Kreisdienststellen müssen kritisch gelesen werden. Sie stammen von einer Institution, die sich selbst im Umbruch befand. Bis zum September dominierten, wie im gesamten Informationssystem der DDR, geschönte Berichte. Die Bevölkerung wurde als linientreu dargestellt. Allerdings waren viele Berichte schon zu diesem Zeitpunkt kritischer als andere Darstellungen. Die Berichte wandelten sich während des Herbstes und sind sehr unterschiedlich. Vorlieben und Schreibtalente der Verfasser sind nicht zu übersehen. Einige Berichterstatter des MfS berichten eher kritisch, andere bleiben stärker ideologischen Vorstellungen verbunden. Insgesamt aber verdanken wir dem MfS eine recht genaue Beschreibung der Ereignisse. In gewisser Hinsicht glich das MfS, neben seinem repressiven Charakter, einer Art Meinungsforschungsinstitut der DDR, das unter der Decke behaupteter Einmütigkeit Unterschiede im Meinungsbild beschrieb. Freilich erfolgte daraufhin keine sachliche, sondern eine ideologische Analyse. Einzelne Funktionäre des Regimes meinten im Nachhinein gar, die Berichte des MfS seien so offen gewesen, dass sie „den Regimesturz geradezu prophezeiten“.9 Aber auch Rainer Eppelmann erklärte, man könne dem MfS dankbar sein, dass es die Rolle eines 9

Lorenz, Die Faust leider nur in der Tasche, S. 151 f.

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Chronisten übernommen habe. Oft habe es die Dinge „sehr viel klarer gesehen als wir selber oder auch die klugen Zeithistoriker und Journalisten im Westen“.10 Man könnte ergänzen, die Analyse war oft erstaunlich genau, die Schlussfolgerungen waren hingegen aufgrund ideologischer Verblendung kontraproduktiv. Bei Berichten des MfS, der Volkspolizei, der SED oder der Räte wird in der Regel nur der Absender, nicht der Adressat, angegeben, wenn es sich um Schreiben an die nächsthöhere Organisationsebene handelt. Z. B. Kreisdienststellen an Bezirksver waltung des MfS, SED - Bezirksleitungen an ZK der SED usw. Auch die üblichen Mehrfachverteiler, etwa des MfS, sind aus Platzgründen nicht erwähnt. Aus demselben Grund sind lange Titel reduziert auf „Information“ oder „Lage“. Oft wurden auch nur Berichte der untersten Ebene angegeben (Kreisdienststellen des MfS ), da die Berichte der nächsthöheren Ebene zu Einzelereignissen in Orten und Kreisen nicht immer Neuigkeiten bringen und oft nur die Berichte aus den Kreisen zusammenfassen. Anders ist dies bei zusammenfassenden Analysen, die Schlussfolgerungen über politischen Einschätzungen erlauben. Sehr unterschiedlich ist die Qualität der Berichterstattung der Lokalseiten der Zeitungen der Bezirke. Manche berichteten ausführlich und informativ über politische Prozesse wie z. B. in Kamenz, andere konnten sich lange nicht von ihrer ideologischen Sicht trennen. Mit Vorsicht sind Zeitungsmeldungen über Teilnehmerzahlen zu genießen. Sie betragen oft das doppelte der verlässlicheren Volkspolizei - Angaben. Forschungsstand: Einen guten Überblick über zeitnahe Formen der Darstellung der Ereignisse von 1989/90 wie Tagebuchaufzeichnungen, Chroniken, Dokumentationen, Interviewbände, autobiographische Berichte, historische Quellensammlungen, Tonbandinterviews und Essays hat Hartmut Zwahr gegeben.11 Inzwischen gibt es auch eine Fülle wissenschaftlicher Literatur zur internationalen und nationalen Handlungsebene sowie zur Entwicklung der Bürgerbewegungen.12 Dagegen harrt die Entwicklung in den Regionen und die Haltung der Bevölkerung noch immer intensiver Aufarbeitung.13 Schon Bernd Lindner monierte, dass das Bild der friedlichen Revolution von den Geschehnissen in großen Städten bestimmt werde.14 Dabei hat bereits Uwe Schwabe darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, neben den öffentlich registrierten Großveranstaltungen die vielfältigen und im Ergebnis nicht weniger wichtigen lokalen Ereignisse nicht zu übersehen.15 Auch Heidi Behrens hat betont, wie wichtig es sei, „lokale Varianten der Auflehnung wahrzunehmen und unterscheiden zu ler10 Eppelmann, Ohne uns, S. 5 f. 11 Vgl. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 244–247. 12 Einen Überblick geben Eppelmann / Faulenbach / Mählert ( Hg.), Bilanz und Perspektiven. 13 Vgl. Heydemann / Mai / Müller, Einleitung, S. 9. 14 Vgl. Lindner ( Hg.), Zum Herbst ’89, S. 53. 15 Vgl. Schwabe, Der Herbst ’89 in Zahlen, S. 723.

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nen“.16 Inzwischen liegen über regionale Entwicklungen in Sachsen einige, in ihrer Qualität unterschiedliche Publikationen vor.17 Ausführlich untersucht wurde der Prozess der Bildung des Freistaates Sachsen.18 Bislang kaum untersucht ist die Entwicklung in den Betrieben. Die meisten Mitglieder der Bürgerbewegungen unterschätzen nicht nur die Massenbewegung auf den Straßen, sondern auch den betrieblichen Aufbruch. Umso wichtiger ist eine Studie von Bernd Gehrke und Renate Hürtgen.19 Diese Autoren weisen selbst auf die Tatsache hin, dass das Gros der Literatur über die friedliche Revolution sich mit der DDR - Opposition befasst, die „Werktätigen“ aber kaum in den Blick nimmt. Dabei entsprach der Anteil der Arbeiter und Angestellten an den Leipziger Montagsdemonstrationen dem der Beschäftigten in der DDR überhaupt.20 Auch Martin Jander und Klaus Schroeder haben darauf hingewiesen, dass es an Untersuchungen mangelt, die „auf historisch ausgewogene Differenzierung etwa der Wirkung der Oppositionellen und ihrer Verankerung in der Bevölkerung“ gerichtet sind.21 Wie schon vorher Uta Stolles Untersuchung für die Nordbezirke versteht sich auch die vorliegende Arbeit als Beitrag dazu, „die Geschichte möglichst der ganzen Opposition und des sich aus ihr entwickelnden Bürgeraufstandes zu erzählen und sie nicht auf die Intellektuellenbewegungen, die ‚Bürgerbewegungen‘, zu verkürzen“.22 Aus der Fixierung der bisherigen wissenschaftlichen und populären Literatur auf die Bürgerbewegungen schließt Mark R. Thompson, dass die Revolution „fundamental missverstanden“ werde. Tatsächlich hätten die Bürgerbewegungen von Anfang an nicht mit der „Dynamik der Massenbewegung“ Schritt halten können.23 16 Behrens, Bibliografie, S. 927. 17 Zu Leipzig liegen mit Abstand die meisten Veröffentlichungen vor. Vgl. Literatur verzeichnis. Ansonsten u. a. Protokolle eines Umbruchs ( Aue ); Gruhn, Die demokratische Revolution im Kreis Borna; Meusel, Wunde Punkte – Wendepunkte ( Crimmitschau / Werdau ); Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20; Urich, Die Bürgerbewegung in Dresden; Lehmann, Die Volkspolizei ( Dresden ); Baumann, Die Stadt Görlitz; Großenhain im Aufbruch; Kretschmer, Hoyerswerda; Reum / Geißler, Auferstanden aus Ruinen; Horsch, Hat nicht wenigstens ( Karl - Marx - Stadt ); Schnurrbusch, Herbst 1989 ( Limbach-Oberfrohna ); Tiessler, Systemtransformation; Burkhardt, Politik und Alltag in Meißen; Versuche in der Wahrheit zu leben ( Region Oberlausitz ); Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz; Küttler, Die Wende in Plauen; Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk (Plauen); Dokumentation der Wende 1989/90 in Radebeul; Krause, Wittichenau; Schlegelmilch, Die politische Wende in der DDR am Beispiel der sächsischen Stadt Wurzen. Einen DDR - weiten Überblick über Regionalstudien geben Heydemann / Mai / Müller, Revolution und Transformation, S. 653–657 und Eckert, Antitotalitärer Widerstand, S. 76–84. 18 Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. 19 Gehrke / Hürtgen ( Hg.), Der betriebliche Aufbruch. Zum Forschungsstand siehe S. 535, Fußnote 180. 20 Vgl. ebd., S. 216. 21 Martin Jander / Klaus Schoeder, Verspätete Liebe zu seltenen deutschen Helden. In : FAZ vom 19. 8. 1996. 22 Stolle, Der Aufstand, S. 14. 23 Thompson, Die „Wende“, S. 16.

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Quantitative Analyse: Bei der Bewertung der Aktionen und Ziele der demonstrierenden Bevölkerung wurde auf Methoden quantitativer Analyse zurückgegriffen. Dank der Unterstützung der Thyssen - Stiftung konnten im Rahmen des Gesamtprojektes über die friedliche Revolution in Sachsen durch studentische Hilfskräfte Daten quantitativ erfasst werden. Die in Kooperation mit Walter Heidenreich erfolgte Datenauswertung ergänzt die Textdarstellung. Sie ist nicht als unabhängige Erhebung konzipiert. Da sie aber eine Fülle zusätzlicher Analysemöglichkeiten liefert, die den Anspruch zeitgeschichtlicher Darstellung sprengen, wird die statistische Auswertung als eine eigene Publikation im Internet angeboten.24 In ihr sind mehrere Tausend Daten von Ereignissen und Parolen / Sprechchören erfasst. Wer sich darüber informieren will, welche Parolen gerufen oder gezeigt wurden, wird hier fündig. Sie basieren auf denselben Quellen wie die Textdarstellung. Diese lassen sich für die jeweiligen Zeitabschnitte in den Kapiteln / Abschnitten über das Protestgeschehen anhand der Fußnoten verifizieren. Es handelt sich vor allem um Berichte der Kreisämter der Volkspolizei, der Kreisdienststellen des MfS / der Kreisämter des Amt für Nationale Sicherheit, Berichte von SED - Kreisleitungen und von Räten aller Ebenen. Zugrunde liegen auch Zusammenfassungen der Staats - und Parteiapparate auf Bezirks - bzw. Republikebene und andere Quellen. Ausgewertet wurden auch statistische Erhebungen von Uwe Schwabe,25 der sich hinsichtlich der Veranstaltungen auf eine ähnlich breite Sammlung an Daten stützt. Gänzlich neu ist dagegen die quantitative Erfassung von Parolen, Losungen und Sprechchören. Dabei wurden die auf Demonstrationen und Kundgebungen geäußerten Willensbekundungen quantitativ erhoben und statistisch ausgewertet. Dazu erfassten studentische Hilfskräfte alle Rufe und Losungen thematisch sowie nach Veranstaltungsart, Zeit und Ort. Zu einem Zeitpunkt, als politische Programme noch fehlten und zu strafrechtlicher Verfolgung hätten führen können, waren diese adäquater Ausdruck des politischen Willens der entsprechenden Bevölkerungsteile. Die Willensbekundungen und Meinungsäußerungen wurden kategorisiert. Sie geben Auskunft über die sich mit dem Zeitverlauf ändernde Stimmungslage in verschiedenen Regionen. Die im Text verwendeten Diagramme basieren auf demselben Quellenmaterial und sind weitgehend mit denen in der Internetpublikation identisch. Diese bietet allerdings wesentlich mehr Auswertungen an und nimmt genauere Bewertungen vor. Sie sollte zur Ergänzung des Bandes herangezogen werden.

24 Heidenreich / Richter, Parolen und Ereignisse. In : www.hait.tu - dresden.de. 25 Vgl. Schwabe, Der Herbst ’89 in Zahlen, S. 719–735.

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II. Finale Krise des SED - Regimes 1.

Vor den „Kommunalwahlen“ im Mai 1989

1.1

Internationale Entwicklung

Aus der UdSSR kamen Mitte der achtziger Jahre Zeichen, die Verbesserungen in den internationalen Beziehungen ankündigten. Noch vor der Wahl Michail S. Gorbatschows vereinbarten die Außenminister der UdSSR und der USA, Gromyko und Shultz, Anfang des Jahres 1985 eine Wiederaufnahme der Genfer INF - Verhandlungen, erweitert um die SDI - Problematik und um die Abrüstungen im Rahmen der START - Verhandlungen. Die damit begonnene Ost - WestEntspannung wurde zu einer wesentlichen Grundlage für den Veränderungsprozess im sowjetischen Imperium. So war die internationale Politik bereits in Bewegung, als Gorbatschow im März 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde. Für ihn war die katastrophale wirtschaftliche Situation der UdSSR der Grund, Reformen einzuleiten. Bald nach seinem Machtantritt wurde die Politik der „Perestroika“ praktiziert, um so das kommunistisch - diktatorische System flexibler zu machen. Das Ziel der Perestroika - Politik lässt sich als eine „konstitutionelle kommunistische Parteiherrschaft“ beschreiben, die auf einem „gelockerten partei - und staatspolitischen Monopol der kommunistischen Partei und der Vorherrschaft des Staatseigentums an Produktionsmitteln gründen“ und von begrenzten Elementen eines gesellschaftlichen Pluralismus, von Meinungsvielfalt, Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftlichen Elementen umrahmt werden sollte.1 Da eine Reform der Wirtschaft ohne politische Veränderungen kaum realistisch schien, ergänzte er die Perestroika um Glasnost. Beides wurde 1987 im Programm der „radikalen Umgestaltung der Wirtschaftsleitung“ zusammengefasst. Auch hierbei ging es ihm nicht um die Schaffung freiheitlich - demokratischer Verhältnisse, sondern um eine Reform des Sozialismus. Gorbatschow war fest davon überzeugt, dass Veränderungen im Rahmen des Systems möglich seien und befürchtete, die kommunistische Partei könnte ohne Neuerungen die Macht verlieren.2 Es sah nicht, dass die Reformentwicklung zwangsläufig zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems führen würde.3 Bald setzte sich der neue Kurs auch in der Außenpolitik durch. Auf dem ZK - Plenum der KPdSU im April 1985 trat Gorbatschow für eine Beendigung des Wettrüstens und nicht näher definierte „zivilisierte zwischenstaatliche Beziehungen“ ein, die auf der „wahren Achtung der Normen des Völkerrechts“ beruhen sollten. Unmittelbar danach begann die sowjetische Führung mit der Ausarbeitung eines neuen 1 2 3

Jahn, Der Umbruch in Osteuropa, S. 24. Vgl. Gorbatschow, Perestroika, S. 207. Vgl. Hacke, Deutschland und die neue Weltordnung, S. 9; Henry Kissinger, Gorbatschows Machtbasis ist brüchig. In : Welt am Sonntag vom 17. 7.1990.

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außenpolitischen Konzeptes, durch welches das „neue Denken“ in der Außenpolitik programmatisch abgesteckt wurde.4 Für die Entwicklung des Ostblocks war vor allem die schrittweise Aufgabe der „Breschnew - Doktrin“ von Bedeutung. Das Wissen, dass die Sowjetarmee im Falle einer Demokratisierung nicht mehr in die inneren Belange der Ostblockstaaten eingreifen würde, war eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg national - demokratischer Umwälzungen in den mittel - , ost - und südosteuropäischen Staaten. Nach seinem ersten Treffen mit dem US - Präsidenten am 21. November 1985 in Genf bekräftigte Gorbatschow offiziell, jedes Volk außerhalb der UdSSR habe das Recht „der Wahl des Systems, der Methoden, der Formen und der Freunde“. Er erklärte wiederholt, jede Partei - und Staatsführung solle selbst entscheiden, ob sie sich der Perestroika anschließen wolle und sei vor ihrem Volk selbst verantwortlich.5 Trotz solcher Erklärungen blieb seine Haltung ambivalent und zeigte, wie sehr er alten Denkschablonen verhaftet war.6 Ohne Berücksichtigung innerer Widersprüche lässt sich die sowjetische Haltung nicht adäquat erfassen. Sie waren Zeichen des Aufbruchs in eine ungewisse Zukunft aus einem Zustand, den es aus unabweisbaren Zwängen heraus zu überwinden galt. So erklärte Gorbatschow beispielsweise weiterhin, was einmal sowjetisch war, müsse immer sowjetisch bleiben.7 Seine Rede auf dem 10. Parteitag der PVAP im Juni 1986 machte deutlich, dass er auch die Breschnew - Doktrin nur teilweise aufgab. So betonte er, eine Abkehr vom Sozialismus und von der „sozialistischen Gemeinschaft“ würde bedeuten, „nicht nur gegen den Willen des Volkes, sondern auch gegen die gesamte Nachkriegsordnung und in der Endkonsequenz gegen den Frieden Sturm zu laufen“.8 Offenbar ging Gorbatschow irrigerweise davon aus, die bisherigen Zwangsverbündeten würden der UdSSR auch freiwillig treu bleiben. Mit der von ihr postulierten „Einheit in der Vielfalt“ forderte die sowjetische Führung außenpolitischen Gehorsam im Rahmen des Warschauer Paktes und räumte nur die Unabhängigkeit in der inneren Entwicklung der Ostblockstaaten ein. Bei diesem Vorgehen spielte die schon vor Gorbatschow eingeleitete „Ökonomisierung der Außenpolitik“ der UdSSR eine entscheidende Rolle. Die Sowjetführung war nicht mehr willens und in der Lage, die Stabilität des sozialistischen Lagers mit eigenen finanziellen Opfern zu erkaufen. Die Außenpolitik sollte künftig Geld bringen, keine Kosten verursachen. Daher ver wies die UdSSR alle RGW - Staaten auf die Mobilisierung eigener Ressourcen und hob die Preise für Energie und Rohstoffe schrittweise auf Weltmarktniveau an. Die Folge war eine Zuspitzung der Probleme in den Ostblockstaaten.9 Auch für die 4 5 6 7 8 9

Vgl. Sagladin, Und jetzt Weltinnenpolitik, S. 51 f.; Schulz, Das „neue politische Denken“. Michail S. Gorbatschow. Zit. in FAZ vom 24. 8.1992. Vgl. Meissner, Das „neue Denken“ Gorbatschows, S. 54. Vgl. Stürmer, Weltpolitische Aspekte, S. 122. Zit. bei Meissner, Das „neue Denken“ Gorbatschows, S. 67. Vgl. Wettig, Herausforderungen, S. 40.

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DDR brachte dies erhebliche Probleme mit sich.10 Die Erdölpreise stiegen um das Mehrfache, und die Lieferungen aus der UdSSR verringerten sich jährlich. Dadurch mussten große Mengen von Konsumgütern und Ausrüstungen zusätzlich für den Export zur Verfügung gestellt werden. Da immer mehr Mittel zur Deckung steigender Rohstoffpreise aufzubringen waren, konnten sie nicht bei der Modernisierung der Industrie eingesetzt werden. Im Bereich des Konsums wären bereits Anfang der achtziger Jahre drastische Kürzungen in einem Maß nötig gewesen, die „mit Sicherheit zu sozialen Unruhen“ geführt hätten. Trotz des sich bereits seit 1981 andeutenden ökonomischen Kollapses schied deshalb eine Senkung des Lebensstandards nach Meinung der SED - Führung aus.11 Zwar war Wirtschaftsfunktionären wie Günter Mittag und Alexander Schalck Golodkowski nach eigenem Bekunden klar, dass sie „mit der Zahlungsunfähigkeit auch die Unregierbarkeit der DDR erreichen würden“ und „dass diese Politik in den Ruin führen musste“,12 dennoch steuerten sie sehenden Auges in den wirtschaftlichen Abgrund. Ökonomisch glich die Situation der anderer Ostblockstaaten. Ohne Vorteile durch die Bindung an die UdSSR waren diese nicht mehr bereit, sowjetischen Vorstellungen in politischen Fragen zu folgen. Im Unterschied zur SED - Führung, die ihre Unabhängigkeit von der UdSSR durch ideologischen Dogmatismus demonstrierte, nutzten Staaten wie Ungarn und Polen die Situation zur Demokratisierung und zur Befreiung von der jahrzehntelangen „russischen“ Besetzung, hatten sie doch Sozialismus nicht nur als ideologisches, sondern zugleich als „russisches Beherrschungssystem“ erfahren.13 Während die anderen Länder des Ostblocks Perestroika und Glasnost als durch die innere Schwäche erzwungene Rücknahme des imperialen Herrschaftsanspruchs Russlands interpretierten und mit dem Abrücken vom Weg des „realen Sozialismus“ zugleich zum Scheitern der „russischen Idee“ beitrugen,14 musste die SED - Führung an einem fortgesetzten militärischen Engagement interessiert sein, weil nur so ihre Diktatur in Form der DDR - Staatlichkeit überleben konnte. Zur deren Stabilisierung versuchte die SED - Führung, der DDR eine neue „nationale Identität“ zu verschaffen, die sich nicht direkt aus der Ideologie ableitete. Plötzlich war die Rede von preußischen, sächsischen und anderen Landestraditionen. Da der Vasallenstaat aber weder mit Preußen noch mit Sachsen etwas zu tun hatte, sondern sich ideologisch aus dem Marxismus / Leninismus und machtpolitisch aus dem Zuspruch der UdSSR herleitete, war der Versuch, den Menschen eine Parole wie „DDR – Mein Vaterland !“ einzureden, zum Scheitern verurteilt. Anders als alle übrigen Ostblockstaaten fußte die DDR auf ihrer ideologi10 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 17.1.1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2312). 11 Mittag, Um jeden Preis, S. 31 f. und 39. Vgl. Interview mit Günter Mittag. In : Der Spiegel vom 9. 9.1991. 12 Interview mit Alexander Schalck - Golodkowski. In : Bahrmann / Fritsch, Sumpf, S. 50 f. 13 Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S. 17. 14 Hans - Heinrich Nolte, Wir haben der Welt nichts gegeben. Die Einsamkeit Rußlands und das Scheitern der ‚russischen Idee‘. In : FAZ vom 20. 2.1993.

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schen Legitimation, deren Kern die klassenkämpferische Auseinandersetzung mit der westlichen Gesellschaftsform war. Da die DDR nicht in eine ideologiefreie Nationalstaatlichkeit entlassen werden konnte wie Polen oder Ungarn, stand sie in der Phase der Aufhebung der Blöcke und der Annäherung von Ost und West zunehmend zur Disposition. Dies wurde frühzeitig von der US - Regierung erkannt. Beim Besuch in der Bundesrepublik erklärte US - Präsident Ronald Reagan im Mai 1985, die deutsche Einheit sei eng mit der Frage der Demokratie verknüpft. Deutschland und Europa seien geteilt, weil ein Teil unfrei sei. In Berlin bekräftigte Verteidigungsminister Caspar Weinberger zur gleichen Zeit, die USA würden in Berlin bleiben, bis die „Unnatürlichkeit der Teilung“ aufgehoben und Berlin in einer demokratischen Ordnung wiedervereinigt sei. Auch die sowjetische Führung sah den Konflikt zwischen ihrem Konzept eines „europäischen Hauses“ und der ungelösten deutschen Frage, konnte ihn aber nicht lösen, ohne die DDR als Verbündeten in Frage zu stellen. Obwohl die UdSSR keinen Zweifel an ihrem Willen aufkommen ließ, die DDR als Staat zu erhalten und im „europäischen Haus“ einen wichtigen Platz für sie vorsah, wurde die Situation dadurch nicht leichter, dass sich die DDR - Führung gegen die sowjetische Europapolitik stemmte. Honecker wusste um die Gefahr, die von der internationalen Entwicklung ausging und nutzte die neugewonnene Entscheidungsfreiheit, um sich schrittweise abzukoppeln. Er stand dem Kurs Gorbatschows bereits seit dessen Wahl ablehnend gegenüber, setzte sich in der SEDFührung massiv gegen die Durchführung adäquater Reformen ein15 und wurde dabei vom Politbüro unterstützt. Hier begrüßte man zwar verbal die Perestroika, „tatsächlich aber arbeitete man dagegen“.16 Anders als in der UdSSR, in Polen oder Ungarn gab es keine internen Auseinandersetzungen zwischen „Falken“ und „Tauben“. Reformer waren weit und breit nicht in Sicht. Honecker selbst stellte Glasnost und Perestroika als Abkehr vom Marxismus dar.17 Er verwies gern auf den höheren Lebensstandard und die angeblich bessere Wirtschaftslage. Vor diesem Hintergrund nannte er z. B. die Frage Gorbatschows auf dem 11. SED - Parteitag im April 1986 anmaßend, ob die SED nicht auch eine sozial - ökonomische Beschleunigung plane. Er konterte mit dem auch unter der sowjetischen Bevölkerung verbreiteten Argument, dass sich die Lage in der UdSSR seit dem Beginn der Perestroika weiter verschlechtert habe.18 Die Haltung der SED - Führung konnte den Eindruck erwecken, als verfüge man hier über alternative Entwicklungsmodelle. Tatsächlich war seit 1985 auch hier angesichts der nicht mehr lösbaren ökonomischen und finanziellen Probleme eine wirkliche Gesellschaftskonzeption nicht mehr erkennbar. Sie reagierte weder 15 Vgl. Interview mit Wolfgang Herger. In : Villain, Die Revolution, S. 123. 16 Interview mit Wolfgang Schwanitz. In : ebd., S. 132. Vgl. Siegfried Lorenz und Egon Krenz im Januar 1990. Zit. in Der Spiegel vom 14. 9.1992. 17 Vgl. Egon Krenz über seine Vergangenheit und Zukunft. In : Informationen des BMB 1 vom 12.1.1990, S. 6. 18 Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 34.

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auf die internationale Entwicklung noch auf innenpolitische Probleme : „Es wurde mehr Energie in den Politbürositzungen aufgewendet, um über die ‚Fehler Gorbatschows‘ zu sprechen, als über unsere eigenen Aufgaben.“19 Agonie machte sich breit. Bereits 1986 informierte SED - Politbüromitglied Werner Krolikowski den sowjetischen Botschafter Kotschemassow darüber, dass die Situation in der SED - Führung „unerträglich“ geworden sei. Es gebe einen totalen Dogmatismus, keinerlei Diskussionen, eine ins Absurde getriebene Zentralisierung und eine völlig unglaubwürdige Informationspolitik. In seinen letzten Amtsjahren, so Kotschemassow, verlor Honecker den Bezug zur Realität und wurde für die sowjetische Führung unkontrollierbar. „Schmeichelei und Unter würfigkeit bestimmten die Atmosphäre.“20 Korruption und Amtsmissbrauch waren die Regel.21 Im Herbst 1986 kam es zum fast vollständigen Bruch zwischen Honecker und Gorbatschow. Bei Gorbatschow verwahrte sich Honecker gegen Äußerungen des sowjetischen Schriftstellers Jewgenij Jewtuschenkow, der im Westfernsehen von einer einheitlichen deutschen Literatur gesprochen hatte. Für ihn sei es wichtig, „an einer und nicht an zwei Fronten kämpfen zu müssen“.22 Die UdSSR, welche die DDR ökonomisch am Leben hielt, war ihrerseits verärgert darüber, dass sich Honecker mit Wirtschaftserfolgen brüstete und jeder Diskussion über die katastrophale Verschuldung der DDR auswich.23 Am 11./12. Oktober 1986 trafen sich Reagan und Gorbatschow in Reykjavík. Das Treffen brachte Bewegung in die Ost - West - Beziehungen. Gorbatschow bot hier zunächst an, die meisten Interkontinentalraketen abzuschaffen, falls der US - Präsident das SDI - Programm aufgebe. Da Reagan dies ablehnte und sich die UdSSR nicht mehr in der Lage sah, dem technisch anspruchsvollen militärischen Weltraumprogramm etwas Ebenbürtiges entgegenzustellen, sah sie sich zu weitergehenden Abrüstungsschritten genötigt. Es wurde vereinbart, die strategischen Offensivwaffen innerhalb der nächsten fünf Jahre um die Hälfte zu reduzieren und sie später restlos abzuschaffen. Zugleich beschlossen beide Seiten die Beseitigung der Nuklearraketen mittlerer Reichweite in Europa und die Begrenzung sowjetischer Raketen desselben Typs in Asien auf höchstens hundert Sprengköpfe.24 Dieser, sechs Monate später bestätigte und im Dezember 1987 offiziell beschlossene, Abbau der Mittelstreckenraketen führte zu einer radikalen Spannungsabsenkung im System des Ost - West - Konflikts. Da die Mittelstreckenraketen das modernste und wichtigste Waffensystem im Arsenal der 19 Egon Krenz an Erich Honecker. Zit. in Der Spiegel vom 4. 2.1991. 20 Interview mit Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Der Spiegel vom 16.11.1992. Statt von Realitätsverlust spricht Günter Schabowski von Realitätsverdrängung. Zit. in FAZ vom 29.1.1993. 21 Lothar Reuter, stellvertretender DDR - Generalstaatsanwalt, meint, Mittag habe „über das Geld des Staates wie ein Fürst verfügt“. In : Informationen des BMB 7 vom 12. 4.1990, S. 3. Vgl. Neues Deutschland vom 2./3.12.1989. 22 Zit. in Daniel Küchenmeister, Bruchstelle Deutschlandpolitik. In : Neues Deutschland vom 18.12.1992. 23 Vgl. Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989. Zit. in Hertle, Staatsbankrott, S. 1027. 24 Vgl. Sagladin, Und jetzt Weltinnenpolitik, S. 130 f.

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erweiterten Abschreckung bildeten, wurde die Konfrontation der Blöcke und die „Struktur des Antagonismus“ damit an entscheidender Stelle durchbrochen.25 Konflikte sollten künftig auch in Spannungsperioden vorrangig mit politischen statt mit militärischen Mitteln gelöst werden. Der Schwerpunkt der systemerhaltenden Maßnahmen verlagerte sich auf die Ebene unterhalb eines Krieges. Unter diesem Gesichtspunkt können die gescheiterten Verhandlungen von Reykjavík durchaus als Anfang vom Ende des Kalten Krieges angesehen werden.26 Ungeklärt blieb jedoch weiterhin der künftige Umgang mit dem geteilten Deutschland. Ende 1986 wurde im sowjetischen Außenministerium eine schon unter Andropow gebildete Arbeitsgruppe zu Problemen der deutschen Frage institutionalisiert, die begann, „theoretisch über diese Frage nachzudenken“.27 Die Gruppe, der Eduard Schewardnadse, Wjatscheslaw Daschitschew, Alexander Jakowlew, Valentin Falin, Nikolai Portugalow, Vadim Sagladin, Anatoli S. Tschernjajew und andere Deutschlandexperten angehörten, schätzte die deutsche Teilung als wichtigstes europäisches Problem nach der Abrüstung und als die entscheidende Herausforderung ein, die den Bau eines „europäischen Hauses“ unter Einfluss der UdSSR am meisten behinderte. Drei unterschiedliche Denkschulen stritten sich nun und legten Gorbatschow Lösungsmodelle vor.28 Schewardnadse selbst kam nach eigenem Bekunden bereits 1986 zu der Überzeugung, die deutsche Zweistaatlichkeit müsse ein Ende haben und die deutsche Frage werde in den nächsten Jahren „zum wichtigsten, für Europa ausschlaggebenden Problem aufrücken“.29 Angeblich war er seit damals „von der Unvermeidbarkeit der deutschen Vereinigung überzeugt“. Gorbatschow und er beschlossen demnach, „diesen Prozess nicht zu stören“, sich „nicht einzumischen“.30 Die Tatsache, dass weder Gorbatschow noch er damals und in den folgenden Jahren diese Position offen vertraten, erklärte er damit, dass es damals „noch so gut wie unmöglich“ war, davon zu sprechen : „Die ganze Regierung und die Parteiführung waren dagegen.“ Auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war es demnach in der UdSSR nahezu unmöglich, die deutsche Teilung in Frage zu stellen. In der sowjetischen Bevölkerung war noch immer „die Überzeugung verwurzelt, die Existenz der beiden deutschen Staaten garantiere zuverlässig die Sicherheit unseres Landes“.31 Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr klären, ob und inwieweit Gorbatschow und Schewardnadse von vornherein die Möglichkeit der deutschen Einheit in Betracht zogen. Tatsächlich betrieben sie eine Politik, in der sich Erklärungen zugunsten der Zweistaatlichkeit und Schritte, die später Grundlage für die deutsche Einheit wurden, die Waage hiel25 Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S. 17 f. 26 So Horst Rademacher, Feuersäulen im Tal der Pilze. SDI und das Ende des Kalten Krieges. In : FAZ vom 30. 4.1993. 27 Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Der Spiegel vom 13. 4.1992. 28 Vgl. zu den Denkschulen Oldenburg, Moskau und die Wiedervereinigung, S. 7–11. 29 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 233. 30 Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Der Stern vom 11. 4.1991. 31 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 234.

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ten. Unter dem Druck der Entwicklung setzten sie die Einheit später gegen Widerstände im eigenen Lande durch und förderten seit ihrem Machtantritt nicht nur Befür worter der deutschen Zweistaatlichkeit, sondern verschafften auch dem entschiedenen Reformanhänger und Deutschlandexperten, dem Abteilungsleiter im Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems, Wjatscheslaw Daschitschew, Einfluss. Dieser sprach sich offen für die deutsche Vereinigung aus und nannte den Widerspruch zwischen dem Konzept des „europäischen Hauses“ und der Teilung Deutschlands die eigentliche Quelle der Konfrontation mit dem Westen. Im April 1987 wurde er zum Vorsitzenden des wissenschaftlich - konsultativen Beirats beim Amt „Sozialistische Länder Europas“ im Außenministerium ernannt. Am 27. November 1987 schlug er vor, Deutschland auf neutraler Grundlage wiederzuvereinigen. Die DDR, so erklärte er, habe den Wettbewerb mit der Bundesrepublik verloren, und ihre Fortexistenz werde sich negativ auf die UdSSR auswirken. Die deutsche Teilung stelle eine Barriere auf dem Weg zur Beseitigung der Ost - West - Konfrontation dar. In Bezug auf die DDR, in der beunruhigende soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklungen heranreiften, sei es falsch, nur auf Honecker zu setzen.32 Die Reaktion der Teilnehmer auf das von Daschitschew vorgelegte Papier33 war fast durchweg „extrem negativ“ und führte Gorbatschow und Schewardnadse noch einmal die Möglichkeiten und Kräfteverhältnisse innerhalb der sowjetischen Führung vor Augen. Anders als für Daschitschew war für die meisten Experten die deutsche Teilung als Ausdruck des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ endgültig. Die Deutschlandpolitik wurde in den folgenden Jahren weiter von „eifrigen Verfechtern des Status quo“34 wie dem langjährigen Chef des Amtes für Zentraleuropa, Alexander P. Bondarenko, oder dem im Oktober 1988 zum Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen im ZK der KPdSU ernannten Valentin Falin bestimmt. Dieser befürwortete zwar die Zweistaatlichkeit, hielt aber Reformen innerhalb des sozialistischen Systems auch in der DDR für unumgänglich. In diesem Zusammenhang sind wohl auch Versuche zu sehen, in der DDR eine personelle, reformorientierte Alternative zu schaffen. Anfang 1987 traf sich Markus Wolf mit dem damals noch stellvertretenden KGBChef Wladimir A. Krjutschkow in Moskau. Im Sommer besuchte dieser die DDR und lernte Hans Modrow kennen.35 Schon Ende 1986 soll Wolf versucht haben, Verteidigungsminister Friedrich Keßler für „eine Fronde gegen Honecker“36 zu gewinnen. In dieser Zeit schied Wolf auch „auf eigenen Wunsch“ aus seinem Amt als Leiter der Hauptabteilung Aufklärung des MfS aus. Seit dieser 32 Vgl. Daschitschew, Die sowjetische Deutschlandpolitik, S. 55 und 58. 33 Referat von Wjatscheslaw Daschitschew am 27.11.1987 im Amt für sozialistische Länder Europas des sowjetischen Außenministeriums. In : APuZG, (1994) B 14, S. 39–46. 34 Vgl. Daschitschew, Aus den Anfängen, S. 37 f. 35 Pierre de Villemarest schreibt Wolf in diesem Zusammenhang eine federführende Rolle zu und behauptet, Wolf habe von der sowjetischen Führung den Auftrag erhalten, Honecker zu stürzen. Villemarest, Le coup d’état de Markus Wolf. Zit. bei Reichenbach, Chef der Spione, S. 190 f. 36 Oldenburg, Sowjetische Deutschland - Politik, S. 69.

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Zeit erschienen in der Bundesrepublik erste Beiträge über den Reformer Modrow als einen Gegner Honeckers. Modrow wurde als ein „Gesinnungszwilling Gorbatschows aufgebaut“. Nach Meinung Schabowskis rechnete sich Wolf seit damals Chancen aus, die Nachfolge Honeckers nach dessen Tod anzutreten.37 Einfluss auf die Politik gewannen die Reformkommunisten nicht. Die Mehrheit im Politbüro und im ZK der SED stützte die systemkonservative Linie Honeckers. Am 8. April 1987 erklärte Kurt Hager auf eine Frage nach der sowjetischen Reformpolitik, wenn der Nachbar seine Wohnung neu tapeziere, sei dies kein Grund, selbst die Tapeten zu wechseln.38 Ungeachtet der unklaren deutschen Frage erkannten Politiker im Westen zunehmend die Möglichkeiten, die sich aus der sowjetischen Reformpolitik für eine Entspannung in Europa ergaben. Im Februar 1987 sprach Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher von einem „window of opportunity“. Er plädierte gegen zahlreiche Widerstände seiner westlichen Amtskollegen für eine gemeinsame westliche Strategie, die sowjetische Politik beim Wort zu nehmen und mit Initiativen zu beantworten. Er kritisierte die Zurückhaltung der US Regierung und bezeichnete es als einen Fehler von historischem Ausmaß, die Chance, eine Wende in der Ost - West - Konfrontation einzuleiten, nicht zu nutzen, nur weil man im Westen nicht von alten Denkgewohnheiten loskomme.39 Aus amerikanischer Sicht ließ sich die Situation in Europa jedoch nicht ohne die Lösung der deutschen Frage klären. Im Juni 1987 forderte Reagan vor dem Brandenburger Tor : „Mr. Gorbachev, open this gate ! Mr. Gorbachev, tear down this wall !“ Angesichts der innenpolitischen Zwänge setzte sich Gorbatschow jedoch weiterhin für die Zweistaatlichkeit ein. Gegenüber Bundespräsident von Weizsäcker forderte er im Juli 1987 die Anerkennung der Realität zweier deutscher Staaten, fügte allerdings hinzu, was im nächsten Jahrhundert sein werde, entscheide die Geschichte.40 Im Westen wurde die Bedeutung der neuen sowjetischen Politik inzwischen immer mehr erkannt und durch praktische Abrüstungsschritte unterstützt. Sie zielten darauf, Gorbatschow innenpolitisch den Rücken zu stärken. Dem diente auch das zweite Gipfeltreffen Gorbatschows mit Reagan in Washington im Dezember 1987. Es führte zur Unterzeichnung des INF - Vertrages über die Beseitigung der sowjetischen und amerikanischen Nuklearraketen mittlerer und kürzerer Reichweite sowie zu Vereinbarungen über die Intensivierung der Verhandlungen.41 Ende 1987 begann Honecker die Politik der Perestroika im engeren Kreis offen zu kritisieren. Er meinte, der Kurs gefährde die Existenz des Ostblocks und die kommunistische Herrschaft. Gorbatschow sei ein Dilettant und ruiniere

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Günter Schabowski, Vor fünf Jahren barst die Mauer. In : FAZ vom 8.11.1994. Kurt Hager. Zit. in Der Stern vom 9. 4.1987. Zit. bei Fritsch - Bournazel, Europa und die deutsche Einheit, S. 47. Vgl. Gorbatschow, Perestroika, S. 259–261. Vgl. Sagladin, Und jetzt Weltinnenpolitik, S. 132; Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S. 18.

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den Sozialismus.42 Da man die Reformen in der UdSSR nicht verhindern konnte, betrieb man eine Politik wachsender Distanzierung. Der Wunsch, eine unveränderte DDR als Insel in einem sich wandelnden Europa zu erhalten, stand freilich im Widerspruch zur sowjetischen Europapolitik. Die SED - Führung befand sich in einem Dilemma. Auch eine stärkere Orientierung am Kurs Gorbatschows hätte angesichts der spezifischen Situation im geteilten Deutschland das Überleben des Mauerstaates nicht unbedingt gesichert. Die SED - Diktatur war ebenso wenig reformierbar wie das sowjetische Vorbild. Beim Versuch, die Flucht nach vorn anzutreten, wäre das marode System möglicher weise noch eher zusammengebrochen.43 Anders als in den sozialistischen Nachbarstaaten stand mit der Beseitigung der Diktatur in der DDR die Existenz des Staates zur Disposition. In dieser Situation entschied sich die SED - Führung für den Erhalt der Diktatur. Nach dem Plenum der KPdSU im Januar 1988, bei dem offen über eine Demokratisierung des Sozialismus in der Sowjetunion diskutiert wurde, setzte in den Reihen der SED „eine regelrechte Anti - Gorbatschow- Kampagne“ ein.44 Politische Gespräche mit Moskauer Emmissären, wie Außenminister Schewardnadse oder den einflussreichen ZK - Sekretären Jakowlew und Medwedjew, wurden seitens der SED - Führung nur widerwillig geführt. Eine tatsächliche Diskussion fand nicht statt. Honecker rechnete im Frühjahr 1988 mit dem Sturz des sowjetischen Generalsekretärs durch restaurative Parteikreise, die mit dem Reformkurs Gorbatschows nicht einverstanden waren. Über Gespräche mit Vertretern dieser Kreise suchte er politische Übereinstimmung herzustellen.45 Bei Ligatschow, Gromyko, aber auch beim sowjetischen Botschafter in Ost - Berlin, Kotschemassow, fand er Zustimmung.46 Gorbatschow nutzte indessen jede Gelegenheit, die Unabhängigkeit der Ostblockstaaten in Fragen der inneren Entwicklung zu betonen. Bei einem Besuch in Belgrad Mitte März 1988 hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, man habe nicht die Absicht, irgendjemandem Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung aufzuzwingen.47 Diese Auffassung wurde auch in den „zehn Thesen“ des ZK der KPdSU vom Mai 1988 und auf der 19. Unionskonferenz der KPdSU bestätigt.48 Im Bereich der Deutschlandpolitik legte Daschitschew dem Außenminister im April 1988 eine Denkschrift zur Übertragung des „neuen Denkens“ auf die Deutschlandpolitik vor, die von der „Literaturnaja Gaseta“ veröffentlicht wurde. Gorbatschow folgte indes weiterhin Falins Kurs einer Beibehaltung der Teilung Deutschlands mit einer reformierten DDR, betonte jedoch erneut die Entschei42 Vgl. Inter view mit Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Der Spiegel vom 16.11.1992; Oldenburg, Vom realen Sozialismus, S. 37 f.; Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 630 f. 43 So Jesse, Der innenpolitische Weg, S. 136. 44 Reißig, Der Umbruch in der DDR, S. 19. 45 Vgl. Kaiser, Zwischen angestrebter Eigenständigkeit, S. 490. 46 So Leonid Potschiwalow. In : Berliner Zeitung vom 31. 7.1991. 47 Vgl. Jens Hacker, Das unaufhaltsame Ende der DDR. In : FAZ vom 26. 9.1990. 48 Vgl. Prawda vom 27. 5.1988.

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dungsfreiheit der Staaten. Gestärkt wurde er durch den Besuch Reagans in Moskau, bei dem dieser im Juni 1988 mit Gorbatschow Arm in Arm auftrat. Die Visite signalisierte eine weitere Verbesserung der Beziehungen. Angesichts solcher Bilder verlor die These von einer Bedrohung durch den „Weltimperialismus“ immer mehr an Glaubwürdigkeit.49 Außenminister Schewardnadse schloss im Folgemonat eine künftige Interpretation der „friedlichen Koexistenz“ im Sinne des „internationalen Klassenkampfes“ aus.50 Im Oktober 1988 besuchte Bundeskanzler Kohl Moskau. Nach dem Besuch Schewardnadses im Januar 1988 in Bonn signalisierte die sowjetische Führung dabei erneut die Bereitschaft, ihre Beziehungen zur Bundesrepublik zu entwickeln. Genscher nutzte die Gelegenheit, Schewardnadse vor Instabilität und Aufruhr in der DDR zu warnen, falls die SED - Führung weiterhin Reformen verweigere.51 Im Vorfeld des Besuches verbesserte sich die Berichterstattung in den sowjetischen Medien. Am Vorabend wurde in der deutschsprachigen „Sowjetunion heute“ eine Abhandlung Potschiwalows nachgedruckt, in der zugegeben wurde, dass die deutsche Nation unabhängig von ihrer staatlichen Teilung eine Einheit bilde.52 Noch immer bedeutete dies keine Änderung der Deutschlandpolitik im Sinne Daschitschews. Das wurde angesichts der zähen Verhandlungen um die Einbeziehung West - Berlins in die geschlossenen Abkommen sowie in den Ausführungen der sowjetischen Regierung zur deutschen Frage deutlich. Gorbatschow erklärte gegenüber Kohl, die Teilung Deutschlands sei ein Resultat der Geschichte. Versuche, die Entwicklung durch eine „unrealistische Politik“ zu forcieren, stellten ein unkalkulierbares oder sogar gefährliches Risiko dar.53 Zwar stellte Gorbatschow die Einheit der deutschen Nation nicht mehr grundsätzlich in Frage,54 akzeptierte sie aber nur unter der Bedingung der Zweistaatlichkeit und der Beibehaltung der innerdeutschen Grenze. Schon im Sommer 1988 hatte Portugalow erklärt, diese könne ähnlich werden, wie die zwischen Österreich und Ungarn.55 Im Herbst 1988 meinte auch Falin, sie könne zu einer „vernünftigen, zu einer friedlichen Grenze“ werden.56 Nach dem Besuch des Bundeskanzlers zeigte sich erneut, wie schmal der Grat war, auf dem sich Gorbatschow bewegte. Während seines Urlaubs kritisierte Ligatschow das „neue Denken“ erstmals öffentlich und betonte den Klassencharakter der internationalen Beziehungen. Auch Gromyko äußerte sich intern in scharfer Form gegen Äußerungen Schewardnadses.57 Dennoch erfüllten sich Honeckers Hoffnungen auf einen Sturz Gorbatschows durch Hardliner nicht. Dieser war 49 50 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, S. 17 f. Meschdunarodnaja schisn, (1988) 9, S. 3–6. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 28. Leonid Potschiwalow, Wir und die Deutschen. In : Literaturnaja gaseta vom 20. 7.1988; deutsch in : Sowjetunion heute, (1988) 10, S. 4–7. Prawda vom 25.10.1988. Vgl. Pfeiler, Moskau, S. 190. Vgl. BPA - Ostinfo vom 19. 7.1988. BPA - Ostinfo vom 18.10.1988. Vgl. Meissner, Das „neue Denken“ Gorbatschows, S. 63.

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machtbewusst genug und kannte seine Gegner im eigenen Lager. Er stabilisierte seine Position nicht nur durch Kompromisse und außenpolitische Erfolge, sondern auch durch eine Festigung seiner Position im Partei - und Staatsapparat. Durch die Übernahme des Amtes eines „Staatsoberhauptes“ von Gromyko am 1. Oktober 1988 gelang ihm noch vor der geplanten Verabschiedung einer Verfassungsänderung eine erhebliche Stärkung seiner Macht. Dies gestattete es ihm, Anfang Dezember 1988 vor der UNO eine größere Verringerung der konventionellen Streitkräfte der UdSSR und eine strukturelle Umgestaltung der Verteidigung anzukündigen. In seiner Grundsatzrede räumte er dem Völkerrecht Priorität in der Außenpolitik ein und betonte erneut die Anerkennung des Prinzips der Freiheit der Wahl für jedes Volk. Ziel seiner Außenpolitik sei eine „Weltgemeinschaft von Rechtsstaaten, die auch ihrer Außenpolitik Rechtsprinzipien zugrunde legen“.58 Parallel zu den Fortschritten im Bereich der Abrüstung wuchs die Übereinstimmung zwischen dem Westen, der UdSSR und den anderen östlichen Reformstaaten in Fragen der Menschenrechte und der Notwendigkeit einer Reformentwicklung in allen Ländern des Ostblocks. Das zeigte die Unterzeichnung eines Abschlussdokumentes der KSZE im Januar 1989 in Wien. Es machte den Weg zu neuen Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte und damit für eine verstärkte militärische Abrüstung frei. Diese Entwicklung trug dazu bei, dass es der sowjetischen Führung möglich wurde, ihrer Neubewertung der Osteuropa - und Deutschlandpolitik immer besser Geltung zu verschaffen. Die SEDFührung geriet hingegen durch das Treffen unter politischen Druck aus West und Ost. So forderte US - Außenminister Shultz in Wien den Abriss der Berliner Mauer, und sein britischer Amtskollege Sir Geoffrey Howe erklärte, die Mauer verhöhne die Bemühungen der KSZE - Staaten, Barrieren zwischen den Teilnehmerstaaten abzubauen. Auch Genscher betonte : „Alles, was künstlich trennen soll, wird immer anachronistischer – die Mauer in Berlin ist ein solches Relikt.“ Jahrzehnte der Trennung und des Kalten Krieges hätten aus einem Europa und „aus einer deutschen Nation nicht zwei“ gemacht. Problematisch für Honecker aber waren weniger westliche Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte, die aus Sicht der SED - Führung ohnehin nur erhoben wurden, um „Möglichkeiten vor allem für das ungehinderte Wirken feindlicher und oppositioneller Kräfte“ zu schaffen. Weitaus schwieriger war, dass auch die Staaten des Warschauer Paktes „immer weniger einheitlich“ auftraten und sich „deutliche konzeptionelle Unterschiede“ in Menschenrechtsfragen zeigten. Vor allem die UdSSR akzeptierte westliche Forderungen als Ergebnis eigener Umgestaltungs - und Demokratisierungsprozesse. Ungarn ging noch weiter und war „faktisch bereit, das Treffen zu westlichen Bedingungen abzuschließen“.59 Auch die sowjetischen Äußerungen zum Bestand der Mauer verunsicherten die SED - Führung. Schewardnadse meinte, der Eiserne Vorhang ros58 Vgl. Hacker, Deutsche Irrtümer, S. 20; Sagladin, Und jetzt Weltinnenpolitik, S. 142. 59 Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24.1.1989, Anlage 3 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2312).

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te : „Als die Berliner Mauer errichtet wurde, gab es wohl hierfür ihre Gründe. Man muss wohl sehen, ob diese Gründe noch da sind.“60 In Bonn stellte am 9. Januar 1989 ZK - Sekretär Alexander Jakowlew die Notwendigkeit der Mauer ebenfalls in Frage. Die DDR - Führung fand sich plötzlich in der Lage, eventuell als einziger Staat das Abschlussdokument nicht zu unterzeichnen. Gorbatschow sandte deshalb einen Sonderbotschafter zu Honecker. Das Gespräch mit Juri Kaschlew zeigte jedoch lediglich die Unvereinbarkeit der Standpunkte. Honecker erklärte, die DDR - Regierung sei nicht bereit, Beobachtergruppen der KSZE zu akzeptieren, denen Kontakte zu den Bürgern gestattet sein sollten. Das würde eine „Legalisierung konterrevolutionärer Aktivitäten“ bedeuten.61 Unter sowjetischem Druck beschloss das Politbüro zwar schließlich, das Abschlussdokument zu unterzeichnen,62 führte dies aber durch den parallelen Beschluss ad absurdum, in der DDR „keine Legalisierung von Helsinki - Gruppen“ zuzulassen.63 Außenminister Oskar Fischer erklärte, man werde die Wiener Vereinbarungen nur im Rahmen nationaler Gesetzgebung umsetzen. In der DDR versuchte die SED, unliebsame Ergebnisse zu verschleiern. Die Veröffentlichung aus dem Abschlussdokument im „Neuen Deutschland“ wies zahlreiche Fälschungen und Weglassungen auf. Das Außenministerium fasste die „negativen Erfahrungen“ des Treffens zusammen. „Nationale Interessen der UdSSR“ hätten andere sozialistische Staaten „vor vollendete Tatsachen gestellt“. Mit dem Treffen habe der Westen sein Instrumentarium zur Veränderung des Status quo sowie der Einmischung in innere Angelegenheiten der sozialistischen Staaten erweitert.64 Mielke nannte das Schlussdokument einen „wesentlichen Bestandteil des gesamten Vorgehens des Gegners“. Sein Ziel sei das „Zurückrollen des Sozialismus mit politischen und ökonomischen Mitteln“.65 Honecker konterte am 19. Januar noch einmal die Forderungen nach Beseitigung der Mauer. Mit dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ sei 1961 „der Friede gerettet“ worden. Die Mauer werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben“, wenn die Gründe ihrer Errichtung nicht beseitigt seien.66 Um von der starren Haltung in Menschenrechtsfragen abzulenken, startete er nach dem Wiener Treffen eine Abrüstungsinitiative. Er kündigte an, die Personalstärke der NVA „einseitig und unabhängig von Verhandlungen“ um zehntausend Mann abzubauen, stellte eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben um zehn Prozent und eine stärkere Betonung des Verteidigungscharakters der NVA in Aussicht. Dennoch hielt der internationale Druck an. In einer Resolution verurteilte das 60 Zit. in Informationen des BMB 2 vom 27.1.1989, S. 2. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 24. 61 Zit. in Strafsache gegen Honecker. In : Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 88 f. 62 Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24.1.1989, Anlage 3 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2312). 63 Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10.1.1989, Anlage 1, Bl. 1 f. ( ebd. 2310). 64 Zit. bei Kaiser, Zwischen angestrebter Eigenständigkeit, S. 493. 65 Auszug aus dem Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28. 4.1989 (BStU, ZA, RS 675, Bl. 46 f.). 66 Neues Deutschland vom 20.1.1989.

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Europäische Parlament am 16. Februar die Menschenrechtsverletzungen in der DDR und zeigte sich über Angaben von Amnesty International besorgt, wonach jährlich Hunderte von DDR - Bewohnern aus politischen Gründen inhaftiert würden. Am 16. März verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Gemeinsame Erklärung der CDU / CSU - , FDP - und SPD - Bundestagsfraktionen zur Deutschlandpolitik und zum KSZE - Prozess, in der die DDR zur Einhaltung der Menschenrechte aufgefordert wurde.67 Im Frühjahr 1989 wurde angesichts der beschleunigten europäischen Entwicklung die Notwendigkeit einer Lösung der deutschen Frage immer deutlicher. Der Widerspruch zwischen den neuen Prinzipien sowjetischer Außenpolitik und dem Moskauer Interesse am Erhalt einer stabilen DDR lag auf der Hand. In dieser Situation kam eine Gruppe sowjetischer Deutschlandexperten unter Leitung Falins in Bonn zu dem Schluss, die wirtschaftliche Existenzgrundlage und innere Stabilität der DDR könne ohne tiefgreifende Reformen und einen Führungswechsel an der Spitze der SED nicht erhalten werden.68 Falins Konzept deutscher Zweistaatlichkeit im zusammenwachsenden Europa basierte auf Reformen in der DDR und war durch die starre Haltung der SED - Führung in Frage gestellt. Vor allem die westlichen Staaten standen den sowjetischen Vorstellungen einer europäischen Einigung skeptisch gegenüber, solange sich mitten durch Deutschland und Europa eine undurchdringliche Grenze zog. Die sowjetische Führung musste überlegen, wie sie ohne offene Einmischung zu einer Reform der DDR kommen konnte. Falin schätzte Anfang März ein, dass der Parteiapparat der SED nicht mehr geschlossen hinter Honecker stehe. Bereits 1987/88 hatten er und Jakowlew Gorbatschow berichtet, die Verfallserscheinungen in der DDR seien intensiver als bisher angenommen.69 Aber auch jetzt rechnete er nicht mit einer Kursänderung und befürchtete, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung könnte schon in naher Zukunft, spätestens jedoch im Frühjahr 1990, „zu schwer beherrschbaren Massendemonstrationen führen“. Eine erfolgversprechende politische Opposition als Alternative zu Honecker sei nicht vorhanden.70 Deswegen verband sich aus sowjetischer Sicht mit ungesteuerten Massenprotesten die Gefahr kaum lenkbarer Entwicklungen in Richtung Wieder vereinigung. Portugalow gab die DDR daher Anfang 1989 schon fast verloren. Nach seiner Meinung war sie wirtschaftlich bereits in der Hand der Bundesrepublik und der Staat glitt „langsam, aber unaufhaltsam in den westdeutschen hinüber“.71 Auch der sowjetische Botschafter in Bonn, Julij A. Kwizinskij, meinte mit Blick auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, die DDR schlucke „den goldenen Angelhaken“ der 67 68 69 70 71

Vgl. Informationen des BMB 6 vom 24. 3.1989, S. 6. Vgl. Die Welt vom 15. 9.1989; Rühl, Zeitenwende in Europa, S. 292. Vgl. Falin, Politische Erinnerungen, S. 480. Rühl, Zeitenwende in Europa, S. 320. Der BND informierte die Bundesregierung am 16. 8.1989 über die Studie. Vgl. Manfred Schell, Moskau befürchtet Aufstand in der DDR. In : Die Welt vom 15. 9.1989. Nikolai Portugalow im Gespräch mit Peter Bender. Vgl. Bender, Der goldene Angelhaken, S. 14.

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Bundesrepublik immer tiefer.72 Ende April 1989 erklärte er gegenüber Schewardnadse, der Zusammenbruch der DDR sei nur noch eine Frage von Tagen. Die Analysen stützten sich u. a. auf Berichte der sowjetischen Generalkonsulate in Leipzig, Karl - Marx - Stadt und Rostock.73 Bemerkenswert war in dieser Situation, dass die sowjetische Führung trotzdem keinen direkten Einfluss auf die Ereignisse nahm.74 Möglicherweise spielte hier die alternative Option Daschitschew eine Rolle, der am 18. April entschieden der Auffassung widersprach, den sowjetischen Interessen sei am besten mit der fortgesetzten Teilung Deutschlands gedient. Die Ost - West - Konfrontation sei ohne Lösung der deutschen Frage nicht zu durchbrechen. Auch die von Falin favorisierte Reform der DDR werde letztendlich zu einer „revolutionären Annäherung der beiden deutschen Staaten“ führen.75 Selbst Generalstabschef Michail Moissejew erklärte am 4. Mai gegenüber dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Dieter Wellershoff, die Geschichte, die Deutschland geteilt habe, müsse korrigierbar sein.76 Grundlage und Hintergrund der sich wandelnden Haltung der sowjetischen Führung in der deutschen Frage blieb die Entwicklung der sowjetisch - amerikanischen Beziehungen. Hierbei spielte es eine Rolle, dass die US - Regierung im Frühjahr 1989 fest davon überzeugt war, die deutsche Einheit stehe kurz bevor.77 Bush bezog die Deutschen ausdrücklich in seine Forderungen nach Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes für die Völker des Ostblocks ein.78 Die USA betrieben eine Interessenpolitik, bei der sich militärische Sicherung und Gesprächsbereitschaft die Waage hielten. Die neue amerikanische Regierung unter Präsident George H. W. Bush machte eine Minderung des sowjetischen Einflusses in Europa, eine Verringerung der sowjetischen Streitkräfte und die Selbstbestimmung der Staaten in Ost - , Südost - und Mitteleuropa zur Voraussetzung für weitere substanzielle Verbesserungen im militärischen Bereich.79 Diese Politik zielte direkt auf eine Zurückdrängung des Einflusses der UdSSR in Europa und auf Veränderungen der sowjetischen Deutschlandpolitik. Aus Sicht Mielkes war Bushs „Konzept zur Zersetzung und Beseitigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ besonders „gegen die DDR gerichtet“.80 So hingen im Frühsommer militärische Abrüstung und deutsche Frage direkt zusammen. Hier nun spielte auch die Bundesregierung eine wichtige Rolle. Sie opponierte im westlichen Bündnis dagegen, die europäische Annäherung durch voreilige Rüstungsschritte zu gefährden. Die Staats - und Regierungschefs der 72 73 74 75 76 77 78 79

Zit. bei Bender, Der goldene Angelhaken, S. 14. Vgl. Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 147. Vgl. Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Der Spiegel vom 3. 6.1991. Daschitschew, Die sowjetische Deutschlandpolitik, S. 59. Vgl. Spittmann, Auf dem Drahtseil, S. 723. Vgl. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 36. The Washington Times vom 15. 5.1989. Vgl. US Policy Info and Texts 63A vom 17. 5.1989; Süddeutsche Zeitung vom 16. 5.1989; Kroh, Wendemanöver, S. 177 f. 80 Auszug aus dem Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28. 4.1989 (BStU, ZA, RS 675, Bl. 50).

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NATO - Staaten verschoben auf Drängen Bonns am 30. Mai eine Entscheidung über die Modernisierung nuklearer Kurzstreckensysteme auf das Jahr 1992 und erhielten damit das günstige Umfeld für die Entwicklung der Ost - West - Beziehungen. Es zeugte vom gewachsenen Einfluss der Bundesrepublik, dass nicht nur ihr Wunsch nach einer Verschiebung der Modernisierung akzeptiert wurde, sondern dass sich die Staats - und Regierungschefs am 30. Mai erneut zum Recht der Deutschen auf staatliche Einheit bekannten und die Mauer als ein „unannehmbares Symbol der Trennung Europas“ bezeichneten.81 Die NATO, so erklärten sie auf amerikanisches Drängen, strebe „nach einem Zustand des Friedens in Europa, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Die US - Regierung ging zu diesem Zeitpunkt von baldigen Veränderungen in Europa aus und erkannte die wachsende Rolle, die in diesem Prozess auf Deutschland zukam. Daher unterstützte sie die bundesdeutsche Forderung nach einer Verschiebung der Modernisierung der Kurzstreckenwaffen und stellte sich auch in der Frage der deutschen Einheit an die Seite Kohls. Kurz vor dem Besuch Gorbatschows in Bonn bezeichnete Bush die Bundesrepublik als „partner in leadership“ und erklärte, die Beziehungen seien nie besser gewesen. Damit verdeutlichte er die gewachsene Bedeutung der Bundesrepublik. Hinter der Aufwertung stand eine klare amerikanische Interessenpolitik. Das Angebot zur herausgehobenen Partnerschaft sollte den USA ihre Möglichkeiten bei der Mitgestaltung der europäischen Entwicklung an der Seite Deutschlands sichern.82 In einem Europa „jenseits des Kalten Krieges“ galt es, Deutschland als langfristig gestaltenden Faktor zu gewinnen, dessen Politik und Interessen mit den amerikanischen kompatibel blieben.83 Mit dieser Intention forderte der US - Präsident am 31. Mai 1989 in der Mainzer Rheingoldhalle erneut den Abriss der Mauer. Wie in Ungarn, so müssten die Schranken in ganz Europa fallen. Berlin müsse die nächste Station sein. Die Mauer stehe in Berlin als ein Monument für das Scheitern des Kommunismus.84 1.2

Bonner Deutschlandpolitik

Im Rahmen der internationalen Entwicklung war die Bonner Deutschlandpolitik ein wesentlicher Faktor für die DDR. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die in der Präambel des Grundgesetzes festgehaltene Forderung, auch für „jene Deutschen“ in der DDR zu handeln, „denen mitzuwirken versagt“ war, für alle Bundesregierungen verpflichtend gewesen. Alle wichtigen demokratischen Parteien bekannten sich zur Forderung des Grundgesetzes: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die 81 82 83 84

Informationen des BMB 11 vom 16. 6.1989, S. 16. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 19. Wirsching, Die Beziehungen zu den USA, S. 238. Für ein ungeteiltes freies Europa. Rede des US - Präsidenten in Mainz am 31. 5.1989. In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 2. 6.1989.

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Einheit und Freiheit“ zu vollenden. Diese Politik erwies sich als eine zentrale Grundlage der friedlichen Revolution und der daraus resultierenden Wiedervereinigung Deutschlands. Schon Konrad Adenauer hatte seine Zustimmung zur Mitarbeit im westlichen Bündnis von der Zusage der Westmächte abhängig gemacht, die Deutschen beim Erreichen des Ziels der Wiedervereinigung zu unterstützen. Dieser Zusammenhang blieb bis 1990 bestehen. Seit Ende der sechziger Jahre hatte auch die sozialliberale Koalition eine Deutschland - und Ostpolitik betrieben, die integraler Bestandteil der westlichen Doktrin gegenüber dem sozialistischen Lager war. Sie entsprach der NATO - Politik der „zwei Pfeiler“, die auf Abschreckung und Verteidigung einerseits, sowie auf Verhandlungen und Entspannung andererseits basierte. Die zwischen 1970 und 1973 abgeschlossenen Ostverträge leisteten einen wichtigen Beitrag zur Verminderung der Spannungen in Europa. Die Ostund Entspannungspolitik hatte somit, als „Teil einer westlichen Politik, die den dritten Weltkrieg verhindern wollte“85, ihre historische Berechtigung. Nach den Ostverträgen konnte die UdSSR das Problem der europäischen Sicherheit nicht mehr ausschließlich als ein Problem der Sicherheit vor Deutschland darstellen.86 Mit der durch die Bundesregierung eingeleiteten Wende in der Ostpolitik war der Weg für die Einleitung eines gesamteuropäischen Entspannungs - und Normalisierungsprozesses frei. Fast zeitgleich mit der Ratifizierung der Ostverträge beschlossen die NATO - und Warschauer -Pakt -Staaten die Anberaumung der KSZE. Die beiden deutschen Staaten wurden Mitglieder der UNO. Hinter der damals vollzogenen sozialliberalen Wende in der Ost - und Deutschlandpolitik steckte ein Konzept, das von Willy Brandt und Egon Bahr Ende der sechziger Jahre in Tutzing verkündet worden war. Aus dem Bau der Berliner Mauer hatten sie gefolgert, die Überwindung der Teilung und konkrete Hilfen für die Menschen in der DDR seien nicht durch eine konfrontative Haltung zu erreichen. Grundlage des neuen Konzeptes war daher die Anerkennung des Status quo als Voraussetzung für eine Verbesserung der Beziehungen. Ziel der Entspannungs- und Ostpolitik war es aber auch, die kommunistischen Regierungen durch internationale Abkommen zu binden und zu verändern.87 Den kommunistischen Politikern sollte durch Zusammenarbeit die Angst vor Destabilisierung genommen und die Ostblockstaaten ökonomisch so weit stabilisiert werden, „dass sie sich ohne Gefahr des eigenen Untergangs eine Liberalisierung und Öffnung des kommunistischen Regimes leisten konnten“.88 Dabei rechnete man mit einer „langfristigen Koexistenz unterschiedlicher, sich mäßig annähernder Systeme“.89 Durch das Akzeptieren des Status quo und der Unverletzlichkeit der Grenzen stabilisierte die sozialliberale Regierung zwar einerseits den 85 Interview mit Willy Brandt. In : Der Spiegel vom 24. 2.1992. 86 Vgl. Fritsch - Bournazel, Europa, S. 59. 87 Vgl. Egon Bahr, Den Luxus rigoroser Gesinnungsethik konnte sich niemand leisten. In: Frankfurter Rundschau vom 19. 2.1992. 88 Gesine Schwan, Vom schwierigen Handeln in der Grauzone. In : Die Zeit vom 24. 4.1992. 89 Glotz, Wir Komplizen, S. 165.

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SED - Staat, trug mit der Anerkennung der Menschenrechte in Korb drei jedoch zugleich zur inneren Destabilisierung bei.90 Damit lag diese Politik auf der von den westlichen Staaten im Rahmen der KSZE - Konferenzen vertretenen Linie. CDU / CSU - FDP: Die sozialliberale Ost - und Deutschlandpolitik wurde von der Union nach anfänglicher Ablehnung91 nach dem Regierungswechsel 1981 fortgesetzt. Für Kontinuität sorgte die FDP mit Hans - Dietrich Genscher als Außenminister. Im September 1981 erklärte dieser vor der UNO, es bleibe das Ziel der neuen Bundesregierung, die Einheit Deutschlands durch Selbstbestimmung zu ereichen. Die Mauer, so Genscher, werde keinen Bestand haben.92 Die SPD bescheinigte der Regierung Kohl später die Übernahme „auch relevanter Teile“ der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik.93 Trotz Kontinuität setzte die Regierung Kohl jedoch andere Akzente. Sie sprach von „zwei Staaten in Deutschland“, deren Vereinigung noch ausstehe, verschärfte den normativen Dissens zur DDR und räumte den Rechtspositionen in der Deutschland - Frage einen höheren Rang ein.94 Vor allem orientierte sie sich stärker an Grundprinzipien wie der Wiedervereinigung und dem Selbstbestimmungsrecht und war nicht bereit, menschliche Erleichterungen um den Preis der Aufgabe der Wiedervereinigung zu erreichen. Dabei lehnte sie dritte oder neutrale Sonderwege ab und setzte sich seit 1982 gegenüber der US - Regierung unter Reagan für eine Abrüstungs - und Entspannungspolitik mit der UdSSR ein.95 Im Dezember 1982 nannte Kohl als Hauptziele seiner Regierung, „die deutsche Teilung auf friedlichem Wege durch einen Prozess der Verständigung und in Freiheit zu überwinden und die Folgen der Teilung für die Menschen in Deutschland erträglicher zu gestalten“.96 Im Jahr 1983 wies er Vorschläge aus der SPD zurück, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen.97 In Moskau erklärte er 1983, die Existenz zweier deutscher Staaten sei zwar Realität, doch strebe die Bundesregierung eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege an.98 Das immanente strategische Ziel der Ost - und Deutschlandpolitik formulierte Franz Josef Strauß 1984 prägnant : „Ich setze nicht auf Krieg, ich setze nicht auf Revolution, ich setze auf Evolution. [...] Wir müssen den aktiven Wettbewerb der Systeme [...] so zielstrebig führen, dass eine Evolution der Gesellschaft und eine Änderung der Staatsführung im anderen Teil Deutschlands und Europas in einem länger-

90 Vgl. Interview mit Willy Brandt. In : Der Spiegel vom 24. 2.1992; Jesse, Der innenpolitische Weg, S. 114. 91 Vgl. Hacke, Die Ost - und Deutschlandpolitik der CDU / CSU. 92 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26. 9.1981. 93 Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 1.12.1988. In : Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 11. WP, Band 147, S. 8094. 94 Vgl. Barzel, Wieder vereinigungslügen, S. 38 f.; Werner Weidenfeld. In : FAZ vom 3. 7.1992. 95 Vgl. Hacke, Weltmacht wider Willen, S. 396 f. 96 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16.12.1982. 97 Vgl. ebd. vom 5. 5.1983. 98 Vgl. Informationen des BMB 14 von 1983, S. 2.

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fristigen Prozess mit größter Wahrscheinlichkeit einsetzen wird.“99 SED und KPdSU störte es, dass sich die Bundesregierung für die Einheit der Nation auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker einsetzte. Andrej Gromyko erteilte 1984 allen „Revanchisten und Halbrevanchisten“ eine Abfuhr und nannte die Grenzen der DDR unantastbar.100 Honecker bezeichnete es im selben Jahr als alarmierend, dass die Bundesregierung den „Kreuzzug“ Ronald Reagans gegen den Kommunismus mittrüge. Extrem rechte Kräfte witterten Morgenluft, wenn ständig Reden über die angeblich offene deutsche Frage gehalten würden.101 Am 28. Juli 1984 druckte „Neues Deutschland“ einen Leitartikel der „Prawda“ nach, in dem der Bundesregierung vorgeworfen wurde, durch die Betonung der menschlichen Kontakte und die Wahrung der Einheit der Nation auf Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen hinzuarbeiten, welche die staatliche Souveränität der DDR angingen. Dies sei Teil eines breiten Angriffs der NATO auf die Entspannung und ein „Kreuzzug“ gegen den Sozialismus. Am 2. August 1984 wiederholte die „Prawda“ ihre Vorwürfe. Die Bundesregierung versuche energisch wie nie, ihre Pläne zur Unterminierung der DDR zu verwirklichen. Die Wirtschaftsbeziehungen, die Besucherregelungen und die Betonung der besonderen Mission beider deutscher Staaten seien Bestandteil einer revanchistischen Strategie.102 An der Bonner Politik änderten diese Attacken nichts. Der parlamentarische Staatssekretär beim Minister für Innerdeutsche Beziehungen, Ottfried Hennig, erklärte im Januar 1985, es gäbe keine DDR mehr, wenn die Deutschen dort die freie Wahl hätten. Die wichtigste Aufgabe bestehe darin, allen Deutschen zu Selbstbestimmung und Freiheit zu verhelfen. Die Bundesregierung suche, da die Teilung durch die innerdeutsche Vertragspolitik nicht überwunden werden könne, eine Lösung der deutschen Frage im europäischen Rahmen.103 Die SED widersprach der bundesdeutschen Auffassung von der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit im Juni 1985 erneut und forderte eine Änderung des Grundgesetzes. Es sei, so die SED, „das Grundgesetz der BRD, das sich dem Grundlagenvertrag anzupassen hat, und nicht umgekehrt“.104 Umstrittener Höhepunkt in den innerdeutschen Beziehungen war der Besuch Honeckers in Bonn im November 1987. Kohl machte dabei zwar deutlich, die Wiedervereinigung bleibe Ziel seiner Politik. In der Öffentlichkeit wirkte das Treffen jedoch teilweise wie die endgültige Bestätigung der deutschen Teilung. Der Bundesregierung wurde vorgeworfen, das „gebotene Maß an verächtlicher Distanz“ nicht eingehalten zu haben.105 Für Honecker bedeutete der Besuch hingegen einen Prestigegewinn.106 99 100 101 102 103 104 105 106

Zit. bei Brocke, Grundelemente, S. 1112, Anm. 2. Zit. in Informationen des BMB 22 vom 16.11.1984, S. 4. Zit. in ebd. 19 vom 5.10.1984, S. 10. Vgl. ebd. 15 vom 10. 8.1984, S. 7–9. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 2. 2.1985. Neues Deutschland vom 20. 6.1985. Hans - Peter Schwarz, Eine Galerie der Blamierten. In : FAZ vom 7. 8.1992. Vgl. Leonhard, Das kurze Leben, S. 184.

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In der CDU wie in der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt zeigten sich zu diesem Zeitpunkt in der Frage der deutschen Nation Erosionserscheinungen.107 Teile der CDU waren nicht mehr an der deutschen Einheit interessiert, in der FDP spielte die Frage kaum noch eine Rolle.108 Nicht nur Sozialdemokraten waren überzeugt, dass der Friede in Europa sicherer sei, wenn der Status quo und damit die Ostblockdiktaturen stabil blieben. Demokratische Veränderungen im Osten des Kontinents waren, obwohl grundsätzlich erwünscht, kein Bestandteil des praktisch - politischen Kalküls. Die Konzentration auf Stabilitätsaspekte zeigte die „charakteristische Status - quo - Orientierung der bürgerlichen und sozialistischen Regierungen des Westens“.109 Man befürchtete, demokratische Revolutionen in den sozialistischen Diktaturen könnten zu einer Erschütterung Europas führen. Dabei wurde nicht erkannt oder gezielt verdrängt, in welch hohem Maße sich große Teile der DDR - Bevölkerung an der Bundesrepublik orientierten. Es waren aber nicht nur Fehleinschätzungen, die veranlassten, die Interessen der DDR - Bevölkerung zu ignorieren, vielmehr war die Interessenartikulation in der pluralistischen Gesellschaft vorrangig auf die stärkerer, lobbygestützter Gruppen orientiert. Es brachte nun jedoch nicht nur keine Vorteile mehr, gesamtdeutsche Interessen zu artikulieren, sondern führte sogar zunehmend zu Problemen. Man wollte sich nicht dem Vorwurf der 68er aussetzen, ein Rechter zu sein. In der Gemeinschaft der westlichen Welt galt man ungern als gesamtdeutscher Störenfried des Status quo. So bildete sich ein Widerspruch zwischen den sich mehr und mehr „bundesdeutsch“ verstehenden politischen Eliten und ihrer Rolle als Identifizierungsgrößen für die Deutschen im SED - Staat heraus. Diese Haltung basierte teilweise auf fehlendem Empfinden gegenüber dem Wert der Freiheit, die im Westen Deutschlands nicht hatte erkämpft werden müssen, sondern von der Besatzung oktroyiert worden war. Angesichts solcher Entwicklungen war es das besondere Verdienst des Bundeskanzlers, die Option der deutschen Einheit gegen Widerstände aufrechterhalten zu haben. Wie lange dem Trend, zwischen „Deutschland“ und der „DDR“ zu unterscheiden, hätte erfolgreich entgegengetreten werden können, bleibt allerdings dahingestellt.110 Im CDU - Bundesvorstand gehörte vor allem Generalsekretär Heiner Geißler zu den Befür wortern deutscher Zweistaatlichkeit. Im Februar 1988 entwarf er „Christlich - demokratische Perspektiven zur Außen - , Sicherheits - , Europa - und Deutschlandpolitik“ für den Bundesparteitag. Hier hieß es, die Überwindung der Teilung Europas und damit Deutschlands setze eine Überwindung des OstWest - Konflikts voraus, daher sei die Lösung der deutschen Frage gegenwärtig 107 Vgl. Karl Feldmeyer, Unangenehme Rückblicke. In : FAZ vom 10. 4.1992. 108 Vgl. Dieter Haack, Wir haben das Unrecht verharmlost. In : Rheinischer Merkur vom 27. 3.1992. 109 Schwarz, Auf dem Weg, S. 19. 110 Nach meiner Übersiedlung aus Berlin - Treptow nach Niedersachsen 1981 wurde ich häufig gefragt, seit wann ich in Deutschland lebe. Neustadt am Rübenberge lag demnach in Deutschland, Berlin nicht.

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nicht erreichbar. Der Begriff „Wieder vereinigung“ fehlte in dem Papier.111 Rainer Barzel meinte später, wer der SPD vorhalte, die Wiedervereinigung als „Lebenslüge“ ver worfen zu haben, dürfe den Programmentwurf nicht verschweigen, in dem die Wiedervereinigung nicht mehr vorkam.112 Der Vorstoß führte zu heftiger innerparteilicher und öffentlicher Kritik, die schließlich zu einer Veränderung des Entwurfs durch den Bundesvorstand führte. Kohl wies eine Änderung der CDU - Positionen zurück. Wolfgang Schäuble konkretisierte Mitte 1988 die Haltung der Bundesregierung. Diese wisse nicht, „ob die deutsche Frage im Sinne einer europäischen Lösung oder als nationalstaatliche Wiedervereinigung gelöst werden wird“. Die Bundesregierung stehe aber auch nicht unter dem Zwang, sich diesbezüglich entscheiden zu müssen.113 Die sich darin ausdrückenden „weichen Zielvorstellungen“ standen für eine realpolitische Herangehensweise der Bundesregierung, die sich Optionen offenhielt, sofern sie den normativen Grundforderungen entsprachen. Der Nationalstaat war für die europäisch orientierte Union nicht der einzig gangbare Weg, die deutsche Frage zu lösen.114 Unter Kohls Einfluss begann der auf dem Wiesbadener Parteitag angenommene Beschluss nun demonstrativ in der Überschrift mit der Aufzählung der Deutschlandpolitik an erster Stelle. Im Text wurde Adenauer mit dem Satz zitiert : „Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit war und ist das vordringlichste Ziel unserer Politik.“115 Dank Kohl setzten sich in der CDU die Kräfte durch, die am Ziel der nationalstaatlichen Einheit festhielten. Am 1. Dezember 1988 kam es im Bundestag darüber zum Streit. SPD - Chef Hans Jochen Vogel bezweifelte, dass die Wiederherstellung der staatlichen Einheit vordringliches Ziel der CDU sei. Mit diesem Märchen versuche die CDU lediglich ihren „rechten Rand“ zu beschwichtigen. Schon für Adenauer sei die Westintegration wichtiger gewesen als die deutsche Einheit.116 Schon das ganze Jahr 1988 entwickelte sich ein Richtungsstreit um das Verhältnis von europäischer Integration und deutscher Wieder vereinigung. Der Auffassung von der Unvereinbarkeit beider Ziele stand die Vorstellung gegenüber, die deutsche Einheit sei nur im Rahmen oder mit Hilfe der europäischen Integration zu erreichen.117 Im November 1988 erklärte Egon Bahr, die Vollendung eines europäischen Binnenmarktes stelle einen Widerspruch zur Forderung nach Wiedervereinigung dar. Die Westeuropäische Union solle den Status quo – einschließlich der deutschen Teilung – unrevidierbar machen. 1949 seien Europa und die deutsche Einheit noch theoretisch vereinbar gewesen, 1993 werde das „praktisch nicht mehr so sein“. Denn, so Bahr, „der Punkt ist sichtbar geworden, wo die Quantität europäischer Verschmelzungen in eine Qualität 111 112 113 114 115

Abgedruckt in FAZ vom 19. 2.1988. Barzel, Wiedervereinigungslügen, S. 37. Schäuble, Die deutsche Frage in Europa, S. 420. Vgl. Zimmer, Vorgeschichte der Wieder vereinigung, S. 249. Unsere Verantwortung in der Welt. 36. CDU - Bundesparteitag 13.–15. 6.1988, Wiesbaden, S. 485. 116 Vgl. Kuhn, Zwei Staaten, S. 215.

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umschlägt, die das Einheitsgebot, wie es bis zur Stunde ausgelegt wird, faktisch unmöglich macht.“118 Am 27. Oktober 1988 forderte der CDU - Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer von Kohl, sich für einen völkerrechtlich verbindlichen Wieder vereinigungsvorbehalt im Vertragsentwurf zur Gründung der Europäischen Union einzusetzen.119 Bei seiner auch in der DDR wahrgenommenen Neujahrsansprache zu Beginn des Jahres 1989 erklärte Kohl, die Teilung habe das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen nicht mindern können. Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, dies sei und bleibe der Wunsch der meisten Menschen hüben und drüben.120 Solange die internationale Situation eine Wiedervereinigung nicht gestatte, müsse man sich jedoch auf eine Verbesserung der Folgen der Teilung konzentrieren und die Beziehungen zur DDR verbessern.121 Anfang des Jahres 1989 kam es zu erneuten Vorstößen nationaler Kreise der Union zum Verhältnis von deutscher und europäischer Einigung. Fünf Bundestagsabgeordnete der CDU / CSU - Fraktion verlangten von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis zum Vorrang des Staatsziels der Wiedervereinigung vor dem Ziel der westeuropäischen Integration. Kohl erklärte daraufhin am 11. Januar, er sei „mit Adenauer“ der Auffassung, dass „Wieder vereinigung und europäische Integration kein Gegensatz“ seien.122 In der SED - Führung stieß Kohls Haltung auf vehemente Kritik. Mielke erklärte am 13. März, alle Initiativen der „BRD - Seite“ seien „dem strategischen Ziel der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten untergeordnet bei Liquidierung der sozialistischen Verhältnisse“.123 Im April konstatierte die SED Führung, dass „die CDU in zunehmendem Maße wieder offen konfrontative Elemente in ihre sogenannte Deutschlandpolitik einführt“.124 Hätte die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt detaillierte Pläne für eine Vereinigung vorgelegt, wären diese von den Nachbarn wohl kaum akzeptiert worden.125 Die Verbindung der Politik der kleinen Schritte mit der Beibehaltung des Ziels der Wiedervereinigung war die unter den gegebenen außenpolitischen Bedingungen optimale Form einer aktiven operativen Deutschlandpolitik. Eine andere Haltung war unrealistisch und nicht praktizierbar. Die Bundesregierung konnte zu kei117 So Dorothee Wilms am 6. 6.1988 im Europäischen Parlament. In: Informationen des BMB 12 von 1988, S. 20. 118 Zit. bei Langguth, Die deutsche Frage, S. 247. 119 Jürgen Todenhöfer an Helmut Kohl vom 27.10.1988. In : Todenhöfer, Ich denke deutsch, S. 215–218. 120 Informationen des BMB 1 vom 13.1.1989, S. 25. 121 Vgl. Dorothee Wilms am 24.1.1989. In : Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26.1.1989; Ottfried Hennig am 27. 4.1989. In : ebd. vom 4. 5.1989. 122 Zit. in Die Welt vom 11.11.1989. 123 Zit. in Protokoll der Beratung der Leiter der HA XVIII am 21.3.89 zur Einschätzung der Entwicklung der politisch - operativen Lage im Sicherungsbereich ( BStU, ZA, XVIII 155, Bl. 80 f.). 124 Auszug aus dem Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28. 4.1989 (ebd., RS 675, Bl. 60). 125 Vgl. Rüther, Politische Kultur und innere Einheit, S. 8.

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nem Zeitpunkt die Interessen der europäischen Nachbarn ignorieren. Über das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker betrieb sie die Destabilisierung des SED - Regimes, nicht jedoch des Staates DDR. Staatlichkeit der DDR ja – aber bei Selbstbestimmung der Bevölkerung, hieß die Devise. Nur über das Selbstbestimmungsrecht der Völker führte ein Weg aus dem Tunnel deutscher Zweistaatlichkeit. SPD: Die Hauptlinie der SPD - Deutschlandpolitik unterschied sich nicht grundsätzlich von jener der Bundesregierung. Auch hier setzte man auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, betonte aber stärker die Notwendigkeit des Erhalts des Status quo zur Friedenssicherung in Europa. Dafür war man eher als in der Union bereit, auf die nationalstaatliche Einheit zu verzichten. Diese Haltung resultierte aus einer generell negativeren Bewertung der Nation in der politischen Linken. Angesichts der europäischen Rahmenbedingungen und sowjetischer Interessen ging man eher davon aus, die DDR würde auch bei einer Selbstbestimmung der Bevölkerung als Staat erhalten bleiben. Dies hing mit einem positiveren Verhältnis zur sozialistischen Politik zusammen, durch die in Teilen der Parteilinken sogar der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur zu verwischen drohte. Zu keinem Zeitpunkt aber schloss die SPD die staatliche Einheit prinzipiell aus, was aufgrund der verfassungsmäßigen Vorgaben in der Bundesrepublik auch kaum möglich gewesen wäre. Die Grundkonstruktion der Bundesrepublik war auf Wiedervereinigung hin entworfen worden, jedes Abgehen von diesem Ziel widersprach den Grundprinzipien der Republik, über die das Bundesverfassungsgericht wachte. Das hatte zuletzt dessen Urteil zum Grundlagenvertrag von 1973 gezeigt. Nach dem Regierungswechsel Anfang der achtziger Jahre hatte zwar die unionsgeführte Bundesregierung die Politik der sozialliberalen Koalition fortgeführt. Unterdessen war es jedoch innerhalb der SPD zu einer Modifizierung bisheriger Positionen gekommen. Ein wachsender Teil der Sozialdemokraten hatte sich von den ursprünglichen Intentionen verabschiedet und es der Regierung Kohl / Genscher überlassen, die bisherige Politik in abgewandelter Form „bis zum glücklichen Ende“ fortzuführen.126 Um sich in der Opposition auf dem ursprünglich eigenen Gebiet der Deutschlandpolitik zu profilieren, hatte die SPD begonnen, Politik auf der Parteischiene SPD - SED zu betreiben.127 Seit Honecker 1980 die „Geraer Forderungen“128 als Voraussetzung für eine „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten bezeichnet hatte, übernahm die SPD diese schrittweise und baute ihre Kontakte zur SED aus. Es häuften sich Stellungnahmen, in denen sich SPD - Politiker zwar nicht 126 Jürgen Schmude, Wir würden es wieder tun. In : Der Spiegel vom 3. 2.1992. 127 Vgl. Dieter Haack, Wir haben das Unrecht verharmlost. In : Rheinischer Merkur vom 27. 3.1992. 128 Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle für in der DDR begangene Straftaten in Salzgitter und Festlegung des Grenzverlaufs der Elbe in der Strommitte. Vgl. Rede Erich Honeckers in Gera. In : Neues Deutschland vom 14.10.1980.

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gegen eine Wieder vereinigung aussprachen, jedoch deren Realisierbarkeit in Frage stellten. Damit verbunden waren Plädoyers für die Akzeptierung des zweistaatlichen Nebeneinanders. So erklärte z. B. Hans Apel im August 1984, die deutsche Frage sei insofern nicht mehr offen, als wichtige Fakten geschaffen worden seien, die dagegen sprächen. Ein nationaler Weg, miteinander zu leben, sei daher „sehr schwierig vorstellbar“.129 Im November 1984 meinte auch Willy Brandt, die Diskussion über die deutsche Frage bringe nichts. Sie verlängere nur Illusionen aus den fünfziger Jahren und sollte beendet werden.130 Dennoch hielt die Partei am Prinzip der Wiedervereinigung fest. So erklärte die SPD - Bundestagsfraktion, man werde die geistig - politische Auseinandersetzung mit der SED offensiv führen und sich für die Überwindung der Teilung einsetzen. Wichtig bleibe das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Einer späteren freien Entscheidung der Deutschen könne nicht vor weggegriffen werden.131 Im Januar 1985 veröffentlichte „Neues Deutschland“ Erwartungen in Bezug auf die Staatsbürgerfrage, die von der SPD - Bundestagsfraktion zurückgewiesen wurden. Eine dafür notwendige Änderung des Grundgesetzes komme nicht in Frage.132 Von nun an folgten Stellungnahmen, die unterschiedliche, teils widersprüchliche Auffassungen in der Partei widerspiegelten, insgesamt aber eine Tendenz zur Abkehr von der Politik der Wiedervereinigung erkennen ließen, wie es sie ja in schwächerer Form auch in der Union gab. So fragte der stellvertretende SPD Bundestagsfraktionsvorsitzende Jürgen Schmude im Mai 1985, ob die Wiedervereinigung der einzige Weg der Deutschlandpolitik sein solle. Angesichts solcher Töne fand im Mai 1985 auf Antrag der CDU / CSU - Fraktion eine Aktuelle Stunde des Bundestages zur Deutschlandpolitik statt. Während SPD und Grüne Schmudes Vorstoß verteidigten, erklärten CDU / CSU und FDP, es bleibe das Ziel der Regierung, die Teilung zu über winden. Der Anspruch müsse gelten, solange die Deutschen in der DDR nicht die Möglichkeit hätten, ihren politischen Willen zu artikulieren.133 Schmude lehnte das „Gerede“ vom „Ziel der Einheit“ ab, das nur dazu führe, dass die Leute es auch verwirklichen wollten.134 Deutlich unterstützt wurde die Abkehr von einer Politik der nationalen Einheit von den Grünen. Diese, obwohl sonst eher bürgerrechtlich orientiert, sprachen sich bei Ignorierung des Bürgerwillens in der DDR für die Anerkennung aller Forderungen des SED - Regimes, die Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft, die Umwandlung der Vertretungen in Botschaften und die Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle aus.135 Im Juli 1985 beklagte Bundeskanzler Kohl angesichts der SPD - Haltung zur Staatsbürgerschaft die „deprimierende Entwicklung“, dass die SPD bislang 129 130 131 132 133 134 135

Zit. in Informationen des BMB 16 vom 24. 8.1984, S. 3. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/167 vom 23.10.1985. Pressemitteilung der SPD - Bundestagsfraktion vom 6.11.1984. Vgl. Jürgen Schmude, Irreführende SED - Notizen. In : FAZ vom 8. 9.1994. Deutscher Bundestag, 140. Sitzung, vom 23. 5.1985. Zit. in Friedrich - Ebert - Stiftung, S. 31. Neues Deutschland vom 30.1.1985. Vgl. Informationen des BMB 3 vom 8. 2.1985, S. 3 und XIII - XV.

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gemeinsame Positionen in der Deutschlandpolitik aufgebe.136 Schon im März 1983 hatte sich Rainer Barzel mit einem Vorschlag Herbert Wehners auf Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, dass dies der Bundesregierung unmöglich mache, Deutschen aus der DDR in Drittstaaten diplomatischen Schutz und Hilfe angedeihen zu lassen.137 Auch einen neuerlichen Vorschlag Oskar Lafontaines vom November 1985, die Staatsbürgerschaft anzuerkennen, wies die Bundesregierung zurück und zeigte sich ver wundert, dass gerade ein Saarländer, der nach dem Krieg frei über seine Zukunft entscheiden konnte, 17 Millionen Deutschen dieses Recht absprechen wolle.138 Nach einem Treffen mit Honecker im Dezember 1985 trat auch der niedersächsische SPD - Spitzenkandidat Gerhard Schröder für eine Respektierung der DDR - Staatsbürgerschaft ein.139 Im November 1985 bezog der stellvertretende Kommandant des US - Sektors von Berlin Stellung. Eine Anerkennung, so John C. Kornblum, würde das „Abschreiben der Landsleute in der DDR“ bedeuten und außerdem die „Lage in Berlin durcheinanderbringen“.140 Ungeachtet solcher Bedenken folgten nun mehrere Initiativen der SPD zugunsten der Geraer Forderungen. Brandt ließ dem SED - Regime mitteilen, man werde bei einer Regierungsübernahme durch die SPD die Staatsbürgerschaft voll respektieren. Im Gegenzug erklärte sich die SED bereit, die SPD im Wahlkampf zu unterstützen.141 Auch hinsichtlich der Forderung nach Abschaffung der Erfassungsstelle für Straftaten der DDR in Salzgitter wurde das SED - Regime von den Sozialdemokraten unterstützt. Die SPD - Bundestagsfraktion forderte im November 1984 eine Auf lösung mit der Begründung, die Erfassungsstelle sei „wirkungslos und überflüssig“.142 Vor dem Bundestag erklärte Vogel im März 1986, man werde sich dafür einsetzen, sie aufzulösen.143 Ähnliche Stellungnahmen kamen von anderen SPD - Politikern.144 Kanzlerkandidat Lafontaine stimmte mit SED - Politbüromitglied Joachim Hermann darin überein, „dass die Auf lösung der Erfassungsstelle Salzgitter weitere Fortschritte in den Beziehungen beider Länder ermöglichen würde“.145 Seitens der SPD blieb es nicht bei Erklärungen. Seit Januar 1988 verweigerten die SPD - regierten Länder die Zahlung ihres Anteils für die Erfassungsstelle. Nur die Übernahme der Zahlung durch das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen sicherte deren Fortbestand. Welche Bedeutung die Erfassungsstelle hatte, wurde nach der Öffnung der Mauer deutlich, als 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 4.7.1985. Vgl. Informationen des BMB 5 von 1983, S. 4. Vgl. ebd. 23 vom 6.12.1985, S. 3 f. Vgl. Bonner Rundschau vom 21.12.1985. Zit. in Informationen des BMB 23 vom 6.12.1985, S. 5. Zit. bei Christian von Dittfurth, Angst vor den Akten. Archive enthüllen den Umgang von SPD - mit SED - Politikern. In : Der Spiegel vom 24. 8.1992. Pressemitteilung der SPD - Bundestagsfraktion vom 6.11.1984. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/205 vom 14. 3.1986. Vgl. Sozialdemokratischer Pressedienst vom 29. 7.1987; Die Welt vom 12. 8.1987. Nachrichtenagentur Reuters am 3. 6.1987.

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zahlreiche Personen aus der DDR Kontakt aufnahmen, um ihr Schicksal in der Justiz und den Gefängnissen des SED - Regimes aktenkundig zu machen. Bis zum November 1989 waren dort für den Zeitraum von 1980 bis 1989 insgesamt 439 Tötungshandlungen, 27 Misshandlungen, 1 364 politische Verdächtigungen und 14111 Verurteilungen aus politischen Gründen registriert.146 Konzeptionell erarbeitet und in der Partei durchgesetzt wurde die SPD - Linie vor allem von Egon Bahr, der es 1987 „kindisch oder eine Irreführung der öffentlichen Meinung“ nannte, so zu tun, als sei die deutsche Einheit aktuell. Für eine ganze Reihe von Jahren sei „jedes Gerede, das so tut, als ginge es um die deutsche Einheit in der für uns überschaubaren Zeit, ein Hindernis dafür, gemeinsame Interessen der beiden deutschen Staaten zu entwickeln, zu formulieren und zu Initiativen zu machen“.147 Zu einem Zeitpunkt, als man in Moskau begann, über den Widerspruch zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der offenen deutschen Frage nachzudenken, unterzeichneten SPD und SED am 27. August 1987 ein gemeinsames Papier unter dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Darin hieß es, keine Seite dürfe „der anderen die Existenzberechtigung absprechen“. Die Hoffnungen könnten sich nicht darauf richten, „dass ein System das andere abschafft“.148 Damit verabschiedete sich die SPD von der bisherigen gemeinsamen Linie der Unterstützung von Reformen auf der Grundlage der Anerkennung der Staatlichkeit. An die Stelle der Anerkennung der DDR - Staatlichkeit trat die Akzeptanz des „Systems“ der SED - Diktatur, dem man, obwohl nie demokratisch legitimiert, eine Existenzberechtigung zusprach. Damit setzte sich die SPD über das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR hinweg und legte so die Grundlage für die später fehlende Akzeptanz der Partei im Osten Deutschlands. Die sich nun entwickelnden Beziehungen waren eng und von „gelegentlicher Kameraderie“ gekennzeichnet.149 Ziel der SPD war es nach eigenem Bekunden, einen Liberalisierungsprozess in Gang zu setzen, der das sozialistische System nicht zwangsläufig in Frage stellte, aber die Menschenrechtssituation verbessern half. Das „Ideologiepapier“ war „als Initialzündung für einen Prozess gedacht, in dem letztlich die SED akzeptiert, dass wir auch zur Opposition Kontakt aufnehmen, ohne dass die dann aus lauter Angst den Laden wieder zumachen“.150 Hinter dem Konzept verbarg sich die in der SPD verbreitete Vorstellung von der Machbarkeit eines demokratischen Sozialismus. Hier aber tat sich ein schwer überbrückbarer Widerspruch auf. Wollte sie einerseits mit ihrer Politik zur Liberalisierung und Demokratisierung des Sozialismus beitragen und in diesem Rahmen auch die Wirkungsmöglichkeiten oppositioneller Bewegungen befördern, vermied sie andererseits Kontakte zu oppositionellen Gruppierun146 Geschäftsbericht der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter. Zit. in Hennig, Salzgitter, S. 21. 147 Zit. in Friedrich - Ebert - Stiftung, S. 17 f. 148 Abgedruckt in Politik. Informationsdienst der SPD 3 von August 1987, S. 3–7. 149 Glotz, Wir Komplizen, S. 166. 150 Thomas Meyer im Gespräch mit Rolf Reißig und Hans - Jürgen Fischbeck. In : Wochenpost vom 27. 8.1992.

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gen in den sozialistischen Staaten, um ihre Politik der guten Beziehungen zu den kommunistischen Führungen nicht zu gefährden. So lag denn auch das Problem des Ideologiepapiers darin, dass es sich auf die kommunistische Nomenklatura beschränkte und die SPD Kontakte zur Opposition in der DDR und in anderen Ostblockländern als „kooperationsgefährdend“ ablehnte. Erhard Eppler meinte im Nachhinein, es sei das wesentlichste Versäumnis des Papiers gewesen, „die grundsätzliche Frage der Unvereinbarkeit der Systeme nicht gestellt zu haben“.151 Das aber bedeutete nichts anderes, als dass die SPD die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur ver wischte. Da die Entspannungspolitik den Systemgegensatz bewusst zurückstellte, bestand die Gefahr, dass die Schattenseiten des SED - Regimes aus dem Bewusstsein westlicher Akteure verschwanden. Diese Haltung führte in der SPD „zeitweilig zu einer problematischen Relativierung der politischen Moral“. Kritikern dieser Haltung wurde „Antikommunismus aus Identitätsangst“ attestiert. Bahr kritisierte Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in sozialistischen Staaten als „friedensgefährdend“ und erweckte den „Eindruck eines Loyalitätswechsels, der Verwischung prinzipieller Gegnerschaft und der Illoyalität gegenüber den demokratischen Gesinnungsfreunden“.152 Ins Zwielicht gerieten die Gespräche zwischen SPD und SED auch, weil die SPD - Teilnehmer offenbar „für bare Münze nahmen, was die SEDler vortäuschten“. In der SPD war der Blick dafür entschwunden, dass man mit Vertretern einer Diktatur sprach, die unter freiheitlichen Verhältnissen von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung sofort gestürzt worden wären.153 Auch Alfred Grosser kritisierte, dass der SED ein Anspruch auf Vertretung der Bevölkerung zuerkannt wurde.154 In den Bürgergruppen hoffte man hingegen vergeblich auf Kontakte zur SPD und Zustimmung zum eigenen Wirken.155 Die Frage, ob man Kontakt zu den Opponenten im Ostblock aufnehmen sollte, wurde unterdessen „in keinem Gremium der SPD auch nur gestellt“.156 Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen dem Einfordern demokratischer Rechte einerseits und dem Ignorieren jener, die diese Rechte in Anspruch nahmen, andererseits.157 Pavel Kohout hielt der SPD deswegen vor, dass sie, „statt zu den Geschlagenen zu halten, lieber mit den Schlägern paktierte“.158 Sie hätte, so auch Ota Filip, nicht nur mit den 151 Zit. in FAZ vom 29. 8.1992. 152 Gesine Schwan, Vom schwierigen Handeln in der Grauzone. In : Die Zeit vom 24. 4.1992. 153 Vgl. Seebacher - Brandt, Die Linke, S. 27. 154 Alfred Grosser, Ein Wunschzettel voller Widersprüche. In : Die Zeit vom 20.10.1989. Vgl. ders., Deutschland einig Vaterland, S. 10. 155 Vgl. Markus Meckel. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik, S. 86; Wolfgang Thierse. In : FAZ vom 26. 8.1992. 156 Bahr, Die Deutschlandpolitik, S. 23. Karsten Voigt behauptet das Gegenteil. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik, S. 91. 157 Vgl. Stephan Hilsberg. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik, S. 73; Hans - Jürgen Fischbeck im Gespräch mit Rolf Reißig und Thomas Meyer. In : Wochenpost vom 27. 8.1992; Berliner Zeitung vom 27. 8.1992. 158 Zit. bei Golombek / Ratzke ( Hg.), Facetten der Wende, S. 43.

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Kommunisten, sondern auch mit anderen reden müssen.159 In der DDR bezeichnete es Konrad Weiß als „fatale Fehlentwicklung“, dass SPD und Grüne sich mit der Zweistaatlichkeit abfanden und „nach einer Zusammenarbeit mit der SED strebten, die an Kollaboration grenzte“. Sie seien damit den alternativen Bewegungen in den Rücken gefallen und hätten das SED - Regime gestärkt.160 Freya Klier erklärte : „Als gäbe es nicht schon genug Papiere, die uns die Beine wegschlagen, nun also auch noch ein SPD - SED - Papier.“ Die SPD gehe mit der SED - Führung um, „als handele es sich um störrische Kinder, die man nur mal ein wenig streicheln muss, damit sie sich zu ihren guten Seiten bekennen“.161 Angelika Barbe erklärte, es habe nur wenige Vertreter in der SPD gegeben, die auch Kontakte zu den oppositionellen Gruppen suchten. Diese hätten auch keinen Rückhalt in der SPD gehabt.162 Bärbel Bohley bestreitet, dass das SPD - SED - Papier „Humus für die DDR - Opposition“ gewesen sei : „Wenn die SPD die Emanzipation der DDR - Bevölkerung gewollt hätte, hätte sie alle Kontakte zu den Basisgruppen in der DDR unterstützen müssen. Das Gegenteil war der Fall.“163 Der Dialog zwischen SPD und SED habe, so auch Stephan Hilsberg, zur „Entsolidarisierung mit denjenigen Ostdeutschen“ geführt, „die sich aus vormundschaftlichen Strukturen zu lösen begannen“.164 Auch die „Sozialdemokratische Assoziation“ in Moskau kritisierte, die SPD trage mit ihrer ostpolitischen Strategie, auf die herrschenden Kommunisten zu setzen, dazu bei, dringend benötigte Veränderungsprozesse zu erschweren und hinauszuzögern. Der außenpolitische Sprecher der sowjetischen Sozialdemokraten, Oleg Rumjanzew, erklärte, seine Organisation habe gute Kontakte zu verschiedenen sozialistischen Parteien Europas, aber „mit der SPD gibt es immer Probleme“.165 Leuten wie György Konrád, Jiři Dienstbier, Václav Havel, Adam Michnik, Rastka Mocnik gegenüber, so Glotz später, „haben wir oft genug versagt, weil wir falsch beraten waren oder auf ‚Reformfraktionen‘ in den kommunistischen Parteien setzten“.166 In der Dissidentenbewegung innerhalb des Ostblocks bewirkte die Haltung der SPD einen Vertrauensverlust und eine Demoralisierung bezüglich der Möglichkeiten des politischen Wirkens gegen die kommunistischen Regimes, in der DDR - Bevölkerung bewirkten die realitätsfernen Politikvorgaben Egon Bahrs eine verstärkte Zuwendung zur CDU. Das Ideologiepapier hatte aber auch eine andere Seite, weswegen es auch Zustimmung fand. Einige Basisgruppen der DDR, Synoden und Kirchenleitun159 Vgl. Ota Filip. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik, S. 85. 160 Konrad Weiß, Bürgerbewegung als Erinnerungsverein des Deutschen Herbstes ? In : Frankfurter Rundschau vom 2./3.10.1990. 161 Klier, Abreiß - Kalender, S. 209. 162 Interview mit Angelika Barbe. In : Gorholt / Kunz ( Hg.), Deutsche Einheit, S. 197 f. 163 Bärbel Bohley, Der fatale Opportunismus des Westens. Deutsche Lebenslügen. In : FAZ vom 14. 3.1992. 164 Stephan Hilsberg. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik, S. 69. 165 Zit. in Elfie Siegl, Erinnerung an die Glanzzeit der Ostpolitik. In : Frankfurter Rundschau vom 18.10.1989. 166 Glotz, Wir Komplizen, S. 166 und 170.

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gen begrüßten es als „historisches Ereignis“, da es eine Verzichtserklärung auf den Alleinvertretungsanspruch auf die Wahrheit bedeute.167 Die Kirchen sorgten für seine Verbreitung und klagten innenpolitisch eine politische Kultur des Streits ein. Die so ausgelöste Diskussion trug zur Sensibilisierung der Bevölkerung bei und nährte Zweifel an der Reformierbarkeit des Regimes.168 „In Wahrheit“, so Hans - Jochen Vogel, habe das Papier „den absoluten Wahrheitsanspruch der SED in Frage gestellt und damit einen wichtigen Beitrag zur Erosion der ideologischen Herrschaft der SED geleistet“.169 In der SED habe es, so Rolf Reißig, „wie eine Lawine“ gewirkt, indem es ideologische Grundsätze hinterfragte und eine dauernde und heftige Debatte auslöste.170 Nach Friedrich Schorlemmer führte das Papier „zu einer unschätzbaren Ermutigung für unser Tun und Denken“.171 Auch für Rainer Eppelmann brachte es der Opposition „taktische Vorteile“ im Umgang mit der Staatsführung.172 1988 forcierte die SPD ihre Deutschlandpolitik, die nun eine „deutlich artikulierte Abkehr der SPD vom Ziel der staatlichen Einheit“ brachte.173 Die Reformentwicklung im Ostblock wurde dabei eher im Sinne eines demokratischsozialistischen Weges interpretiert. Obwohl aus Moskau und Washington ganz andere Signale kamen, erklärte Bahr 1988 gegenüber Gorbatschow : „Bis zu einem Friedensvertrag gibt es keinen Handlungsbedarf mehr für eine strukturelle Veränderung unseres Verhältnisses zu den Siegern und zur DDR, nicht einmal einen wichtigen Verhandlungsbedarf.“ Politisch werde die deutsche Selbstbestimmung in den „gesetzten Grenzen von den beiden deutschen Staaten ausgeübt“.174 Damit räumte er dem SED - Regime dezidiert die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes für die DDR - Deutschen ein. Im Dezember 1988 meinte er : „Was spielt es schon für eine Rolle, dass wir geteilt sind, wenn wir geteilt bleiben.“ Die Deutschen dürften keine Störenfriede mehr sein. Auch am Ende des europäischen Einigungsprozesses werde es beide Staaten geben : „Das muss man nicht nur wissen, sondern man muss es auch sagen und sogar wollen. Das ist unsere Freiheit, zu den beiden deutschen Staaten zu sagen : Ich will, weil ich muss. In der Teilung gibt es deutsche Chancen. Es gibt keine Chance, die deutschen Staaten zusammenzuführen.“175 Entsprechend dieser Haltung 167 168 169 170

171 172 173 174 175

Vgl. Rosenthal, Bilanz des Dialogs, S. 101–104. Vgl. Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 63. Hans - Jochen Vogel, Ein altes Gespenst im neuen Gewand. In : FAZ vom 12.10.1994. So Rolf Reißig im Gespräch mit Thomas Meyer und Hans - Jürgen Fischbeck. In : Wochenpost vom 27. 8.1992. Vgl. Reißig, Der Umbruch, S. 31 f.; Uschner, Die Ostpolitik der SPD, S. 141–147; Groh / Brandt, Vaterlandslose Gesellen, S. 326. Jürgen Schmude, Ein kleiner Schritt, der richtig bleibt. In : Sozialdemokratischer Pressedienst vom 15.12. 1989, S. 3 f.; Inter view mit Wolfgang Thierse. In : Gorholt / Kunz ( Hg.), Deutsche Einheit, S. 318; Erhard Eppler, Ist die DDR zu retten ? In : Die Zeit vom 24.11.1989. Schorlemmer, Träume, S. 125. Eppelmann, Fremd im eigenen Haus, S. 333. Seebacher - Brandt, Die deutsch - deutschen Beziehungen, S. 38. Bahr, Zum europäischen Frieden, S. 44 f. Egon Bahr, Das Gebot staatlicher Einheit und das Ziel Europa im Widerspruch. In : Frankfurter Rundschau vom 13./14.12.1988.

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setzte sich auch Günter Gaus für eine staatliche Anerkennung der DDR ein. Dadurch würden zwar als „bittere Quittung für die Deutschen“ die „bestehenden Grenzregelungen vertieft“, es ergäben sich aber jenseits der Illusion einer nationalstaatlichen Wieder vereinigungspolitik neue Chancen des Miteinanders.176 Von der SED wie von den Befürwortern der deutschen Zweistaatlichkeit in der sowjetischen Führung wurde die Haltung der SPD begrüßt. Im Januar 1989 betonte Falin bei Beratungen mit der SED die Möglichkeit, mit Hilfe der Sozialdemokraten den „Druck auf die Bonner Regierung“ zu erhöhen und die „vielen schmutzigen Tricks der NATO“ anzugreifen.177 Schluss - und Höhepunkt der Distanzierung der SPD vom Ziel der staatlichen Einheit war der Entwurf ihres Grundsatzprogramms von März 1989, das der deutschen Frage noch „sechs Sätze“ widmete, die im Wesentlichen „Leerformeln“ enthielten. Vor allem von Bahr wurde der Status quo dem Selbstbestimmungsrecht der Völker übergeordnet.178 Der Berliner SPD - Senator Ristock erklärte gegenüber dem Leiter der Westabteilung des ZK der SED, Gunter Rettner, „die ganze Ostpolitik der SPD sei darauf gebaut, dass in den sozialistischen Ländern stabile Verhältnisse herrschten“. Am stabilsten stünde die DDR da und man müsse alles dafür tun, damit das so bleibe.179 Noch musste sich die SPD als Oppositionspartei auf Parteikontakte beschränken und konnte ihr Programm nicht in Regierungspolitik umsetzen. Aber auch in dieser Hinsicht wurden bereits Weichen gestellt. Am 6. April sprach Günter Mittag in Bonn mit Lafontaine, Ehmke und Klose. Dabei schlug Lafontaine der SED - Führung vor, angesichts einer möglichen Regierungsübernahme nach den Wahlen 1990 zu überlegen, wie die Beziehungen weiterentwickelt werden könnten. Es gehe ihm darum, eine zweite Phase deutsch - deutscher Entspannungspolitik einzuleiten.180 Die Ost - und Deutschlandpolitik der SPD war zu diesem Zeitpunkt, so Seebacher - Brandt, „vieldeutig und von großer innerer Spannung“: „Der Bogen, den sie schlug, reichte von bewusstem Verrat über gutgläubige Andienerei bis hin zu geschäftsmäßiger Kontaktpflege und nüchterner Instrumentalisierung der anderen Seite.“181 Noch immer aber gab es auch innerhalb der SPD - Führung Kritiker des Parteikurses. Sie erhielten ab dem Frühjahr durch die Entwicklung in der DDR ebenso Rückenwind wie durch Gespräche mit der SED im April 1989 in Wen176 Gaus, Die Beziehungen, S. 184 f. 177 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 7. 2.1989, Anlage 5 : Bericht über die Konsultationen mit dem ZK der KPdSU am 26./27.1.1989 in Moskau zu Fragen der weiteren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der SED - SPD ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2314). 178 Dieter Haack, Wir haben das Unrecht verharmlost. In : Rheinischer Merkur vom 27. 3.1992. 179 Zit. bei Christian von Dittfurth, Angst vor den Akten. Archive enthüllen den Umgang von SPD - mit SED - Politikern. In : Der Spiegel vom 24. 8.1992. 180 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 18. 4.1989, Anlage : Niederschrift über das Gespräch Günter Mittags mit Oskar Lafontaine in Bonn am 6. 4.1989 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2324). 181 Brigitte Seebacher - Brandt, Zornige Holzhammerbuam. In : FAZ vom 16. 8.1994.

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disch - Rietz. Bei diesem Treffen zeigte sich die SED - Delegation nämlich in keiner Weise bereit, irgendwelche politischen Grundrechte anzuerkennen. Stattdessen bestritten die angereisten Funktionäre, dass es in der DDR überhaupt Defizite bei der Verwirklichung der Menschenrechte gebe.182 Die politische Entwicklung brachte den Glauben an Bahrs ideologische Politik ins Wanken. Einzelne SPD - Politiker begannen nun ihre Kontakte zur Opposition in der DDR zu intensivieren. Am 19. April beteiligte sich z. B. das Mitglied der SPD - Grundwertekommission Thomas Meyer, der maßgeblich an der Ausarbeitung des SPDSED - Papiers beteiligt gewesen war, plötzlich an einer Podiumsdiskussion in der Ost - Berliner Samariter - Gemeinde mit Oppositionellen wie Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer und Bärbel Bohley. Letztere konstatierte dabei, dass bislang öffentlicher Kritik und Dialogbereitschaft, wie in dem Ideologiepapier gefordert, lediglich beruf liche Nachteile, Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Gefängnis gefolgt seien. Auch Meyer drückte nun seine Enttäuschung über die Reformunwilligkeit der SED aus.183 In der SED - Führung war man hingegen enttäuscht, dass die Phase ideologischer Blauäugigkeit in der SPD zu Ende zu gehen schien. Mielke kritisierte Ende April Versuche führender Sozialdemokraten, sich nun unter Missbrauch des Dokumentes „Der Streit der Ideologien“ in innere Angelegenheiten einzumischen. Sie setzten darauf, in der DDR „den Sozialdemokratismus wiederzubeleben und gegen unsere sozialistische Staats und Gesellschaftsordnung ins Feld zu führen“.184 Das verwies auf neue Töne neben der unflexiblen und apodiktischen Status - quo - Politik Bahrs. 1.3

Haltung der SED - Führung

Ablehnung von Reformen Während in der internationalen Politik die Zeichen auf Entspannung und Annäherung gestellt wurden, verschärfte das SED - Regime seine innenpolitische Gangart und tat damit das Gegenteil dessen, was man in der Bonner SPD - Parteizentrale erhoffte.185 Im November 1988 schlug Krenz eine Verschärfung des politischen Strafrechts vor.186 Honecker ließ die sowjetische Monatszeitschrift „Sputnik“ verbieten, nachdem darin Hitler und Stalin verglichen worden waren.187 Fünf Filme, die zu den „Tagen des sowjetischen Films“ gelaufen 182 Vgl. Berg, Menschenrechte, S. 224. 183 Vgl. Rosenthal, Bilanz, S. 101–104. 184 Auszug aus dem Referat Mielkes auf der zentralen Dienstbesprechung am 28. 4.1989 (BStU, ZA, RS 675, Bl. 44). 185 Zur Reaktion des SED - Regimes auf die sowjetische Reformpolitik vgl. Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Leider geht Nepit nicht auf die veränderte Sicherheitspolitik der SED - Führung und die Orientierung auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit inneren Gegnern ein. 186 Egon Krenz an Erich Honecker vom 2.11.1988. In : Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 364 f. 187 Vgl. Neues Deutschland vom 16.11.1989; Klemm, Korruption, S. 158.

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waren, kamen nicht zur Vorführung, andere wurden nicht angekauft.188 Weitere sowjetische Zeitschriften verschwanden aus dem Verkauf.189 Auf der 7. Tagung des ZK der SED Anfang Dezember 1988 bezeichnete Honecker Forderungen nach einer kritischen Aufarbeitung des Stalinismus als „Gequake wildgewordener Spießer“.190 Er sprach vom Sozialismus in den Farben der DDR und erklärte, Gorbatschow selbst meine, es gebe kein für alle sozialistischen Länder geltendes Modell.191 Damit stellte die SED - Führung ihren ideologisch dogmatischen Kurs als eigenständige Politik dar, grenzte sich von Reformentwicklungen ab und dämpfte Hoffnungen auf eine Liberalisierung. Ebenso entschieden wies Honecker Reformvorschläge für die Wirtschaft zurück, wie sie von Gerhard Schürer in Kritik an Günter Mittag formuliert worden waren.192 „Nicht nur was, sondern vor allem mit welchen Kosten und Gewinn etwas produziert wird, ist zur entscheidenden Frage geworden“, lautete die zentrale Aussage des Exposés. Honecker leitete es an Mittag weiter, dessen vernichtendes Gegengutachten im Politbüro einstimmig begrüßt wurde.193 Dabei war Mittag nach eigenem Bekunden längst selbst klar, dass die DDR wirtschaftlich am Ende war :194 „Vom Osten war keine Hilfe möglich, und zum Westen konnte die Wende zur umfassenden Wirtschaftskooperation wegen latent wirkender politischer Widerstände in unseren Reihen nicht erfolgen.“195 Dennoch unterstützte er Honeckers Kurs. Angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage sprachen Schürer, sein Stellvertreter Siegfried Wenzel und einige andere Funktionäre im November 1988 im kleinen Kreis „über eine stärkere Anlehnung an die Bundesrepublik, sogar über Konföderation“. Auch mit Schalck - Golodkowski sprach Schürer „sehr ernsthaft“ über eine solche Lösung.196 Dahinter verbarg sich die Einsicht, „dass wir eine Konföderation anstreben müssen mit der BRD, weil es ohnehin keine Aussicht mehr gab, die Schulden zu bezahlen“. Derartige Lösungsansätze hatten im Politbüro jedoch keine Chance, auch nur erwogen zu werden. Im Februar 1989 wandte sich Schürer an Krenz und sprach mit ihm über eine Absetzung Honeckers. Krenz äußerte Bedenken und setzte auf eine „biologische Lösung“. Einverstanden war Krenz aber, auf Mittags Absetzung hinzuarbeiten. Hier nun winkte Schürer ab, der meinte, es nütze nichts, Mittag abzusetzen, ohne Honecker zu entmachten.197 188 Darunter „Die Kommissarin“, „Und morgen war Krieg“ sowie „Der kalte Sommer des Jahres 53“. Vgl. Horst Brünner an Joachim Herrmann vom 4.1.1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2.37/62, Bl. 109–132). 189 U. a. „Neue Zeit“ sowie „Probleme des Friedens und des Sozialismus“. 190 Bericht des Politbüros an die 7. ZK - Tagung von 1988. 191 Vgl. Mit Blick auf den XII. Parteitag, S. 10 und 91. 192 Vgl. Schürer, Die weit verschüttete Demokratie, S. 186. 193 Vgl. Christ / Neubauer, Kolonie, S. 58–60; Hertle, Das reale Bild, S. 1032. 194 Zum ökonomischen Kollaps vgl. Maier, Das Verschwinden der DDR, S. 118–187. 195 Interview mit Günter Mittag. In : Der Spiegel vom 9. 9.1991. 196 Interview mit Alexander Schalck - Golodkowski. In : Die Zeit vom 11.1.1991. 197 Interview mit Gerhard Schürer. In : DA, 25 (1992), S. 144 f. Vgl. ders., Die weit verschüttete Demokratie, S. 186.

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Auch andere Reformansätze scheiterten. Wolfgang Berghofer berichtet von einem Gespräch mit Schalck - Golodkowski im Herbst 1988 über die Frage, „ob ein Putsch gegen die Gerontokraten im Politbüro erfolgreich sein könnte“. Beide teilten die Auffassung, dass jeder derartige Versuch in Bautzen enden würde.198 Im Januar 1989 sprach Markus Wolf mit Honecker über Gorbatschow. Der Diktator war „von absolutem Selbstbewusstsein“ erfüllt und erklärte : „Unser Weg ist der richtige, und was die da in der Sowjetunion machen, die sitzen doch bis zum Hals in der Scheiße, und es ist fraglich, ob sie da rauskommen. Also den Weg können wir nicht gehen. Fast wörtlich.“199 Versuche Wolfs, sich durch Auftritte im Westfernsehen als Reformer zu profilieren, wies Mielke im Politbüro zurück.200 Nicht viel besser erging es dem 1. Sekretär der SED Bezirksleitung Dresden. Hans Modrow war kein Reformer „im Sinne eines eigenen Konzeptes“,201 war aber flexibler und toleranter gegen Auffassungen, die nicht auf der Linie lagen. Allein diese Haltung reichte, um ihm den Ruf eines Reformers einzubringen und ihn im Politbüro in Verruf geraten zu lassen. Bereits 1987 hatte Krenz von Honecker den Auftrag erhalten, Modrow abzusetzen, nachdem Künstler zweier Dresdner Theater Perestroika in der DDR gefordert hatten.202 Der Konflikt spitzte sich zu, als 1988 ein Artikel Modrows in der „Sächsischen Zeitung“ über Wirtschaftsreformen in China und die Praxis ausländischer Kapitalbeteiligung erschien.203 1989 eskalierte der Gegensatz weiter, nachdem sich Modrow kritisch zur Lage im Bezirk geäußert hatte. Mittag fertigte einen Gegenbericht, und Honecker ließ eine Arbeitsgruppe unter dessen Leitung bilden, die den Bezirk prüfte und zur Schlussfolgerung kam, die SED - Bezirksleitung unter Modrow arbeite unzureichend. Es sei eine „Qualifizierung der politischen Führungstätigkeit der Bezirksleitung erforderlich“. Auffassungen, dass zur Lösung ökonomischer und sozialer Aufgaben keine ausreichenden materiellen Voraussetzungen gegeben seien, müsse energisch entgegengetreten werden. Modrow habe „die Beschlüsse des Zentralkomitees ohne Wenn und Aber an allen Abschnitten“ zu erfüllen.204 Honecker folgte jedoch nicht dem Vorschlag Mittags, Modrow abzusetzen, weil Gorbatschow schützend seine Hand über ihn hielt.205 Auch im ideologischen Bereich zeigte sich das Regime unflexibel. Das Politbüro forderte am 10. Januar 1989, „feindlichen Auffassungen“ in der SED keinen Spielraum zu geben. Forderungen von Mitgliedern, „die auf falschen Posi198 Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 396. 199 Zit. bei Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 110. 200 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 14. 3.1989, S. 9 (SAPMOBArch, SED, J IV 2/2/2319). 201 So Superintendent Christof Ziemer. In : Süß, Bilanz einer Gratwanderung, S. 599. 202 Vgl. Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Michail S. Gorbatschow am 1.11.1989 in Moskau ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/1/707). 203 Vgl. Arnold, Die ersten hundert Tage, S. 22. 204 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 28. 2.1989, Anlage 1 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2317). 205 Vgl. Arnold, Die ersten hundert Tage, S. 23 f.; Sächsische Zeitung vom 5. 4.1995.

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tionen beharren oder Träger feindlicher Argumente sind“ und eine Korrektur der „bewährten Politik“ fordern, seien zurückzuweisen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar beschloss das Politbüro, endlich die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 nach mehreren Jahrzehnten Verspätung im „Horizont“ zu veröffentlichen, war aber weiterhin nicht zu einer offenen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bereit. Lediglich bei der Darstellung der Geschichte der KPD sollte „in ausgewogener Weise zu einzelnen Fehlern und Irrtümern der KPD sowie den Folgen des Personenkults um Stalin für die Partei offensiv argumentiert“ werden.206 Am 21. Februar befasste sich das Politbüro zwar intern mit problematischen Ereignissen in der Geschichte der SED, statt aber die öffentliche Diskussion zu suchen, wurde selbst eine an die Mitglieder des Politbüros ausgehändigte Dokumentation nach Lektüre bis auf drei Exemplare vernichtet.207 Die zugrunde liegende Haltung drückte ein Beitrag der Parteiideologen Hanna Wolf und Wolfgang Schneider im „Neuen Deutschland“ aus. Hier hieß es über Verbrechen Stalins lapidar : „Die Antikommunisten haben immer Unrecht, wir, die Kommunisten, haben trotz mancher Fehler und Niederlagen immer Recht !“208 Neue Sicherheitsdoktrin : Niederschlagung innerer Unruhen Während ambitionierte Politiker im Westen auf Reformschritte seitens der SEDFührung warteten, vollzog sich das Gegenteil. Das zeigte die Änderung der Sicherheitsdoktrin durch Honecker seit Anfang 1988. Auslöser für die von allen führenden Funktionären unterstützte Politik war die negative Wirkung der militärischen Entspannung für die Legitimierung des SED - Regimes. Hatte die DDR als Frontstaat im geteilten Europa für die UdSSR eine enorme geostrategische Bedeutung gehabt, ergab ihr Abschottungskurs angesichts der politischen Veränderungen nicht nur keinen Sinn mehr, er störte. Nach eigenem Bekunden erkannte Honecker im Rahmen der Kommandostabsübung „Meisterschaft“ 1987, „dass mit der neuen Militärdoktrin der Sowjetunion, der Doktrin der Konfliktvermeidung, der hinlänglichen Verteidigung im Ernstfall, die DDR der NATO preisgegeben würde“.209 Angesichts der durch ihn kaum beeinflussbaren Entscheidungen im Rahmen des Warschauer Paktes konzentrierte er sich seitdem auf die Möglichkeit, eventuellen Unruhen in Folge der Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen mit Hilfe des Instrumentariums der Einsatzleitungen zu begegnen. Sie waren eigentlich für den Kriegsfall gedacht, enthielten aber auch Mobilisierungsbestimmungen für den Fall innerer Spannun206 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10.1.1989, Anlage 1 und 4 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2310). 207 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 21. 2.1989, Punkt 12 ( ebd. 2316). 208 Neues Deutschland vom 6./7. 5.1989. 209 Honecker, Erich Honecker zu dramatischen Ereignissen, S. 9.

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gen. Grund genug gab es. Die DDR - Bevölkerung verfolgte interessiert die internationale Entwicklung und war kaum gewillt, von Reformen auf Dauer ausgeschlossen zu bleiben. Die Unzufriedenheit wuchs, immer mehr Menschen forderten eine Liberalisierung. Das SED - Regime sah reale Gefahren für seinen Machterhalt. In Polen hatten die Kommunisten ihre Diktatur 1981 nur noch mit Hilfe des Kriegsrechts und des Einsatzes der Armee gegen die eigene Bevölkerung sichern können. In diese Richtung dachte nun auch Honecker. Obwohl er sich damit klar gegen den Trend der europäischen Entwicklung stellte, nutzte er diese letzten Handlungsspielräume zur Absicherung der Existenz des Regimes und wies den militärischen Organen zunehmend Aufgaben einer inneren Stabilisierung der Diktatur zu. Die gesetzliche Grundlage für ein militärisches Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung hatte sich die SED mit dem Statut der Einsatzleitungen im Jahre 1981 geschaffen. Die hier im Absatz 4 verankerte Einsatzvariante für den Fall innerer Spannungen rückte nun ins Blickfeld der Herrschenden. Honecker übertrug als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates den Einsatzleitungen verstärkt Aufgaben, „die mit Spannungsproblemen innerhalb der DDR zu tun“ hatten. Dazu verschickte er Fernschreiben, in denen er „Aufforderungen richtete, die darauf abzielten, dass innere Spannungen auch mit dem Wirken der Einsatzleitungen zu werten“ als auch ihnen zu begegnen sei.210 Der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Karl - Marx- Stadt, Siegfried Lorenz, meinte dazu im Nachhinein, man habe sich einer Sicherheitsdoktrin unterworfen, die sich „als verhängnisvoll erwies und schwerwiegende Auswüchse hatte“.211 Statut der Einsatzleitungen : Das Statut der Einsatzleitungen aus dem Jahr 1981212 war die Grundlage des Handelns der SED - Führung zu Beginn des revolutionären Prozesses. Auch wenn ehemals Verantwortliche heute nahezu einstimmig erklären, es sei alleinige Aufgabe der Einsatzleitungen gewesen, die Vorbereitungen auf den Kriegsfall bzw. den Verteidigungszustand zu realisieren, so zeigt das Statut etwas anderes. Zwar hatten die Einsatzleitungen primär Aufgaben der Landesverteidigung zu erfüllen, ebenso aber auch bei inneren Spannungen. Unter der Überschrift „Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft des Territoriums aufgrund einer besonderen Lage“ besaßen die Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitungen auch Sonderbefugnisse bei „plötzlicher ernsthafter Gefährdung der staatlichen Sicherheit im Bezirk“. Sie konnten die kurzfristige Erhöhung der Führungsbereitschaft für die Einsatzleitungen ihres Bezirkes 210 Aussage Hans Modrows am 22. 4.1992 in Dresden. Zit. in Staatsanwaltschaft Dresden, 10. 3.1994. Nr. 823 : Anklageschrift in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow ( HAIT, Modrow - Prozess ). 211 Lorenz, Die Faust leider nur in der Tasche, S. 152. 212 Nationaler Verteidigungsrat vom 27.10.1981 : Statut der Einsatzleitungen der DDR (mit Wirkung vom 1.1.1982). GVS - Nr. A 473 500 ( Sächsischer Landtag. 1. WP, Drucksache 1/4897 : Beschlussempfehlung und Bericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch infolge der SED - Herrschaft, Anlage 1 und 4,38). Abgedruckt in Wenzel, Kriegsbereit, S. 271–288. Vgl. Dietrich, Handbuch der bewaffneten Organe, S. 17.

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anweisen und die volle Gefechts - bzw. Einsatzbereitschaft für die leitenden Parteiorgane und gesellschaftlichen Organisationen sowie über die Mitglieder der Bezirkseinsatzleitungen für deren nachgeordnete Führungsorgane und Kräfte der Bezirke und Kreise auslösen. Es war also möglich, die Bezirkseinsatzleitungen bei inneren Spannungen zu aktivieren, ohne dass Kriegshandlungen erfolgten. In diesem Fall galt Stufe 1 : „Erhöhte Einsatzbereitschaft“. Dazu hieß es im Statut, dass „bei Auslösung der vollen Gefechts - / Einsatzbereitschaft“, im Falle einer plötzlichen ernsthaften Gefährdung der staatlichen Sicherheit im Bezirk, „keine Maßnahmen der militärischen und wirtschaftlichen Mobilmachung sowie anderer Umstellungsmaßnahmen auf den Verteidigungszustand durchzuführen sind“. Das ermöglichte eine Abkoppelung der Maßnahmen bei inneren Spannungen von der Einsatzplanung bei Kriegshandlungen. Das Statut machte keine Aussagen darüber, wie im Fall innerer Spannungen zu verfahren war, wenn durch die eingeleiteten Maßnahmen keine Deeskalation, sondern eine Zunahme der Spannungen erfolgt wäre. Es wurde durch jährliche Aufgabenstellungen der Bezirkseinsatzleitungen ergänzt.213 Bereits ausgearbeitet war ein neues Statut, das am 1. Januar 1990 in Kraft treten sollte, aber nicht mehr wirksam wurde.214 Ein Maßnahmeplan des Rates des Bezirkes Erfurt gibt Auskunft über die verschiedenen Stufen der Einsatzbereitschaft im inneren Spannungsfall. Danach sah die Kategorie „Erhöhte Einsatzbereitschaft“ unter anderem die „Sicherung ständig aktueller u. abrufbereiter Übersichten über Personen“ vor, „von denen besondere Gefahren ausgehen können“, sowie die „Aktivierung d.[ er ] politischideologischen Differenzierungsarbeit mit kirchlichen Amtsträgern, Synodalen und Laien ( Kirchengemeinderäte )“. Wie beim MfS waren während der „erhöhten Einsatzbereitschaft“ Dienstreisen eingeschränkt sowie Urlaubssperre und Hausbereitschaft angewiesen.215 Umgesetzt wurde das Statut durch Bezirks - und Kreiseinsatzleitungen, die im aktivierten Zustand alle Vorbereitungen für den Ernstfall lenkten. Sie übten auch in Friedenszeiten regelmäßig die erhöhte Führungsbereitschaft. Die Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitungen unterstanden direkt dem Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, die Vorsitzenden der Kreiseinsatzleitungen den Vorsitzenden der Bezirkseinsatzlei-

213 Vgl. Befehl 1/89 des Vorsitzenden der BEL Leipzig über die Aufgaben der BEL und der KEL zur Vorbereitung auf den Verteidigungszustand im Jahre 1989 vom 16.12.1988 (ABL, BEL Leipzig ); Befehl 1/89 des Vorsitzenden der BEL Dresden über die Aufgaben der BEL und der KEL zur Vorbereitung auf den Verteidigungszustand im Jahre 1989 vom 5.12.1988 ( Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4897, Anlage ). 214 Vgl. Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4. 7.1989, Anlage : NVR : Statut der Einsatzleitungen der DDR ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2335). 215 RdB Erfurt vom 7. 7.1989 : Plan der Maßnahmen zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft und Überführung des Fachorgans des Stellvertreters des Vorsitzenden für Inneres (ThHStA, 39164). Zur Auslösung „erhöhter Einsatzbereitschaft“ in den KVfS bei einer Spannungsperiode siehe BStU, ASt. Leipzig, KDfS Grimma 243 und KDfS Oschatz 63.

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tungen.216 Diese waren als 1. Sekretäre der Bezirksleitung der SED politisch auch für alle Aktionen von Verwaltung, MfS, Volkspolizei und NVA auf ihrer Handlungsebene verantwortlich.217 Für die Arbeitsweise der Einsatzleitungen bei erhöhter Führungsbereitschaft gab es eine doppelte Führungshierarchie. Im Falle der Aktivierung unterstanden die Mitglieder der Bezirkseinsatzleitungen ihren jeweiligen Ministern und zugleich den Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitungen.218 Dabei wurde von einer engen Übereinstimmung von MfS und SED - Führung auf Bezirksebene ausgegangen, was nicht stimmen musste, wie Dresden zeigte. Analog zu den Bezirks - waren die Kreiseinsatzleitungen strukturiert. Leiter waren die 1. Sekretäre der SED - Kreisleitungen. Zur Kreiseinsatzleitung gehörten auch der 2. Sekretär sowie der Sicherheitsbeauftragte der SED - Kreisleitung, der Vorsitzende des Rates des Kreises, sowie die Leiter des Wehrkreiskommandos, der Kreisdienststellen des MfS und des Volkspolizeikreisamtes. Auch für sie galt eine doppelte Unterstellung. „Jedes Mitglied“, so der Leiter der Kreisdienststelle Klingenthal des MfS, „unterstand in allen Fragen den Leitern der Bezirksdienststellen und im Rahmen der Dokumente zur Arbeit der Einsatzleitungen dem ehemaligen 1. Sekretär der Kreisleitung der Partei. Dadurch konnte der 1. Sekretär Aufgaben bzw. Weisungen erteilen und hat es auch getan.“219 Wie die militärischen Organe übten auch die Einsatzleitungen regelmäßig den Ernstfall. Welch naive, wohl von Partisanenfilmen beeinflusste Vorstellungen regionale Verantwortliche dabei teilweise hatten, zeigte die Kreiseinsatzleitung Oschatz. Hier ging man wie bei Sandkastenspielen davon aus, dass sich „Konzentrationen von Unterschlupf - und Versteckmöglichkeiten subversiver Kräfte“ im Kreis vermutlich in Waldgebieten im Raum Wermsdorf, Dahlen und Schmannewitz sowie den darin vorhandenen Wochenendsiedlungen befinden würden.220 Statt Geländespiele zu betreiben, trafen sich die Gegner der Diktatur derweil in kirchlichen Räumen. Aber nicht nur die Bezirks - und Kreiseinsatzleitungen bereiteten sich auf innere Unruhen vor. Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates probten ebenfalls zweimal jährlich den Ernstfall.221 Am 20. November 1988 wurde erstmals die gesamte politische Führung in Alarmbereitschaft versetzt. Die Aktion führte nach Meinung des beteiligten LDPD 216 Vgl. Aussage Fritz Streletz am 18.1.1990. In : Klemm, Korruption und Amtsmissbrauch, S. 180; Aussage Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 157; Falkner, Von der SED zur PDS, S. 48. Zu Arbeitsweise und Zusammensetzung der BEL und KEL vgl. Stasi intern, S. 87–95. 217 Vgl. Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4. 7.1989, Anlage : Statut der Einsatzleitungen der DDR ( SAPMO - BArch B, SED, J IV 2/2/2335). 218 Siegfried Lorenz bestätigte die Doppelunterstellung unter Minister und Leiter der BEL im Verteidigungsfall. Vgl. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9.12.1996, Aussage des Zeugen Siegfried Lorenz, Mitschrift d. A., S. 33 ( HAIT, Modrow - Prozess ). Vgl. Interview mit Edmund Geppert. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 63. 219 Aussage des Leiters der KDfS Klingenthal, Lippold. In : Freie Presse vom 15. 2.1990. 220 KDfS an KEL Oschatz vom 16. 3.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Oschatz 26, Bl. 1 f.). 221 Vgl. Interview mit Horst Sindermann. In : Der Spiegel vom 7. 5.1990.

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Vorsitzenden Manfred Gerlach allen Beteiligten vor Augen, dass eine Änderung der Sicherheitsdoktrin erfolgt war. Bislang galten die Übungen dem Verteidigungsfall, jetzt wurde der Einsatz von Gewaltmitteln gegen die Bevölkerung trainiert.222 Für den Ernstfall waren im Statut der Einsatzleitungen Maßnahmen zur kurzfristigen Erhöhung der Führungsbereitschaft in der Verwaltung, dem MfS, dem MdI und der NVA vorgesehen. Die verschiedenen Stufen der Einsatzbereitschaft regelten die betreffenden Apparate selbst. Die Erhöhung der Gefechts - bzw. Einsatzbereitschaft in einem der militärischen Organe zog jedoch nach Anweisung des Statuts der Einsatzleitungen zwangsläufig die Erhöhung der Führungsbereitschaft in den Führungsorganen der anderen Militärorgane sowie die Aktivierung der Einsatzleitungen nach sich. MfS : Für die Staatssicherheit waren sämtliche Vorbereitungen auf eine Mobilmachung für den Kriegszustand bzw. für Spannungsperioden in der Direktive 1/67 des MfS geregelt.223 In der Ordnung über die Einsatzbereitschaft des MfS waren drei Grade der Einsatzbereitschaft vorgesehen : „Erhöhte Einsatzbereitschaft“ ( EE ), „Einsatzbereitschaft bei Kriegsgefahr“ ( EK ) und „Volle Einsatzbereitschaft“ ( VE ). Erhöhte Einsatzbereitschaft galt, „wenn der Gegner Handlungen vornimmt, die zu einer Zuspitzung der internationalen Lage und möglichen Entfesselung von Kriegshandlungen führen oder wenn aus anderen Ursachen heraus die Gefährdung der staatlichen Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik zu erkennen ist“.224 Wegen der vermeintlichen Absicht der Bundesrepublik, die DDR „durch die Entwicklung von Bürgerkriegssituationen [...] zum Zusammenbruch“ zu bringen, waren hier bereits frühzeitig die Aufgaben des MfS „in Vorbereitung auf Spannungsperioden und den Verteidigungszustand“ festgelegt worden. Im Februar 1988 konkretisierte Mielke die Mobilmachungsarbeit des MfS. Er stellte zwar noch einmal klar, dass der Beginn einer Spannungsperiode weiterhin in erster Linie durch militärische Konflikte definiert sei, betonte aber ausdrücklich auch die Notwendigkeit, auf innere Unruhen vorbereitet zu sein. Deutlich definierte er eine Spannungsperiode. Diese war auch durch „sich verschärfende innere Lagebedingungen eines sozialistischen Landes, die durch innere wie auch äußere Feinde zur Herbeiführung von die staatliche Sicherheit erheblich gefährdenden Entwicklungen missbraucht werden können“, gegeben. Mielke betonte, dass die Entwicklung der internationalen Lage, die „strategischen Pläne und Absichten des Gegners“ und die „Mittel und Methoden seines subversiven Vorgehens“ das MfS dazu zwängen, die eigenen „Bedingungen, Anforderungen und Aufgaben der Mobilmachungsarbeit neu zu durchdenken und zu bestimmen“. Er verwies auf die „Ver222 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 246; ders., zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 44 f. 223 MfS, Minister von Juli 1967: Direktive 1/67 über Inhalt und Ziel der Mobilmachungsarbeit im MfS, die Planung und Organisation der Mobilmachungsaufgaben und besonderer Maßnahmen der Vorbereitung des MfS auf den Verteidigungszustand ( BStU, ZA, Dst 400032). 224 Ordnung über Einsatzbereitschaft des MfS vom 9.10.1980 ( ebd., RS 677, Bl. 203–213).

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suche gegnerischer Zentren, Einrichtungen und Kräfte, besonders der BRD, mittels der politisch - ideologischen Diversion, der Wühl - und Zersetzungstätigkeit und anderer subversiver Aktivitäten feindlich - negativer Kräfte in der DDR und anderen sozialistischen Staaten zu antisozialistischen Handlungen zu inspirieren, politische Untergrundtätigkeit zu organisieren und die Lage im Innern unserer Länder möglichst zu destabilisieren und auf diesem Wege ernsthafte Gefahren für den Sozialismus und den Frieden heraufzubeschwören“.225 Entsprechend wurden ab Mitte 1988 im MfS Sondertruppen zur Niederschlagung innerer Unruhen aufgebaut. Sie erhielten Spezialausrüstungen wie u. a. Elektrostöcke. Ihr besonderes Kennzeichen waren weiße Helme. Stabsbusse mit moderner Nachrichtentechnik dienten als zentrale Führungspunkte.226 Bereits im Dezember 1988 meldeten die Bezirksverwaltungen die „Fähigkeit zur Organisierung in Spannungsperioden und im Verteidigungszustand“.227 Für 1989 plante Mielke, die Mobilmachungsarbeit noch stärker „auf veränderte Lagebedingungen, konterrevolutionäre Ereignisse / Situationen, Spannungsperioden und den Verteidigungszustand“ zu orientieren.228 Selbst in der Reihenfolge möglicher Konfliktsituationen fand die Prioritätenverschiebung also ihren Niederschlag. MdI / Bereitschaftspolizei : Im Bereich des Innenministeriums betrafen die Änderungen vor allem die kasernierten Volkspolizei - Bereitschaften ( BePo ) und die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“. Die BePo war bereits seit 1981, also kurz nach Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen, intensiver als zuvor für Einsätze in Wohngebieten und gegen Demonstranten ausgebildet worden. Vor allem aber seit Beginn der sowjetischen Reformpolitik wurde sie immer stärker gegen „innere Gegner“ aufgerüstet.229 Grundlage war zunächst der Befehl 51/85 vom 15. November 1985. Hier war festgelegt worden, „die Vorbereitung und das praktische Training von Handlungsvarianten zur Verhinderung bzw. schnellen Beseitigung möglicher Gefahren und Störungen, zur Aufklärung und Verhinderung von Ansammlungen rowdyhaft handelnder Gruppen zu gewährleisten“.230 Der Minister des Inneren und Volkspolizei - Chef Friedrich Dickel stellte am 27. Juli 1988 die Aufgabe, „die Verwendung der VP - Bereitschaften neu zu durchdenken, die Einsatzgrundsätze zu überprüfen und die Relation zwischen Kampf-, Ordnungs - und Sicherungseinsatz neu festzulegen“. Grund dafür sei „die veränderte internationale Lage sowie innere Situation in der DDR“. Nachdem

225 Referat Mielkes auf der Dienstbesprechung zur Mobilmachungsarbeit im MfS am 26. 2.1988. Zit. in Knabe, Die geheimen Lager der Stasi, S. 24 und 32 f. 226 Vgl. Anhörung von Werner Eberlein am 9.1.1991. In : Klemm, Korruption und Amtsmissbrauch, S. 148. 227 BVfS Leipzig vom 30.11.1988: Stand der Einsatz - und Mobilmachungsbereitschaft 1988 ( ABL, BA Dresden 6). 228 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 30.11.1988 : Stand der Einsatz - und Mobilmachungsbereitschaft 1988 ( ebd.). 229 Vgl. Und diese verdammte Ohnmacht, S. 242. 230 Lothar Ahrendt an Harry Harrland vom 27.12.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461).

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Honecker am 21. Dezember 1988 befohlen hatte, die BePo auch auf Einsätze „unter komplizierten Bedingungen, bei Erfordernis auch unter Anwendung von Hilfsmitteln“ vorzubereiten,231 erging am 28. Dezember der Befehl 129/88, wonach die BePo und andere kasernierte Einheiten des MdI darauf vorzubereiten waren, „Varianten zur schnellen Beseitigung möglicher Störungen, zur Auflösung von Menschenansammlungen mit Störabsichten und zu Handlungen mit Sonderausrüstung“ zu trainieren.232 Am 28. November 1988 fand im Objekt Basdorf der BePo eine Waffenschau statt, bei der sich Egon Krenz, Wolfgang Herger, Friedrich Dickel und Friedhelm Rausch über den Stand der Ausrüstung informierten. Ihnen wurden Schlagstöcke, Handfesseln, Führungsketten, Schutzhelme, Schilde, Wasserwerfer, Geräte zum Sperren und Räumen von Plätzen und andere Spezialmittel vorgeführt. Bei einer Beratung am 23. Januar 1989 erging der Befehl 20/89 des Innenministers, die BePo und andere kasernierte Einheiten auf Einsätze „im Rahmen von Ordnungs - und Sicherungseinsätzen vorzubereiten, ohne dabei die Befähigung zu Handlungen im Kampfeinsatz zu vernachlässigen“.233 Ziel des Befehls war es, die Umprofilierung der BePo für den Einsatz bei inneren Unruhen auszubauen. Dazu gehörte erneut die verstärkte Bereitstellung von Hilfsmitteln, wie sie für Polizeieinsätze gegen Demonstranten Verwendung fanden. Seit April 1989 lagerten in den Kasernen zusätzlich Gummigeschosse, Tränengas, Schilder und Helme, von deren Einsatzbereitschaft sich Krenz und Herger Anfang Mai 1989, zum Zeitpunkt der gefälschten und simulierten Kommunalwahlen, erneut persönlich überzeugten.234 MdI / Kampfgruppen : Seit 1987 war auch die Ausbildung der Kampfgruppen auf die Auseinandersetzung mit dem „inneren Feind“ umgestellt worden. Ihr Ziel war es nun, Handlungen „gegen subversive Kräfte und konterrevolutionäre Machenschaften des Gegners weiter auszugestalten“. Geübt wurden jetzt die „Vernichtung und Gefangennahme gehäuft auftretender subversiver Kräfte“. Dem Bereich subversiver Handlungen und „konterrevolutionärer Machenschaften“ wurden die oppositionellen Aktivitäten zugeordnet.235 Isolierungslager für Oppositionelle Bestandteil der veränderten Sicherheitsdoktrin der SED - Führung waren Isolierungslager für „Staatsfeinde“. Die befehlsgemäße Grundlage dafür stellte die Direktive 1/67 des MfS aus den sechziger Jahren dar, in der entsprechende Aufgaben „zur Vorbereitung auf Spannungsperioden und den Verteidigungs231 MdI, Minister von 1989, Befehl 12/88 : Profiländerung der Arbeit der VP - Bereitschaften und anderen Kasernierten Einheiten des MdI ( ebd. 52444). 232 Lothar Ahrendt an Harry Harrland vom 27.12.1989 ( ebd., 52461). 233 MdI 1989 [ ohne Titel ]: „Auf der Arbeitsberatung am 23. 01.1989 ...“ ( ebd., 52444). 234 Vgl. Neues Deutschland vom 7.12.1989; Und diese verdammte Ohnmacht, S. 154 f. 235 Zentralschule für Kampfgruppen „Ernst Thälmann“ Schmerwitz vom 20. 3.1987 : Der Einsatz der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( ThStAM, BDVP 647).

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zustand“ festgelegt waren.236 Die Einrichtung von Isolierungslagern war demnach im Rahmen eines umfassenderen Vorbeugekomplexes geplant. In der auch 1989 weiterhin gültigen Direktive hieß es dazu, dass „im Verteidigungszustand und in Spannungsperioden schlagartig und in kürzester Frist“ Personen festzunehmen seien, die „unter dem begründeten Verdacht stehen, staatsfeindliche Handlungen zu begehen, zu dulden oder davon Kenntnis zu haben“. Nach den Direktiven Nr. 1/67 und 4/67237 und den ihr folgenden Ausführungsbestimmungen238 konnten Bewohner der DDR in Spannungsperioden ohne richterlichen Beschluss in Haft genommen und festgehalten werden. Die Direktive 1/67 differenzierte zwischen Verhaftung, „Internierung“ (4.1.2.), „Isolierung“ (4.1.3.) und Überwachung. Die Internierung betraf Ausländer und Transitreisende, die Isolierung die DDR - Bevölkerung. Die Schwelle für die Auslösung des gesamten Vorbeugekomplexes lag recht hoch. Nach dem Plan der Überführung der DDR in den Verteidigungszustand vom 27. November 1985 wurde der Vorbeugekomplex nur indirekt als Maßnahme des MfS in den Mobilmachungsstufen „Einsatzbereitschaft bei Kriegsgefahr“ und „volle Einsatzbereitschaft“ genannt. Auch in diversen Befehlstabellen zur Herstellung und Gewährleistung höherer Stufen der Einsatzbereitschaft in den Bezirksver waltungen des MfS wurde der Vorbeugekomplex mit dem Zusatz „Nur auf besonderen Befehl des Genossen Minister!“ als eine der ersten Maßnahmen in der Stufe „volle Einsatzbereitschaft“ genannt.239 Nach Meinung Mielkes bereitete jeder normale Staat für Notfälle und Krieg Isolierungslager vor : „Wenn Krieg ist, dann muss man wissen, wer muss festgenommen werden, wer muss isoliert werden.“240 Zwar waren Isolierungslager demnach nur für den Kriegsfall vorgesehen, die Sonderbestimmungen im Statut der Einsatzleitungen werfen jedoch die Frage auf, ob es nicht auch bei erhöhter Einsatzbereitschaft laut Absatz 4 des Statuts bereits Maßnahmen gab, die als Vorstufen von Isolierungslagern anzusehen sind. Jedenfalls lassen sich im Rahmen der Veränderung der Sicherheitsdoktrin der SED - Führung Ende der achtziger Jahre auch hier Modifizierungen erkennen. Zum einen legt die Intensität, mit der entsprechende Planungen vorangetrieben wurden, den Schluss nahe, dass sich das Regime verstärkt auf den Ernstfall vorbereitete, zum anderen traten auch hier die Anweisungen für einen 236 MfS, Minister von Juli 1967 : Direktive 1/67 über Inhalt und Ziel der Mobilmachungsarbeit im MfS, die Planung und Organisation der Mobilmachungsaufgaben und besonderer Maßnahmen der Vorbereitung des MfS auf den Verteidigungszustand ( BStU, ZA, Dst 400032). Vgl. Auerbach, Vorbereitung, S. 4 f. 237 MfS Arbeitsgruppe des Ministers : Geheime Kommandosache 4/67. Abgedruckt in Przybylski, Tatort Politbüro, S. 398–402. 238 Ergänzung einer Direktive für die BVfS vom 20.1.1986 : Zur Erfassung von Personen mit einer feindlich - negativen Grundeinstellung. In : ebd., S. 403–411. 239 GKdoS Nr. A 479 222. GVS Dresden 0030–422/88, GVS Leipzig 0040–123/88, GVS Karl - Marx - Stadt 0047–284/88. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773. Minderheitsvotum des Vertreters der Fraktion Linke Liste / PDS im Sonderausschuss zum Schlussbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch infolge der SED - Herrschaft ( Drs. 1/4773 zu 1/213). 240 Interview mit Erich Mielke. In : Der Spiegel vom 31. 8.1992.

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inneren Spannungsfall stärker in den Vordergrund als Vorbereitungen für den Kriegsfall.241 Dass es sich dabei nicht nur um Planspiele handelte, zeigte das Beispiel Polens. Nachdem der Militärrat der Nationalen Errettung in Polen im Dezember 1981 den Kriegszustand verkündet hatte, nahmen Miliz und Sicherheitsdienst in den folgenden Tagen rund 6 500 Oppositionelle und Aktivisten der verbotenen Gewerkschaft Solidarność fest und brachten sie in Lager. Jaruzelski erklärte dazu : „Die Isolierung einer Gruppe von Menschen, die notorisch das Recht verletzen und die seinerzeit Organisatoren des Streikterrors waren – von daher kann man von Terroristen sprechen, [ stellten ] – im breiteren konventionellen Sinne des Wortes – auch eine Form der Selbstverteidigung des Staates“ dar.242 Hatten im liberaleren Polen die Streikaktionen der unabhängigen Gewerkschaft gereicht, um das Land in den Kriegszustand zu versetzen, ließ es die Mobilisierung nach innen in der DDR umso mehr als möglich erscheinen, dass ebenfalls nach Kriegsrecht vorgegangen würde. Zur Vorbereitung auf eine mögliche Spannungsperiode wurden in der gesamten DDR Objekte als Internierungs - bzw. Isolierungslager bestimmt.243 Binnen kürzester Zeit konnte die DDR so mit einem System von Isolierungslagern überzogen werden. Die Bezirksverwaltungen des MfS verfügten über ständig aktualisierte Listen geeigneter Objekte.244 Dabei handelte es sich z. B. um Ferienheime, Ställe oder Pionierlager, die „ohne großen materiellen Aufwand und Kräfteeinsatz schnell zur Unterbringung von feindlich - negativen Personen, insbesondere Führungskräften des politischen Untergrundes“, umfunktioniert werden konnten.245 Als zentrale Isolierungslager hatte das MfS auch Burg - und Festungsbauten vorgesehen; so etwa im Bezirk Karl - MarxStadt die Festung Augustusburg unter dem Decknamen „Gitter 1“. Dort konnten 6 000 Personen eingesperrt werden. Ein weiteres Lager ( Deckname „Gitter 2“), dessen geplanter Standort nicht bekannt ist, war für die Inhaftierung von weiteren 5 000 Personen konzipiert. In der Nähe von Dresden war die Burg Hohnstein als Lager vorgesehen.246 In x plus 24 Stunden konnten die Objekte mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben werden.247 Die Organisierung der Lager und Festnahme aller betroffenen Personen lag in der Hand des MfS. Gemäß Direktive 1/67 sollten nicht alle erfassten Gegner 241 Vgl. Hubertus Knabe, Die geheimen Lager des Staatssicherheitsdienstes. In : FAZ vom 21.1.1993. 242 www.bstundde / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. 243 Zu den Isolierungslagern vgl. Sélitrenny, Die Verantwortung der SED für die Isolierungslager. 244 BVfS Leipzig, AG des Leiters vom 30. 3.1989: Übersicht über geplante Objekte der BV / KD ( ABL, BA Dresden 6). 245 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 30.11.1988 : Stand der Einsatz - und Mobilmachungsbereitschaft 1988 ( ebd.). 246 Vgl. Christian Eißner, Stasi wollte Hohnstein als Lager nutzen. In : Sächsische Zeitung vom 9. 3. 2007. 247 Vgl. www.bstundde / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. Zu diesem Themenkomplex wurden viele Unterlagen vernichtet.

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des Regimes erst isoliert, vielmehr besonders „negative“ Personen gleich verhaftet werden. Dies waren Personen, die „den organisatorischen Zusammenschluss von feindlich - negativ gesinnten Personen anstrebten bzw. betreiben, innerhalb einer sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung in Erscheinung getreten sind, unter demagogischer Tarnung, wie der Wahrung der Menschenrechte bzw. des Umweltschutzes, massive Aktivitäten entwickelt haben, unter dem Schutz reaktionärer klerikaler Kräfte mit relevanten Handlungen aufgetreten sind, Forderungen nach einer Veränderung der Staats - und Gesellschaftsordnung in der DDR durch die Verbreitung von Auffassungen über einen ‚demokratischen Sozialismus‘ und neue Sozialismusmodelle aufgestellt haben“.248 Im Bezirk Dresden wurden zur „Qualitätserhöhung“ der Isolierung „feindliche Führungskräfte und Rädelsführer selektiert, mit der Zielstellung, diese Personen bei Auslösung der V - Maßnahmen zuerst und vorrangig festzunehmen, um sie handlungsunfähig zu machen“.249 Die für eine Isolierung bzw. Verhaftung in Frage kommenden Personen wurden auf laufend aktualisierten Listen bei allen Kreisdienststellen des MfS geführt. Mit Stand vom Dezember 1988 hatte das MfS 85 939 Personen im Vorbeugekomplex erfasst. Davon waren 2 955 Personen zur Inhaftierung in den MfS - Untersuchungshaftanstalten vorgesehen, 10 726 Personen sollten in Isolierungslager verbracht werden. 937 „unzuverlässige“ Leiter waren für eine verstärkte Überwachung mit dem Ziel ihrer späteren Ablösung vorgesehen. Weitere 71 321 DDR - Bewohner hatte das MfS als „feindlich - negative Personen“ registriert. Dieser Personenkreis wäre bei Auffälligkeit ebenfalls in ein Isolierungslager gebracht worden.250 Im Bezirk Dresden wären 126 Personen verhaftet und 890 isoliert worden, im Bezirk Leipzig 332 Personen verhaftet und 664 isoliert sowie im Bezirk Karl - Marx - Stadt 463 Personen verhaftet und 4 319 isoliert.251 Die Zahlen umfassten praktisch die gesamte Opposition in den Bezirken. Allein im Jahr 1988 wurden im Bezirk Karl - Marx - Stadt 698 „feindlich negative Personen“ neu in die Listen aufgenommen, 28,2 Prozent aller erfassten Personen wurde ständig operativ überwacht.252 Hunderte von MfS - Mitarbeitern bereiteten die gigantische Festnahmeaktion vor und arbeiteten die entsprechenden Planungen ständig „tagfertig“ auf. In den Panzerschränken aller Kreisdienststellen des MfS lagen versiegelte Briefumschläge mit ausgefüllten Personalunterlagen griffbereit. Auf ein zentrales Codewort hin hätten sie den bewaffneten Verhaftungskommandos den Weg gewie248 GVS MfS 5–99/86. Zit. in Gill / Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 171 f. 249 BVfS Dresden, AG des Leiters vom 30.11.1988 : Stand der Einsatz - und Mobilmachungsbereitschaft 1988 ( ABL, BA Dresden 6). 250 Vgl. www.bstundde / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. Vgl. Auerbach, Vorbereitung, S. 3; Vollnhals, Geheimpolizei und politische Justiz, S. 179. 251 GVS Dresden 0030–422/88, GVS Leipzig 0040–123/88, GVS Karl - Marx - Stadt 0047– 284/88. Zit. in Reader der PDS - Fraktion im Sächsischen Landtag zum 3. Prozess gegen Hans Modrow am 29.11.1996 (HAIT, Modrow - Prozess 1996). 252 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 30.11.1988 : Stand der Einsatz - und Mobilmachungsbereitschaft 1988 ( ABL, BA Dresden 6).

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sen.253 In Übungen mit den Namen „Meilenstein 85“, „Baustein II /86“ oder „Brennweite 89“ wurde die Massenfestnahme jährlich geprobt.254 Mit Autos fuhren die „Tschekisten“ zu den Wohnungen der betreffenden Personen, um Fahrzeiten zu messen und Anfahrten zu trainieren. Die möglichen Opfer ahnten davon nichts.255 1989 wurden alle Bezirksverwaltungen des MfS nochmals genau über die „Realisierung von Untersuchungshandlungen gegen die in den spezifischen Vorbeugemaßnahmen zur Festnahme erfassten Personen sowie die Prüfung straftatverdächtigter Handlungen und Vorkommnisse in Isolierungs - , Internierungs - und Kriegsgefangenenlagern“ instruiert.256 Mitte September 1989 hatten die Kreisdienststellen des MfS ihre Einsatzbereitschaft unter den Bedingungen der „Einsatzbereitschaft bei Kriegsgefahr“ zu überprüfen. Dazu gehörte ein „stabsmäßiges Training der Realisierbarkeit geplanter Maßnahmen zur Durchführung spezifisch - operativer Vorbeugungsmaßnahmen der Kennziffer 4.1“.257 Zwar hieß es in einer „Konzeption zur weiteren Umsetzung der Direktive 1/67 des Genossen Minister in der Bezirksver waltung Erfurt“ von Oktober 1987, dass „mit der Planung der spezifisch - operativen Vorbeugemaßnahmen“ zu gewährleisten sei, „dass Feinde erkannt und so unter Kontrolle gebracht werden, dass ihre Liquidierung / Ausschaltung auf besonderen Befehl erfolgen kann, wenn es die Lage erfordert und wenn es politisch richtig und notwendig ist“.258 Allerdings sind die Begriffe „Liquidierung“ und „Vernichtung“ von „subversiven Kräften“ im MfS - Vokabular semantisch unscharf. Wenngleich das MfS nicht vor der Ermordung politischer Gegner zurückschreckte, bedeutete Liquidierung im MfS - Jargon nicht zwangsläufig physische Vernichtung.259 Zum Teil bedeuten die Begriffe eindeutig „töten“260, teilweise aber auch „unschädlich machen“ oder „festnehmen“. Die schillernde und an sich gewalttätige Semantik hätte den handelnden MfS - Mitarbeitern im Ernstfall aber „zumindest einen unheilvollen Interpretationsspielraum eröffnet“.261 Die Planungen des MfS zur Isolierung missliebiger Personen in gesonderten Lagern besaßen Entsprechungen im sowjetischen Gulag - System. Es gab aber auch eine „Ähnlichkeit des Vorbeugekomplexes mit analogen Aktivitäten des Nazi - Regimes“. Am 7. Juli 1938 richtete der damalige Chef der Sicherheitspoli253 Vgl. www.bstundde / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. 254 Vgl. Heinrich Löbbers, Und keiner will es gewesen sein. In : Sächsische Zeitung vom 14. 7.1994. 255 Vgl. Aussage eines hohen MfS - Offiziers. Zit. in Die Welt vom 6. 6.1990. 256 Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst VI, S. 56. 257 KDfS Geithain vom 16. 9.1989. Zit. in Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 559. 258 Zit. in FAZ vom 24. 4.1992. 259 Vgl. BVfS Dresden, AKG / Kontrollgruppe : Protokoll der Dienstbesprechung von Böhm mit den Leitern und Parteisekretären der Struktureinheiten am 10.10.1989 ( ABL, BA Dresden 4). 260 Vgl. Voigt, Mord, S. 59–63. 261 Auerbach, Vorbereitungen auf den Tag X, S. 127.

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zei und des Sicherheitsdienstes ( SD ), SS - Gruppenführer Reinhard Heydrich, an alle Gestapo - Leitstellen ein Schreiben, welches die Erstellung einer sogenannten A-Kartei über potenzielle Staatsfeinde verfügte. Sie sollten in Spannungsperioden und im Fall der Mobilmachung festgenommen werden. Die Kartei war nach einem Kennziffernsystem in drei Gruppen ( A1, A2 und A3) gegliedert. Die Gruppe A1 umfasste „alle diejenigen Staatsfeinde, die ob ihrer besonderen Bedeutung und Gefährlichkeit schon bei der Einleitung der getarnten Vorausmaßnahmen für die allgemeine Mobilmachung festgenommen werden müssen“. Die unter der Kennziffer A2 erfassten Personen sollten bei der öffentlichen Anordnung der Mobilmachung verhaftet werden. In die Gruppe A3 waren Personen eingegliedert, die zwar die staatliche Sicherheit nicht unmittelbar gefährdeten, „die aber in Zeiten schwerer Belastungsproben und der durch sie verursachten innerpolitischen Spannungen als politisch so gefährlich angesehen werden müssen, dass ihre Festnahme oder ihre besondere Über wachung ins Auge gefasst werden muss“. In seiner Anordnung bestimmte Heydrich auch, wer in der A - Kartei zu erfassen sei. Dies waren vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlich - konservative Kräfte, Vertreter des politischen Katholizismus, sogenannte Wirtschaftsschädlinge bis hin zu einfachen Querulanten. Eine weitere Anordnung des Leiters der Sicherheitspolizei, SS - Brigadeführer Werner Best, an die Gestapo - Leitstellen vom 28. September 1938 verfügte, was mit den Festgenommenen zu geschehen habe. Sie sollten zunächst in Polizei oder Gerichtsgefängnissen eingesperrt und baldmöglichst in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und in ein neu zu errichtendes Lager in Ostpreußen verbracht werden. Insofern befand sich das MfS mit dem Vorbeugekomplex in schlimmster deutscher Tradition. Neuartig war allerdings die bürokratische Perfektion und Akribie, welche die Eventualplanungen des SED Regimes kennzeichneten.262 Auch Clemens Vollnhals meint, man habe es „mit nichts anderem als dem Instrument der Schutzhaft zu tun“,263 da für die Einweisung in die Isolierungslager, die als Zwangsarbeitslager konzipiert waren, keine richterliche Anordnung vorgesehen war.

262 Zum Vergleichsaspekt : www.bstundde / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. Zum weiteren Verlauf vgl. Kap. III.1.1. 263 Vollnhals, Geheimpolizei und politische Justiz, S. 179.

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Kirche am Ende des Sozialismus

Kirchliche Positionen : Zu den Hauptgegnern zählte die SED - Führung die Kirchen, vor allem die evangelisch - lutherische. Sie war die „einzige autonome Großorganisation“264 außerhalb des organisierten Bereichs des Regimes. Obwohl sie sich wegen ihres religiösen Auftrages selbst nicht als Opposition verstand, übernahm sie faktisch doch entsprechende Funktionen.265 Sie hatte eine doppelte Rolle, und zwar als gesellschaftliche Kraft mit einem von der Ideologie abweichenden Wertesystem, aber auch rein funktional als Dach oppositioneller Gruppierungen. Stellvertretend für die „zum Schweigen gebrachte Gesellschaft“ machte sie Kritik publik und wurde so zur politischen Ersatzöffentlichkeit.266 Eine solche politische Rolle konnte sie nur spielen, weil sie durch ihre Zugehörigkeit zur gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland ( EKD ) ihre politische Unabhängigkeit bis Ende der sechziger Jahre hatte hinüberretten können. Wie schon die EKD widersprach nach dessen Bildung auch der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR Ende der sechziger Jahre der SED - Politik, musste sich aber unter dem Einfluss „progressiver“ Theologen bald als „Kirche im Sozialismus“ definieren. Dieser schillernde Begriff ließ sowohl eine Definition als Kirche für den Sozialismus als auch im Sinne einer Gefangenschaft zu. In der Kirche selbst führte die neue Ausrichtung eher zu einer Orientierung an einem demokratischen Sozialismus, der die Option einer weiteren Demokratisierung beinhaltete.267 „In mühsamen kleinen Schritten“, so Werner Leich, versuchte man in dieser Hinsicht Fortschritte zu erreichen.268 Damit irrte die Kirche jedoch. Viel zu lange, so Gottfried Forck, habe man „in der Hoffnung gehandelt, einen besseren Sozialismus zu erreichen, die Vertreter des Staates verändern zu können“. Die Ortsbestimmung „Kirche im Sozialismus“ sei derweil als Grundsatzerklärung für das SED - Regime missbraucht worden.269 Bei der Beurteilung des Handelns der Kirche müssen unveränderbare Bedingungsfaktoren ihrer Existenz beachtet werden. Sie stand permanent unter dem Druck von Faktoren wie dem Verbot nichtsozialistischer und demokratisch sozialistischer Richtungen, der Unterwanderung und „Differenzierung“ durch das MfS, der versuchten Steuerung durch den Staat, der Notwendigkeit diplomatischen Verhaltens sowie der staatlichen Forderung nach ausschließlich religiöser Betätigung. Auch gab es keine einheitliche politische Haltung, und zu keinem Zeitpunkt war Kirche identisch mit Kirchenleitung und - ver waltung. Ob Amtskirche oder „Kirche von Unten“, alle waren Teil der Kirche, die durch vielfältige Erscheinungsformen sowie ein Mit - und Gegeneinander verschiedener Pole geprägt war. Politisch spannte sich der Bogen von prokommunistischen 264 Knabe, Die deutsche Oktoberrevolution, S. 11. 265 Vgl. Pollack, Ursachen, S. 17. 266 Heino Falcke. In : Rein, Die Opposition, S. 218. Vgl. Krusche, Das prophetische Wächteramt, S. 99. 267 Vgl. Wir haben auf Reform gesetzt, nicht auf Revolution. In : Die Zeit vom 22. 3.1991. 268 Werner Leich, Ein Hirte, umringt von Wölfen. In : Rheinischer Merkur vom 18. 9.1992. 269 Gottfried Forck. Zit. in Süddeutsche Zeitung vom 24. 9.1990.

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Richtungen wie dem Weißenseer Arbeitskreis oder der Christlichen Friedenskonferenz ( CFK ) bis hin zu freiheitlich - demokratischen Positionen, die auch einen demokratischen Sozialismus strikt ablehnten. Die Bandbreite trat auf Synoden zutage. Eine durchstrukturierte politische Landschaft wie in westlichen Demokratien existierte freilich nicht. Die Fronten waren durch zurückhaltende Positionierungen oft schwer erkennbar. Meinungen konnten sich nur bedingt im freien Diskurs bilden und nicht alle Auffassungen gleichermaßen artikulieren. SED - freundliche Personen wurden unterstützt, andere liefen Gefahr, verhaftet oder observiert zu werden. Nach dem Motto „Divide et impera“ bemühte sich die SED, die Kirche durch „Differenzierung“ zu spalten; ein Prozess, wie er bereits bei der Gleichschaltung der Parteien nach 1945 abgelaufen war. Im SED - Jargon hieß das, „loyal gegenüber unserem Staat handelnde, im Friedenskampf engagierte kirchliche Kräfte in ihrem Tun zu ermuntern, reaktionäre Kräfte zu zügeln und zu isolieren“.270 Die angestrebte Differenzierung lief auf die Etablierung einer scheinkirchlichen Struktur hinaus. Der Prozess fand bereits seit den fünfziger Jahren statt und hatte nur dank der rund zwanzigjährigen gesamtdeutschen Strukturen der EKD nicht die Ausmaße erreicht wie in Ungarn oder der Tschechoslowakei. Kirche und Basisgruppen : Eine wichtige Rolle spielte die Kirche als „Wurzelboden“271 neuer Parteien und Bewegungen. Unter dem Dach engagierter oder liberaler Gemeinden konnten sich diese entwickeln. Der Prozess basierte nicht auf willentlicher Entscheidung von Gremien, vielmehr suchten oppositionelle Kräfte von sich aus Freiräume. Ein Teil der Gruppen war integraler Bestandteil der Gemeinden, andere glichen eher Asylanten. So oder so aber wirkte kirchliche Orientierung auf sie. Aus Sicht vieler Gemeindemitglieder handelte es sich um eine „kleine mutige Schar mit sehr verworrenen politischen Zielvorstellungen“, die oft „sehr zerstritten“ war.272 Die offizielle Haltung der Kirchenleitung war eher auf Ausgleich und Verständigung gerichtet. Sie versuchte, politischen Aktivitäten die Spitze zu nehmen273 und identifizierte sich auch nicht mit ihnen.274 Es lag im Ermessen der Gemeinden, wie die Gruppen integriert waren. Die Position der Kirche wurde von Akteuren, die die Gemeinden nur als Asyl nutzten, oft nicht verstanden. Einige Gruppen verlangten Verhaltensweisen, die ihren Zielen entgegenkamen, aber nicht immer etwas mit dem Auftrag der Kirche zu tun hatten. Dass basisdemokratische oder anarchistische Vorstellungen manchen Kirchenleitungen und Pfarrern nicht zusagten, leuchtete ihnen nicht ein. Paradoxerweise warf Bärbel Bohley ausgerechnet den Kirchen vor, sie hät270 Karl Marx und Friedrich Engels zur Konspiration im Klassenkampf des Proletariats. Hochschule des MfS 1983. Zit. in Sieghart Mühlmann, Die Kirchen im Stasi - Spinnennetz. In : FAZ vom 3. 9.1990. 271 Lohmann, Gratwanderung, S. 21. 272 Schröder, Die DDR, S. 10. 273 Vgl. Werner Leich. In : ARD Hessen 3 am 9. 2.1992. Vgl. FAZ vom 10. 2.1992. 274 Vgl. Martin Ziegler. In : Wir haben auf Reform gesetzt, nicht auf Revolution. In : Die Zeit vom 22. 3.1991.

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ten „wesentlich dazu beigetragen, dass sich im Osten keine ernstzunehmende Opposition entwickeln konnte“.275 Staat und Kirche : Eine wichtige Rolle für Kirchen und Gruppen spielte die „Ökumenische Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, die zwischen Februar 1988 und April 1989 Vertreter von 19 Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften der DDR zusammenführte.276 Vor dem Hintergrund globaler Probleme, wie sie von der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver / Kanada beschrieben worden waren, bot die Versammlung Gelegenheit, DDR - spezifische Probleme zu diskutieren. Die Veranstaltungen zeigten, dass diese oft Teil weltweiter Herausforderungen waren und die ideologiegeleitete SED - Politik in ihrer Unfähigkeit, Probleme offen zu diskutieren, nichts zur Lösung globaler Probleme beitrug. Erstmals formulierten Vertreter der Amtskirche und Basisgruppen gemeinsam einen Text zur Lage in der DDR.277 Die Ökumenische Versammlung gab einen der stärksten Impulse in Richtung friedliche Revolution278 und führte zugleich zu einer neuen Qualität staatlicher Restriktionen gegen die sich an internationalen Standards orientierende Arbeit. Im Februar 1988 warnte Politbüromitglied Werner Jarowinsky Werner Leich und Martin Ziegler, die Kirche sei kein rechtsfreier Raum. Die Kirchenleitung habe politische Aktivitäten unter ihrem Dach zu unterbinden. Die Erklärung wurde auch den SED - Bezirks - und - Kreisleitungen als Richtlinie für Gespräche mit Kirchenvertretern übersandt. Honecker ordnete an, den „Missbrauch der Kirchen für weitere staatsfeindliche Tätigkeiten zu verhindern“.279 Die SED - Führung nutzte den zehnten Jahrestag des Spitzengesprächs zwischen Honecker und der Evangelischen Kirche am 6. März 1978 und die damals bestätigte Formel der „Kirche im Sozialismus“ zur Beschwörung angeblich bewährter Verhältnisse zwischen Staat und Kirche.280 Am 3. März 1988 traf Honecker mit Leich zusammen. Dabei betonte der Bischof, die Kirche sehe ihre Aufgabe „nicht darin, eine Oppositionspartei zu sein“. Die Probleme, mit denen sie konfrontiert werde, hätten keinen Ursprung im Dienst der Kirche. Die Auseinandersetzung müsste sie stellvertretend für Staat und Gesellschaft wahrnehmen, weil die eigentlichen Adressaten keine Bereitschaft zum Dialog signalisierten. Statt Argumente würden die Menschen „lediglich die distanzierte Entscheidung der Macht“ erfahren, ihre Kritik würde als Ausdruck von Staatsfeindlichkeit gewertet.281 275 Zit. in FAZ vom 13. 2.1992. 276 Unterlagen ( ABL, Hefter VI, Ökumenische Versammlung ). Zu Inhalten und Abläufen vgl. Garstecki, Zeitansage Umkehr, S. 109–133; Urich, Die Bürgerbewegung, S. 103– 120. 277 Vgl. Richard Schröder, Erblast der Gespensterfurcht. In : FAZ vom 29. 9.1990. 278 So Leich, Wechselnde Horizonte, S. 213. 279 MfS, der Minister, vom 19. 2.1988 : Zu prinzipiellen Fragen der Beziehungen zwischen Staat und Kirche ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 386–396). 280 Vgl. Kaden, Von den Friedensgebeten ging alles aus, S. 102. 281 Ansprache von Werner Leich beim Gespräch mit Erich Honecker. Zit. in FAZ vom 8. 3.1988.

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Kirche setzt auf Reformen: Die Haltung der Kirchenleitung, die nun die Linie der „Kirche im Sozialismus“ immer mehr verließ,282 blieb nicht ohne Konsequenzen. Drei Tage nach dem Gespräch ging das MfS in einigen Kirchen massiv gegen Gottesdienstbesucher vor. Die SED - Führung signalisierte, dass sie an einer Disziplinierung, nicht aber an einem Disput interessiert war und kündigte den 1978 geschlossenen „Burgfrieden“ zwischen Staat und Kirche auf.283 Im Frühjahr 1988 setzte eine verstärkte Zensur kirchlicher Presse ein. Der Kirche sollte ein Mitspracherecht und das Benennen gesellschaftlicher und politischer Probleme verweigert werden. Zum Ostersonntag erschien „Die Kirche“ ( Berlin) mit weißen Flecken. Die „Mecklenburgische Kirchenzeitung“ durfte am 27. März nicht erscheinen. Zensiert wurde auch die thüringische Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“, aus deren Ausgabe am 2. Oktober Passagen gestrichen wurden.284 Im Laufe des Jahres gab es siebzehn generelle Auslieferungsverbote von Kirchenzeitungen sowie ständige Eingriffe, Neudrucke von Teilauflagen und verspätete Zustellungen.285 Während Leich gegenüber Stoph die Zensur kritisierte,286 verschärfte das Regime seinen Kurs noch. In Leipzig wurden ständig Mitglieder von Basisgruppen verhaftet.287 Der Druck und die wachsende Ausreisewelle führten hier zu Differenzen zwischen den Gruppen. Während einige die Friedensgebete nutzten, um die politischen Verhältnisse zu kritisieren – und damit den Freiraum der Kirche nach Meinung der Kirchenleitung „überstrapazierten“ –, wehrten sich andere dagegen, die Friedensgebete zu Veranstaltungen von „Ausreisern“ zu degradieren.288 In dieser angespannten Situation fanden im Juni 1988 regionale Kirchentage in Görlitz, Erfurt, Rostock und Halle statt. Überall dominierten politische Themen. Bei den Räten der Bezirke und im MfS galt erhöhte Einsatzbereitschaft.289 Kurt Hager erklärte, in der Kirche dürfe kein Platz für „staatsfeindliche Aktivitäten“ sein. Die Krise spitzte sich zu, als die Regierung ein Gespräch mit Leich im Juli 1988 kurzfristig absagte. Die Leitung des Kirchenbundes wurde aber nicht nur von der SEDFührung kritisiert. Während diese ein zu starkes politisches Engagement beklagte, warfen ihr Basisgruppen vor, sie zu wenig moralisch und praktisch zu unterstützen. In Leipzig kam es nach der Sommerpause 1988 zu einem Eklat zwischen Kirchenleitung und Basisgruppen, als Superintendent Friedrich Magirius es ablehnte, weiter die Verantwortung für die Montagsgebete in der Nikolaikirche zu 282 Vgl. Martin Ziegler. In: Wir haben auf Reform gesetzt, nicht auf Revolution. In : Die Zeit vom 22. 3.1991. 283 Vgl. Stolpe, Schwieriger Aufbruch, S. 167. 284 Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates : Zensurstreichungen Druckfahne, o. D. (ThHStA, 41678). 285 Vgl. Hildebrandt, Mein Blatt, S. 71; Hartmann, Bis zur Toleranzgrenze, S. 46. 286 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 21. 7.1988. 287 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 169. 288 So Magirius, Selig sind, S. 11. 289 RdB Erfurt : Plan der Einsatzbereitschaft des RdB für den evangelischen Kirchentag in Erfurt in der Zeit vom 10.–12. 6.1988 ( ThHStA, 41153).

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übernehmen. Er legte diese in die Hände des Kirchenvorstandes. Daraufhin wurde am 29. August beim Friedensgebet ein Beschwerdebrief an den Landesbischof verteilt. Der Kirchenvorstand verfügte, dass Vorwürfe und Erklärungen in der Kirche nicht mehr vorgetragen werden dürften. Mitglieder der Basisgruppen besetzten den Altarraum. Erstmals kam es zu einer Kundgebung vor der Kirche. Von nun an drängte ein Teil der Opposition aus den Kirchen. Die Kirchenleitung sah sich immer mehr der Kritik von zwei Seiten ausgesetzt. Die SED- Sicht formulierte Staatssekretär Löff ler auf einer Beratung mit den Stellvertretern für Inneres der Räte der Bezirke am 25. August 1988. Auf der Görlitzer Bundessynode 1987 sei ein Programm angenommen worden, das dem einer Oppositionspartei gleiche. Tatsächlich waren Forderungen nach einem Wehrersatzdienst, mehr Reisefreiheit, Übersiedlungsmöglichkeiten und Reformen nach dem Vorbild der Sowjetunion und Polens aufgestellt worden. Löff ler meinte, derzeitig nähmen „unrealistische Kräfte in der Kirche wichtige Positionen“ ein. Die Stellvertreter für Inneres wurden instruiert, dahin zu wirken, den „jetzigen negativen Kurs umzukehren, zurückzukehren zu den Grundsätzen der Gespräche von 1978“.290 In der Tat bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen des Regimes. Auf der Synode des Kirchenbundes in Dessau vom 16. bis 20. September 1988 vollzog dieser „eine entschlossene Kursänderung“. Es gab grundsätzliche Forderungen nach demokratischen Reformen auf sozialistischer Grundlage.291 Leich erklärte : „Was wir in unserer eigenen Gesellschaft als ‚Erneuerung in der Wahrheit‘ zu befördern wünschen, ist nicht die Alternative zu einer sozialistischen Gesellschaft, sondern der Versuch der Erneuerung der Gesellschaft unter den Bedingungen der Gegenwart.“ Er forderte Dialogbereitschaft, Rechtssicherheit, eine offene Informationspolitik und eine freie Auseinandersetzung über den künftigen Weg der Gesellschaft. Die Kirche strebe eine „Gesellschaft mit menschlichem Antlitz“ an.292 Im Oktober 1988 forderte die Synode der Kirchenprovinz Sachsen in Halle geheime Wahlen – der neuralgische Punkt jeder Diktatur.293 Auch die katholischen Bischöfe äußerten sich kritisch. In einem Gemeinsamen Hirtenbrief der Berliner Bischofskonferenz vom 14. September 1988 distanzierten sie sich erneut vom Marxismus / Leninismus, schlossen die Mitgliedschaft in Organisationen der SED für Katholiken aus und formulierten ihre Erwartung, „dass die von Repräsentanten des Staates verkündete Gleichachtung und Gleichberechtigung aller Bürger unabhängig von ihrer Weltanschauung oder ihrem religiösen Bekenntnis in allen Bereichen der Gesellschaft erlebbare Wirklichkeit wird“. Ebenso erwarteten sie freie Gewissensentscheidungen von Christen in Fragen der Wehrerziehung und des Militärdienstes. Angesichts der 290 RdB Frankfurt / Oder, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 2. 9.1988 (Brandenburg. LHA, Rep. 601, 46285). 291 Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 57 f. Vgl. Rein, Die Opposition, S. 202–204. 292 Zit. in FAZ vom 22. 9.1988. 293 Vgl. Röder, Es bogen sich, S. 25.

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Umweltzerstörung und der Resignation im Lande forderten sie zum Engagement aus dem Glauben auf.294 Einen weiteren Höhepunkt in der Positionsbestimmung der Kirchen stellte die 2. Sitzung der Ökumenischen Versammlung im Oktober 1988 in Magdeburg dar. Hier ging es darum, „die spezifische Situation unserer Gesellschaft im globalen Zusammenhang aufzugreifen“.295 Als für die DDR wichtigste Punkte wurden angesehen : 1. Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, 2. Leben in Solidarität – eine Antwort auf weltweite Strukturen der Ungerechtigkeit, 3. Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung, 4. Der Übergang von einem System der Abschreckung zu einem System der politischen Friedenssicherung, 5. Orientierungen und Hilfen zur Entscheidung in Fragen des Wehrdienstes und der vormilitärischen Ausbildung, 6. Aspekte der Friedenserziehung, 7. Kirche des Friedens werden, 8. Wertewandel – Lebensweise, 9. Den Menschen dienen – das Leben bewahren, 10. Ökologie und Ökonomie, 11. Energie für die Zukunft sowie 12. Der Wert von Informationen für Umweltbewusstsein und - engagement.296 Durch eine Diskussion in den Gemeinden erreichten sie eine breite Öffentlichkeit.297 Ein Vergleich der Themen mit den Zielen der Bürgergruppen während der friedlichen Revolution macht deutlich, in welch hohem Maße deren inhaltliche Orientierungen durch Fragestellungen der ökumenischen Diskussion bestimmt wurden. Als Gegengewicht zur kirchlichen Orientierung beschloss das Politbüro Ende 1988 die Bildung eines Freidenkerverbandes. Er sollte den Marxismus - Leninismus offensiv propagieren und „Versuchen reaktionärer kirchlicher Kräfte, ihren religiösen Einfluss zu erweitern, und dem politischen Missbrauch verfassungsmäßig garantierter Rechte der Kirche offensiv begegnen“.298 Die Situation erinnerte an die fünfziger Jahre, als Ulbricht mit dem „Sputnik - Atheismus“ gegen den christlichen Glauben zu Felde zog. Anders als damals zielte die Kampagne Ende der achtziger Jahre gegen eine gesellschaftliche Diskussion über Probleme, die mangels Alternativen in den Kirchen geführt wurde, mit christlichen Glaubensinhalten aber nur bedingt zu tun hatte. Abschied von der „Kirche im Sozialismus“ : Anfang des Jahres 1989 spitzten sich die Konflikte zwischen Staat und Kirchen weiter zu. Hier gab es unüberhörbar Forderungen nach Demokratie und Meinungsvielfalt. Die Oppositionsgruppen wurden in kirchenleitenden Kreisen „als Ausdruck des gewachsenen 294 Kirche – Mit dem Menschen für den Menschen. Hirtenbrief der Berliner Bischofskonferenz vom 14. 9.1988. In : Lange / Pruß / Schrader / Seifert ( Hg.), Katholische Kirche, S. 352–357. 295 Grundregelungen der Ökumenischen Versammlung, Vorlage 1 der 1. Sitzung vom 12.– 15. 2.1988 in Dresden, S. 1. Vgl. Garstecki, Zeitansage Umkehr, S. 115. 296 Zit. bei Garstecki, Zeitansage Umkehr, S. 115 f. 297 Vgl. Hektographierter Text der Ökumenischen Versammlung, 2. Sitzung vom 8.– 11.10.1988 in Magdeburg. Vgl. Garstecki, Zeitansage Umkehr, S. 115. 298 MfS vom 30.12.1988 : Bildung des Verbandes der Freidenker in der DDR. In : Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 250–252. Vgl. SED - Parteisekretariat : Notiz zur Bildung des Verbandes der Freidenker der DDR vom 16.1.1989. Abgedruckt in Besier / Wolf (Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, Dok. 122, S. 605–607.

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Unmuts über innenpolitische Stagnation“ angesehen und unterstützt.299 Der Staat steuerte dagegen. Mielke forderte, die Versuche kirchlicher Kreise zurückzudrängen, ein politisches Mitspracherecht zu erlangen und als politischer Machtfaktor im Staat zu wirken. Die Abteilungen Inneres bei den Räten der Bezirke sollten den innerkirchlichen Differenzierungsprozess weiter vorantreiben und der „Tendenz, dass die kath. Kirche und neuerdings vor allem die kleineren Religionsgemeinschaften sich öffentlich mit dem negativen Kurs einiger ev. Kirchen identifizieren“, wirksam begegnen.300 Am 14. Januar erklärte die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen indessen, man werde auch weiterhin Stellung beziehen.301 Als ab dem 12. Januar in Leipzig erneut Jugendliche verhaftet wurden,302 setzten Fürbitten für die Inhaftierten ein.303 Nach einem Schweigemarsch für Demokratisierung, anlässlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht am 15. Januar in Leipzig, wurden mehr als 50 Personen festgenommen. Dies rief unter kirchlichen Amtsträgern einen Solidarisierungseffekt her vor, der sich in Stellungnahmen gegenüber dem Staat widerspiegelte. Die Superintendenten Friedrich Magirius und Johannes Richter sowie das Landeskirchen-

Bild 1:

Demonstrationszug in der Leipziger Petersstraße am 15.1.1989.

299 SED - BL Dresden vom 14. 3.1989 : Informationsbericht von Januar / Februar 1989 (SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/70, Bl. 222–231). 300 RdB Frankfurt / Oder, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 27.1.1989 (Brandenburg. LHA, Rep. 601 46285). 301 Ev. - Luth. Landeskirchenamt Sachsens an alle Kirchgemeinden vom 17.1.1989 ( ABL, H. I /2). 302 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 25/89 vom 16.1.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 11–13. 303 Vgl. Magirius, Selig sind, S. 12.

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amt Sachsen riefen zu Fürbitten auf.304 Löff ler konstatierte, es sei nicht gelungen, die Landeskirchen „auf eine klare Position zur Friedenspolitik der DDR festzulegen“ und „das Tolerieren feindlicher und negativ wirkender Kräfte unter dem Dach der Kirche zu unterbinden“.305 Das zeigte auch ein von evangelischen und katholischen Kirchen zusammengestelltes Grundsatzpapier, in dem bedauert wurde, dass die Lösung anstehender Probleme durch Gängelung verhindert werde. Die DDR brauche mündige Bürger, die „mitdenken und sagen, was sie denken“. Der SED - Anspruch, grundsätzlich Recht zu haben, verhindere eine eigenständige und kritische Mitarbeit der Menschen. Die Spannung zwischen Regierenden und Regierten verhindere inneren Frieden und den „Hausfrieden im gemeinsamen europäischen Haus“.306 Vor dem Hintergrund gewachsener Spannungen fand vom 6. bis 9. Juli in Leipzig der Kirchentag der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens statt. Zwar verlief er „ohne nennenswerte Störungen“, und Landesbischof Hempel grenzte sich von sozialismusfeindlichen Gruppen ab; vor dem Hintergrund der Ökumenischen Versammlung aber forderten kirchenleitende Personen gleichzeitig erneut „prinzipielle Veränderungen“.307 Es gab „Angriffe auf staatliche Positionen zu politischen und ökonomischen Fragen“.308 Am 19. Februar sprachen Leich und Ziegler mit dem für Kirchenfragen zuständigen Mitglied des Politbüros. Jarowinski verlas eine Erklärung, wonach die Kirche die verfassungsmäßige Trennung von Staat und Kirche verletze. Das Politbüro forderte eine augenblickliche Änderung des Weges. Nach dem Rapport wurden überall die Superintendenten zu den Räten der Kreise zitiert, um parallele Erklärungen entgegenzunehmen. Der Landeskirchenrat forderte sie daraufhin auf, der Einladung in die Räte nicht zu folgen und keine Erklärungen entgegenzunehmen : „Der Kalte Krieg zwischen Staat und Kirche bekam eine neue Auf lage.“ Im Bund der Evangelischen Kirchen sank die Bereitschaft, an der Formel „Kirche im Sozialismus“ festzuhalten.309 Das Staatssekretariat für Kirchenfragen sah am 22. Februar in den Orientierungen kirchenleitender Kräfte deutliche Differenzierungen. Erklärungen wie der von Altbischof Werner Krusche, „Kirche im Sozialismus“ bedeute, „die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Staatlichkeit der DDR zu bejahen“, stünden kirchenleitende Persönlichkeiten mit „unrealistischen Positionen“ entgegen. 304 Superintendenturen der Kirchenbezirke Leipzig - Ost und - West an Pfarrämter und kirchliche Einrichtungen der Kirchenbezirke vom 16.1.1989 / Ev. - Luth. Landeskirchenamt Sachsens an alle Kirchgemeinden vom 17.1.1989 ( ABL, H. I /2). 305 RdB Karl - Marx - Stadt, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 21. 7.1989 (SächsStAC, 128706). 306 Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung. In : Informationen des BMB 2 vom 27.1.1989, S. 7–9. 307 RdB Karl - Marx - Stadt, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 21. 7.1989 (SächsStAC, 128706). 308 BVfS Leipzig vom 13. 4.1989 : Synode der Landeskirche Sachsens und „Friedensgebet“ am 10. 4.1989 in der Nikolaikirche Leipzig ( BStU, ASt. Leipzigeipzig, AKG 38/2, Bl. 10–16). 309 Leich, Wechselnde Horizonte, S. 230 f.

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Direkt negative Kräfte wie Propst Furian oder der Dozent am kirchlichen Sprachenkonvikt, Richard Schröder, seien weit hinter das „lange erreichte Niveau christlich - marxistischen Dialogs“ zurückgefallen und lieferten, wie Schröder, „mit seiner unsachlichen und verzerrenden Sozialismus - und Marxismus - Interpretation umfangreiches Material für primitivste antikommunistische Hetze von Westmedien“.310 Am 5. März empfahl Leich, vom Begriff „Kirche im Sozialismus“ Abschied zu nehmen.311 Diese Wende hin zur Kirche für Menschenrechte, Demokratie und Selbstbestimmung sowie eine in Grundfragen klare Oppositionshaltung der Kirche gegen das Regime trugen in der Folgezeit mit zur Beseitigung der SED Diktatur bei. Die neue Haltung war Ausdruck wachsender Dominanz antisozialistisch - demokratischer Kräfte. Der Bischof der Evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebietes, Joachim Rogge, forderte am 15. April vor der Synode seiner Landeskirche die SED auf, sich dem Gespräch über Ausreisewünsche nicht länger zu entziehen. Die SED müsse über die Gründe nachdenken, die dazu führten. Immer mehr Menschen kämen mit Fragen zur Kirche, die eigentlich „Sache der Rathäuser“ seien.312 Mehr noch als Synoden und Kirchentage geriet die dritte und letzte Session der Ökumenischen Versammlung Ende April 1989 in Dresden zum Forum oppositioneller Stimmen.313 In mehreren Beschlüssen wurden mehr Gerechtigkeit, ein umfassender Dialog sowie Rechtssicherheit gefordert.314 Staatssekretär Löff ler versuchte vergeblich, eine Beschlussfassung zur Rechtssituation zu verhindern. So wurde der Text „Mehr Gerechtigkeit“ der Ökumenischen Versammlung – nach Meinung von Richard Schröder „der klarste kritische Text zur DDR“, den bis dahin je ein Gremium in der DDR beschlossen hatte – verabschiedet.315 Friedrich Schorlemmer meinte, in Dresden sei es nicht nur um eine Änderung der DDR gegangen, sondern um „eine Perestroika, die die ganze Welt brauchte“.316 Allerdings gingen die Meinungen darüber auseinander, „wieweit wir mit den konkreten Wegen und Zielen des Sozialismus übereinstimmen“;317 ein Konflikt, der auch noch die Auseinandersetzungen in der friedlichen Revolution bestimmte. Die ökumenische Breite und der globale Bezug der Themen gab den DDR - Kirchen eine Rückendeckung, ohne die manche Forderungen nicht hätten ungestraft formuliert werden können. Die SED deutete das globale Engagement der Kirchen auf ihre Weise. Sie sprach intern von Kontakten der Kirchen zu Vertretern westlicher Geheimdienste wie 310 Zit. bei Ralf Georg Reuth, Realisten und Unzuverlässige. Eine Analyse zur Kirche in der DDR. In : FAZ vom 15. 4.1991. 311 Vgl. Leich, Wechselnde Horizonte, S. 232. 312 Zit. in Informationen des BMB 8 vom 28. 4.1989, S. 4. 313 Vgl. BVfS Potsdam vom 11. 5.1989 : Tendenzen in der Evangelischen Kirche Berlin - Brandenburg. In : Meinel / Wernicke, Mit tschekistischem Gruß, S. 55–57. 314 Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartungen. In : Rein, Die Opposition, S. 205–213. 315 Schröder, Repräsentationsauffassungen, S. 146. 316 Zit. in Wir haben auf Reform gesetzt, nicht auf Revolution. In : Die Zeit vom 22. 3.1991. 317 Zit. in Informationen des BMB 9 vom 19. 5.1989, S. 8 f.

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der CIA. Ziel des Westens, so das MfS, sei auch mit Hilfe der Kirchen eine Untergrabung der inneren Stabilität der DDR.318 Die Politisierung der Kirchen nahm aus SED - Sicht schnell zu. Selbst „progressive Kräfte“ äußerten sich nun immer kritischer.319 Deutlich wurde die gewandelte Haltung der Kirche auch bei ihrer offenen Kritik an der Kommunalwahlfarce im Mai 1989.320 1.5

Ausreisebewegung

Setzte die Kirche auf Änderungen in der DDR, so suchten viele Menschen ihren persönlichen Ausweg aus der Situation durch Verlassen ihrer Heimat.321 Die innenpolitische Lage und die Tatsache, in der Bundesrepublik problemlos als Deutscher aufgenommen zu werden, ließ den Strom Ausreisewilliger Ende der achtziger Jahre wieder anwachsen. 1988 kamen nach Angaben des Bundesinnenministeriums 29 031 Personen aus der DDR legal in die Bundesrepublik, 9 718 flüchteten. Nach Angaben des DDR - Innenministeriums gab es eine Zunahme vollendeter illegaler Grenzübertritte von 87,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.322 Trotz wachsender Zahlen konnte doch nur ein Bruchteil derer das Land verlassen, die dies wünschten, weshalb Antragsteller sich organisierten, um ihre Ziele durchzusetzen. Nachdem sie zunächst weiße Fähnchen an ihre Autoantennen gebunden hatten, führten sie 1988 bereits gemeinsame Wanderungen durch, gaben sich durch Plaketten oder Aufkleber mit einem roten Herzen und Blutstropfen, mit den Aufschriften „Aktiver“, „let’s go“ oder dem Vornamen, dem Buchstaben „A“ an Wohnungsfenstern, als Plakette oder Aufkleber, zu erkennen. Verbreitet waren auch auf das „D“ reduzierte Autokennzeichen oder andere bundesdeutsche Hoheitszeichen.323 Sie organisierten private Feiern, „um sie für ihre Ziele zu missbrauchen“, versuchten, sich überregional zu formieren, ihren Aktionen Öffentlichkeitswirksamkeit zu verleihen und „antidemokratisches Gedankengut auszutauschen“.324 Unter dem Dach christlicher Gemeinden entstanden neben Menschenrechts - , Friedens - oder Umweltgruppen immer mehr Selbsthilfegruppen der „Ausreiser“, die hofften, ihr Ziel durch kirchliches Engagement schneller zu erreichen. Durch sie rückte z. B. in Leipzig seit Anfang 1988 die politische Kritik an der DDR - Gesellschaft immer mehr 318 Vgl. Schell / Kalinka, Stasi und kein Ende, S. 280–282. 319 Vgl. SED - BL Dresden vom 17. 5.1989 : Info von März / April 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/70, Bl. 240 f.). 320 Vgl. dazu Kap. II.1.8. 321 Mit dem Phänomen der Ausreise hat sich bereits 1990 Lothar Fritze in der DDR - Zeitschrift „Sinn und Form“ beschäftigt. Vgl. Fritze, Das Ausreise - Phänomen, S. 197–210. 322 MdI vom 2. 5.1989 : Lageeinschätzung von 1988 ( BArch Berlin, DO 1, 52447). 323 MfS an Leiter der Diensteinheiten vom 1. 9.1988, Anlage : Orientierung zum Vorgehen gegen Personen, die zur Erzwingung der Übersiedlung öffentlich Symbole oder andere Zeichen in einer staatlichen Interessen widersprechenden Weise verwenden ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 362–369). 324 MdI vom 2. 5.1989 : Lageeinschätzung von 1988 ( BArch Berlin, DO 1, 52447).

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in den Mittelpunkt der Veranstaltungen. Im Laufe des Jahres wurden die montäglichen Friedensgebete so zu Großveranstaltungen. Friedensgebete wurden ihre regelmäßigen Treffpunkte.325 Das Fragemikrofon im Mittelgang der Kirche wurde, so Jugendpfarrer Klaus Kaden, zum „Klage - und Anklageort unterdrückter, verwundeter Menschen“.326 Bei den Basisgruppen gab es Verärgerung darüber, dass die Friedensgebete von „Ausreisern“ instrumentalisiert wurden.327 Am 8. Dezember 1988 verfügte der Ministerrat Richtlinien zur Zurückdrängung der Ausreisebewegung. Betriebe und Einrichtungen wurden angewiesen, Ausreisewillige von ihrem Vorhaben abzubringen.328 Am 1. Januar 1989 trat eine neue „Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland“ ( RVO ) in Kraft, die weitgehend auf Ablehnung stieß. An der Genehmigungspraxis, so Volkes Stimme, ändere sich im Grunde nichts, man erhalte jetzt lediglich eine Begründung für die Ablehnung. Fahren könne nur, wer Verwandte habe, es handele sich um „Gummi - Paragraphen“. „Die Versagungsgründe aus Sicherheitsgründen“, so ein Meister aus dem VEB DBM Döbeln / Werkzeugbau, würden zudem bewirken, dass keiner mehr Funktionen übernehme. Eine Fahrt in den Westen werde aktiver Mitarbeit vorgezogen.329 Trotzdem gab es mit Inkrafttreten der RVO bis Mitte Februar einen sprunghaften Anstieg von Vorsprachen zum Erhalt der Antragsunterlagen,330 weil viele ihren Antrag vorschriftsmäßig erneuerten. Bei Neubeantragungen wurde mehr als zuvor „Familienzusammenführung“ genannt, wobei diese „im weitest gehenden Sinn ( Onkel, Tante, Cousine ) genutzt“ wurde, um ein Recht auf Ausreise gemäß des § 10 (3) der RVO abzuleiten.331 Hatte der Staat gehofft, die Zahl der Ausreisewilligen zu verringern, so wurde er enttäuscht. Es zeigten sich „absolut verfestigte Positionen“.332 Im ersten Halbjahr 1989 zogen 38 917 DDR - Bewohner in den Westen. Im gleichen Zeitraum wurden 125 429 neue Anträge gestellt. Die mit Abstand meisten Ausreisen und Anträge fielen auf Berlin und die südlichen Bezirke.333 Mit Stand vom 31. Juli hatten 133 274 Bürger einen Antrag auf ständige Ausreise ( ASTA ) in die Bundesrepublik bzw. Berlin ( West ) gestellt.334 Dabei war der Anteil der

325 Vgl. Johannes Richter. In: Rein, Die Opposition, S. 183; Magirius, Wiege der Wende, S. 12. 326 Kaden, Von den Friedensgebeten ging alles aus, S. 102. 327 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 180. 328 Vorsitzender des Ministerrates vom 8.12.1988: Verfügung 192/88 ( ThHSTA, 42954). MfS, Rechtsstelle vom 10.12.1988 : Dienstanweisung 2/88 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 298– 361). 329 BVfS Leipzig vom 21.12.1988 : Reaktionen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 54– 59). 330 Vgl. KDfS Freital vom 8. 4.1989 : Antragstellungen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 648–653). 331 KDfS Freital vom 26. 9.1989 : Lage ( ebd., Bl. 545–552). 332 KDfS Niesky vom 7. 4.1989 : Antragsteller ( ebd., 10923, Bl. 379–386). 333 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 3933/89 von Juli 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 82–92. 334 Strafsache gegen Honecker, Az. 111–1–90, Band 04/15. Zit. in Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 109.

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Anträge aus humanitären Gründen rückläufig.335 Hauptmotive waren Unzufriedenheit mit sich ständig erhöhenden Wartezeiten bei Pkw - Bestellungen sowie den damit im Zusammenhang stehenden Reparatur - und Serviceleistungen, dem Angebot an Obst und Gemüse, modischer Kleidung und Konsumgütern in Verbindung mit der Entwicklung des Lohn - Preis - Gefüges, beschränkte Reisemöglichkeiten, fehlendes Vertrauen in die Perspektive des Sozialismus, Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Unzufriedenheit mit dem Umweltschutz und ungeklärte Wohnungsprobleme.336 Angesichts dieser Gründe hatte auch das Zusammenwirken des MfS mit Betrieben und Einrichtungen zur „Zurückdrängung sowie Unterbindung von ASTA“ wenig Aussicht auf Erfolg.337 Wegen des Ansturms musste der Staat zahlenmäßig kapitulieren. In den Abteilungen für Innere Angelegenheiten bei den Räten der Städte und Kreise setzten sich einzelne Mitarbeiter mit bis zu 150 Ausreisewilligen auseinander. In Betrieben eingesetzte Mitarbeiter resignierten.338 Gegen leere Regale ließ sich schlecht argumentieren. So war „keine wirksame gesellschaftliche Front zur Zurückdrängung von ASTA“ vorhanden. Die Stimmung hatte sich bereits so weit geändert, dass viele Antragsteller „provozierend fordernd“ auftraten,339 unmittelbar nach der Ablehnung einen neuen Antrag stellten, Beschwerden ankündigten oder Rechtsmittel einlegten.340 Die Angst vor politischer Restriktion wich offen gezeigter Wut. Oft wurde mit politischen Aktivitäten gedroht, was das Regime veranlasste, Antragsteller, deren Anträge abgelehnt wurden, „unter ständiger Kontrolle“ zu halten.341 Es blieb nicht bei Observierungen. Wegen „negativ - feindlich - provokativem Verhalten“ wurden bis Anfang März allein im Bezirk Dresden vierzig Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet.342 Aber auch dadurch ließ sich die Welle nicht mehr stoppen. Eigene Aktivitäten wurden zunehmend zum Mittel, dem Gefühl des Ausgeliefertseins an den SED - Staat zu begegnen. So suchten immer mehr Antragsteller die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bzw. deren Botschaften in Prag und Budapest auf, um ihre Ausreise zu erzwingen.343 335 Vgl. BVfS Leipzig vom 10.11.1989 : Sitzung der BEL am 13.11.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 37, Bl. 1–35). 336 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 9. 9.1989 : Antragsgeschehen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 94–101); KDfS Hohenstein vom 31. 7.1989 : Info ( ebd., 1812). Vgl. auch Tabelle bei Hilmer / Köhler, Der DDR läuft die Zukunft davon, S. 1385. 337 KDfS Freital vom 8. 4.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 648–653). 338 Vgl. Schwerpunkte zur Dienstbesprechung am 30. 8.1989 beim Minister für Staatssicherheit ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 381). 339 KDfS Freital vom 26. 9.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 545–552). 340 Vgl. KDfS Glauchau vom 20. 9.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AGK 533, 2, Bl. 56 f.); KDfS Freital vom 26. 9.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 545– 552); RdK an KEL Pirna vom 26. 5.1989 ( ABL, Dresden ). 341 KDfS Niesky vom 7. 4.1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 379– 386). 342 BVfS Dresden vom 9. 3.1989 : Aktennotiz des stellvertretenden Leiters ( ABL, Dresden). 343 Vgl. KDfS Freital vom 26. 9.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 545– 552).

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Am 13. März 1989 kam es in Leipzig nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche zu einem Schweigemarsch von mehreren hundert Personen durch die Innenstadt, etwa die Hälfte davon waren Ausreisewillige. Es war die erste größere Demonstration, die nicht von Menschenrechtsgruppen, sondern von Antragstellern organisiert wurde.344 Zwölf Demonstranten wurden festgenommen. Zur Kommunalwahl am 7. Mai 1989 planten Antragsteller, vor einem Wahllokal in Hohenstein - Ernstthal mit vor den Mund gebundenen schwarzen Tüchern und entsprechenden Plakaten in Form eines „öffentlichen Theaterstückes“ aufzutreten und ihre Ausreise zu fordern. Durch die Informierung westlicher Medien hoffte man, festgenommen und in den Westen verkauft zu werden. Andere Antragsteller wandten sich an Ver wandte oder Freunde in der Bundesrepublik und baten diese, sich an Rechtsanwälte oder Regierungsbeamte zu wenden, um so ihre Ausreise zu beschleunigen.345 Lohnenswert schien vor allem ein Engagement im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen. Bereits im März beschloss das MfS in Leipzig, Ausreisewillige, die Friedensgebete besuchten oder in Basisgruppen mitarbeiteten, ausreisen zu lassen. Zu einer regelrechten Ausreisewelle solcher Aktivisten kam es im September, als das MfS entschied, „zu Demonstrativhandlungen neigende Antragsteller“ fahren zu lassen, um so Störungen der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zu vermeiden.346 1.6

Oppositionelle Gruppierungen

Vorgeschichte seit Ende der siebziger Jahre Angestachelt von der Ausreisebewegung, setzte sich 1989 die Formierung einer Opposition in der DDR fort.347 Welche Rolle spielte sie im Umbruch ?348 Seit Beginn des KSZE - Prozesses hatte es im Ostblock Liberalisierungstendenzen gegeben, die meist von oppositionellen Strömungen gegen den Widerstand der Regimes durchgesetzt worden waren. Mit KOR in Polen, Charta 77 in der ČSSR und der demokratischen Opposition in Ungarn entstanden Ende der siebziger Jahre sich wechselseitig stimulierende und von Intellektuellen getragene Dissidentenbewegungen, die sich in ihrer Ablehnung reformkommunistischer Vorstellungen weitgehend einig waren. Im Gegensatz dazu blieb die Mehrheit der intellektuellen DDR - Opposition der Idee einer Reform des Sozialismus verhaftet.349 In ihrer Bedeutung blieben diese zudem weit hinter der „Gegenkultur“ 344 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 122/89 vom 14. 3.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 28. 345 Vgl. KDfS Niesky vom 7. 4.1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 379–386). 346 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 3.10.1989 : Protokoll der Dienstversammlung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 432, Bl. 5). 347 Zur Problematik des Begriffes „Opposition“ und „Bürgerrechtler“ vgl. Geisel auf der Suche, S. 9–13. 348 Die Aufzählung der Gruppen erfolgt ohne Anspruch auf Vollständigkeit. 349 Zur Entwicklung der Gruppen im Einzelnen Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch; Neubert, Geschichte der Opposition, S. 335–770; zur Struktur Findeis, Die Struktur

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der Gruppen zurück, die in Freiräumen der Kirchen siedelten, aber ebenfalls meist Modellen eines demokratischen Sozialismus oder dritter Wege anhingen. Die Mehrzahl oppositioneller Gruppe führte die Fehler des Systems nicht allein auf die marxistisch - leninistische Politik zurück, sondern interpretierte sie als Symptome einer allgemeinen Krise moderner Industriegesellschaften. Sorge um Frieden, soziale Gerechtigkeit und die natürliche Umwelt wurden dabei mit Kritik an der Politik der SED verbunden.350 Anders als in den Nachbarstaaten war die Situation in der DDR durch die Abwanderung jener in die Bundesrepublik bestimmt, die sozialistischen Vorstellungen generell kritisch gegenüberstanden. Das Bild der DDR - Opposition wurde so jeweils von denen bestimmt, die in der DDR verblieben. Andreas Schönfelder erinnert sich : „Damals waren unsere Diskussionen ohne Bezüge zu einer Widerstandskultur der SBZ und frühen DDR. Der 17. Juni 1953 samt seinen Zielen war als flächendeckender Volksaufstand völlig unbekannt. Eine heute selbstverständliche, auf liberaldemokratischen Positionen beruhende antikommunistische Grundhaltung war uns fremd, und ein Bewusstsein, Teil des sowjetischen Imperiums zu sein und dort als DDR eine sehr unsouveräne Rolle zu spielen, war im Vergleich zur Opposition in den östlichen Nachbarstaaten weitgehend unterentwickelt. Reformsozialistische Ideen dominierten den Diskurs auf Augenhöhe mit antikapitalistischen Weltverbesserungskonzepten, die stärker an linke westliche Diskussionen angelehnt waren als an die Diskussionsstandards in Polen oder der Tschechoslowakei. Der Weltverbesserungsgedanke hatte oft einen Vorrang vor einem am KSZE - Prozess orientierten Bürgerrechtsgedanken als Basis für einen demokratischen Grundkonsens. Die Oppositionsgeneration der siebziger und achtziger Jahre in der DDR hatte selbst kaum prägenden Kontakt zu Menschen mit eigenen Demokratieerfahrungen vor einem liberalen bürgerlichen Hintergrund. Auch wenn es diese Kontakte sporadisch gab, waren die Erfahrungen sehr schwer zu integrieren, weil der für eine Rezeption notwendige bürgerliche Bildungskanon weitgehend fehlte. Im politischen Wertekanon spielte Frieden und Gerechtigkeit eine weitgehend losgelöste Rolle von zentralen Begriffen wie Freiheit und Demokratie. Einig waren wir uns aber auf jeden Fall in der Wahrnehmung, dass die Zustände in hohem Maße für Menschen beschämend, entwürdigend, in keiner Weise hinnehmbar und Veränderungen unabdingbar waren. Den Mut, womöglich alles dafür zu riskieren, hatten fast alle.“351 Bei der Ausbildung oppositioneller Gruppen spielte die evangelische Kirche wie bereits erwähnt eine wichtige Rolle.352 Seit den KSZE - Vereinbarungen gewann sie mehr Spielraum zum weltweiten ökumenischen Engagement, zu grenzüberschreitenden Kontakten, aber auch zur Behandlung von Themen wie der Gruppen, S. 241–268. Zur politischen Einstellung Elvers, Politische Einstellungen, S. 222–240. Zur Kulturopposition und Zirkeln kritischer Intellektueller Rüddenklau, Störenfried, S. 15–25; Knabe, Der lange der Weg zur Opposition, S. 37–49. 350 Vgl. Neubert, Protestantische Aufklärung, S. 145 f. 351 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 352 Vgl. Kap. II.1.4.

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Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz. Sie wurde zum einzigen gesellschaftlichen Freiraum, der nicht ohne Weiteres von der SED vereinnahmt werden konnte.353 Dies wurde von Basisgruppen genutzt, für die die Kirche einen Schutzraum darstellte. Es bildeten sich thematische Gruppen und Formen offener Jugendarbeit. In den siebziger Jahren hatte das Regime noch genügend Spielraum gehabt, Opposition durch Gefängnis oder Ausweisung mundtot zu machen. Seit der Veränderung des internationalen Klimas Anfang der achtziger Jahre konnten fast nur noch verschiedene Varianten der Zersetzung praktiziert werden.354 Höhepunkte in der Entwicklung der Opposition waren Anfang der achtziger Jahre die vom Landesjugendpfarrer der Sächsischen Landeskirche, dem Dresdner Pfarrer Harald Bretschneider, vorangetriebene Friedensdekade der evangelischen Kirche unter der Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“, die vom Dresdner Pfarrer Christoph Wonneberger 1981 initiierte Bewegung für einen „zivilen Friedensdienst“,355 der 1982 von Pfarrer Rainer Eppelmann initiierte „Berliner Appell – Frieden schaffen ohne Waffen“,356 wiederkehrende Friedensaktionen zu den Jahrestagen der Bombardierung Dresdens am 14. Februar in der Dresdner Kreuzkirche,357 die in der Berliner Erlöserkirche von Eppelmann organisierte „Friedenswerkstatt 1982“ und jährliche Delegiertentreffen unter dem Namen „Frieden konkret“. Mit öffentlichen Erklärungen und Blues - Messen wurde Eppelmann zur Symbolfigur und zum Kristallisations - und Orientierungspunkt eines großen Teils der Opposition. Wichtige Impulse für die Friedensarbeit gingen von der Weltkirchenkonferenz 1983 in Vancouver aus, deren Ergebnisse in den Gemeinden und Gruppen diskutiert wurden.358 Als Teil der Weltkirche hatten die DDR - Kirchen mehr Sicherheiten gegenüber der SED, wenn es galt, christliche Positionen zu den Themen „Frieden“ oder „Gewalt“ zu vertreten. Die Weltkirchengemeinschaft immunisierte die Kirchen gegen staatlich geforderte Alleingänge. Anders als in der Bundesrepublik, wo Akteure der Friedensbewegung eine einseitige Abrüstung des Westens forderten, setzte sich die kirchliche Friedensbewegung in der DDR für eine Abrüstung in Ost und West ein. In der westlichen Friedensbewegung fand die DDR - Friedensbewegung kaum Unterstützung. 1984 lehnte die Frankfurter Aktionskonferenz der bundesdeutschen Friedensbewegung eine Solidaritätserklärung für in der DDR politisch Inhaftierte ab. Jürgen Fuchs wurde 1983 auf einer West - Berliner Friedenskundgebung das Rederecht ver weigert.359

353 354 355 356 357 358 359

Vgl. Magirius, Wiege der Wende, S. 11. Vgl. Rüddenklau, Bekämpfung, S. 11. Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 47–53. Abgedruckt in Eppelmann, Wendewege, S. 213–215. Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 32–44. Vgl. Magirius, Selig sind, S. 9. Vgl. Peter Schneider. In : Die Zeit vom 27. 4.1990.

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Seit Ende 1983 lud die Gemeinde der Leipziger Nikolaikirche jeden Montag um 17.00 Uhr zum Friedensgebet ein.360 Verschiedene Basisgruppen fanden mit ihren wöchentlichen Montagsgebeten hier „ihre natürliche Mitte“.361 In Dresden gab es seit den siebziger Jahren verschiedene kirchliche Themengruppen. Besondere Bedeutung gewannen in den achtziger Jahren angesichts der massiven Umweltzerstörung Initiativen wie der Ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke, in dem sich u. a. Klaus Gaber und Maria Jacobi engagierten.362 Wichtiger Kristallisationspunkt waren hier die jährlichen Gedenkfeiern an die Zerstörung der Stadt am 13. und 14. Februar 1945.363 1984 kam es zu einer Ausreisewelle, wie es sie seit dem Mauerbau nicht mehr gegeben hatte. Die Zahl der Übersiedler stieg auf etwa 40 000 an. Gezielt ließ das Regime oppositionell tätige Antragsteller ziehen, um die Friedensbewegung zu schwächen. Die Ausreisewelle erzeugte neue Ausreisewünsche und bildete einen sich selbst verstärkenden Prozess.364 Angesichts wachsender Probleme in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche kam es am 11. Februar 1985 zu einer Begegnung zwischen Honecker und dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR ( KKL ), Landesbischof Johannes Hempel. Die Kirchenleitung blieb sowohl in der Frage der Friedenssicherung als auch bei den von der KSZE und der UNO zugesicherten Menschenrechten bei ihrer Haltung. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen forderte im September 1985, die Menschenrechte im gesellschaftlichen Bereich zu ver wirklichen. Während die Kirchenleitung auf den Widerstand des Staates stieß, ging sie etlichen Mitgliedern kirchlicher Gruppen nicht weit genug. Sie suchten nach eigenen Wegen. So erfolgte im Winter 1985/86 in Berlin die Gründung der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ ( IFM ).365 Etwa zur gleichen Zeit gründete sich in Berlin die erste Umweltbibliothek. In deren Folge entstand das „Grüne Netzwerk“, welches das Spektrum der Kritik um ökologische Anliegen erweiterte. Neu an der IFM war, dass sie, während es bereits verschiedene Friedens - und Umweltgruppen gab, sich in Anlehnung an die UN - und KSZE - Dokumente ausdrücklich das Ziel setzte, das Thema „Menschenrechte“ öffentlich zu diskutieren. Erstmals etablierte sich eine Gruppe, die das schützende Dach der Kirche verließ. Doch auch in den Kirchen wurden nun immer häufiger Menschenrechtsfragen diskutiert und Arbeitsgruppen gebildet. Hatte es bereits bei den Themen „Frieden“ und „Umwelt“ unüberbrückbare Meinungsunterschiede zur SED gegeben, so berührte das Thema „Menschenrechte“ die Grundlagen der Diktatur. Wohl auch deswegen erließ das MfS 1985 eine Dienstanweisung über die „Bekämp360 Zur Entwicklung der Leipziger Oppositionsgruppen vgl. Schwabe, Die Entwicklung, S. 159–172. 361 So Harald Wagner. In: Rein, Die Opposition, S. 175. 362 Vgl. ausführlich Urich, Die Bürgerbewegung, S. 75–92. 363 Vgl. ebd., S. 27–44. 364 Vgl. Ronge, Loyalty, S. 35. 365 Gründungspapiere in Rüddenklau, Störenfried, S. 55 f.

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fung politischer Untergrundtätigkeit“366 und ging gezielt gegen einzelne Personen vor. Typische Aktionen waren z. B. der Einsatz von IM und andere Beobachtungsmaßnahmen, die Feststellung aller überörtlichen Aktivitäten und Verbindungen, Maßnahmen zur „Disziplinierung und Verunsicherung der Person sowie zur Zersetzung seiner Verbindung zu operativ relevanten Basisgruppen“, die Einleitung von Ordnungsstrafverfahren, andere Restriktivmaßnahmen wegen Zahlungsrückständen, die Aufbereitung von Hinweisen zur Person und „gezielte Gesprächsführung staatlicher Stellen mit kirchlichen Amtsträgern [...] zur weiteren Diskreditierung“.367 Einen Streitpunkt zwischen Staat und Kirche stellten hektographierte Schriften im Bereich der evangelischen Kirche dar.368 Seit 1986 verbreiteten Basisgruppen mit Hilfe kirchlicher Druckmöglichkeiten Samisdat - Periodika wie „Grenzfall“, „Umweltblätter“, „Streif lichter“, „Gegenstimmen“ oder „Arche Nova“, die vor allem von Berlin und Leipzig aus in Umlauf kamen.369 Etwa dreißig davon erschienen als „innerkirchliche Informationsblätter“ mit dem Zusatz „Nur für den innerkirchlichen Gebrauch“. Sie waren wichtige Informationsquellen, erleichterten den Austausch zwischen Aktionszentren und stellten zunehmend selbstbewusst eine sich entwickelnde überregionale Vernetzungsstruktur und - kultur unter den Menschenrechts - , Umwelt- , Zweite / Dritte- Welt - und Friedensgruppen dar. Die zunehmenden Aktivitäten der oppositionellen Gruppierungen ließen die Spannungen zwischen Staat und Kirche wachsen. Das Regime verstärkte den Druck und erreichte in etlichen Fällen, dass sich Kirchenleitungen für eine Reduzierung des Engagements der Gruppen einsetzten. Ungeachtet erzwungener Kompromisse blieben die Vertreter der Amtskirche mehrheitlich bei ihrer kritischen Haltung gegenüber dem SED - Staat. Im November 1987 stürmten Mitarbeiter des MfS in einer Nacht - und Nebelaktion die Räume der Umweltbibliothek in der Berliner Zionskirche, beschlagnahmten Papiere und Vervielfältigungstechnik und nahmen mehrere Personen fest.370 Seit Jahrzehnten war dies der erste direkte und gewaltsame Zugriff des SED - Regimes auf innerkirchliche Räume. In Leipzig organisierten daraufhin Pfarrer jeden Montag Fürbitten für die Inhaftierten. Auch andere Kirchen feierten nun regelmäßig Gedenkgottesdienste mit Regimekritikern und richteten Mahnwachen ein. Sie entwickelten sich zu neuen Kristallisationspunkten der Oppositionsbewegung. Am 10. Dezember 1987 ließ das Regime in Berlin erneut zehn Bürgerrechtler verhaften. Am 17. Januar 1988 folgte im Zusammenhang mit einer Demonstration zur Erinnerung an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Festnahme 366 Mielke vom 20. 2.1985 : Dienstanweisung 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit. In : Fricke, MfS intern, S. 146–163. 367 BVfS Leipzig, XX /4 vom 3. 7.1989 ( ABL, FVS Dresden B. Oehler. OPK Dieb, OV Krake ). Vgl. Pingel - Schliemann, Zersetzen. 368 Vgl. Kirche im Sozialismus, 14 (1988) 1, S. 14–16. 369 Zur Untergrundliteratur in Leipzig vgl. Naumann / Lotz / Klemm, Eine Zweite Öffentlichkeit. 370 Vgl. Hirsch / Kopelew, Grenzfall, S. 137–143.

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von über Hundert Personen. Viele von ihnen wurden verurteilt und aus der DDR ausgewiesen.371 Die Ereignisse im Januar 1988 führten zu spontanen Protesten, täglichen Fürbitten, aber auch zur Bildung neuer Gruppen, die sich stärker für Demokratisierung, Offenheit und Medienvielfalt einsetzten.372 Die Solidarität und die Proteste in vielen Städten und Gemeinden wurden ein bestimmendes Element für die Ausbreitung von Basisgruppen,373 die sich immer mehr vernetzten. So gründeten auf Initiative von Mitgliedern der Umweltbibliothek Berlin Anfang 1988 Einzelakteure und Vertreter von Umweltgruppen das „Grün - ökologische Netzwerk Arche“. Aus Sachsen beteiligten sich Vertreter aus Leipzig und Großhennersdorf an der Gründung und Ausbreitung.374 Durch die Solidarisierungsaktionen wurden die montäglichen Friedensgebete in Leipzig zu Großveranstaltungen. Sie hatten bereits im Herbst 1983 begonnen, jedoch jahrelang ein „Schattendasein“ in der Nordkapelle der Nikolaikirche gefristet.375 Das änderte sich nun. Am 17. Januar 1989 informierte das Ev.Luth. Landeskirchenamt Sachsen die Gemeinden über die Vorgänge um die Luxemburg - Liebknecht - Demonstration und rief zu Fürbitten für die Verhafteten auf.376 Im Februar 1989 fand in Greifswald das Seminar „Konkret für den Frieden VII“ statt, an dem sich über 200 Personen beteiligten.377 Schwerpunkte waren Proteste gegen die Inhaftierung von Václav Havel, ein von Hans - Jochen Tschiche eingebrachter Antrag auf eine DDR - weite Vernetzung der Basisgruppen zu einer außerhalb der Kirche stehenden Organisation und die Planung eines Menschenrechtsseminars 1990 in Güstrow. Mit Hilfe zahlreicher IM gelang es der SED, dem Antrag auf eine Vernetzung die erforderliche Mehrheit zu verweigern. Ebenso lehnten die Teilnehmer Vereinigungen ab, in denen alle Bürger über gesellschaftliche Probleme diskutieren könnten, sowie die Schaffung einer „gesamtstaatlichen Konsultativkonferenz“ unter Mitwirkung der Bürgergruppen zur Diskussion gesellschaftlicher Probleme.378

371 Vgl. Offener Brief von Freya Klier an Manfred Stolpe vom 24.11.1989 ( MDA, Wende IV ). Vgl. Klier, Abreiß - Kalender, S. 279. 372 Vgl. Magirius, Selig sind, S. 10. 373 Zum Ablauf vgl. Klier, Aktion „Störenfried“, S. 91–153; Rein, Die Opposition, S. 9. 374 Vgl. Inter view mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008; MfS, ZAIG, Nr. 77/89, Info Mittig an Schabowski vom 14. 2.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 17. Arche Nova 1 vom 1. 7.1988, S. 3; Kühnel / Sallmon - Metzner, Grüne Partei, S. 178; Wensierski, Das Grüne Netzwerk „arche“, S. 17–19. 375 Kaden, Von den Friedensgebeten, S. 101 f. 376 Ev. - Luth. Landeskirchenamt Sachsens an alle Kirchgemeinden vom 17.1.1989 ( ABL, H. I /2). 377 Erklärungen und Beschlüsse der Versammlung „Konkret für den Frieden VII“ Greifswald vom 26. 2.1989 ( ABL, H. VI, Konkret für den Frieden ). 378 Staatssekretär für Kirchenfragen vom 28. 2.1989 : Verlauf des Seminars „Konkret für den Frieden VII“ in Greifswald vom 24.–26. 2.1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/97, Bl. 113–117).

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Solidarität mit oppositionellen Gruppen in der ČSSR Wichtig waren den Gruppen Kontakte zu Bürgerbewegungen in anderen Ostblockstaaten und gegenseitige Unterstützung. Es gab internationale Treffen in der ČSSR, Ungarn und Polen, an denen auch Vertreter westlicher Bürgerbewegungen teilnahmen. Am 15. Januar 1989 solidarisierten sich Vertreter der polnischen und tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung mit den politischen Gefangenen in der DDR.379 Im Januar wurde der tschechoslowakische Schriftsteller Václav Havel nach einer Demonstration anlässlich des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung von Jan Pallach in Prag festgenommen und zu neun Monaten Haft verurteilt. Am 23. Februar protestierten DDR - Basisgruppen in einem offenen Brief bei der Regierung der ČSSR.380 Am 26. Februar solidarisierten sich die Teilnehmer des Delegiertentreffens „Frieden konkret“ in Greifswald mit dem Brief.381 Unerwartete Hilfe gab es vom P. E. N. - Zentrum der DDR, das ebenfalls gegen die Verurteilung protestierte. Stephan Hermlin nannte den Richterspruch „ein ganz unverhältnismäßiges Urteil gegen jemanden, der Blumen niedergelegt und lediglich öffentlich seinen Standpunkt erläutert hat“.382 Am 7. März fand eine Solidaritätsveranstaltung für politische Gefangene in der ČSSR in der Leipziger Lukaskirche statt, eine Woche später in der katholischen Liebfrauenkirche. An einem DDR - weiten Aktionstag für in der ČSSR politisch und religiös Verfolgte gab es am 19. März in der Leipziger Markusgemeinde mehrere Informationsveranstaltungen.383 Verschiedene Bürgergruppen protestierten in einem Offenen Brief an den Generalsekretär der KPČ, Milouš Jakeš, gegen die Vorgänge auf dem Prager Wenzelsplatz vom 15. bis 20. Januar 1989.384 Die Solidarisierung wurde von der Charta 77 „mit großer Freude“ aufgenommen.385 Am gleichen Tag wurde der Brief auch bei einer Veranstaltung in Altenburg in der Gnadenkappelle verlesen.386 Beim Friedensgebet am 20. März in der Leipziger Nikolaikirche entrollten Basisgruppenmitglieder von der Empore ein Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für Havel und alle politischen und religiösen Inhaftierten in der ČSSR“. Auch beim Friedensgebet am 379 Erklärung der polnisch - tschechoslowakischen Solidarität vom 15.1.1989, gez. Miroslaw Jasinski, Jzes Binior, Petr Pospichal, Anna Sabatova ( ABL, H. 1/2). 380 Offener Brief an den Präsidenten der ČSSR Gustav Husak, den Ministerpräsidenten der ČSSR Ladislav Adamec und die Föderative Versammlung der ČSSR vom 23. 2.1989 (ebd.). 381 Erklärung Delegiertentreffen „Frieden konkret“ in Greifswald vom 26. 2.1989 ( ebd.). 382 Zit. in Informationen des BMB 5 vom 10. 3.1989, S. 18. 383 VARIA. Arbeitstexte zum DDR - weiten Aktionstag für aus politischen und religiösen Gründen Inhaftierte in der ČSSR. Hg. von AG Menschenrechte / AK Gerechtigkeit, Leipzig März 1989 ( MDA, Blätter der DDR - Friedens - und Menschenrechtsbewegung). Vgl. Aufruf zu einem DDR - weiten Aktionstag für aus politischen Gründen Inhaftierte in der ČSSR am 19. 3.1989. In : Ost - West - Diskussionsforum vom 6. 4.1989; BVfS Leipzig vom 19. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 136–139). 384 Offener Brief an den Generalsekretär des ZK der KPČ Milos Jakes, o. D. ( ABL, H. 1/2). 385 Charta 77 an die unabhängigen Gruppen in der DDR vom 16. 3.1989 ( ebd.). 386 Vgl. BVfS Leipzig vom 19. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 136–139).

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10. April wurden Fürbitten für Menschen in Ungarn und Rumänien, die Verfolgten in der ČSSR und die Ausreisewilligen in der DDR verlesen.387 Oppositionelle Gruppen in den sächsischen Bezirken Ende der achtziger Jahre Sachsen war eines der Zentren oppositioneller Aktivitäten, die sich hier keinesfalls nur auf die Bezirksstädte konzentrierten. In zahlreichen Gemeinden gab es Gruppierungen.388 Bezirke Dresden und Cottbus : In Bautzen wurde 1989 die Junge Gemeinde der evangelischen Kirche mit ihrem Leiter Christian Schramm aktiv, aus der mehrere Aktivisten des Neuen Forums hervorgingen.389 In Dresden wirkte die Gruppe „Wolfspelz“ um Roman Kalex.390 Die Landesstelle der Jungen Gemeinde Dresden gab das Heft „Lila Band“ heraus, die Arbeitsgemeinschaft „Frieden“ der Dresdner Kirchenbezirke und das Jugendpfarramt Dresden das Heft „Wir Ahnungslosen“.391 Hier und in Leipzig verteilten Ende April 1989 Anhänger einer „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ Flugblätter.392 In Großenhain gab es einen aktiven Ökologiekreis, dessen Akteure sich später an der Bildung des Neuen Forums beteiligten.393 Im Kreis Meißen existierte seit 1983 ein Vorbereitungskreis „Friedensseminar Meißen“. Er organisierte zweimal jährlich Friedensseminare, Organisator war der Pfarrer der Trinitatiskirchgemeinde Dresden, Rudolf Albrecht. Der Arbeitskreis „Gerechtigkeit, Umwelt, Frieden“ ( GUF ) traf sich seit Anfang 1989 in der Peter - Pauls - Kirchgemeinde Coswig. Er engagierte sich bei der Aufklärung der Wahlfälschungen im Mai 1989 und organisierte einen „Friedensweg“. „Der führende Kopf des politischen Untergrundes“ war hier Pfarrer Hanno Schmidt, der Kontakt zum Vorsitzenden der Ortsgruppe der CDU unterhielt. Daneben waren zwei Friedens - , Ökologie - und Menschenrechtsgruppen aktiv.394 In Pirna arbeiteten seit 1984 ein „Ökumenischer Arbeitskreis“ des evangelischen Kirchenbezirkes und ein Friedenskreis ohne Einbindung in kirchliche Strukturen.395 In der Gemeinde Riesa - Gröba war eine Ökogruppe der Jungen Gemeinde aktiv.396 In Görlitz gab es eine kirchliche Umweltgruppe und einen Ökologiekreis des Landesjugend387 388 389 390 391 392 393 394 395 396

Vgl. BVfS Leipzig vom 23. 3.1989 : Info ( ebd. 38/2, Bl. 2–9). Die Angaben erfolgen ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 114 ). KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 62–65. Vgl. ebd., S. 67–70. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 229/89 vom 8. 5.1989. In. Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 38 f. Vgl. KDfS Großenhain vom 31.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11033, Bl. 1–4). Vgl. SED - KL Meißen vom 9.10.1989 ( ABL, Dresden ); KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Beachtenswerte Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253–263). Ökumenischer Arbeitskreis Natur und Mensch – Leben für morgen Pirna ( ABL, BStU, Auskünfte ). BVfS Dresden vom 6.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 252–256).

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Bild 2:

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Demonstration für Friedenserziehung in Zittau 1983.

pfarramtes. In die evangelische Neustadtgemeinde Hoyerswerda war der Arbeitskreis „Frieden und Umwelt“, genannt „Grubenkante“, integriert. In Weißwasser gab es einen Arbeitskreis „Umwelt und Kohle“. In Zittau arbeitete eine Friedens - und eine Ökologiegruppe, in Kamenz ein ökologischer Arbeitskreis. In Großhennersdorf war seit 1983 ein Offener Friedenskreis aktiv. 1987 entstand auf Initiative von Andreas Schönfelder nach Berliner Vorbild eine Umweltbibliothek. Deren Aktive waren Mitbegründer des „Grün - Ökologischen Netzwerkes Arche“ und später verantwortlich für die Arche - Region Lausitz. Sie gründeten 1988 die Samisdat - Zeitschrift „Lausitzbotin“.397 In Kittlitz ( Löbau) war der Arbeitskreis „Evangelium und Menschenrechte“ aktiv,398 im Kreis Löbau der Oberlausitzer Friedenskreis. Vor allem die südliche Oberlausitz war seit Beginn der achtziger Jahre ein Schwerpunkt oppositioneller Aktivitäten.399 Bezirk Karl - Marx - Stadt: Im Bezirk Karl - Marx - Stadt gab es etwa 45 verschiedene Umweltgruppen.400 Im Kreis Annaberg registrierte das MfS unter dem Dach der Kirche mehrere Basis - , Umweltschutz - und Friedensgruppen sowie 397 Vgl. Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. Ausführlich : Lausitzbotin, Das Jahr 1989 in der sächsischen Provinz. 398 Vgl. BVfS Dresden vom 25. 9.1989 : Kirchgemeinde Zittau ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 349–351); KDfS Eilenburg : Anlage zur Info 168/89, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 234, Bl. 1–4); Schreiben A. und M. Wiedemuth an die Sächsische Staatskanzlei vom 24. 3.1999 ( HAIT, StKa );Versuche, in der Wahrheit zu leben, S. 15– 66. 399 Vgl. Liszka, Von der Nichtanpassung, S. 3–77. 400 Vgl. Protokoll der Beratung beim Chef der BDVP am 25. 9.1989 ( SächsStAC, BDVP Karl- Marx - Stadt 497).

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Familienkreise, die der Oppositionsszene zugerechnet wurden. Besondere Aufmerksamkeit fand die Umweltgruppe „Grünes Kreuz“ in der St. Annenkirche Annaberg - Buchholz.401 In der evangelisch - lutherischen Kirche Aue war seit Februar 1989 die Umweltgruppe „Öko - Pax Aue 89“ aktiv. Sie befasste sich vor allem mit der Umweltbelastung im Kreis, pflanzte Sträucher und Bäume und unterhielt überregional Kontakte zu Gleichgesinnten. Im August 1989 organisierte sie eine Ausstellung unter dem Motto „Auto – Fluch oder Segen“ in der St. Nikolai - Kirche.402 Seit März 1989 gab es im Kreis Auerbach eine „oppositionelle Bewegung unter dem Deckmantel der Illegalität“. In kleinen Gruppen traf man sich in Wohnungen und verwendete Decknamen und Deckadressen.403 In Hohenstein - Ernstthal orientierte sich die Kirche mit neuen Formen der Arbeit vor allem an den Freizeitinteressen und - wünschen Jugendlicher. In der offenen Jugendarbeit wurde, so das MfS, weniger die religiöse Arbeit in den Mittelpunkt gestellt als vielmehr jugendgemäße Interessen für Musik, Tanz, Fahrten, Ausflüge und Wanderungen. Entsprechende Freizeitgruppierungen gab es auch in Lichtenstein und Gersdorf.404 In Karl - Marx - Stadt war ein „Ökumenischer Arbeitskreis Naturschutz der St. Pauli - Kreuz - Gemeinde“ aktiv, der das Informationsblatt „Grün - Kreuz - Blätter“ herausgab. Auch die „Arbeitsgemeinschaft Offene Kirche“ unter Leitung von Studentenpfarrer Hans - Jochen Vogel gab „Informationshefte“ bzw. ein „Journal“ heraus, das sich kritisch mit den Verhältnissen auseinandersetzte.405 Aus einem Kreis von Beschäftigten der ELGAWA Plauen entstand die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“. In anderen Betrieben gab es ähnliche Gruppen, allerdings nicht so stark und politisch weniger wirksam. Im Sommer 1989 bildete sich in der Plauener Markuskirchengemeinde ein Kreis mit dem Namen „Umdenken durch Nachdenken“.406 In der Gemeinde Beierfeld ( Schwarzenberg ) gründeten Jugendliche Mitte der achtziger Jahre in den Räumen der Peter - Pauls - Kirche einen Club, der Literatur - und Liederabende mit dem Schriftsteller Lutz Rathenow, mit Pfarrer Löhr aus Schwarzenberg ( über Franz Kafka ) und einem Kabarettabend mit Stephan Krawczyk und Freya Klier organisierte.407 Im Kreis Werdau am Stadtrand von Zwickau war bereits seit 1973 das „Christliche Friedensseminar Königswalde“ unter seinem Gründer Hansjörg Weigel aktiv, das zunächst Wehrdienstverweigerer um sich sammelte. Ende der achtziger Jahre nahmen rund 401 Vgl. KDfS Annaberg vom 20.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AGK 1804, Bl. 60–68). 402 Vgl. KDfS Aue vom 4. 8.1989 : Umweltkreis „Öko - Pax Aue 89“ ( ebd. 1805, Bl. 161– 164). 403 Karl Rink, Ortsgeschichte Reumtengrün ( HAIT, StKa, Bl. 743 f.). 404 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5.12.1988 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 1–7). 405 Vgl. KDfS Eilenburg : Anlage Info 168/89, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 234, Bl. 1–4). 406 Vgl. Lindner, Plauen, S. 124; Küttler, Die Wende in Plauen, S. 148; Bericht von Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 134. 407 Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg, Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 ( HAIT, StKa ).

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600 Personen an den halbjährlichen Treffen teil. Es gehört wie die Umweltbibliothek Großhennersdorf zu den Bürgerrechtsinitiativen, die bis heute überlebt haben.408 Ein koordinierendes Zentrum oppositioneller Aktivitäten im Bezirk war die benachbarte Friedensbibliothek in Zwickau.409 Im Bezirk Leipzig waren dem MfS 1989 16 Zusammenschlüsse bekannt. In Altenburg arbeiteten eine Friedensgruppe und eine Umweltgruppe. 1988/89 entstand hier eine regimekritische „Altenburger Akademie“.410 Im Kreis Borna organisierten sich von 1983 bis 1987 Jugendliche – in den MfS - Akten als „helfende Hand“ bezeichnet – außerhalb der Kirche.411 Sie veröffentlichten regelmäßig das Heft „Namenlos“ und führten Baumpflanzungen sowie Müllsammlungen durch. Aufgrund repressiver Maßnahmen des MfS fiel die Gruppe 1987 auseinander, ein Teil bildete eine neue Umweltgruppe. Vor allem die Kirchgemeinde Rötha beschäftigte sich im Kreis Borna ab Mitte der siebziger Jahre mit der Umweltsituation. Im Januar 1982 organisierte das „Christliche Umweltseminar Rötha“ ( CUR ) ein erstes Treffen als Umweltschutzgruppe sowie eine Baumpflanzaktion. Das CUR veranstaltete seit 1983 jährlich Umweltgottesdienste, in deren Mittelpunkt die Umweltverschmutzung durch den VEB BV Espenhain stand.412 Über den Kreis hinaus bekannt wurde die vom CUR organisierte Unterschriftensammlung „Eine Mark für Espenhain oder ein Protest bekommt Flügel“. Sie entstand während der „Woche der Verantwortung für Gottes Schöpfung“ im Juni 1988 in Dresden und ging auf gemeinsame Aktivitäten des CUR und des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke zurück.413 Da jede Mark quittiert wurde, kam die Sammlung einer Unterschriftenaktion gleich. Bis Ende Januar 1989 lagen ca. 10 000 Unterschriften vor.414 Auch in Torgau gab es eine „Umweltgruppe“. Allein in der Stadt Leipzig gab es elf Gruppen, die Arbeitskreise „Friedensdienst“ beim Jugendpfarramt, „Frieden“ der Evangelischen Studentengemeinde, „Gerechtigkeit und Ökumene“, „Gerechtigkeit“, „Abgrenzung und Öffnung“, „Bausoldaten“ und „Solidarische Kirche, Regionalgruppe Leipzig“, die Arbeitsgruppe „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt, die Interessengemeinschaft „Leben“, die Arbeitsgruppe „Menschenrechte“ und die Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“.415 In Leipzig trat im Frühjahr 1989 auch eine „Organisation Neuer Demokraten“ in Erscheinung.416 Im Juni 1989 forderte eine „Initiative zur wirklich demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ in einem Flugblatt eine tiefgreifende demokratische Umgestaltung 408 409 410 411 412 413 414 415 416

Vgl. ausführlich Kluge, Das Christliche Friedensseminar Königswalde. Vgl. Raum für Güte, S. 10; Schlichtenbrede, Alternative Gruppen, S. 189–210. Vgl. Wohlfarth / Herz, Eröffnung, S. 3–25. Vgl. Gruhn, Die demokratische Revolution im Kreis Borna 1989/90. Vgl. BVfS Leipzig vom 21. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 143–148). Vgl. Steinbach / Großert, Die Arbeit des Christlichen Umweltseminars Rötha, S. 26–35. Vgl. BVfS Leipzig vom 19. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 136–139). Einen Überblick über die Leipziger Gruppen gibt Findeis, Überblick, S. 91–96. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 229/89 vom 8. 5.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 38; Mitteilung der AG zur Situation der Menschenrechte, Leipzig vom 2. 9.1989; Plakattext : Wahlboykott ’89, gez. : Organisation Neuer Demokraten ( MDA, Wende, Bürgerinitiative, Parteien; Roland Jahn - Archiv ).

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der Gesellschaft.417 Im Kreis Leipzig war der „Ökologiekreis“ Taucha aktiv. Als koordinierender überörtlicher Zusammenschluss wirkte ein Trägerkreis für die Schaffung eines „Kommunikationszentrums Leipziger Gruppen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Einige der Gruppierungen gaben Publikationen heraus. So publizierten das Jugendpfarramt Leipzig das Heft „Kontakte“ mit den Themen Umwelt, Frieden und Dritte Welt ( Brigitte Moritz), der Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ – Regionalgruppe Leipzig –, das Heft „Solidarische Kirche“ ( Nikolaus Voss ), die Arbeitsgruppe „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt Leipzig die „Streif lichter“. Eine Gruppe um Karin Saab, der Aktivistin der Initiative „Hoffnung Nicaragua“, gab „Anschlag“ heraus, Torsten Drogt aus Leipzig und Christoph Radtke aus Naumburg das Heft „Glasnost“.418 In Eilenburg bemühte sich Jugendpfarrer Rafalski seit 1987 um die „Sammlung oppositionell eingestellter Jugendlicher“. Seit Juni 1988 wurde hier die Schrift „Unkraut“ herausgegeben. Die Jugendlichen „mit alternativen Lebens - und Verhaltensweisen“ hingen, so das MfS, dem Ziel der „Freiheit der Persönlichkeit“ an, interessierten sich für Blues - Musik und trampten zu entsprechenden Veranstaltungen.419 Kirchliche Basisgruppen aus SED - Sicht Die Sicht der SED auf die zivilgesellschaftlich ausgerichteten Gruppen war ideologisch bestimmt, verhinderte eine sachliche Wahrnehmung und trug zur Eskalation von Konflikten bei. Durch die rosarote Klassenkampf - Brille sahen kirchliche Basisgruppen wie Agenturen des westlichen Imperialismus aus. In einem Papier der Leipziger Bezirksverwaltung des MfS von Juni 1989 hieß es mit Blick auf die Gruppen, der imperialistische Gegner verstärke „im Rahmen seines subversiven Vorgehens die Versuche der Schaffung und Legalisierung einer sog. inneren Opposition und zur Inspirierung und Organisation politischer Untergrundtätigkeit mit dem Ziel der Schaffung eines ‚Druckpotentials‘ zur Aufweichung, Zersetzung und politischen Destabilisierung der sozialistischen Staats und Gesellschaftsordnung“. Dabei sah die SED „ein immer engeres und abgestimmtes Zusammenwirken innerer feindlicher Kräfte“, also der Basisgruppen, „mit Politikern von NATO - Staaten, insbesondere der BRD, diversen feindlichen Organisationen, Zentren der ideologischen Diversion, vor allem auch Vertretern der Massenmedien“.420 In Durchsetzung des von den USA beschlossenen „Programms für Demokratie“ werde darauf hingewirkt, unter der Fahne der 417 Flugblatt der Initiative zur wirklich demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ (IWD), Leipzig von Juni 1989 ( ABL, H. II, Demokratische Initiative ). 418 Vgl. BVfS Leipzig vom 26. 6.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 76–85); KDfS Eilenburg : Anlage zur Info 168/89, o. D. ( ebd., KDfS Eilenburg 234, Bl. 1–4). 419 KDfS Eilenburg vom 30. 6.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 106–113). 420 BVfS Leipzig vom 13. 6.1989 : Wirken feindlicher Kräfte ( ebd., AKG 25, Bl. 1–4). Vgl. BVfS Leipzig vom 26. 6.1989 : Info ( ebd., 38/2, Bl. 76–85).

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„Demokratisierung, Liberalisierung und eines Eintretens für politischen Pluralismus westlicher Prägung“ Oppositionsparteien und - bewegungen zu entwickeln.421 Seit Ende der siebziger Jahre sei der Feind bestrebt, „unter dem Deckmantel des Eintretens für Frieden und Abrüstung und unter Missbrauch vor allem der evangelischen Kirchen“ eine „alternative, pseudopazifistisch ausgerichtete sogen. staatlich unabhängige Friedensbewegung“ als „Basis und Sammelbecken für feindliche, oppositionelle und andere negative Kräfte“ zu etablieren.422 Im Sinne der imperialistischen Gesamtstrategie werde dabei verstärkt auf eine Verflechtung zwischen den sozialistischen Staaten sowie innerhalb der DDR hingearbeitet.423 Ziel sei die Solidarisierung der Feinde in der DDR mit „konterrevolutionären Kräften in anderen sozialistischen Ländern“. Von „besonderer operativer Relevanz“ war demnach die „inspirierende und unterstützende Rolle von Vertretern westlicher Massenmedien“.424 So würden „Provokationen“ von westlichen Massenmedien breit publiziert, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen.425 Als Drahtzieher hinter den „feindlichen Gruppen“ machte die SED die Kirche aus. Die Gruppierungen seien fast ausschließlich Basisgruppen der Ev. Luth. Landeskirche Sachsens. Auch die Akteure von Protesten entstammten fast durchweg diesen „Basisgruppen“, viele hätten eine theologische Ausbildung oder würden bei der Kirche arbeiten.426 Die Gruppen handelten meist „im direkten Zusammenwirken mit oder unter unmittelbarer Leitung kirchlicher Amtsträger“ und nutzten die materiellen und technischen Möglichkeiten der Kirche.427 Forderungen des Staates, den „politischen Missbrauch der Kirchen“ durch feindliche Kräfte zu unterbinden, würden „in der Regel negiert“.428 Nach Einschätzung des MfS verfügten die Feinde über kein einheitliches politisches Konzept oder ein in sich geschlossenes alternatives Gesellschaftsmodell. Ihre Angriffe richteten sich „gegen Grundfragen der sozialistischen Demokratie“.429 Sie forderten eine Änderung der Staats - und Gesellschaftsordnung und die „Erneuerung des Sozialismus“, beriefen sich dabei auf die Umgestaltungsprozesse in anderen sozialistischen Ländern und verwendeten Begriffe wie „Glasnost“, „Demokratisierung“, „Dialog“ und „Bürgerrechte“. Die feindliche Zielstellung bestehe darin, in der DDR eine Dialogbereitschaft des Staates gegenüber unabhängigen Gruppen und „Andersdenkenden“ zu erreichen. Unter dem Deckmantel einer „Entmilitarisierung“ der Gesellschaft gebe es Angriffe gegen die Sicher421 KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). 422 KDfS Eilenburg : Anlage zur Info 150/89, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 233, Bl. 1–27). 423 Vgl. BVfS Leipzig vom 26. 6.1989 : Info ( ebd., AKG 38/2, Bl. 76–85). 424 BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( ebd., XX 209/6, Bl. 57–73). 425 BVfS Leipzig vom 13. 6.1989 : Wirken feindlicher Kräfte ( ebd., AKG 25, Bl. 1–4). 426 BVfS Leipzig vom 26. 6.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 76–85). 427 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 8.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 86–96). 428 KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). 429 BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/6, Bl. 57–73).

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heitspolitik der DDR. Auch Probleme des Umweltschutzes würden „zur Diskreditierung der Politik der SED“ genutzt.430 Bei den feindlichen Gruppen unterschied das MfS 1989 zwischen Friedenskreisen, Ökologie - oder Umweltgruppen, Frauengruppen, personellen Zusammenschlüssen von Medizinern und Menschenrechtsgruppen. Friedenskreise waren demnach Zusammenschlüsse mit den engsten Verbindungen zur Kirche, die „in der Regel von reaktionären kirchlichen Amtsträgern / Mitarbeitern sowie feindlichen, oppositionellen Personen geleitet“ würden. Ihre Tätigkeit bestehe darin, „Freiräume für das oppositionelle Wirksamwerden zu erkunden, zu testen bzw. auszuweiten, politische Forderungen zu erheben sowie Aktionismus (provokatorisch - demonstrative Aktivitäten ) zu inszenieren“. Menschenrechtsgruppen zählten zu den „jüngsten und in ihrer Struktur vielschichtigsten differenzierten personellen Zusammenschlüssen“. Als typische Mitglieder wurden „Personen mit einer verfestigten feindlich - negativen Haltung“ gegenüber der SED - Diktatur angesehen.431 Zum Vorgehen der Gruppen meinte die SED, obwohl diese ihre Aktivitäten vorwiegend „gewaltfrei“ vortrügen, sei „die Tendenz zum aggressiven Vorgehen in Untergruppen vorhanden“, wodurch die Gefahr öffentlichkeitswirksamer Aktionen wachse.432 Tendenziell feststellbar sei eine „zunehmende Dreistigkeit“ im Handeln. Man versuche, die Sicherheitsorgane zu provozieren, indem eigene Ziele in Eingaben und Offenen Briefen zum Ausdruck gebracht werden. Bei allen Handlungen sei man bemüht, unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Relevanz zu bleiben, teste jedoch die Belastbarkeit des Staates mit Methoden gewaltfreien Widerstandes. Organisiert würden die feindlichen Aktionen von Führungszentren wie Umwelt - oder Friedensbibliotheken bzw. „Kommunikationszentren“. Bei den führenden Personen handele es sich zumeist um „fanatische, von sogenanntem Sendungsbewusstsein, persönlichem Geltungsdrang und politischer Profilierungssucht getriebene Personen, deren politische Grundhaltung vom Hass auf die sozialistische Gesellschaftsordnung geprägt“ sei. Ihnen gehe es nicht um eine Verbesserung des Sozialismus, sondern um „dessen Liquidierung“.433 Die Bekämpfung dieses Feindes war vor allem Aufgabe des MfS. In Meißen z. B. schlug die Kreisdienststelle der SED - Kreisleitung eine konzertierte Aktion aller zuständigen staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräfte vor, um den Feindgruppen konsequent entgegenzuwirken und Maßnahmen zu deren „Zersetzung und Auf lösung“ zu unterstützen. Sinnvoll sei ein „Differenzierungsprozess“ unter kirchlichen Amtsträgern und eine Auseinandersetzung mit denen, die Basisgruppen unterstützen; des Weiteren die Zurückweisung von Versuchen 430 KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). 431 KDfS Eilenburg : Anlage zur Info 150/89, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 233, Bl. 1–27). 432 KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). 433 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 8.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 86–96).

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der Einmischung in staatliche Angelegenheiten, eine ständige Einflussnahme auf Pfarrer und Synodale, der Einsatz von Spezialisten bei Veranstaltungen mit Teilnehmern aus den Basisgruppen sowie eine individuelle Betreuung durch gesellschaftliche Kräfte zur ideologischen Beeinflussung. Zwecks Sicherung politischer Höhepunkte bzw. zur Zerschlagung feindlicher Demonstrationen und öffentlicher Aktionen sollten mobile Einsatzkräfte der Schutz - und Sicherheitsorgane eingesetzt werden.434 Nicht erkannt wurde dabei, dass die Oppositionsgruppen nur ein Symptom der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung sowohl mit der SED - Diktatur als auch mit globalen Fehlentwicklungen waren, der mit Repressionen nicht beizukommen war. 1.7

Kollektive öffentliche Protestaktionen

Leipzig : Wer Leipzig zu DDR - Zeiten kennengelernt hat, wird sich nicht wundern, dass die Unzufriedenheit hier überdurchschnittlich war. Die Gründe benannte der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Hummitzsch im September 1988 : Leipzig werde „immer unattraktiver“. Das ergebe sich aus „der Unsauberkeit der Stadt, den verfallenden Fassaden der Häuser – selbst in der Innenstadt“ sowie den katastrophalen Straßenverhältnissen. Auch die Bedingungen der Messe entsprächen „in keiner Weise den internationalen Anforderungen an einen Handelsplatz“.435 Vor allem die Bewohner wurden mit dem Kontrast zwischen Niedergang und internationalem Anspruch konfrontiert. Das war einer der Gründe, warum sich in der dennoch urbanen Atmosphäre eine breite Oppositionsbewegung entwickelte. Seit Anfang der achtziger Jahre wurde das jeden Montagabend in Leipzig durchgeführte Friedensgebet zur oppositionellen Veranstaltung schlechthin.436 Gegen Friedensgottesdienste konnte das Regime schlecht etwas sagen, sie erfolgten seitens der kirchlichen Veranstalter, so Fritz Stern, „in ironischer Befolgung der Selbstaussagen des Regimes, die Ostdeutschen seien Friedensapostel“.437 Die Regelmäßigkeit der Montagsgebete erhöhte deren Publizität und Wirksamkeit. Vor den Demonstrationen bildeten die ca. einstündigen Andachten Ruhepunkte und Zeiten der Besinnung.438 Ab 1988 wurden die Friedensgebete zum regelmäßigen Treffpunkt der Ausreisewilligen.439 Auch der hofartige Platz vor der Nikolaikirche diente als Versammlungsort. Ab Herbst 1988 bildeten sich 434 KDfS Meißen vom 19. 7.1989 : Aspekte ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 253– 263). 435 BVfS Leipzig : Info über Meinungsäußerungen über das Erscheinungsbild der Stadt Leipzig und den Zustand der Messeobjekte, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 18–20). 436 Vgl. Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. 437 Stern, Fünf Deutschland, S. 578. 438 So Harald Wagner. In: Dietrich / Schwabe, Freunde und Feinde, S. 32. 439 So Johannes Richter. In : Rein, Die Opposition, S. 183. Vgl. Magirius, Wiege der Wende, S. 12.

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jeden Montag gegen 18.00 Uhr auf dem Nikolaikirchhof kleine Gruppen von Gottesdienstbesuchern, in den benachbarten Straßen versammelten sich Schaulustige. Konflikte zwischen Staat und Kirchenleitung blieben nicht aus. Bei den Basisgruppen gab es Verärgerung darüber, dass die Friedensgebete von den „Ausreisern“ für ihre Zwecke genutzt wurden. „Sieben Jahre haben wir Friedensgebete gemacht“, so Pfarrer Harald Wagner, „und jetzt kommen die und majorisieren uns und geben der Sache eine völlig neue Richtung“.440 Die Vermutung der Ausreisewilligen, ihre Übersiedlung werde durch die Teilnahme an öffentlichen Protesten beschleunigt, war indessen richtig.441 Nach den Friedensgebeten kam es vor allem seit September 1988 immer wieder zu öffentlichen Protesten. In der Nacht zum 12. Januar 1989 riefen Mitglieder der „Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ mit ca. 10 000 Handzetteln zu einem Schweigemarsch auf dem Leipziger Marktplatz am 15. Januar auf.442 Die Folge waren Verhaftungen.443 Dennoch folgten Hunderte Friedens - und Menschenrechtsaktivisten dem Aufruf zum Protest anlässlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Sie forderten „eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates“. Wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt, wurden mehr als fünfzig Personen festgenommen.444 Am Abend fand daraufhin in der Lukaskirche eine Fürbittandacht für die Festgenommenen statt. Hier bildete sich eine Kontaktgruppe, die über die Verhafteten informierte und sich für deren Freilassung einsetzte. Auch in Bautzen wurde erstmalig eine Fürbittandacht durchgeführt. In Berlin informierte die „Kirche von Unten“ über die Vorgänge in Leipzig. In Schreiben an Pfarrämter und kirchliche Einrichtungen in Leipzig riefen auch die Superintendenten Friedrich Magirius und Johannes Richter am 16. Januar zu Fürbitten für die Inhaftierten auf, erklärten aber gleichzeitig, dass die „politische Demonstration nicht die geeignete Form des Zeugnisses der Kirche“ sei.445 Einen Tag später rief das Ev. - Luth. Landeskirchenamt Sachsens zu Fürbitten auf.446 Die SED - Führung konstatierte, dass die Verhaftungen über Leipzig hinaus unter kirchlichen Amtsträgern einen Solidarisierungseffekt her vorriefen, der sich in Stellungnahmen gegenüber den Staatsorganen widerspiegelte.447 Am 30. Januar machte der Staat 440 Zit. bei Rein ( Hg.), Die Opposition, S. 180. 441 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 428 vom 26. 9.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 176. 442 SED - SL Leipzig vom 13.1.1989 : Info ( ABL, H. XV SED ); MdI : Politisch bedeutsames Vorkommnis in Leipzig, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52444). Vgl. Schwabe, Es gibt noch viel zu tun, S. 133; Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 13–59. 443 Udo Hartmann, Carola Bornschlegel, Uwe Schwabe und Jochen Lässig. Vgl. Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 11–13; SED - BL Leipzig an Honecker vom 16.1.1989. In : ebd., S. 15. 444 BVfS Leipzig : Schweigemarsch am 15.1.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 68 f.). Vgl. VPKA Leipzig vom 15.1.1989 : Einsatzordnung zur Verhinderung einer geplanten Provokation. In : Stasi intern, S. 72. 445 Superintendenturen Leipzig -Ost und -West an die Pfarrämter und kirchlichen Einrichtungen vom 16.1.1989 ( ABL, Hefter I /2). 446 Ev. - Luth. Landeskirchenamt Sachsens an alle Kirchgemeinden vom 17.1.1989 ( ebd.). 447 Vgl. RdB Frankfurt / Oder, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 27.1.1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 601, 46285).

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Druck. Dem Landeskirchenamt und den Superintendenten Magirius und Richter wurde vorgeworfen, oppositionelle Aktivitäten zu unterstützen. Die Superintendenten entzogen den Basisgruppen daraufhin vorübergehend die eigenverantwortliche Gestaltung der Friedensgebete.448 Zwischen dem 30. Januar und dem 6. März ging daraufhin von Teilnehmern des Friedensgebetes keine „Störung der öffentlichen Ordnung“ aus.449 Auch beim Kirchentag der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens vom 6. bis 9. Juli in Leipzig grenzte sich Landesbischof Johannes Hempel von Gruppen ab, denen es ausschließlich auf gesellschaftskritische oder sozialismusfeindliche Aktionen ankomme. Der Staat konnte zufrieden konstatieren, dass „dieses distanzierte Verhältnis zu den Gruppen [...] zu einer starken Polarisierung und intern zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Kirchenleitung und Gruppenvertretern“ führe.450 Am 13. März, einem Messe - Montag, kam es nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche zu einem Schweigemarsch von mehreren Hundert Personen durch die Innenstadt. Etwa die Hälfte der Demonstranten bekundete ihren Willen zur Ausreise.451 Etliche Demonstranten wurden festgenommen und westliche Journalisten an ihrer Arbeit gehindert. Während der Leipziger Messe erhielten die Montagsgebete internationale Aufmerksamkeit. Es wurden „regelrechte Medienschlachten“ geschlagen, und es gab unter den Gruppen „interne Flügelkämpfe um die beste Presse“.452 Das MfS unterstellte westlichen Korrespondenten sogar, oppositionelle Aktivitäten mit zu organisieren. Richtig daran war, dass es Absprachen zwischen Ausreisewilligen sowie anderen Oppositionellen und Journalisten gab, die Proteste über westliche Medien öffentlich zu machen.453 Anfang April 1989 durften die Basisgruppen die Friedensgebete in der Nikolaikirche unter der Verantwortung eines Pfarrers wieder selbst gestalten. Bei einem Friedensgebet am 10. April wurden die Beschlüsse der Synode der Landeskirche popularisiert. Dabei machten Jugendpfarrer Kaden und Mitglieder des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ Äußerungen, „die offen feindlich - negativ und gegen das sozialistische System in der DDR gerichtet waren“. So hieß es, in der DDR seien auch bei den politischen Strukturen Veränderungen notwendig, es gebe Menschenrechtsverletzungen, die Zustände seien durch Stagnation in Politik, Wirtschaft und Kultur gekennzeichnet und die Reiseverordnung stelle eine „gesetzlich fixierte Entmündigung der Bürger“ dar.454 An der offiziellen Maidemonstration am 1. Mai nahmen in Leipzig ca. 300 000 Personen teil. Obwohl 448 Vgl. RdB Leipzig vom 31.1.1989: Info ( BStU, ASt. Leipzig, IX 4/1). 449 BDVP Leipzig vom 12.10.1989 : Analyse zum „Friedensgebet“ / Montagsgebet in der Nikolaikirche ( SächsStAL, BDVP 1). 450 RdB Karl - Marx - Stadt, Stellvertreter für Inneres an den Vorsitzenden vom 21. 7.1989 (SächsStAC, 128706). 451 BVfS Leipzig : Personenbewegung am 13. 3.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 121–123). Vgl. Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 61–111. 452 Kaden, Von den Friedensgebeten ging alles aus, S. 103 f. 453 Vgl. BVfS Leipzig vom 16. 3.1989 : Aktivitäten westlicher akkreditierter Korrespondenten auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 125– 135); MfS, Minister, vom 13. 6.1989, 46/89 ( ABL, FVS, Dresden o008, Teil 3). 454 BVfS Leipzig vom 23. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 2–9).

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kein Friedensgebet stattfand, kamen einige Besucher in die Nikolaikirche. Rund 280, meist Antragsteller, gingen schweigend durch die Innenstadt. Das ZDF filmte den Marsch und sendete ihn als Gegendemonstration zur offiziellen MaiManifestation. Anders als am 1. Mai gingen Volkspolizei und MfS gegen den zweiten „Pleißegedenkmarsch“ zum Weltumwelttag am 4. Mai wieder massiv vor und nahmen zahlreiche Teilnehmer fest.455 Dresden : Am 13. Februar 1989 gab es in der Dresdner Kreuzkirche ein Nachtgebet zur Erinnerung an die Zerstörung der Stadt. Bei einer anschließenden Demonstration kam es zu Übergriffen der Sicherheitsorgane auf Träger von Transparenten. Anlass für Proteste war in Dresden auch der geplante Bau eines Reinstsiliziumwerkes in Dresden - Gittersee. Einmal im Monat fanden seit Jahresbeginn 1989 in der Paul - Gerhardt - Kirche in Dresden - Gittersee Andachten als Ausdruck des Protestes statt. Die Aktionen gegen das Werk wurden von der Gruppe „Wolfspelz“ initiiert und fanden auch die Unterstützung der drei Dresdner Superintendenten und eines Großteils der Bevölkerung.456 Im April registrierte das MfS zahlreiche kritische Meinungsäußerungen zum Bau des Reinstsiliziumwerkes. Darin ging es um eine Gefährdung der Stadt und eine erhöhte Umweltverschmutzung. Einwohner der Gemeinde Possendorf sprachen von einer „Todeszone“ im Umkreis von fünf Kilometern. Kritisiert wurde, dass sich der Staat über die Ängste der Bevölkerung hinwegsetze und nur die Kirche die Probleme thematisiere.457 Nachdem in einem Beschluss der Sächsischen Landessynode am 2. April schwerwiegende Bedenken gegen den Bau des Werkes geäußert worden waren, fand am 16. April in der Kreuzkirche ein Gottesdienst mit rund 4 000 Menschen statt, bei dem gegen die Umweltverschmutzung durch den Bau des Werkes protestiert wurde.458 Hier hieß es, die Bürger würden nicht ernst genommen. Der notwendige Transport von Trichlorsilan sei mit hohen Risiken verbunden, ein Havariefall würde katastrophale Folgen haben. Ungeachtet der Proteste erteilten die Räte der Stadt und des Bezirkes am 26. April die Standortgenehmigung für den Bau.459 Eine besondere Form des Protestes gab es bei Faschingsumzügen in den Kreisen Dippoldiswalde und Pirna. In Bad Schandau ( Pirna ) waren am 4. Februar „Schaubilder und Transparente darauf angelegt, [...] Teilbereiche der gesellschaftlichen Entwicklung zu verunglimpfen“. So hieß es „Mit leerem Beutel fuhr ich rüber, mit vollem Koffer kam ich wieder“, „Mit dem richtigen Geld in die große Welt“ oder „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Linie nicht“.460 455 456 457 458

Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 148. Vgl. Rüddenklau, Störenfried, S. 278; Baum, Von resignativer Duldung, S. 137–157. KDfS Freital vom 28. 4.1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10917, Bl. 632–635). Vgl. Arbeitsmaterial der Dresdner Friedens - , Umwelt - und Zweidrittelwelt - Gruppen von Juni 1989, S. 6–9. Vgl. Kirche im Sozialismus, 15 (1989) 3, S. 126; Christof Ziemer. In: Rein, Die Opposition, S. 191. 459 Vgl. Präsidium des Ministerrates der DDR 131/7/89 vom 2.11.1989 : Beschluss über Info Bau des Reinstsiliziumwerkes Dresden - Gittersee ( BArch Berlin, C 20 I /3, 6528). 460 BVfS Dresden vom 11. 2.1989 : Info über den erneuten Missbrauch einer Faschingsveranstaltung ( BStU, ASt. Dresden, AKG PI 46/89, Bl. 1–34).

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Bild 3:

Faschingsumzug in Bad Schandau ( Kreis Pirna ) 4.2.1989.

Bild 4:

Karnevalsumzug am 5.2.1989 in Geising ( Kreis Dippoldiswalde).

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Im Erzgebirgsstädtchen Geising gab es Plakate mit Aufschriften wie „Vitamin - Basar Rot - , Sauer - , Rosen - , Weiß - Kohl. Jawohl – wir brauchen Kohl“, „Im Westen viele Verwandte, im Laden eine Tante, Raritäten unter der Hand, wir leben im Schlaraffenland“ oder „Losung des Tages – Schlechte Luft, trübes Wasser, kein Baum – ab über den Märchenzaun“.461

Bild 5:

Faschingsumzug in Postelwitz ( Kreis Pirna ) 11.2.1989.

Ein Faschingsumzug am 11. Februar in Postelwitz ( Pirna ) war „von der Konzeption her dazu angelegt“, die Politik der SED „zur Kritik zu stellen“. Auf Plakaten hieß es u. a. : „Wo kann ein DDR - Arbeiter noch Urlaub machen“, „Grenzenloser Feriendienst“ oder „Läge Pratzschitz bei Bonn am Rhein, wären die Brote frisch, knusprig und fein“.462 Ähnlich ging es ein paar Tage später in Schmilka und Krippen ( Pirna ) zu. Hier wurden die DDR - Autoproduktion und fehlende Einkaufsmöglichkeiten karikiert. Auf einem Plakat hieß es : „Trotz alledem – seid nicht so barsch – leben wir auch wie der letzte Arsch“.463 Karl - Marx - Stadt : Am 6. Mai fand in der Karl - Marx - Städter Johanniskirche eine Veranstaltung statt, bei der kirchliche Basisgruppen u. a. eine „gesamtstaat461 BVfS Dresden vom 8. 2.1989 : Info über Reaktionen der Bevölkerung zum Karnevalsumzug am 5. 2.1989 in Geising ( ebd., KD Dippoldiswalde 17170, Band 1, Bl. 60–66). 462 BVfS Dresden vom 14. 2.1989 : Info über die erneute Mitführung von politisch - negativen Plakaten in Faschingsumzügen im Kreis Pirna ( ebd., AKG PI 48/89, Bl. 1–9). 463 BVfS Dresden vom 21. 2.1989 : Info über den Verlauf der Faschingsveranstaltung in Schmilka und Krippen / Kreis Pirna am 18. 2.1989 ( ebd. PI 65/89, Bl. 1–9).

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liche Konsultativkonferenz“ aus Vertretern aller wichtigen Schichten der Bevölkerung, eine Stärkung der Parlamente, „eine klare Trennung von Staat und Partei( en )“ und die Streichung der Führungsrolle einer Partei aus der Verfassung forderten.464 1.8

Fälschung der simulierten Kommunalwahlen im Mai 1989

Es war allgemein klar, dass sich die SED - Herrschaft nicht auf freie Wahlen stützte.465 Die Kommunisten begründeten ihren Machtanspruch selbst auch nicht mit demokratischer Legitimierung durch freie Wahlen, sondern leiteten diesen aus ihrer Ideologie ab. Demnach hatte die kommunistische Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse die in der Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Entwicklung begründete historische Aufgabe, mittels einer „Diktatur des Proletariats“ die Grundlage für die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus zu legen. Wahlen wurden somit ohnehin nur als Zugeständnis an Bevölkerungskreise angesehen, die den ideologischen Eingebungen der Agitprop - Sekretäre nicht zu folgen vermochten. Wenn aber schon Einheitslistenwahlen durchgeführt wurden, so sollten diese auch die fast hundertprozentige Zustimmung der Bevölkerung beweisen. War bereits die gesamte Einheitslistenwahl eine Farce, die dem Versuch einer für totalitäre Regime typischen Massenmobilisierung entsprach, so wurden die Wahlergebnisse während der gesamten DDR - Zeit zusätzlich willkürlich gefälscht, um die angebliche 99,9 - prozentige Zustimmung der Bevölkerung zu dokumentieren.466 Mit den analytischen Instrumentarien parlamentarischer Demokratien ist daher die „Volksdemokratie“ der SED nicht zu fassen. Die „Volksvertretungen“ waren nur scheindemokratische Aushängeschilder der kommunistischen Diktatur. So war denn auch in der Präambel des DDR - Wahlgesetzes die Rede von der wachsenden „Verantwortung der Volksvertretungen als gewählte Machtorgane des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern“ bei der von der SED gestellten Aufgabe der Schaffung der „Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus“.467 Bei den Einheitslistenwahlen ging es nicht um die Machtverteilung an frei konkurrierende politische Kräfte, sondern um eine pseudo - plebiszitäre Bestätigung der in der Verfassung festgeschriebenen führenden Rolle der SED und die nachgeordnete Funktion der mit ihr zwangsweise über die Einheitsliste verbundenen Blockparteien und Mas-

464 Reum / Geißler, Auferstanden, S. 15–17. 465 Vgl. zu den Kommunalwahlen ausführlich Fricke, Die DDR - Kommunalwahlen, S. 467– 505; Richter, Wir sind das Volk, im Druck. 466 Vgl. dazu LG Dresden, Urteil vom 27. 5.1993. Az. 3 ( c ) KLs 51 Js 4048/91, UA, S. 37. Zit. bei Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 24. 467 Gesetz zu den Wahlen zu den Volksvertretungen der DDR ( Wahlgesetz ) vom 24. 6.1976 in der Fassung vom 28. 6.1979 ( GBl. DDR I, S. 139). Zur kommunalen Ordnung vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 74; Roggemann, Kommunalrecht; Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen ( GBl. DDR I, 18 vom 11. 7.1985, S. 213 f.).

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senorganisationen. Diese Prozedur samt üblicher Fälschungen sollte seitens der SED - Führung auch bei den Einheitslistenwahlen zu den Kreis - und Kommunalparlamenten am 7. Mai 1989 wiederholt werden. Wie erstmals 1949 getestet und 1950 erfolgreich praktiziert, traten die Vertreter der SED, der Blockparteien und Massenorganisationen gemeinsam auf einer Einheitsliste an. Auf diese konnten sämtliche Kandidaten nur mit Zustimmung der SED und des MfS gesetzt werden. Die Zusammensetzung der Listen in den Wahlkreisen orientierte sich an einem zuvor von der SED ausgearbeiteten Schema. Demnach erhielt die „Partei der Arbeiterklasse“ in den Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen der Stadtkreise etwa 20 Prozent der „Mandate“, die Blockparteien je etwa sieben. In den Stadtverordnetenversammlungen bzw. Gemeindevertretungen der Städte und Gemeinden erhielt die SED etwa 30 bis 35 Prozent, die Blockparteien je zwischen drei und sieben Prozent. In den Stadtbezirksversammlungen der drei Bezirksstädte beanspruchte die SED zwischen 15 und 20 Prozent der Sitze, die Blockparteien erhielten sechs bis sieben Prozent. Da jedoch die SED - dominierten großen Massenorganisationen ebenfalls mit zehn bis 35 Prozent der Sitze vertreten waren, hatten SED - Mitglieder stets eine nominelle Mehrheit von weit über 50 Prozent. Angesichts des Zustandes der Blockparteien sind allerdings auch diese Zahlen wenig aussagefähig, denn unter den „Bündnispartnern“ gab es viele Abgeordnete, die den „real existierenden Sozialismus“ ebenso befürworteten wie die der SED. Generell konnte nur Abgeordneter werden, wer die kommunistische Diktatur zumindest verbal unterstützte. Die Höhe der Wahlbeteiligung und die abgegebenen Gegenstimmen durch Streichung des gesamten Wahlvorschlages der Nationalen Front hatten keinen Einfluss auf die Mandatsverteilung. Prinzipiell möglich war lediglich die Abwahl von Kandidaten, wenn diese von mehr als 50 Prozent der Wähler von der Einheitsliste gestrichen wurden. Dies war bei den Kommunalwahlen 1989 von insgesamt 273 462 Kandidaten bei zweien der Fall. Allerdings gab es im Vorfeld der Wahlen begrenzte Möglichkeiten, auf die Kandidatenliste Einfluss zu nehmen.468 Vor allem wurden die meist schlecht besuchten Wahlveranstaltungen genutzt, um auf Missstände hinzuweisen und Änderungen zu fordern. Das MfS registrierte eine „zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen“ und prognostizierte, es werde wesentlich mehr Nichtwähler und Gegenstimmen geben als zuvor.469 Hauptkritikpunkte waren Mangel an Westreisen, schlechte Versorgung, unzulängliche Straßen - und Wohnraumerhaltung, Umweltbelastung und gleichgültiges, bürokratisches Verhalten staatlicher Organe.470 Allein im Kreis Eilenburg gab es im Vorfeld der Wahlen 835 entsprechen468 Vgl. Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 25. 469 KDfS Niesky vom 18. 4.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 375– 378). 470 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 27. 3.1989 : Lage in Vorbereitung der Kommunalwahlen am 7. 5.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, HE - 67, Bl. 1); Analyse der Kommunalwahlen in der Kreisstadt Aue vom 7. 5.1989 ( KA Aue - Schwarzenberg, 11641); RdG Albernau : Wahlanalyse, o. D. ( ebd.); BVfS Leipzig vom 23. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig,

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de Eingaben.471 Die Wahlvorbereitungen wurden auch genutzt, um direkte materielle Interessen durchzusetzen. In der Gemeinde Lodenau ( Niesky ) erklärten Bewohner sogenannter „LPG - Häuser“, sie gingen nicht zur Wahl, weil Eingaben wegen des bedrohlichen Zustandes der Schornsteinköpfe bisher nicht realisiert worden seien. Bewohner der Gemeinde Klitten erklärten, sie hätten „nach Ablehnung des Eigenheimtyps“ das restliche Vertrauen zur Partei und Regierung verloren. Nur eine „vertrauenswürdige Aussage zu einem annehmbaren Eigenheimtyp“ könne sie noch umstimmen. Ein Lehrer der POS II Niesky erklärte, wenn es Wahlen wie in der Sowjetunion gäbe, würde die SED „das große Grübeln“ bekommen.472 Eine entscheidende Rolle bei der Verdeutlichung der fehlenden Legitimierung der SED - Herrschaft spielte die evangelische Kirche, die seit 1988 offen Kritik am Wahlmodus übte. Anders als bei Einzelpersonen konnte der Staat hier schlecht mit Festnahmen und politischer Haft reagieren. Das Vorgehen der Kirche wirkte koordiniert. Schon im Juni 1988 wurde auf einem regionalen Kirchentag in Görlitz eine Reform des Wahlsystems gefordert. Im Oktober 1988 äußerte die Synode der Kirchenprovinz Sachsen ebenfalls Vorbehalte gegen die Einheitslistenwahl. Auch die Ende März und Anfang April 1989 tagende Synode der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens kritisierte das Wahlverfahren. Wörtlich hieß es : „Beschwernis bereitet die fehlende Möglichkeit der Auswahl von Kandidaten bei der Wahlhandlung. Der Charakter der geheimen Wahl ist erst dann gewährleistet, wenn die Wähler verpflichtet sind, die Wahlkabine zu benutzen. Befürchtungen bestehen hinsichtlich Fehlentscheidungen bei der Auszählung und Zusammenfassung der Wahlergebnisse.“ Christen wurde empfohlen, entweder „an der Wahl teilzunehmen und die Kabine aufzusuchen oder von der Wahl fernzubleiben“.473 Damit wies erstmals seit Jahrzehnten ein kirchliches Gremium öffentlich auf den Charakter der Scheinwahlen hin und stellte einen Wahlboykott als Alternative dar. Das war ein Schritt dahin, das Machtmonopol der SED in Frage zu stellen.474 Das MfS konstatierte eine „konfrontative Tendenz ev. Amtsträger und Geistlicher insbesondere gegenüber der Innen - und Kommunalpolitik“. Der Staatssekretär für Kirchenfragen erhob bei Landesbischof Hempel Einspruch gegen den Beschluss der Synode und bezeichnete diesen als Aufruf zum Wahlboykott.475 Angesichts der Stellungnahmen der Kirchenoberen konnten sich auch Superintendenturen und Gemeinden kritische Töne

471 472 473 474 475

AKG 38/2, Bl. 2–9); RdS Eilenburg vom 12. 4.1989 : Bericht ( KA Delitzsch, ASt. Eilenburg, RdK Eilenburg 673, Büro des Rates ). Vgl. RdK Eilenburg vom 11.10.1989 : Bericht ( KA Delitzsch, ASt. Eilenburg, RdK Eilenburg 676). KDfS Niesky vom 18. 4.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 375– 378). Synode der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens : Beschluss betr. „Verfahren bei den Kommunalwahlen“. In : epd Dokumentation, (1989) 17, S. 32; BVfS Leipzig vom 23. 3.1989: Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 2–9). Vgl. Röder, Es bogen sich, S. 26. BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/6, Bl. 57–73).

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erlauben. So bemängelte der Kreisjugendpfarrer von Eilenburg beim Rat des Kreises die wenigen Mandate der CDU, Wahlen im Westen seien offener und demokratischer.476 Der Oschatzer Superintendent Martin Kupke nannte die Wahlpraxis in einem Brief an den Rat des Kreises „unbefriedigend“.477 Der Pfarrer von Windischleuba ( Altenburg ) protestierte in einem Brief an den Staatsrat gegen die Wahlpraxis.478 In der Kirchgemeinde Oelsa ( Freital ) hängte der Pfarrer am Wahltag „10 Thesen zur Wahl“ in den Schaukasten und rief dazu auf, die Wahlkabine zu nutzen. Für den Kreis Freital berichtete das MfS, dass die Kommunalwahlen „keinerlei Zustimmung unter den Amtsträgern der Kirchgemeinden“ fänden.479 Die Haltung der Kirche schlug sich auch in einer geringeren Beteiligung kirchlicher Amtspersonen an den Kommunalwahlen nieder. In der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens sank sie von 76,1 Prozent 1984 auf 56,3 Prozent 1989, im katholischen Bistum Dresden - Meißen von 65,5 auf 42,5 und in der Apostolischen Administratur Görlitz gar von 60 auf 12,5 Prozent.480 Lediglich die Leiter von kleineren Religionsgemeinschaften und Freikirchen nahmen verstärkt an der Wahl teil. So stieg ihre Beteiligung im Bezirk Leipzig von 84,0 auf 95,6 Prozent.481 Zufrieden konnte auch das Freitaler MfS berichten, alle Leiter und Prediger der Religionsgemeinschaften hätten ihr Wahlrecht genutzt.482 Die Proteste und Aktionen beschränkten sich allerdings nicht nur auf kirchliche Amtspersonen, sondern gingen ebenso von oppositionellen Gruppierungen aus, die nur zum Teil unter dem Dach der Kirchen agierten. Vom 1. Januar bis zum 7. Mai 1989, dem Tag der Kommunalwahlen, registrierte das MfS DDR - weit 103 gegen die Kommunalwahlen gerichtete Aktionen, etwa doppelt so viele wie bei den letzten Kommunalwahlen 1984. Schwerpunkte waren neben Berlin die Bezirke Karl - Marx - Stadt, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Vor allem wurden „Hetzblätter“ verteilt, „Hetzlosungen“ angebracht und „Sichtelemente“ zerstört. Die Aktionen richteten sich „gegen das Wahlsystem“ und waren „verbunden mit Angriffen auf die Partei - und Staatsführung“. Es gab „aggressiv formulierte Forderungen“ nach „Liberalisierung, Demokratie und politischem Pluralismus westlicher Prägung“.483 Teilweise gab es abgestimmte Aktivitäten von Antragstellern. Unterstützt wurden sie von westlichen Medien, 476 Vgl. KDfS Eilenburg vom 17. 4.1989 : Mündlicher Bericht des IMS „Ulli Schröter“ (BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 143 f.). 477 Vgl. BVfS Leipzig vom 25. 4.1989 : Info ( ebd., AKG 38/2, Bl. 21–33). 478 Vgl. BVfS Leipzig vom 9. 3.1989 : Info ( ebd. 38/1, Bl. 112–120). 479 KDfS Freital vom 18. 5.1989 : Reaktion kirchlicher Kreise zur Kommunalwahl ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 624–627). 480 Vgl. SED - BL Dresden vom 10. 5.1989 : Informationsbericht von März / April 1989 (SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/70, Bl. 249). 481 Vgl. BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/6, Bl. 57–73); BVfS Leipzig, AKG: Kommunalwahlen von 1989. Wahlbeteiligung kirchlicher Amtsträger, o. D. ( ebd., Bl. 85–88). 482 KDfS Freital vom 18. 5.1989 : Reaktion kirchlicher Kreise zur Kommunalwahl ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 624–627). 483 MfS, ZAIG vom 8. 5.1989: Info 229/89 ( ABL, Dresden ).

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die Proteste popularisierten. Besonders rührig war der West - Berliner Sender „Radio 100“, der im Januar 1989 in der Sendereihe „Radio Glasnost – Außer Kontrolle“ einen Wahlaufruf unabhängiger Gruppen mit der Aufforderung verbreitete, eigene Kandidaten aufzustellen. Am 27. Februar sendete die Station einen Aufruf der Berliner Initiativgruppe „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ mit Hinweisen zu Verhaltensweisen bei der Wahl.484 Am 24. April wurde über Möglichkeiten zur Wahlbeeinflussung informiert und der Termin einer Protestveranstaltung in Leipzig bekannt gegeben. Auch auf andere Weise nahm „der Westen“ Einfluss. Vom 16. bis 19. April führte das Infas - Institut Hamburg eine telefonische Umfrage unter Leipziger Bürgern u. a. über das DDR - Wahlsystem durch.485 In den MfS - Unterlagen sind einzelne Proteste gegen die Wahlfarce in den sächsischen Bezirken genauer beschrieben :486 Ende April wurden in Dresden zirka zweihundert Hetzblätter der „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ verteilt, in denen über die Rechte am Wahltag aufgeklärt wurde.487 Bei den Kirchen gab es Auskünfte zur Wahl. Die Frühjahrssynode der Ev.Luth. Landeskirche Sachsens empfahl, die Kabine zu benutzen, wenn man überhaupt zur Wahl gehen wolle. In Dresden verfassten 14 Pfarrer eine Resolution an die Wahlkommission, in der sie den Wahlmodus kritisierten und Klarheit verlangten, wie eine korrekte Ja - oder Nein - Stimme auszusehen habe. Auch Superintendent Christof Ziemer protestierte im Vorfeld der Wahl gegen die Art der Wahl. Die Initiative für eine flächendeckende Wahlbeobachtung ging hier jedoch vor allem von Friedenskreisen in Dresden - Johannstadt und Leubnitz - Neuostra sowie von „Wolfspelz“ aus.488 In der Karl - Marx - Städter Johanniskirche forderten kirchliche Gruppen einen Tag zuvor eine Stärkung der Parlamente, die Trennung von Staat und Partei sowie die Streichung der Führungsrolle der SED aus der Verfassung.489 In der Kirchgemeinde Brandis ( Wurzen ) wurde bereits im November 1988 darüber beraten, wie man die Kabine benutzen und Wahlscheine ungültig machen könne. Als Auftakt zur Vorbereitung der Kontrolle der Kommunalwahlen veranstalteten Leipziger Basisgruppen am 28. Februar 1989 einen Abend in der Markuskirchgemeinde.490 Es folgte ein Gemeindeabend in der Michaelisgemeinde. Im März wurden in Leipzig Handzettel gegen die Kommunalwahlen verteilt. Im Kreis Geithain trat ein Diplomingenieur durch provokative Fragen bei Wahlveranstaltungen in Erscheinung. In Leipzig - Süd nahmen Antragsteller an Wahlbe484 Vgl. BVfS Leipzig vom 9. 3.1989 : Informationen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 112–120). 485 Vgl. BVfS Leipzig vom 25. 4.1989 : Informationen ( ebd. 38/2, Bl. 21–33). 486 Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann angesichts der uneinheitlichen Aktenlage nicht erhoben werden. Es handelt sich hier wie im Folgenden immer um exemplarische Fälle. 487 SED - SL Leipzig vom 3. 5.1989 : Texte der Flugblätter ( ABL, XV SED, FDJ ); MfS, ZAIG vom 8. 5.1989: Info 229/89 ( ABL, Dresden ). Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 138– 144. 488 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 138–141. 489 Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 15–17. 490 Vgl. BVfS Leipzig vom 9. 3.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 112–120).

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ratungen teil. Basisgruppen verteilten Aufrufe, in denen aufgefordert wurde, die Wahlkommissionen während der Wahl zu befragen. Ähnliche Orientierungen gab es auch bei anderen kirchlichen Informationsabenden.491 Anfang April wurden in Leipzig Zettel mit den Texten „Stell dir vor, es ist Wahl und keiner geht hin“ sowie „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ verteilt.492 In Mügeln im Kreis Oschatz war an Schaufensterscheiben „Wahlboykott“ zu lesen.493 In der Wermsdorfer Klinik waren an der Wandtafel Kandidaten durchgestrichen, an anderer Stelle Wahlplakate abgerissen worden.494 In Torgau nahmen Pfarrer und Personen des „politischen Untergrunds“ an Wahlberatungen teil.495 Bei einem Wählerforum von achtzig „kirchlich gebundenen Personen“ im Kreis Leipzig - Land kam es zu „offenen Angriffen gegen das Wahlsystem“.496 Anfang Mai war die Lage im Bezirk Leipzig durch ein „weiteres Ansteigen von Handlungen gegen die staatliche Ordnung“ gekennzeichnet.497 Wie schon zuvor in Dresden verteilte eine „Organisation Neuer Demokraten“ Flugblätter und klebte Plakate. Für den Wahltag wurde zu einer Schweige - Protestveranstaltung am Völkerschlachtdenkmal aufgerufen und gefordert, eine „demokratische Grundordnung“ einzuführen. Die Initiatoren wurden zu Freiheitsentzug verurteilt. Auch die „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ verteilte Anfang Mai in Leipzig Flugblätter, in denen sie dazu aufrief, am Wahltag mit einem weißen Blatt als Zeichen der Ablehnung der Wahl zum Alten Rathaus zu kommen. Auch hier gab es Verhaftungen.498 Gut vorbereitete Proteste gingen auch vom Christlichen Friedensseminar Königswalde aus.499 Im ostsächsischen Raum waren Zittau und Großhennersdorf Zentren der Wahlbeobachtung. Im Nachfolgeblatt der „Lausitzbotin“ wurden die Ergebnisse veröffentlicht.500 Durch die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die Haltung der Kirchen und die oppositionellen Aktivitäten war die SED alarmiert. Die Informationen des MfS ließen keinen Zweifel daran, „dass es 99,9 Prozent wohl nicht werden würden“.501 Deshalb wurde versucht, oppositionelle Aktivitäten zu verhindern und die Wahlfarce durch Fälschungen zusätzlich abzusichern. Im Rahmen der Aktion „Symbol 89“ kategorisierte das MfS erklärte Nichtwähler nach 47 Kriterien 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501

Vgl. BVfS Leipzig vom 23. 3.1989 : Info ( ebd. 38/2, Bl. 2–9). Vgl. BVfS Leipzig vom 9. 3.1989 : Info ( ebd., Bl. 17–20). Vgl. KDfS Oschatz vom 23. 3.1989 : Sofortmeldung ( ebd., KDfS Oschatz 177, Bl. 96). Vgl. KDfS Oschatz vom 5. 4.1989 : Wahlvorbereitung ( ebd., Bl. 113). BVfS Leipzig vom 23. 3.1989 : Info ( ebd., AKG 38/2, Bl. 2–9). BVfS Leipzig vom 25. 4.1989 : Info ( ebd., Bl. 21–33). BDVP Leipzig an VP - Kreisämter 1–12 vom 3. 5.1989 ( ebd., KDfS Geithain 26/2, Bl. 120 f.). Vgl. BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( ebd., XX 209/6, Bl. 57–73); SED - SL an SED - BL Leipzig vom 3. 5.1989, Anlage : Texte der Flugblätter ( ebd., H. XV SED, FDJ). Vgl. Kluge, Das Christliche Friedensseminar Königswalde, S. 398–405; Raum für Güte, S. 148 f.; Meusel, Wunde Punkte, S. 2–5. Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. Interview mit Rudolf Mittig im Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 186.

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und schlüsselte angekündigte Wahlverweigerungen auf.502 Hinzu kam die Aufklärung und Observierung „Irregeleiteter“503 sowie die auch nach den Wahlen fortgesetzte Erfassung von „personellen Schwerpunkten feindlich - negativen Wirkens“.504 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS und der Kriminalpolizei besetzten Wahlkommissionen, - vorstände und - büros, um die vorgesehenen Wahlfälschungen abzusichern.505 Bezirksverwaltung des MfS und Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden beschlossen Anfang März „in enger Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Vorsitzenden der Wahlkommissionen“ eine Verstärkung der Informationstätigkeit über „feindlich - negative Erscheinungen“. Für den Wahltag wurde erhöhte Bereitschaft angewiesen und der Einsatz „ausgewählter gesellschaftlicher Kräfte“ in den Wahllokalen vorgeschlagen, die „zum Schluss der Wahl und während der Auszählung anwesend sind und, wenn erforderlich, auch ideologisch wirksam werden“.506 Es müsse, so Willi Nyffenegger, damit gerechnet werden, dass „eine Reihe besonders kirchlicher und negativer Kräfte in ihrem Sinne eine Kontrolle der Wahlhandlungen und Auszählung beobachten und verfolgen“ werde.507 Wie das Beispiel Freital zeigt, wurden alle Kabinenbenutzer vom MfS registriert und Nichtwähler an die SED gemeldet.508 Die so festgestellte Tatsache, „dass das Aufsuchen der Wahlkabine gegenüber früheren Wahlen zugenommen hat“ und vor allem junge Menschen „im Wahlverhalten oftmals eine zu kritisierende Haltung“ zeigten,509 war aus Sicht der SED noch das geringere Übel. Zu schaffen machte ihr vor allem die so noch nie da gewesene Wahlbeobachtung. Wichtiger als alle Proteste war die Tatsache, dass aktive Diktaturgegner beschlossen hatten, wenn schon nicht die Wahlfarce, so doch zumindest die auch nach geltenden DDR - Gesetzen strafbaren Wahlfälschungen zu dokumentieren. So konnte man den Unrechtscharakter des Regimes bloßlegen, ohne gegen Gesetze zu verstoßen und sich der unmittelbaren Gefahr auszusetzen, als politischer Häftling zu enden. Die Wahlbeobachtung wurde daher bewusst als Wahrnehmung gesetzlich gewährter Rechte gestaltet. In fast allen Wahlkreisen der sächsischen Bezirke nahmen deswegen auch Kirchenvertreter an der Stimmaus-

502 Vgl. Meinel / Wernicke, Mit tschekistischem Gruß, S. 37–39; Pechmann / Vogel, Abgesang, S. 82–90. 503 BVfS Leipzig vom 28.12.1988: Jahresplan von 1989 ( ABL, FVS Dresden, BV Leipzig, Bl. 22 ). 504 Vgl. Meinel / Wernicke, Mit tschekistischem Gruß, S. 57–62. 505 Vgl. Stasi intern, S. 294. 506 BVfS Dresden vom 9. 3.1989 : Aktennotiz des stellvertretenden Leiters zu Antragstellern auf Ausreise und zur staatlichen Sicherheit ( ABL, Dresden ). 507 BDVP Dresden, Bericht Nyffenegger vom 9. 3.1989 : Aufgaben zur Gewährleistung der staatlichen Sicherheit anlässlich der Kommunalwahlen ( ebd.). 508 Vgl. KDfS Freital vom 18. 5.1989 : Reaktion kirchlicher Kreise zur Kommunalwahl (BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 624–627). 509 Abschlussbericht über die Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen am 7. 5.1989 in Eibenstock ( KA Aue - Schwarzenberg, 11641).

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zählung teil.510 Mit ihrer logistischen Unterstützung gelang es, umfassend in Wahllokalen präsent zu sein. In der Kirche bereitete man außerdem eine zentrale Auswertung der Kontrollergebnisse vor. Das MfS registrierte in allen Bezirken Mitglieder kirchlicher Basisgruppen und Antragsteller auf ständige Ausreise, die sich zur „Kontrolle“ bzw. „Überwachung“ der Wahlhandlung und der Stimmenauszählung in Wahllokalen aufhielten. Sie machten sich, zum Teil in vorgefertigten Formblättern, Aufzeichnungen über die verkündeten Ergebnisse.511 Die avisierten Wahlbeobachtungen blieben nicht ohne Wirkung auf die SEDFührung. Am 15. April 1989 schrieb Krenz an Honecker, aus den Bezirken werde, „ähnlich wie zu früheren Wahlen – eine Zielangabe für das Wahlergebnis erwartet“. Er schlug vor, auf eine Fälschung der Ergebnisse zu verzichten, da zu erwarten sei, dass „gegnerische Kräfte“ versuchten, eine Nichteinhaltung wahlrechtlicher Bestimmungen nachzuweisen.512 Die Fälschungen gingen demnach eher von den Bezirks - und Kreisebenen der SED als von der Führung in Berlin aus.513 Dem widerspricht aber, dass Politbüro - Mitglied Horst Dohlus die 2. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen im April 1989 vertraulich und mündlich instruiert haben soll, die bisherigen Wahlergebnisse zu erreichen oder gar zu überbieten. Bezirk Dresden : In Dresden ordnete Hans Modrow als 1. Sekretär der SED Bezirksleitung am 2. Mai auf einer Sekretariatssitzung unter Hinweis auf die Äußerungen von Dohlus an, die Wahlkommissionen dürften nur Zahlen herausgeben, die zuvor von den 1. Sekretären der SED - Kreis - und Stadtbezirksleitungen kontrolliert worden seien. Es müsse „ein optimales Ergebnis“ erreicht werden.514 Die Kreissekretäre von Zittau und Görlitz berichteten, der Sekretär der SED - Bezirksleitung Siegfried Neubert habe am Wahltag von ihnen gefordert, den Gegenstimmenanteil auf 2,5 Prozent herunterzurechnen.515 In Coswig 510 Vgl. SED - BL Dresden vom 10. 5.1989: Informationsbericht von März / April 1989 (SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/70, Bl. 249). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 18 f., Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 23. 511 Vgl. KDfS Freital vom 18. 5.1989 : Reaktion kirchlicher Kreise zur Kommunalwahl (BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 624–627); MfS, ZAIG vom 8. 5.1989 : Info 229/89 ( ABL, Dresden ); BVfS Leipzig vom 8. 5.1989 : Maßnahmen bzgl. der Provokation am 7. 5.1989 im Stadtzentrum ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 28–33); BVfS Leipzig vom 9. 3.1989 : Informationen ( ebd., Bl. 17–20). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 18 f.; Bericht Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 134. 512 Honecker erklärte später, für die SED „wäre ein Ergebnis von 65 Prozent ein großer Erfolg gewesen“. Hinsichtlich der Fälschungen stehe er „vor einem Rätsel“, denn Wahlfälschung betrachte er „als etwas Furchtbares, weil das nicht nur ein Selbstbetrug ist, sondern auch Betrug am Volk“. Es sei „ein übles Gerücht“, dass Bürger Nachteile hatten, wenn sie nicht zur Wahl gingen. In : Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 83–85. Günter Mittag meinte, dass er „von dem Ausmaß der Wahlfälschungen und den weiteren Vorgängen zur Unterdrückung berechtigter Proteste erst im nachhinein ein klares Bild erhielt“ und „so gut wie nichts“ wusste. Mittag, Um jeden Preis, S. 25. 513 Vgl. Strafsache gegen Honecker, Az. 111–1–90, 1. Zit. in Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 103–105. 514 Wolfgang Berghofer. In : Berliner Zeitung vom 10.10.1991. Vgl. Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 31 f. 515 Vgl. FAZ und Neue Zeit vom 4. 5.1993.

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(Meißen ) weigerten sich CDU und LDPD, das gefälschte Wahlprotokoll zu unterschreiben. Sie verlangten vergeblich Einblick in die Wahlprotokolle.516 Von Bürgern Dresdens wurden in über 200 Wahllokalen die Stimmenauszählungen von rund 26 Prozent der abgegebenen Stimmen verfolgt. Dabei wurden gegen den Wahlvorschlag zur Stadtverordnetenversammlung 11,69 Prozent und gegen den Wahlvorschlag zu den Stadtbezirksversammlungen 11,82 Prozent Gegenstimmen gezählt. Das offizielle Wahlergebnis wies für die Stadt Dresden jedoch nur jeweils 2,51 Prozent Gegenstimmen aus.517 Die Ursache war, dass Berghofer und der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Werner Moke, mit den Wahlkommissionen gefälschte Ergebnisvarianten erarbeiteten und weitergaben.518 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Für Plauen gab Egon Krenz als zentraler Wahlleiter mit 3,82 Prozent Ablehnung das schlechteste Ergebnis innerhalb der DDR bekannt. Tatsächlich war auch dieses Ergebnis gefälscht, hier lagen die Werte bei 7,6 Prozent.519 Bezirk Leipzig : Verschiedene Stadtbezirksbürgermeister von Leipzig gaben später ebenfalls zu Protokoll, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes und die 1. und 2. Sekretäre der SED - Bezirks - und Stadtleitung hätten bereits Monate vor der Wahl vom Oberbürgermeister und den Stadtbezirksbürgermeistern gefordert, „unter allen Umständen solche Wahlergebnisse zu organisieren, die dem der letzten Volkskammerwahl gleichkommen“. Dabei war nach Aussage der Leipziger Bürgermeister deutlich erkennbar, dass die Forderungen von Krenz und Dohlus ausgingen. Später erklärten die Bürgermeister, dass es in den Stadtbezirken Leipzigs, den Wahlgremien und Wahlkommissionen keine Manipulationen oder Verfälschungen von Wahlergebnissen gegeben habe. Die Ergebnisse seien zentral in der Stadt ermittelt und danach den Wahlkommissionen der Stadtbezirke zur Bestätigung übergeben worden.520 In Leipzig beobachteten Mitglieder von Bürgergruppen fast alle 84 Wahllokale und stellten Wahlfälschungen fest. Nach ihren Berechungen ergab sich z. B. für den Stadtbezirk Mitte eine Wahlbeteiligung von 91,66 Prozent, für die Einheitsliste stimmten demnach 90,93 Prozent und 9,07 Prozent gegen sie. Nach dem gefälschten, offiziellen Ergebnis lag die Wahlbeteiligung bei 98,54 Prozent, wovon angeblich rund 96 Prozent für und rund 4 Prozent gegen den Wahlvorschlag votierten. Ähnlich wie hier lagen die Abweichungen in allen beobachteten Wahllokalen bei fünf bis sieben Prozent.521 In internen MfS - Berichten war 516 Aussage Renate Kochs bei einem Vortrag am 15.10. 2005 in Coswig, Mitschrift d. A. (HAIT, Dresden - Land ). 517 Zu genauen Zahlen vgl. Offener Brief an Lothar Kolditz vom 12. 6.1989 ( MDA, Kommunalwahl 1989). 518 Landgericht Dresden, Urteil vom 27. 5.1993. Zit. bei Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 29 und 31 f. Vgl. FAZ vom 12. 5.1993. 519 Kätzel, Die SPD im Vogtland, S. 128–131. 520 Gemeinsame Erklärung der Bürgermeister der Stadtbezirke Mitte, Nord, Süd, Südost, Südwest, West sowie des amtierenden OB der Stadt Leipzig vom 22.1.1990. Zit. in Joachim Draber an Peter Moreth vom 23.1.1990 ( SächsStAL, RdB / BT, 38212). 521 Mitglieder des AK Gerechtigkeit, der AG Menschenrechte, des Jugendkonventes Leipzig, der Initiativgruppe Leben vom 3. 6.1989 : Mitteilung über Differenzen zwischen der

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für etliche Wahllokale die Rede von sieben bis zwölf Prozent Gegenstimmen sowie einer Wahlbeteiligung zwischen 80 und 90 Prozent.522 Auch in den Sonderwahllokalen spielte die Stimmenauszählung beim Feststellen der Ergebnisse eine untergeordnete Rolle. So wurden hier weniger als ein Drittel aller Wahlzettel überhaupt ausgewertet.523 Im Sonder wahllokal Leipzig Süd - Ost wurden Urnen geöffnet und 700 Wahlscheine ausgetauscht.524 Nach dem offiziellen Ergebnis wurde die Stadtverordnetenversammlung Leipzig bei einer Wahlbeteiligung von 98,34 Prozent mit 96,68 Prozent der Stimmen gewählt. Die Gegenstimmen wurden mit 3,32 Prozent angegeben. Dank der Kontrollen durch Bürgerrechtsgruppen und des nicht mehr systemkonformen Verhaltens offizieller Wahlhelfer, die die veröffentlichten Ergebnisse in Zweifel zogen, war klar, dass es auch in Leipzig zu massiven Fälschungen gekommen war.525 Die SED, die während der gesamten DDR - Zeit nie eine demokratische Legitimierung zum Regieren erhalten hatte, besetzte nach den Einheitslistenwahlen samt Fälschungen erneut die Mehrzahl aller Sitze in den kommunalen „Volksvertretungen“. Dazu verhalfen ihr die Plätze der Massenorganisationen, die fast durchweg von SED - Mitgliedern besetzt wurden. So lag der prozentuale SED - Anteil zum Beispiel in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung bei zirka 74 Prozent. Direkt während und nach den Wahlen gab es Proteste. In Dresden wurde am Morgen des 7. Mai am Gelände des Bahnsteiges 19 des Hauptbahnhofes ein selbstgefertigtes Transparent mit dem Text : „Freies Denken nicht gefragt, freies Handeln zu gewagt, Deine Gegenstimme ist gefragt. Wahl 89“ angebracht.526 Mit Unterstützung Ziemers gingen am Wahltag die kontrollierten Ergebnisse aus dem ganzen Stadtgebiet in vorbereiteten Sammelpunkten ein. Kurz nach Beendigung der Wahl leiteten die Dresdner ihre Ergebnisse an eine Koordinierungsgruppe in Berlin, welche die Broschüre „Wahlfall 89“ erstellte, in der die offiziellen Auszählungsergebnisse mit den in den Wahllokalen beobachteten verglichen wurden, was den Wahlbetrug republikweit dokumentierte. In Dresden wurden rund die Hälfte der Wahllokale in die Beobachtung einbezogen. Die Beobachter ermittelten einen Anteil an Gegenstimmen in Höhe von zehn bis zwölf Prozent und eine Wahlbeteiligung, die zwischen 85 und 90 Prozent lag. Das offizielle Ergebnis sprach von einer Wahlbeteiligung von 97,81 Prozent und einem Anteil der Gegenstimmen von 2,51 Prozent für die Dresdner Stadt - und

522 523 524 525 526

Bekanntgabe des endgültigen Gesamtergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahlkommission und der Bekanntgabe der Ergebnisse durch die Wahlvorstände in den einzelnen Wahllokalen bei der Wahl der Stadtbezirksversammlungen und der Stadtverordnetenversammlung von Leipzig ( ABL, Hefter I /2). Vgl. Stasi intern, S. 302. So die Ergebnisse einer Untersuchung der Kriminalpolizei. Vgl. Neues Deutschland vom 27./28.1.1990. Vgl. KDfS Leipzig Stadt vom 20. 4.1989 : Operativinformation. In : Stasi intern, S. 299 f. Vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 73; Wolle, Der Weg in den Zusammenbruch, S. 83 f. MfS, ZAIG vom 8. 5.1989 : Info 229/89 ( ABL, Dresden ).

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Bezirksversammlung. Der Friedenskreis Dresden - Johannstadt verfasste einen Offenen Brief, in dem die abweichenden Zahlen festgehalten wurden.527 An einem Wahllokal in Zwickau war am 7. Mai der Text : „Stellt Euch vor, heute ist Wahl und keiner geht hin“ angebracht.528 In Plauen schrieb eine Gruppe der Markuskirche, die sich ab Sommer 1989 „Umdenken durch Nachdenken“ nannte, Eingaben an den Staatsrat, den Bürgermeister und die Parteien und Massenorganisationen.529 Im Juni protestierten Pfarrer aus Weißenborn, Burkersdorf, Nassau und Frauenstein beim Rat des Kreises Brand - Erbisdorf gegen den Wahlbetrug.530 In Leipzig kam es am Abend der Wahlfarce zu einer Demonstration von etwa 250 Personen. Sie wurde von Volkspolizei und MfS mit Hunden und Gummiknüppeln aufgelöst. 72 Teilnehmer wurden inhaftiert, davon 15 Antragsteller auf ständige Ausreise. Eine geplante Protestveranstaltung am Völkerschlachtdenkmal wurde vom MfS verhindert.531 Zwar störte das MfS massiv eine Berichterstattung aus Leipzig – so wurden Journalisten bereits an der Stadtgrenze zur Umkehr gezwungen –, dennoch informierten „heute“ und „Tagesschau“ darüber.532 In Altenburg waren am 7. Mai auf Straßen und Gebäuden Texte wie „Freie Wahlen“, „Nein“ und „99,9 Prozent“ zu lesen.533 Um die Leipziger Nikolaikirche wurde am Montag nach der Kommunalwahl die Präsenz von Volkspolizei und MfS verstärkt. Dennoch formierten sich nach dem Friedensgebet rund 500 Personen zu einem Demonstrationszug.534 Außerdem registrierte das MfS eine Zunahme selbstgefertigter Flugblätter „gegen den demokratischen Charakter der Kommunalwahlen“.535 Am 3. Juni protestierten Mitglieder des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“, der Arbeitsgruppe „Menschenrechte“, des Jugendkonventes Leipzig und der Initiativgruppe Leben gegen die Wahlfälschung.536 Im Stadtbezirk Mitte stellte eine auch SED - Mitglieder umfassende Arbeitsgemein527 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 141. 528 MfS, ZAIG vom 8. 5.1989 : Info 229/89 ( ABL, Dresden ). 529 Vgl. Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 134; Küttler, Die Wende in Plauen, S. 148. 530 Vgl. KDfS Freiberg vom 26. 9.1989 : Lageeinschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 74–76). 531 BVfS Leipzig vom 8. 5.1989 : Unterbindung einer Provokation am 7. 5.1989 im Stadtzentrum ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 28–33). Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 148. 532 Auszüge aus Tagesschau / Heute vom 7. 5.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 32 f.). 533 MfS, ZAIG vom 8. 5.1989 : Info 229/89 ( ABL, Dresden ). 534 BVfS Leipzig vom 8. 5.1989 : Unterbindung einer organisierten Personenbewegung im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche ( ABL, Hefter VIII ). Vgl. Magirius, Selig sind, S. 12. 535 BVfS Leipzig vom 20. 7.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/6, Bl. 57–73). 536 Vgl. Mitglieder des AK Gerechtigkeit, der AG Menschenrechte, des Jugendkonventes Leipzig, der Initiativgruppe Leben vom 3. 6.1989: Mitteilung über Differenzen zwischen der Bekanntgabe des endgültigen Gesamtergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahlkommission und der Bekanntgabe der Ergebnisse durch die Wahlvorstände in den einzelnen Wahllokalen bei der Wahl der Stadtbezirksversammlungen und der Stadtverordnetenversammlung von Leipzig ( ABL, Hefter I /2).

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schaft „Dialog“ des Clubs der Intelligenz im Kulturbund einen „Antrag auf Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl“. Daneben gab es noch eine Reihe weiterer Eingaben und Anfragen an den Oberbürgermeister, Stadtbezirksbürgermeister und die Nationale Front.537 Am 31. Mai versuchten Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Dialog“ vergeblich, die konstituierende Sitzung der Stadtbezirksversammlung Leipzig - Mitte durch Intervention und Bekanntgabe ihrer Beweise für einen Wahlbetrug zu verhindern. Die Aktivitäten waren natürlich nicht auf sächsische Städte begrenzt. Nach der Wahl erhoben 18 kirchliche Basisgruppen in einer „Öffentlichen Stellungnahme zu den Kommunalwahlen 1989“ an den Nationalrat der Nationalen Front Einspruch gegen deren Gültigkeit. In zahlreichen Orten der DDR protestierten kirchliche Amtsträger.538 Basisgruppen in verschiedenen Städten beschlossen, langfristig Arbeitsgruppen zu bilden, die dafür sorgen sollten, dass die nächsten Wahlen, möglichst unter Kontrolle der Kirche, demokratisch ablaufen sollten. Kirchliche Basisgruppen verbreiteten überall ihre „Kontrollberichte“. Beim Generalstaatsanwalt lagen acht Anzeigen wegen des Verdachts der Wahlfälschung von Pfarrer Eppelmann und der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ vor. Die Basisgruppen verschickten in großer Zahl Eingaben und Erklärungen an Vorsitzende von Kreiswahlbüros, Kreisvorstände der Nationalen Front, Oberbürgermeister und Bürgermeister. Selbst SED - Mitglieder protestierten in Briefen und Eingaben gegen die Wahlfälschungen. Kirchliche Amtsträger beteiligten sich an Vorsprachen und telefonischen Anfragen bei leitenden Staatsfunktionären.539 Am 8. Mai informierte Mielke das Politbüro über die Aktivitäten.540 Ende Mai wies er „Maßnahmen zur Zurückweisung und Unterbindung von Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen“ an. Danach sollten bei „offen feindlich handelnden Personen“ Strafmaßnahmen eingeleitet werden. Strafanzeigen wegen Wahlfälschung waren hingegen „nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung“ ohne weitere Prüfung dahingehend zu beantworten, „dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen“.541 Entsprechende Anweisung gab Innenminister Lothar Ahrendt auch an die Volkspolizei.542 Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft hielten sich strikt an die ungesetzliche Weisung Mielkes, ohne sie auch nur im Geringsten zu hinterfragen. MfS- General Werner Irmler, in dessen Verantwortung der Befehl ausgearbeitet 537 Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 73 f. Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 30.11.1989. 538 Vgl. MfS, Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 19. 5.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 42–45. 539 Vgl. MfS, ZAIG, K 3/103 von Juni 1989 (7. 7.1989). In : ebd., S. 97–107; für Dresden vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 141 f. 540 MfS, ZAIG vom 8. 5.1989: Info ( ABL, Dresden ). Vgl. Chemnitzer Morgenpost vom 21.1.1992. 541 Zit. bei Fricke, MfS intern, S. 183 f. Vgl. Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 28. 542 Lothar Ahrendt an die Chefs der BDVP vom 22. 5.1989 ( ABL, Dresden ).

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worden war, erklärte bei einer späteren Zeugenaussage, Mielke habe ihm zur Vorbereitung des Befehls am 17. Mai einen Text mit der Bemerkung gegeben, „dass es sich dabei um zentrale Vorgaben von E. Krenz handelt“.543 Krenz bestritt später seine Mitwirkung am Mielke - Befehl. Das MfS informierte die SED - Führung Anfang Juli 1989 über „ein stabsmäßig organisiertes und koordiniertes Vorgehen“ gegen die Wahlergebnisse und eine abgestimmte Zusammenarbeit mit westlichen Journalisten. Die SED solle unter Druck gesetzt werden, um „ihren innenpolitischen Kurs in Richtung Liberalisierung, Demokratisierung und politischer Pluralismus westlicher Prägung zu verändern und das politische System des Sozialismus für ein legales Wirksamwerden feindlicher, oppositioneller Kräfte zu öffnen“. Ziel sei „eine Destabilisierung der politischen Machtverhältnisse in der DDR“.544 Die Restriktionen des MfS änderten kaum etwas am Erfolg der Aktionen. Mit der Kommunalwahl wurde erstmals eine für die Bevölkerung gravierende Frage von den Oppositionsgruppen aufgegriffen. Die fehlende Legitimation des Staates545 wurde durch die Wahlfarce offensichtlich. Zu einem Zeitpunkt, als in den Nachbarstaaten Ungarn und Polen bereits geheime und freie Wahlen stattfanden, sollten nach dem Willen der SED - Führung Einheitslistenwahlen alten Strickmusters weiter ihre Alleinherrschaft sichern. Für viele Menschen war dies ein letztes entscheidendes Motiv, der DDR endgültig den Rücken zu kehren. Durch die organisierten Proteste wurde die Einheitslistenwahl zum politischen Schlüsselereignis, das die Legitimitätsprobleme verdeutlichte und so das Ende des Regimes mit einleitete.546 Die Proteste nahmen nun eine neue Dimension an. Eine späte Folge waren Strafverfahren wegen der Wahlfälschungen, auch wenn deren Nachweise im Rahmen der „Aktion Reißwolf“ im November 1989 als Erstes mit vernichtet wurden.547 Die bundesdeutsche Justiz urteilte später, dass die Auszählungen meist mehr oder weniger korrekt erfolgten und die Fälschungen vor allem durch die Übermittlung falscher Ergebnisse durch die einzelnen Wahlkommissionen vorgenommen wurden. Bei Wahlfälschungsprozessen wurden daher auch nur die verantwortlichen Mitglieder von Wahlkommissionen zur Verantwortung gezogen, vor allem Bürgermeister und Vorsitzende der Räte der Kreise. Leitende Parteifunktionäre, die Fälschungen veranlasst hatten, wurden lediglich wegen Anstiftung verurteilt. Insgesamt lag das „einheitliche Unrecht der Fälschungshandlungen“ in der flächendeckenden und „systematischen Unterdrückung von Enthaltungen und ungültigen Stimmen sowie insbe543 Strafsache gegen Honecker, Az. 111–1–90, Band 6. Zit. in Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 107. 544 MfS, ZAIG, K 3/103 vom 7. 7.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 97–107. 545 Zur Legitimation vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 221–305; Häuser u. a., Legitimitäts - und Machtverfall, S. 59–101. 546 Vgl. Nooke, Die Friedliche Revolution, S. 188; Merkel, Systemtransformation, S. 126 f.; Opp, Zu den Ursachen, S. 207; Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 72. 547 Vgl. Stasi intern, S. 294.

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sondere von Ablehnungen des gesamten Wahlvorschlags“.548 Im August 1995 verurteilte die 3. Strafkammer des Landgerichtes Dresden Hans Modrow wegen Wahlfälschung zu neun Monaten auf Bewährung. In der Urteilsbegründung hieß es, Modrow habe zwar mehrfach gegenüber der Zentrale versucht, richtige Ergebnisse zu veröffentlichen, habe aber zurückgesteckt, um im Amt bleiben und Reformen vorantreiben zu können.549 Auch gegen Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Wahlfälschung eingeleitet. Das Kreisgericht Chemnitz verurteilte am 2. November 1990 auch den ehemaligen Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Lothar Fichtner, wegen Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahl im Mai 1989 zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Auch in Plauen erreichte eine Untersuchungskommission der Stadtverordnetenversammlung, dass es zu Verurteilungen kam. Vor dem Kreisgericht Leipzig wurden der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung und andere auf Bewährung und zu Geldstrafen verurteilt.550 Gegen den ehemaligen 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Leipzig, Horst Schumann, wurde Anfang März 1990 vor dem Kreisgericht Leipzig ein Ermittlungsverfahren wegen Anstiftung zur Wahlfälschung eingeleitet. Am 19. Juni 1990 folgte ein Prozess gegen den ehemaligen Oberbürgermeister Leipzigs, Bernd Seidel, die frühere Stadträtin für Finanzen und Preise, Lieselotte Schön, sowie den ehemaligen 1. Sekretär der SED- Stadtleitung Joachim Prag. Sie wurden beschuldigt, die Wahlergebnisse der Kommunalwahl im Mai 1989 in der Stadt Leipzig gefälscht zu haben.551 Bei all den Aktionen gegen die Wahlfälschungen darf nicht vergessen werden, dass es sich um Manipulationen an einer Wahlfarce handelte. Alle „Wahlen“ in der DDR waren spätestens seit 1950 selbst nichts mehr als eine parteistaatlich angeordnete Fälschung des politischen Willens der Bevölkerung. 1.9

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Ausgangspunkt der Transformationsprozesse in den Staaten des sowjetischen Machtbereichs war der Mitte der achtziger Jahre durch den Generalsekretär der KPdSU, Michail S. Gorbatschow, eingeleitete Reformprozess von „Glasnost“ und „Perestroika“. Dieser hatte wiederum Vorbedingungen, von denen hier nur das Wettrüsten zwischen Ost und West genannt sei.552 Die Notwendigkeit einer Reform der Sowjetunion ergab sich u. a. aus der wirtschaftlichen und militärischen Unfähigkeit, dem US - amerikanischen Hochrüstungsprogramm angemes548 Marxen / Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung, S. 29 f. 549 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9.12.1996, Verlesung des Urteils der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden, LG 4 KLS 53JS 4048/91 vom 9. 8.1995 durch Richter Kutyrba, Mitschrift d. A., S. 32 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 550 Vgl. Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 135 f. 551 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 8.3. und 20. 6.1990. 552 Zu Ursachen und Auslösern der friedlichen Revolution vgl. Fritze, Verführung und Anpassung, S. 133–181; Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung ?, S. 548–562.

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sen zu begegnen. Die Folge waren weitreichende Vereinbarungen über den Rüstungsabbau, die zu einem Spannungsabbau auch in Europa führten. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre deuteten sich neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Ost und West an. Aus sowjetischer Sicht trat an die Stelle der Blockkonfrontation das Modell einer systemübergreifenden Kooperation im Rahmen eines „europäischen Hauses“. Vor diesem Hintergrund entfiel schrittweise der Anspruch der UdSSR, das System der bisherigen Satellitenstaaten durch die Drohung militärischen Eingreifens ( Breschnew - Doktrin ) zusammenzuhalten. Die UdSSR stellte es ihren Verbündeten innerhalb des Warschauer Paktes frei, welchen politischen und wirtschaftlichen Weg sie künftig einschlagen wollten. In Moskau hoffte man allerdings, die bisherigen Zwangsverbündeten würden sich im Rahmen des „europäischen Hauses“ auch freiwillig für ein sozialistisches System und eine Zukunft an der Seite der UdSSR entscheiden. Für die DDR wurde in diesem Zusammenhang eine Wieder vereinigung nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen, jedoch als unerwünscht bezeichnet. Polen und Ungarn nutzten die neu gewonnene Freiheit, um in ihren Ländern Reformentwicklungen einzuleiten. Hier beteiligten sich die Kommunisten selbst maßgeblich an Transformationsprozessen hin zu freiheitlich - demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen. In Ländern wie der DDR, der ČSSR oder Rumänien hingegen nutzten die kommunistischen Machthaber die von der sowjetischen Vormacht eingeräumten Freiheiten dazu, sich in Abgrenzung von der sowjetischen Reformentwicklung Veränderungen zu verweigern. Obwohl diese totalitären Regime damit zur Bedrohung des Modells eines „europäischen Hauses“ russischer Bauart wurden, mischte sich die Sowjetführung aus prinzipiellen Erwägungen nicht mehr in die inneren Entwicklungen dieser Staaten ein. Anders als in der SED - Führung stießen die neuen Signale hingegen in der Bevölkerung der DDR durchaus auf offene Ohren. Angesichts der allgemeinen Krise nahm die Unzufriedenheit hier schnell zu. Immer mehr, vor allem jüngere, Menschen sahen angesichts von Stagnation und Reformfeindlichkeit nur einen Ausweg in der Flucht oder in der Ausreise Richtung Westen. Die Zahl entsprechender Anträge wuchs. Die Bundesrepublik galt vielen Menschen als Vorbild und das bessere Deutschland. In der DDR verstärkten die vielen Ausreisenden die wirtschaftliche Krise des Systems. In Bonn vertrat die christdemokratisch - liberale Bundesregierung eine Politik, bei der sich ein grundsätzliches Festhalten am Ziel der deutschen Einheit und eine aktive Politik der Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ergänzten. Für flucht - und ausreisewillige DDR - Bewohner war es von wesentlicher Bedeutung, in der Bundesrepublik als deutscher Staatsbürger zu gelten. In der SPD entwickelte man derweil intensive Parteibeziehungen zur SED und hoffte vergeblich auf eine Sozialdemokratisierung der SED wie in Ungarn oder Polen. Hier ging man eher vom Modell künftiger deutscher Zweistaatlichkeit aus als in der Union. Das veränderte internationale Klima infolge der sowjetischen Perestroika sorgte dafür, dass auch in der DDR Kritik immer deutlicher formuliert wurde.

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Dies galt insbesondere auch für gesellschaftliche Protestgruppen unter dem Dach der Kirchen. Vor dem Hintergrund weltweiter ökumenischer Diskussionen über globale Probleme wie Frieden, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit im Rahmen des „konziliaren Prozesses“ kritisierten sie das Regime weniger aus einer Perspektive des Systemvergleichs von West und Ost; vielmehr übten sie generelle Kritik an industriegesellschaftlichen Modernisierungskonzepten. Geprägt von zivilgesellschaftlichen Ideen kritisierten sie aber auch das diktatorische SED - Regime. Einen Höhepunkt der Mobilisierung dieser Gruppen gab es aus Anlass der simulierten „Kommunalwahlen“ im Mai 1989. Überall kontrollierten couragierte Bürger diese und dokumentierten Fälschungen. Ein Zentrum regimekritischer Aktivitäten war die vom Verfall gezeichnete Messestadt Leipzig. Hier sammelten sich Ausreisewillige und Vertreter alternativer Basisgruppen im Umfeld der Nikolaikirche zu Protesten, die vom Regime so regelmäßig wie gewaltsam beendet wurden. Zunehmend kritischer wurde auch die Haltung der Mitgliedskirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, die sich Anfang des Jahres 1989 vom Selbstverständnis einer „Kirche im Sozialismus“ verabschiedete und offen für eine freiheitliche Demokratie eintrat. Durch die ideologische Brille der SEDFührung handelte es sich bei allen Kritikern an der kommunistischen Diktatur um ferngesteuerte Vertreter eines global agierenden westlichen Imperialismus. Statt einen Dialog über gesellschaftliche Probleme zu beginnen, reagierte das Honecker - Regime mit einer Umrüstung aller militärischen Kräfte der DDR, um für innere Auseinandersetzungen mit der unzufriedenen Bevölkerung gewappnet zu sein. Selbst Teile der Armee wurden für ein Vorgehen gegen das eigene Volk trainiert. „Gewalt statt Dialog“ hieß das generelle Konzept der SED - Führung für den Umgang mit den wachsenden Protesten. Es stieß auch bei vielen Mitgliedern auf Ablehnung.

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2.

Zuspitzung im Sommer 1989

2.1

Internationale Entwicklung

Die Kontrolle der „Kommunalwahl“, die Abkehr der Kirche vom Sozialismus, die Öffnung der ungarisch - österreichischen Grenze, die Bildung oppositioneller Gruppen und die wachsende Ausreisewelle – als wäre dies alles nicht schon genug Ärger, nutzte der Westen eine KSZE - Menschenrechtskonferenz vom 30. Mai bis zum 23. Juni 1989 in Paris, um den politischen Druck auf die DDR und andere reformfeindliche Staaten zu erhöhen. Waren bereits im Wiener Schlussdokument die Rechte auf internationale Freizügigkeit auf die Bedingungen in der DDR zugeschnitten gewesen,1 so warfen nun westliche Vertreter dem SED - Regime erneut die restriktive Ausreisepraxis, den Schießbefehl und das Festhalten an der Mauer vor. Es war dem Politbüro offenbar nicht peinlich, der DDR - Delegation aufzutragen, „offensiv die Vorzüge, Werte und Errungenschaften der sozialistischen Menschenrechtspolitik“ zu betonen. Die Diplomaten hatten dafür zu sorgen, „dass auf dem Pariser Treffen kein substanzielles Abschlussdokument angenommen wird“. Durch Hinweise auf die „massenhafte Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den kapitalistischen Staaten“ sollten die Versuche westlicher Staaten zurückgewiesen werden, „sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen“.2 Außenminister Oskar Fischer bezeichnete die Menschenrechte in der DDR als „für die Bürger in allen Lebenssphären spür - und erlebbar“.3 Honecker erklärte am 10. Juni in der „Washington Post“, die Grenze zur Bundesrepublik werde sich erst ändern, „wenn die Ursachen beseitigt sind, die zu dieser Grenzsicherung führten“. Polen und Ungarn War die SED - Führung durch das KSZE - Treffen ohnehin mit Rückzugsgefechten beschäftigt, erhöhte sich der Druck weiter, als noch während des Pariser Treffens am 4. Juni in Polen erstmals in einem kommunistisch geführten Land relativ freie Parlamentswahlen stattfanden. Die Abstimmung endete mit einer Niederlage der Kommunisten. Von Februar bis April 1989 hatten hier Gespräche zwischen der neuen Regierung Mieczysław Rakowskis, der Kirche und der Opposition am Runden Tisch stattgefunden.4 Im April war Solidarność wieder legalisiert und die Abhaltung halbfreier Wahlen im Juni verabredet worden. Sie 1 2 3 4

Vgl. Kristof, Der KSZE - Gipfel, S. 1154 f. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 23. 5. 1989, Anlage 1 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2329). Friedrich Magirius zit. in Rolf Schuler, Ist Sankt Nikolai heute von allen guten Geistern verlassen ? In : Neue Zeit vom 27. 3. 1993. Vgl. Rakowski, Es begann in Polen, S. 268–270. Zum Runden Tisch in Polen vgl. Kundigraber, Polens Weg.

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sicherten der Regierung 65 Prozent der Sitze zu, obwohl die Opposition siegte. Anders als im Sejm gewann Solidarność im Oberhaus die Mehrheit der Sitze und bildete mit der Vereinigten Bauernpartei und der Demokratischen Partei eine Koalition, General Wojciech Jaruzelski wurde Präsident. Im August trat der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki als erster nichtkommunistischer Premierminister nach dem Krieg sein Amt an.5 Ungarn und Polen waren die ersten Ostblockstaaten gewesen, in denen sich seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre Veränderungen abgezeichnet hatten. Polen war seit dem Prager Frühling 1968 das erste Land gewesen, in dem die Bürger wieder entschieden gegen die kommunistische Diktatur aufgetreten waren. Die europäische und deutsche Demokratie verdankt den Polen daher wichtige Impulse.6 Die dortigen Veränderungen waren das Ergebnis des Widerstandes der von der katholischen Kirche unterstützten Oppositionsbewegung.7 Seit 1980/81 befand sich Polen in einem von Solidarność, KOR und anderen Oppositionsgruppen vorangetriebenen Reformprozess,8 der ohne die Rolle von Papst Johannes Paul II. und den KSZE - Prozess kaum denkbar gewesen wäre. Schon die Wahl des Polen Karol Wojtyła zum „Stellvertreter Christi“ war Teil der allgemeinen Entspannungspolitik und ein Faktor, der zum Umbruch in Osteuropa beitrug. Johannes Paul II. verstand es, den friedlichen Widerstand gegen die kommunistische Zwangsherrschaft zu mobilisieren. Bedeutsam war die Rolle des Papstes bereits in der Vorbereitungsphase der KSZE gewesen. Der Vatikan hatte hier ein besonderes Interesse an der Ausgestaltung von Korb III der Schlussakte gezeigt. Im zähen Ringen mit den kommunistischen Diktaturen hatte sich das Engagement des Vatikans als außerordentlich hilfreich erwiesen.9 In seiner Verkündigung räumte er, ganz in der Tradition des II. Vatikanischen Konzils stehend, den Menschenrechten einen zentralen Platz ein und verwies die Weltöffentlichkeit auf die Probleme im Ostblock. Er stärkte die Verbindung zwischen Ost und West, gab der katholischen Bevölkerung Osteuropas Mut und neues nationales Selbstbewusstsein und rief zu moralischer und sozialer Erneuerung auf. Seine erste große Pilgerreise im Juni 1979 nach Polen hatte zu friedlichen und disziplinierten Manifestationen gegen den kommunistischen Staat geführt. Dem Besuch war die Gründung von Solidarność gefolgt. Am 7. Juni 1982 trafen sich der amerikanische Präsident und der Papst in Rom. Richard Allen, Reagans damaliger Sicherheitsberater, erinnerte sich : „Beide, der Papst und der Präsident, waren überzeugt, dass Polen aus dem Sowjetbereich herausgebrochen werden könne, wenn der Vatikan und die Vereinigten Staaten zusammenwirkten, die polnische Regierung zu destabilisieren und die geächtete Soli5 6 7 8 9

Vgl. Gehler, Die Umsturzbewegungen, S. 37. Vgl. Interview mit Timothy Garton Ash. In : FAZ - Magazin vom 23. 11. 1990; Andrzej Szczypiorski, Das Ende des Krieges gegen die Demokratie. In : Sachsen - Spiegel vom 27. 7. 1990. Vgl. Glotz, Die Einheit und die Spaltung, S. 52; Habermas, Die nachholende Revolution, S. 180. Vgl. dazu Mackow, Polen im Umbruch, S. 561–580. Vgl. Schmidt, Die Deutschen und ihre Nachbarn, S. 462 f.

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darność- Bewegung nach Erklärung des Kriegsrechts am Leben zu erhalten sei.“10 Dem Wirken des Papstes kam somit im Prozess der Auf lösung der kommunistischen Diktaturen große Bedeutung zu.11 Es waren vor allem Andrej Sacharow und Václav Havel, die dies frühzeitig erkannten und würdigten. Selbst Gorbatschow kam im Nachhinein nicht umhin, die Rolle Wojtyłas anzuerkennen : „Was in Osteuropa in den letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne diesen Papst, ohne die große – auch politische – Rolle, die Johannes Paul II. im Weltgeschehen gespielt hat.“12 Welche Bedeutung die sozialistischen Machthaber vor Gorbatschow ihm diesbezüglich zumaßen, zeigte das missglückte Attentat auf dem Petersplatz in Rom am 13. Mai 1981. Mit der Entwicklung in Polen im Sommer 1989 wurde die DDR für die Zukunft des Warschauer Paktes und die sowjetische Machtstellung im Zentrum Europas zum entscheidenden Faktor. Für die sowjetische Regierung wurde die Frage, ob der östliche deutsche Staat nach sowjetischen Vorstellungen in reformierter Form als Sperr - Riegel gegen die Auf lösungserscheinungen im Warschauer Pakt bestehen bleiben oder ob sich die Entwicklung in Richtung deutsche Einheit nicht mehr aufhalten lassen würde im Sommer 1989 zur Kernfrage ihrer Europapolitik.13 Aus Sicht der DDR - Führung schuf die Akzeptierung der nichtkommunistischen Regierung in Polen durch die UdSSR einen gefährlichen Präzedenzfall. In Polen und Ungarn vollzog sich nach Meinung Honeckers und Mielkes eine Entwicklung, die „ernsthafte Gefahren für den Sozialismus“ heraufbeschwor.14 Neben den Polen waren es die Ungarn, die durch freiheitliche Gesinnung und liberale Praxis bei der Anwendung des Sozialismus den „Bruderstaaten“ Orientierungen gaben und dortige Diskussionen über eine Reform des Sozialismus beflügelten. Diese wechselseitige Inspiration der Prozesse in den Ostblockstaaten war für die Entwicklung im gesamten Ostblock und damit auch in der DDR sehr wichtig.15 Hier kursierten frühzeitig Übersetzungen unabhängiger polnischer, tschechischer, ungarischer und sowjetischer Autoren. Manuskripte aus Untergrundverlagen und originalsprachige Ausgaben der Samisdat - Presse wurden übersetzt und verbreitet.16 Gorbatschow begrüßte die Entwicklung in Ungarn, wo sich die Kommunisten frühzeitig und maßgeblich am Reformprozess des Landes beteiligt und sich damit ihren Einfluss auf die spätere Entwicklung erhalten hatten. Sie hatten die neuen Freiheiten genutzt und auf ihrem Parteitag im Mai 1988 bekannte 10 11 12 13 14

Carl Bernstein, The Holy Alliance. In : Time Magazine, (1992) 8, S. 14. Vgl. Ash, Ein Jahrhundert, S. 43–59. Zit. bei Fischer, Der Papst und das Ende des Kommunismus, S. 31. Vgl. Rühl, Zeitenwende, S. 292. MfS, Auszug aus dem Referat Mielkes auf der Dienstbesprechung am 28. 4. 1989 ( BStU, ZA, RS 675, Bl. 50). 15 Eine Synopse der Ereignisse im Ostblock findet sich bei Weiß, Chronik, S. 75–120. Nach Meinung von Ash, Ein Jahrhundert, S. 389, waren die polnischen und ungarischen Beispiele für die DDR „von zweitrangiger Bedeutung“. 16 Vgl. Templin, Zivile Gesellschaft, S. 59.

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Reformpolitiker in das ZK der Partei berufen. Hier beschleunigte sich der Reformprozess seitdem so stark, dass die kommunistische Partei im Februar 1989 selbst für ein Mehrparteiensystem plädierte.17 Gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh lobte Gorbatschow im März 1989 die Einführung eines Mehrparteiensystems. Die für die DDR wichtigste Folge des ungarischen Demokratisierungs - und Liberalisierungsprozesses war der Entschluss der Regierung in Budapest, das Grenzregime an der ungarisch - österreichischen Grenze zu lockern. Am 5. August wurde in Ungarn János Kádár endgültig gestürzt, am 19. Oktober die Einparteienherrschaft beseitigt und die Opposition legalisiert. Seit dem 23. Oktober hieß das Land wieder „Republik Ungarn“. Der Tag des Volksaufstandes, der 23. Oktober 1956, wurde zum Staatsfeiertag erklärt. Gorbatschow in Bonn In dieser wichtigen Phase der europäischen Entwicklung galt dem Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik im Juni 1989 besondere Aufmerksamkeit. Er zeigte, dass in der künftigen sowjetischen Deutschlandpolitik die Bundesrepublik Priorität haben und dass sie nicht nur für die USA „die wichtigste Partnerin beim Aufbau eines neuen Europas“ sein sollte.18 Gorbatschow wurde in der Bundesrepublik begeistert empfangen. Die Bevölkerung sah in ihm einen Politiker, der bereit und in der Lage war, maßgeblich zur Beendigung der Konfrontation in Europa beizutragen. Er nutzte die im westlichen Ausland als „Gorbimanie“ bespöttelte bundesdeutsche Hochstimmung zur Verbesserung seines angeschlagenen innenpolitischen Images. In den Gesprächen mit der Bundesregierung stellte die deutsche Frage ein zentrales Thema dar. Kohl erklärte seinem Gast, aus einem von der UdSSR gewünschten, umfassenden Vertrag mit der Bundesrepublik werde solange „nichts Richtiges, solange zwischen uns die Teilung steht“. Die Deutschen, so Kohl, „werden sich mit der Teilung nicht abfinden“. Gorbatschow widersprach dem Kanzler nicht, stimmte ihm aber auch nicht zu.19 Er meinte zu Kohl, wenn „jemand versuchen würde, von außen Einfluss zu nehmen, müsse dies zu Destabilisierung und Vertrauensverlust führen und gefährde die Verständigung zwischen Ost und West“.20 Nach Meinung Daschitschews wollte Gorbatschow die deutsche Vereinigung nicht. Die deutschsowjetische Erklärung von Juni 1989 unterzeichnete er „in der Hoffnung und in einer bestimmten Gewissheit, dass sich die DDR nach dem Prinzip der Selbstbestimmung als reformierter sozialistischer Staat auch weiterhin profilieren“ werde. Ausschlaggebend aber sei gewesen, „dass sich Gorbatschow in einem 17 Vgl. Szabó, Die politische Entwicklung Ungarns. 18 Tschernajew, Die letzten Jahre, S. 259. Vgl. Hatschikjan / Pfeiler, Deutsch - sowjetische Beziehungen, S. 883 f.; Teltschik, Die Reformpolitik, S. 217 f. 19 Interview mit Helmut Kohl. In : Welt am Sonntag vom 27. 9. 1992. 20 Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 41.

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alternativen Fall der Anwendung militärischer Gewalt enthalten“ hätte.21 In seinen Ansprachen in Bonn erwähnte Gorbatschow die Möglichkeit einer Wiedervereinigung denn auch mit keinem Wort. Stattdessen betonte er die Bedeutung der DDR als einer treibenden Kraft „für die Wende in der europäischen Entwicklung“. Von einer Bereitschaft, die DDR als verbündeten Staat aufzugeben, konnte keine Rede sein. In seinem europäische Haus waren „zwei deutsche Souveränitätsparzellen“ vorgesehen. Das Selbstbestimmungsrecht interpretierte er als „die freie Selbstbestimmung der Staatlichkeit DDR unter einer kommunistischen Regierung mit einer sozialistischen Ordnung“.22 Von der Ambivalenz der Haltung Gorbatschows zeugten auch seine historisch wenig fundierten Erläuterungen zum Zustandekommen der Berliner Mauer. Deren Bau, so erklärte er, sei nicht von „irgendeiner bösen Absicht diktiert“ gewesen. Die DDR habe lediglich von ihrem souveränen Recht Gebrauch gemacht. Sie könne „wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen wegfallen, die sie her vorgebracht haben“. Er sehe darin kein großes Problem.23 Seine Äußerungen deckten sich mit den schon zuvor von Falin abgegebenen Erklärungen, nach denen im „europäischen Haus“ russischer Bauart eine „normale“ Grenze zwischen zwei selbstbestimmten deutschen Staaten existieren sollte. Angesichts dieser Politik der Zweistaatlichkeit war es dem Verhandlungsgeschick der bundesdeutschen Seite zu verdanken, dass sie in der am 13. Juni 1989 unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung“24, die eine Art Fortschreibung des Moskauer Vertrages vom August 1970 darstellte,25 die UdSSR bewegen konnte, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und das Recht der freien Wahl des politischen und sozialen Systems als unumstößliche Prinzipien ihrer Politik anzuerkennen. Die Erklärung, die auf eine Initiative Genschers zurückging,26 beinhaltete nach bundesdeutschem Verständnis, dass zukünftig Selbstbestimmung und freie Wahlen in zwei souveränen deutschen Staaten Richtlinien der Politik sein würden.27 Genscher war klar, dass die Gemeinsame Erklärung sehr weitgehende Implikationen hatte. Damit hatte man „zum ersten Mal die Frage der Offenheit für die deutsche Einheit in ein gemeinsames Dokument hineinbekommen“.28 Freilich brachte diese Passage nicht das Auswärtige Amt, sondern das Bundeskanzleramt in die Erklärung. Ziel der Bonner Politik war es demnach, auf der Grundlage der Anerkennung der Staatlichkeit der DDR dort eine Entwicklung zu unterstützen, an deren Ende die freie Entscheidung der Bevöl21 22 23 24 25 26

27 28

Daschitschew, Die sowjetische Deutschlandpolitik, S. 62 f. Rühl, Zeitenwende, S. 378–380. Prawda vom 16. 6. 1989. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung 61 vom 15. 6. 1989, S. 542–544. Vgl. Hatschikjan / Pfeiler, Deutsch - sowjetische Beziehungen, S. 884. Laut Schewardnadse versuchte Kohl, „Genscher von der Abstimmungsarbeit zu verdrängen und Teltschik ins Spiel zu bringen, aber Genscher habe sich durchgesetzt“. Vgl. Gespräch Erich Honeckers mit Eduard A. Schewardnadse am 9. 6. 1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2A /3225). Vgl. Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 34. Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 45.

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kerung stand, ob sie mit der Bundesrepublik zusammen oder einen eigenen staatlichen Weg gehen wollte. Wesentlich war, dass die UdSSR auf jede militärische Intervention verzichtete, solange sich die Entwicklung gemäß den international anerkannten Prinzipien der Souveränität der Staaten vollzog. Nicht allein in Bonn, wo nach dem Besuch in allen entscheidenden Parteien eine nur durch die Sommerpause verzögerte Neuausrichtung ihrer Deutschlandpolitik einsetzte, auch in der SED erkannte man schnell den ambivalenten Charakter der Erklärung, die Schlussfolgerungen erlaubte, die „durchaus auch revanchistischen, also imperialistischen Zielrichtungen entsprechen“ könnten. Daraus erkläre sich, so das MfS, auch die Tatsache, dass die Bundesregierung die Vereinbarung als großen Erfolg werte. In den Reden von Kohl und von Weizsäcker sei wiederholt auf das „Wieder vereinigungsgebot“ ver wiesen worden, ohne dass Gorbatschow darauf Bezug genommen habe. Dadurch würden „Spekulationen genährt, wonach es unter dem Eindruck verbesserter Beziehungen zwischen BRD und UdSSR nicht doch zu Entwicklungen kommen könnte, die den Interessen der DDR zuwiderlaufen“.29 In einem Papier des ZK an das Politbüro hieß es, es sei der „BRD nicht gelungen, Zugeständnisse der UdSSR hinsichtlich der nationalistischen Ziele der BRD zu erlangen“. Allerdings biete die Gemeinsame Erklärung „der BRD Anknüpfungspunkte für ihre Zielsetzungen“.30 Im engeren Kreise soll Honecker die Erklärung als Abgehen Moskaus von der traditionellen Politik deutscher Zweistaatlichkeit und als Verrat gewertet haben. Demnach zielte Gorbatschows Haltung auf finanzielle Gegenleistungen Bonns. Sein Auftreten sei als „nicht klassenmäßig“ und prinzipienlos eingestuft worden. Seine Politik ziele auf die „Restauration kapitalistischer Verhältnisse“. Er wurde als sozialdemokratischer Revisionist, prinzipienloser Opportunist und als „Moskauer Dubček“ bezeichnet.31 Demgegenüber begrüßte die DDR - Bevölkerung den Besuch Gorbatschows. Viele Menschen erkannten in der „Gemeinsamen Erklärung“ einen praktizierbaren Weg zur Wiedervereinigung, der über das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR zu einer demokratisierten DDR führte, deren Regierung souverän über eine Vereinigung mit der Bundesrepublik beschließen könnte. Diesen Weg hatte die UdSSR ermöglicht, auch wenn sie sich später zu verbalen Attacken dagegen veranlasst sah. Für viele Deutsche in der DDR war jedoch eines erkennbar : „Die Sowjetunion verhindert die Einigung nicht mehr, also kann man handeln.“32 Um ein politisches Gegengewicht zur Bonn - Visite zu schaffen und die dominante Option deutscher Zweistaatlichkeit zu unterstreichen, empfing Gorbatschow Honecker am 28. Juni in Moskau.33 Während des Gesprächs herrschte 29 BVfS Potsdam vom 16. 6. 1989 : Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes zum Besuch des Gen. Gorbatschow in der BRD. In : Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst VI, S. 77 f. 30 Text abgedruckt in Nakath / Stephan ( Hg.), Countdown, S. 184–188. 31 Vgl. Kaiser, Zwischen angestrebter Eigenständigkeit, S. 490. 32 Tschernajew, Die letzten Jahre, S. 259. 33 Arbeitstreffen Honecker - Gorbatschow am 28. 6. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3228).

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„prinzipielle Übereinstimmung“ in allen erörterten Fragen, eine Formulierung, die auf weitgehende Unterschiede der Ansichten hindeutete. Übereinstimmung bestand vor allem in der gegenseitigen Akzeptierung der unterschiedlichen Positionen, also darüber, „dass jede Partei die ihren jeweiligen Bedingungen entsprechenden Wege“ selbst festlege. Damit bekräftigte Gorbatschow erneut seine Akzeptanz der Entscheidungskompetenz der DDR - Führung, egal welcher Provenienz. Er gab Honecker allerdings „deutlich zu verstehen, dass Reformen unausweichlich seien. Würden sie hinausgezögert, trage die DDR - Führung die Verantwortung für die Folgen.“ Er forderte Honecker auf, „herangereifte Fragen rechtzeitig zu lösen“. Wichtiger war für Honecker indes die Zusage fester Verbundenheit der Sowjetführung mit der SED.34 Allerdings machte die sowjetische Seite klar, dass es keine Wiederholung von 1953 geben werde : „Aus den Verpflichtungen zu gegenseitiger Hilfe war ‚der innere Feind‘ herausgefallen.“35 Das Volk. Um die SED - Führung zu beruhigen, kam Gorbatschow Honecker in Nebensächlichkeiten entgegen. Ende Juni wurde die „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ in „Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte“ umbenannt. Damit entsprach er dem Wunsch, „Deutschland“ aus dem Namen zu streichen.36 Als Kontrapunkt erklärte allerdings der Kommandeur der Landstreitkräfte, Warennikow, noch am selben Tag gegenüber der BBC, die Wiedervereinigung Deutschlands sei eine Sache der Deutschen, der sein Land sich nicht widersetzen werde. Wenige Tage später erklärte Daschitschew im Deutschlandfunk, er halte eine enge Annäherung beider Staaten für möglich.37 Für die weitere Entwicklung war es von besonderer Bedeutung, dass Gorbatschow seine in Bonn geäußerte Ablehnung der Anwendung der Breschnew - Doktrin am 6. Juli 1989 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg wiederholte und sich auch der Warschauer Pakt bei seinem Gipfeltreffen am 7./8. Juli dieser Auffassung anschloss.38 Gorbatschow erläuterte hier noch einmal sein Konzept eines europäischen Hauses, das jede Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt ausschließe, egal ob es sich um Verbündete handele oder nicht.39 Für die Deutschen bedeutete dies nichts anderes, als dass nun das Gesetz des Handelns in ihre Hände überging. Unterstützung erhielten sie in dieser Situation vor allem von den Regierungen der USA und Frankreichs. Beim Besuch Gorbatschows in Paris Anfang Juli 1989 stellte Präsident François Mitterrand klar, dass aus französischer Sicht die deutsche Frage legitim für diejenigen sei, die den Wunsch nach Wiedervereinigung in beiden Teilen Deutschlands verspürten. Frankreich und die UdSSR sei34 Freundschaftsbesuch Honeckers vom 27. 6.–1. 7. 1989 in der UdSSR ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2335). 35 Falin, Politische Erinnerungen, S. 483. 36 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 25. 7. 1989, Anlage 6 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2338). 37 Zit. bei Spittmann, Auf dem Drahtseil, S. 723. 38 Vgl. Prawda vom 7. 7. 1989. 39 Presseabteilung der Botschaft der UdSSR 20 vom 10. 7. 1989. In : Sowjetunion heute, (1989) 8, S. XI–XVI.

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en „die entscheidenden Elemente der Wiederherstellung des Gesamtheit der beiden Teile Europas“. In dieser Perspektive könne das deutsche Problem eine harmonische Lösung finden.40 Ende Juli 1989 nannte er die Wieder vereinigung „ein berechtigtes Anliegen der Deutschen“ und meinte, es werde „ganz gewiss“ ein entsprechender Versuch unternommen werden. Das Problem harre seit fünfundvierzig Jahren einer Lösung und falle mit der zunehmenden Stärke Deutschlands immer mehr ins Gewicht. Allerdings dürfe die Wieder vereinigung nur friedlich und demokratisch verwirklicht werden. Keiner der beiden Staaten dürfe dem anderen etwas aufzwingen.41 2.2

Neubestimmung der Deutschlandpolitik in Bonn

Am 16. Juni, unmittelbar nach Abschluss der deutsch - sowjetischen Erklärung, interpretierte Kohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten anders als Gorbatschow als einen „Markstein auf dem Wege zur freien Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes“.42 Von nun an war sein politisches Handeln auf eine Über windung der deutschen Teilung ausgerichtet.43 Auch nach sowjetischer Überzeugung kam die Bundesregierung nach dem Besuch Gorbatschows zum Schluss, man könne den Druck auf die DDR - Führung nun erheblich erhöhen.44 Allerdings stand Kohl mit seiner Einschätzung zunächst ziemlich allein. US - Botschafter Vernon Walters beschrieb seine Ver wunderung darüber, dass „in Bonn außerhalb der unmittelbaren Umgebung des Kanzlers nur wenige Politiker die Einheit Deutschlands in naher Zukunft ver wirklicht sehen wollten. Eher überwog die Sorge, was Deutschlands Nachbarn von einem wiedervereinigten Deutschland halten könnten.“45 Die Möglichkeiten der Deutschlandpolitik hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten am 31. Juli 1973 genau beschrieben. Demnach musste an der Wiedervereinigung festgehalten werden. Die Teile Deutschlands, die in der DDR organisiert waren, konnten einen Beitritt nur in der Form äußern, „die ihre Verfassung zulässt“. Die Voraussetzung für die Realisierung eines Beitritts konnte demnach nur ein staatsrechtlicher Vorgang in der DDR sein, „der einem rechtlichen Einfluss durch die Bundesrepublik nicht zugänglich“ war.46 Also war die Herstellung der staatlichen Einheit nur über eine Demokratisierung in der DDR möglich. Der Bundesrepublik konnte nur eine souveräne demokratische DDR 40 41 42 43 44

Le Monde vom 7. 7. 1989. Süddeutsche Zeitung vom 27. 7. 1989. Zit. in Rühl, Zeitenwende, S. 378. Vgl. Klein, Es begann im Kaukasus, S. 13. Julij A. Kwizinskij, Von deutschen Torschützen und sowjetischen Querpässen. In : FAZ vom 25. 3. 1993. 45 Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 89. 46 Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. 7. 1973. In : Texte zur Deutschlandpolitik II /1, S. 79–110.

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beitreten, sollte der Schritt international akzeptiert werden. In Moskau erkannte man dies genau. Bei einem Gespräch im Juli 1989 in Moskau erklärte Falin gegenüber Markus Wolf, die Bundesregierung betreibe Veränderungen im Hinblick auf die nationale Einheit mit langem Atem. Ein westdeutscher Politiker habe ihm gesagt, sie könnten die DDR innerhalb von zwei Wochen destabilisieren, wenn sie es wollten. Sie wollten dies aber nicht, da die Entwicklung so, wie sie verlaufe, für sie aussichtsreicher sei.47 Die Bundesregierung wollte aber die DDR nicht nur nicht destabilisieren, sie wusste auch, dass die deutsche Frage angesichts der innenpolitisch instabilen Situation in der UdSSR für die sowjetische Führung ein Tabu - Thema war. Im Bundeskanzleramt war man sich Anfang September 1989 klar darüber, dass die deutsche Einheit ein „Sprengsatz“ für das Gesamtgefüge des sowjetischen Machtbereichs sein konnte.48 Selbst Egon Bahr bescheinigte der Bundesregierung daher Anfang September, sie verhalte sich in der Deutschlandpolitik „verantwortungsbewusst und sehr zurückhaltend“ und betreibe keine Destabilisierungspolitik der DDR. Bahr betonte, eine Wiedervereinigungsdebatte behindere derzeit nur, „was heute möglich ist und woran alle Interesse haben“.49 Damit deutete sich auch bei ihm ein Umdenken an. Am 5. September kam es im Bundestag zum deutschlandpolitischen Schlagabtausch zwischen SPD und Union. Kohl betonte, die Bundesregierung halte an ihrem bisherigen Kurs fest. Der Wille der Deutschen zu Einheit und Freiheit sei ungebrochen. Die Überwindung der Teilung bleibe Ziel seiner Regierung. Kohl und andere Redner der Union warfen der SPD vor, den Willen zur Freiheit der DDR - Bevölkerung zu unterschätzen. Dies zeige sich besonders bei ihren Überlegungen zur Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft. Rühe sprach im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik der SPD von einem „Wandel durch Anbiederung“.50 Ottfried Hennig erklärte, die deutsche Frage stehe wieder auf der Agenda der Weltpolitik. Mit Geduld und Klugheit werde man der Einheit näherkommen. Kleine Schritte seien besser als große Sprüche.51 Diese Signale verstand man auch in Ost - Berlin. Vor dem Politbüro erklärte Sindermann, man müsse „das Bündnis des Warschauer Vertrages gegen den deutschen Imperialismus mobilisieren. Er wird uns alle überrennen, wenn wir nicht gemeinsam gegen ihn Front machen.“52 Bislang war die Deutschlandpolitik der Bundesregierung von zwei Säulen getragen gewesen : Neben dem grundsätzlichen, aus Gründen der Zweckmäßigkeit eher passiv bestimmten Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung betrieb sie eine Politik der kleinen Schritte zur Verbesserung der Lebenslage der Deut47 48 49 50

Vgl. Markus Wolf, Geheime Mission in Moskau. In : Der Stern vom 29. 11. 1990. Horst Teltschik, Auf dem Weg zu einem neuen Europa ? In : FAZ vom 9. 9. 1989. Interview mit Egon Bahr. In : Die Zeit vom 1. 9. 1989. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 156. Sitzung vom 5. 9. 1989, S. 11723– 11733. 51 Ottfried Hennig. In : Bunte vom 7. 9. 1989. 52 Horst Sindermann im Verlauf der SED - Politbürositzung vom 5. 9. 1989 ( SAPMO BArch, SED, IV 2/2039/77).

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schen und der praktischen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Im September kam es zu einem Wandel der Deutschlandpolitik. Hinsichtlich einer Wieder vereinigung ging die Regierung zu offensiveren Formen des Handelns über, während im Bereich der praktischen Zusammenarbeit die Kooperation mit der SED zugunsten der bisher gemiedenen Verbindungen zu oppositionellen Kreisen zurückgeschraubt wurde. Deutliche Signale gingen in dieser Hinsicht vom Bremer Parteitag der CDU im September aus. Neben Kohl wandte sich Diepgen gegen auch in der CDU vorhandene Tendenzen, die Zweistaatlichkeit Deutschlands festzuschreiben. Stattdessen gelte es nun, konkrete Pläne zur Überwindung der Teilung auszuarbeiten.53 Die Rede Kohls wirkte auf Sowjetbotschafter Kwizinskij „wie ein Alarmsignal, dass die Regierung der Bundesrepublik nunmehr die Möglichkeit sah, in Osteuropa tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen, und dass sich in diesem Zusammenhang vor allem über der DDR dunkle Wolken zusammenzogen“.54 Er beschwerte sich bei Teltschik, man könne die Gemeinsame Erklärung von Juni nicht so deuten, wie Kohl dies tue.55 In Moskau wurden seine Befürchtungen zunächst noch als Übertreibung zurückgewiesen. Dabei erkannte Kwizinskij sehr deutlich, dass man in Bonn zu einer aktiven Vereinigungspolitik überging. Mitte September meinte auch der Vorsitzende des Innerdeutschen Ausschusses des Bundestages, Hans - Günter Hoppe ( FDP ), gegenüber der DDR sei ein gemeinsames europäisches Handeln nötig, um Reformen in Gang zu setzen. In einem Appell forderte er die Bildung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe der im Bundestag vertretenen Parteien, da die Einwirkung auf die DDR eine nationale Aufgabe sei.56 Diese nahm wenig später Beratungen über neue Konzepte einer gemeinsamen Deutschlandpolitik auf. Dorothee Wilms erklärte, am Ende des Weges werde die staatliche Einheit stehen. Auf diesem Wege gehe es jetzt darum, in der DDR einen Reformprozess in Gang zu setzen. Dabei habe man die Unterstützung der freien Welt.57 Am 20. September bekannte sich auch der hessische Ministerpräsident Wallmann in einer Regierungserklärung zum Ziel der Wiedervereinigung. Einen Tag später plädierte Max Streibl ( CSU) für die Beibehaltung des Rechtsstandpunktes, wonach das Deutsche Reich fortbestehe. Er sei der sichere Boden für die Deutschlandpolitik. Die Ausreiseflut zeige, dass die deutsche Frage offen sei. Er schlug vor, mit der DDR einen Vertrag zur Garantie von Freiheitsrechten auszuhandeln und dafür Wirtschaftshilfe zu leisten.58 Kanzleramtsminister Seiters bekräftigte die Bereitschaft, sowohl mit der Führung als auch mit den Reformgruppen in der DDR zu sprechen. Er und der FDP - Fraktionsvorsitzende Mischnick empfahlen in Anlehnung an die gemeinsame Entschließung der CDU / CSU, FDP und SPD im Bundestag aus 53 54 55 56

Vgl. FAZ vom 27. 9. 1989. Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 14. Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 47. Missbrauch des KSZE - Prozesses zur Massierung der Angriffe gegen die DDR ( BStU, ZA, Neiber 195, Bl. 112 f.). 57 Interview mit Dorothee Wilms. In : Welt am Sonntag vom 17. 9. 1989. 58 Vgl. FAZ vom 21. 9. 1989.

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dem Jahre 1984 eine gemeinsame Deutschlandpolitik. Die SPD solle sich in Zukunft weniger an den Grünen, sondern an Union und FDP orientieren. In der SED - Führung war man entsetzt. Im „Neuen Deutschland“ nannte Honecker die Zweistaatlichkeit ein wertvolles Stück Stabilität in Europa. Beide Staaten ließen sich ebenso wenig vereinigen wie Feuer und Wasser.59 Rückendeckung kam aus Moskau. Am 24. September kritisierte die KPdSU in der „Prawda“ die Rede Kohls auf dem Bremer Parteitag. Der Kanzler habe versucht, „Sinn und Geist der am 13. Juni 1989 unterzeichneten Erklärung zu entstellen“. Für eine Wiedervereinigung gebe es keine Voraussetzung.60 Ungeachtet dieses Sperrfeuers musste auch der sowjetischen Führung klar sein, dass sie mit der Erklärung zwar die Unverletzlichkeit der Grenzen und die staatliche Souveränität ihres Verbündeten DDR bestätigt bekommen hatte, aber keine Bestätigung für die Beibehaltung der deutschen Teilung im Falle einer souveränen Entscheidung einer frei gewählten DDR - Regierung für die Einheit. Noch aber hielt man den maroden realen Sozialismus wohl für so attraktiv, dass sich die Menschen auch unter freien Verhältnissen dafür entscheiden würden. Am 26. September warnte Schewardnadse bei der 44. Generalversammlung der UNO vor der Bundesrepublik : „Heute, da die Kräfte des Revanchismus vor unseren Augen wieder aktiv werden und begierig sind, die Nachkriegsrealitäten in Europa zu revidieren und zu zerstören, ist es unsere Pflicht, jene zu warnen, die sie bewusst oder unbewusst ermutigen.“61 Deutlich versuchte Schewardnadse damit die westlichen Staaten gegen die Bemühungen der Deutschen um ihre staatliche Einheit zu aktivieren.62 Am 26. September fand unterdessen im Bundeskanzleramt ein deutschlandpolitisches Orientierungsgespräch der Union statt.63 Die Runde stimmte der Einschätzung Brandts zu, die Zeit der Politik kleiner Schritte gehe zu Ende. Die bisherige Politik der Verhandlungen reiche nicht mehr aus. Ziel müsse es jetzt sein, konkrete Gespräche mit den Westmächten über die staatliche Einheit der Deutschen zu führen. Bedenken sollten mit der Forderung nach Selbstbestimmung des deutschen Volkes pariert, Reformen in der DDR durch Unterstützung der Reformen in Ungarn und Polen erreicht werden. Die staatliche Einheit wurde als unvermeidliche Folge von Reformen und der damit verbundenen Erreichung des Selbstbestimmungsrechtes angesehen. Die hier konzipierte Politik, das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen, nicht aber die staatliche Einheit zu fordern, um diese schließlich genau auf diesem Weg zu erreichen, kennzeichnete in den nächsten Monaten die Politik der Bundesregierung. Die staatliche Souveränität der DDR wurde akzeptiert, jedoch Selbstbestimmung und Reformen gefordert und unterstützt. Damit wurde auf der Sitzung eine Weichenstellung zur Erlangung der staatlichen Einheit vollzogen. Am 29. September betonte Dorothee Wilms erneut, es sei Aufgabe der Bundesre59 60 61 62 63

Vgl. Informationen des BMB 17 vom 22. 9. 1989, S. 20. Prawda vom 24. 9. 1989. TASS vom 26. 9. 1989. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 29. 9. 1989. Vgl. FAZ vom 28. 9. 1989.

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gierung, „Freiheit für die Deutschen in der DDR einzufordern“. Aus der Verwirklichung der Menschen - und Selbstbestimmungsrechte würden sich „Prozesse ergeben, an deren Ende die deutsche Einheit stehen sollte“.64 Im ARD - Presseclub erklärte Genscher am 1. Oktober, die Bundesrepublik unterstütze die Reformbewegungen in den sozialistischen Staaten. Dabei solle kein Staat destabilisiert werden. Vielmehr gehe es darum, stabile Rahmenbedingungen für einen geordneten Reformprozess zu schaffen. Warum, fragte Genscher, sollten in der DDR nicht Reformen wie in Ungarn möglich sein ?65 Streibl erklärte am 2. Oktober, er freue sich, dass die deutsche Frage wieder „ganz oben auf der Tagesordnung“ stehe. Priorität hätten Freiheits - und Menschenrechte für die Bürger in der DDR, erst danach komme die Frage der Nation.66 Kohl bekundete am 4. Oktober im Fernsehen seine Bereitschaft, die DDR durch eine „umfassende und weitreichende Zusammenarbeit“ zu unterstützen, wenn sie „grundlegende, politische und wirtschaftliche Reformen“ in Gang setze. Ziel der Bundesregierung sei es, dass sich die Menschen in der DDR wohl fühlten und in ihrer Heimat blieben. Die „Besonnenheit und Behutsamkeit“67 der Bonner Politik wurde im In - und Ausland gewürdigt. CDU - Generalsekretär Volker Rühe erklärte, die DDR habe Spielraum für Reformen, ohne dass sich gleich die „Grundsatzfrage“ stelle. Allerdings könne niemand die Garantie übernehmen, „dass sich das Ganze auf Reformen innerhalb der DDR begrenzen“ ließe. Die Deutschen in der DDR hätten das Recht, zu entscheiden, ob und wie sie mit den anderen Deutschen zusammenleben wollten. Für die „voraussehbare Zukunft“ jedoch gehe es um eine Liberalisierung der DDR. Deutlich wandte sich Rühe gegen SPD - Politiker, die „den Deutschen in der DDR das Selbstbestimmungsrecht nehmen wollen, indem sie verkünden, es bleibe in jedem Fall bei zwei deutschen Staaten“.68 Am 5. Oktober sprachen Kohl und Vogel über die Deutschland - und Ostpolitik. Vogel erklärte nach dem Gespräch, der Ernst der Situation gebiete einen pfleglichen Umgang der Parteien mit der Deutschland - und Ostpolitik. Regierung und Opposition bemühten sich um Konsens in allen DDR - Fragen. Vogel erklärte, das Vorgehen der Bundesregierung sei richtig, es gebe nichts zu korrigieren.69 Auch Bahr begrüßte das Angebot zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Falle einer Reformbereitschaft der SED - Führung. Zwischen den Ansichten Kohls, Genschers und denen der SPD bestehe kein großer Unterschied.70 Einen Tag vor dem 40. Jahrestag erklärte auch der stellvertretende SPD - Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Ehmke, er unterstütze die Haltung der Bundesregierung „nachdrücklich“. Die Absicht, die Kontakte auch mit der SEDFührung fortzusetzen, sei richtig. Nur so könne die Entwicklung in Deutschland 64 65 66 67 68 69 70

General - Anzeiger vom 29. 9. 1989. Vgl. taz vom 2. 10. 1989. Süddeutsche Zeitung vom 3. 10. 1989. Neue Zürcher Zeitung vom 8./9. 10. 1989. Interview mit Volker Rühe. In : Süddeutsche Zeitung vom 5. 10. 1989. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 7. 10. 1989. Vgl. FAZ vom 6. 10. 1989.

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in ein Europa eingebaut werden, das die Nachkriegsteilung über windet. Eine Reform in der DDR sei zudem ohne Reformkräfte in der SED nicht denkbar.71 Honecker erklärte am selben Tag in der „Prawda“, die DDR sei Druck seitens der BRD ausgesetzt. Durch „ideologische Diversion“ werde versucht, „den Sozialismus auf deutschem Boden aus der Welt zu schaffen“. Er beschwor die Freundschaft zur UdSSR und betonte, die DDR verfüge als Teil des Warschauer Paktes über bedeutende Streitkräfte. Dies müsse jedem klar sein, der ihre Souveränität in Frage stelle.72 In der SPD hatte der plötzliche Einbruch der Realitäten die „Illusionen eines Appeasement - Kurses“ gegenüber der DDR enthüllt.73 Bereits seit dem Frühsommer waren innerhalb der SPD die unterschiedlichsten Standpunkte aufeinandergeprallt. Die einen hofften auf der Grundlage von Selbstbestimmung und Demokratie auf einen Weg zur staatlichen Einheit, andere auf einen Fortbestand der DDR als sozialistische Alternative zur Bundesrepublik. Auslöser einer Polarisierung der Sozialdemokratie war eine Kontroverse am 7./8. Juni 1989 in Saarbrücken mit Krenz, bei der dieser Honecker uneingeschränkt unterstützte. Nach dem Treffen forderte Ehmke vom SPD - Parteivorstand ein Ende der Stabilisierungspolitik, da auf diesem Wege Reformen in der DDR nicht erreichbar seien. Es gelte, die Kritik an der SED - Führung zu verschärfen und Reformkräfte zu unterstützen.74 In der von Bahr geleiteten deutschlandpolitischen Arbeitsgruppe der SPD setzte er sich für einen erhöhten Reformdruck auf das DDR Regime ein, während Bahr und Gaus weiterhin die Stabilisierungs - Linie vertraten.75 Vor dem Bundestag bezeichnete Eppler die Idee des Nationalstaates am 17. Juni als überholt. Er bekannte sich zur deutschen Einheit, äußerte aber Verständnis für die Abgeordneten, die das Thema deutsche Einheit endgültig von der politischer Tagesordnung streichen wollten. Er verwies auf ein angebliches „DDR - Bewusstsein, ein manchmal fast trotziges Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem kleineren, ärmeren deutschen Staat“, sah eine Mehrheit in der DDR, „deren Hoffnung sich nicht auf das Ende, sondern auf die Reform ihres Staates richtet“. Einen Sinn für den Fortbestand des sozialistischen Teilstaates sah er in dem „Experiment, in einer industriell entwickelten Gesellschaft Gemeineigentum an den großen Produktionsmitteln nicht nur mit sozialer Sicherheit, sondern auch mit freier Diskussion zu verbinden“ und die „ökologische Erneuerung ohne den Widerstand privatwirtschaftlicher Interessen exemplarisch zuwege zu bringen“. Es gehe der SPD nicht um die Abschaffung des Systems, sondern um dessen Reformfähigkeit.76 Bahr kritisierte Eppler nach der Rede. Die Menschen in der DDR bräuchten „kein Gerede über die deutsche Frage“. Später korrigierte er seine Haltung und meinte, Eppler habe klarer als er gese71 72 73 74 75 76

FAZ vom 7. 10. 1989. Prawda vom 5. 10. 1989. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 5. 10. 1989. Bracher, Wendezeiten, S. 341. Vgl. Ehmke, Mittendrin, S. 394 f. Ebd., S. 389. Rede von Erhard Eppler am 17. 6. 1989 im Bundestag. In : Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 20. 6. 1989.

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hen, dass das SED - System „begann, aus dem letzten Loch zu pfeifen“.77 Nach Meinung Ehmkes standen sich in der SED orthodoxe „Falken“ und an Gorbatschow orientierte „Reformer“ gegenüber, die er und andere vor allem in der mittleren Führungsebene ( Bezirkssekretäre ), unter den Sekretären des ZK der SED und in den Massenorganisationen zu erkennen glaubten.78 Diese Linie vertrat auch Momper, der sich am 19. Juni in Ost - Berlin mit Honecker traf.79 Er setzte auf Zweistaatlichkeit und die Entwicklung der DDR zur demokratisch sozialistischen Alternative. Als US - Botschafter Vernon Walters ihm seine Einschätzung über den baldigen Zusammenbruch der DDR mitteilte, lachte er ihn aus. Walters meinte im Nachhinein, die SPD habe „gegen alles Front gemacht“, was er in seiner Amtszeit empfohlen habe.80 Die Entwicklung zur Demokratie in Polen und die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking hatten deutlich die Extreme möglicher Entwicklungen in den sozialistischen Staaten aufgezeigt. Da die SPD noch immer auf Kontakt mit kommunistischen Parteien setzte und keine Verbindungen zu oppositionellen Gruppen aufnahm, versuchten einige SPD - Politiker, denen das Missverhältnis ihrer Partei zum Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Ostblock - Staaten ein Dorn im Auge war, eine Änderung der Parteipolitik zu erreichen. Vor allem im Kurt - Schumacher - Kreis, wo die Bedeutung der Reformer innerhalb der SED für gering erachtet und das SPD SED - Papier teilweise offen abgelehnt worden war, wurde nun verstärkt gefordert, die Opposition zu unterstützen und sich für sozialdemokratische Kräfte in der DDR einzusetzen. Dagegen meinte Momper, er sehe für die Wiederbelebung der SPD in Ost - Berlin oder eine Wiedergründung in der DDR „keinen Handlungsbedarf“. Die SED weise genügend „sozialdemokratische Elemente“ auf und entwickele sich in Richtung einer SPD.81 Das sah man auch im Parteirat differenzierter und erklärte am 27. Juni, die SPD erachte neben ihren Kontakten zur SED auch einen kritischen Dialog mit „kirchlichen Gruppen, Vertretern abweichender Meinungen, mit Einzelbürgerinnen und - bürgern“ als notwendig. In einer Sitzung des Parteirates wurden nun bislang angestrebte Partnerschaften zwischen Gliederungen von SPD und SED strikt abgelehnt.82 Eine grundsätzlich Wende deutete sich an, als Willy Brandt am 1. September vor dem Bundestag erklärte, die Zeit gehe zu Ende, in der man durch kleine Schritte den Zusammenhalt der Nation wahren wolle.83 Hager konstatierte da77 Zit. bei Sturm, Uneinig, S. 115. 78 Vgl. Horst Ehmke, Der Stand der deutschen Dinge. In : Die SPD im Deutschen Bundestag vom 14. 9. 1989; Gert Weißkirchen, In der DDR beginnt der Wandel. In : ppp Tagesdienst vom 10. 10. 1989; Interview mit Oskar Lafontaine. In : Presseservice der SPD vom 21. 9. 1989. 79 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 15. 6. 1989, Anlage 8 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2332). 80 Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 78 f. 81 Zit. in FAZ vom 5. 8. 1989. 82 Kirche im Sozialismus, 4 (1989), S. 175 f. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 28. 6. 1989. 83 Redetext abgedruckt in Frankfurter Rundschau vom 4. 9. 1989.

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raufhin, die SPD habe „einen Stellungswechsel zur CDU vollzogen“,84 und auch Mittag sah die SPD „unter dem Druck der CDU“.85 Eppler konterte, die SED wolle nur den Dialog nach außen, man selbst werde nun Kontakte zu kirchlichen und anderen Gruppen ausbauen.86 Intern schätzte die SED ein, die SPD nähere sich der CDU an und trete mit „bürgerlich - patriotischen Losungen“ auf, „um diese Frage nicht allein den konservativen Kräften zu überlassen“. Dabei gebe es verschiedene Richtungen. In „scharfmacherischer Weise“ forderten z. B. Hans Büchler, Ludwig Stiegler, Erhard Körting und Horst Niggemeier die SED auf, die Macht zu teilen und plädierten für eine „Österreichisierung der DDR“. Dagegen stünden „realistischere Kräfte“ wie Egon Bahr, Henning Voscherau und Walter Momper, die vor einer Destabilisierung der DDR warnten. Angesichts des Kurses der SPD stelle sich die Frage nach dem Sinn der Dialogpolitik. Sinnvoller seien „interne Gespräche“ mit realistischen Politikern wie Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping oder Gerhard Schröder.87 Offiziell beendete die SED - Führung den Dialog mit der SPD.88 Am 11. September kam es im SPD - Präsidium zum Streit. Eppler forderte, die SPD müsse eine Option haben, falls sich die DDR als nicht lebensfähig erweise. Während ihn Vogel unterstützte, widersprachen ihm Engholm, Lafontaine und Schröder. Sie plädierten dafür, weiterhin mit der SED zu verhandeln und öffentlich Reformen zu fordern, aber auch mit den Kirchen und der Opposition zu sprechen. Norbert Gansel führte die Formel „Wandel durch Abstand“ ein und polarisierte die Diskussion damit weiter.89 Zwei Tage später eröffnete er eine Kampagne gegen den Kurs Bahrs. Vor der Bundestagsfraktion erklärte er, Bahr habe nie auf Veränderungen durch die Menschen in der DDR gesetzt. Auch Hans Büchler, Obmann der SPD im Innerdeutschen Ausschuss, meinte, die Wirklichkeit sei über Bahrs Thesen und seine Geheimdiplomatie hinweggegangen. Bahr nannte seinerseits alle Lügner, die Deutschlands Einheit für möglich hielten, und sah auch niemanden, der dies wollte.90 Später gab er zu, „keine Sekunde geahnt, vermutet oder gehofft“ zu haben, dass die Mauer zwei Monate später fallen würde.91 Am 15. September wurde Ehmke die Absage eines Besuches der SPD - Fraktion in der DDR mitgeteilt. Von Vogel und Ehmke abgegebene Erklärungen seien „in ihrer Form beleidigend und herausfordernd“ und hätten die Reise gegenstandslos gemacht.92 Den SPD - Bundestags84 85 86 87 88 89 90 91 92

Verlauf der SED - Politbürositzung am 5. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2039/77). Verlauf der SED - Politbürositzung am 12. 9. 1989 ( ebd.). Vgl. Uschner, Die Ostpolitik der SPD, S. 145. Vorlage für das SED - Politbüro über die weitere Zusammenarbeit mit der SPD vom 8. 9. 1989. Text abgedruckt in Nakath / Stephan ( Hg.), Countdown, S. 207–214. Vgl. FAZ vom 6. 9. 1989. Frankfurter Rundschau vom 13. 9. 1989. Vgl. Interview mit Erhard Eppler. In : Gorholt / Kunz ( Hg.), Deutsche Einheit, S. 191; Ehmke, Mittendrin, S. 397 f.; Sturm, Uneinig, S. 167–171. Vgl. Wirtschaftswoche vom 2. 3. 1990. Egon Bahr, Den Luxus rigoroser Gesinnungsethik konnte sich niemand leisten. In : Frankfurter Rundschau vom 19. 2. 1992. Zit. in Informationen des BMB 17 vom 22. 9. 1989, S. 24.

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abgeordneten Freimut Duve und Gert Weisskirchen wurde die Einreise nach Ost - Berlin verweigert. Die SED - Bezirksleitung Rostock sagte den Besuch einer Delegation des Bremer SPD - Landesvorstandes ab.93 Die „Neue Zürcher Zeitung“ konstatierte, die Sozialdemokraten seien „vor aller Welt mit ihrer bisherigen Deutschlandpolitik in eine Sackgasse geraten“.94 Am 18. September beschloss der SPD - Vorstand, Akzentverschiebungen vorzunehmen, die Kritik an den Entwicklungen in der DDR zu verstärken und den Kontakt mit oppositionellen Gruppen mehr zu betonen.95 Als Dialogpartner wurden nun zuerst Kirchen und Oppositionelle und erst dann die SED genannt. Vogel bemühte sich allerdings, den Eindruck einer Kurskorrektur zu vermeiden. In Anlehnung an den Vorschlag zur Bildung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung eines gemeinsamen deutschlandpolitischen Konzeptes plädierte er für ein Höchstmaß an Konsens. Während die FDP positiv auf den Vorschlag reagierte, wiederholte die Union ihre Vorwürfe. Rühe sah die SPD vor dem Scherbenhaufen ihrer Deutschlandpolitik, andere sprachen vom „deutschlandpolitischen Offenbarungseid“ der SPD.96 Willy Brandt, der noch kurz zuvor die Wiedervereinigung als „Lebenslüge der Deutschen“ bezeichnet hatte, schwenkte ebenfalls um und sprach nun von Selbstbestimmung und Einheit – Begriffe, welche die SPD lange nicht im Zusammenhang mit dem Ostblock benutzt hatte. Die deutsche Frage, so Brandt, kehre auf die Tagesordnung der Weltpolitik zurück. Lafontaine wandte sich gegen das Konzept eines Nationalstaates, erklärte aber, die SPD werde sich „für eine Vereinigung der Deutschen einsetzen, sofern sie es wünschen“. Diese müsse aber unter dem Zeichen der Zukunft, nicht der Vergangenheit stehen.97 Eppler meinte, öffentliche Forderungen nach Wiedervereinigung würden „alle Hunde“ von Paris bis Moskau scheu machen, vor allem aber „die ohnehin scheuen Hunde in der DDR“. Wichtig sei es, das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen zu betonen. Die Frage der deutschen Einheit könnten allein die Deutschen in der DDR entscheiden. Wenn diese ihren Staat nicht mehr haben wollten, könne die Bundesrepublik sie nicht zwingen, ihn zu behalten. Von daher müsse eine Option für den Fall offengelassen werden, dass die DDR nicht erhalten bleibt.98 Der Vorsitzende der niedersächsischen SPD - Fraktion, Schröder, nannte es dagegen „reaktionär und hochgradig gefährlich“, von der Realisierbarkeit der Wiedervereinigung auszugehen. Anzustreben sei stattdessen die Einheit der Deutschen unter einem europäischen Dach.99 Auch Momper erklärte erneut, er „halte von Wiedervereinigungsrhetorik überhaupt nichts“. Die Politik der SPD gehe „für eine absehbare Zeit ganz 93 Vgl. Informationen des BMB 18 vom 6. 10. 1989, S. 12. 94 Neue Zürcher Zeitung vom 17./18. 9. 1989. 95 Vgl. FAZ vom 20. 9. 1989; Rheinischer Merkur vom 6. 10. 1989; Sturm, Uneinig, S. 172– 175. 96 Neue Zürcher Zeitung vom 21. 9. 1989. 97 Zit. in Der Spiegel vom 25. 9. 1989. 98 Interview mit Erhard Eppler. In : Der Stern vom 28. 9. 1989. 99 FAZ vom 28. 9. 1989.

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klar von der Zweistaatlichkeit aus“.100 Wer behaupte, die Wieder vereinigung stehe auf der Tagesordnung, missbrauche die Demokratiebewegung in der DDR. Der Regierende Bürgermeister von West - Berlin wörtlich : „Welches Recht haben die Stammtischstrategen bei uns, den Menschen und den Oppositionsgruppen in der DDR ihre ideologischen Ziele von gestern überzustülpen [...] ? Wer sagt denn, dass das Ergebnis der Demokratiebewegung in der DDR nicht ein dritter Weg ist, ein sozialer, demokratischer und ökologisch orientierter Staat ?“101 Auf einem Symposium mit Falin in West - Berlin trat Bahr am 1. Oktober ebenfalls der Auffassung entgegen, die Grundlagen der bisherigen Deutschlandpolitik der SPD seien hinfällig. Eine Lösung der deutschen Frage stehe nicht auf der Tagesordnung, da die UdSSR die DDR nicht aufgebe. Es gehe deswegen nicht um Einheit, sondern um eine neue Qualität deutsch - deutscher Beziehungen.102 Auf ihrem Landesparteitag in Limburg stellte die hessische SPD Anfang Oktober einstimmig fest, vierzig Jahre nach der deutschen Teilung könne bei niemandem in Ost oder West die Bereitschaft geweckt werden, die Einheit Deutschlands auf die Tagesordnung der Weltpolitik zu setzen.103 Martin Walser konstatierte, die SPD habe sich zur Parole durchgerungen, man könne auch in zwei Staaten Deutscher sein. Offenbar mache es der SPD aber mehr Spaß, Deutscher im Westen zu sein.104 Jedenfalls war zu Beginn der Herbstrevolte in der DDR klar, dass von einer einheitlichen Haltung in der SPD keine Rede sein konnte.105 Damit war auch ein bestimmender Einfluss auf die weiteren Ereignisse ausgeschlossen. Die Grünen : Deutlicher als die SPD votierten die Grünen für Zweistaatlichkeit und gegen Wiedervereinigung. Diese Haltung basierte auf der Einschätzung, „dass nur auf dieser Basis ein gemeinsames, ziviles Europa entstehen kann, die demokratischen Freiheiten in der Bundesrepublik bewahrt und ausgebaut und gesellschaftliche Umbrüche in der DDR ohne Anschlussängste durchgeführt werden können“.106 Bereits am 21. September lehnte die Bundestagsfraktion die „abenteuerliche Debatte über Wieder - und Neuvereinigung“ und eine Aufgabe der Zweistaatlichkeit ab. Damit folgte sie dem Vorschlag ihrer Sprecherin, Antje Vollmer, die für eine Anerkennung des kommunistischen Regimes plädierte. Zugleich wurde die Idee Mechtersheimers zurückgewiesen, eine deutsche Einheit auf neutraler Grundlage anzustreben. Mit parlamentarischen Initiativen im Bundestag verdeutlichten die Grünen Anfang Oktober ihre deutschland - und ostpolitischen Vorstellungen. Angesichts der dramatischen Fluchtwelle gelte es, ein „deutliches Zeichen gegen den nationalen Taumel“ zu setzen.107 Fraktions100 101 102 103 104 105 106

Interview mit Walter Momper. In : Die Zeit vom 6. 10. 1989. Zit. in FAZ vom 5. 10. 1989. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 2. 10. 1989. Vgl. FAZ vom 2. 10. 1989. Zit. in FAZ vom 6. 10. 1989. Vgl. Sturm, Uneinig, S. 195–206. Offener Brief der Grünen im Bundestag an das Politbüro des ZK der SED vom 6. 10. 1989. In : Deutschland 1989, 13, S. 175 f. 107 Süddeutsche Zeitung vom 3. 10. 1989.

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sprecher Helmut Lippelt und die Vertreterin der Grünen im deutsch - deutschen Ausschuss nannten es das Ziel der Grünen, dem SED - Staat ein Minimum an Stabilität zu garantieren, damit dort ein Reformprozess möglich werde. Konkret forderten die Grünen eine doppelte Staatsbürgerschaft mit Wahlmöglichkeiten für die Deutschen in beiden Staaten.108 Zum einen gab es somit Tendenzen, das SED - Regime zu akzeptieren, zum anderen hielten die Grünen, anders als alle sonstigen Bonner Parteien, bereits seit Längerem Kontakte zu Bürgergruppen in der DDR und begleiteten deren Aktionen mit Anteilnahme. Das basierte jedoch nicht auf deutschlandpolitischen Ambitionen, sondern auf dem gemeinsamen Standpunkt einer Äquidistanz zu Kapitalismus und kommunistischer Diktatur. 2.3

Entwicklung in der SED - Führung

Angesichts der Entwicklungen in Polen und Ungarn auf der einen sowie China auf der anderen Seite war die Haltung der SED - Führung klar : Während hinsichtlich der Reformentwicklungen in den Nachbarländern Befürchtungen geäußert wurden, befürwortete die SED - Führung die Massaker in China. „Das Neue Deutschland“ berichtete am 5. Juni von der Niederschlagung der „Konterrevolution“ auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking. Am 8. Juni äußerte die Volkskammer Verständnis für den „Einsatz bewaffneter Kräfte“. Die Mehrheit der Bevölkerung, so das MfS, verurteile die „Gräueltaten [...] an Armeeangehörigen und Sicherheitskräften“. Es gebe aber auch andere Meinungen.109 Diese abweichenden Meinungen äußerten z. B. Mitarbeiter von Leipziger SED - Stadtbezirksleitungen, die sofort ihre Posten verloren.110 Zur Unterstützung der harten Linie besuchte eine von Hans Modrow geleitete SED Delegation Anfang Juli Peking, wo sie vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Wu Xueqian empfangen wurde. Auch Günter Schabowski fuhr am 14. Juli nach Peking, wo KP - Generalsekretär Jiang Zemin der SED für die Solidarität dankte. Das FDJ - Blatt „Junge Welt“ berichtete unter der Überschrift „In einer Zeit der Prüfung erkennt man wahre Freunde“ vom Besuch. Drohung und psychologische Einstimmung auf Gewalt gegen Demonstrationen in der DDR waren unverkennbare Intentionen des Artikels. Die Unterstützung der Gewalt in China wurde nicht einmal von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins und der DKP geteilt.111 Das 8. ZK - Plenum am 22./23. Juni brachte nicht nur „Stagnation und Rundumverteidigung“ zum Ausdruck, es deutete bereits auf Agonie in der SED - Füh108 Vgl. taz vom 3. 10. 1989. 109 BVfS Leipzig vom 20. 6. 1989 : Reaktionen der Bevölkerung zur Niederschlagung des konterrevolutionären Aufruhrs in der VR China ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 72–75). 110 Vgl. Ost - West - Diskussionsforum 10 von Februar 1990, S. 19. 111 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4. 7. 1989, Punkt 9 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2335); Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 11. 7. 1989, Punkt 4 ( ebd., 2/2/2336);

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rung hin.112 Joachim Herrmann ging auf „Bestrebungen gewisser Politiker kapitalistischer Länder“ ein, die sozialistischen Staaten „zur Übernahme kapitalistischer Gesellschaftsvorstellungen und Strukturen, von bürgerlichem Pluralismus und bürgerlicher Ideologie zu veranlassen“.113 Der SED bereite die Entwicklung in Ungarn große Sorge. Honecker hatte in Herrmanns Bericht des Politbüros an das ZK Kritiken an Gorbatschow aufnehmen lassen, über dessen nicht klassenmäßiges Auftreten beim Staatsbesuch in der BRD viele Genossen enttäuscht seien.114 Herrmann deutete an, dass es innerhalb der SED Kontroversen über Führungsfragen gab. Das Politbüro habe den Bericht einer Arbeitsgruppe des ZK „zu Führungsfragen“ entgegengenommen, die „zur Unterstützung der Bezirksparteiorganisation Dresden“ im Kampf gegen „bürgerliche und feindliche Auffassungen“ gebildet worden sei. Vorsitzender der SED - Bezirksleitung Dresden war Hans Modrow.115 Die Aktion zielte nicht allein auf ihn, sondern auf die ohnehin wenigen Reformer in der Partei. Möglicherweise orientierte auch Krenz, unterstützt von Wolf, bereits auf einen von Moskau favorisierten Politikwechsel, wurde aber nicht offensiv.116 Auch Herger erklärte später, er habe seit Juni „an einer umfangreichen Analyse der politischen Situation“ gearbeitet, die Krenz Honecker am 11. August übergab. Honecker habe das Papier im Panzerschrank verschlossen.117 So ging es im Sommer weiter im gewohnten Trott. Auf einer Dienstberatung der Vorsitzenden der Räte der Bezirke am 3. Juli verpflichtete Stoph diese auf eine Fortsetzung der Politik der Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik. Er erklärte : „Wir bleiben bei der weiteren schöpferischen Anwendung des wissenschaftlichen Sozialismus.“118 Chef ideologe Hager erklärte am 6. Juli, Reformen, „die den Übergang zur ‚freien Marktwirtschaft‘ ermöglichen sollten oder die Preisgabe aller sozialen Errungenschaften, aller Werte und Ideale des Sozialismus bedeuteten“, hätten in der DDR keine Chance.119 Am 7. Juli begann in Bukarest die letzte Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes. Der Gipfel schloss sich Äußerungen Gorbatschows vom 6. Juli an und sprach sich für ein Ende der Breschnew - Doktrin aus. Jedes Volk solle selbst den Weg seines Landes bestimmen und das Recht haben, das gesellschaftspolitische und wirtschaftliche System sowie die staatli-

112 So Stephan ( Hg.), Vorwärts immer, rückwärts nimmer, S. 15. 113 Zit. in Neues Deutschland vom 23. 6. 1989. Vgl. 8. Tagung des ZK der SED. In : DA, 22 (1989), S. 945–956. 114 Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 26. 115 Neues Deutschland vom 23. 6. 1989. 116 So Rüddenklau, Störenfried, S. 365, der sich auf Kontakte zum BND stützt. Gespräch d. A. mit Wolfgang Rüddenklau in der Umwelt - Bibliothek Berlin am 22. 4. 1992. 117 Inter view mit Wolfgang Herger im Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 115. 118 Niederschrift der Dienstberatung beim Vorsitzenden des Ministerrates am 3. 7. 1989 (SächsStAL, 38212). 119 Zit. in Fischbach, DDR Almanach ’90, S. 221.

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che Ordnung festzulegen.120 Die Tagung zeigte den Bruch zwischen DDR und UdSSR auf dem Gebiet der Außenpolitik und einen Riss durch den gesamten Ostblock. Das SED - Regime „war zur Blockbildung gegenüber Moskau und Polen sowie Ungarn übergegangen, indem es versuchte, vor allem Rumänien und die Tschechoslowakei außenpolitisch auf seine Linie zu bringen“. Honecker meinte, Gorbatschow unterschätze die Lage, die „Aggressivität des USA - Imperialismus und die vom NATO - Block ausgehende Kriegsgefahr“ und untergrabe mit seiner KSZE - Politik die Stabilität im Ostblock in gefährlicher Weise.121 Horn wies Formulierungsvorschläge von DDR - Außenminister Fischer zurück, wonach in der Bundesrepublik „Revanchismus und Militarismus zur Staatspolitik erhoben“ worden seien.122 Im Bericht an das Politbüro hieß es, Gorbatschow habe in Bukarest eine „betont positive Einschätzung“ der Veränderungen in der internationalen Entwicklung gegeben und gefordert, die „internationalen Standards“ im humanitären Bereich müssten auch in den sozialistischen Ländern durchgesetzt werden.123 Honecker musste die Tagung wegen einer Gallenkolik am 8. Juli verlassen und trat zwei Tage später seinen Jahresurlaub an. Er erhielt während einer Operation zwei Vollnarkosen, was nach Meinung des KGB „nicht ohne Folgen für seinen Geisteszustand“ blieb.124 Sein Fehlen verstärkte die Führungsschwäche der Regierung. So hatte wegen der Abwesenheit aller ZK - Sekretäre zunächst Krenz die Arbeit im ZK „faktisch allein zu verantworten“, stand allerdings im ständigen telefonischen Kontakt mit Honecker.125 Spionagechef Großmann meint hingegen, Honecker habe die Regierungsgewalt „faktisch in die Hände von Günter Mittag und Erich Mielke“ gelegt.126 Am 17. Juli erklärte Markus Wolf in Moskau Vertretern des KGB, von der SED - Führung sei keine Erneuerung zu erwarten, eine Alternative nicht in Sicht. Seitens des KGB wurde er daraufhin mit der „Perspektive der westdeutschen Konzeption einer Wiedervereinigung und des Abbruchs der Mauer“ konfrontiert, die „schon im Gange“ sei.127 Am 18. Juli fragten ihn auch Portugalow und Koptelzew, ob es personelle Alternativen zu Honecker gäbe. Wolf wusste keine. Am 3. August sprachen Krenz, Herger und Wolf über die Situation. Während Wolf auf Änderungen noch vor dem XII. Parteitag der SED drängte, lehnte Krenz ein Ausbrechen aus der Parteidisziplin ab. Auch Gorbatschow sei nur Generalsekretär geworden, weil er unter seinen Vorgängern Disziplin gewahrt habe.128 Damit 120 Vgl. Prawda / Neues Deutschland vom 10. 7. 1989. Erklärung der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und Kommuniqué. In : DA, 22 (1989), S. 1053–1061. 121 Kaiser, Zwischen angestrebter Eigenständigkeit, S. 494. 122 Horn, Freiheit, S. 300 f. 123 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 11. 7. 1989, Anlage 1 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2336). 124 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 125 Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 27. 126 Großmann, Bonn im Blick, S. 170. 127 Markus Wolf, Geheime Mission in Moskau. In : Der Stern vom 29. 11. 1990. 128 Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 146 und 158.

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war klar, dass Krenz mit Änderungen warten wollte, bis er Honecker beerbt hatte. Trotz seiner Ablehnung von Reformen war Honecker misstrauisch und schickte Krenz kurzerhand in den Urlaub, um ihm nicht die Führung während seiner Krankheit überlassen zu müssen. Kotschemassow kam nach Unterredungen mit Mittag und anderen Mitgliedern der SED - Führung Mitte August zum Schluss, „dass weder im ZK der SED noch in der Regierung eine prinzipielle Einschätzung der Situation existierte“. Es gebe „keine Prognosen und keine Vorstellungen über unabdingbare Maßnahmen“. Im Auftrag Falins habe er mehrfach und recht erfolglos versucht, Mitglieder des ZK der SED gegen die Strategie Honeckers aufzubringen.129 In der SED - Führung wurde allerdings ständig über mögliche personelle Veränderungen geredet. Gedanken machte man sich vor allem über Herrmann, Mittag und Mielke.130 Mielke betont später, es habe sich „keine Fraktion“ gebildet, auch wenn einige Mitglieder des Politbüros mit Honeckers Politik und seinem Führungsstil unzufrieden waren. Hierzu gehörten demnach neben ihm u. a. Stoph, Hoffmann, Krolikowski, Jarowinsky, Schürer und Krenz.131 Am 15. August leitete Honecker erstmals wieder persönlich eine Sitzung des Politbüros. Mittag, Mielke, Krenz und andere bestätigten Honeckers Kurs : „Keine Rolle spielte die Veränderung der Grundstimmung in Partei und Volk zu unseren Ungunsten“,132 über die er nach eigenem Bekunden bis zu diesem Zeitpunkt durch Krenz auch nicht informiert worden sei. Honecker verfügte, dass ihn künftig Mittag vertreten werde.133 Das war ein klares Misstrauensvotum gegen Krenz.134 Falin meinte, Honecker habe geplant, „Krenz aus Berlin zu entfernen“, da er zu regen Kontakt in die Sowjetbotschaft hielt. Von einer Rolle als „Kronprinz“ habe keine Rede sein können.135 Auch Sowjetbotschafter Kotschemassow notierte, Honecker habe Krenz von aktiver Arbeit in der Führung ferngehalten und sich dessen Rückkehr aus dem Urlaub widersetzt. Er habe ihm nicht vertraut und wollte ihn sogar zum 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Leipzig degradieren.136 Offensichtlich befürchtete er, Krenz würde vorzeitig „nach der Krone greifen“.137 Im Apparat des ZK der SED war damit klar, dass Honecker nicht an Abschied dachte.138 Der selbst schwerkranke Mittag übernahm

129 Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 160 f. Vgl. Oldenburg, Vom realen Sozialismus, S. 38. 130 Vgl. Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 106. 131 Interview mit Erich Mielke. In : Der Spiegel vom 31. 8. 1992. 132 Stellungnahme vom 1. 12. 1989. In : Honecker, Erich Honecker zu dramatischen Ereignissen, S. 86. 133 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 15. 8. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2341). 134 Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 155. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 227. 135 Aussage Valentin Falins. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 56. 136 Vgl. Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 167. 137 Oldenburg, Vom realen Sozialismus, S. 40. 138 Vgl. Janson, Totengräber, S. 246.

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nun statt Krenz die geschäftsführende Urlaubsvertretung.139 Die SED schlingerte nun mehr oder weniger führungslos dahin, grob durch Honeckers Reformunwilligkeit auf Kurs gehalten. Am 16. August erklärte er öffentlich, das Triumphgeschrei westlicher Medien über das Scheitern des Sozialismus sei das Geld nicht wert, das dafür ausgegeben werde. Der dann von ihm formulierte Satz : „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“140 wurde vom Volksmund schnell umformuliert, aus dem „auf“ wurde ein „aus“. Danach unterzog sich Honecker einer Gallenoperation. In der Sitzung des Politbüros am 22. August forderte Krolikowski die Erstellung einer Analyse der Fluchtwelle, eine Erklärung des Politbüros und eine Beratung des Sekretariats des ZK mit den 1. Bezirkssekretären über die Lage. Mittag wies den Antrag zurück.141 Auch in drei weiteren Sitzungen forderten Stoph, Böhme und Krolikowski vergeblich eine öffentliche Erklärung des Politbüros.142 Mittag, der ständig mit Honecker telefonierte und dem dessen Entmachtung „nicht in den Sinn“ kam, versuchte Zeit zu gewinnen und traf keine wichtigen Entscheidungen selbst. Ohne Zustimmung Honeckers ging z. B. kein Fernschreiben an die SED - Bezirkssekretäre heraus.143 Am 26. August brachte das „Neue Deutschland“ einen Beitrag des stellvertretenden Rektors der SED - Parteihochschule „Karl Marx“, der auf Linie Honeckers lag. Wolfgang Schneider ging in seiner Betrachtung von der „vollgültigen Wahrheit“ aus, dass „die führende Rolle der Kommunistischen Partei für den Aufbau des Sozialismus keine Ermessensfrage, sondern eine objektive Notwendigkeit“ sei. Alle Reformvorschläge wurden als Versuche zurückgewiesen, „unter der Flagge der ‚Erneuerung‘ des Sozialismus der DDR den Weg zur Restauration des Kapitalismus“ zu bereiten. Am 29. August beschloss das Politbüro, die Arbeit unverändert fortzuführen. Erstmals kam es jedoch zu einer Diskussion der Ausreiseproblematik, die aber wegen Honeckers Abwesenheit erneut vertagt wurde.144 Die Entwicklung der internationalen Lage, die Deutschlandpolitik der Bundesregierung und vor allem die krisenhafte Entwicklung in der DDR samt Massenflucht erhöhten Ende August den Handlungsdruck. Wolfgang Herger drängte Krenz zum Handeln. Herger war nach eigenem Bekunden nach den Ereignissen in Peking immer mehr in Widerspruch zur SED - Führung geraten : „Aus Informationen der Parteiorganisationen und von vielen Bürgern, aber auch aus Informationen des MfS, wusste ich, dass die Unzufriedenheit und der Wider139 Vgl. Mittag, Um jeden Preis, S. 44. Mittag behauptet, Krenz hätte doch die Leitung innegehabt ( S. 179). 140 Neues Deutschland vom 15. 8. 1989. 141 Vgl. Anhörung Werner Eberleins am 9. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 149. 142 Handschriftliche Aufzeichnung Werner Krolikowskis vom 16. 1. 1990. In : Przybylski, Tatort Politbüro, S. 337. 143 Mittag, Um jeden Preis, S. 29 und 46. Vgl. Inter view mit Günter Mittag. In : Der Spiegel vom 9. 9. 1991. 144 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 29. 8. 1989, Punkt 4 (SAPMOBArch, SED, J IV 2/2/2343). Vgl. Verlauf der Sitzung des Politbüros am 29. 8. 1989 (ebd. 2/2039/76); Bortfeldt, Von der SED, S. 53.

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stand gegen diese Politik in der Partei und im gesamten Volke immer größer wurde. Ich befürchtete, wie Egon Krenz auch, dass es zu gewaltsamen Entwicklungen in unserem Lande kommen könnte.“145 Da Krenz sich weiterhin weigerte, gegen Honecker aktiv zu werden, sprach Herger mit Mielke. Krenz zeigte sich unterdessen linientreu und bestätigte Mittag.146 Herger meint, Krenz hätte ohne Drängen und Unterstützung Mielkes nicht gehandelt. Ohne Mielke wäre es nicht zur Absetzung Honeckers gekommen.147 Aber auch Mielke zögerte zunächst. Erst als ihm Anfang September von sowjetischer Seite deutlich gemacht wurde, dass „mit Honecker die Karre an den Baum“ fährt, drängte er Krenz, Honecker nachzufolgen.148 Nach deutlichen Signalen seiner KGB - Partner begann er die Absetzung einzuleiten. Seit sich 1987 der Gegensatz zwischen Gorbatschow und Honecker abzuzeichnen begonnen hatte, galt Mielke in Moskau als Vertrauter des KGB, was nicht hieß, dass er von dort direkte Unterstützung erhielt. Auf Bitten Stophs, Mielkes oder anderer, sie gegen Honecker zu unterstützen, reagierte Gorbatschow nicht.149 Wichtigster Partner Mielkes wurde nun Herger, selbst ein Krenz - Vertrauter. Man einigte sich auf Krenz als Nachfolger, weil er, so Mielke, trotz aller Schwächen bei entsprechender Kontrolle und Anleitung die nötigen Veränderungen ohne schwerwiegende Erschütterungen des Regimes durchführen würde. Modrow, den Mielke durch Böhm kontrollieren ließ und der dem Politbüro nicht angehörte, kam für ihn nicht in Frage.150 Ende August fiel in kleinem Kreis um Krenz die Entscheidung, Honecker abzusetzen. Anwesend waren „vor allem“ Lorenz, Schabowski, Herger und Mielke.151 Lorenz meinte später selbstkritisch, man habe dabei jedoch „kein tragfähiges und weitreichendes Konzept“ gehabt.152 Das drückte sich auch in der Meinung Schabowskis aus, Krenz sei der richtige Mann für eine Veränderung der Kräftelage im Politbüro, nur für ihn gebe es hier eine Mehrheit als Nachfolger Honeckers.153 „Hirn des Umsturzes“ wurde Herger.154 Er war als Abteilungsleiter für Sicherheit des ZK der SED Krenz direkt unterstellt und Ansprechpartner für die Sicherheitskräfte. Er hielt Kontakt zu Schwanitz, der ähnlich wie er eine Reform befürwortete,155 und beauftragte SED - Funktionäre 145 Zentraler Runder Tisch, 10. Sitzung am 29. 1. 1990, Information : 10/2. Wolfgang Herger ( ACDP, 3547). 146 Vgl. Mittag, Um jeden Preis, S. 29. 147 Vgl. Schell / Kalinka, Stasi und kein Ende, S. 296. 148 Wolf, In eigenem Auftrag, S. 208 f., meint, Krenz verschweige die Rolle Mielkes bei der Absetzung Honeckers „aus gutem Grund“. 149 Vgl. Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 150 Vgl. Schell / Kalinka, Stasi und kein Ende, S. 76 f.; Die Welt vom 21. 5. 1990. 151 Inter view mit Wolfgang Herger im Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 112–114. Vgl. Interview mit Alexander Schalck - Golodkowski. In : Die Zeit vom 11. 1. 1991. 152 Lorenz, Die Faust leider nur in der Tasche, S. 154. 153 Vgl. Schabowskis, Der Absturz, S. 231. 154 Interview mit Wolfgang Herger. In : Vollain, Die Revolution, S. 126. 155 Aussage Wolfgang Schwanitz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 224.

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seiner Abteilung mit entsprechenden Ausarbeitungen. Da er gewaltsame Entwicklungen befürchtete, betrieb er aus einem „veränderten Grundverständnis heraus“ nun „aktiv“ Honeckers Ablösung.156 Unterstützt wurde er von NVA General Werner Hübner, der ebenfalls als Vordenker im ZK - Apparat galt und Vorschläge zur Reduzierung der Militarisierung der Gesellschaft gemacht hatte.157 Am 1. September meldete ADN, Honecker habe das Krankenhaus verlassen und einen Genesungsurlaub angetreten. Am 5. September erklärte er im „Neuen Deutschland“, die DDR sei ein „Staat mit einem funktionierenden, effektiven sozialistischen Gesellschaftssystem, das sich mit den in ihm verwirklichten Menschenrechten auch an den Herausforderungen der 90er Jahre bewähren“ werde.158 Hoffnungen setzte er auf einen Besuch Jegor Ligatschows am 13. September in der DDR. Der Besuch des Hardliners im ZK der KPdSU diente der Unterstützung Honeckers. Im DDR - Fernsehen erteilte Ligatschow der Wiedervereinigung eine deutliche Absage.159 Gorbatschow konnte die Visite als Versuch der Schaffung einer Achse systemkonservativer Kräfte deuten. Um seine Macht zu festigen, setzte er am 21. September eine weitere Machtverschiebung im Politbüro der KPdSU zu seinen Gunsten durch. Drei Vollmitglieder und zwei Kandidaten, die als Reformgegner galten, gingen in den Ruhestand.160 Damit wurden Spekulationen beendet, wie lange Gorbatschow sich halten werde. Unterdessen war aus Sicht der KGB - Zentrale die Lage in der DDR „äußerst unruhig“ und die Perspektive ihrer Entwicklung „ziemlich trostlos“. Von den „Reformern“ um Krenz, Herger und Mielke kamen keine Aktionen. Die Lage verschärfte sich durch Honeckers Gesundheitszustand immer weiter.161 Statt ihn zu stürzen, reiste Krenz vom 22. September bis 2. Oktober nach Peking,162 wo er erklärte, man stehe auf der „Barrikade der sozialistischen Revolution auch dem gleichen imperialistischen Gegner“ gegenüber.163 Vor der Reise hatte Herger erneut gedrängt, nach seiner Rückkehr endlich initiativ zu werden.164 Stattdessen sorgte Krenz mit Erklärungen für eine weitere Eskalation. Herger ermutigte Krenz mehrfach, sich offen gegen Honecker zu stellen. Dieser lavierte jedoch, obwohl er Mielkes Unterstützung hatte.165 Reforminitiativen kamen indessen von anderen. Als einer der wenigen SEDTheoretiker übte der Nestor der marxistischen Ökonomie, Jürgen Kuczynski, 156 Zentraler Runder Tisch, 10. Sitzung am 29. 1. 1990, Information : 10/2. Wolfgang Herger ( ALD, LDPD 31829). 157 Vgl. Gysi / Falkner, Sturm, S. 8 und 29. 158 Neues Deutschland vom 5. 9. 1989. 159 Vgl. Aktuelle Kamera vom 14. 9. 1989. Vgl. Neues Deutschland vom 15. 9. 1989. 160 Vgl. FAZ vom 22. 9. 1989. 161 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 162 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 5. 9. 1989, Anlage 1 (SAPMOBArch, SED, J IV, 2/2/2344). 163 Zit. in Informationen des BMB 18 vom 6. 10. 1989, S. 4. 164 Inter view mit Wolfgang Herger. In : Villain, Die Revolution, S. 127. 165 Vgl. Schell / Kalinka, Stasi, S. 296.

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Anfang September Kritik an der Reformunwilligkeit der Führung. In der Westpresse plädierte er für mehr Demokratie und Meinungsstreit und dafür, „vom Kapitalismus zu lernen“. Wenn er die DDR - Zeitungen lese, finde er „nur Kritik am Gegner, aber überhaupt keine kritischen Probleme bei uns wirklich diskutiert“. Die alles seien „Überbleibsel aus der Stalinzeit“.166 Am 1. September erschien in der West - Zeitschrift „Konkret“ ein Beitrag des SED - Ideologen Otto Reinhold. Dieser nannte den Umgestaltungsprozess in der Sowjetunion notwendig und alternativlos. Für die DDR stelle sich die Kernfrage, „was man die sozialistische Identität der DDR nennen könnte“. In dieser Frage gebe es „ganz offensichtlich einen Unterschied zwischen der DDR und anderen sozialistischen Ländern“. Sie alle hätten bereits „vor ihrer sozialistischen Umgestaltung als Staat mit kapitalistischer oder halbfeudaler Ordnung bestanden; ihre Staatlichkeit war daher nicht in erster Linie von der gesellschaftlichen Ordnung abhängig“. Die DDR hingegen sei „nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben ? Natürlich keine.“ Wenn es dem Gegner gelänge, in der DDR eine Entwicklung weg vom Sozialismus hin zu „irgendeiner Form bürgerlicher Ordnung“ zu bewirken, ergäben sich Möglichkeiten, „die DDR zu annektieren, sie heim ins Reich zu führen“.167 Am 21. September berichtete die „Junge Welt“ über eine Rede des stellvertretenden Kulturministers Klaus Höpcke. Dieser regte an nachzudenken, „welche Umstände des Lebens bei uns in diesem oder jenem den Wunsch entstehen lassen, das Land zu verlassen“. Überall, so Höpcke, „bedürfen wir des Gesprächs über Tatsachen und deren Deutung, bedürfen wir des Offenseins für Vorschläge zur Lösung der aufgeworfenen Probleme“. Markus Wolf erklärte in der „Süddeutschen Zeitung“, man müsse über die Ursachen des Weggehens „sehr gründlich nachdenken und auch darüber sprechen“. Die Notwendigkeit von Reformen sah er aber dennoch eher im Westen, da die DDR gegenüber der Bundesrepublik „einen großen Vorsprung“ habe. Es komme in der DDR darauf an, bereits vorhandene „Gesetze unserer sozialistischen Demokratie“ besser zu nutzen. Wolf nannte es seinen Traum, der Sozialismus der DDR möge den Sozialisten der Bundesrepublik als Vorbild dienen.168 Hier zeichnete sich ab, was in der SED an „Reformen“ maximal zu erwarten war. Der Ost - Berliner Bezirksverband des DDR - Schriftstellerverbandes verabschiedete eine Resolution, in der es hieß : „Angesichts der gegenwärtig massenhaften Abwanderungen von DDR - Bürgern können wir offizielle Verlautbarungen nicht hinnehmen, die behaupten, ‚nichts, aber auch gar nichts‘ spreche ‚für die Notwendigkeit einer Kurskorrektur‘. Es ist uns unerträglich, wie die Verantwortung für die Situation abgeschoben wird, obwohl die Ursachen in nicht ausgetragenen Widersprüchen im eigenen Land liegen.“169 166 167 168 169

Zit. in FAZ vom 4. 9. 1989. Inter view mit Otto Reinhold. In : Konkret, (1989) 9, S. 56–59. Süddeutsche Zeitung vom 23. 9. 1989. Zit. in Informationen des BMB 18 vom 6. 10. 1989, S. 3.

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Am 25. September nahm Honecker die Amtsgeschäfte wieder auf. Er wirkte gealtert, seine Kondition war schlecht. Über die Aussprache im Politbüro am 12. September verlor er kein Wort, ließ jedoch seine Absicht erkennen, nach dem 40. Jahrestag eine Problemdebatte zu führen. Aktuell gelte es, für einen erfolgreichen Verlauf des Jahrestages zu sorgen.170 Am 28. September empfing der baden - württembergische Ministerpräsident Lothar Späth Modrow. Die Reise war in einer Situation, in der sämtliche Besuche aus der Bundesrepublik in der DDR von der SED - Führung abgesagt wurden, „fast eine Rebellion“.171 Noch immer war die Lage aus KGB - Sicht „von dem konser vativ - politischen Kurs und autoritär - herrschsüchtigen Führungsstil Honeckers geprägt“, doch hatte man die Direktive, sich nicht einzumischen.172 Ende September ließ Herger eine Erklärung des Politbüros entwerfen, mit der die SED mobilisiert und Veränderungen eingeleitet werden sollten. Mit dem politischen wurde unausgesprochen auch der personelle Kurswechsel angepeilt, um auf die „in Gang gekommene Bewegung zuzugehen, sie nicht antisozialistisch werden zu lassen“. Bei personellen Veränderungen wurden Alternativen außerhalb des Politbüros nicht erwogen, was den begrenzten Veränderungswillen zeigte. Am 2. Oktober brachte Krenz aus Peking Notizen für eine Erklärung des Politbüros mit. Herger drängte Krenz, die Erklärung endlich ins Politbüro zu geben.173 Darin wurde vorgeschlagen, Reisemöglichkeiten einzuräumen und dafür von der Bundesregierung die Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft zu verlangen.174 Am 6. Oktober forderten der stellvertretende Kulturminister Hartmut König und der FDJ - Funktionär Hans - Joachim Willerding nach Absprachen mit Krenz Honecker schriftlich auf, angesichts der Entwicklung sofort eine ZK Tagung einzuberufen.175 Damit reagierte Krenz auf Forderungen aus den Kreisverbänden nach einer vorgezogenen ZK - Tagung. Während die „Reformer“ sich also auf Erklärungen und Papiere beschränkten, in denen zudem nur marginale Veränderungen avisiert wurden, ging die Entwicklung über sie hinweg. Anders als in anderen Ostblockstaaten organisierte sich in der SED kein wirklich kritisches Potenzial.176 Zwar wollte man Honecker nach dem 7. Oktober absetzen,177 dabei ging es aber allein um den Machterhalt, nicht um weit reichende Reformen wie in Polen oder Ungarn.178

170 Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 68; ders., Der Abstieg, S. 231. 171 Modrow, Aufbruch und Ende, S. 11. 172 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 173 Vgl. Werner Hübner in Gysi / Falkner, Sturm, S. 33–38. 174 Vgl. Aussage Wolfgang Hergers. In : Hertle, Der 9. November 1989, S. 29. 175 Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 13; Kai Hermann, Das Stundenbuch einer Revolution 3. In : Der Stern vom 8. 2. 1990. 176 Vgl. Bericht der Enquete - Kommission, S. 209. 177 So auch Harry Tisch. In : Morgenpost am Sonntag ( Chemnitz ) vom 18. 8. 1991. 178 Schabowski, Das Politbüro, S. 76.

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Stimmung an der SED - Basis Die SED - Basis war angesichts der allgemeinen Krisensituation, ähnlich wie die Bevölkerung insgesamt, gespalten. Vor allem jüngere Mitglieder machten ihrer Unzufriedenheit Luft. Teile der einfachen Mitglieder fingen selbst an zu revoltieren, nahmen an Protesten teil und waren zu dem geworden, was die SED - Führung als „Gegner“ bezeichnete.179 Gegenüber der SED - Führung setzte eine Vertrauenskrise ein, die nach Meinung Uschners zu „einer wesentlichen Grundlage und Triebkraft für die Ereignisse im Herbst 1989 und ihren friedlichen Verlauf“ wurde.180 Über wachsende Kritiken in der SED hatte das MfS bereits 1988 informiert, so über Forderungen nach einem Wechsel an der überalterten SEDSpitze und einer Reformpolitik.181 Das Sekretariat des ZK der SED stellte bei seiner Sitzung am 18. Januar 1989 fest, dass sich immer mehr Grundorganisationen von Mitgliedern trennen mussten, die der „gegnerischen Hetze und Demagogie“ erlagen. Immer mehr wurden ausgeschlossen, weil sie „gegen die Generallinie der Partei“ auftraten, die Erfolge der DDR bestritten oder „durch unparteiliches Verhalten, ständiges Nörgeln und Meckern der Partei Schaden zufügten bzw. die DDR verrieten“. Waren 1987 insgesamt 8 865 Personen aus der SED ausgeschlossen bzw. gestrichen worden, waren es ein Jahr später bereits 12 805.182 Vor allem wuchsen die Spannungen zwischen dem bürokratischen Apparat und der Parteibasis sowie zwischen älteren und jüngeren Parteimitgliedern. Für viele jüngere Mitglieder galt Gorbatschow als politischer Hoffnungsträger. Der ehemalige SED - Professor Franz Löser meinte gar, die größte potenzielle Opposition sitze in der SED selbst. Die übergroße Mehrheit der SED - Mitglieder wünsche sich Reformen im Sinne Gorbatschows.183 Das ZK der SED beschloss im Dezember 1988, in der Zeit vom 1. September bis zum 31. Dezember 1989 in allen Grundorganisationen einen Umtausch der Mitgliedsbücher und Kandidatenkarten durchzuführen. Dass es statt des „Gesinnungstests“184 zur Hunderttausendfachen Rückgabe der Mitgliedsbücher kommen würde, ahnte niemand. Nach der 8. ZK - Tagung im Frühjahr 1989 mehrten sich die Hinweise aus den SED - Grundorganisationen über eine Verschlechterung der Stimmung.185 Im Sommer herrschte verbreitet Resignation. Funktionäre in den Kreisen zeigten wenig Neigung, an der Basis die offizielle Argumentation zu vertreten, wonach Hauptgrund der Krise „nicht zuallererst ungelöste Fragen unserer Entwicklung“, sondern „der Generalangriff des Imperialismus“ sei.186 Die SED - Kreisleitung Riesa berichtete, dass die „Genossen 179 180 181 182 183 184 185 186

So Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 396. Uschner, Die zweite Etage, S. 135. BVfS Leipzig vom 5. 12. 1988 : Reaktionen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/1, Bl. 34–42). Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 18. 1. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, 2/3/4350). Vgl. Interviews mit Franz Löser und Wolfgang Seiffert. In : Bild vom 6. 10. 1989. Fricke, Zwischen Stagnation, S. 16. Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 26. SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218).

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viele innen - und außenpolitischen Probleme und Fragen bewegen, auf die sie zum Teil allein keine erschöpfende Antwort finden“. Es mehrten sich Austrittserklärungen ohne Angabe von Gründen.187 Überall fühlten sich Funktionäre allein gelassen. Sie konnten Fragen nicht beantworten und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Es gebe, so das MfS in Eilenburg, „ernst zu nehmende Erscheinungen des Austritts aus der Partei“. Dabei handele es sich „vielfach um bewährte Genossen“. Die Funktionäre fühlten sich „von der Partei alleingelassen“. In der Führung seien „keine Repräsentanten mehr“. Vieles, was sie sagten, sei nicht glaubwürdig. Sie seien zu alt. Unter den Kollegen werde man als Genosse „als Narr bezeichnet, dem man den Verstand verkleistert“ habe. Ältere Genossen hätten angesichts der Verhältnisse „Tränen in den Augen“.188 Gegenüber der SED, so ein Bericht aus Auerbach, herrsche derzeit eine „sehr schlechte Stimmung“. Die Argumente der Partei würde „immer mehr als unglaubwürdig abgetan“.189 Vom 1. Januar bis 15. Juni 1989 traten im Bezirk Leipzig 998 Personen aus der SED aus, 695 wurden ausgeschlossen.190 Einige Mitarbeiter von Leipziger Stadtbezirksleitungen der SED wurden wegen ihrer Proteste gegen das Massaker in Peking ihrer Posten enthoben und in niedrigere Positionen versetzt. Überall wurden die unglaubwürdige Medienberichterstattung und das Schweigen der SED - Führung kritisiert. „Warum“, so SED - Funktionäre und Mitglieder in Annaberg, „schweigen wir uns zu diesem Problem aus ? Warum gibt es nicht einmal interne Parteiinformationen für die Argumentationen der Genossen ? [...] Warum reagiert das ZK nicht?“191 Auch im VEB Dampfkesselbau Meerane fühlten sich die Mitglieder an der Basis allein gelassen und meinten, Staats - und Parteiführung interessiere sich nicht für ihre Sorgen und Probleme.192 Mitglieder im VEB Kunstleder Tannenbergsthal äußerten, die Partei habe die Verbindung zur Basis verloren; deren Belange interessierten in der SED - Kreisleitung niemanden.193 Bei einer SED - Versammlung in Aue wurde in einer „gereizten Atmosphäre“ kritisiert, dass die Gründe für die Ausreisewelle allein auf den „Klassengegner“ abgeschoben würden. Man solle über eigene Fehler und Missstände nachdenken.194 Als charakteristisch für die Meinung von SED - Arbeitern größerer Betriebe bezeichnete das MfS in Annaberg die Meinung des langjährigen Kommandeurs einer Kampfgruppenhundertschaft des VEB Geräte - und 187 SED - KL Riesa vom 7. 9. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - KL Riesa, IV / E - 4.013/105). 188 KDfS Eilenburg vom 11. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 18– 20). 189 KDfS Auerbach vom 29. 8. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 208– 212). 190 KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 109–112); SED - KL Altenburg vom 16. 8. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 22–27). 191 KDfS Annaberg vom 31. 8. 1989 : Meinungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 171–173). Vgl. KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 119–124). 192 KDfS Glauchau vom 20. 9. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 56 f.). 193 KDfS Klingenthal vom 19. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 19). 194 KDfS Aue vom 19. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 125–131).

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Werkzeugbau Wiesa und Träger der Kampfordens „für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Gold, Hanke : „Wann werden wir endlich begreifen, dass die Partei für das Volk da ist und nicht umgedreht? Viele Funktionäre sind überheblich und arbeiten losgelöst von den Arbeitern.“195 Die meisten Mitglieder wollten besser über das Neue Forum informiert werden, um in Diskussionen mitreden zu können.196 Einige Genossen versuchten von sich aus, das Ruder herumzureißen. So gingen im VEB Schlacht - und Verarbeitungsbetrieb Dresden und im VEB Kombinat Germed Radebeul anonyme Briefe einer „Gruppe der Genossen der SED im Aufbruch“ ein, in denen „Angehörige der Schutz - und Sicherheitsorgane“ aufgefordert wurden, „die Reaktionäre“ an der SED - Führung „zu entmachten und die Erneuerung in Partei und Staatsapparat zu gewährleisten“.197 Damit wurden die MfS - Mitarbeiter angesprochen, unter denen die Stimmung auch nicht besser war. Gegenüber Mielke erklärte der Leiter der Bezirksver waltung des MfS Leipzig, Hummitzsch, am 31. August, es gebe „miese Stimmungen auch innerhalb der Parteiorganisation“ des MfS.198 Schon zuvor war in der „Runden Ecke“ ( Sitz der Bezirksverwaltung des MfS ) moniert worden, dass die Genossen an der Basis derzeit auf vieles keine Antwort wüssten. Die Position der Partei zu vielen Fragen sei nicht klar.199 Von einer Vorreiterrolle im Sinne von Reformveränderungen, wie sie das KGB in der Sowjetunion gespielt hatte, aber war das MfS weit entfernt. Am 22. September schickte Mielke an elf Mitglieder des Politbüros ( nicht an Honecker ) eine Analyse über die Situation in der SED. Demnach äußerten sich „zahlreiche, vor allem langjährige Parteimitglieder, sehr besorgt über die gegenwärtige allgemeine Stimmungslage unter großen Teilen der Bevölkerung, besonders in den Betrieben, teilweise verbunden mit ernsten Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Erhaltung der politischen Stabilität der DDR“. Die Rede war von einer „erheblichen Zunahme von durch Unwillen und Unzufriedenheit gekennzeichneten, in immer aggressiverem Ton geführten Diskussionen im Zusammenhang mit der Versorgungslage und der Lage im Dienstleistungsbereich, der Lohn - Preis - Politik, der materiell - technischen Sicherstellung der Produktion, zunehmenden Erscheinungen von Passivität und Gleichgültigkeit unter Werktätigen gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Leben in der DDR insgesamt und im Territorium, dem weiteren Rückgang von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft, der erheblichen Zunahme von Erscheinungen des Spekulantentums und der Korruption“. Die Unzufriedenheit sei auch bei zahlreichen Parteimitgliedern vorhanden, die „sich damit kaum noch von Parteilosen unterscheiden“. Verstärkt werde die Parteiführung für die Situation ver195 KDfS Annaberg vom 12. 9. 1989 : Lageeinschätzung ( ebd. 529, 1, Bl. 102–106). 196 Vgl. KDfS Hainichen vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 89–98). 197 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 314–319). Vgl. SED - KL Freital vom 12. 10. 1989 : VVS 30/89 ( SächsHStA, SED - KL Freital, IV / E4./05); Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). 198 MfS, ZAIG, B /215 vom 31. 8. 1989, Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit. Zit. bei Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 127. 199 Vgl. BVfS Leipzig vom 27. 7. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 98–102).

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antwortlich gemacht und ihr angesichts des greisen Alters die Kompetenz zur Lösung der Probleme abgesprochen. Überall zeichne sich ein Vertrauensschwund zwischen Volk und Partei ab, die Zahl der Austritte aus der SED nehme schnell zu. Kritisiert wurde auch die Medienberichterstattung, die trotz der allgemein bekannten Probleme das Bild einer heilen Welt zeichne.200 Nach Aussagen von Schwanitz regierte das Politbüro nicht einmal auf die Analyse.201 Aber nicht alle SED - Mitglieder waren mit dem Kurs unzufrieden. Vielmehr zeichnete sich eine Polarisierung ab. Vor allem ältere Mitglieder forderten „konkrete Maßnahmen zur Unterbindung der feindlichen Aktivitäten“.202 Es gab Äußerungen wie „man müsse als Kommunisten enger zusammenrücken“. Demonstrationen wie in Leipzig sollten „bereits im Keim erstickt werden“.203 2.4

Blockparteien und Massenorganisationen : LDPD als Reformkraft

Während sich die Stimmung an der SED - Basis verschlechterte, wurde sie in den Blockparteien besser. Die Bereitschaft zur Mitarbeit in der Nationalen Front sank rapide,204 dagegen war die Lage in den Blockparteien von wachsender Kritik und Polarisierung geprägt. Sowohl Oppositionskräfte als auch die SED versuchten, sie in der zugespitzten Situation für ihre Ziele zu nutzen. In der thüringischen Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ forderte Chefredakteur Gottfried Müller Ende August, die Blockparteien müssten aktiver werden und „ihren Arbeitsstil den gestiegenen Anforderungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung“ anpassen.205 „Kräfte des politischen Untergrundes“ testeten in Leipzig, „inwieweit das Potenzial der in den befreundeten Parteien zusammengefassten Kräfte für politisch - negative und feindliche Aktivitäten missbraucht werden“ könne.206 In Coswig ( Meißen ) luden der ev. - luth. und der katholische Pfarrer die Ortsvorsitzenden der SED und der Blockparteien sowie die Leitung der Nationalen Front zum Gespräch über eine Demokratisierung der Wahlen und Eigenständigkeit der Parteien ein. SED und MfS beschlossen wie üblich sofort Maßnahmen „der weiteren Differenzierung und Zurückdrängung“ dieser Kräfte mit Hilfe der „spezifischen Kräfte und Mittel“ des MfS.207 Umgekehrt bemühte sich die SED - Führung, ihre Zwangspartner für sich zu instrumentalisieren. Mielke stellte klar, dass die Art der Zusammenarbeit mit 200 MfS, Beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern und Funktionären der SED zu einigen aktuelleren Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben. Zit. bei Wolle, Der Weg, S. 86. 201 Vgl. taz vom 8. 12. 1989. 202 KDfS Glauchau vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 47–50). 203 KDfS Zwickau vom 15. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 1823, 1). 204 Vgl. KDfS Annaberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 92–97). 205 Zit. in Informationen des BMB 16 vom 8. 9. 1989, S. 3. 206 BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23–28). 207 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 329–334).

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ihnen „Ausdruck unseres Pluralismus“ sei und man nicht beabsichtige, „Oppositionsparteien im Sozialismus zuzulassen“. Die SED bleibe die führende Kraft.208 Dieser Kurs fand unter vielen Blockfunktionären Zustimmung, was insofern kein Wunder war, wurden die wichtigsten von ihnen doch „erst eingestellt bzw. berufen, wenn das MfS dazu keine Einwände“ hatte.209 So lobte der CDU - Bezirksvorsitzende von Karl - Marx - Stadt, Klaus Reichenbach, noch am 28. September im SED - Blatt „Freie Presse“ die Unterordnung der CDU unter die SED als optimales Modell und wies Versuche zurück, den diktatorischen Sozialismus zu beseitigen. Ausschüsse der Nationalen Front und Gruppen der Massenorganisationen forderten, der „Missachtung der bewährten politischen Ordnung“ durch die Vorgänge an der Leipziger Nikolaikirche ein Ende zu setzen.210 Die Bezirksverwaltung des MfS Leipzig schätzte Ende September ein, dass die meisten Mitglieder von Blockparteien „die grundlegenden Fragen der Gesellschaftsstrategie und der sozialistischen Entwicklung der DDR anerkennen und unterstützen“, allerdings gebe es auch andere Meinungen, die bis zur Behauptung reichten, die SED werde ihrer Führungsrolle nicht mehr gerecht. Außer in der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands werde kritisiert, „dass die Bündnispolitik zu einseitig, nur im Sinne der SED“ sei. Sie bestehe vor allem in der „Übermittlung getroffener Festlegungen“. Ein Mitspracherecht sei „so gut wie nicht vorhanden“. Mitglieder und Funktionäre forderten mehr Eigenständigkeit ihrer Parteien. Vor allem aber gebe es hinsichtlich der Wirtschaftspolitik zahlreiche Kritiken an der Subventionspolitik, der fehlenden Leistungsentlohnung, der Benachteiligung des privaten Handwerks, der fehlenden Flexibilität der Planwirtschaft, der Arbeitszeitauslastung und den Lücken in der Versorgung.211 Zwischen den Blockparteien gab es deutliche Unterschiede. LDPD : Die Situation in der LDPD unterschied sich von der anderer Blockparteien insofern, als hier Parteichef Manfred Gerlach selbst treibende Kraft im Sinne einer Reform des Sozialismus war. Ihm wurden seit den frühen 50er Jahren gute Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst nachgesagt,212 was zum einen erklären würde, dass er von der SED - Führung kaum angegriffen wurde, zum anderen, warum er sich intensiv für den sowjetischen Kurs starkmachte. Bereits im September 1988 legte er ein Reformprogramm vor, in dem eine neue Wirtschafts - und Medienpolitik sowie eine Demokratisierung nach sowjetischem Vorbild gefordert wurde. Im Dezember verlangte er eine Erneuerung der Zusammenarbeit im Block.213 Im Frühjahr 1989 konstatierte das MfS in Sachsen eine Zunahme kritischer Meinungsäußerungen von LDPD - Mitgliedern im 208 Referat Mielkes am 29. 6. 198. Zit. bei Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 615 f. 209 BVfS Berlin vom 27. 11. 1987 : Lage in befreundeten Parteien. Zit. bei Wolle, Der Weg, S. 89. 210 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 29. 9. 1989. 211 BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23–28). 212 So Wolfgang Seiffert gegenüber dem Autor. 213 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 216 f., 240.

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Sinne von Glasnost und Perestroika.214 In den Jahreshauptversammlungen wurden Anfang 1989 fehlende Diskussionen zu politischen Fragen, mangelnder Umweltschutz, schlechte Versorgung, eine lückenhafte Materialbereitstellung im Handwerk sowie der Stand der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes bemängelt. Mitglieder zeigten sich gegenüber dem „kapitalistischen System“ aufgeschlossen und diskutierten offen kommunalpolitische Probleme. Vereinzelt wurde, wie durch den Vorsitzenden der Ortsgruppe Eibau, nicht nur die Wirtschaftspolitik der SED kritisiert, sondern deren Vorbildrolle bezweifelt.215 Noch musste man seine Worte mit Bedacht wählen, war die führende Rolle der SED doch Verfassungsgrundsatz und ihre Infragestellung konnte strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Rückendeckung erhielt die Basis vom LDPD - Zentralvorstand, der im Frühjahr ein „Vorschlagpaket“ zu gesellschaftlichen Veränderungen vorbereitete, das dem SED - Politbüro übergeben werden sollte. Darin wurde der Reformkurs in der UdSSR unterstützt. Die LDPD - Führung forderte mehr Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit der Kombinate und Betriebe, die Einheit von materieller und finanzieller Planung, die Produktion der „1000 kleinen Dinge“ durch private Betriebe, eine am Bedarf der Bevölkerung orientierte Konsumgüterproduktion, die Organisierung einer sozialistischen Konkurrenz zur Stimulierung der Arbeitsleistungen, eine offenere und kritischere Medienpolitik sowie eine stärkere Beteiligung der Blockparteien an der Entscheidungsfindung. Die LDPD wolle nicht weiterhin nur Erfüllungsgehilfe der SED sein.216 Auf der Sitzung des Politischen Ausschusses der LDPD am 11. April versuchte Gerlach erneut, die Partei „vom Reformkurs auf Oppositionskurs zum SED Regime, nicht zum sozialistischen System, zu bringen“. Er forderte Perestroika und Glasnost in der DDR. Die LDPD müsse sich für eine strikte Anwendung des Leistungsprinzips, eine grundlegende Verbesserung der Versorgungslage, eine Umgestaltung der Informations - und Medienpolitik und Demokratisierung einsetzen. Ebenso sollte die LDPD die Möglichkeiten des Mehrparteiensystems ausloten. Während die Anwesenden den Vorschlägen mehrheitlich zustimmten, äußerten vor allem Rudolf Agsten und Hans - Joachim Heusinger Bedenken, sich vom bisherigen Kurs der Unterordnung zu lösen.217 Das Ergebnis war die Erarbeitung eines abgeschwächten Maßnahmenpaketes, mit dem sich der Politische Ausschuss am 16. Mai beschäftigte. Auf einer Bezirksarbeitstagung am 26. April in Karl - Marx - Stadt forderte Gerlach erneut, die LDPD müsse Flagge zeigen. Seine Rede wurde zensiert und ohne brisante Passagen gedruckt.218 Bei den Kommunalwahlen weigerten sich LDPD - Mitglieder, als Wahlhelfer tätig zu sein, da man, wie in Leipzig, „bei der letzten Volkswahl persönlich schlechte Erfah214 Vgl. KDfS Eilenburg vom 3. 3. und 22. 3. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 8/1, Bl. 27–33). 215 KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 68– 74). 216 BVfS Rostock vom 17. 3. 1989 : Blockparteien. Zit. in Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 69–72. 217 So Gerlach, Mitverantwortlich, S. 246–250. 218 Vgl. ebd., S. 253 f.

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rungen hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgesetzes gemacht“ habe.219 Am 13. Juni beschäftigte sich der Politische Ausschuss mit den Kommunalwahlen. Bezirksvorsitzende und die Vertreter der LDPD in der Leitung der Nationalen Front berichteten über stapelweise Eingaben sowie über Versammlungen, in denen konkrete Fälle von Wahlfälschungen dokumentiert wurden. Die Parteiführung beantragte daraufhin beim Sekretär der Wahlkommission eine Überprüfung und unterbreitete Krenz Vorschläge für ein neues Wahlgesetz. Diese fanden in der SED - Führung jedoch keine Beachtung. Mit einer kritischen Rede versuchte Gerlach, die LDPD gegen Widerstände in der eigenen Führung auf Oppositionskurs zu bringen und die Möglichkeiten eines Mehrparteiensystems auszuloten.220 Allerdings verständigte sich der Zentralvorstand der LDPD darauf, politisch initiativ zu werden, da die SED „führungs - und sprachlos“ sei.221 Verbündete in den Führungen der anderen Blockparteien waren nicht zu gewinnen. Nach einer Rede auf der Zentralvorstandssitzung am 14. Juni veröffentlichte die LDPD am 21. Juni einen Aufsatz Gerlachs zum 75. Todestag von Bertha von Suttner. Hier hieß es, ihr neues Denken habe darin bestanden, Klischees und „ewige Wahrheiten“ zu verabschieden. Sie habe „quer gedacht“. „Irrtümer waren nicht ausgeschlossen; sie wird es immer dann geben, wenn Positionen kritisch überprüft und politische Alternativen entworfen werden.“ Sie wollte „Taubheit und Blindheit der Welt gegenüber Dingen, die sie nicht gern hört und sieht“, überwinden und „Meinungen umstimmen, die bislang unantastbar geherrscht haben“. „Lassen wir uns von diesem Geist inspirieren ! Schätzen wir ‚Querdenker‘; geben wir ihnen eine politische Heimat.“222 Am 17. Juli beschlossen Gerlach und der Chefredakteur des LDPD - Zentralorgans „Der Morgen“ eine schrittweise Öffnung der Zeitung für verschiedene Meinungen und kritische Stellungnahmen. Der Kurs auf Erneuerung des Sozialismus sollte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.223 Schon bislang hatte sich „Der Morgen“ durch einen guten Kulturteil ein wenig aus der tristen Medienlandschaft herausgehoben. Nun wurde die Zeitung zum Sprachrohr von Veränderungen im sozialistischen Rahmen. In der Folgzeit wurden überall in der LDPD verstärkt Probleme angesprochen und mehr Mitsprache gefordert. Auch Mitglieder und Funktionäre an der Basis forderten ein Abrücken von der Zusammenarbeit mit der SED und mehr Eigenständigkeit. Sie fühlten sich in einer „Vorreiterrolle“, die teilweise auf ein „Selbstverständnis als Opposition“ hinauslief. Gefordert wurden die Bildung von Fraktionen und die Abschaffung der Nomenklatur bei Wahlen. Das MfS schätzte Ende September ein, dass zwar seitens leitender Gremien der LDPD 219 BVfS Leipzig vom 8. 3. 1989 : Mangelnde Bereitschaft von Mitgliedern der LDPD zur aktiven Teilnahme an der Vorbereitung der Volkswahlen am 7. 5. 1989. In : Sélitrenny / Weichert, Das unheimliche Erbe, S. 218. 220 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 246–256. 221 Interview mit Manfred Gerlach. In : Westfälische Rundschau vom 28. 10. 1989. 222 Gerlach, Mitverantwortlich, S. 257 f. 223 Vgl. ebd., S. 256 f.

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keine Bestrebungen in Richtung einer Oppositionspartei vorhanden seien, deren Politik jedoch anrege, „Aktivitäten auszulösen, die dem Vorfeld einer Opposition einzuordnen sind“.224 In mehreren Kreisen kam es, wie in Hohenstein - Ernstthal, zu politisch motivierten Austritten aus der LDPD. Als Gründe wurden ausbleibende Reformen und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen sowie Angebots - und Versorgungslücken genannt. Das Bündnis mit der SED wurde als „belastend für die anderen Parteien“ bezeichnet.225 Einzelne Funktionäre gingen bereits Schritte in Richtung einer stärkeren Eigenständigkeit der Partei. Der Kreissekretär der LDPD Löbau, Füssel, ließ im August alle Sekretäre der Ortsgruppen sowie die Mitarbeiter des Kreisvorstandes Schweigeverpflichtungen unterschreiben, wonach parteiinterne Informationen nicht an andere Personen weitergegeben werden durften.226 Diese Aktion zielte direkt gegen SED und MfS. Am 12. September verabschiedete der Parteivorstand ein politisches Kommuniqué, in dem es hieß, die SED führe nicht und zeige keine Gesprächsbereitschaft. Der Parteivorstand habe deswegen eine Strategiekommission gegründet. Man sei zwar für Sozialismus, „aber anders“.227 Die Erklärung fand ebenso Widerhall in den Kreisen wie eine Rede Gerlachs am 19. September.228 Hier hieß es : „Die DDR braucht Fragende, Ungeduldige, Neugierige; sie braucht jeden, der sich an der ‚Normalität‘ reibt und so hilft, Neues zu entdecken und durchzusetzen.“ Gerlach begrüßte die Politik Gorbatschows, die „günstige Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus schaffen“, „Verkrustungen aufbrechen“ und „die Deformation der Gesellschaft überwinden“ wolle. Die LDPD engagiere sich für „eine kollegiale Demokratie, die Erfahrungsvielfalt reflektiert, die Meinungspluralismus fördert, die den öffentlichen politischen Dialog produktiv macht“.229 Zugleich bestätigte er die Anerkennung der führenden Rolle der SED. Dem Vorstoß Gerlachs war ein Beschluss der Parteiführung vorausgegangen, wonach die LDPD, weil „die SED führungs - und sprachlos war, in die Bresche springen“ müsse. Gerlachs Bitte an den CDU - Vorsitzenden Gerald Götting, ihn zu unterstützen, wurde von diesem brüsk zurückgewiesen. Vermutungen, der LDPD - Vorsitzende sei von der SED oder „sonst wem“ vorgeschickt, um Kurskorrekturen einzuleiten, bezeichnete Gerlach als „erfunden“. Vielmehr habe er sich bereits seit etwa zehn Jahren vergeblich für eine Demokratisierung der Gesellschaft eingesetzt.230 Im Kreis Altenburg lasteten LDPD - Funktionäre der SED alle Probleme im Territorium an und forderten mehr Mitbestimmung. In Döbeln erklärte der Kreissekretär, die LDPD sei „die einzige Partei“, die „die wahren Interessen 224 BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23–28). 225 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 31. 8. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 104 f.). 226 Vgl. KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 68–74). 227 SED - SBL Leipzig - Mitte vom 22. 9. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 885). 228 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 270 f. 229 Der Morgen vom 20. 9. 1989. 230 Interview mit Manfred Gerlach. In : General - Anzeiger vom 28./29. 10. 1989.

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gegenüber der Staatsführung durchsetzen“ könne. Die Politik der SED entspreche nicht mehr den Interessen der Bevölkerung. Das hörte sich schon an wie Wahlkampf. Im Kreis Geithain vertraten LDPD - Abgeordnete und der Kreissekretär Ende September Positionen der „Grünen“, die „unterschwellig oppositionellen Charakter“ trugen.231 Der Kreisvorstand in Eilenburg kritisierte „heftig“ die Haltung der SED, die LDPD werde „nicht mehr richtig akzeptiert“. Die SED - Führung sei in einer „ausweglosen Situation“. Daher müsse die LDPD dem ZK der SED konzeptionelle Vorschläge unterbreiten. Bisher habe man auf Vorschläge nicht einmal eine Antwort erhalten. Man erkenne die führende Rolle der SED zwar weiterhin an, fordere aber mehr Anteil an der Entscheidungsfindung.232 „Der Morgen“ veröffentlichte am 30. September eine Rede Gerlachs, in der es hieß : „Widerrede ist nicht Widerstand.“ Die Liberaldemokraten erfülle es mit Sorge, „dass sich politische Wachsamkeit auch gegen Bürger zu kehren beginnt, die sich, ihrem demokratischen Verständnis von Humanismus folgend, kooperativ an der Gestaltung des Sozialismus beteiligen wollen, aber Gefahr laufen, als Quertreiber ausgegrenzt zu werden“.233 Nach den Äußerungen ließ der Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, Werner Großmann, bei Gerlach anfragen, was er tun könne, um seinen Kurs „auch gegen das ZK“ zu unterstützen.234 Anders war die Reaktion des Politbüros. Am 2. Oktober griff Joachim Herrmann Gerlach an. Während der Gegner zur „Großoffensive“ antrete, mache Gerlach gegen die SED Front. Statt die Einheit aller Kräfte unter Führung der SED zu fördern, zerstöre er sie. Auch Honecker kritisierte Gerlach. Er habe gehört, „die FDP“ ( sic !) wolle sich nicht mehr an die Blockbeschlüsse halten. Gerlach solle sich alles noch einmal überlegen; keiner dürfe jetzt ausscheren. Honecker informierte die 1. SED - Bezirkssekretäre über Gerlachs Haltung und kritisierte sie scharf.235 CDU : Anders als in der LDPD gingen vom CDU - Hauptvorstand bis in den Herbst 1989 keinerlei Reformimpulse aus. Hier war es die Basis, die bereits seit 1986 Veränderungen einforderte.236 Im Bezirk Dresden waren dies z. B. 1988 die CDU - Ortsgruppen Großenhain, Radebeul, Zittau, Coswig und Meißen. Anfang des Jahres 1989 registrierte das MfS die Absicht der Exil - CDU, „vielfältige Verbindungen vor allem an der Basis zu nutzen, um ‚die CDU in der DDR zu stärken‘ und sie – wie sie sagen – zu einem wichtigen Reformpotenzial zu einer demokratisch - alternativen Kraft gegenüber der ‚herrschenden SED‘ zu entwickeln.“237 Messbare Ergebnisse hatten diese Bemühungen nicht. 231 232 233 234 235 236 237

BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23–28). KDfS Eilenburg vom 21. 9. 1989 : Info ( ebd., KDfS Eilenburg 8/1, Bl. 2–3). Der Morgen vom 30. 9. 1989. So Gerlach, Mitverantwortlich, S. 301. Zit. bei Gerlach, Mitverantwortlich, S. 273–277 und 287. Vgl. Richter, Zur Entwicklung der Ost - CDU, S. 116 f. MfS, Auszug aus dem Referat Mielkes auf der Dienstbesprechung am 28. 4. 1989 ( BStU, ZA, RS 675, Bl. 71).

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Die CDU - Bezirksvorstände lagen mehrheitlich auf Linie, allerdings gab es auch hier Bestrebungen nach mehr Eigenständigkeit. Selbst im Hauptvorstand registrierte das MfS im Frühjahr 1989 solche, die jedoch, anders als in der LDPD, keine Chance hatten, sich gegen die SED - treuen Funktionäre um Götting durchzusetzen.238 Der Bezirksvorsitzende der CDU von Karl - Marx - Stadt, Klaus Reichenbach, sprach sich im Januar 1989 dagegen aus, die Blockparteien als „Oppositionsbasis gegen die SED“ zu nutzen. Entsprechende Diskussionen gab es im Kreis Schwarzenberg, ohne dass sich damit nennenswerte „oppositionelle Zielstellungen“ verbanden. „Die Mehrheit der Parteimitglieder“, so ein IM - Bericht, „wende sich gegen derartige Tendenzen“.239 „Negativ“ in Erscheinung traten einige CDU - Mitglieder bei den „Kommunalwahlen“ im Mai 1989. In Rötha ( Borna ) nominierte die CDU ein aktives Mitglied des Kirchenvorstandes als Kandidaten. In Dresden wurde der Redakteur der CDU - Zeitung „Die Union“, Andreas Helgenberger, entlassen, weil der den Formalismus der Volksaussprache im Vorfeld der Wahl kritisierte. Ein CDU - Kandidat für die Gemeindevertretung in Löbnitz ( Delitzsch ) erklärte, nach der Wahl den Genossen das Leben schwer machen zu wollen. Es gebe „in der DDR keine Demokratie“.240 Solche Aktionen waren jedoch die Ausnahme. Mehrheitlich wurden zwar Kritiken formuliert, wie es sie in der gesamten Bevölkerung gab, die führende Rolle der SED aber wurde, vor allem durch Funktionäre, im Frühsommer noch „vollinhaltlich akzeptiert“. Die Parteiarbeit der Blockparteien sei, so die MfS - Kreisdienststelle Eilenburg zufrieden, „ausgerichtet auf die Durchsetzung der Beschlüsse und Dokumente der SED“. Bestrebungen zur Eigenständigkeit gebe es nicht.241 Die Massenflucht und die im September vor allem in Leipzig verstärkte Protestbewegung veränderte auch die Lage in der CDU. Hier wurde der „Brief aus Weimar“ vom 10. September zum „Fanal des Aufbegehrens der Basis gegen die Parteileitung und gegen die SED“. In dem Brief, veröffentlicht auf der Eisenacher Synode des Bundes Evangelischer Kirchen, forderten die Akteure Reformen der sozialistischen Gesellschaft und eine Eigenständigkeit der CDU.242 Der Brief wurde in den Kreisverbänden intensiv diskutiert und löste Stellungnahmen aus.243 Am 19. September, noch während der Synode, wies die CDU - Führung den Brief zurück.244 Zum von Götting angestrebten Parteiausschluss der Autoren kam es jedoch nicht, da einige Mitglieder des Hauptvorstandes darin angesichts der Resonanz auf den Brief ein falsches Signal sahen. Stattdessen fand am 238 Vgl. Richter, Aufbruch an der Basis, S. 197, 204. 239 KDfS Schwarzenberg vom 15. 2. 1989 : Info von IM „G. Rau“ zur CDU ( BStU, ASt. Chemnitz, Sb 53). 240 BVfS Leipzig vom 23. 3. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 2–9). 241 KDfS Eilenburg vom 22. 3. 1989 : Einschätzung ( ebd., KDfS Eilenburg 8/1, Bl. 27–29). 242 Vgl. Agethen, Unruhepotentiale, S. 94. 243 Vgl. KDfS Zwickau vom 2. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 54– 56). 244 Vgl. Neue Zeit vom 19. 9. 1989.

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26. September ein einlenkendes Gespräch statt.245 Dabei handelte es sich um Hinhaltetaktik. Die CDU - Führung dachte nicht daran, von ihrem Kurs Abstand zu nehmen. Dies bezeugen interne Schreiben des Hauptvorstandes an alle Bezirkssekretariate. Hier hieß es, in der DDR bestünden „alle politischen, gesetzlichen und organisatorischen Voraussetzungen“ für eine Mitarbeit. Die CDU sei keine „nachgeordnete Partei“, vielmehr arbeite sie völlig gleichberechtigt und gleichverpflichtet mit.246 Mit ihrer unbeweglichen Haltung verschenkte die CDU - Führung so die – von der LDPD - Führung in ihrer Partei genutzte – Möglichkeit, einen ersten Schritt zur Überwindung der extremen Polarität zu tun, die es zwischen ihr und der Parteibasis gab. Es kennzeichnete die neue Situation, dass die Haltung der Führung an der Basis kaum noch Beachtung fand. Ungeachtet aller Restriktionsdrohungen ging, angeregt durch den „Brief aus Weimar“, die Diskussion weiter. Beim Hauptvorstand häuften sich Briefe, in denen sich Mitglieder, Ortsgruppen und Kreisvorstände die Forderungen des Reformpapiers zu eigen machten.247 Die CDU - Basis begann ein Eigenleben zu entwickeln, wies es dies seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. In Diskussionen entwickelte sich bereits das programmatische Gerüst für die folgende innerparteiliche Demokratisierung. Auch organisatorische Änderungen des Parteiaufbaus standen bereits auf der Agenda. Verlangt wurde erstmals ein vorgezogener Parteitag und der Rücktritt der gesamten Parteiführung.248 In Sachsen erklärte z. B. der Kreisvorstand Eilenburg, den das MfS im Frühsommer noch als besonders linientreu eingeschätzt hatte, die CDU verstehe sich als eigenständige Partei, natürlich im Rahmen der sozialistischen Ordnung.249 Der Kreisvorsitzende von Oschatz, Ulrich Hofmann, nutzte eine Veranstaltung zum Jahrestag, um Kritik an „Unzulänglichkeiten“ in Wirtschaft und Gesellschaft zu üben.250 Die Ortsgruppe Aue forderte, die Partei müsse „deutlicher ihr eigenständiges Profil erkennen“ lassen, damit nicht der Eindruck ihrer „Nachordnung“ entstehe. Es gehe um einen eigenen Beitrag der CDU „zur Erhöhung der Attraktivität des Sozialismus“.251 Auch im Kreisverband Auerbach gab es einen Flügel, der SED und Blockpolitik unterstützte und einen anderen, der eine eigenständige CDU - Politik anstrebte.252 Klar zum Ausdruck konnte die zweite Position Ende September noch nicht gebracht werden. Andeutungsweise hieß es in einer Erklärung des Kreisvorstandes von Ende Septem245 Vgl. Akte Weimar ( ACDP, VII 011–3508); Ralf Georg Reuth, Wie de Maiziere an die Spitze kam. In : FAZ vom 1. 7. 1991. 246 Sekretariat des HV der CDU an Bezirkssekretariate vom 26. 9. 1989 ( ACDP, Zentralbestand Ost - CDU, unverzeichnet ). 247 Vgl. Akte Weimar ( ACDP, VII 011–3508). 248 Vgl. Helmut Lück, Ein Mehr an Demokratie, S. 129. 249 Vgl. KDfS Eilenburg vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 8/1, Bl. 5–8). 250 Zit. bei Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 42. 251 KDfS Aue vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 156–158). 252 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 111.

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ber, man wolle „mit eigenständigen Beiträgen die weitere Entwicklung unseres sozialistischen Staates mitgestalten“.253 Auch im Bezirk Leipzig waren viele Mitglieder mit der Politik nicht mehr einverstanden. Allein im Kreis Leipzig - Land gab es dreißig Austritte, die mit Untätigkeit der CDU und „SED - Hörigkeit“ begründet wurden. Das MfS registrierte auch hier Auseinandersetzungen über das Wirken der Partei. Insbesondere jüngere Mitglieder forderten Mitspracherechte. Die Polarisierung war im Kreis so ausgeprägt, dass nach Meinung des MfS eine „Spaltung der CDU nicht ausgeschlossen“ sei.254 In Leipzig stimmten am 29. September Mandatsträger der CDU in der Stadtverordnetenversammlung dem Tätigkeitsbericht des Oberbürgermeisters erstmals nicht mehr zu oder enthielten sich der Stimme.255 NDPD und DBD : Auch die kleineren Blockparteien polarisierten sich. Fast obligatorisch war hier zwar das Bekenntnis zum sozialistischen Staat, aber es gab mehr systemimmanente Kritiken als früher. So meinten Mitglieder beider Parteien in Freital, die Gesetze seien nicht ausreichend, um Diskrepanzen in der Volkswirtschaft zu beseitigen und für Disziplin und Arbeitsmoral zu sorgen. Kritisiert wurden Versorgungsengpässe und das Fehlen hochwertiger Konsumgüter. Es müsse sich „bezüglich der Arbeit mit den Menschen“ etwas ändern.256 Im Juni nahm die kritische Haltung in der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands zu. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China stieß meist auf Ablehnung. Angesichts der Entwicklung in Ungarn, Polen oder der UdSSR wurden Zweifel an der weiteren sozialistischen Entwicklung dieser Länder geäußert und Konsequenzen der Entwicklung diskutiert. Dabei nahmen Auffassungen zu, „dass sich die sozialistische Staatengemeinschaft im Zerfall befindet“. Offen kritisierten Mitglieder die Medienpolitik, die Versorgungslage, die Bürokratisierung der Gesellschaft und die ungünstigen Auswirkungen der Sozialpolitik auf die Wirtschaft. Im Juli bezeichneten viele DBD - Mitglieder die Stellungnahmen des ZK der SED zur Entwicklung als oberflächlich. Immer häufiger gab es Zweifel am Sozialismus.257 Kritik wurde bei einer Bezirksvorstandssitzung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands Karl - Marx - Stadt am 14. September in Oelsnitz laut. Mitglieder aus Plauen und Oelsnitz nannten die Regierung handlungsunfähig. Die SED zeige „ihr wahres Gesicht“ und erweise sich als unfähig zu führen. Probleme würden negiert, die Medien seien nicht unabhängig. Es zeige sich „klar, dass die SED nicht mehr weiter wisse“.258 Wie weit das Spektrum möglicher Meinungen reichte, zeigen die konträren Äußerungen zweier NDPD - Kreissekretä253 Kreisvorstand der CDU Auerbach. In : Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 20. 9. 1989. 254 BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23–28). 255 Vgl. Sievers, Stundenbuch, S. 49. 256 KDfS Freital vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 555– 557). 257 DBD - BV Potsdam vom 5. 7. 1989 : Parteiarbeit von Juni / Juli 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 588). 258 KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15–18).

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re. Während sich der von Grimma zum Neuen Forum bekannte,259 erklärte der von Aue, Rolf Schindler, Grundmotiv der NDPD sei auch weiterhin die Anerkennung der führenden Rolle der SED. Er forderte eine Ausgestaltung der sozialistischen Demokratie und lehnte neue Parteien ab.260 FDJ : Während sich die Jugend schon seit Längerem kritisch zeigte und bei Ausreisewilligen und Protesten klar dominierte, gab es in der Führung des Jugendverbandes am 11. September erste kritische Äußerungen. Der 1. FDJ Sekretär Eberhard Aurich legte eine Analyse der Situation unter Jugendlichen und Schlussfolgerungen für die politisch - ideologische Arbeit vor. Erstmals wurde die krisenhafte Entwicklung umfassend reflektiert und die Stimmung unter der Jugend recht offen benannt. So hieß es, die Jugend hätte den Eindruck von „Starrheit und Stagnation“, die Kritik an den Medien nehme zu, die SED - Führung sei entscheidungsunfähig, die Autorität Honeckers sinke, Veranstaltungen würden mit „befohlenen“ Teilnehmern ablaufen. Konkret werde gefragt, ob der Sozialismus noch die überlegene Gesellschaftsordnung sei.261 FDGB : Zögerlich zeigte sich auch die FDGB - Führung. Am 29. September wandten sich etwa 480 FDGB - Mitglieder des VEB „Bergmann - Borsig“ in Berlin in einem Offenen Brief an FDGB - Chef Harry Tisch. Die Bevölkerung sei insbesondere mit der Haltung der Massenmedien unzufrieden. Es treffe „nicht im entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen“, wenn die Ausreisewelle als „Machwerk des Klassengegners“ bezeichnet werde. Eine solche Politik werde katastrophale Folgen haben. Gründe für die Ausreise seien eine „Palette an Restriktionen“ und „das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat und seiner führenden Partei“.262 Im Sekretariat des FDGB berichtete Tisch am 4. Oktober von der Eingabe und kommentierte : „Der Gegner will eine neue Gewerkschaft.“263 Allerdings kritisierte auch er Ende September im Präsidium des FDGB erstmals deutlich die SED - Führung sowie Mittags System der Wirtschaftslenkung und forderte eine selbstständigere Rolle der Gewerkschaften. Anfang Oktober kündigte er eine Abrechnung mit der bisherigen Politik im Politbüro nach dem 7. Oktober an.264

259 Vgl. BVfS Leipzig vom 28. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 23– 28). 260 Vgl. KDfS Aue vom 27. 9. 1989 : NDPD - Kreisvorstand ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 99–102). 261 Stephan, Die Bewertung, S. 152–154. 262 Sehr geehrter Kollege Harry Tisch ! ( MDA, Wende IV ). Vgl. taz vom 9. 10. 1989. 263 Zit. in Simon, Tisch - Zeiten, S. 129. 264 Vgl. Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 17 f.

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Massenflucht über Ungarn als Auslöser der Revolution

Die generelle Stagnation in allen Bereichen als Folge der Haltung der SED - Führung führte zu einem Phänomen, das wesentlich zum Zusammenbruch des Staates beitragen sollte : zur Massenflucht. Eine im Westen kaum registrierte Nachricht vom 2. Mai wirkte in der DDR elektrisierend : Ungarn beginnt mit dem Abbau des „Eisernen Vorhangs“. In der DDR kursierte der Witz, wonach ein Loch in der Berliner Mauer eine Menschenschlange bis nach Dresden zur Folge haben würde. Die Bedeutung der Nachricht war also allen klar. Die unüberwindbare Grenze um die sozialistischen Staaten funktionierte nur, wenn sie überall dicht war. Besonders bei jugendlichen alleinstehenden Antragstellern, aber auch bei jungen Familien, die entsprechend der Reiseverordnung keine Chance auf eine Ausreisegenehmigung hatten, häuften sich nun Pläne zur Flucht über Ungarn oder Bulgarien.265 Generell hatte die positive Einstellung zur DDR und zum realen Sozialismus Ende der 80er Jahre stark abgenommen, sofern es sie überhaupt gab. Vor allem Jüngere sahen in der DDR keine Zukunft mehr.266

Bild 5:

Mitteilung am Eingang des überfüllten Konsulats der Bundesrepublik Deutschland in Budapest.

265 Vgl. KDfS Niesky vom 7. 4. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 379–386). 266 Vgl. Berth / Förster / Brähler / Stöbel - Richter, Einheitslust, S. 28 f.

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Bild 6:

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Das überfüllte Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Budapest.

Während ungarische Grenzsoldaten am Morgen des 2. Mai mit dem symbolischen Abbau der Stacheldrähte an der österreichisch - ungarischen Grenze begannen, beschloss die SED - Führung, die innerdeutsche Grenze weiter zu perfektionieren. Die vom Politbüro festgelegten Maßnahmen zur „Ver vollkommnung des Schutzes der Staatsgrenze der DDR zur BRD“267 nützten dem Regime freilich nicht mehr viel, war der Damm doch an anderer Stelle gebrochen. In der DDR erkannten Tausende sofort die Möglichkeit, die sich ihnen für eine Flucht in Richtung Westen bot und machten sich auf den Weg nach Ungarn. Hier sammelten sie sich, nachdem das bundesdeutsche Konsulat in Budapest wegen Überfüllung schließen musste, in Flüchtlingslagern. Viele DDR - Bewohner versuchten die illegale Flucht über die ungarisch - österreichische Grenze. Sie ließen ihre Pkws zurück, die angesichts des allgemeinen Mangels an Ersatzteilen bald geplündert wurden. Am 10. September gestattete die ungarische Regierung den DDR - Flüchtlingen, in „ein Land ihrer Wahl“ auszureisen.268 Am 11. September überschritten ca. 8 000 Personen die Grenze nach Österreich, drei Tage später waren es bereits 18 000. Die Bilder der Autokolonnen, welche die Grenze passierten, gingen um die Welt. Die SED - Führung bezeichnete die neuen Reisebestimmungen der ungarischen Regierung als Teil eines „Kreuzzuges des Imperialismus gegen den Sozialismus“269 und reagierte auf den Massenexodus, der die DDR in ihren 267 Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Bl. 3, o. D. ( BStU, ZA, SdM 30, Bl. 14–19). 268 Vgl. Kurz, Ungarn 89, S. 162 f. 269 Neues Deutschland vom 12. 9. 1989.

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Grundfesten erschütterte, mit einer weiteren Verschärfung des Grenzregimes. Obwohl die Unzufriedenheit der Bevölkerung längst einen kritischen Punkt erreicht hatte, beschloss das Politbüro am 12. September, „gefährdeten Bürgern“, die nach Ungarn, Rumänien oder Bulgarien reisen wollten, die Ausreise nicht zu genehmigen. Mielke und Dickel wurden beauftragt, entsprechende Schritte einzuleiten.270 Nach dem Verbot von Reisen nach Ungarn sammelten sich nun zahlreiche Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau. Am 19. September schloss die diplomatische Mission in Warschau wegen Überfüllung. Während sich dort ca. 120 Zufluchtsuchende aufhielten, waren es in Prag bereits 400. Von nun an stieg hier die Zahl der Flüchtlinge. Die meisten von ihnen waren von tschechoslowakischen Grenzsoldaten an der Weiterreise nach Ungarn gehindert worden oder dort am illegalen Grenzübertritt gescheitert. Ende September warteten bereits rund 3 500 Personen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag, weitere Tausende hielten sich davor auf. Die sanitären Verhältnisse waren katastrophal, das Essen knapp, nur Frauen und Kinder erhielten Nahrung. Am Zaun der Botschaft versuchten tschechische und DDR - Geheimpolizisten Flüchtlinge am Überklettern des Zaunes zu hindern. Es kam zu dramatischen Szenen. Im Umkreis von fünf Kilometern blockierten zurückgelassene Autos die Straßen. Ende September stiegen sowohl die Fluchtzahlen als auch die Reiseanträge, nachdem es Spekulationen über ein bevorstehendes Reiseverbot nach Ungarn gegeben hatte, rasant an.271 Auch Gerüchte über eine Heraufsetzung des Rentenalters kursierten weiter.272 Vom Jahresbeginn bis Ende September reisten 101 953 Personen ständig aus der DDR aus, 65 251 Personen gelang die Flucht über Ungarn.273 Im Bezirk Dresden stellten zwischen dem 11. und 22. September 6 717 Bewohner Reiseanträge ins sozialistische Ausland, darunter 6127 nach Ungarn. Davon waren etwa 45 Prozent zwischen 19 und 26 Jahren, weitere 33 Prozent zwischen 27 und 40 Jahren alt. Viele Fluchtwillige, die keine Genehmigung erhielten, versuchten über die Staatsgrenze in Richtung ČSSR oder Polen zu fliehen.274 Im Bezirk Karl - MarxStadt hatten seit Jahresanfang über 1,5 Prozent der Bevölkerung einen Ausreiseantrag gestellt, in den größeren Städten waren es über zwei Prozent.275 Im Bezirk Leipzig wurden seit Jahresbeginn 1989 bis Ende September 9 312 Ausreiseanträge gestellt. Im gleichen Zeitraum des Jahres 1988 waren es 3 299 Personen gewesen. Die Zahl der Fluchten stieg auf das 3,5fache gegenüber 1988.276 Im Kreis Freital schlossen wegen der Flucht allein im September 270 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 12. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2345). 271 Vgl. KDfS Werdau vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 1, Bl. 46– 48). 272 Vgl. KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 532, 2, Bl. 109–112). 273 MfS, HA III : Flucht und Ausreisezahlen, o. D. ( BStU, ZA, HA III 858, Bl. 19). 274 Vgl. BDVP Dresden vom 28. 9. 1989 : Lage im September 1989 ( ABL, EA 890928_2). 275 Vgl. SED - Parteiinformation vom 30. 9. 1989 : Antragsgeschehen auf ständige Ausreise im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 393, Bl. 34–43). 276 Vgl. BVfS Leipzig vom 10. 11. 1989 : Vorlage für die Sitzung der BEL am 13. 11. 1989 (BStU, ASt. Leipzig, AKG, Bl. 1–35).

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Bild 7:

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Bei der Flucht zurückgelassene Pkw.

zwei Fleischereien, ein Uhren - / Schmuckgeschäft, eine Elektroinstallationswerkstatt und eine Arztpraxis.277 Das SED - Regime reagierte wie gewohnt : mit Verhaftungen. Bald waren die Gefängnisse überfüllt, und das MfS konnte die Zahl an Ermittlungsverfahren nicht mehr bewältigen.278 Eine Massenflucht wie aus der DDR gab es sonst in keinem Ostblockstaat. Auch blieben die DDR - Bewohner nicht etwa in Österreich, dem bei der Flucht ersten westlichen, zudem deutschsprachigen Land, sondern reisten weiter nach Westdeutschland. Dieser Umstand unterstreicht die Bedeutung der Bundesrepublik mit ihrem Rechtsstandpunkt einer einheitlichen Staatsbürgerschaft für die DDR - Deutschen. Hier kamen sie in ein Land, in dem sie sofort alle staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten besaßen. Diese Tatsache, nicht die Gespräche mit der SED über Reformen und Angebote zur Anerkennung einer eigenen DDR - Staatsbürgerschaft, führte zum Sturz der Diktatur und zur Durchsetzung einer Friedensordnung in Europa. Die gegen SPD - Widerstand durchgesetzte Beibehaltung der Staatsbürgerschaft war somit die erste wesentliche Voraussetzung der Destabilisierung der Diktatur. Ohne die Haltung Ungarns samt Öffnung der Grenze hätte dieser Faktor jedoch kaum Wirkung entfalten können. 277 Vgl. KDfS Freital vom 26. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 545– 552). 278 Vgl. BDVP Dresden vom 28. 9. 1989 : Lage im September 1989 ( ABL, Dresden ); Horsch, Das kann, S. 5.

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Ihr kommt ebenfalls fundamentale Bedeutung als Auslöser der Entwicklung zu.279 Marxistische Intellektuelle verurteilten die Ausreisewelle und die nachfolgende Massenflucht. Für Stefan Heym waren viele der jungen Leute, „die da jetzt jeden Abend samt ihrer Fluchtstory im West - Fernsehen gezeigt werden“, nichts anderes als „Spießbürger“, deren „Vorstellungen von Demokratie primitiv“ seien.280 Heino Falcke sah Übersiedler und Flüchtlinge als Teil einer weltweiten Wanderungsbewegung aus Mangelgesellschaften in „kapitalistische Überflussgesellschaften“.281 Wolfgang Rüddenklau sprach von Leuten, „die aus ihrer wohlangepassten Lebensstellung ausbrachen, nicht um Widerstand zu leisten, sondern um im Westen höhere Prämien für Anpassung zu finden“.282 War für jeden freiheitlich denkenden Menschen die Reise - und Niederlassungsfreiheit ein Wert an sich, zeigten solche Bewertungen ein beängstigende Enge der Perspektive. Entsprechende Vorbehalte formulierte der Lyriker Uwe Kolbe : „Wenn unabhängige Intellektuelle, Initiativen, Gruppen plötzlich Unbehagen äußern in einer Reihe mit den Machthabern, sehe ich darin meinerseits ein unbehagliches Zeichen. Es bahnt sich unter dem Banner von Toleranz, von wiederbelebter Politik der Volksfront etwas an, was ich für Borniertheit einer Schicht, ja der zur Klasse gewordenen Intelligenz halte.“283 Mehrheitlich wurde die herausragende Bedeutung der Massenflucht jedoch erkannt. Flüchtlinge und Übersiedler waren zu diesem Zeitpunkt die wichtigste revolutionäre Kraft, Ausreise und Flucht stellten die dominante Art politischer Verweigerung dar.284 Die Emigration war schon immer eine „DDR - gemäße Form der Opposition“ gewesen.285 Die Flucht in den Westen war „die radikalste Form der Verneinung des sozialistischen Systems“.286 Nun wurde sie zum unmittelbaren Auslöser der Revolution.287 Der Aufbruch kam so gerade durch die, „die ihn nicht gemacht haben, weil sie weggegangen sind“.288 Flucht und Ausreise boten eine Alternative zum Leben in der DDR und waren das „Druckmittel des kleinen Mannes“.289 In der Flucht drückte sich Skepsis über einen eigenen Weg der DDR ebenso aus wie der Wunsch, das eigene Land durch einen Wechsel innerhalb Deutschlands nicht zu verlassen. Anders als bei den auf Erneuerung des Sozialismus orientierten Bürgergruppen war der Bruch der Ausreiser und 279 280 281 282 283 284 285 286 287

Vgl. Pollack, Ursachen, S. 18. Interview mit Stefan Heym. In : Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 25. 8. 1989. Zit. in Rein, Die Opposition, S. 227. Rüddenklau, Störenfried, S. 259. Uwe Kolbe an Bärbel Bohley vom 8. 11. 1989. In : taz vom 16. 11. 1989. Vgl. Förster / Roski, DDR, S. 36. Richter, Eine Deutsche Revolution ?, S. 57. Wolle, Der Weg, S. 101. Vgl. Meuschel, Wandel durch Auf lehnung, S. 42; Hans - Joachim Maaz, Stalinismus als Lebensform. In : Der Spiegel vom 26. 2. 1990; Wendt, Die deutsch - deutschen Wanderungen, S. 394. 288 Interview mit Friedrich Schorlemmer am 26. 2. 1990. Zit. in Lange / Matthes, Ein Jahr danach, S. 1747. 289 Bender, Der goldene Angelhaken, S. 13 f.

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Antragsteller radikal, ihr Mut das „Ferment des Gärungsprozesses“.290 Flucht oder Ausreise nahmen in ihrer Entscheidung für die Bundesrepublik das Wahlergebnis des 18. März 1990 vorweg. Damit waren die Bevölkerungskreise, die auf die Bundesrepublik orientierten, die eigentlichen Auslöser und später die Vollender der Revolution zur deutschen Einheit. Flucht und Übersiedlung spielten nämlich nicht nur in der Phase der Auslösung des Umbruchs eine zentrale Rolle, auch während der friedlichen Revolution blieben sie neben den Demonstrationen wesentliche Schrittmacher der Entwicklung. Sie standen in Ost wie in West als permanente Drohung derer im Raum, die mit ihrer Fluchtbereitschaft die Defizite der Entwicklung in der DDR deutlich machten. Auf die Formel brachte dies Ende Dezember 1989 die Forderung auf den Leipziger Demonstrationen „Kommt die D - Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir !“291 Deswegen kann die gesamte Revolution als „weiterer, nicht über die individuelle Ausreise verlaufender Weg zu westlichen oder dem Westen angenäherten Verhältnissen“ interpretiert werden, aber auch als „Effekt der massenhaften Fluchtbewegung“.292 Mitte August 1989 war die Massenflucht jedenfalls „die einzige oppositionelle Massenbewegung“ der DDR, die Opposition aus „notorischen Dableibern“293 war zu diesem Zeitpunkt noch „programmatisch genauso blass“ wie die SED.294 Als sich im Sommer in Ungarn die Flüchtlingslager füllten, begannen sich die wichtigeren Oppositionsgruppen gerade erst zu bilden. Auch größere Demonstrationen gab es nicht. Noch am 4. September besuchten relativ wenige Besucher das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Erst die Massenausreise ab dem 11. September veränderte die Situation schlagartig. Mit der Grenzöffnung begann sich das Machtverhältnis zwischen Machthabern und Bevölkerung zu verschieben. Auf einmal verfügte die Bevölkerung über Handlungsoptionen, die sie jahrzehntelang nicht besessen hatte. Die Abwanderungsmöglichkeit führte zu einer Verschärfung der inneren Widersprüche der Gesellschaft. Erst jetzt sahen sich auch die alternativen Bürgergruppen gezwungen, den Schutzraum der Kirche zu verlassen.295 Deswegen ist die Revolution nicht auf Initiativen der Oppositionsgruppen zurückzuführen. Die Massendemonstrationen bedurften vielmehr des Anstoßes durch die Massenflucht. Auch in Leipzig war es die Masse der Ausreisenden, die den Friedensgebeten in Leipzig Nachdruck verlieh.296 Erst unter dem Eindruck der Massenflucht entwickelten sich die Proteste zur Massenbewegung. Der Ruf „Wir wollen raus !“ ging dem Ruf „Wir bleiben hier!“ voraus und war dessen Voraussetzung. Damit wuchs die Flucht über ihre „Ven290 Hofmann / Rink, Der Leipziger Aufbruch, S. 114. 291 Hartung, Neunzehnhundertneunundachtzig, S. 64, spricht sogar von einer „Revolution potenzieller Übersiedler“. 292 Nach Ronge, Loyalty, S. 36, gibt es keine sichere Entscheidung zwischen beiden Interpretationsmodi. 293 Matthias Geis. In : taz vom 15. 8. 1989. 294 Reinhard Schult. In : taz vom 15. 8. 1989. 295 Vgl. Pollack, Ursachen, S. 19. 296 So Friedrich Magirius. In : Neue Zeit vom 27. 3. 1993.

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tilfunktion“ hinaus und wurde selbst zum „Katalysator des internen Widerspruchs“.297 Die Demonstrationen waren Folge und Antwort auf das Anschwellen der Fluchbewegung298 sowie der allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung und entwickelten sich nicht aus kirchlichen Basisgruppen heraus. Diese hatten freilich eine wichtige Katalysatorfunktion. Bemerkenswert ist, dass der Staat die Ausreisewilligen und die oppositionellen Gruppen unter dem Dach der Kirche als eine Opposition ansah und damit Wirkungszusammenhänge klarer deutete als kirchliche Akteure selbst. Aus Sicht des MfS bewirkten „die verstärkten Aktivitäten zum Verlassen der DDR [...] eine zunehmende Komplizierung und zeitweilige Zuspitzung“ der politischen Lage.299 Hier sah man deutlich, dass bei Fürbittgebeten und anderen Solidaritätsveranstaltungen die Antragsteller oft in der Mehrzahl waren. Die Diskussion um die Rolle von Flucht und Ausreise aus der DDR orientierte sich bis 1989 an dem von Albert O. Hirschman entwickelten Paradigma von Exit, Voice und Loyalty. Anders als Hirschman bis dato postuliert hatte, dass Flucht inneren Protest verhindere,300 machte in der DDR Ausreise und Flucht „Voice“ erst möglich und verlieh dem Protest Gewicht. Während Abwanderung und Widerspruch – „Exit“ und „Voice“ – nach Hirschman als alternative Problemlösungsstrategien angesehen wurden, mobilisierte im Fall der DDR die Massenflucht die innere Opposition. „Wir bleiben hier“ ließ sich interpretieren als „Veränderungen sofort, oder auch wir gehen“. Damit war für die Bevölkerung ein Sanktionspotenzial gegenüber den Diktatoren entstanden. Hirschman modifizierte angesichts der DDR - Entwicklung seine Grundthese „Freier Exit verhindert Voice“. Exit unterstützte Voice, so nun auch seine neue Sichtweise.301 Das wurde im Übrigen auch von der DDR - Bevölkerung so gesehen. So meinten Arbeiter im Braunkohlewerk Knapperode ( Hoyerswerda ), die Flucht über Ungarn habe „eigentlich erst auf die bestehenden Probleme in der DDR hingewiesen und [...] diejenigen auf den Plan gerufen, die sich bisher nicht trauten, offen ihre Meinung zu sagen“.302

297 Bierling, Die sieben Mythen, S. 74. 298 Vgl. Lutz Niethammer. In : Frankfurter Rundschau vom 8. 1. 1990. 299 BVfS Leipzig vom 20. 7. 1989 : Bericht über das II. Quartal 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 201/4, Bl. 60). 300 Vgl. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty; ders., Abwanderung, Widerspruch, S. 330– 358. 301 Nitsch / Lepenies, Albert O. Hirschman, S. 4. 302 KDfS Hoyerswerda vom 21. 9. 1989 : Info BKW Knappenrode ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BV Cottbus, AKG 1799, Bl. 49 f.).

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Abschied von der „Kirche im Sozialismus“

Evangelische Kirchen:303 Vom 6. bis 9. Juli fand in Leipzig der Kirchentag der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens statt.304 Aus Honeckers Sicht hatte die Kirche „nicht die Erneuerung des Sozialismus im Sinn“, sondern strebte danach, „den sozialistischen Staat zu vernichten“.305 Entsprechend war die „offizielle und inoffizielle Einflussnahme auf die inhaltliche Ausrichtung und den Verlauf des Kirchentages“ vorbereitet306 und die Genehmigung von der „Verhinderung des politischen Missbrauchs [...] durch feindliche und reaktionäre kirchliche Kräfte“ abhängig gemacht worden. Staatssekretariat für Kirchenfragen und MfS agierten gemeinsam vor Ort,307 um dafür zu sorgen, dass sich Landesbischof Hempel an die Vereinbarung hielt, durch rund 1 000 kirchliche Ordnungskräfte das Zeigen oppositioneller Transparente und Aktionen von Basisgruppen zu verhindern. Hempel und Synodalpräsident Johannes Cieslak distanzierten sich denn auch von der „Kirche von Unten“, die weit außerhalb, in Leipzig - Volkmarsdorf, zusammengefasst und von Kräften des MfS abgeschirmt wurde. Aus Protest gegen den Ausschluss kritischer Gruppen lief in der Lukaskirche ein paralleler „Statt - Kirchentag“. Die AG Menschenrechte und der AK Gerechtigkeit prangerten hier die „Gewalt staatlicher Organe“ an und forderten eine demokratische Gesellschaft. Zum Abschluss des Kirchentages kam es zu einer Demonstration der Teilnehmer des „Statt - Kirchentages“ durch die Stadt, die von Polizei und MfS aufgelöst wurde.308 Der „Gegenkirchentag“ war aus Sicht der SED - Bezirksleitung ein „Höhepunkt der Aktivitäten des politischen Untergrundes“.309 Aber auch auf dem offiziellen Kirchentag fehlten kritische Worte nicht. Gottfried Forck und Manfred Stolpe plädierten für einen „wirklichen“ bzw. „menschlicheren und gerechteren Sozialismus“. Der ehemalige Magdeburger Bischof Werner Krusche meinte, wer auf das Scheitern der Reformpolitik Gorbatschows spekuliere, müsse „von allen guten Geistern verlassen sein“.310 Deutlich „negativer“ war das Auftreten des Dresdner Superintendenten Ziemer, des Dozenten am Leipziger Theologischen Seminar, Karlheinz Blaschke, des Erfurter Propstes Falcke und des Rektors der Evangelischen Akademie, Tschiche, die tieferge-

303 304 305 306 307

Vgl. Richter, Zur Rolle der Kirchen, S. 233–247. Vgl. ausführlich Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 269–328. Interview mit Erich Honecker. In : Frankfurter Rundschau vom 21. 1. 1993. BVfS Leipzig, XX vom 28. 12. 1988 : Jahresplan 1989 ( ABL, FVS Dresden, BV Leipzig). Kraußer und Löff ler an Politbüro vom 10. 7. 1989 : Info Kirchentag Leipzig ( SAPMO BArch, SED, IV B 2/14/21, Bl. 49–52). Vgl. BVfS Leipzig vom 15. 6. 1989 : Maßnahmeplan ( ABL, H. 8). Text abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 609–615. 308 MfS, ZAIG, Nr. 337/89 vom 10. 7. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 111. 309 18. Sitzung der SED - BL Leipzig vom 12. 9. 1989 : Bericht der BL, S. 55 ( ABL, Hefter XV3 SED ). 310 Zit. in Informationen des BMB 13 vom 28. 7. 1989.

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hende gesellschaftliche Veränderungen verlangten.311 Nach Einschätzung der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt wurden „prinzipielle Veränderungen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR gefordert“. Die „zunehmende Politisierung der Sächsischen Landeskirche, die Forderung nach einem politischen Mandat der Kirche, verbunden mit zunehmender Einmischung in die Angelegenheiten des Staates“, so der Rat des Bezirkes, erfordere eine Forcierung des innerkirchlichen Differenzierungs - und Polarisierungsprozesses unter kirchlichen Amtsträgern. Negativ - feindliche Kräfte seien zu isolieren und die „schweigende Mehrheit“ zu aktivieren. Die Formel „Kirche im Sozialismus“ schaffe „vielfältige Spielräume für sozialismuskritische und sozialismusfeindliche Kräfte“.312 Im August forderte auch der evangelische Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, zuständig u. a. für die Kreise Eilenburg, Delitzsch und Torgau, offene Gespräche über die Probleme in der DDR. Bleiben solle, so Christoph Demke, „das sozialistische Grundanliegen, Lasten und Früchte der Arbeit miteinander zu teilen“. Aber die Eigenverantwortung müsse Raum bekommen. Die Staatsorgane betrachteten die Gewährung von Rechten als Belohnung. Der Anspruch der SED, immer Recht zu haben, mache „das Eingeständnis von Fehlern fast zu einer Katastrophe“.313 Am 2. September 1989 wandte sich die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen ( KKL ) mit einem Schreiben an Honecker, das zwei Tage später den Gemeinden bekannt gemacht wurde.314 Darin wurde kritisiert, dass von der SED - Regierung „längst überfällige Veränderungen in der Gesellschaft verweigert“ würden. Die Konferenz forderte die „mündige Beteiligung der Bürger an der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens“. Diskussionen über Fehlentwicklungen müssten möglich sein und dürften nicht durch „stereotype Belehrungen oder sogar Drohungen“ abgewiesen werden. Außerdem wurden u. a. eine realistische Berichterstattung und freie Reisemöglichkeiten für alle Bürger verlangt.315 Am 7. September forderte Staatssekretär Löff ler Leich dringend auf, das Schreiben an Honecker nicht länger verlesen zu lassen und drohte damit, es gebe die evangelische Kirche möglicherweise nicht mehr lange. Landesbischof Leich war über diese Erklärung nach eigenem Bekunden entsetzt : „Ich musste diesen Satz erst nachkauen, um erfassen zu können, welche Pläne für ein blutiges Eingreifen gegen die Demonstranten und die evangelische Kirche vorberei-

311 Kraußer und Löff ler an Politbüro vom 10. 7. 1989 : Info Kirchentag Leipzig ( SAPMO BArch, SED, IV B 2/14/21, Bl. 49–52). 312 RdB Karl - Marx - Stadt, Stellverteter des Vorsitzenden für Inneres an Fichtner vom 21. 7. 1989 : Zuarbeit für Dienstberatung mit den Vorsitzenden der RdK / Städte ( SächsStAC, BT / RdB Karl - Marx - Stadt, 128 706). 313 Christoph Demke von Ende August 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/1, Bl. 19–23). 314 Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR an Gemeinden / Gliedkirchen vom 4. 9. 1989 ( ebd., XX 1456, Bl. 1 f.). 315 KEK an Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 44, Bl. 13 f.).

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tet zu sein schienen.“316 Trotz dieser absurden Drohung, die Kirche liquidieren zu wollen, wurde der Brief am 10. September während der Gottesdienste verlesen.317 Auch die Ev. - meth. Kirche schloss sich den „negativen Aktivitäten der evang. Kirche an“ und ließ den Brief verlesen :318 Die Folge war die Absage eines für den 12. September bereits zugesagten Gesprächs Honeckers mit Leich.319 In dieser Situation fand vom 15. bis 19. September in Eisenach die 5. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR statt.320 Leich forderte hier gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Reformen, ohne welche die Stabilität der DDR, die auch die Nachbarstaaten wünschten, gefährdet sei. Damit vertrat er die Positionen der Bonner Parteien. Er schlug einen Katalog mittel - und langfristiger Reformen vor, so zum Wahlgesetz und zur Wahlordnung, zur Reise - und Demonstrationsfreiheit und Mündigkeit des Bürgers, zur Veränderung der Medienpolitik, zum Wehrdienst und der Volksbildung. Deutlich forderte er eine Anerkennung der Oppositionsgruppen und ein Wirkungsfeld außerhalb der Kirche.321 Die Synode verabschiedete eine Entschließung, welche die Forderungen Leichs aufgriff.322 Damit hatten sich die Kirchen kurz vor dem Jahrestag „von Honeckers Staat verabschiedet“.323 Aus SED - Sicht waren Ziele und Beschlüsse „von langer Hand systematisch vorbereitet“ worden. Sie waren „koordiniert mit Kreisen der BRD“ und stellten ein „politisches Aktionsprogramm für grundlegende Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR“ dar, das auf die „Machtfrage“ ziele. Wie bei keiner Synode zuvor habe die Kirche, so die SED - Führung, „ein umfassendes Aktionsprogramm grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen bis hin zur Legalisierung oppositioneller Gruppen und schließlich der Bildung oppositioneller Parteien unterbreitet“, das „ausschließlich politischen Charakter“ trage. Erstmalig werde auf einer Synode „unverhüllt und demonstrativ ein gegen den Sozialismus, gegen die bestehende Ordnung in der DDR gerichtetes politisches Aktionsprogramm verkündet, das faktisch konterrevolutionäre Zielsetzungen“ enthalte. Es schließe künftig eine offene Konfrontation zwischen Kirche und Staat nicht mehr aus.324 Nachdem sie sich 316 Leich, Wechselnde Horizonte, S. 240 f. 317 Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR an Gemeinden / Gliedkirchen vom 4. 9. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 1 f.). 318 KDfS Schwarzenberg vom 29. 9. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818). 319 Vgl. Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 61. 320 Eine umfassende Sammlung von Unterlagen befindet sich im ThHStA, 41696. 321 5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 15.– 19. 9. 1989 in Eisenach, Bericht des Vorsitzenden der KEK in der DDR ( SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/95, Bl. 61–78). Vgl. ZK der SED, AG Kirchenfragen, an Politbüro : Einschätzung des Verlaufs der Synode in Eisenach, Anlage : Bericht von Bischof Leich, o. D. ( ebd., Bl. 8–20). 322 Beschluss der Synode in Eisenach, o. D. ( SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/95, Bl. 44– 49). 323 Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 61 f. 324 ZK der SED, AG Kirchenfragen : Verlauf und Ergebnisse der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Eisenach vom 20. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV B 2/14/95, Bl. 28–35).

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bereits im Frühjahr von ihrer Rolle als „Kirche im Sozialismus“ verabschiedet hatte, setzte die Kirchenleitung damit erneut klare Maßstäbe für die weitere Entwicklung und übernahm faktisch die Rolle einer politischen Opposition gegenüber der SED. Die Synode operierte als „Generalversammlung einer alternativen politischen Kultur für die DDR“.325 Entsprechend massiv war die Reaktion. Öffentlich wurde der Bericht der Synode als „Katalog von Maßnahmen“ bezeichnet, um die DDR für die Wiedervereinigung sturmreif zu machen.326 Die veränderte Haltung des Kirchenbundes hatte direkten Einfluss auf die Gemeinden. Aktivitäten zur Demokratisierung der Gesellschaft hingen jedoch weiterhin von der Initiative und Einstellung einzelner Pfarrer ab. So klagte z. B. die MfS - Kreisdienststelle Freital über „negative Aktivitäten“ in 22 Kirchgemeinden.327 Die SED - Kreisleitung meinte, die Lage zwischen Staat und Kirche habe sich verschärft.328 Bei Staat - Kirche - Gesprächen Ende September zwecks Vorbereitung des Jahrestages erklärten verschiedene Superintendenten, sich nicht an den Feierlichkeiten zu beteiligen, und ver wiesen auf eine entsprechende Anordnung des Landesbischofs. Hempel habe erklärt, „es gebe keinen Grund zum Feiern. Eine Gratulation würde zentral in Berlin erfolgen.“ Wie gespalten die Kirchen in der Frage des Verhältnisses zum Staat jedoch noch immer waren, zeigte eine Ephoralkonferenz des Kirchenbezirkes Leipzig - Ost Ende September. Ein Drittel der Pfarrer begrüßte gesellschaftliche Veränderungen und war bereit, sich selbst einzusetzen. Ein weiteres Drittel lehnte es offen ab, sich für gesellschaftliche Neuerungen zu engagieren.329 Am 25. September forderte auch die Ev. - meth. Kirche in einem Brief an die Gemeinden mehr Offenheit und Freiheit.330 Katholische Kirche : Noch im August 1989 ging das SED - Regime davon aus, es werde vergleichbare politische Probleme mit der katholischen Kirche nicht geben. Die „starke Zurückhaltung gegenüber politischen Fragen“ habe „massive politische Angriffe gegen unseren Staat wie in den evangelischen Kirchen“ verhindert.331 Auch das änderte sich nun teilweise. Am 4./5. September befasste sich die Vollversammlung der Berliner Bischofskonferenz in Friedrichroda mit der Situation. Man war sich einig, dass die Unzufriedenheit erheblich zugenommen habe und vielen Menschen eine Verbundenheit mit der DDR fehle. Die Bischöfe beschlossen eine Veröffentlichung, die der „Massenpsychose des Weggehens“ entgegenwirken und Lösungswege aus der Krise anbieten sollte. Die Gläubigen wurden „zum gemeinsamen Gespräch über die Ursachen und 325 326 327 328

Schneider, Eine Kerze, S. 45. Frontberichte aus der Wartburgstadt. In : Neues Deutschland vom 21. 9. 1989. KDfS Freital vom 26. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 545–552). Vgl. Sitzung des Sekretariats der SED - KL Freital vom 27. 9. 1989 ( SächsHStA, SED - KL Freital, IV / E4./5. - 107). 329 Vgl. Sievers, Stundenbuch, S. 49. 330 Bischof an die Gemeinden der Ev. - meth. Kirche in der DDR vom 25. 9. 1989. In : Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 115–118. 331 RdB Schwerin, Stellvertreter für Inneres : Redemanuskript für die Dienstberatung der Stellvertreter für Inneres und Mitarbeiter für Kirchenfragen der RdK am 24. 8. 1989 in Schwerin ( MLHA, RdB 34189).

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mögliche Veränderungen“ ermutigt. Die Bischöfe erklärten ihrerseits die Entschlossenheit, die Probleme in Gesprächen mit staatlichen Stellen zum Ausdruck zu bringen.332 In deutlich vorsichtigerer Weise als die evangelischen Kirchen setzten sich damit die Katholiken ebenfalls für Reformen ein. Eine erste Konkretisierung der Linie der Bischofskonferenz nahm der amtierende Vorsitzende und Erfurter Bischof Joachim Wanke am 12. September vor. Er nannte „bürokratische Gängelei“, die Berichterstattung der Medien, Erfahrungen am Arbeitsplatz und Wünsche nach besseren Konsummöglichkeiten als Ursache des Massenexodus.333 In einem Hirtenbrief vom 20. September forderte auch der Apostolische Administrator in Magdeburg, Johannes Braun, eine Beseitigung der Missstände und die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft.334 In einem Schreiben an die Räte der Bezirke von Dresden und Cottbus wies Bischof Bernhard Huhn ebenfalls „auf die vielen Mängel“ hin, „unter denen unsere Bürger leiden“. Deren Summe sei die Ursache für den Weggang vieler Menschen.335 Am 9. Oktober richtete der Vorsitzende der Berliner Bischofskonferenz ein Wort an alle Priester und Diakone. Darin wurden gewaltsame Auseinandersetzungen und die Ausreise verurteilt, aber auch Gespräche zwischen Staat und neuen Gruppen verlangt. Hinsichtlich der Forderungen nach Wahlrecht, Meinungsfreiheit und des Rechts auf friedliche Vereinigungen wurde freilich die Auffassung vertreten, dass „die konsequente Beachtung der Verfassung der DDR, in der diese Grundrechte ja enthalten sind, dazu beitragen kann, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Interesse der Menschen und des Gemeinwohls weiterzuentwickeln“.336 Das war eine klare Konzession an die SED - Führung, denn natürlich war klar, dass alle in der Verfassung gewährten Rechte unter dem Vorbehalt der Präambel standen, in der die SED - Alleinherrschaft verankert war. Daher ist der Meinung Leichs zuzustimmen : Die katholische Kirche hielt sich bei der Vorbereitung und Durchsetzung der friedlichen Revolution eher zurück.337 Auch Martin Ziegler meint, sie habe sich bis zum 9. Oktober „auf den Standpunkt der gesellschaftlichen Abstinenz gestellt“.338 Stellungnahmen zeigen aber, dass auch die katholische Kirche auf die gesellschaftlichen Umbrü332 Über die gegenwärtige Situation. Veröffentlichte Protokollnotiz von der Vollversammlung der Berliner Bischofskonferenz am 4./5. 9. 1989 in Friedrichroda. In : St. Hedwigsblatt vom 17. 9. 1989, S. 299. 333 KNA - Dokumentation 163 vom 23. 9. 1989. Vgl. St. Hedwigsblatt vom 24. 9. 1989. Vgl. Mechtenberg, Sorge, S. 254. 334 Hirtenbrief des Bischofs Johannes Braun vom 20. 09. 1989. In : Lange / Pruß / Schrader / Seifert, Katholische Kirche, S. 368–371. 335 Bischof Huhn an Vorsitzende des RdB Dresden und Cottbus vom 28. 9. 1989. In : Lange / Pruß / Schrader / Seifert, Katholische Kirche, S. 375–377. 336 Vorsitzender der Berliner Bischofskonferenz vom 9. 10. 1989 : Wort der Katholischen Kirche ( PB Pfarrer Wolfgang Leonhardt, Katholische Pfarrei Dresden - Zschachwitz ). 337 Vgl. Leich, Wechselnde Horizonte, S. 257. 338 Gespräch von Ewald Rose mit den Moderatoren Oberkirchenrat Martin Ziegler und Pastor Martin Lange in Berlin am 3. 4. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 334.

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che in der DDR „sachgerecht reagiert hat und das verbreitete Bild einer Ghettokirche einer Korrektur bedarf“.339 Bestimmte in den 70er Jahren ein kirchenpolitischer Kurs des „Überwinterns“ das Verhalten der katholischen Kirche, so war in den 80er Jahren eine Trendwende zur gesellschaftlichen Öffnung zu verzeichnen.340 Der eigentliche Durchbruch erfolgte mit der Teilnahme am konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, an dem die katholische Kirche sich konstruktiv beteiligte. 2.7

Stimmung der Bevölkerung und in den Betrieben

Im Vergleich zu den Vormonaten zeigen die Stimmungsberichte zwischen Juni und September 1989 einen raschen Anstieg kritischer Meinungen, die eine allgemeine und wachsende Unzufriedenheit ausdrückten.341 Schon im Mai war bei einer Kollegiumssitzung des MfS eine offene Analyse der Stimmungs - und Wirtschaftslage besprochen worden. Lorenz meinte später, die Berichte des MfS seien so offen gewesen, dass sie „den Regimesturz geradezu prophezeiten“.342 Vorschläge, diese dem Politbüro vorzulegen, scheiterten am Widerstand Mielkes. Auch Mittig, Felber oder Großmann hielten dies nicht für angeraten.343 Hummitzsch bestätigte wenig später, dass es „solche miese Stimmungen auch innerhalb der Parteiorganisation“ gab.344 Vor allem im September wuchs die Unzufriedenheit rasant an. Kritisiert wurde vor allem das Schweigen der SED Führung, das so gedeutet wurde, als wisse man dort über die Probleme im Lande nicht Bescheid.345 Das MfS informierte die SED - Führung allerdings laufend.346 Mielke erklärte am 12. September vor dem Politbüro, für Streiks gebe es keine Signale, aber es gebe viel Unzufriedenheit. Die Partei müsse informiert und mobilisiert werden.347 Für alle Fälle beschloss der Ministerrat am 21. Sep339 Mechtenberg, Sorge, S. 256. 340 Mechtenberg, Katholiken in einer Trendwende, S. 241–245. 341 KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion der Bevölkerung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 560–563); KDfS Glauchau vom 20. 9. 1989 : Stimmung der Bevölkerung (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 56 f.). Das hier skizzierte Meinungsbild stützt sich auf Stimmungsberichte des MfS. Diese waren bis dato eher beschönigend, eine Tendenz, die 1989 abnahm. Bei Hinweisen auf kritischen Meinungen scheinen Übertreibungen ohnehin weniger wahrscheinlich. Insgesamt vermitteln die hinsichtlich ihrer Objektivität sehr unterschiedlichen Berichte durchaus ein realistisches Bild. Hier wurden nur Kritikpunkte aufgenommen, die in mehreren Berichten vorkommen und somit als typisch für die allgemeine Stimmungslage angesehen werden können, auch wenn nur eine Quelle genannt wird. 342 Lorenz, Die Faust leider nur in der Tasche, S. 151 f. 343 Vgl. Großmann, Bonn im Blick, S. 169 f. 344 MfS, ZAIG, B /215 vom 31. 8. 1989 : Dienstbesprechung beim Minister. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 127. 345 Vgl. Meinel / Wernicke ( Hg.), Mit tschekistischem Gruß, S. 133–136. 346 MfS, ZAIG : Stimmungen der Bevölkerung von August und September 1989 ( BStU, ZA, HA XXII 5484). 347 Verlauf der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 12. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2039/77).

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tember, gravierende Mängel in der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zu beseitigen,348 konnte freilich an der ökonomischen Misere auch nichts ändern. Grundlage der Einschätzungen waren Meldungen der Kreisdienststellen des MfS. Jeder, so das MfS Geithain, spreche jetzt offen darüber, keiner nehme mehr ein Blatt vor den Mund : „Heute sprechen selbst die Genossen negativ über die Zustände bei uns.“349 Die Reaktionen waren überwiegend von Pessimismus und Gleichgültigkeit geprägt. Teile der Bevölkerung meinten, man habe keine Perspektive mehr, da sich wegen der starren Haltung der Partei - und Staatsführung nichts ändere.350 Dabei machte das MfS einige Ursachen für die Unzufriedenheit aus. Die Bezirksverwaltung Karl - Marx - Stadt fasste typische Fragen wie folgt zusammen : „Ist die sozialistische Gemeinschaft so stark, wie wir sie darstellen ? Wann kommt bei uns die Perestroika ? Warum stellen wir uns nicht den Problemen der Zeit ? Warum kehrt vor allem die Jugend der DDR den Rücken? Wenn noch mehr übersiedeln, werden die Probleme bei uns noch größer ( fehlende Arbeitskräfte, hauptsächlich in Medizin und Handel ) – was soll dann werden ? Warum klären wir unsere Versorgungsprobleme nicht umgehend zur Verbesserung der Stimmung der Bevölkerung ?“351 Ursachen, so auch die Meinung in den Kreisen Freital und Glauchau sowie im VEB Klingenthaler Harmonikawerke, seien Mängel in der Versorgung, fehlende Reisemöglichkeiten und eine unglaubwürdige Medienpolitik.352 In Falkenstein ( Auerbach ) fragten Arbeiter, warum die Grenze nicht geöffnet werde, die Versorgung schlecht sei und man Probleme verschweige. Wenn es nach den Zeitungen gehe, so witzelten die Menschen, müsste es in der DDR alles geben. Tatsächlich aber dürfe man seine Meinung kaum sagen und werde bevormundet. Es gab „kaum jemanden, der positiv über die DDR spricht“ und es kursierten Witze wie : „Lieber ein Feldbett in Gießen als eine Neubauwohnung mit Fliesen.“353 In manchen Betrieben und Einrichtungen verhielten sich viele Beschäftigte allerdings noch reserviert, sagten ihre Meinung nicht offen und nahmen eine abwartende Haltung ein.354 Sozialistisches Lager : Breiten Raum nahmen in allen Kreisen die Entwicklungen in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, aber auch China ein.355 In der Bevölke348 Vgl. Protokoll der 110. Sitzung des Ministerrats der DDR am 21. 9. 1989 ( BArch Berlin, I /3–2857 27–51). 349 KDfS Geithain vom 23.9,1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 90– 96). 350 Vgl. KDfS Glauchau vom 19. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 47–50). 351 KDfS Auerbach vom 12. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 2, Bl. 189–191). 352 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 534, 2, Bl. 89– 93); KDfS Glauchau vom 14. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 2, Bl. 66 f.); KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 15–18); KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion (BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 560–53). 353 KDfS Auerbach vom 5. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 194– 196). 354 KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 78–82). 355 Vgl. KDfS Löbau vom 17. 7. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 125– 128).

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rung wusste man, dass sich das sozialistische Lager am Scheidepunkt befand. Entsprechend groß war das Interesse. Dabei gab es eine deutliche Trennungslinie zwischen „progressiven Bürgern“, welche die Entwicklungen mit Besorgnis betrachteten, und „feindlich - negativen Kräften“, die „ihre Hoffnungen auf eine Destabilisierung des sozialistischen Lagers“ setzten.356 Begriffe wie „Bruderländer“ und „Bruderpartei“ wurden mit Skepsis bedacht. Es wurde gefragt, ob überhaupt noch von sozialistischen Staaten gesprochen werden könne, wenn z. B. Ungarn marktwirtschaftlich werde. Unsicherheit gab es über künftige Wirtschaftskooperationen im RGW sowie ein einheitliches Wirken im Warschauer Pakt. „Progressive“ befürchteten, die wachsenden Widersprüche könnten sich auf die militärische Sicherheit auswirken.357 In der Bevölkerung kannte man den Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in Polen, der Sowjetunion sowie Ungarn und jener in der DDR. Es gab Befürchtungen, die Auflösung des sozialistischen Staatenbündnisses könne Auswirkungen auf eine weitere Abschottung der DDR haben.358 Die MfS - Kreisdienststelle Geithain meldete als typische Äußerung : „Wir in der DDR sind der letzte Dreck in Europa, außer vielleicht Rumänien und einige Gebiete in der UdSSR. Nur der Unterschied zwischen uns und der UdSSR besteht darin, dass sich dort was tut. Selbst in Polen geht es jetzt aufwärts.“359 Trainer des SC Dynamo Klingenthal meinten, die sozialistische Staatengemeinschaft zerfalle.360 Arbeiter des VEB Kabelwerke Schlettau ( Annaberg ) äußerten, Honecker könne sich nicht mehr lange einer Öffnung widersetzen und werde Probleme mit der Sowjetunion bekommen.361 Die Angst, als eine der letzten Bastionen einer reformfeindlichen Politik isoliert zu werden, erhöhte den Druck auf Veränderungen in der DDR.362 Zweifel wuchsen, ob der Sozialismus tatsächlich die bessere Gesellschaftsordnung sei.363 Im Zentrum des Interesses stand die Sowjetunion. Die dortigen nationalen Auseinandersetzungen, „konterrevolutionären Ausschreitungen“ sowie Streiks 356 KDfS Annaberg vom 3. 8. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 194–196). 357 Vgl. BVfS Leipzig vom 27. 7. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 98–102); KDfS Freital vom 7. 6. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 608– 611); KDfS Löbau vom 17. 7. 1989 : Reaktion ( ebd. 10923, Bl. 125–128). 358 Vgl. BVfS Leipzig vom 1. 6. 1989 : Informationen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 47–50). 359 KDfS Geithain vom 23. 9.1989 : Info ( ebd., KDfS Geithain 21, Bl. 90–96). 360 Vgl. KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15– 18). 361 Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 8. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 194–196). 362 Vgl. BVfS Leipzig vom 1. 6. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 47–50); BVfS Leipzig vom 17. 8. 1989 : Informationen ( ebd., Bl. 109–114); BVfS Leipzig vom 27. 7. 1989 : Info ( ebd., Bl. 98–102); KDfS Aue vom 9. 8. 1989 : Diskussionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 158–160); KDfS Freital vom 7. 6. 1989 : Reaktionen (BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 608–611). 363 Vgl. KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111).

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wurden kontrovers diskutiert.364 Das MfS zitierte „progressive Bürger“ : „Was in der SU los ist, macht uns großen Schaden. Man verliert doch den Glauben an den bisher zuverlässigsten Freund und Beschützer, die SU. [...] Wenn das bei uns so wäre, würden bestimmte Elemente versuchen, die Oberhand zu bekommen. Wir wollen nur hoffen, dass es bei uns so friedlich und stabil bleibt.“365 Immer häufiger wurden „Zweifel am Freundschaftsgedanken“, an „Sinn und Wirken der Organisation DSF“ sowie der Vorbildwirkung der SU als „führender Kraft“ des Weltsozialismus geäußert. Starke Diskussionen löste ein im „Neuen Deutschland“ vom 27./28. Mai abgedruckter Artikel der „Trybuna Ludu“ über „angebliche Verbrechen der Sowjetarmee“ unter „progressiv eingestellten Personen“ aus. Bei ihren Argumentationen dazu „zeigten sich Verwirrung und Zurückhaltung“. Viele Genossen fragten : „Hat die SU 1939 beim Einmarsch in Polen das Völkerrecht missachtet und als Aggressor gehandelt ?“, „Ist der Sozialismus nicht grundsätzlich frei von aggressiven Handlungen ?“ und „Warum diese Enthüllungen nach 45 Jahren ? Welchem Zweck dienen sie und wem nutzen sie ?“. Im Zusammenhang mit dem nun publik werdenden Geheimvertrag zwischen Stalin und Hitler wurde die Gültigkeit der Grenzen in Osteuropa hinterfragt. Kritisiert wurde, dass die Partei - und Staatsführung keine Stellung bezog und den SED - Mitgliedern keine Argumente lieferte.366 Kritisiert wurde auch die Rede Honeckers beim Besuch in Magnitogorsk Ende Juni.367 Ebenso wurde das Verhältnis der Sowjetunion zum geteilten Deutschland diskutiert und der Besuch Gorbatschows in Bonn verfolgt. Mit der in Bonn unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung“ verbanden sich Hoffungen auf Veränderungen in der DDR.368 Angesichts der Legalisierung von Solidarność in Polen im April, des Nationalen Runden Tisches aus Kommunisten und Oppositionellen, der am 6. Februar erstmals zusammentrat und die gesetzlichen Grundlagen für ein Mehrparteiensystem schuf,369 aber auch der freien Wahlen, aus denen erstmals ein nichtkommunistischer Ministerpräsident als Sieger hervorging, meinte ein großer Teil der Bevölkerung, Polen sei nicht mehr sozialistisch. SED - Mitglieder bezweifelten, dass die PVAP noch in der Lage sei, die Politik zu beeinflussen.370 Ähnlich waren die Einschätzungen über Ungarn. Hier habe die USAP die Grundpositionen des Sozialismus verlassen und sei keine kommunistische Par364 BVfS Leipzig vom 17. 8. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 109–114). Vgl. KDfS Aue vom 9. 8. 1989 : Diskussionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 158– 160). 365 KDfS Annaberg vom 27. 7. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 199–203). 366 KDfS Freital vom 7. 6. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 608– 611). 367 Vgl. FAZ vom 29. 6. 1989. 368 Vgl. BVfS Leipzig vom 16. 6. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 66–69); Fischer / Richter, Die beiden deutschen Staaten, S. 42 f. 369 Vgl. Gehler, Die Umsturzbewegung, S. 39. 370 Vgl. KDfS Freital vom 7. 6. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 608– 611).

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tei mehr.371 Mitarbeiter der Poliklinik und des Kreiskrankenhauses Freital, des VEB Spiegelwerk Wilsdruff und des VEB Sächsische Porzellanmanufaktur und Bergbaubetrieb „Willi Agatz“ Dresden fragten, ob Ungarn überhaupt noch ein Teil des sozialistischen Weltsystems sei.372 SED - Leitungskader verschiedener Betriebe verglichen die Situation mit 1956 und schlossen einen Bürgerkrieg nicht aus.373 Mit Blick auf die symbolische Grenzöffnung nach Österreich wurde nach Auswirkungen gefragt.374 Die Bevölkerung befürchtete Reisebeschränkungen, und es gab bereits im Juni Gerüchte, wonach viele Visa für Ungarn abgelehnt worden seien. Als Kontrast zur Reformentwicklung galt das Interesse China. Die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung Anfang Juni und die folgenden Erschießungen in Shanghai und anderen Städten wurden als auch für die DDR zu befürchtendes Gegenmodell zu Reformentwicklungen angesehen.375 Dies galt umso mehr, als die SED - Führung keine Gelegenheit ausließ, das dortige Vorgehen zu loben. Bis in den Herbst spielte das Konzept einer „chinesischen Lösung“ eine wichtige Rolle. Wirtschaft : Eine zentrale Rolle im Stimmungsbild der Bevölkerung spielte die Situation in den Betrieben und der Wirtschaft insgesamt. Überall wurden „Zweifel an der Politik der SED, vorrangig der Wirtschaftspolitik“ laut, wobei fast immer auf die Diskrepanz zwischen öffentlicher Darstellung und tatsächlichen Verhältnissen hingewiesen wurde.376 Nur noch sehr überzeugte SED - Mitglieder erwarteten vom XII. Parteitag der SED einen Ausweg aus der „volkswirtschaftlichen Misere“.377 Unter Leitungskadern mehrten sich Fehlerdiskussionen zur ökonomischen Strategie. Es wurden grundsätzliche Kritiken an der sozialistischen Wirtschaftsweise formuliert und Bekenntnisse zur Marktwirtschaft abgegeben. Die DDR produziere, so Meinungen aus Marienberg, im Vergleich mit den kapitalistischen Staaten mit „Steinzeitmethoden“. Von Effektivität könne keine Rede sein. Der Einzug der freien Marktwirtschaft würde die Betriebe zu höherer Produktion stimulieren.378 Arbeiter des VEB Edelstahlwerk „8. Mai 1945“ Freital äußerten „Zweifel an der weiteren Entwicklung der DDR und des Sozialismus im Allgemeinen“.379 Im VEG Obstbau Borthen wurde offen die Frage diskutiert : „Ist der Kapitalismus in der politischen und wirtschaftlichen 371 Vgl. KDfS Annaberg vom 27. 7. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 199–203). 372 Vgl. KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566– 569). 373 Vgl. KDfS Freital vom 7. 6. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 608–611). 374 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10923, Bl. 108–111). 375 Vgl. BVfS Leipzig vom 27. 7. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 98–102). 376 KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 119– 124). 377 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 378 KDfS Marienberg vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538). 379 KDfS Freital vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 555– 557).

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Offensive ?“380 Mediziner in Hohenstein - Ernstthal registrierten rückläufige Tendenzen auf fast allen Gebieten der Entwicklung. Die DDR zähle sich gern zu den zehn stärksten Industrienationen, aber auf dem Binnenmarkt sei davon nichts zu spüren.381 Angesichts der allgemeinen Schuldzuweisungen der SED Führung an den Kapitalismus meinten Arbeiter und Ingenieure des VEB Freiberger Zellstoff - und Papierfabriken, die Ursachen für die Situation seien eigene Fehler in der Wirtschaftspolitik.382 Neben allgemeinen Kritiken am Wirtschaftssystem dominierten Äußerungen über konkrete Probleme der Produktion. Immer wieder kam es zu Ausfällen durch fehlende Zulieferung. Ein Leiter im VEB Halbzeugwerke Auerhammer (SED ) meinte, belastend sei vor allem „der tägliche Kampf im Betrieb um die einfachsten Dinge, wie Sortimente von Ersatzteilen ( Schrauben, Keilriemen, Baumaterialien usw.)“. Dies führe zu Zweifeln an der Wirtschaftspolitik. Investitionsvorhaben zu Grundmaterialien der Mikroelektronik wären inzwischen gar nicht mehr durchführbar.383 Werktätige des VEB Vliestechnik Lößnitztal, Werk Hainichen, berichteten, die Lage im Betrieb sei „traurig“. Das beginne mit der mangelnden Bereitstellung von Material für die Produktion und ende beim fehlenden Transportraum für Erzeugnisse. Es sei unbegreif lich, dass sich nichts ändere.384 Im VEB Freiberger Zellstoff - und Papierfabrik meinte man ebenfalls, eine ausreichende, aber nicht gegebene, Versorgung mit Ersatzteilen, Maschinen, Aggregaten und Zuliefermaterial sei eigentlich unerlässlich.385 Im Kreisbetrieb für Landtechnik Aue fehlte es z. B. an Steinzeugrohren und Zement. Für Mähdrescher konnten keine Ersatzmotoren zur Verfügung gestellt werden.386 Im VEB Papierfabrik Hainsberg fehlten Zellstoff lieferungen aus der Sowjetunion in einer Größenordnung von 7 000 Tonnen, was eine ständige Umstellung der Produktionsaggregate notwendig machte. Der Betrieb konnte so nur zwei Tage im Voraus planen und sein Planziel nicht erfüllen.387 Lehrer der Ingenieurhochschule Mittweida kritisierten die Investitionspolitik. So würden ungeeignete Industrieanlagen aus dem Westen gekauft. Sie forderten eine stärkere Entwicklung des Ratio - , Werkzeug - und Sondermaschinenbaus und kritisierten fehlende Flexibilität in der Wirtschaftslenkung.388 Arbeiter des VEB Edelstahlwerk „8. Mai 1945“ Freital kritisierten, dass die Volkswirtschaft nicht stabil arbeite und für sie keine positive Entwicklung sichtbar sei. Sie forderten eine 380 KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 566–569). 381 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 89–93). 382 Vgl. KDfS Freiberg : Reaktionen, o. D. ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91). 383 KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 119–124). Vgl. Barkleit, Mikroelektronik in der DDR. 384 KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 99–104). 385 Vgl. KDfS Freiberg : Reaktionen, o. D. ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91). 386 Vgl. KDfS Aue vom 5. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 1805, Bl. 138–141). 387 Vgl. KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 560– 53). 388 Vgl. KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 99– 104).

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schnellere Beseitigung von Störungen an den Produktionsaggregaten. Es stünden keine Ersatzteile zur Verfügung.389 In ähnlicher Weise wurde überall auf die Nichtauslastung von Maschinen und Anlagen, verbunden mit dem Fehlen von Material und Ersatzteilen, verwiesen.390 Auch in Kleinbetrieben fehlten Ersatzteile. Das Bilanzwesen bremste die Produktion, die einzige Alternative waren Direktbeziehungen zu Zulieferbetrieben.391 Diskontinuierliche Produktion, verursacht durch Material - oder Ersatzteilprobleme, rief wiederum negative Reaktionen bei den betroffenen Arbeitskräften hervor. Vor allem die Praxis – in der Woche Stillstand und am Wochenende Sonderschichten – missfiel. Man bezichtigte die Betriebsleitungen der Unfähigkeit und machte sie für Lohneinbußen verantwortlich.392 In vielen Betrieben ließen Ordnung und Disziplin nach. Werktätige verließen ihre Arbeitsplätze, um Einkäufe zu tätigen, da es nach Arbeitsschluss keine Waren mehr gab, oder erledigten während der Arbeitszeit „private Bedürfnisse“.393 Proteste riefen die Entscheidungen der Betriebsleitung des VEB Geräteund Werkzeugbau Wiesa sowie des VEB Kabelwerke Schlettau hervor, die durch Verlassen des Arbeitsplatzes zwecks Einkauf verlorene Arbeitszeit nacharbeiten zu lassen. Die Beschäftigten wiesen darauf hin, dass nach Feierabend die Regale leer seien. Die Betriebsleitungen bemühten sich daraufhin um eine eigene Versorgung innerhalb der VEB.394 Im VEB Edelstahlwerk Freital sank die Bereitschaft zur Übernahme zusätzlicher Aufgaben mit dem Argument, man brauche die Zeit für die Versorgung und die Beschaffung von Mangelwaren wie alkoholfreien Getränken, Obst und Gemüse sowie Ersatzteilen aller Art. Wiederholt wurden deswegen Pausen überzogen und die Arbeitsplätze vorzeitig verlassen.395 Auch im VEB Dampfkesselbau Meerane war „ein merklicher Rückgang der Arbeitsmoral“ zu verzeichnen. Stattdessen rückten das unzureichende Konsumgüterangebot, die schlechte Versorgungslage, besonders mit Obst und Gemüse, die langen Wartezeiten bei Pkws und die unzureichenden Reisemöglichkeiten in den Mittelpunkt der Diskussionen.396 Besser war die Moral bei LPG Mitgliedern. Bauern der LPG ( P ) „Karl Marx“ Dennheritz forderten, die Arbeitsdisziplin zu verbessern. Die Bevölkerung würde verhungern, wenn die Genossenschaftsbauern die allgemeine Arbeitsdisziplin hätten.397 389 Vgl. KDfS Freital vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 555– 557). 390 Vgl. BVfS Leipzig vom 7. 3. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 105–111). 391 Vgl. KDfS Niesky vom 18. 4. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 375– 378). 392 Vgl. KDfS Löbau vom 17. 7. 1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 125–128). 393 KDfS Annaberg vom 31. 8. 1989 : Meinungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 171–173). 394 Vgl. KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 78–82). 395 Vgl. KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566– 569). 396 KDfS Glauchau vom 20. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 56 f.). 397 Vgl. KDfS Glauchau vom 22. 9. 1989 : Info ( ebd., Bl. 63–65).

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In einigen VEB war die Rede von Planmanipulationen und Falschmeldungen an staatliche und wirtschaftsleitende Organe, von Exportreklamationen durch verantwortungsloses Handeln einzelner Kader, von Unzulänglichkeiten in Arbeitsorganisation und - ablauf, einschließlich unzureichender Nutzung hochproduktiver Maschinen und Anlagen, von Mängeln und Gesetzesverstößen im Bereich Ordnung und Sicherheit, von Unzulänglichkeiten in der Arbeitsorganisation, Reklamationserscheinungen im Export und Fehlmengenreklamationen in erheblichen Größenordnungen im UdSSR - Export.398 Bei einer SED - Versammlung des VEB Vogtlandtrikot Auerbach wurde „der konsequente Abbau der Bürokratie und die Reduzierung des Verwaltungsapparates“ gefordert. Die Lage der DDR sei „ohnmächtig und hoffnungslos“.399 Zahlreiche Betriebsleiter forderten eine Erhöhung der Selbstständigkeit der Betriebe, Arbeiter eine Reduzierung des Ver waltungsapparates in Ministerien, Kombinaten, staatlichen Organen und im Parteiapparat.400 Im VEB Kunstleder Tannenbergsthal wurden die geschönten Meldungen über Planerfüllungen, die Steigerung des Nationaleinkommens und der Arbeitsproduktivität als „Spiegelfechtereien“ abgetan. Tatsächlich sei in den Betrieben oft nicht einmal Material für die Produktion vorhanden.401 Man müsse, so ein Elternbeirat in Glauchau, in den Betrieben wieder zur Ehrlichkeit und wahrheitsgemäßen Abrechnung der Ergebnisse zurückkehren.402 Auffällig war, dass nicht nur von Wirtschaftsexperten, etwa der Ingenieurhochschule Mittweida, sondern auch von den Beschäftigten selbst eine stärkere Betonung des Leistungsprinzips gefordert wurde. Dazu gehörten Veränderungen der Kaderpolitik. Derzeit würden „ungeeignete Kader selbst in höchste Leitungsfunktionen eingesetzt“.403 Auch Beschäftigte des Hotels „Karl Liebknecht“ in Annaberg - Buchholz nannten es ein Grundübel der Wirtschaft, nicht konsequent nach dem Leistungsprinzip zu entlohnen. Dadurch fehlten Leistungsanreize. Manche meinten, dies sei nur in einer freien Marktwirtschaft möglich.404 Der fehlende Konkurrenzkampf führe zu Gleichgültigkeit.405 Ein Kritikpunkt war das Missverhältnis zwischen ökonomischen Erfolgsmeldungen und dem Angebot in den Geschäften, dem Mangel an Ersatzteilen für Pkws und der schlechten Qualität von Dienstleistungen.406 Von der ständigen Steigerung der Arbeitsproduktivität sehe man im Angebot der Waren nichts. Die MfS - Kreisdienststelle Geithain zitierte Volkes Stimme : „Wer Kinder hat, 398 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5. 12. 1988 : Lage ( ebd., HE 67, 1, Bl. 1–7). 399 KDfS Auerbach vom 4. 10. 1989 : Bericht ( ebd., AKG 530, Bl. 87–89). 400 Vgl. KDfS Löbau vom 17. 7. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 125– 128). 401 KDfS Klingenthal vom 19. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 19). 402 Vgl. KDfS Glauchau vom 22. 9. 1989 : Info ( ebd. 533, 2, Bl. 63–65). 403 KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 534, 1, Bl. 99–104). 404 Vgl. KDfS Annaberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 92–97). 405 Vgl. KDfS Annaberg vom 14. 8. 1989 : Stimmungen ( ebd. 1804, Bl. 184–186). 406 Vgl. KDfS Hoyerswerda vom 21. 9. 1989 : Info BKW Knappenrode ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 49 f.)

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bekommt keine Unter wäsche, es gibt nur teure Schuhe für 100,– Mark und mehr. Vor 15 Jahren war in der DDR alles besser. Jeder arbeitet gerne, wenn er sich dafür etwas leisten kann. Da arbeite ich lieber bei den Kapitalisten, selbst wenn es schwer ist, in der BRD zurechtzukommen, aber dort kann ich mir was schaffen.“407 Man könne nicht verlangen, immer mehr zu produzieren, ohne gleichzeitig den Binnenmarkt zu bedenken.408 Versorgung: Eng verzahnt mit der Einschätzung der Wirtschaftslage war die Kritik an der Versorgungslage.409 Sie bestimmte die Stimmungslage dominant. Häufig bemängelt wurde die Preisgestaltung. Es gab Vorschläge für eine Volksabstimmung über Preise von Grundnahrungsmitteln wie Brot und Backwaren, „mit denen unachtsam, weil billig, umgegangen wird“. Diese sollten heraufgesetzt und dafür technische Konsumgüter billiger angeboten werden.410 Arbeiterinnen im VEB Bekleidungswerk Lößnitz meinten, man habe schon Angst, wenn in der Zeitung ein neues Konsumgut angekündigt werde, da dies meist mit einer Verteuerung einhergehe.411 Mitarbeiter des Kreisbetriebs für Landtechnik Aue kritisierten die Preise von Delikatbutter, Kondensmilch und Zahncreme. Die Qualität sei dieselbe wie vor Jahren, allerdings müsse man das Doppelte bezahlen.412 Die „einheitliche Auffassung“ aller Arbeiter und Angestellten des VEB Edelstahlwerk Freital war es, dass die Ware - Geld-Beziehungen als ökonomische Hebel wieder in Ordnung gebracht werden müssten.413 Beschäftigte des VEB Gebäudewirtschaft Oberwiesenthal forderten angesichts der versteckten Preissteigerungen Lohnerhöhungen.414 Für Ärger sorgte „die immer stärkere Einteilung der Bürger in bestimmte Kategorien“, nämlich solche „mit Beziehungen und Verbindungen“ sowie „Bürger mit Westgeld“.415 Wer, wie die meisten, beides nicht habe, sei „doppelt bestraft“.416 Bewohner Freibergs sprachen von „privilegierten Schichten“, die materielle Vorteile genießen würden, über Westgeld verfügten und Reisemöglichkeiten in den Westen hätten.417 In Oberwiesenthal kursierte der Witz, künftig werde der Lohn in vier Teilen ausgezahlt. Ein 407 KDfS Geithain vom 23. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 90– 96). 408 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 89–93). 409 Vgl. dazu Kaminsky, Noch nie, S. 105–115. 410 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5. 12. 1988 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 1–7). 411 Vgl. KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd., AKG 531, 1, Bl. 119–124). 412 Vgl. KDfS Aue vom 5. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 1805, Bl. 138–141). 413 KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566– 569). 414 Vgl. KDfS Annaberg vom 10. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 63–69). 415 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 416 KDfS Auerbach vom 29. 8. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 208– 212). 417 KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 74–76).

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Viertel in Westmark, damit jeder einmal im Intershop kaufen könne, ein Viertel in Dollar, damit man reisen könne, ein Viertel in Złoty, damit jeder eine volle Brieftasche habe und ein Viertel in DDR - Mark, damit man Beiträge und SoliMarken bezahlen könne.418 Wissenschaftler der Bergakademie Freiberg kritisierten, die DDR habe Bedingungen geschaffen, die sich jetzt negativ auswirkten. Dazu gehörten Intershop, Genex, Besitz von Devisen, die nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung Verbesserungen brächten, aber für Unzufriedenheit bei den anderen sorgten.419 Vor diesem Hintergrund rückte die schlechte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln noch mehr ins allgemeine Bewusstsein. Schon Ende 1988 hatte das MfS die SED - Führung über Diskussionen der Bevölkerung informiert, wonach die Äußerungen führender Politiker den Realitäten widersprächen. Tatsächlich sei das Warenangebot in der Bundesrepublik, aber auch in anderen sozialistischen Staaten, bedeutend besser als in der DDR. Seit Jahren verschlechtere sich die Versorgungslage, was sich „besonders im 40. Jahr des Bestehens der DDR und angesichts der bevorstehenden Kommunalwahlen negativ auswirken werde“. Die Instabilität im Warenangebot sei aus Sicht der Bevölkerung weiter gewachsen, weshalb die Arbeitszeit für Einkäufe genutzt werden müsse und viel „Rennerei und Herumfahrerei“ erforderlich sei.420 An diesen MfS - Berichten hatte sich bis zum Sommer 1989 wenig geändert. Noch immer nahmen neben der Entwicklung im Ostblock bei Diskussionen Probleme der Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs und der Ersatzteilversorgung für Kfz aller Art den meisten Platz ein.421 Verbunden waren die Kritiken immer wieder auch mit Vorschlägen, z. B. durch mehr Privatinitiative wie in Ungarn zur Verbesserung der Versorgung zu gelangen.422 Werktätige des VEB Vliestechnik Lößnitztal, Werk Hainichen, nannten es „beängstigend, welche Tendenzen im Bereich Handel und Versorgung zu verzeichnen“ seien.423 Beschäftigte des Agro-Chemischen Zentrums Waldenburg erklärten, sie hätten nichts gegen den Staat und fühlten sich auch in der DDR wohl, verstünden aber nicht, warum offen zutage liegende Probleme nicht angesprochen würden. Unbedingt notwendig sei z. B. die Verbesserung der Versorgung, da es kaum noch Erzeugnisse im Handel gebe, nach denen man nicht laufen müsse. Durch BRD - Reisen wisse man, dass es auch anders geht.424 418 419 420 421

KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 78–82). Vgl. KDfS Freiberg vom 13. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91). BVfS Leipzig vom 1. 11. 1988 : Info ( ABL, FVS Dresden BVfS an SED - BL Leipzig ). Vgl. KDfS Löbau vom 17. 7. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 125– 128); KDfS Aue vom 9. 8. 1989 : Diskussion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 158– 160); KDfS Stollberg vom 25. 8. 1989 : Bericht ( ebd., St. 44, Bl. 22 f.); KDfS Hohenstein- Ernstthal vom 23. 8. 1989 : Info ( ebd., HE 67, Band 1, Bl. 101–103). 422 Vgl. SED - KL Altenburg vom 16. 8. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 22–27). 423 KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 99– 104). 424 Vgl. KDfS Glauchau vom 22. 9. 1989 : Info ( ebd. 533, 2, Bl. 63–65).

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Unter der Bevölkerung von Glauchau wurden besonders die langen und oft vergeblichen Wartezeiten beim Frisör und das unzureichende Angebot an Fahrradersatzteilen kritisiert.425 Überall gab es eine hohe Erwartungshaltung bezüglich von Maßnahmen zur Behebung der Versorgungsprobleme.426 Allein mit stabilen Preisen für Grundnahrungsmittel, so die meisten Arbeiter und Angestellten des VEB Freiberger Präzisionsmechanik, sei der Sozialismus nicht attraktiv. Die Ansprüche der Leute lägen höher.427 Nichts charakterisiert die Lage besser als Mängellisten von SED - Kreisleitungen oder Kreisdienststellen des MfS. So hieß es in Löbau, die schlechte Versorgungslage mit Bier und alkoholfreien Getränken habe sich „äußerst negativ auf die Stimmungslage der Bevölkerung ausgewirkt“. Am 18./19. August kam es in der Konsum - Kaufhalle Weigsdorf - Köblitz zu „regelrechten Tumulten“, wobei sich Bürger offen „gegen die DDR bzw. den Sozialismus“ aussprachen. Auch sei die Unzufriedenheit darüber groß, „dass trotz großer Presseartikel und Versprechungen wir immer noch weit davon entfernt sind, ein stabiles Warenangebot an Brot / Semmeln und Milch bzw. Fleisch - und Wurstwaren bis Ladenschluss durchzusetzen“. Starke Kritik werde gleichfalls an der Versorgung mit Edelgemüse, wie Melonen, Pfirsichen, Paprika und Südfrüchten geübt.428 Daneben fehlten auch alkoholfreie Getränke, Säfte, insbesondere Kindersäfte, Waffeln, Kekse, Kinderschokolade, Kosmetika, an Haushaltwaren einfache Kochtöpfe, Kuchenbleche, Spüleneinsätze, Spülenkörbe, Föhne, Brotbüchsen, Steppdecken, Kleintäschnerwaren, an Bekleidung Trainings - und Jogginganzüge, Unter wäsche für Damen und Herren, Turnschuhe, Schuhe allgemein, Jugendmode, modische Bekleidung, Musterstrumpfhosen, Gürtel und einfarbige Popelinestoffe, im Bereich Heimwerkerbedarf Schrauben, Nägel und andere Kleinstwaren aller Art. Das Wurst - und Fleischangebot sei einseitig. Völlig unbefriedigend sei die Versorgung mit Zeitschriften und Zeitungen. Kritisiert würden auch die mangelnde Versorgung mit Telefonen, die Dichte des öffentlichen Verkehrs, der Straßenzustand, die öffentliche Ordnung und Sauberkeit sowie „sicht - und fühlbare Umweltbelastungen“.429 Die SED - Kreisleitung berichtete über fehlende Ersatzteile für Pkws und Kleinkrafträder, lange Wartezeiten bei Reparaturen an Pkws und hochwertigen Konsumgütern, altbackenes Brot bzw. Brötchen, Mangel an Obst und Gemüse, fehlende Kindersäfte für Babys. Kritisch sei das unzureichende Angebot an Damenschlüpfern, Kindersocken, modischer Kinderbekleidung sowie modischer Bekleidung bzw. auch in den größeren Größen sowie bei den „1000 kleinen Dingen“.430 In Annaberg wurde kritisiert, dass Obst und Gemüse „teilweise stark angefault“ sei. Hier gab es Ende September in einer HO - Fleischerei kein Fleisch, weil das Geschäft nicht 425 426 427 428 429 430

Vgl. KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd., Bl. 68–71). Vgl. KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 532, 2, Bl. 109–112). Vgl. KDfS Freiberg vom 13. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91). KDfS Löbau vom 23. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 112–115). KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 108–111). SED - KL Altenburg, vom 16. 8. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 22–27).

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bestellte Schweineköpfe nicht abnahm und deshalb die Fahrer auch die anderen Fleischwaren nicht abluden.431 Das MfS in Auerbach wusste über „heftige Diskussionen unter Kunden und Verkaufspersonal über die nicht der Jahreszeit entsprechende angebotene Konfektion“ zu berichten. So fehlten Sommerhosen, Blousons, Übergangsjacken für Damen und Herren, Kurzarmpullover ( sogar im „Exquisit“ ), Trainingsanzüge in allen Größen, Bälle oder Federballspiele und Badekappen.432 Große Verärgerung gab es regelmäßig darüber, dass viele Waren, wenn vorhanden, nur durch „Beziehungen“ oder „Schmiergelder“ erhältlich waren.433 Neben dem schmalen Angebot an Lebensmitteln kam es obendrein ständig zu Problemen bei der Verteilung. In Altenburg gab es im September eine rückläufige Entwicklung des Warenumsatzes. Die Frischwarenversorgung war „von Störungen begleitet“. Es gab Rückstände in der Auslieferung bei Brot und Brötchen, bei Getränken und ein ungenügendes Angebot an Bratenfleisch.434 In Sayda ( Brand - Erbisdorf ) weigerten sich Fahrer, Obst und Gemüse aus dem benachbarten Freiberg anzufahren, solange ihre Löhne nicht erhöht würden.435 Im Kreis Annaberg ver wies man auf die Argumentation der SED, dass in westlichen Ländern Ernten vernichtet würden, um die Preise hoch zu halten. Im Kreis würden „teilweise Blumenkohl und anderes Gemüse mit untergepflügt, da es an Transportkapazitäten mangelt“. Hier hatte man den Eindruck, die Verantwortlichen im Kreis seien entweder völlig unfähig oder betrieben Sabotage.436 Es wurde gefragt, warum Waren des täglichen Bedarfs wie Brot oder Milch nicht bis Ladenschluss angeboten würden. Die neue Delikatbutter zum Preis von 6,40 Mark habe keine bessere Qualität, sondern nur eine bessere Verpackung.437 Kritik gab es an der Präsentation der Waren, den Öffnungszeiten, der Freundlichkeit des Personals und der schlechten Organisation der Verteilung der Waren.438 Zu Beginn des neuen Schuljahres im September wurde vielerorts die mangelhafte Versorgung mit Artikeln des Schulbedarfs moniert. Kritik gab es an der Lage in der Gastronomie. Hier wehrten sich die Beschäftigten gegen Beschimpfungen der Bevölkerung wegen des schlechten Ser vices, der Schließung von Gaststätten und ungenügender Abendversorgung.439 Bemängelt wurde auch die 431 KDfS Annaberg vom 3. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 84–90). 432 KDfS Auerbach vom 29. 8. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 2, Bl. 208–212). 433 KDfS Freital vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 555– 557). 434 RdK Altenburg von Oktober 1989 : Versorgungsinformation ( KA Altenburg, RdK, KT 1772). 435 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 147–150). 436 KDfS Annaberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 92–97). 437 Vgl. KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 78–82). 438 Vgl. SED - KL Altenburg vom 16. 8. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 22–27). 439 Vgl. KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 560 f.).

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medizinische Versorgung.440 In 120 Informationen hatte das MfS seit 1987 SED- und staatliche Funktionäre auf Probleme vor allem im Gesundheitswesen hingewiesen. Die Bürokratie hatte kaum reagiert, sogar weitere Nachforschungen untersagt.441 Angehörige des medizinischen Personals der Polikliniken Oederan und Flöha ver wiesen auf die schlechte Bezahlung im Gesundheitswesen sowie auf die unzureichende Bereitstellung von Medikamenten und Geräten.442 Einen anderen Schwerpunkt der Berichte bildete die Ersatzteilversorgung bei Pkws.443 Das Thema „Pkws und Ersatzteile“, so das MfS in Löbau, habe mehr und mehr an Stellenwert gewonnen. Die Attraktivität des Sozialismus werde daran gemessen. Viele Werktätige brächten die Ausreise - und Fluchtwelle, speziell junger Leute, mit Problemen der Versorgung, langen Wartezeiten für ein Auto und „schwindendem Vertrauen der Masse der Werktätigen zu Partei und Regierung, diese Probleme zu lösen“, in Verbindung.444 Des Weiteren gab es ständig Kritik an der ungenügenden Bereitstellung von Heimwerkerbedarf 445 und Baumaterial für Eigenheimbauer.446 Bemängelt wurde vor allem die unzureichende Belieferung mit Kalk, Zement, Einbaubadewannen und Fliesen, Material für Dächer sowie Dichtungs - und Isoliermitteln.447 In zahlreichen Berichten wird auch die Kritik der Bevölkerung am Zerfall vieler älterer Städte wiedergegeben, der mit dem Bau neuer Repräsentationsbauten kontrastiere.448 Die Kritik an der Ausstattung der Wohnungen und fehlenden Möglichkeiten, dies zu beheben, war in Sachsen besonders groß. Die Gründe dafür zeigt ein Vergleich der Ausstattungen der Wohnungen im DDR - Vergleich. Gerade Sachsen mit dem höchsten Industrialisierungsgrad und der höchsten Wohndichte war am schlechtesten mit Duschen, Innen - WC und modernen Heizungen ausgestattet.449

440 Vgl. BVfS Leipzig vom 11. 8. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 103–108). 441 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Dienstversammlung am 2. 9. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 429, Bl. 13–14); Sitzung der SED - BL am 11. 11. 1989, S. 1, 3 f. ( ebd. 417); Horsch, Das kann, S. 4. 442 Vgl. KDfS Flöha vom 19. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 113–117). 443 Vgl. KDfS Annaberg vom 27. 7. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 199–203); KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108–111). 444 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 108–111). 445 Vgl. KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10917, Bl. 560–53). 446 Vgl. KDfS Annaberg vom 27. 7. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 199–203). 447 Vgl. KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 448 Vgl. KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 74– 76). 449 Vgl. Karte im Anhang : Anteil der Wohnungen mit Innen - WC 1989 nach Kreisen.

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Diagramm 1: Abweichungen der ostdeutschen Länder von der durchschnittlichen Ausstattung der Wohnungen 1990 ( in %).450

Flucht und Ausreise : Anfang August rückte die Ausreiseproblematik immer mehr ins Zentrum der Diskussionen. Sie wurde als Ausdruck allgemeiner Unzufriedenheit mit der Alltagssituation bewertet. Man befürchtete Auswirkungen auf Wirtschaft und Versorgung sowie eine Zuspitzung der Situation. Dabei schwankten die Meinungen zwischen Verständnis und Sorge über die Folgen für die Zurückbleibenden.451 In Annaberg kursierte das Gerücht, bis zum 7. Oktober würden insgesamt 30 000 Bürger die ständige Ausreise erhalten. In einem entsprechenden Witz wurde vorgeschlagen, künftig den 8. Oktober als „Tag der Zurückgebliebenen“ zu feiern.452 Mit dem Einsetzen der Massenflucht über Ungarn und seit der Grenzöffnung am 11. September von Ungarn nach Österreich für DDR - Flüchtlinge spitzte sich die Diskussion über die Massenflucht weiter zu, und bald gab es „kaum noch Gespräche, die nicht in irgendeiner Weise diese Problematik“ berührten.453 Die Haltung der Bevölkerung schwankte, je nach Stellung im Regime, zwischen Ablehnung und Zustimmung. Typisch war die vom MfS beschriebene Polarisierung im VEB Edelstahlwerk Freital. Hier dominierten „zwei konträre Meinungen“. Eine Hälfte verurteilte die Flüchtlinge und befürchtete Einschränkungen im Reiseverkehr. Die Flüchtlinge hätten illusionäre Vorstellungen und würden ihren Schritt bald bereuen. 450 Raumordnungsreport ’90, S. 121–123. 451 Vgl. KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 452 KDfS Annaberg vom 27. 7. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 199– 203). 453 KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 119–124). Vgl. KDfS Freiberg vom 13. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd., AKG 533, 1, Bl. 89–91).

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Sie seien „nicht in der Lage, in der BRD zu bestehen“. Der andere Teil der Bevölkerung vertrat die Auffassung, noch mehr DDR - Bürger müssten „abhauen“, damit „die da oben“ begreifen, was das Volk will.454 Vor allem Jüngere hatten Verständnis. Nur etwa zehn Prozent der Jugendlichen des VEB Halbzeugwerk Auerhammer verurteilten die Massenflucht.455 Sie hätten, so andere, ihre Chance genutzt. Man könne ja die Leute reisen lassen, wohin sie wollten.456 „Feindlich - negative Personen“ brachten „spöttisch ihre Freude über das Verlassen zum Ausdruck“. Es kursierte der Spruch „Der Letzte macht das Licht aus“. Es sei gut, dass es so komme, „jetzt müsse sich endlich in der DDR was ändern“.457 Viele zeigten Verständnis, erlebte doch jeder selbst die Probleme, die, so selbst ein MfS - Bericht, „das Leben hier teilweise unerträglich gestalten“, die „tägliche und ermüdende Lauferei nach Dingen des täglichen Bedarfs“ und die „völlig anachronistische Lage auf dem Kfz Markt“.458 Arbeiter in Flöha begrüßten die bundesdeutsche Hilfe für Flüchtlinge und die Protestaktionen in Leipzig.459 Auch Werktätige des VEB WEDRU und der Verkaufsstellen in Bärenstein äußerten Verständnis für die Flucht, da sich nichts ändere. Froh könne sein, wer das Rentenalter erreicht habe. „In den ganzen Jahren habe sich nichts geändert, nur Reden wurden gehalten und Versprechungen gemacht. Personen, die von Reisen in die BRD zurückkehren, würden über den goldenen Westen berichten.“460 Ein anderer Teil der Bevölkerung lehnte die Flucht ab. Arbeiter des VEB NARVA „Rosa Luxemburg“ Brand - Erbisdorf etwa nannten sie unüberlegt. Man wisse nicht, ob der Schritt soziale Unsicherheit in der BRD bedeute. „Gerade diese Sicherheit einer berechenbaren Perspektive für die eigenen Kinder sei in der DDR positiv zu bewerten.“ Aber in der DDR seien Reformen notwendig.461 Bauern der LPG ( P ) „Karl Marx“ Dennheritz ( Glauchau ) meinten, die Flüchtlinge wüssten nicht, was auf sie zukomme. Viele würden zurückwollen.462 Vor allem unter älteren SED - Mitgliedern gab es häufig strikte Ablehnung. In Klingenthal zitierte das MfS Meinungen wie „Hoffentlich lässt man diese Leute nicht wieder in die DDR“ oder „Um viele dieser Bürger ist es nicht schade, für sie kommt noch das böse Erwachen“.463 Im Kreis Glauchau verurteilten SED - Mitglieder „die Aktivitäten der BRD [...] zur Gewinnung von jungen Menschen, die ihre Heimat verraten“. Die Kritik galt auch Ungarn, das „sich an den Westen 454 KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566– 569). Vgl. KDfS Auerbach vom 12. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 189–191). 455 Vgl. KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd., 1, Bl. 119–124). 456 Vgl. KDfS Glauchau vom 22. 9. 1989 : Info ( ebd., AKG 533, 2, Bl. 63–65). 457 KDfS Annaberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 102–106). 458 KDfS Freiberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 80–86). 459 Vgl. KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 532, 2, Bl. 109–112). 460 KDfS Annaberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 92–97). 461 KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 532, 1, Bl. 147–150). 462 Vgl. KDfS Glauchau vom 22. 9. 1989 : Info ( ebd. 533, 2, Bl. 63–65). 463 KDfS Klingenthal vom 19. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 19).

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verkauft“ habe.464 Andere forderten Maßnahmen des Staates gegen die Übersiedlungen, „denn die fehlenden Arbeitskräfte wirken sich vor allem wieder auf die Rentner aus“.465 Der Staat müsse Straftaten wie die Flucht verhindern. Die Veteranen des Klassenkampfes verglichen die Situation mit der vor 1961 und meinten, die Flüchtlinge, die bisher „nur die Vorteile des Sozialismus verspürt haben, müssen nun endlich merken, wer die Macht hat“.466 Generell aber über wog überall Sorge über die Entwicklung. Weitgehend herrschte Ratlosigkeit. Es wurde gefragt : „Wo führt das hin ? Was soll in Zukunft werden ?“467 Mitarbeiter des VEB Kunstleder Tannenbergsthal zeigten sich schockiert über die Massenflucht und kritisierten, dass „offensichtlich keiner der Verantwortlichen sich Gedanken macht, welche Ursachen hierfür im eigenen Land liegen“.468 Es müsse zu denken geben, so Meinungen in Klingenthal, dass vor allem jüngere Menschen das Land verlassen. Man müsse die Ursachen vor allem in der DDR suchen. Die Folgen wären Lücken im Arbeitsprozess sowie eine weitere Verschlechterung von Wirtschaft und Versorgung.469 Arbeiter des VEB Messgerätewerk Meerane meinten, die DDR trage selbst die Schuld. Dennoch wurde die Haltung Ungarns kritisiert, weil man Beschränkungen im Reiseverkehr dorthin befürchtete.470 Arbeiter aus Schlema sahen die Regierung vor einem Dilemma : „Lassen wir unsere Bürger weiter nach Ungarn reisen, werden noch viele flüchten. Verbietet man Ungarnreisen, dann werden noch mehr einen Antrag auf Ausreise stellen, weil sie sich noch mehr eingesperrt fühlen.“471 Zugespitzt wurde die Lage durch westliche Meldungen, nach denen ca. 1,6 Millionen DDR - Bewohner in der Bundesrepublik leben wollten.472 Honecker, so hieß es, könne sich einen Namen machen, würde er den Abriss der Mauer anordnen.473 Gründe für die Ausreise : Das MfS in Berlin listete alle genannten Gründe für die Ausreise auf und legte sie der SED - Führung vor.474 Das MfS in Löbau nannte eingeschränkte Reisemöglichkeiten, die schwache DDR - Währung und die damit einhergehende „Deklassierung des DDR - Bürgers“, mangelndes Konsumgüterangebot und eine nicht durchgängige Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, die „schwierige Situation im Gesundheitswesen der DDR“ und das

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KDfS Glauchau vom 12. 9. 1989 : Info ( ebd. 533, 2, Bl. 54 f.). KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd., Bl. 68–71). KDfS Glauchau vom 12. 9. 1989 : Informationsbedarf ( ebd., Bl. 54 f.). KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd., 1, Bl. 74–76). KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 15–18). Vgl. KDfS Klingenthal vom 19. 9. 1989 : Info ( ebd., Bl. 19). Vgl. KDfS Glauchau vom 12. 9. 1989 : Info ( ebd. 533, 2, Bl. 54 f.). KDfS Aue vom 19. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 125–131). Vgl. KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566– 569). 473 Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 8. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 194–196). 474 MfS, ZAIG vom 7. 9. 1989 : Wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen zur ständigen Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR ( MfS, HA IX, 2467, Bl. 6–16).

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„völlig unterentwickelte Dienstleistungssystem“.475 Angesichts der Verhältnisse, so das MfS in Annaberg, solidarisierten sich teils sogar „bisher progressiv eingestellte Werktätige mit den Zielstellungen der Antragsteller auf ständige Ausreise“.476 Lehrer der Ingenieurhochschule Mittweida meinten, die Fluchtwelle sei nur die Spitze des Eisberges, „resultierend aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit unserer Wirtschaftspolitik, Versorgungsproblemen, schleichender Inflation, die offiziell verschwiegen wird“.477 Den Werktätigen des VEB Dampfkesselbau Meerane war es unverständlich, dass so viele junge Menschen die DDR verließen, obwohl sie hier „eine gesicherte Zukunft“ hätten und nicht wüssten, was sie im Westen erwartet. Wie groß müsse der Unmut über die Politik von Partei und Regierung sein, wenn sie sich zu einem solchen Schritt entschlössen.478 Arbeiter des VEB Fahrzeuggetriebewerk Glauchau meinten, die Regierung müsse die Ursachen bei sich selbst suchen und nicht den westlichen Medien die Schuld geben.479 Arbeiter des VEB NARVA „Rosa Luxemburg“ Brand - Erbisdorf äußerten, die DDR sei „ein einziges Gefängnis“,480 Bewohner von Annaberg - Buchholz : „Kein Wunder, dass so viele abhauen, hier gibt es doch nichts.“481 Es fiel auf, dass vor allem Jüngere die DDR verließen. Das sei kein Wunder, denn die Jugendarbeit lasse sehr zu wünschen übrig. In den wenigen Jugendklubs werde mit Reglementierungen gearbeitet, und es fehlten Wohnungen für ledige Jugendliche.482 Jugendliche störe weniger die Versorgungslage als fehlende Tanzveranstaltungen. Neunzig Prozent sähen FDJ - Arbeit nur als Pflicht an.483 Eine weitere Ursache für die Unzufriedenheit war die Indoktrinierung an den Schulen. Lehrer der Linden - Oberschule Meerane beklagten, die Entwicklungen im sozialistischen Lager stünden im Widerspruch zum Lehrstoff. Man wisse nicht mehr, wie man den Schülern gegenüber argumentieren solle. Diese schenkten den Lehrern kaum mehr Glauben.484 Frauen aus Coswig forderten für Kinder eine Friedenserziehung ohne Waffen, das Tolerieren anderer Meinungen, konstruktive Gespräche, die Übereinstimmung von Hören, Lesen und täglichem Erleben sowie eine lebensnahe Erziehung.485 475 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 476 KDfS Annaberg vom 14. 8. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 184–186). 477 KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 99– 104). 478 Vgl. KDfS Glauchau vom 20. 9. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 56 f.). 479 Vgl. KDfS Glauchau vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd., Bl. 47–50). 480 KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 532, 1, Bl. 147–150). 481 KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 78–82). 482 Vgl. KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 483 Vgl. KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15– 18). 484 Vgl. KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 533, 2, Bl. 68–71). 485 Vgl. BVfS Dresden vom 30. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 302–304).

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Auch mit Blick auf die Jugend wurden ältere SED - Mitglieder ihrem Ruf als Hardliner gerecht. Häufig wurden Jugendliche als „faul und unzuverlässig“ bezeichnet, die „nicht dankbar für die Errungenschaften des Sozialismus“ seien.486 Ältere Parteimitglieder in Eilenburg klagten, man bekomme „dem der Jugend gegebenen Vorschuss nicht gedankt“ : „Da helfen auch keine Jubelfeiern und Festivals. Sie kennen ja kaum noch die alten Kampf lieder oder sie schämen sich, sie öffentlich zu singen.“487 Arbeiter aus Betrieben des Kreises Flöha zeigten hingegen Verständnis für die meist jüngeren Flüchtlinge. Für die Jugend bestehe das Leben schließlich nicht nur aus Arbeiten, Schlafen und Essen. Es gebe kaum Jugendtanzveranstaltungen und „keinerlei Aktivitäten der FDJ“. Die Gaststätten hätten oft zu.488 Medien : Die Bevölkerung konnte sich fast nur über westliche Medien informieren. Der SED - Blätterwald schwieg ebenso wie Funk und Fernsehen. Nur selten wurden Ereignisse kommentiert und wenn, dann meist in Bezug auf westliche Meldungen. Schon Ende 1988 hatte das MfS über entsprechende Unzufriedenheit informiert.489 Diese nahm nun andere Ausmaße an und machte selbst vor der Volkspolizei nicht Halt. Die MfS - Kreisdienststelle Klingenthal schätzte ein, dass sich 95 Prozent der Bevölkerung ausschließlich über Westmedien informiere. Den DDR - Medien schenke niemand mehr Glauben. In den Diskussionen fänden „ausschließlich Argumente westlicher Medien“ Verwendung.490 Diese trugen auch maßgeblich zur Popularisierung der Protestaktionen bei, die im September vor allem in Leipzig stattfanden. Sie wurden überall in den Betrieben diskutiert.491 Westliche Sender wurden aber nicht nur empfangen, um sich politisch zu informieren. Jugendliche des Kreises Niesky etwa diskutierten nach MfS - Angaben fast ausschließlich Sendungen des Satellitenfernsehens wie Abenteuer - , Action - und Sexfilme sowie Männermagazine.492 In allen Kreisen der Bevölkerung, auch an der SED - Basis, wurden die DDRMedien hingegen scharf kritisiert. Man werde direkt gezwungen, sich über westliche Massenmedien zu informieren.493 Zeitungen, Radio und Fernsehen der 486 KDfS Auerbach vom 29. 8. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 208– 212). 487 KDfS Eilenburg vom 11. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 20). 488 KDfS Flöha vom 19. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 113– 117). 489 Vgl. BVfS Leipzig vom 5. 12. 1988 : Reaktionen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/01, Bl. 34–42). 490 KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15–18). Vgl. KDfS Freiberg vom 13. 9. 1989 : Reaktion ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91); KDfS Flöha vom 19. 9. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 113–117). 491 Vgl. KDfS Freiberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 80–86). 492 Vgl. KDfS Niesky vom 18. 4. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 375– 378). 493 Vgl. KDfS Freital vom 8. 9. 1989 : Reaktion ( ebd. 10917, Bl. 560–53); KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15–18); KDfS Marienberg vom 26. 9. 1989 ( ebd.); KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd., AKG 533, 2, Bl. 68–71); KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd., AKG 534, 1, Bl. 99–104); KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Reaktion ( ebd., AKG 532, 2, Bl. 109–112); KDfS Aue

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DDR zeichneten ein Bild, das mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun habe. Den tatsächlichen Problemen der Menschen, so die MfS - Kreisdienststelle Flöha, würde in den Medien kaum Beachtung geschenkt.494 Frauen des Kreisbetriebes für Landtechnik Aue kritisierten die Widersprüche zwischen Veröffentlichungen über Leistungssteigerungen der Volkswirtschaft und dem Angebot für die Bevölkerung.495 Für besonderen Ärger sorgte der Brief einer Frau Sacks, der am 22. August in der „Freien Presse“ abgedruckt worden war. Hier wurden nach Art der Sendung „Der schwarze Kanal“ des Moderators KarlEduard von Schnitzler die Verhältnisse in der Bundesrepublik in finsteren Farben gemalt. So hieß es, achtzig Prozent aller Bundesbürger hätten sich noch nie eine Auslandsreise leisten können. Die Echtheit des Briefes wurde durchweg angezweifelt. Der Brief komme nicht aus der Bundesrepublik, sondern sei von der SED lanciert, um „Propaganda zu machen“.496 Die Bevölkerung kam sich „verdummt“ vor.497 „Alles“ sei „Lug und Trug“. Die Erfolge in den Medien seien „aufgebauscht“. Die allgemeine Devise laute : „Mehr Schein als Sein.“498 Partei - und Staatsapparat: Vor allem hätte es der Führung zu denken geben sollen, dass immer häufiger auch Kritik am Partei - und Staatsapparat geäußert wurde. Bemängelt wurde die „zunehmende Ignoranz verantwortlicher Funktionäre zu Missständen und Unzulänglichkeiten“.499 Mediziner im Kreis Hohenstein - Ernstthal meinten, es gebe zu viele bürokratische Entscheidungen und fehlende Bürgernähe.500 Die Partei - und Staatsfunktionäre, so Stimmen aus Aue, interessiere die Situation, insbesondere die Versorgung, wenig, da sie selbst ja ein gutes Leben führten. Manche Funktionäre täten so, als hätten sie die DDR allein aufgebaut.501 Pädagogen in Glauchau nannten das Verhalten regionaler Staatsorgane „herzlos und bürokratisch“.502 Auch Angestellte des VEB Edelstahlwerk und des Rates der Stadt Freital kritisierten die Führungs - und Lei-

494 495 496

497 498 499 500 501 502

vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd., AKG 531, 1, Bl. 119–124); KDfS Freiberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd., AKG 533, 1, Bl. 80–86); KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd., AKG 538, Bl. 15–18); KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd., AKG 534, 1, Bl. 99–104); KDfS Hoyerswerda vom 21. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 49f ). Vgl. KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 109–112). Vgl. KDfS Aue vom 5. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 1805, Bl. 138–141). KDfS Klingenthal vom 5. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 20–21). Vgl. KDfS Flöha vom 19. 9. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 113–117); KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 538, Bl. 15–18); KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 534, 1, Bl. 99– 104). KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 533, 2, Bl. 68–71). Vgl. KDfS Freiberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd., 1, Bl. 80–86). KDfS Geithain vom 23. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 90– 96). KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 74–76). Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19. 9. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 89–93). Vgl. KDfS Aue vom 9. 8. 1989 : Diskussionen ( ebd. 1805, Bl. 158–160). KDfS Glauchau vom 5. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 533, 2, Bl. 68–71).

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tungstätigkeit der staatlichen Organe des Kreises.503 Arbeiter in Klingenthal geißelten die „Funktionärswirtschaft“. Partei - und Wirtschaftsfunktionäre würden sich auf Kosten der Bevölkerung bereichern. Als Beispiele wurde der Bau von Ferienhäusern für Funktionäre genannt.504 In Hohenstein - Ernstthal sprachen Arbeiter von einer „Leitungsdynastie, die hoch über allen Dingen stehe, aber vor allem über Privilegien verfüge, zu denen ein einfacher Arbeiter einfach keinen Zugang habe“. So würden Dienstwagen für Freizeitinteressen und betriebliche Technik für private Zwecke genutzt. Für Schäden in ihrem Verantwortungsbereich aber würden sie nicht belangt.505 „Nichtübereinstimmung von Wort und Tat führender Funktionäre, stattdessen Ignoranz der Tatsachen, Eigenlob, Selbstgefälligkeit und Unterdrückung von Kritik sowie übertriebene Repräsentationssucht“, das waren die Stichpunkte eines Stimmungsberichtes aus Hainichen.506 Es gebe, so ein Bericht aus Flöha, eine privilegierte Schicht, die „mit Bereicherungssucht zu Wohlstand gekommen“ sei und deshalb kein Interesse mehr am Wohl der Mitbürger habe. Der Sozialismus sei gut, es säßen nur zu viele Leute im Staatsapparat. Es gebe eine „steigende Tendenz“ solch grundsätzlicher Kritiken.507 Diese machten im Sommer 1989 auch vor der SED - Führung in Berlin nicht mehr halt. Tenor nahezu aller Berichte war das Unverständnis darüber, dass die SED - Führung „keine klare Stellungnahme“ abgebe.508 Im Braunkohlekraftwerk Knappenrode ( Hoyerswerda ) meinten die Arbeiter, die SED habe große Probleme, die Situation noch zu beherrschen.509 Immer wieder wurde das Alter der Führung kritisiert.510 Vereinzelt kursierten Gerüchte, Honecker sei bereits tot.511 Immer wieder hieß es, „dass man zu Partei und Regierung kein Vertrauen mehr hat, da nach Jahren der Versprechungen und Reden grundlegende Probleme nach wie vor ungelöst sind und man der Auffassung ist, ständig belogen zu werden“.512 Honecker und seine Genossen sollten selbst mal einkaufen gehen, dann würden sie nicht solche großen Reden schwingen. Nur Berlin sei Aushängeschild, dort würden auch Westautos, wie der Golf, verteilt. Die Menschen sei-

503 Vgl. KDfS Freital vom 19. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 555– 557). 504 KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15–18). 505 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19. 9. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 89–93). 506 KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd., 1, Bl. 99–104). 507 KDfS Flöha vom 19. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 532, 2, Bl. 113–117). 508 KDfS Auerbach vom 29. 8. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 2, Bl. 208–212). 509 Vgl. KDfS Hoyerswerda vom 21. 9. 1989 : Info BKW Knappenrode ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 49–50). 510 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1812, Bl. 194–197); KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 534, 1, Bl. 99–104); KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 74–76); KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 15–18). 511 Vgl. KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 534, 1, Bl. 99–104). 512 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111).

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en zu verstehen, die die „Nase voll haben“ und das Land verlassen.513 Nicht der Westen, die Partei - und Staatsführung trage die Verantwortung für die gegenwärtige Lage,514 könne die Situation nicht einschätzen und sei ratlos.515 Die Führung habe „keine Kenntnisse, wie die reale Lage unter der Bevölkerung sowie der Wirtschaft“ sei, 516 und habe „die Verbindung zur Basis verloren“.517 Den Bürgern werde viel versprochen, aber nichts gehalten.518 Die Argumente der Partei - und Staatsführung seien „lächerlich“.519 Obwohl strafrechtliche Konsequenzen drohten, wurde die Kritik immer grundsätzlicher. Zwar machte sie sich auch weiterhin vor allem an Alltagsproblemen fest, seit August aber registrierte das MfS eine offenere und kritischere, teils aggressivere Auseinandersetzung mit politischen Problemen. Es sei an der Zeit, auch über heikle politische Fragen einen offenen Dialog zu führen, um miteinander Probleme zu lösen. Auch leitende Funktionäre forderten politische Änderungen. „Mit ideologischen Parolen“, so hieß es, „sei kein Plan mehr zu erfüllen.“520 Forderungen nach freien Wahlen521 und Reisefreiheit nahmen zu.522 Im Kreis Annaberg kursierte die Meinung, an der Lage seien die Kommunisten und das sozialistische System schuld.523 Die Kommunisten, so Stimmen aus Geithain, hätten „40 Jahre die Möglichkeit gehabt zu beweisen, dass sie eine bessere Gesellschaftsordnung aufbauen können. Es ist ihnen nicht gelungen.“524 „Feindlich - negative Personen“ einschließlich „reaktionärer kirchlicher Kräfte“ begrüßten deshalb die Entwicklung in der und um die DDR und betrachteten diese als „Selbstauf lösung des Sozialismus“.525

513 KDfS Geithain vom 23. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 90– 96). 514 Vgl. KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 99–104). 515 KDfS Freiberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 80–86); KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 119–124). 516 KDfS Werdau vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 679, 1, Bl. 46–48). 517 KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 15–18). 518 Vgl. KDfS Klingenthal vom 19. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 19). 519 KDfS Auerbach vom 12. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 2, Bl. 189–191). 520 KDfS Löbau vom 28. 8. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 108– 111). 521 Vgl. KDfS Hainichen vom 19. 9. 1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 99–104). 522 Vgl. KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 15– 18); KDfS Freiberg vom 13. 9. 1989 : Reaktionen ( ebd. 533, 1, Bl. 89–91); KDfS Freital vom 1. 9. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 566–569). 523 Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 8. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 194–196). 524 KDfS Geithain vom 23. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 90– 96). 525 KDfS Annaberg vom 31. 8. 1989 : Meinungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 171–173).

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Allein von Kritik konnte im September keine Rede mehr sein. Immer deutlicher erhoben sich Forderungen nach Reformen,526 wenn auch, wie z. B. in Flöha, zunächst „nur in sehr pauschaler Form“. Es gehe vor allem um ein offenes Ansprechen der Versorgungsprobleme, die Ablösung „unfähiger Kader“, eine Verringerung der Ver waltung zugunsten der Produktion und eine ehrliche Berichterstattung zur Planerfüllung in den Betrieben.527 Die Menschen forderten Diskussionen über den weiteren Weg in der DDR.528 Arbeiter des VEB Malitex im Kreis Hohenstein - Ernstthal sahen den Sozialismus in einer tiefen Krise. Es sei unklar, ob er da wieder rauskomme. Jahrelange Schlamperei, Ignoranz und Gleichgültigkeit ließen sich nicht über Nacht beseitigen.529 Noch, so die Beschäftigten des VEB Klingenthaler Harmonikawerke, zielten die meisten Forderungen nicht gegen die Grundlagen des Sozialismus. Sollte die Partei - und Staatsführung jedoch nicht zu einer Verbesserung der Lage fähig sein, würden auch in dieser Frage Veränderungen erwartet.530 „Gegnerische Argumente“ wie Marktwirtschaft statt Planwirtschaft, sozialistische Demokratie, Reformen oder Pluralismus, so das MfS in Eilenburg, fanden im September „zunehmend Gehör“.531 Seitens der Führung gab es keinerlei Anzeichen eines Eingehens auf die Wünsche der Menschen. Wie man hier mit den Problemen umging, machten interne Äußerungen Erich Mielkes deutlich. „Der Sozialismus“, so der Stasichef, „ist so gut; da verlangen sie immer mehr und mehr. So ist die Sache [...] ich konnte auch keine Bananen essen und kaufen, nicht, weil es keine gab, sondern weil wir kein Geld hatten, sie zu kaufen.“532 2.8

Einzelproteste

Die Unzufriedenheit schlug sich in Einzelprotesten und immer öfter auch in kollektiven Protestaktionen nieder. Einzelproteste in Form von „Schmierereien“, gesprühten Losungen, Zetteln, abgerissenen Fahnen und Transparenten etc. hatte es in der DDR immer gegeben.533 Sie stellten eine Form des Widerstandes unter den Bedingungen einer Diktatur dar, die jede Form organisierter Proteste gegen das Regime kriminalisierte und bestrafte. In der Situation allgemeiner Unzufriedenheit lebte diese spontane, unorganisierte Form des Protestes vor 526 Vgl. KDfS Glauchau vom 19. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 533, 2, Bl. 47–50); KDfS Auerbach vom 12. 9. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 2, Bl. 189–191). 527 KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( ebd. 532, 2, Bl. 109–112). 528 Vgl. KDfS Eilenburg vom 11. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 18). 529 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12. 9. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1812, Bl. 194–197). 530 Vgl. KDfS Klingenthal vom 26. 9. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 15–18). 531 KDfS Eilenburg vom 11. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 18). 532 MfS, ZAIG, B /215 : Mielke bei Dienstbesprechung am 31. 8. 1989. Zit. bei Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 120. 533 Für die 1980er Jahre findet sich eine kleine Sammlung in BStU, ASt. Leipzig, KDfS Oschatz 177.

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allem ab September wieder auf und bestimmte das Bild bis Anfang Oktober mit. Einen Schwerpunkt bildeten dabei Betriebe. Bezirk Dresden : Hier registrierte die Volkspolizei im September eine deutliche Zunahme an „Schmierereien“ und Hetzzetteln, insbesondere in Dresden sowie in Ostsachsen. Inhaltliche Schwerpunkte bildeten die Zustimmung zu den Maßnahmen Ungarns, Forderungen nach „Reisefreiheit“ und „Wiedervereinigung Deutschlands“ (20x, davon 15x Dresden, 2x Niesky, 1x Görlitz, 1x Löbau, 1x Großenhain ), Proteste gegen die führende Rolle der SED und die Befürwortung der Vereinigung „Neues Forum“ (7x, davon 3x Dresden, 3x Görlitz, 1x Bautzen ), gegen die staatliche Umweltpolitik (9x, davon 7x Dresden, 2x Dresden - Land ), gegen die Stationierung sowjetischer Streitkräfte in der DDR (3x Großenhain ) sowie neonazistische Losungen (2x Dresden ).534 Das MfS hatte Instruktionen, „jegliche Feindtätigkeit rechtzeitig zu erkennen und kompromisslos zu unterbinden“. Sämtliche Personen, die „mit Plakaten, Sichtelementen oder anderen demonstrativen Handlungen wie Tragen von Masken, Verteilen von Hetzzetteln oder ähnlichem in Erscheinung“ traten, sollten festgenommen werden.535 Hier nun einige in den Akten genauer beschriebene Aktionen : Im VEB Waggonbau Bautzen war an der Wand zu lesen : „Wir wollen Reformen ! Honecker weg ! Forum !“ Im VEB Mähdrescherwerk Bischofswerda fanden sich an Wänden die Losungen „Neues Forum ! Weg mit der SED, Kommunisten nach Russland !“ und „Ohne Berlins Genossen sind Reformen beschlossen“. In Dresden Ost war an der Wand einer Eisenbahnunterführung die Losung „Für Freiheit und Demokratie – Neues Forum“ angeschrieben.536 Am Bahnhof Langebrück ( Dresden - Land ) war ein über zehn Meter breiter Schriftzug zu lesen „Langebrück darf kein Minolbrück werden !“; Bahnsteig 2 „Tanklager ? Nein !“ Auf der Ortsverbindungsstraße Dresden–Klotzsche nach Langebrück stand über die gesamte Straßenbreite „Wohnungen ja, Tanklager nein“.537 In Kreischa ( Freital) wiesen Handzettel auf die Durchführung von Protestveranstaltungen gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes Dresden - Gittersee hin.538 Am Wilsdruffer Bahnhof war „Neues Forum“ zu lesen.539 In der Nähe der Landskronbrauerei Görlitz stand „Es lebe Ungarn, Freiheit“ und „Neues Forum – nicht SED“. Im Speiseraum des VEB Getreidewirtschaft und im Betriebsteil Mühlenwerk Görlitz gestalteten Unbekannte Wandzeitungen zur „Reformpolitik in der DDR“ und zur „Ausreisewelle“.540 534 BDVP Dresden vom 28. 9. 1989 : Lageeinschätzung von September 1989 ( ABL, EA 890928_2). 535 KDfS Dresden vom 25. 8. 1989 : Maßnahmeplan für den Bittgottesdienst Gittersee am 3. 9. 1989 ( ABL, Dresden ). 536 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( Ergänzung ) ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 314–319). 537 Ebd., Stellv. Operativ 4, Bl. 61. 538 Vgl. BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( ebd., XX 9181, Bl. 314, 317). 539 Freital ( HAIT, StKa ). 540 KDfS Görlitz vom 28. 9. 1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10986, Bl. 1–4).

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Bild 8:

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Görlitz, Brücke Blockhausstraße, 10./11.9.1989.

Auch in Reichenbach ( Görlitz ) war an einem abgestellten Bus des Kraftverkehrs „Nieder mit der SED“ angesprüht. An einer Hauswand stand „Im Neuen Forum liegt die Zukunft“, „Reform Ja“, „Neues Forum“, „Es lebe Ungarn“ und „Wir wollen Freiheit“.541 In Kamenz waren an diversen Wänden Forderungen wie „Es lebe Ungarn – Freiheit für alle“ geschrieben. Die SED - Leitung Löbau erhielt eine Postkarte mit der Aufschrift : „Am 7. Oktober werden Euch ‚Ochs und Esel‘ auf Kundgebungen erstmals zeigen, wer die Verlierer sind !“542 In einem Betriebsteil des VEB Plattenwerk Meißen wurde aus dem Speisesaal ein Bild Honeckers entfernt.543 Auf Ortsverbindungsstraßen in Kreba ( Niesky ) stand auf der Fahrbahn „Wir wollen raus“.544 Im Kreis Riesa enthielt die September - Ausgabe des „Nünchritzer Kalenderblattes“ Texte mit „negativer politischer Aussage“ von Wolfgang Mocker. Unter der Überschrift „Nichts Neues“ waren Schlagzeilen, wie zum Beispiel „Pressefreiheit ? Niemand wird gezwungen, die Zeitung zu lesen“ oder „Ich könnte mir selbst die Freiheit schenken. Aber es würde mich Kopf und Kragen kosten“ abgedruckt.545 An Betriebsgebäuden in Gröditz ( Riesa ) klebten Zettel mit dem Text : „DDR - Reform - Freiheit 541 BVfS Dresden vom 22. 9. 1989 : Info Görlitz ( ebd., XX 9181, Bl. 320–324). 542 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( Ergänzung ) ( ebd., Bl. 314–319). 543 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info Provokation von Pfarrer ( geschwärzt )/ Coswig und weitere politisch - negative Verhaltensweisen von Unterhaltungskünstlern in Verbindung des Pamphlets „Neues Forum“ ( ebd., Bl. 329–334). 544 Ebd., Stellv. Operativ 4, Bl. 60. 545 BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Info Nünchritz / Riesa vom 3. 10. 1989 ( ebd., XX 9181, Bl. 277–279).

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Euro - Markt“.546 An der Wandzeitung der Betriebspoliklinik des VEB Rohrkombinat Riesa klebte ein nachgemachter 50 - Mark - Schein. Darauf war ein sterbender Wald abgebildet, an Stelle des Staatswappens prangte ein Polizeistern. Als Texte waren zu lesen „Hierfür bekommt man nichts“ und „40 Quark der Deutschen Desinfizierten Republik“.547 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Im Kreis Aue registrierte das MfS, dass Autobesitzer immer häufiger DDR - Kennzeichen mit schwarz - rot - goldenem Untergrund ohne Emblem benutzten.548 In Seifersbach, Höfchen und Frankenberg ( Hainichen ) fanden sich auf Straßenbelägen diverse „Hetzlosungen“ mit Forderungen nach Demokratie und Freiheit sowie Sympathiebekundungen für das Neue Forum. Im VEB Papierfabrik Dreiwerden fand das MfS einen Zettel mit Angriffen gegen die wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR.549 In Schwarzenberg wurden Plakate zum 40. Jahrestag der DDR mit roter Folie „verunstaltet“ : Aus „DDR 40“ wurde „D 40“.550 Am 27. September übergab ein couragierter Schüler der 10. Klasse der Erich - Weinert - Oberschule Oelsnitz im Staatsbürgerkundeunterricht der Lehrerin den Aufruf des Neuen Forums.551 Bezirk Leipzig : In Altenburg wurde auf den Belag der Karl - Marx - Straße „China heute nein danke“ in 3 mal 4 Meter Größe gesprüht. Auf der Münsaer Straße war „Demokratie jetzt“ zu lesen. Außerdem fand die Polizei im Stadtzentrum über einhundert Flugzettel mit Texten wie „Quo vadis – wohin gehst du DDR ?“, „Auch Oder und Neiße sind keine Barrieren für neues Denken“, „Schafft eine neue Solidarität gegen Dogmatismus und Kurzsichtigkeit“, „Die Revolution geht weiter !“, „Perestroika !“, „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden !“ oder „Zwischen Saßnitz und Bad Brambach Glasnost – auch für uns“.552 Flugblätter gleichen Inhalts wurden auch in Gößnitz (Schmölln) gefunden.553 In Schmölln sprühte ein Unbekannter an Häuserwände „Freiheit“, „Einhaltung der Menschenrechte“, „Erich gib den Schlüssel raus / SED / Freiheit / Recht“ sowie „KSZE Menschenrechte“.554 In Delitzsch hängte Pastorin Michaela Höck aus dem Fenster ihrer Wohnung zwei Gorbatschow Losungen.555 In Geithain protestierte Hartmut Rüffert am 7. Juni mit einem

546 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info Provokation von Pfarrer ( geschwärzt )/ Coswig und weitere politisch - negative Verhaltensweisen von Unterhaltungskünstlern in Verbindung des Pamphlets „Neues Forum“ ( ebd., XX 9181, Bl. 329–334). 547 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( Ergänzung ) ( ebd., Bl. 314–319). 548 KDfS Aue vom 19. 9. 1989 : Wochenlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 125– 131). 549 KDfS Hainichen vom 26. 9. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 534, 1, Bl. 89–98). 550 KDfS Schwarzenberg vom 25. 9. 1989 : Angriffe ( ebd. 1818, Bl. 84 f.). 551 KDfS Oelsnitz vom 2. 10. 1989 : Stellungnahme Neues Forum ( ebd., Oe - 44, Bl. 7 f.). 552 SED - KL Altenburg vom 26. 9. 1989 : Info ( SächStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 18–20). 553 VPKA Schmölln vom 26.–27. 9. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 554 KDfS Schmölln : Info, o. D. ( BStU ASt. Leipzig, KDfS Schmölln 105, Bl. 1–19). 555 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( StV, Museum Schloss Delitzsch ).

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Schreiben an den Staatsrat gegen das Geschehen in China.556 In Oschatz sprühte ein Schüler „DDR ein frühes Ende“, „Nur 40 Jahre war sie alt“ und „United States of Germany“ an eine Bushaltestelle.557 Im VEB Papierverarbeitung Torgau fand der ABV eine „Schmiererei“ mit dem Text „Lügt nicht, sagt endlich die Wahrheit, warum alle abhauen“.558 In Leipzig stand am 23. August an einer Litfaßsäule „Los Honi – Lass uns raus !“ und an einem Bauwagen „Wir sind nicht blind – Lass uns raus“.559 Ende August traten drei Leipziger Theologiestudenten aus Protest gegen die SED - Politik in einen Hungerstreik.560 2.9

Kollektive öffentliche Protestaktionen

Von größerer Bedeutung für die Entwicklung aber war es, dass sich die Menschen zu gemeinsamen Protesten zusammenfanden. Stadt Leipzig: Um sie zu verhindern, wurde nach der Kommunalwahl die Präsenz von Volkspolizei und MfS um die Leipziger Nikolaikirche verstärkt.561 Am 8. Mai nahmen hier ca. 700 Personen am Friedensgebet unter dem Motto „Die Kirche hat ein politisches Mandat – hat die Kirche ein politisches Mandat ?“ teil. Es gab Proteste gegen die Verfolgung Andersdenkender und Forderungen nach politischer Meinungsfreiheit. „Die Darlegungen waren insgesamt konfrontativ und geeignet, feindliche und oppositionelle Haltungen zu bestärken“. Anschließend demonstrierten ca. 500 Personen gegen die Wahlmanipulation. Hunderte Bereitschaftspolizisten und MfS - Mitarbeiter standen bereit, zahlreiche Personen wurden verhaftet.562 Am 15. Mai, Pfingstmontag, fand kein Friedensgebet statt, dennoch bildete sich an der Leipziger Nikolaikirche erneut ein Protestzug von etwa 150 Ausreisewilligen. Der Druck auf die Kirchenleitung wuchs. Der Versuch von Landesbischof Hempel, den Charakter der Friedensgebete zu verändern, wurde von Pfarrer Führer563 und dem Kirchenvorstand abgelehnt. Sie wurden lediglich in „Montagsgebete“ umbenannt. Noch vor dem Ende des Friedensgebetes am 22. Mai waren alle Straßen um die Nikolaikirche durch Poli556 Hartmut Rüffert an Staatsrat der DDR vom 7. 6. 1989 ( PB Hartmut Rüffert, HAIT, Geithain H5). 557 Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 37 f. 558 VPKA Torgau vom 28.–29. 9. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Torgau 7339, Bl. 392). 559 Anruf durch DH, Gen. Richter vom 23. 8. 1989 ( ebd., SED Leipzig 57). 560 Vgl. BVfS Leipzig : Hungerstreik von Theologiestudenten, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 10, Bl. 1–3). 561 Zur Entwicklung in Leipzig vgl. Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 113– 168. 562 BVfS Leipzig : Friedensgebet am 8. 5. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/06, Bl. 83 f.). Vgl. BVfS Leipzig vom 8. 5. 1989 : Unterbindung des Versuches einer Personenbewegung im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche ( ebd., AKG 38/2, Bl. 34– 37) (ABL, H. 8). Vgl. Magirius, Selig sind, S. 12. 563 Zur operativen Beobachtung von Pfarrer Christian Führer ( OPV „Igel“) vgl. Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, Dok. 136–141, S. 655–668.

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zeiketten abgeriegelt. 52 Personen wurden festgenommen, davon 31 Antragsteller auf ständige Ausreise.564 Volkspolizei und MfS begannen mit einer flächendeckenden Überwachung. Die Organisatoren des Pleißemarsches und des Straßenmusikfestes wurden mehrfach vorgeladen und eingeschüchtert.565 Ähnlich war die Lage am 29. Mai. Noch bevor alle Teilnehmer des Friedensgebetes die Kirche verlassen hatten, wurde der Nikolaikirchhof durch Polizei und Hundestaffeln eingekesselt. Etliche Teilnehmer wurden verhaftet und zum Teil geschlagen.566 Vor dem Kirchentag spitzte sich die Situation zu. Jede Woche wurde die Nikolaikirche nach den Friedensgebeten umstellt. Regelmäßig wurden Personen „auf Lastwagen gestoßen und weggeschleppt“. Ausreisewillige bekamen ihre Papiere sehr schnell, was andere zur Nachahmung verleitete. Die Spannung wuchs, als Hunde gegen die Demonstranten eingesetzt wurden. In der „Leipziger Volkszeitung“ wurde Superintendent Magirius aufgefordert, den politischen „Missbrauch“ der Gebetsveranstaltungen zu beenden.567 Nach einem Umweltgottesdienst in der Paul - Gerhardt - Kirche formierten sich am 4. Juni mehrere Hundert Personen zum zweiten Pleißemarsch.568 Der Zug wurde von MfS, Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen aufgelöst. Ein Teil der Demonstranten gelangte dennoch zum SED - Bezirksgebäude und ließ sich dort zum Sitzstreik nieder. Erneut gab es 74 Festnahmen.569 Am selben Tag walzte chinesisches Militär die Demokratiebewegung auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking nieder. In Polen fanden Sejm - Wahlen statt, bei denen sich erstmals auch die Opposition beteiligen konnte. Am 5. Juni kamen ca. 1 250 Besucher zum Friedensgebet, darunter Landesbischof Hempel. Wohl deshalb hielten sich die Sicherheitskräfte zurück. Nach Gesprächen mit Staatsvertretern forderte Kaden, einzelne Personen dürften die Friedensgebete nicht länger zur Durchsetzung eigener Interessen missbrauchen.570 Vor dem Hintergrund der Leipziger Entwicklungen forderte der Vorsitzende des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, Werner Leich, am 10. Juni politische Veränderungen. Am selben Tag fand ein von Leipziger Basisgruppenmit564 BVfS Leipzig vom 24. 5. 1989 : Bericht über die Untersuchung des Vorkommnisses im Anschluss an das Friedensgebet am 22. 5. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, IX 4/6). 565 Vgl. Rein, Die protestantische Revolution, S. 147. 566 Vgl. VPKA an BDVP Leipzig vom 29. 5. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 14, Bl. 9). 567 Magirius, Selig sind, S. 12 f. 568 Vgl. Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 169–215. 569 Vgl. Materialsammlung vom Pleiße - Gedenkmarsch am 4. 6. 1989 ( ABL, H. 1); Mielke an Diensteinheiten vom 13. 6. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 111–114); MfS, Info 182/89 über die Verhinderung einer geplanten provokatorisch - demonstrativen, öffentlichkeitswirksamen Aktion in Leipzig anlässlich des Weltumwelttages vom 5. 6. 1989 ( ABL, FVS Dresden, Parteiinformationen BV - BL, Min. - SED, MfS an Politbüro ); BVfS Leipzig vom 4. 6. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 3, Bl. 3 f.); Pleiße - Gedenkmarsch. In : Umweltblätter von Juli 1989, S. 8 f.; Lieberwirth, Wer eynen spielmann, S. 156 f.; Israel, Zur Freiheit berufen, S. 178–183; Rüddenklau, Störenfried, S. 280 f. 570 Vgl. BVfS Leipzig vom 6. 6. 1989 : Montagsgebet am 5. 6. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 51–53).

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gliedern organisiertes, nichtgenehmigtes Straßenmusikfestival in der Leipziger Innenstadt statt, an dem über 1 000 Musiker und Zuhörer teilnahmen.571 Am Bach - Denkmal prügelte die Volkspolizei auf Musikanten ein. Nach gewaltsamer Auf lösung formierte sich spontan ein Demonstrationszug.572 57 Personen wurden festgenommen, davon 34 aus anderen Kreisen und Bezirken. Später folgten weitere Festnahmen.573 Während des Festivals und an den folgenden Tagen verkauften Gruppenmitglieder Aufnäher mit chinesischer Fahne und Trauerflor als Protestzeichen gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung.

Bild 9: Straßenmusikfestival Leipzig am 10. 6.1989.

571 Vgl. BVfS Leipzig vom 26. 5. 1989 : Vorbereitungen des Straßenmusikfestivals am 10. 6. 1989 ( ebd., Bl. 41–46). 572 Vgl. Materialsammlung des Leipziger Straßenmusikfestivals vom 10. 6. 1989 ( ABL, H. 1); Bericht über den Polizeieinsatz am 10. 6. 1989 in Leipzig, Gedächtnisprotokoll Harald Junge ( MDA, Wende, Bürgerinitiative, Parteien ); Gedächtnisprotokolle. In : Sonderheft aus der „Haltestelle“ ( ebd., Blätter der DDR - Friedens - und Menschenrechtsbewegung ); Info über die Ereignisse beim Leipziger Straßenmusikfestival am 10. 6. 1989 (ebd., Wichtigste Ereignisse 1989. Leipzig, Wahlen, China - Massaker ); ausführlich Lieberwirth, Wer eynen spielmann; Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 217– 268; Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 148. 573 Vgl. VPKA Leipzig vom 10. 6. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 14, Bl. 21, 24).

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Am 12. Juni kam es erneut zur Demonstration von ca. 200 Personen, die durch Sicherheitskräfte aufgelöst wurde. Wieder gab es 27 Festnahmen, davon elf aus anderen Kreisen und Bezirken.574 Am 18. Juni gestalteten die Arbeitskreise „Solidarische Kirche“ und „Gerechtigkeit“ in der Markuskirchgemeinde eine Informationsandacht zur chinesischen Demokratiebewegung und deren Niederschlagung. Einen Tag später tagte die Kreiseinsatzleitung Leipzig. Hackenberg betonte, dass gegen jede „Version der Konterrevolution“ vorgegangen werden müsse. Er billigte alle Festnahmen und plädierte für die offensive Nutzung der Medien. Am selben Tag fand nach dem Friedensgebet ein kleiner Schweigemarsch statt, der durch Sicherheitskräfte unterbunden wurde. Es gab 33 Festnahmen.575 Am 26. Juni verlas Pfarrer Führer im Friedensgebet einen Protestbrief gegen die Todesurteile in China. Etwa 250 Personen forderten mit einem Schweigemarsch Freizügigkeit. Der Zug wurde von Sicherheitskräften unter Gewaltanwendung gestoppt und aufgelöst. Vier Personen wurden verhaftet. Es gab Verletzte.576 Während der Sommerpause versuchte das Regime durchzusetzen, dass die Friedensgebete im September nicht wieder beginnen. In Gesprächen wurden Bischof und Kirchenvorstand von St. Nikolai entsprechend ermahnt.577 In deren Folge kam es nach der Sommerpause zu einem Eklat, als Superintendent Magirius den Organisatoren der Friedensgebete mitteilte, dass er die Pauschalverantwortung nicht mehr übernehme. Er verfügte, dass die Verantwortung künftig beim Kirchenvorstand der Nikolaikirche liege. Daraufhin kam es zu einem Sturm der Entrüstung unter den Basisgruppen. Beim Friedensgebet wurde ein Beschwerdebrief an den Landesbischof verteilt. Zu tumultartigen Zuständen kam es, als Mitglieder der Basisgruppen den Altarraum besetzten. An diesem Tag kam es zur ersten Kundgebung vor der Kirche.578 Am 25. August forderte Oberbürgermeister Seidel den Kirchenvorstand der Nikolaikirche erneut auf, die Friedensgebete am 4. September nicht wieder beginnen zu lassen. Der Kirchenvorstand lehnte dies jedoch ab.579 So begannen die Friedensgebete trotz staatlicher Intervention im September wieder. Regelmäßig fanden sie in der Nikolaikirche statt. Ort und Zeitpunkte waren bekannt. Am 4. September, dem Messemontag, versammelten sich dort etwa 1 200 Menschen.580 Während Superintendent Magirius an den Überfall 574 Vgl. BDVP Leipzig vom 12. 6. 1989 : Info ( ebd., BVfS Leipzig, AKG 14, Bl. 36). 575 Vgl. BVfS Leipzig vom 19. 6. 1989 : Montagsgebet in der Nikolaikirche ( ebd., AKG 38/2, Bl. 70 f.). 576 Vgl. BVfS Leipzig vom 26. 6. 1989 : Montagsgebet in der Nikolaikirche ( ebd., Bl. 86 f.); Heiduczek, Der „Kleine Oktober“, S. 85. 577 Vgl. Magirius, Selig sind, S. 13. 578 Vgl. Kaden, Von den Friedensgebeten ging alles aus, S. 103. 579 Vgl. BVfS Leipzig : Dienstversammlung am 2. 9. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AB 3838, 54a ); RdS Leipzig an Ev. -Luth. Landeskirche Sachsens vom 25. 8. 1989; RdS Leipzig an Kirchenvorstand St. Nikolai / St. Johannis vom 25. 8. 1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 885). 580 Vgl. Wochenübersicht über Montagsgebet vom 4. 9. 1989 ( BStU, ZAIG 4598, Bl. 40 f.); SED - BL Leipzig vom 4. 9. 1989 : Friedensgebet in der Nikolaikirche Leipzig ( Sächsi-

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Bild 10: Proteste in Leipzig am 4. 9.1989.

deutscher Truppen auf Polen erinnerte und dabei indirekt die polnischen Reformen würdigte,581 dabei aber allzu harsche Kritik an der Staatsführung vermied, kam es nach der Andacht vor der Kirche zur Demonstration mehrerer Hundert Menschen. Schon Stunden vorher hatte die Volkspolizei in der Innenstadt Personenkontrollen vorgenommen. Rings um die Kirche standen VP - Hundertschaften und MfS - Mitarbeiter bereit. Als die Teilnehmer – viele mit einem großen A für „Ausreiser“ oder Buttons mit einem Bild Gorbatschows – die Kirche verließen, ertönten Sprechchöre wie „Stasi weg“, „Mauer weg“, „Wir wollen raus“ und „Wir wollen eine andere Regierung“. Erstmals versuchte eine kleine Gruppe von „Bleibern“ eine Gegendemonstration.582 Dadurch hörte man neben dem schon traditionellen „Wir wollen raus“ auch den Ruf „Wir bleiben hier“. Die Basisgruppen, die für Veränderungen in der DDR demonstrierten, versuchten einen eigenen Zug zu formieren. Nachdem sie im Beisein westlicher Kamerateams Transparente mit den Forderungen „Versammlungsfreiheit – Vereinigungsfreiheit“, „Für ein offenes Land mit offenen Menschen“ und „Reisefreiheit statt Massenflucht“ entrollt hatten, entrissen Mitarbeiter des MfS ihnen diese und zerschlugen die Demonstration scher Landtag, 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 552); ausführlich Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 329–370. 581 Vgl. Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 126. 582 Vgl. Johannes Richter. In : Rein, Die Opposition, S. 183.

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gewaltsam.583 Die Aussage „Wir bleiben hier“ wurde von der Staatsmacht offenbar als Ankündigung politischer Opposition im Lande empfunden.584 Die kleine Gegendemonstration wirkte „wie ein Funke“.585 Von nun an nahm der Anteil der Demonstranten, die nicht ausreisen wollten, ständig zu. Erstmals kam es zu einem richtigen Wettbewerb zwischen „Dableibern“ und „Ausreisern“. „Dableiber“ Uwe Schwabe berichtet, man wusste, dass von den Ausreiseantragstellern spontane Demonstrationen ausgehen würden. „Die große Öffentlichkeit durch westliche Journalisten wollten wir ihnen diesmal aber nicht allein überlassen. Wir entschieden uns deshalb, das erste Mal mit Transparenten in die Öffentlichkeit zu gehen.“586 Gegen Abend zogen noch einmal etwa 200 „Ausreiser“ zum Bahnhof und forderten „freie Fahrt nach Gießen“.587 Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein, kündigten gegenüber der Kirchenleitung jedoch an, am darauf folgenden Montag „mit aller Härte“ durchzugreifen.588 So kam es auch. Als die etwa 1 300 Teilnehmer am 11. September nach dem Friedensgebet die Nikolaikirche verließen, wurden sie von einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften empfangen und auf dem Nikolaikirchhof umstellt.589 Erstmalig dominierten Demonstranten, die „Wir bleiben hier“ riefen.590 Erst mit der Möglichkeit, zu gehen, bekam dieser Ruf einen Sinn. Das Dableiben wurde zur bewussten Entscheidung.591 Bislang waren die Montagsgebete in der Nikolaikirche Treffpunkt der Antragsteller gewesen. Sie drängten als Erste aus den Kirchen hinaus und lösten mit ihrem Ruf „Wir wollen raus !“ den „wichtigsten Protestzyklus der DDR - Revolution“ aus.592 Die von den Ausreisern geschaffene Öffentlichkeitsform wurde nach der Öffnung der Grenze in Ungarn von den oppositionellen Bürgergruppen übernommen, die den Ruf „Wir wollen raus !“ durch den Gegenruf „Wir bleiben hier !“ ersetzten. Wie dies seitens der SED Führung gedeutet wurde, zeigt die Reaktion von Volkspolizei - Chef Dickel : „Es geht ihnen nicht um Reformen für den Sozialismus, sondern um Abschaffung des Sozialismus in der DDR. Deshalb riefen sie ‚Wir bleiben hier‘.“593 583 584 585 586 587 588 589

590 591 592 593

Vgl. Harald Wagner. In : ebd., S. 180. So Peter Zimmermann. In : Neues Forum Leipzig, S. 289. Johannes Richter. In : Rein, Die Opposition, S. 183. Schwabe, Für ein offenes Land, S. 9 f. taz vom 9. 9. 1989. Vgl. Magirius, Selig sind, S. 13. Vgl. SED - BL Leipzig vom 12. 9. 1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 867); Koordinierungsgruppe der Leipziger Fürbittandachten für die Inhaftierten : Ereignisse in Leipzig am 11. 9. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, IX 4/15); SED - BL Leipzig vom 11. 9. 1989 ( SAPMO BArch, SED, IV, B 2/14/21, Bl. 82); Bericht von Katharina Führer vom 11./12. 9. 1989 ( ABL, H 1); Magirius, Wiege der Wende, S. 13; Rüddenklau, Störenfried, S. 298; Sievers, Stundenbuch, S. 34 f.; Dietrich / Schwabe, Freunde und Feinde, S. 386–392. Vgl. Peter Zimmermann. In : Neues Forum Leipzig, S. 289. Vgl. Pollack, Ursachen, S. 19. Hofmann / Rink, Der Leipziger Aufbruch, S. 114. Minister des Innern und Chef der DVP, Dickel, an BDVP 1 bis 16, Chefs, Schulen des MdI 31 bis 50, Leiter / Kommandeur und MdI Berlin vom 9. 10. 1989 ( ThSTAM, BDVP 630).

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Bild 10: Proteste auf dem Leipziger Nikolaikirchhof am 18.9.1989.

104 Personen wurden festgenommen, gegen zwölf von ihnen wegen „Zusammenrottung“ Haftstrafen verhängt.594 Das führte zur Solidarisierung. Täglich fanden nun Fürbittandachten statt, die Fenster der Kirche wurden mit Blumen geschmückt. Es wurden Kerzen aufgestellt, „oft viele Hunderte, die Nacht für Nacht brannten“.595 Die Solidarisierung beschränkte sich nicht auf Leipzig. Am 14. September protestierte die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ Berlin gegen die Festnahmen.596 Protest kam auch von der „Offenen Arbeit Karl Marx - Stadt“, der Initiativgruppe „Leben“ im Synodalausschuss der Superintendentur Leipzig - Ost, der Koordinierungsgruppe der Leipziger Fürbittandachten und anderen Gruppen und Initiativen. Von nun an wurden Staatsanwaltschaft und Regierung mit Protesterklärungen eingedeckt.597 Am 17. September protestierten Mitglieder des Neuen Forums Leipzig gegen die Festnahmen.598 Seit die594 Vgl. Festnahmen und Verhaftungen in Leipzig vom 15. 9. 1989 ( MDA, Wende IV ); Wir sind das Volk 1, S. 13. Andere Berichte sprechen von 17. Neues Forum Leipzig, S. 296– 301; Mahnwache für die politischen Gefangenen in der DDR, Aufruf vom 4. 10. 1989. In : Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 58. 595 Magirius, Selig sind, S. 14. 596 Protest der Initiative Frieden und Menschenrechte Berlin vom 14.9.89 ( ABL, H. I ). 597 Protesterklärung der Offenen Arbeit Karl - Marx - Stadt an den Bezirksstaatsanwalt Leipzig und den Ministerrat der DDR, o. D. ( ABL, H. I ); Initiativgruppe Leben im Synodalausschuss der Superintendentur Leipzig Ost der ev. - luth. Kirche, Leipzig vom 12. 9. 1989 (ebd.); Koordinierungsgruppe der Leipziger Fürbittandachten : Protesterklärung ( ebd.). Hier auch weitere Protesterklärungen aus allen Teilen der DDR. 598 Offener Brief des Neuen Forum Leipzigs vom 17. 8. 1989 : An die Bürger der DDR ! (MDA Wende, Bürgerinitiative, Parteien. Roland Jahn - Archiv ) ( ABL, H. XIX /1).

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Bild 11: Räumkette an der Leipziger Ritterstraße am 18. 9. 1989.

sem Tag fanden auch in der Berliner Gethsemanekirche Fürbittgebete für die Inhaftierten statt.599 Am 21. September protestierten auch die Mitglieder der Prager Charta 77, Václav Havel, Tomás Hradilek und Dana Nemcová, das „Komitee zur Verteidigung ungerecht Verfolgter“ und die „Tschechoslowakische Liga für Menschenrechte“ gegen die Festnahmen.600 Für den 18. September war in der Nikolaikirche das nächste Montagsgebet angekündigt. Volkspolizeikreisamt und Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei rüsteten sich mit Führungsketten und Schlagstöcken.601 Pfarrer Führer warb im Gottesdienst um Verständnis für die wehrpflichtigen Bereitschaftspolizisten und „manchen Berufsbeamten“.602 Angesichts der inzwischen offenen Grenze von Ungarn nach Österreich wechselte das Friedensgebet seinen Charakter und wirkte vor dem Hintergrund des Massenexodus wie ein „Hoffnungssignal“ derer, die bleiben wollten. Nach dem Friedensgebet wurden 599 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 170. 600 Dokument Charta 77 Nr. 60/1989. Mitteilung des Komitees zur Verteidigung ungerecht Verfolgter : „Solidarität mit den gefangenen Aktivisten in Leipzig“, Prag vom 21. 9. 1989 ( ABL, H. I ). 601 Vgl. VPKA Leipzig vom 20. und 21. 9. 1989 ( SächsStAL, PD Leipzig, 1610). 602 Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 126.

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46 Demonstranten festgenommen, es gab Verletzte.603 Vier Personen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Stoppen konnte das Regime den Protest nicht mehr. Am 25. September nahmen bereits über 2 000 Personen am Friedensgebet teil.604 Pfarrer Führer kündigte an, künftig würden sonnabends auch in anderen Kirchen Friedensgebete stattfinden. Pfarrer Christoph Wonneberger kritisierte die Situation, die von Gewalt, Betrug und Angst geprägt sei. Erneut forderte er auf, selbst keine Gewalt anzuwenden.605 Vor der Kirche warteten noch

Bild 12: Zuführung vor Specks Hof in Leipzig am 18. 9. 1989. 603 Vgl. Notiz von Pfarrer Führer über den 18. 9. 1989 ( ABL, H. 1); MfS, Bericht über das Montagsgebet vom 19. 9. 1989 ( BStU, ZAIG 4598, Bl. 105–107); Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 58; Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 150. 604 Vgl. Rekonstruktion des Friedensgebetes vom 25. 9. 1989 ( ABL, H. 1); Geyer, Nikolaikirche, S. 28–47; Dietrich / Schwabe, Freunde und Feinde, S. 417–424; Fredo Frotscher, Der Aufbruch der Friedfertigen. In : Sachsen - Spiegel vom 5. 10. 1990. Zur Entwicklung bis zum 25. 9. 1989 vgl. Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 371–406. 605 Vgl. Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 127.

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einmal etwa 2 000 Personen. Im Anschluss an die Andacht zog ein Demonstrationszug, der von etwa 3 500 auf etwa 8 000 Menschen anschwoll,606 über einen Teil des Rings der Messestadt in Richtung Hauptbahnhof. Dieser war etwa eine Viertelstunde von Demonstranten blockiert. Sie riefen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, forderten Reformen, die Zulassung des Neuen Forums und sangen die „Internationale“ sowie „We shall overcome“. Erstmals stellten Ausreisewillige eine Minderheit dar. Etwa ein Dutzend Demonstranten wurde festgenommen.607 Am 1. Oktober protestierte der Landesjugendkonvent der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens gegen die erneuten Festnahmen.608 Bereits am 30. September wandten sich Teilnehmer des Arbeitstreffens Lausitzer Umweltgruppen gegen die Verhaftungen und das Vorgehen der Sicherheitskräfte.609 Zwar blieb am 26. September überraschenderweise ein befürchteter Polizeieinsatz aus,610 dafür beschloss die SED - Bezirksleitung Leipzig zwei Tage später Maßnahmen zur Mobilisierung der SED - Mitglieder „zur offensiven Bekämpfung und Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten“.611 Gleichzeitig wurde erneut versucht, die Kirchenleitungen zu bewegen, ein Ende der Proteste zu bewirken.612 Bezirk Leipzig : Auch außerhalb der Bezirksstadt gab es vereinzelt organisierte Proteste. Am 11. Juni fand der 7. Umweltgottesdienst in Rötha ( Borna ) statt. Es wurde gegen den geplanten Bau eines Kernkraftwerkes ( in der DDR nicht Atom - , sondern Kernkraftwerk, KKW ) in Börln protestiert und bekannt gegeben, dass bereits 25 000 DDR - Bürger die Aktion „1 Mark für Espenhain“ unterstützten. Auf einem Info - Blatt wurde die Belastung durch den VEB BV Espenhain als „subjektiv unerträglich – objektiv gesundheitsschädigend“ benannt. In Vorgesprächen versuchte der Rat des Kreises Borna in Umweltfragen Entgegen-

606 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 428/89 vom 26. 9. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 174–176. Laut Neues Forum Leipzig, S. 31–33, waren es 6 000 bis 7 000, laut Die Zeit vom 29. 9. 1989 8 000, die SED sprach von 4 000 Teilnehmern, vgl. SED - BL Leipzig vom 25. 9. 1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 867). 607 Vgl. BVfS Leipzig vom 30. 9. 1989 : Info Abt. IX zu Verhaftungen im September und Liste mit Angaben zu Geldstrafen ( BStU, ASt. Leipzig, IX 4/20). 608 Erklärung des Landesjugendkonventes der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens vom 1. 10. 1989 ( ABL, H. I ). 609 Arbeitstreffen Lausitzer Umweltgruppen an Bezirksstaatsanwalt Leipzig vom 30.9.89 (ebd.). 610 Vgl. SED - BL Leipzig vom 25. 9. 1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 867); Vorläufige Zusammenfassung der Ereignisse in Leipzig während und nach dem Friedensgebet am 25. 9. 1989 ( ABL, H. I ); Berichte in Neues Forum Leipzig, S. 31–33. Die SED sprach von einer „Zusammenrottung mit eindeutig antisozialistischer Tendenz“. Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 26. 9. 1989. Laut FAZ vom 27. 9. 1989 wurden 50 Personen festgenommen. Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 150 f.; Leipziger Demontagebuch, S. 17. 611 Sekretariat der SED - BL Leipzig 471 vom 27. 9. 1989 : Maßnahmen zur Mobilisierung der Mitglieder der Bezirksparteiorganisation ( SächsStAL, SED, A 5544). 612 RdB Leipzig an Staatssekretär für Kirchenfragen vom 26. 9.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, IX 4/16).

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kommen angesichts der unhaltbaren Umweltsituation zu zeigen.613 Im Juni verteilte die ev. - luth. Kirche Oschatz ein Flugblatt des Ökologie - Kreises gegen „Atomreaktoren im Raum Dahlen“. Schon im März hatten 13 Pfarrer und Superintendent Martin Kupke beim Rat des Kreises nachgefragt, was es mit den Gerüchten über den Bau eines Kernkraftwerkes auf sich habe.614 Am 11. Juni fand ein Fahrradkorso durch die Dahlener Heide statt (150 in kleineren Gruppen ). An mehreren Stellen der Kreise Oschatz und Wurzen wurden Protestplakate angebracht.615 Auch der Friedens - und Umweltkreis Wurzen protestierte im Juni mit Aktionen gegen den Bau eines KKWs in Radegast und Börln.616 Am 7. Juni hingen an mehreren Orten des Kreises Plakate gegen Atomkraftwerke.617 Bezirk Dresden: In Dresden verhinderte das MfS am 8. und 9. Juli Trommelmärsche „Gegen die Gewalt in China“.618 Die „negativ - dekadenten Kräfte“ zogen sich daraufhin zum Protesttrommeln in die Kreuzkirche zurück, wovon aus das Trommeln „weithin zu hören“ war.619 Insgesamt wurden 27 Personen festgenommen und mit Geldstrafen belegt.620 Auch in Zittau kam es am 29. Juni zu einer „Bittandacht für die Opfer der Gewalt in China“. Dazu wurden als Sondernummer der „Lausitzbotin“ ein „Informationsblatt zu China“ und ein Aufkleber gedruckt und verteilt. Alle Gruppen der Kreise Löbau und Zittau unterzeichneten die Erklärung vom 21. Juni über die „Unmenschlichkeit der Machthaber in China“ und zur „Solidarität mit den demokratischen Kräften Chinas“, die in den Umweltblättern veröffentlicht wurde.621 Andreas Schönfelder von der Umweltbibliothek Großhennersdorf beteiligte sich an der wichtigsten Demonstration gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China in Berlin in Richtung chinesische Botschaft.622 Auch die Proteste gegen den Bau eines Reinstsiliziumwerkes in Dresden - Gittersee gingen nach der Kommunalwahl weiter.623 Am 11. Mai fand in der Kirchgemeinde Oelsa dazu eine Veranstaltung

613 BVfS Leipzig vom 6. 6. 1989 : Vorbereitungen des Umweltgottesdienstes am 11. 6. 1989 in Deutzen / Kreis Borna, Veranstaltung „Mobil ohne Auto“ am 11. 6. 1989 in der Kirche Wurzen ( ebd., AKG 38/2, Bl. 54–58). 614 BVfS Leipzig vom 20. 3. 1989 : Aktivitäten kirchlicher Würdenträger im Kreis Oschatz (ebd. 38/1, Bl. 140 f.). 615 Vgl. VPKA Wurzen vom 11. 6. 1989 ( ebd. 14, Bl. 27); KDfS Oschatz vom 7. 6. 1989 : Äußerung gegen den Bau eines Kernkraftwerkes ( ebd., KDfS Oschatz 177, Bl. 119– 141). 616 Vgl. ebd., AKG 7, Bl. 1–3, 7, 11–14, 17. 617 Vgl. BVfS Leipzig vom 6. 6. 1989 : Vorbereitungen des Umweltgottesdienstes am 11. 6. 1989 in Deutzen / Kreis Borna, Veranstaltung „Mobil ohne Auto“ am 11. 6. 1989 in der Kirche Wurzen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 54–58). 618 MfS, ZAIG, Nr. 337/89 vom 10. 7. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 112. 619 BDVP Dresden vom 14. 7. 1989 : Protesttrommeln in der Kreuzkirche am 9. 7. 1989 (ABL, Dresden ). 620 Vgl. BDVP Dresden vom 9. 7. 1989 : Protesttrommeln in der Kreuzkirche ( ebd., EA 890709_1); ausführlich Urich, Die Bürgerbewegung, S. 70–75. 621 Vgl. Lausitzbotin, S. 41. 622 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 623 Vgl. Lausitzbotin, S. 120–137.

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statt.624 Für den 2. Juli war eine Protestdemonstration an der Baustelle des Werkes geplant.625 Nach einem Fürbittgottesdienst wurden am 6. August in Dresden 150 Demonstranten eingekesselt und zusammengeprügelt, die an der Baustelle gegen den Bau des Werkes protestierten. Zahlreiche Personen wurden zugeführt.626 In den Unterlagen der Volkspolizei liest sich das so : „Durch bestimmendes Auftreten und zweckmäßiges Handeln wurde der Platz geräumt und die sich gebildete Ansammlung von ca. 60 Schaulustigen aufgelöst.“627 Am 13. August fand in der Kirche Dresden - Gittersee eine Bittandacht gegen das Werk statt, an der etwa 1 500 Menschen teilnahmen. Beim anschließenden Marsch zum Baugelände gingen Volkspolizei und MfS erneut mit Gewalt vor und nahmen zahlreiche Personen fest.628 Die Aktionen wurden meist von der Dresdner Gruppe „Wolfspelz“ organisiert und fanden auch die Unterstützung der drei Dresdner Superintendenten sowie eines Großteils der Bevölkerung.629 In Radebeul wurde am 1. September ein „Friedensweg“ als erste Demonstration in der Stadt durchgeführt.630 Im Kreis Löbau führte der „Arbeitskreis Evangelium und Menschenrechte“ der ev. - luth. Kirchgemeinde Kittlitz am 27. September einen „Ersten Umweltschutztag“ durch, an dem 150 Personen teilnahmen. Dabei wurde ein „Offener Brief“ an Honecker bekannt gemacht, in dem gegen Waldsterben und Luftverschmutzung protestiert wurde. Gleichzeitig wurde die Bildung des Neuen Forums bekannt gegeben und dafür geworben.631 Auch im Gemeindezentrum der ev. - luth. Kirchgemeinde Riesa - West wurde Ende September für Veranstaltungen des Neuen Forums geworben.632 In Zittau wies Pfarrer Ahlich am 1. September in der Johanniskirche vor 300 Personen auf die Problematik der Massenflucht hin. Nach der Predigt trat die Gruppe „Wolfspelz“ aus Dresden auf.633 Bei einem Fürbittgottesdienst am 21. September in der Kirche Großschönau wurde eine Protestresolution verlesen und über das Neue Forum informiert.

624 Vgl. KDfS Freital vom 18. 5. 1989 : Aktivitäten kirchlicher Kräfte gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes in Dresden - Gittersee ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 621– 623). 625 Vgl. KDfS Meißen vom 19. 7. 1989 : Beachtenswerte Aspekte ( ebd. 10.923, Bl. 253– 263). 626 Vgl. Rüddenklau, Störenfried, S. 278. 627 BDVP Dresden vom 24. 8. 1989 : Lageeinschätzung ( ABL, Dresden ). 628 Vgl. Forum für Kirche und Menschenrechte vom 16. 9. 1989, S. 2 f. ( MDA, Blätter der DDR - Friedens - und Menschenrechtsbewegung ); Rein, Die protestantische Revolution, S. 191 f. 629 Vgl. Christof Ziemer. In : Rein, Die Opposition, S. 191; Rüddenklau, Störenfried, S. 278. 630 Vgl. Dokumentation der Wende 1989/90 in Radebeul, S. 37. 631 KDfS Löbau vom 25. 9. 1989 : Feindlich - negative Aktivitäten des Arbeitskreises „Evangelium und Menschenrechte“ der ev. - luth. Kirchgemeinde Kittlitz ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 87–89). 632 Vgl. KDfS Riesa vom 29. 9. 1989 : Info ( ABL, Dresden ). 633 Vgl. SED - KL Zittau vom 1. 9. 1989 : Veranstaltung in der Johanniskirche ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13549).

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Bild 13: Aufruf zur Fürbittandacht in der Kirche Großschönau.

Am 24. September wies auch Pfarrer Enke in der Klosterkirche Zittau auf die Möglichkeit hin, sich bei ihm über das Neue Forum zu informieren. Der Rat des Bezirkes forderte den Rat des Kreises Zittau auf, Zusammenkünfte oppositioneller Kräfte zu unterbinden.634 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Anders als im Bezirk Leipzig verteilte sich im Bezirk Karl - Marx - Stadt das Protestgeschehen stärker auf Kreisstädte und Gemeinden. In Weißenborn ( Freiberg ) verlas Pfarrer Walther Volkmar am 13. September einen Brief an den Vorsitzenden des Rates des Kreises Brand - Erbisdorf, in dem auch Pfarrer aus Burkersdorf, Nassau und Frauenstein gegen den Wahlbetrug protestierten. Er zeigte Verständnis für die Flüchtlinge, forderte aber zum Bleiben und dazu auf, Widerstand zu leisten.635 In Seiffen ( Marienberg ) wurde auf 634 Vgl. KDfS Zittau vom 3. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Zittau, 7009, 1, Bl. 181–183). 635 Vgl. KDfS Freiberg vom 26. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 74– 76).

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einer Einwohnerversammlung am 28. September Kritik an kommunalen Mängeln, am Straßenwesen und der schlechten Versorgung geübt.636 Mitte September führten Gemeindemitglieder im VEB KSG Gornsdorf ( Stollberg ) eine Spendenaktion für eine Abgasentschwefelungsanlage im Rahmen der Aktion „1 Mark für Espenhain“ durch.637 Ein Zentrum von Protesten im Bezirk war bereits im September Plauen. Hier ging bei der Polizei schon für den 19. September der Antrag für eine Protestdemonstration ein, der natürlich abgelehnt638 und danach am 22. September erneut, diesmal für den 7. Oktober, gestellt wurde.639 Am 27. September wurde daraufhin ein Aufruf der „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ verbreitet, in dem es hieß : „Bürger der Stadt Plauen ! Seit Monaten führt das SED - Regime eine bisher beispiellose Hetzund Verleumdungskampagne gegen alle demokratisch gesinnten Kräfte in Europa ! [...] Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, findet deshalb eine großangelegte Protestdemonstration auf dem Plauener Theaterplatz statt. [...] Es geht um unsere Zukunft ! Jetzt oder nie ! ! !“640 2.10 Die Opposition formiert sich Oppositionelle Gruppen im Sommer 1989 Eine wichtige Rolle im beginnenden Revolutionsgeschehen spielten auch oppositionelle Gruppen unterschiedlicher Größe und Provenienz.641 Anfang Juni 1989 gab es in der DDR 160 Zusammenschlüsse, die fast ausschließlich im Rahmen der evangelischen Kirchen agierten und deren materielle und technische Möglichkeiten nutzten. Es gab 35 Friedenskreise, 39 Ökologiegruppen, 23 gemischte Friedens - und Umweltgruppen, sieben Frauengruppen, drei Ärztekreise, zehn Menschenrechtsgruppen, 39 Zweite- oder Dritte-Welt - Gruppen und verschiedene Regionalgruppen von Wehrdienstver weigerern. Darüber hinaus existierten zehn personelle Zusammenschlüsse mit koordinierenden Aufgaben, wie der „Fortsetzungsausschuss – Konkret für den Frieden“, der „Arbeitskreis Solidarische Kirche“ mit zwölf Regionalgruppen, die „Kirche von Unten“ mit vier Regionalgruppen, das „Grün - Ökologische Netzwerk Arche“, die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ ( IFM ) und der „Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer“. Die Hälfte aller Gruppen hatte bereits vor dem Jahr 1985 existiert. Alle Gruppen zusammen umfassten ohne Sympathisanten und 636 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 3. 10. 1989 ( ebd. 670, 2). 637 KDfS Stollberg vom 20. 9. 1989 : Info ( ebd., St. 147, Bl. 47 f.). 638 VPKA Plauen vom 19. 9. 1989 : Antrag zur Genehmigung einer Demonstration / VPKA Plauen vom 21. 9. 1989 : Gespräche mit Antragstellern, welche für den 7. 10. 1989 Demonstrativhandlungen beantragt hatten ( ebd., AKG 387, 1, Bl. 87 f.). 639 KDfS Plauen vom 22. 9. 1989 : Meldung über erneute Beantragung einer öffentlichen Demonstration am 7. 10. 1989 ( ebd. 388, 2, Bl. 179–182). 640 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 27. 9. 1989 : Info ( ebd. 389, 2, Bl. 369–372). 641 Zur sozialen Formierung der Gruppen vgl. ausführlich Timmer, Vom Aufbruch, S. 123– 151.

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„Irregeleitete“ einen Kreis von 2 500 aktiven Personen. Nach Meinung des MfS bildeten aus einem engeren Kreis von 600 Personen etwa 60 die maßgeblichen Initiatoren und Organisatoren, die „mit ihren Verbindungen im Inland, in das westliche Ausland und zu antisozialistischen Kräften in anderen sozialistischen Staaten die konkreten Inhalte der Feindtätigkeit personeller Zusammenschlüsse und deren überregionalen Aktionsradius“ bestimmten. Zwischen verschiedenen Gruppen und westlichen Journalisten sowie Mitarbeitern westlicher Botschaften, unter ihnen Mitarbeiter westlicher Geheimdienste, gab es eine Vielzahl an Kontakten. Vor allem die westlichen Medien spielten angesichts des fehlenden Zugangs zu den Medien der DDR für die Gruppen eine wichtige Rolle. Den Schwerpunkt der Aktivitäten bildete Berlin mit 19 Gruppen, unter ihnen die „aktivsten und gefährlichsten“, wie etwa IFM. Die Berliner Gruppen nahmen bei der Koordinierung des gemeinsamen Vorgehens und hinsichtlich ihres Einflusses Schlüsselstellungen ein. Mit Hilfe westlicher Medien war es mit Popularisierungs - und Solidaritätsaktionen gelungen, einzelne Repräsentanten so bekannt zu machen, dass sie angesichts der Weltöffentlichkeit nicht einfach inhaftiert werden konnten. Nach Berlin bildeten vor allem die südlichen Bezirke Zentren der Aktivitäten der Gruppen. Organisation und Kommunikation der Basisgruppen hatten sich im Laufe der Jahre gefestigt. Dabei halfen die Anpassung an kirchliche Strukturen, die Nutzung der Kirchentage und regelmäßige zentrale und regionale Treffen. Das jährliche Treffen der Gruppe „Konkret für den Frieden“ fand 1989 bereits zum siebten Male statt. Das MfS konstatierte Anfang Juni eine „neue Qualität des Zusammenwirkens solcher Zusammenschlüsse“. Es bestand zu diesem Zeitpunkt bereits ein relativ stabiles und gut funktionierendes Verbindungs - und Nachrichtensystem, das mit „Kontakttelefonen“ und Kuriereinsätzen auch kurzfristige Solidarisierungsaktionen ermöglichte. Die Gruppenstrukturen waren relativ stabil. In Anpassung an neue inhaltliche Anforderungen bildeten sich Untergruppen, die teilweise selbstständig agierten. Die führenden Mitglieder standen untereinander und mit Personen im Ausland in Kontakt, u. a. mit Kräften der westlichen Friedensbewegung („Netzwerk für den Ost - West - Dialog“, „Interkirchlicher Friedensrat“), den Grünen, der Alternativen Liste sowie mit ehemaligen DDR - Bewohnern, die „gegen die DDR subversive Aktivitäten“ entwickelten und als „‚Schaltstellen‘ des Zusammenwirkens äußerer und innerer Feinde“642 fungierten. Über diese Personen liefen Informationen an Westmedien wie den West - Berliner Sender „Radio 100,6“, dessen Sendung „Glasnost“ speziell für die Basisgruppen konzipiert war. Von westlicher Seite wurden einzelnen Gruppen Druck - und Vervielfältigungstechnik sowie Videogeräte und Heimcomputer auf illegalem Wege zur Verfügung gestellt. Dadurch gelang es trotz Kontrollen durch das MfS, 25 Informationsblätter herzustellen. Die Gruppen nutzen vor allem die Rechte und Möglichkeiten der Kirche, suchten aber auch ständig nach neuen Wegen. Gezielt wurde unterhalb der Schwelle straf642 MfS, ZAIG, Nr. 150/89 vom 1. 6. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 47–50.

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rechtlicher Relevanz die Ausweitung des eigenen Handlungsspielraumes getestet ( z. B. Kerzenmahnwachen ). Am 23. und 24. Juni fand bei der Theologischen Studienabteilung in Berlin ein Symposium „Kirche und Gruppen“ statt, auf der Edelbert Richter eine Analyse der Gruppen vornahm. Die Bürgergruppen, so Richter, seien „Keime einer pluralistischen Gesellschaft unter den Bedingungen noch vorherrschender Parteistaatlichkeit“. Es bestehe die Gefahr, dass die Gruppen diese „bloß mildernd ergänzen und damit stützen“. Ihre Aufgabe, gesellschaftsfördernd zu wirken, werde dadurch behindert, dass es in ihnen eine „gewisse Sektenmentalität“ und ein „quasi - religiöses Sichfestklammern an bestimmten Losungsworten“ gebe, sich die Gruppen begnügten, „Seufzer der bedrängten Kreatur“ zu sein. Hinderlich sei die dauernde Beschäftigung mit Sozialisierungsproblemen, Selbsttherapie, „kleinlichen persönlichen Dingen“ und eine „Abscheu vor Institutionalisierung“.643 Die Tagung ließ die Tendenz der Gruppen erkennen, den Raum der Kirche zu verlassen und in bewusster Aufnahme des Risikos mit dem Staat außerhalb der Kirche gesellschaftlich aktiv zu werden. Am 13. August trafen sich im Gemeindesaal der Bekenntniskirche in Berlin Treptow 400 Vertreter oppositioneller Gruppen. Der Physiker Hans - Jürgen Fischbeck von der Gruppe „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ forderte die Bildung einer landesweiten Sammlungsbewegung. Es könne nicht mehr darum gehen, als Basisgruppen zu überleben. Man müsse Ideen entwickeln und bis zur nächsten Wahl Konzepte zur Veränderung vorlegen. Seine Vorschläge zielten nicht auf die Bildung von Untergrundstrukturen, sondern auf eine Tätigkeit im Rahmen der Legalität. Sie wurden in einigen „strategisch planenden Gruppierungen der rund 500 Basisinitiativen der DDR“644 seit Monaten diskutiert und sollten eigentlich noch nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Der Ausreisedruck veranlasste die Gruppen jedoch, Alternativen aufzuzeigen. Im MfS konstatierte man Ende August Versuche, auf DDR - Ebene Zusammenschlüsse zu schaffen.645 Tatsächlich waren Verbindungen zwischen den Gruppen schwierig, weil das MfS sie möglichst kappte. Im Gegensatz zu Oppositionsbewegungen in anderen sozialistischen Ländern bewegten sich die Diskussionen in den DDR - Gruppen über wiegend in einem „antikapitalistischen, sozialistisch geprägten Ideengefüge“.646 Wirtschaftsreformen in Richtung soziale Markwirtschaft wurden kaum diskutiert oder gefordert. Die Orientierungen der Akteure zeigten zum einen die Prägekraft der herrschenden Ideologie, die Marktwirtschaft als „kapitalistischen Rückschritt“ brandmarkte, zum anderen die Intensität des Werte - und Programmtransfers aus öko - sozialistischen Kreisen der Bundesrepublik sowie die enge Verknüpfung von grün - alternativen und christlich - marxistischen Programm643 Richter, Christentum und Demokratie, S. 274–277. 644 So taz vom 15. 8. 1989. 645 Vgl. MfS, ZAIG, B /215 : Dienstbesprechung Mielkes am 31. 8. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 115. 646 Knabe, Konzeptionen, S. 182.

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inhalten. Viele Akteure definierten sich nicht als Gegner des Sozialismus. Ihre Hauptforderungen waren die Schaffung einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit und die Zulassung eines Dialogs als Ausdruck eines friedlichen und systemimmanenten Wandels des Sozialismus. Die Umwelt - , Friedens - , Wehrdienstverweiger - und 3. Welt - Gruppen machten sich daher auch „keine Gedanken über eine DDR jenseits der SED“. Man suchte nach Alternativen sowohl zum „Stalinismus“ als auch zum „Kapitalismus“ und fand diese in verschiedenen Modellen dritter Wege. Hintergrund waren industriegesellschaftliche Deutungen vermeintlich ähnlicher Wirtschaften in Ost und West, die durch neue ökologische Strukturen ersetzt werden sollten. Kaum diskutiert wurden „wirklich demokratische Regierungsformen“ oder „die deutsche Frage“.647 Die alternativ - sozialistischen Überzeugungen waren auch ein Grund, warum die Haltung der bundesdeutschen SPD kritisiert wurde. Von der SPD, so hieß es, werde der „DDR Sozialismus nur in den Ansprüchen der SED wahrgenommen“, die Gruppen mit ihren sozialistischen Gegenkonzepten würden jedoch ausgeschlossen.648 Da es sich bei vielen Mitgliedern um „linksorientierte Intellektuelle mit hohen moralischen Ansprüchen und weit gespannten sozialen Utopien“ handelte, besaßen sie kaum Kontakt zur Bevölkerung. Hier wurden sie oft als „Träumer und Chaoten“ belächelt.649 Die Gruppen waren „sozial auf ein weitgehend ghettoisiertes Milieu beschränkt“ und von der Masse der DDR - Bevölkerung isoliert.650 Ihre „fast vollkommene gesellschaftliche Isolation“ verdankten sie zudem „einer hochgradigen Provinzialität und Zerstrittenheit“.651 Die Gruppen waren, ganz anders als etwa Solidarność, „moralisch argumentierende kulturelle Gegeneliten ohne Verankerung im Volk“.652 Auch die SED - Führung zeigte, im Gegensatz zu vielen Mitgliedern, keinerlei Neigung, sich auf die alternativ - sozialistischen Argumentationen einzulassen. Statt Impulse zur Modifizierung des Systems aufzugreifen, deutete die SED Führung ihre Aktivitäten in zunehmender Wagenburgmentalität als Teil einer internationalen Verschwörung des „Imperialismus“. Demnach diente die „Organisierung politischer Untergrundtätigkeit“ der „Aufweichung, Zersetzung, politischen Destabilisierung und letztlich Beseitigung des Sozialismus“. In Durchsetzung des von den USA beschlossenen „Programms für Demokratie“ wirkten führende Kräfte der NATO- Staaten darauf hin, in allen Ostblockstaaten Oppositionsparteien und -bewegungen zu installieren.653 Als ein wesentliches Zentrum zur Steuerung der Gruppen wurde die „United States Information Agency“ (USIA ) angesehen, die auf diesem Wege versuchte, „die konterrevolutionäre

647 648 649 650 651 652 653

Rüddenklau, Bekämpfung, S. 15 und 364. Neubert, Gesellschaftliche Kommunikation, S. 55. Pollack, Ursachen, S. 17 f. Minnerup, Politische Opposition, S. 73. Matthias Geis. In : DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 47. Glotz, Wir Komplizen, S. 165 f. MfS, ZAIG, Nr. 150/89 vom 1. 6. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 46.

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Liquidierung der sozialistischen Machtverhältnisse einzuleiten“.654 Als Drahtzieher des imperialistischen Komplotts wurden die Leitungen der Landeskirchen ausgemacht.655 Die ideologische Untermauerung für die Kriminalisierung der Aktivitäten lieferte die Juristische Hochschule des MfS. Hier hieß es z. B. in einer Analyse, die politische Untergrundtätigkeit sei antihuman, kriminell und moralzerstörend. Auf Grund ihrer „hohen Gesellschaftsgefährlichkeit“ müsse sie vom MfS bekämpft werden.656 Ende Juni konstatierte Mielke „eine deutliche Zunahme des aggressiven, fordernden und verleumderischen Verhaltens und Auftretens sowie eine sinkende Hemmschwelle zur Androhung und Durchführung von feindlich - negativen Aktivitäten“.657 Aus der Fehlanalyse ergab sich der Umgang der Einheits - mit den Alternativsozialisten. Mielke meinte, eine neue Stufe der „Feindtätigkeit“ zu erkennen, und befahl – neben der allgemeinen militärischen Mobilmachung nach innen – die „gründliche operative Durchdringung feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Personenkreise“, um deren Pläne zu verhindern. Dazu ordnete er den Einsatz von IM und GMS an. Die Praxis der Nichtgenehmigung von Veranstaltungen und Demonstrationen sei strikt fortzusetzen.658 Das MfS sammelte verstärkt „Geruchsspuren von Exponenten der PUT“ sowie Blutproben zur Blutgruppenbestimmung.659 Es entwickelte Strategien „zur Zersetzung und Paralysierung“ der Gruppen. Mit Hilfe „gesellschaftlicher Kräfte“, der Blockparteien, vor allem der CDU und der Massenorganisationen, sollte die Wirksamkeit unterbunden werden. Eine besondere Bedeutung maß das MfS dabei der Christlichen Friedenskonferenz, dem Weißenseer Arbeitskreis, der Sächsischen Bruderschaft und vergleichbaren kommunistischen Zusammenschlüssen im Bereich der Kirche bei. So hoffte man, Akteure zurückzugewinnen und Aktivitäten in „gesellschaftsgemäße Bahnen“ zu kanalisieren.660 Durch ein Übergewicht an IM und gesellschaftlichen Kräften bei Veranstaltungen sollten die Gruppen neutralisiert werden. Manche Friedens - und Umweltgruppen waren so infiltriert, dass sie „in sich zusammengefallen wären, hätte die Stasi auf einen Schlag alle ihre Mitglieder abgezogen“. Auf diese Weise stellte es, so Gauck, selbst einen Teil der Opposition.661 Angesichts des riesigen personellen Aufwandes stellte das MfS selbst fest, dass „durch die vielen Spitzel die Oppositionsgruppen faktisch gestärkt“ wurden.662 Nach der Bildung des Neuen Forums und des Demo654 MfS : Fakten und Argumente 1/1989 ( MDA „Fakten und Argumente“ des MfS / AfNS 1–4/1989). 655 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 150/89 vom 1. 6. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 56. 656 Juristische Hochschule Potsdam des MfS : Forschungsergebnisse zur vorbeugenden Bekämpfung der politischen Untergrundarbeit ( VVS JHS 1–201/79). Zit. in Die Welt vom 6. 6. 1990. 657 MfS, ZAIG, Nr. 3933/89 von Juli 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 82. 658 Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 13. 6. 1989 ( BStU, HA VIII 755). 659 BVfS Leipzig vom 28. 12. 1988 : Leiter Abt. XX, Jahresplan von 1989 ( ABL, FVS Dresden, BV Leipzig ). 660 MfS, ZAIG, Nr. 150/89 vom 1. 6. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 54 f. 661 Gauck, Die Stasi - Akten, S. 30 f. 662 Stefan Wolle. In : FAZ vom 30. 1. 1992.

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kratischen Aufbruchs im September wurde die Spitzeltätigkeit ausgeweitet. Am 21. September stellte der Leiter der Hauptabteilung XX /4, Wiegand, fest, „dass sich oppositionelle Bestrebungen so entwickelt haben, dass sie nicht mehr ohne Weiteres liquidiert werden können. Operative Maßnahmen des MfS mit repressivem Charakter sind aufgrund der Lageentwicklung nicht möglich. Demzufolge ist die politische Einflussnahme / Führung entscheidend.“663 Die Leiter der Bezirksver waltung des MfS wiesen daher ihre Diensteinheiten an, „eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, welche inoffiziellen Kräfte geeignet sind, in die feindlich - negativen Personenzusammenschlüsse eingeschleust zu werden“, um „im Rahmen von Zersetzungsmaßnahmen wirksam“ zu werden. Ziel war es, „Formierungsbestrebungen oppositioneller Kräfte von innen heraus zu stören“ und „den Versuch zur Herbeiführung einer einheitlichen Organisationsstruktur bzw. ‚Dachorganisation‘ zu verhindern“, Anhänger „zu verunsichern, Rivalitäten zwischen den Führungspersonen zu schüren, Angst vor Sanktionen her vorzurufen und Ansatzpunkte für eine disziplinierende Einflussnahme herauszuarbeiten“.664 IM sollten versuchen, Spitzenpositionen zu besetzen. Diese Strategie war weitgehend erfolgreich. Zwar wies die SED den Gruppen als Teil „imperialistischer Verschwörung“ erhebliche Bedeutung zu. Umstritten ist aber ihre tatsächliche Rolle als Auslöser der friedlichen Revolution. Welche Rolle spielten sie im Handlungsgefüge internationaler und innerdeutscher Faktoren, von Massenflucht, Unzufriedenheit der Bevölkerung und dem Protestgeschehen ? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Hans - Jürgen Fischbeck meint, ihre programmatische Unangepasstheit und ihr ethischer Rigorismus habe sie zu Kristallisationspunkten des sich bildenden Protestes gemacht. Sie hätten dazu beigetragen, die von der SED bewirkte „Stabilität der Angst“ zu zerschlagen.665 Nach Jens Reich zeigten sie als erste bürgerliche Zivilcourage.666 Ihre Aktivitäten, so Detlef Pollack, wurden zum Fanal und Auslöser von Massenaktionen.667 Der Umbruch in der DDR stand durch sie „im Kontinuum einer geistigen Opposition“, zu der Personen wie Biermann oder Havemann gehörten.668 Auch für Ehrhart Neubert war es nicht die Bevölkerung, sondern waren es die Gruppen, die „durch ihre Aktivitäten die Herbstrevolution zur Demokratisierung des politischen Systems ermöglichten und entscheidend dazu beitrugen, das stalinistische System zu beseitigen“. Sie hätten „die Hauptlast des Widerstandes getragen“.669 Sie wurden demnach „zur eigentlichen Trägerin der Befreiungsbewegung, weil sie den pro663 Zit. in Ulrich v. Saß, Nichts als Spott für alle Geheimdienste der Welt. In : Die Kirche vom 8. 3. 1992. 664 Leiter der BVfS Erfurt vom 27. 9. 1989 : Lage unter feindlich - negativen Kräften ( ABL, FVS Dresden, BV Erfurt, Bl. 23 f.). 665 Interview mit Hans - Jürgen Fischbeck. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 84 f. 666 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 31. 667 Pollack, Ursachen, S. 23. 668 Biermann, Wer war Krenz ?, S. 27. 669 Neubert, Die Ekklesiologie, S. 70.

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testierenden Massen politische Zielsetzungen und politische Stimme gaben“.670 Auch für Rolf Reißig waren vor allem die Gruppen Subjekte des Umbruchs. Daneben nennt er die evangelische Kirche, Teile der kulturellen Eliten und seit 1985 eine kritische Strömung innerhalb der SED.671 Von der Bevölkerung ist hier ebenso wenig die Rede wie bei Kurt Sontheimer oder Helmut Simon, nach deren Überzeugung die alternativen Basisgruppen die Revolution initiierten.672 Demgegenüber messen viele Stimmen ihnen diese Bedeutung nicht bei. Sie spielten, so Marianne Birthler, keine so große Rolle, wie nachträglich behauptet. Ihre Bedeutung lag darin, die Meinung der Bevölkerung zu artikulieren und organisieren.673 Freilich vertraten sie Überzeugungen, die in der Bevölkerung kaum verbreitet waren. Auch für Werner Fischer waren sie „die Hefe im Sauerteig“, nicht aber die treibende Kraft.674 Ebenso bestreitet Hans - Jürgen Fischbeck, dass „die Wende“ von den alternativen Gruppen herbeigeführt worden sei.675 Für Peter Glotz steht „unumstößlich“ fest, dass die Revolution in Moskau ausgelöst wurde und „nicht von den tapferen, hochherzigen, aber zumeist isolierten, schwachen und oft unpolitischen Oppositionsbewegungen“.676 Aus Sicht des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in Ost - Berlin war ihre Arbeit weit entfernt von effektiver Oppositionsarbeit. Die Gruppen setzten sich ausschließlich aus Intellektuellen „ohne politische Talente“ zusammen. Ministerialrat von Studnitz ergänzte die Analyse um die Feststellung : „Besorgt sein muss die Führung aber um die Stimmung in der Arbeiterschaft, die durch die allgemein bekannten Mängel in der Versorgung gereizt ist.“677 Die Bevölkerung aber wird bei der ( Selbst - )Beschreibung der Bürgergruppen in der Regel vergessen. Dabei bestimmte sie von Anfang bis Ende Richtung und Intensität der Revolution maßgeblich. Bildung des Neuen Forums Eine wesentlich größere Bedeutung als die vielen kleinen Basisgruppen gewann die am 10. September von ca. 30 „Führungskräften personeller Zusammenschlüsse“ und anderen „feindlich - negativen Personen“678 aus verschiedenen Bezirken im Gartenhaus Robert Havemanns in Grünheide ( Frankfurt / Oder ) gegründete Initiativgruppe „Aufbruch 89 – Neues Forum“.679 Erstunterzeich670 671 672 673 674 675 676 677

Ders., Protestantische Aufklärung, S. 146. Rolf Reißig. In : DA, 23 (1990) S. 1453. Vgl. Sontheimer, Deutschlands politische Kultur, S. 82; Simon, Markierungen, S. 141. Interview mit Marianne Birthler. In: Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 43. Interview mit Werner Fischer. In : ebd., S. 108. Interview mit Hans - Jürgen Fischbeck. In : ebd., S. 89. Glotz, Die Linke, S. 22. Dokumente zur Deutschlandpolitik – Deutsche Einheit, Sonderausgabe aus den Akten des Bundeskanzleramtes, S. 409 f. und 413–416. Vgl. Kroh, Wendemanöver, S. 218 f. 678 BStU, ZA, HA VIII 2154, Bl. 278. 679 Aufbruch ’89 – Neues Forum, Grünheide vom 10. 9. 1989 ( MDA, Wende, Bürgerinitiative, Parteien. Roland Jahn - Archiv ).

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ner des Gründungsaufrufes waren u. a. die „Initiative Frieden und Menschenrechte“, „Frauen für den Frieden“, „Ärzte für den Frieden“, „Friedenskreis“ Berlin - Friedrichsfelde, Arbeitsgruppe „Menschenrechte“ des „Friedenskreises“ der Erlöserkirche, „Friedenskreis“ und „Koordinierungsgruppe Kernkraft“ Stendal, „Vorbereitungskreis Nachtgebete“ und „Christliche Frauen für den Frieden“ Halle, „Interessengemeinschaft Leben“ Leipzig, Gruppe „Wolfspelz“ Dresden und Aktionskreis „Frieden und Gerechtigkeit“ des Landeskirchenamtes Sachsen Dresden. Diese Liste wies das Neue Forum als Sammlungsbewegung verschiedener, aber nicht aller Gruppen aus. Zu den prominenten Initiatoren gehörten Bärbel Bohley, Katja Havemann, Rolf Henrich, Rudolf Tschäpe, Reinhard Meinel, Jan Hermann und Jens Reich. Zu den Erstunterzeichnern zählten mit Olaf Freund, Otmar Nickel und Catrin Ulbricht drei Dresdner. Aus der Oberlausitz war Alfred Hempel aus Großschönau Gründungsmitglied. Von Anfang hatte das Neue Forum Kritiker aus nichteinbezogenen Gruppen, die den unabgesprochenen Alleingang kritisierten. Vor dem Hintergrund der Streitereien zwischen den Oppositionsgruppen und ihren Führern hätten sich, so z. B. Werner Fischer, „einige wenige“ in Grünheide zusammengefunden und beschlossen, „etwas Eigenes zu machen. Sie nannten sich dann ‚Neues Forum‘ und verabschiedeten einen sehr merkwürdigen Text“. Bei der Aktion hätten „Eitelkeit“ und „Geltungsdrang“ eine Rolle gespielt, und viele Vertreter anderer Oppositionsgruppen seien „über den Tisch gezogen“ worden.680 Am 11. September wandte sich das Neue Forum mit dem Aufruf „Aufbruch 89 – Neues Forum“ an die Öffentlichkeit. Der erste Satz lautete : „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ Es bedürfe eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Deshalb bildeten die Oppositionellen „gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Lande zu beteiligen“.681 Angekündigt wurde, die Tätigkeit des Neuen Forums auf gesetzliche Grundlage zu stellen.682 Seit seiner Gründung betonten alle führenden Initiatoren die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit reformwilligen Kräften in der SED.683 Nur auf dem Boden der Verfassung und bei Einbeziehung der SED - Mitglieder war nach Meinung von Jens Reich als erster Schritt zur Demokratisierung die „Initiierung einer angstfreien Diskussion“ möglich.684 Wieder wurden westliche Medien genutzt, um die Gründung publik zu machen.685 Wichtigste Forderung des Neuen Forums war die Wiederherstellung der Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft. Die Forderung nach 680 681 682 683 684 685

Interview mit Werner Fischer. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 108. Aufbruch 89 – Neues Forum. Vgl. Rein, Die Opposition, S. 13 f. Die Initiatoren beriefen sich auf Art. 29 DDR - Verf. und die VO vom 6. 11. 1975. So Hans - Jochen Tschiche. In : Die Welt vom 14. 9. 1989. BBC Radio 4 vom 26. 9. 1989 um 23.55 Uhr. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 416/89 vom 19. 9. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 155.

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Zulassung bedeutete das Postulat, sich über Grundsätze des Zusammenlebens öffentlich zu verständigen. Auslöser der Wende war nach Meinung Heinrich Oberreuters „das Begehren aus der Gesellschaft, sich den öffentlichen Raum – eben das Forum – anzueignen“.686 Am 19. September beantragte das Neue Forum unter Berufung auf Artikel 29 der Verfassung beim Innenministerium sowie in elf Bezirken die Zulassung als Vereinigung. Gerade weil die Legalisierungsforderung im Rahmen der formalen Verfassungsrechte und auf gesetzlichem Wege erhoben wurde, zeigte die Reaktion des Staates das Fehlen jeglicher Rechtsstaatlichkeit.687 Schon am 18. September wies der Chef des Stabes des MdI, Generaloberst Wagner, die Räte der Bezirke an, die Anträge entgegenzunehmen, die Personalien festzustellen und alles an das MfS und das Innenministerium weiterzuleiten.688 Das Politbüro beauftragte Krenz, in der „Jungen Welt“ gegen die oppositionellen Forderungen zu polemisieren. Joachim Herrmann sollte den „befreundeten Parteien“ bei der „Auseinandersetzung mit oppositionellen Kräften die entsprechende Hilfe“ geben, Günter Schabowski eine Resolution des Schriftstellerverbandes organisieren und Werner Jarowinsky die Synoden der Evangelischen Kirche analysieren.689 Am 21. September lehnte das Innenministerium eine Zulassung mit der Begründung ab, „Ziele und Anliegen“ der Vereinigung widersprächen der Verfassung und stellten eine „staatsfeindliche Plattform“ dar. Für die Vereinigung gebe es kein „gesellschaftliches Bedürfnis“.690 Am 22. September wies Mielke die Leiter aller Diensteinheiten des MfS an, Antragsteller auf Zulassung einzeln vorzuladen und ihnen mündlich zu erklären : „Ihrem Antrag auf Bestätigung der Anmeldung kann nicht entsprochen werden, da für die beabsichtigte Gründung der Vereinigung ‚Neues Forum‘ keine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht. Zur Wahrnehmung politischer und gesellschaftlicher Interessen bestehen in der DDR umfassende Organisationsformen.“ Die Dienststellen wurden angewiesen, keine Diskussionen zu führen und den Antragstellern mit rechtlichen Konsequenzen zu drohen, wenn die Gründungsaktivitäten nicht eingestellt würden. Wortgleiche Anweisungen ergingen an alle Volkspolizei - Dienststellen.691 Die Ablehnung wurde am 22. September in allen Zeitungen bekannt gemacht. In einem Schreiben an den Ministerrat protestierten sächsische Superintendenten und Kirchenjuristen am 23. September gegen die Nichtzulassung,692 686 Oberreuter, Medien als Akteure, S. 371. 687 Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 13 f. 688 MdI an RdB, Stellvertreter für Inneres, vom 18. 9. 1989 ( BArch, DO 1, 52461). MdI vom 19. 9. 1989 ( LHASA, 99–103, RdB Magdeburg, Bl. 3); BVfS Dresden vom 19. 9. 1989 : Gründung Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 4, Bl. 64). 689 Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 19. 9. 1989 : Punkt 2, 4–6 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2346). 690 Neues Deutschland vom 22. 9. 1989. 691 MfS an alle BVfS vom 22. 9. 1989 ( ABL, Dresden ); MdI an Chefs der BDVP vom 22. 9. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 692 Abgedruckt in Küttler / Röder, Es war das Volk, S. 31.

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während die SED die Entscheidung öffentlich mit dem zynischen Argument verteidigte, in der DDR gebe es bereits Interessenvereinigungen für „Briefmarkensammler, Hundehalter, Rosenfreunde und Bücherfreunde“.693 Das Politbüro bestätigte am 26. September die Ablehnung als „endgültig“.694 Mielke erklärte zwei Tage später, dadurch sei „unmissverständlich deutlich gemacht“ worden, dass es in der DDR „keine legale antisozialistische Opposition geben“ werde.695 Nach der Ablehnung der Legalisierung wurden die Erstunterzeichner mit Briefen, Fragen und Anrufen bestürmt. Sie reagierten mit der Aufforderung, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, da niemand ein Rezept habe, wie die Entwicklung zu gestalten sei.696 Bezirk Dresden: Der Versuch einer Anmeldung des Neuen Forums für den Bezirk Dresden erfolgte zunächst auf Initiative von Zittauer Aktivisten, die in Kontakt zu Bärbel Bohley standen. Hier bildete sich im September um Lothar Alisch eine Initiativgruppe Oberlausitz.697 Nach einer Beratung oppositioneller Kräfte der Region in Zittau, an der sich auch Andreas Schönfelder von der Umweltbibliothek Großhennersdorf sowie Ullrich Keller und Claus Gruhl aus Bautzen beteiligten,698 meldeten Thomas Pilz und Pfarrer Alfred Hempel das Neue Forum am 19. September beim Rat des Bezirkes an. Im Vorfeld wurden in der Umweltbibliothek Großhennersdorf mit Blick auf Artikel 20 der DDR Verfassung und der „Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen“ vom 6. 11. 1975 die rechtlichen Möglichkeiten einer Anmeldung analysiert und Chancen für ein taktisches Vorgehen ausgelotet. Diese Analyse fand im Wesentlichen Eingang in die Begründung des Widerspruchsverfahrens nach der Ablehnung der Zulassung des Neuen Forums DDR - weit.699 In Dresden tagte zur selben Zeit die Leitung des „Ökologischen Arbeitskreises der 3 Dresdner Kirchenbezirke“ bei Superintendent Ziemer. Hier wurde der Aufruf diskutiert. Bei einem Treffen der Gruppe „Wolfspelz“, an der auch Mitglieder des „Johannstädter Friedenskreises“ teilnahmen, scheiterte einen Tag später der Versuch der Konstituierung in Dresden. Führende Mitglieder von „Wolfspelz“ hatten Befürchtungen vor Hegemonieansprüchen des Neuen Forums. Am 21. September beantragten daraufhin auch Mitglieder des Johannstädter Friedenskreises und des Friedenskreises Weißer Hirsch die Gründung des Neuen Forums beim Rat des Bezirkes,700 das am selben Tag als „gesell693 Neues Deutschland vom 23./24. 9. 1989. 694 Protokoll des Politbüros des ZK der SED vom 26. 9. 1989, Punkt 13 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2347). 695 Zit. in Strafsache gegen Honecker und andere, Az : 111–1–90, Band 04/15. Zit. in Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 120. 696 Vgl. Neues Forum, Gründungskonferenz, Rechenschaftsbericht vom 27. 1. 1990 ( ABL, H. XIX /4). 697 Vgl. Liszka, Von der Nichtanpassung, S. 74–79. 698 Vgl. BVfS Dresden vom 25. 9. 1989 : Aktivitäten feindlich - negativer Kräfte in der ev. luth. Kirchgemeinde Zittau ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 349–351). 699 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 700 BVfS Dresden : Info über Aktivitäten innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte des Bezirkes, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 343).

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schaftlich nicht notwendig“ abgelehnt wurde. In Dresden wurden Pilz und Hempel am 26. September getrennt beim Rat des Bezirkes vorgeladen und strafrechtliche Folgen angedroht.701 Welche Bedeutung man dem Vorgang beimaß, zeigte eine extra einberufene Beratung Modrows. Hier wurde beschlossen, die Antragsteller getrennt zu empfangen, „die Gespräche auf Band aufzuzeichnen, ohne dass dies dem Bürger mitgeteilt wird“, ihnen die Ablehnung mitzuteilen und gegebenenfalls wegen „Hausfriedensbruchs“ gegen sie vorzugehen.702 Trotz SED - Schikanen fand der Aufruf schnell Verbreitung,703 und es kam zu regionalen Gründungen. Am 23. September bildete sich eine Gruppe des Neuen Forums in Radebeul.704 Der Coswiger Pfarrer Hanno Schmidt beteiligte sich aktiv an der Propagierung des Neuen Forums. Er stellte Verbindung zum Neuen Forum in Berlin, Karl - Marx Stadt und anderen Städten her und war eine der zentralen Verbindungspersonen im ostsächsischen Raum.705 Im „Königsbrücker Aufruf“ ( Kamenz ) hieß es, das Neue Forum sei offen für alle Bürger, die für Demokratisierung eintreten wollten, als „Übungsfeld“ für freie Konversation und Meinungsstreit. Neben umfassenden politischen Problemen wolle man sich auch um kommunale Probleme kümmern, Entscheidungen des Rates der Stadt kontrollieren und alternative Lösungen erarbeiten. Am 27. September beschloss das Neue Forum Königsbrück Friedensgebete in der Kirche und anschließende Demonstrationen mit Kerzen durch die Stadt.706 Auf Initiative von Pfarrer Schmidt wurden in Coswig Gründungsaufrufe verbreitet und Unterschriften gesammelt. In einem Fürbittgottesdienst in der Kirche Großschönau ( Zittau ) informierte Pfarrer Alfred Hempel am 21. September über das Neue Forum und verteilte den Aufruf.707 Seit dem 25. September kursierte dieser auch unter Lehrern der POS Zittau.708 In der Stadt bildete sich im September eine Initiativgruppe Oberlausitz des Neuen Forums. Am 22. September wurde das Neue Forum in der Kirche von Kittlitz vorgestellt.709 Im Gemeindezentrum der ev. - luth. Kirchgemeinde RiesaWest und in privaten Geschäften der Stadt wurde Ende September auf das Neue Forum hingewiesen.710 Der Jugenddiakon der Kirche Riesa - Altstadt forderte am 29. September die Teilnehmer der Jungen Gemeinde der Trinitatis - Kirche auf, 701 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129); Gedächtnisprotokoll über die Anmeldung des Neuen Forums im Bezirk Dresden am 26. 9. 1989 ( UB Grohedo ); BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 314–319); Anmeldung des Neuen Forums ( ebd., KD Zittau, 7009 1; Bl. 33 f., 98–111, 136–138, 255–257). 702 Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres an Vorsitzenden des RdB Karl - Marx - Stadt : Beratung am 25. 9. 1989 ( SächsStAC, 128706). 703 Vgl. BVfS Dresden vom 25. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 342–346). 704 Vgl. Dokumentation der Wende 1989/90 in Radebeul, S. 9. 705 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 229. 706 Neues Forum Königsbrück ( SA Königsbrück ); Chronik der Ereignisse von 1989/1990 in Königsbrück ( ebd.). 707 Vgl. BVfS Dresden vom 25. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 342–346). 708 Vgl. KDfS Zittau vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., KD Zittau, 7010, Bl. 150–152). 709 Vgl. Liszka, Von der Nichtanpassung, S. 74 und 77. 710 Vgl. BVfS Dresden vom 30. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 302–304).

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sich dem Neuen Forum anzuschließen.711 In Bischofswerda waren Ende September Unterschriftslisten des Neuen Forums im Umlauf.712 In Görlitz verlas am 22. September ein Physiker ( SED ) seinen Mitarbeitern ein Papier des Neuen Forums und forderte sie auf, zu unterschreiben.713 Allein am 30. September stellte die Abteilung M der Bezirksverwaltung des MfS elf Sendungen mit dem Aufruf des Neuen Forums fest.714 Bezirk Karl - Marx - Stadt: Im Bezirk Karl - Marx - Stadt beantragten Martin Böttger aus Cainsdorf bei Zwickau sowie Roland Frenzel und Dirk Schöne aus Zwickau am 19. September die Zulassung für den Bezirk. Dieser Antrag wurde im persönlichen Gespräch mit dem Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes, Flach, abgelehnt. Die drei erhielten am 25. des Monats einen abschlägigen Bescheid.715 Für das Neue Forum gebe es keine gesellschaftliche Notwendigkeit. Es wurde empfohlen, die vorhandenen Blockparteien und Massenorganisationen zu nutzen.716 Gleichzeitig wurde Böttger von nun an von einem IM des MfS überwacht.717 Im Bezirk bildeten sich schnell regionale Strukturen. Im Kreis Annaberg entstanden Ende September „Zentren und Ausgangsbasen für schnell um sich greifendes oppositionelles Gedankengut“. Am 25. September diskutierte die Umweltgruppe „Grünes Kreuz“ der St. Annenkirche Annaberg - Buchholz den Aufruf und sammelte Unterschriften.718 In der Stadt kursierte eine Unterschriftenliste.719 In Oberwiesenthal wurden nach dem Verbot des Neuen Forums in verschiedenen Geschäften Unterschriften gesammelt.720 In Aue bekannten sich seit dem 21. September etwa 30 Personen zum Neuen Forum und verbreiteten den Aufruf.721 Am 28. September begann in Sosa ( Aue) eine öffentliche Unterschriftensammlung.722 In Flöha erklärten mehrere Bürger, sofort nach Zulassung beitreten zu wollen, weil es dessen Ziel sei, die „SED von der Macht abzubringen“ und Reformen durchzusetzen.723 In der Friedensbiblio711 Vgl. BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 252, 254–256). 712 Vgl. Erinnerung des Pfarrers Christian Näcke aus Bischofswerda vom 9. 9. 1999 ( PB Christian Näcke ). 713 Vgl. BVfS Dresden vom 22. 9. 1989 : Info Görlitz ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 320–324). 714 Vgl. BVfS Dresden vom 30. 9. 1989 : Info ( ebd., Bl. 302, 304). 715 Vgl. Neues Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt an RdB Karl - Marx - Stadt vom 19. 9. 1989: Anmeldung ( SächsStAC, 128706); Protokoll der Dienstversammlung der BVfS Karl Marx - Stadt am 22. 9. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 431, Bl. 16 f., 24, 28); Neues Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 9. 10. 1989 : Neues Forum - Aktuell ( ebd., St. 45, Bl. 70). 716 Vgl. Neues Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 9. 10. 1989 ( PB Barbara Gabor ). 717 Vgl. Baum / Walter ( Hg.), „... ehrlich und gewissenhaft ...“. 718 KDfS Annaberg vom 20. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 60– 68). 719 Vgl. Chronologie der Wende in Elterlein ( HAIT, StKa ). 720 Vgl. Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 im Kurort Oberwiesenthal ( ebd.). 721 Vgl. Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( ebd.). 722 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa ( ebd.). 723 KDfS Flöha vom 26. 9. 1989 : Einschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 109–112).

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thek Zwickau lagen Informationen aus.724 Hier berieten Aktivisten der Opposition auch Anträge zur Legalisierung des Neuen Forums.725 Frühzeitig aktiv wurde das Neue Forum auch im Kreis Plauen.726 Bezirk Leipzig : Am 22. September ging beim Rat des Bezirkes Leipzig ein Antrag auf Bildung des Neuen Forums ein.727 Auch hier organisierten Anhänger nach der Ablehnung, insbesondere in Leipzig, Unterschriftensammlungen, nutzten öffentliche Foren, Aushänge am Schwarzen Brett und Vervielfältigungstechnik in Betrieben, um den Aufruf zu verbreiten, vernetzten ihre Aktivitäten und solidarisierten sich mit Inhaftierten. In den Betrieben wurde der Aufruf des Neuen Forums bei Versammlungen verlesen und Kollegen konkret zur Mitarbeit aufgefordert. Aber auch in den Kreisen fasste das Neue Forum Schritt für Schritt Fuß. Das MfS listete allein für den Bezirk über 200 Beispiele für die Verbreitung und Organisierung des Neuen Forums auf.728 In vielen Fällen war es, wie u. a. in Hauwalde ( Riesa ), der Pfarrer, der oppositionelle Gruppen bildeten.729 Künstler für Neues Forum Auch auf viele Künstler wirkte die Bildung des Neuen Forums elektrisierend. Bereits am 14. September forderten Mitglieder des Berliner Schriftstellerverbandes eine Kurskorrektur und Möglichkeiten öffentlicher Kritik.730 DDR - weit unterzeichneten Unterhaltungsmusiker eine Resolution für das Neue Forum und eine Reform des Sozialismus, die am 18. September im LDPD - Blatt „Der Morgen“ veröffentlicht wurde. Binnen weniger Tage schlossen sich ca. 3 000 Musiker an. Hier hieß es, es gehe nicht um Reformen, die den Sozialismus abschaffen, sondern um solche, die ihn weiterhin möglich machten. Die momentane Haltung gefährde ihn und liefere gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Man müsse endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten seien. Es mache krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung kriminalisiert und ignoriert würden.731 Der Schriftsteller 724 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 26. 9. 1989 : Friedensbibliothek Zwickau ( ebd. 389, 2). 725 Vgl. KDfS Zwickau vom 2. 10. 1989 : Aktivitäten von Vertretern des „Konziliaren Prozesses“ Zwickau und Mitgliedern der CDU - OG Mülsen St. Niclas ( ebd. 2280, Bl. 54– 56). 726 Vgl. KDfS Plauen vom 22. 9. 1989 : Neues Forum ( ebd. 387, 2, Bl. 291 f.). 727 BVfS Leipzig vom 25. 9. 1989 : Offizielle Antragstellungen beim RdB Leipzig zur Bildung oppositioneller Zusammenschlüsse durch feindlich - negative Personen ( ABL, FVS Dresden Parteiinformation BV–BL, Min.–SED, MfS an Politbüro ). Vgl. Stasi intern, S. 264–267. 728 Vgl. BVfS Leipzig, AKG, vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( ABL, 16.1.131). 729 Vgl. BVfS Dresden vom 1. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 295, 297). 730 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt von Oktober 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 779, Bl. 6). 731 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 416/89 vom 19. 9. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 156; taz vom 18. 9. 1989.

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Stephan Hermlin distanzierte sich dagegen vom Neuen Forum, da es sich nicht ausdrücklich zum Sozialismus bekenne. Er lehnte es jedoch ab, die Akteure zu kriminalisieren und plädierte stattdessen für eine selbstständigere Rolle der Blockparteien im Rahmen der sozialistischen Demokratie.732 In einem Offenen Brief an Eberhard Aurich protestierte die FDJ der Kunsthochschule Berlin - Weißensee am 26. September gegen das Verbot und verlangte eine offene Diskussion abweichender Standpunkte.733 Am 29. September forderten Künstler des „Berliner Ensembles“ öffentlich den Beginn eines Dialogs über gesellschaftliche Probleme.734 In einer Resolution drückten 337 Unterzeichner des Verbandes Bildender Künstler Berlins ihre Besorgnis über die Krise der Gesellschaft aus und forderten statt der „Wirklichkeitsverdrängung“ durch die SED - Führung eine öffentliche Diskussion.735 Am 4. Oktober schloss sich das Präsidium der Akademie der Künste der Forderung an und forderte eine Weiterentwicklung des Sozialismus.736 Auch in Sachsen, wo es schon in den zurückliegenden Monaten und Jahren immer wieder Protestbekundungen gegeben hatte, traten nun zahlreiche Künstler und „Kulturschaffende“ an die Öffentlichkeit. Bezirk Dresden : In Dresden verlas der Vorsitzende des Bezirksverbandes Bildender Künstler am 27. September intern den Aufruf des Neuen Forums und die Resolution vom 18. September.737 Zwei Tage später forderten Gunter Emmerlich und andere Künstler der Dresdner Semper Oper in einem Aufruf einen offenen Dialog.738 Im „Klub Neue Mensa“ der Technischen Universität Dresden informierte die Rockband „Die Zöllner“ am 25. September über die Resolution der Künstler.739 Auch in den Kreisstädten gab es Proteste und Sympathiekundgebungen. Bei einem Konzert der Rockband „Pankow“ am 24. September in Görlitz machte André Herzberg auf die Gründung des Neuen Forums aufmerksam, protestierte gegen die Medienpolitik und forderte eine Reform des Sozialismus. Auch der Sänger Frank Schöbel sowie die Gruppe „City“, vor allem Sänger Toni Krahl, verlasen bei allen Veranstaltungen in Sachsen die Resolution der Unterhaltungskünstler.740 In Freital trat Peter Ludewig bei einer Veranstaltung im Jugendklubhaus „Klub der Buna - Jugend“ in seinem Programm „Mampe in spe“ am 30. September „negativ in Erscheinung“. Er ging auf Umweltprobleme und die Ausreisewelle ein, intonierte das Deutschlandlied und die Hymne 732 Stephan Hermlin. Zit. in FAZ vom 28. 9. 1989. 733 Offener Brief der HSGL der FDJ Kunsthochschule Berlin an Eberhard Aurich vom 26. 9. 1989 ( ABL, H. I ). 734 Erklärung der Künstler des Berliner Ensembles vom 29. 9. 1989. In : Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 43 f. 735 Resolution von Mitgliedern des VBK - DDR, Berlin vom 2. 10. 1989 ( ABL, H, I ). 736 Erklärung des Präsidiums der Akademie der Künste der DDR. In : Wir sind das Volk 1, S. 47 f. 737 Vgl. BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 314–319). 738 Aufruf von Mitgliedern der Semper - Oper. In : Wir sind das Volk 1, S. 34 f. 739 Vgl. BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX, 9181, Bl. 329–334). 740 Vgl. BVfS Dresden vom 22. 9. 1989 : Görlitz ( ebd., Bl. 320–324); KDfS Görlitz vom 28. 9. 1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( ebd., LBV 10986, Bl. 1–4).

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der DDR und sprach sich für das Neue Forum aus.741 Im Stadttheater Meißen verlasen die Berliner Liedermacher Steffen Mensching und Hans Eckard Wenzel am 26. September im Rahmen eines Programms unter dem Motto „Altes aus der DA DA eR, Neues aus der DA DA eR“ die Resolution.742 Ab dem 4. Oktober lasen allabendlich Schauspieler des Dresdner Staatstheaters einen Aufruf vor, in dem u. a. das Recht auf Information, Pluralismus im Denken und Reisefreiheit gefordert wurden. Nach einem Verbot standen die Künstler nach den Vorstellungen schweigend auf der Bühne.743 Bezirk Karl - Marx - Stadt: Im Kulturhaus der Bergakademie Freiberg ( Alte Mensa ) verlas der Sänger der Band „Mixed Picles“ aus Berlin am 21. September den Gründungsaufruf.744 In Annaberg - Buchholz wurde in Theaterkreisen intensiv über die Premiere der Oper „Der Konsul“ diskutiert und dabei „äußerst aktuelle Bezüge negativ dargestellt“.745 Auch das Plauener Theater mit seinem reformfreudigen Intendanten Peter Radestock trat mit „gewagten Inszenierungen“ hervor.746 Bei einer Veranstaltung im Kulturhaus „Karl - Marx“ von Annaberg - Buchholz mit Perry Friedmann am 30. September griff der Künstler Gert Eckhardt mit Rezitationen und Witzen „Teilbereiche der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ an.747 Bei einem Liederabend mit Kurt Demmler am 22. September in Hainichen trug dieser Texte vor, „die eindeutig als Angriffe gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR und gegen die Staatsgrenze gerichtet waren“.748 Bezirk Leipzig: Auch in Döbeln verlas der Sänger André Herzberg von der Gruppe „Pankow“ beim „5. Rocksommer der FDJ“ am 20. September die Resolution und gab bekannt, dass die Gruppe sich dem Neuen Forum anschließe. Tamara Danz von der Gruppe „Silly“ verlas die Resolution bei deren Konzert ebenfalls, so auch Angelika Waitz bei einer „Liedernacht“ im Jugendklubhaus „Rosa Luxemburg“ Altenburg749 und die „Fieseler Gang“ aus Dresden bei einem Jugendforum in Delitzsch.750

741 KDfS Freital vom 7. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., 10917, Bl. 456–458). 742 BVfS Dresden vom 27. 9. 1989 : Info ( ebd., XX, 9181, Bl. 329–334). 743 Aufruf der Schauspieler : Wir treten aus unseren Rollen heraus. In : Rein, Die Opposition S. 154. 744 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 22. 9. 1989 : Info zum Neuen Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 387, 2, Bl. 282). 745 KDfS Annaberg vom 5. 9. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 78–82). 746 So Küttler, Die Wende in Plauen, S. 148. 747 KDfS Annaberg vom 4. 10. 1989 : IV. Kulturtage der Jugend in Annaberg - Buchholz (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 140–142). 748 KDfS Hainichen vom 26. 9. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 534, 1, Bl. 89–98). 749 Vgl. SED - BL Leipzig vom 21. 9. 1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 867). 750 Vgl. BDVP Leipzig vom 29.–30. 9. 1989 : Lagefilm ( ebd., BDVP 1450/1).

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Bildung des Demokratischen Aufbruchs Die Gründung des Demokratischen Aufbruchs ( DA ) wurde seit dem Frühjahr 1989 vorbereitet.751 Am 29. März schlug Hans - Jochen Tschiche Ehrhart Neubert vor, eine ökologische Partei zu gründen.752 Anfang Juni begann dann die Arbeit einer Initiativgruppe, aus der später der DA her vorging.753 Am 20./21. August trafen sich in Dresden Erhart Neubert, Rainer Eppelmann, Edelbert Richter und andere Aktivisten, um über die Gründung einer Partei oder Oppositionsgruppe zu beraten. Ernsthaft erwogen wurde zunächst die Gründung einer sozialdemokratischen Partei.754 Im Auftrag des MfS gelang es Schnur, wegen geringerer verfassungsrechtlicher Schwierigkeiten, nur die Bildung einer Vereinigung durchzusetzen, für die man sich auf den Namen „Demokratischer Aufbruch“ mit dem von Schorlemmer durchgesetzten Zusatz „sozial und ökologisch“ einigte. Schnur wurde beauftragt, ein Statut auszuarbeiten, Richter ein Programm. Schnur erklärte sich bereit, den Vorsitz zu übernehmen. Noch am Abend informierte er das MfS über die geplante Gründung.755 Versuche, mit Bärbel Bohley eine gemeinsame Organisation ins Leben zu rufen, scheiterten, weil Bohley Schnur für einen Spitzel hielt.756 Da bekannt war, dass ein Kreis um Bohley für den 9./10. September ein ähnliches Treffen in Grünheide plante, beschlossen beide Kreise, die Ergebnisse ihrer Treffen zunächst zurückzuhalten und erst am 1. Oktober gemeinsam an die Öffentlichkeit zu treten.757 Wie innerhalb des Gründerkreises des Neuen Forums gab es auch beim DA von Anfang an Auseinandersetzungen über Profil und politische Ausrichtung. Eppelmann schlug Anfang September in Bonn Genscher vor, den DA als Partner der FDP zu profilieren. Die FDP reagierte zunächst wohlwollend, setzte aber ab Oktober mehr auf die LDPD und liberale Parteigründungen.758 Richter, Eppelmann, Schorlemmer, Wagner und Neubert waren sich jedoch bald einig, mit der Initiative „Demokratischer Aufbruch“ die Voraussetzungen für eine zentralisierte Oppositionsbewegung schaffen zu wollen. Ihr Ziel war es, die Initiativen zur Bildung des Neuen Forums, der SDP und von Demokratie Jetzt im DA zusammenzuführen.759 In diesem Zusammenhang gab es Anfang September Überlegungen, die SDP solle den DA als Sammelbewegung „sozusagen mitgrün-

751 Vgl. Eppelmann, Wendewege, S. 9; zum Deutschland Archiv Neubert, Der „Demokratische Aufbruch“, S. 537–571. 752 Vgl. Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 93. 753 Vgl. Zur Entstehung des Deutschland Archivs. In : Demokratischer Aufbruch mit Informationsteil, SDP. Zeitung für Thüringen, S. 2 ( MDA, Wende II ). Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 15; Neubert, Erinnerungen. In : Der Demokratische Aufbruch, S. 125. 754 Zur Vorgeschichte der Gründung vgl. Sturm, Uneinig, S. 117–129. 755 Vgl. Neues Deutschland vom 4. 4. 1990. 756 Vgl. Neubert, Erinnerungen. In : Der Demokratische Aufbruch, S. 125 f. 757 Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 16 f. 758 Vgl. Eppelmann, Wendewege, S. 12 f. 759 Vgl. BVfS Erfurt vom 27. 9. 1989 : Rückflussinformation ( ABL, FVS Dresden BV Erfurt).

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den“.760 Ebenso beteiligten sich einige SDP - Mitglieder aber auch beim Neuen Forum. In Bonn gab der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter schließlich am 14. September die Gründung des DA bekannt.761 Damit trat er erst nach der Bildung des Neuen Forums (10. 9.) an die Öffentlichkeit. Zunächst war geplant gewesen, am 1. Oktober eine gemeinsame Erklärung abzugeben. Bohley hatte aber den Initiatoren des DA nicht einmal eine Information über die Gründung des Neuen Forums zukommen lassen. So bildeten sich, auch wegen persönlicher Antipathien zwischen Bohley und Eppelmann,762 von Beginn an konkurrierende Gruppen. Grund war nicht nur die plötzliche, unabgesprochene Bildung des Neuen Forums. Eppelmann, Schorlemmer und Richter sagte auch der reine Sammelcharakter nicht zu.763 Richter verstand das Neue Forum als eine unter mehreren Bewegungen, die alle gemeinsam in einer zentralisierten Oppositionsbewegung einmünden sollten und kritisierte deshalb den Sammlungscharakter des Neuen Forums.764 Am 18. September machten die SDP - Initiatoren den Vorschlag, das Datum der Gründung des DA für die Gründung einer gemeinsamen Initiative zu nutzen. Ein Ausschuss sollte auf Grundlage des von Edelbert Richter formulierten Programmentwurfs eine Vereinigung mit der SDP vorbereiten. Aus dem Plan wurde u. a. deshalb nichts, weil der DA sich später entschloss, selbst Partei zu werden.765 Am 21. September erklärte Richter, das Programm des DA sei bis auf die Bereiche Ökonomie und Außenpolitik im Wesentlichen fertiggestellt. Angesichts der Vielzahl der Initiativen komme es nun darauf an, alle vorhandenen oppositionellen Potenziale und die Reformkreise der SED schnell unter einem einheitlichen Programm zu vereinigen. Am 26. September stellte Richter im Erfurter Augustinerkloster in Anwesenheit von etwa 1 000 Personen das Programm vor und betonte, anders als das Neue Forum wolle der DA nicht „Plattform für Diskussionen, sondern für politisches Handeln sein“. Wesentliche Forderungen des Programms waren u. a. die Trennung von Staat und Partei, der Verzicht der SED auf ein Wahrheitsmonopol, die programmatische Unabhängigkeit der Parteien, freie Medien, die Trennung von Staat und Gesellschaft, die Förderung des Privateigentums, eine Einführung von Marktelementen, die Selbstständigkeit der Gewerkschaften, die Einheit von Ökonomie und Ökologie, eine Neuvereinigung Deutschlands mit einem „freiheitlichen Sozialismus und alternativen Produktionsweisen im europäischen Kontext“ und die Lösung beider Staaten aus den Blöcken.766 760 761 762 763

Interview mit Markus Meckel. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 125. Vgl. Grashoff, Demokratischer Aufbruch, S. 7. Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 16. Vgl. Inter view mit Werner Fischer. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 110. 764 Vgl. BVfS Erfurt vom 27. 9. 1989 : Rückflussinformation ( ABL, FVS Dresden BV Erfurt). 765 Vgl. Meckel, Konsequenzen, S. 64. 766 BVfS Erfurt vom 27. 9. 1989 : Rückflussinformation ( ABL, FVS Dresden BV Erfurt ).

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Gemeinsame Opposition ? Noch gingen die Versuche weiter, eine einheitliche Opposition zu bilden. Am 18. September appellierte der Mitinitiator des Neuen Forums, Rolf Henrich, an die sich formierende Opposition, gemeinsam zu handeln. Am 24. September trafen sich in der Markuskirchgemeinde in Leipzig etwa 80 Vertreter von rund 20 Gruppen, unter ihnen das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, Demokratie Jetzt, die Vereinigte Linke, die Initiativgruppe zur Gründung der SDP und eine Freie Demokratische Union, um eine Protestresolution gegen die Nichtzulassung des Neuen Forums, verbunden mit einer Unterschriftensammlung, zu formulieren.767 Es wurde betont, dass es sich bei dem Treffen nicht um die Bildung eines Dachverbandes der Bürgergruppen handelte. Es wurden Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Gründung von Vereinigungen erörtert und Reformprojekte vorgestellt. Es gab Meinungsunterschiede über das Vorgehen. Strittig war, ob die Zeit für politische Oppositionsgruppen reif sei. Deutlich wurde, dass die Ausreisewelle die Gründung der neuen Gruppen ausgelöst hatte.768 Weitgehende Einigkeit bestand in der Ablehnung markwirtschaftlicher Verhältnisse und der deutschen Einheit. Die meisten planten eine Reform des Sozialismus. Lutz Rathenow warnte, Debatten über eine Reform des Sozialismus stießen bei der Bevölkerung auf „aggressives Unverständnis“. Es kam zu keiner Verständigung, weil die Organisationskonzepte und Demokratieauffassungen zu stark voneinander abwichen. Hauptpole in Fragen der Organisation bildeten das Neue Forum und die Initiativgruppe SDP. Das Neue Forum wollte lediglich Dialogplattform bzw. basisdemokratische Bewegung sein und wehrte sich gegen jede Struktur. Die SDP betonte dagegen ihren Parteicharakter und ihr Ziel einer repräsentativen Demokratie. Demokratischer Aufbruch und Demokratie Jetzt bezogen mittlere Positionen.769 Politisch gab es erhebliche Unterschiede zwischen Berliner und sächsischen Gruppen. In Berlin etablierten sich eher linke Richtungen,770 die beanspruchten, für das gesamte Neue Forum zu sprechen. Die durchschnittliche politische Ausrichtung politischer Gruppen im Bezirk Dresden lässt sich hingegen einer Auf listung von „Kernzielvorstellungen und Forderungen feindlich - oppositioneller Kräfte“ des MfS von Ende September entnehmen, die diese eher als Anhänger westlicher Demokratien auswies. Von einer Reform des Sozialismus war hier keine Rede. Gefordert wurden u. a. ein demokratisches Wahlrecht, die Trennung von Staat und Gesellschaft, von Verwaltung, Gesetz und Justiz, von Legislative und Exekutive, von Staat und Partei, die Schaffung einer sozialen Marktwirtschaft, die Freiheit der Gewerkschaften, Streikrecht, der Einklang von Ökonomie und Ökologie, Pressefreiheit, 767 Vgl. BVfS Erfurt : Zusammenkunft verschiedener Bürgerinitiativgruppen am 24. 9. 1989 in Leipzig ( ebd., H. XVII NF ); BVfS Dresden vom 25. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 342–346). 768 So Karl - Heinz Baum. In : Frankfurter Rundschau vom 27. 9. 1989. 769 Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 21. 770 Vgl. Inter view mit Jochen Läßig. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 134 f.

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Reisefreiheit und Auswanderungsrecht und eine Annäherung beider deutscher Staaten.771 Ein Zusammenschluss der Gruppen scheiterte aber nicht nur an politischen Inhalten, sondern auch daran, dass Verantwortliche in den Gruppen nicht bereit waren, Positionen aufzugeben. Hinzu kamen Animositäten unter Akteuren. Es gab Verhandlungen zwischen den Gruppen, „in denen man versucht hat, bestimmte Leute auszuschalten, von diesen Diskussionen auszuschließen, um einen Konsens herbeizuführen“. Die Arbeit war zum Schluss „sehr personenorientiert, nicht sachorientiert“.772 Probleme ergaben sich auch daraus, dass sich sowohl das Neue Forum als auch der DA als Sammlungsbewegungen verstanden.773 Am 1. Oktober kamen Vertreter aller oppositionellen Gruppierungen noch einmal zusammen, um einer drohenden Zersplitterung entgegenzuwirken. Aber es zeigte sich immer mehr, „dass es bestimmte Gruppenkohäsionen gab, die Akteure persönlich nicht so gut miteinander konnten und auch sachliche Unterschiede erkennbar blieben“.774 Am 4. Oktober trafen sich Vertreter von DJ, des DA, der Gruppe Demokratischer SozialistInnen, der IFM, der Initiativgruppe SDP, des Neuen Forums sowie Vertreter von Friedenskreisen in der Berliner Samaritergemeinde, um, wie es in einer Gemeinsamen Erklärung hieß, „Möglichkeiten gemeinsamen politischen Handelns zu besprechen“. Die gemeinsame Erklärung war zuvor bei einem von Eppelmann organisierten Treffen formuliert worden und drückte noch einmal die Absicht aus, eine „einheitliche Wahlplattform aller oppositionellen Gruppen und Initiativen“ zu schaffen.775 Statt sich zusammenzuschließen, wurde unter dem Einfluss des MfS - Spitzels Ibrahim Böhme aber die sich entwickelnde Vielfalt der Initiativen begrüßt, die gegenseitige Anerkennung der Gruppen vollzogen und das Prinzip demokratischer Pluralität fixiert.776 Die unterschiedlichen Auffassungen wurden auch bei einer „Zukunftswerkstatt“ am 6. Oktober in der Berliner Erlöserkirche deutlich, bei der Vertreter der Gruppen vor ca. 2 000 Teilnehmern auf die Frage, warum man sich nicht zusammenschließe, auf unterschiedliche Auffassungen verwiesen.777 Die Vielfalt der Gruppen wurde nun „als Zeichen des Aufbruchs und des wachsenden Mutes, eigene politische Positionen öffentlich zu vertreten“, begrüßt.778 771 Horst Böhm an Hans Modrow vom 28. 9. 1989 : Zusammenfassung von „Zielen, Aufgaben und Forderungen der gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen des sozialistischen Staates gerichteten Zielstellungen der Bestrebungen feindlich - oppositioneller Kräfte zur Schaffung DDR - weiter Sammlungsbewegungen / Vereinigungen“ vom 27. 9. 1989 (BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 325–328). 772 Interview mit Edgar Dusdal. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 72. 773 Vgl. Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 102. 774 Schorlemmer, Worte, S. 312. 775 Gemeinsame Erklärung ( ABL, H. XIX /1); MfS, ZAIG, Nr. 451/89 vom 9. 10. 1989. In: Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 211. Vgl. Ullmann, Der gemeinsame Boden, S. 84. 776 Vgl. Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 103. 777 MfS, XX /9 : „Zukunftswerkstatt“ am 6. 10. 1989 in der Erlöserkirche ( BStU, ZA, HA XX /9 55, Bl. 32 f.). 778 Gemeinsame Erklärung, o. D. ( ABL, H, I ). Vgl. Rein, Die Opposition, S. 122 f.

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Damit zerbröckelten auch die Gemeinsamkeiten zwischen Neuem Forum und DA.779 Die Zersplitterung war wesentlich der Arbeit des MfS zu verdanken, die eine übergreifende Oppositionsbewegung verhinderte,780 lag aber auch im Charakter der Gruppen begründet. Allein in Berlin gab es ca. 15 Gruppen, die untereinander zerstritten waren und sich gegenseitig, vor allem vor westlichen Medien, den Rang streitig machten.781 Sozialdemokratische Partei in der DDR ( SDP ) Schon während eines Friedensseminars 1986 in Mecklenburg hatte es Diskussionen über Möglichkeiten sozialdemokratischer Politik in der DDR gegeben.782 In der Folgezeit wurde die Idee immer wieder einmal aufgegriffen, bis die Aktivisten feststellten, „dass uns unverbindliche Strukturen nicht weiterbringen“.783 Im Frühjahr 1988 entwickelten Pfarrer Markus Meckel und der Assistent für Philosophie am Ost - Berliner Sprachenkonvikt, Martin Gutzeit, zunächst das Projekt eines Vereins, der „Bürgerbeteiligung“ heißen sollte.784 Meckel war nach einer Zersetzungsaktion des MfS gegen den von ihm geleiteten „Vipperower Friedenskreis“ aus dem Bezirk Neubrandenburg nach Niederdodeleben gewechselt.785 Eine solche Sammlungsbewegung, die verschiedene Konzepte unter einem Dach zusammenfassen sollte, wurde aber von Gutzeit mit der Begründung verworfen, dahinter verberge sich „eine totalitäre Tendenz“.786 Im Januar 1989 schlug er stattdessen vor, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Meckel stimmte zu. Vor allem in einem von Gutzeit geleiteten Hegel - Kreis an der Kirchlichen Hochschule wurde die Idee diskutiert.787 Es sollte sich um eine Neu - , nicht um eine Wiedergründung der alten SPD handeln. Man hatte zunächst überlegt, die bis 1961 in Ost - Berlin formal existente SPD wiederzubeleben, ver warf dies aber, als der Landesverband Berlin der SPD „wenig Verständnis“ zeigte und sogar signalisierte, der neu gegründeten Partei die Bezeichnung „sozialdemokratisch“ streitig machen zu wollen. Auch bestand kein Interesse an Weisungen aus dem Westen.788 Der frühere inoffizielle Sprecher der acht Ost - Berliner SPD - Kreise, Kurt Neubauer, betonte das „unverändert 779 Vgl. Eppelmann, Wendewege, S. 5. 780 Vgl. Interviews mit Jochen Lässig und Ludwig Mehlhorn. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 134 f. und 166. 781 Vgl. Interview mit Werner Fischer. In : ebd., S. 109. 782 Zu den Einzelheiten des Gründungsprozesses vgl. ausführlich Sturm, Uneinig, S. 117– 129; zur Gesamtentwicklung im Herbst Gutzeit / Hilsberg, Die SDP / SPD, S. 607–686. 783 Interview mit Angelika Barbe. In : Gewerkschaftliche Monatshefte, 12 (1989), S. 779– 785. 784 Das Vereinsprojekt „Bürgerbeteiligung“ ( Juni 1988). Abgedruckt in Meckel / Gutzeit, Opposition, S. 355. 785 Vgl. BVfS Neubrandenburg vom 4. 7. 1989 : Info ( ABL, FVS Dresden ). 786 Interview mit Martin Gutzeit. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 82. 787 Vgl. Redebeitrag Konrad Elmers. In : Süssmuth ( Hg.), Wie geht es weiter, S. 174. 788 Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 44.

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bestehende Recht der SPD“, entsprechend den alliierten Bestimmungen in OstBerlin aufzutreten. „Wir haben uns nicht aufgelöst“, erklärte Neubauer gegenüber „Die Welt“, „sondern die Arbeit nur eingestellt“.789 Im Herbst 1988 hatte auch Eppelmann bereits erwogen, die SPD in Ost - Berlin neu zu beleben, Manfred Stolpe hatte ihm aber abgeraten und erklärt, ihn in diesem Fall nicht schützen zu können.790 Nun unternahmen wieder zwei Theologen einen Anlauf. Beide gingen davon aus, dass man gegenüber der SED die Machtfrage stellen müsse, wolle man demokratische Veränderungen erreichen.791 Damit widersprach das Konzept diametral dem der West - SPD, die auf eine Reform der SED setzte. Beim Treffen „Frieden konkret“ in Greifswald Mitte Februar stellte Meckel das Konzept vor, stieß aber seitdem unter den Bürgerbewegungen auf Ablehnung. Hier meinte u. a. Ulrike Poppe, eine Bewegung müsse von unten wachsen, die Gruppen müssten sich an der Basis vernetzen.792 Viele wollten weder eine Partei noch eine parlamentarische Demokratie westlichen Musters, andere hatten durchaus einen Bezug zur Sozialdemokratie, teilten aber die Bedenken der West - SPD zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR und beteiligten sich deswegen nicht.793 Bis April verfassten beide Theologen den ersten Entwurf einer „Initiative zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei“.794 Im Juli schrieben Meckel und Gutzeit die endgültige Fassung ihres Entwurfs, der zum Gründungsaufruf der SDP wurde.795 Im Juli bildeten sie mit den Pfarrern Helmut Becker und Arndt Noack im Pfarrhaus von Niederdodeleben eine Gruppe, mit dem Ziel, eine Sozialdemokratische Partei ins Leben zu rufen. Am 24. Juli unterschrieben alle bis auf Becker eine entsprechende Vorlage.796 Auf einer Veranstaltung am 25./26. August in der GolgathaKirche Berlin wurde der Aufruf vorgelegt, hier schloss sich auch Ibrahim Böhme im Auftrag des MfS der Initiative an.797 Die Initiativgruppe rief auf, eine „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ ( SDP ) zu gründen. Zunächst war erwogen worden, sie „Soziale Gerechtigkeitspartei“ oder „Sozialistische Partei“ zu nennen.798 Der Wortlaut der Erklärung wurde Ende August in den Westmedien bekannt gemacht. Zunächst war geplant gewesen, zum Jahresende an die Öffentlichkeit zu treten. Die Initiatoren entschlossen sich jedoch wegen der akuten Entwicklung und unter dem Eindruck der Massenflucht zum sofortigen Han789 790 791 792 793 794 795 796 797 798

Vgl. Die Welt vom 3./4. 6. 1989. Vgl. Eppelmann, Fremd im eigenen Haus, S. 332; Sturm, Uneinig, S. 117 f. Vgl. Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 92. Vgl. Interview mit Martin Gutzeit. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 90 f.; Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 93. Vgl. Inter view mit Markus Meckel. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 120 f. Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 42. Aufruf zur Gründung der sozialdemokratischen Partei in der DDR vom 24. 7. 1989. In: Meckel / Gutzeit, Opposition in der DDR, S. 364–368. Vorlage zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei ins Leben zu rufen, vom 24. 7.1989 ( MDA Wende IV ). Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 43. So Ibrahim Böhme. In : Rein, Die Opposition, S. 100.

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deln.799 Am 12. September rief die Initiativgruppe zur Gründung der SDP auf.800 Mielke erklärte am selben Tag vor dem Politbüro : „Die Sache ist sehr gefährlich. Sie sind dabei, in der DDR eine SPD gründen zu wollen.“801 Vom 20. September stammte ein vorläufiges Statut der SDP.802 Eine Woche später kündigten die Initiatoren in einem Aufruf die Gründung der Partei an. In der bundesdeutschen SPD beobachtete man die Entwicklung teils zustimmend, teils skeptisch. Anfang August 1989 stellte auch der Kurt - Schumacher Kreis um Hermann Kreutzer Überlegungen über eine Wiederbelebung der SPD in Ost - Berlin bzw. der DDR an. Kurt Neubauer lehnte dies erneut wegen der Gefahr ab, in die Nationale Front eingegliedert zu werden. Auch die Bonner SPD - Zentrale ignorierte den Vorstoß des Schumacher - Kreises. Walter Momper und Karsten Voigt sahen angesichts „sozialdemokratischer Elemente“ in der SED keinen Handlungsbedarf. Man hoffte, die SED werde sich zur SPD wandeln.803 Böhme wies jedoch die Vorschläge von Vogt und Momper zurück, eine Reformierung der SED abzuwarten. Dies sei eine „trügerische Hoffnung“.804 So wurden die Pläne der Initiativgruppe um Hilsberg und Meckel in der Bonner SPD - Zentrale wie in der West - Berliner SPD abgelehnt. SPD - Vorsitzender Vogel erklärte : „Den Gedanken, dass man dies forciert, halte ich nicht für hilfreich.“805 Das Präsidium der SPD glaubte „nicht verantworten zu können, zur Gründung der SPD in der DDR aufzurufen“, um niemanden zu gefährden.806 Bahr ver wies darauf, dass eine westliche Unterstützung von der SED als „Kampfansage schlechthin“ und als Aufruf zum Ende der DDR aufgefasst worden wäre.807 Eppler erklärte am 28. September, eine freie SPD in der DDR sei „gleichbedeutend mit dem Ende des jetzigen Systems“, da diese Partei ein „Vielfaches der Stimmen der SED“ bekäme. Zurzeit sollte man Gesprächsforen, nicht aber eine Partei anstreben.808 Noch immer hoffte man vergeblich auf eine Sozialdemokratisierung wie in Ungarn oder in der PVAP, die sich im Ergebnis eines solchen Prozesses Anfang 1990 als Sozialdemokratische Partei neu erfand und auch direkt von der SPD als Partner anerkannt wurde. In diesem Sinne for799 Vgl. Ibrahim Böhme. In : Radio Glasnost, Berlin ( West ) vom 13. 9. 1989. Zit. in DA, 22 (1989), S. 1180. 800 Abgedruckt in MfS, ZAIG, Nr. 416/89, Anlage 1 vom 19. 9. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 161 f. Vgl. Rein, Die Opposition, S. 88 f. 801 Sitzung des Politbüros der SED vom 12. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2039/77). 802 Erster Statutenentwurf der SDP ( Konrad Elmer / Dieter Kaiser / Rainer Richle ) vom 20. 9. 1989. SDP – Sozialdemokratische Partei in der DDR – SDP. In : Dowe, Von der Bürgerbewegung, S. 111–120. 803 Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 54; Ralf Georg Reuth, Soll die SPD in Ost Berlin wiederbelebt werden ? In : FAZ vom 5. 8. 1989. In seinen Memoiren verschweigt Momper seine Ablehnung und erweckt den Eindruck, er habe die Gründung begrüßt. Vgl. Momper, Grenzfall, S. 90 f. 804 Interview mit Ibrahim Böhme. In : Vorwärts von November 1989. 805 Zit. in Frankfurter Rundschau vom 1. 9. 1989. 806 Egon Bahr, Den Luxus rigoroser Gesinnungsethik konnte sich niemand leisten. In : Frankfurter Rundschau vom 19. 2. 1992. 807 Ders., Die Deutschlandpolitik, S. 38. 808 Interview mit Erhard Eppler. In : Der Stern vom 28. 9.1989.

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derte SPD - MdB Horst Niggemeier am 2. Oktober noch einmal die „Auf lösung der Zwangsehe von KPD und SPD zur SED“.809 Demokratie Jetzt Am 12. September wandte sich die Initiativgruppe Demokratie Jetzt mit einem „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ an die Öffentlichkeit.810 Den Text und ein Thesenpapier hatte Wolfgang Ullmann in der Nacht vor der Bundessynode in Eisenach geschrieben, nachdem Stolpe ihm zugesichert hatte : „Macht die Papiere, wir verteilen sie.“ Die Endfassung entstand in gemeinsamer Arbeit mit Konrad Weiß auf dem Flur des Konsistoriums.811 Am 30. September richtete Demokratie Jetzt einen Aufruf an die Bevölkerung, in der eine offene Aussprache und demokratische Rechte gefordert wurden.812 Weiß erklärte bereits Ende September, Demokratie Jetzt habe vor, die Führungsrolle der SED in Frage zu stellen. Man wolle aber die Utopie des Sozialismus retten. Die BRD sei kein Vorbild. Man wolle kein Bundesland werden. In beiden Staaten seien Reformen notwendig.813 Die Bürgerbewegung entstand als Reaktion auf den als programmatisch zu unverbindlich angesehenen Aufruf des Neuen Forums.814 Stattdessen wurde in dem von Christa Wolf und Manfred Stolpe unterstützten Aufruf eine demokratische Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft gefordert. Der Sozialismus müsse nun „seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen“ solle. Er dürfe nicht verloren gehen, weil die Menschheit „auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft“ brauche.815 Die Bundesbürger wurden aufgefordert, durch die Umgestaltung ihrer Gesellschaft eine neue Einheit der Deutschen zu ermöglichen. Um der Einheit willen sollte man sich „aufeinander zu reformieren“.816 Insbesondere hoffte man auf ein Bündnis von Christen und kritischen Marxisten. Zur Gruppe gehörten u. a. Hans - Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß, der bei der Gründung jedoch „mehr oder weniger zufällig“ anwesend war und auch zuvor nicht direkt zu dem Ausgangs809 Horst Niggemeier, Den historischen Auftrag der Sozialdemokraten bedenken. In : Sozialdemokratischer Pressedienst 189 vom 2. 10. 1989. 810 Aufruf zur Einmischung in eigener Sache vom 12. 9. 1989. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 416/89, Anlage 4 vom 19. 9. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 165–169; Wielgohs / Müller Enbergs, Die Bürgerbewegung, S. 113 f.; zur Gesamtentwicklung Mehlhorn, „Demokratie Jetzt“, S. 573–597. 811 Interview mit Wolfgang Ullmann. In : Engelhardt ( Hg.), Deutsche Lebensläufe, S. 82. 812 Aufruf der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“. In : Wir sind das Volk 1, S. 36–38. 813 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 69–72. 814 So Wielgohs / Müller - Enbergs, Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, S. 141. 815 Aufruf zur Einmischung in eigener Sache. Textauszug abgedruckt in Oktober 1989, S. 20–21. 816 Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR. In : Rein, Die Opposition, S. 62.

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kreis „Absage und Prinzip der Abgrenzung“ gehört hatte.817 Die Gruppenbildung basierte auf Aktivitäten an der Ost - Berliner Bartholomäus - Gemeinde am Missionshaus in den Jahren 1985 und 1987, die sich vor der Brandenburger Synode gegen die Abgrenzungspolitik des Staates nach innen und außen wandte.818 Anders als andere Bürgerrechtsgruppen wurzelte Demokratie Jetzt weniger in der Menschenrechts - oder Ökologiebewegung, sondern hatte sich im Rahmen des konzilianten Prozesses herausgebildet. Nach der Verbreitung des „Aufrufs zur Einmischung“ begann der Kreis Basisgruppen zu organisieren, denen erst später Organisationsstrukturen und im Januar 1990 eine Satzung folgten.819 Vereinigte Linke Anfang September trafen sich in Böhlen, südlich von Leipzig, Vertreter verschiedener linker Gruppierungen. Die Teilnehmer, die zum Teil wegen ihrer SED Mitgliedschaft anonym bleiben wollten, gehörten zu einem seit geraumer Zeit existierenden Netz kleiner sozialistischer, konspirativ arbeitender Oppositionsgruppen inner - und außerhalb der SED in Betrieben und Institutionen. Dazu gehörten aber auch Mitglieder kirchlicher Friedenskreise sowie der auf eine Reform der SED setzenden marxistisch - leninistischen Gruppe „Gegenstimmen“820 und des FDGB.821 Sie diskutierten über eine Veränderung des Sozialismus und verabschiedeten einen Appell „Für eine vereinigte Linke in der DDR“. Gefordert wurden : „Beibehaltung des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln, Ausbau der Selbstbestimmung der Produzenten, konsequente soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, ungeteilte Menschenrechte und freie Entfaltung der Individualitäten sowie ökologischer Umbau der Industriegesellschaft“. Während des Treffens, das als Gründungsdatum der VL gilt, wurde beschlossen, für Ende November 1989 ein weiteres Arbeitstreffen zu organisieren.822

817 818 819 820 821

Interview mit Konrad Weiß. In : Engelhardt, Deutsche Lebensläufe, S. 118. Vgl. Interview mit Wolfgang Ullmann am 16. 3. 1990. In : DA, 23 (1990), S. 1939. Vgl. Maleck, Ullmann, S. 67–69 und 71. Vgl. Rüddenklau, Störenfried, S. 284. Vgl. Böhlener Plattform, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 518, 1, Bl. 130–134); Wolfgang Templin. In : ÖTV - Magazin, (1989) 11, S. 36; Anonymes Inter view. In : DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 16 f.; Wielgohs, Die Vereinigte Linke, S. 286. 822 Wir müssen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen ! Aufruf der „Initiative für eine Vereinigte Linke“ an alle Werktätigen der DDR vom 5. 10. 1989 ( MDA, Wende IV ).

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Initiative für Frieden und Menschenrechte ( IFM ) Im März 1989 beschloss die IFM eine DDR - weite Öffnung, zu der es jedoch erst im Oktober kam.823 Ende September verteilte sie einen „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ mit dazu gehörenden „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“. Mit dem Papier wollte die IFM ein Gegengewicht zum Neuen Forum schaffen. Innerhalb der Organisation gab es Meinungsverschiedenheiten über die Aufnahme des Begriffes „Sozialismus“ in das Papier.824 Lila Offensive In der Berliner Gethsemanekirche stellte am 26. September auch die Fraueninitiative „Lila Offensive“ ein Standortpapier vor, in dem Veränderungen in der DDR und die Ziele feministischer Bewegungen gefordert wurden.825 Zuvor hatte in Erfurt eine Bürgerinneninitiative „Frauen für Veränderung“ einen Offenen Brief verabschiedet, der am 2. Oktober als Flugblatt veröffentlicht wurde.826 Auch sie forderten eine Veränderung der Gesellschaft. 2.11 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Im Sommer 1989 spitzte sich die Lage in der DDR zu. Die internationale Gemeinschaft forderte vom Regime die Einhaltung der Menschenrechte, und in Ungarn und Polen setzten sich die Demokratisierungsprozesse fort. Für die sowjetischen Entspannungspläne in Europa wurde die SED - Führung zu einer immer stärkeren Belastung. Beim Besuch Gorbatschows in Bonn im Juni 1989 erkannte die sowjetische Seite in einer Erklärung das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und das Recht der Staaten an, ihr eigenes politisches System zu wählen. Damit war der DDR - Bevölkerung prinzipiell auch die Möglichkeit eröffnet, über den Weg innerer Demokratisierung zur deutschen Einheit zu gelangen. Obwohl die UdSSR diese Konsequenz ablehnte, erklärte sie weiterhin, sich künftig nicht länger in innere Prozesse anderer Staaten einzumischen. Dies war die eigentliche Grundlage für selbstbestimmtes politisches Handeln und die Option der deutschen Einheit. Ziel der Bonner Politik war es nun, auf Grundlage der Anerkennung der Staatlichkeit der DDR dortige Schritte der Demokratisierung zu unterstützen,

823 Vgl. Inter view mit Gerd Poppe. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 179. 824 Vgl. MfS, HA XX : Bericht zum Treff mit IMS „Franz“ am 22. 9. 1989 ( BStU, ZA, HA XX /9 55, Bl. 70 f.). 825 Textauszüge abgedruckt in Zimmerling, Neue Chronik 1, S. 53–56. 826 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik 1, S. 32.

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an deren Ende auch eine Entscheidung zugunsten der Überwindung der Zweistaatlichkeit stehen konnte. Ab September kam es zu einer Neubestimmung der Deutschlandpolitik von Regierung und Opposition. Bundeskanzler Kohl bot der DDR umfangreiche Hilfen an, machte diese aber von Reformen abhängig. Einig war man sich mit der SPD - Opposition, den Reformprozess zu unterstützen, auseinander gingen die Auffassungen aber darüber, für welchen Weg sich die Deutschen in der DDR unter freiheitlich - demokratischen Bedingungen entscheiden würden. Ging man in der Union mehrheitlich von einem Votum für die Wiedervereinigung aus, hofften viele in der SPD, die DDR - Bevölkerung werde sich für eine eigenständige DDR mit einem demokratisch - sozialistischen Regime entscheiden. Die SED - Führung wies indessen alle Reformvorschläge aus Ost oder West weiterhin entschieden zurück. Angesichts der spezifischen Situation im geteilten Deutschland ging Honecker davon aus, dass die DDR nur als sozialistisch diktatorische Alternative zur Bundesrepublik eine Überlebenschance habe. Reformen liefen demnach zwangsläufig auf Demokratisierung und ein Ende des SED- Staates hinaus. Hierin unterschied sich seine Einschätzung über den Sinn von Reformen diametral von der Gorbatschows, Modrows und von Teilen der SPD - Führung. Im Sommer 1989 setzte die evangelische Kirche ihre Politik einer wachsenden Distanzierung vom real existierenden Sozialismus fort und forderte offen die Schaffung einer freiheitlichen Demokratie. Sie gab vielen Menschen Hoffnung und Orientierung, im Lande Veränderungen auf friedlichem Wege erreichen zu können. Durch eine Krankheit Honeckers reduzierte sich die Handlungsfähigkeit der überalterten SED - Führung weiter. Zwar gab es unter führenden Funktionären Diskussionen über eine Ablösung Honeckers, aber weder wurde man in dieser Richtung aktiv, noch gab es nennenswerte Pläne einer Reform der Gesellschaft. Die Unzufriedenheit unter den SED - Mitgliedern über die Passivität der gesamten Führung wuchs. Anders war die Lage in der LDPD, wo sich der Parteivorsitzende Manfred Gerlach bereits seit 1988 als Reformer profilierte und mehr Eigenständigkeit der Blockparteien bei der Gestaltung des Sozialismus forderte. In den anderen Blockparteien gab es vor allem an der Basis der CDU eine immer deutlicher artikulierte Unzufriedenheit. Sie entsprach der Stimmung in der gesamten Bevölkerung, die sich immer häufiger auch in kollektiven Protesten Luft machte. Vor allem in Betrieben und unter der Jugend registrierte das MfS Wut und Frustration über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die man hier auch als Ursachen der seit dem Sommer anschwellenden Massenflucht ansah. Von der SED - Führung wurden seitens der meisten Menschen keine Lösungen der Probleme mehr erwartet. Resignation machte sich breit und schlug sich im Wunsch nieder, der DDR für immer den Rücken zu kehren. Eine Massenflucht wie aus der DDR gab es in keinem anderen Ostblockstaat. Sie hing mit der spezifischen Situation im geteilten Deutschland zusammen, wo

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die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt den Rechtsstandpunkt einer einheitlichen Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte. Die Massenflucht war Ausdruck einer Entscheidung für das bundesdeutsche System und nahm die spätere Entscheidung der Demonstranten für die deutsche Einheit vorweg. Der Unterschied zwischen Flüchtlingen sowie „Ausreisern“ einerseits und den Demonstranten, die sich wenig später für die deutsche Einheit einsetzten, andererseits lag insbesondere in der Einschätzung, auf welchem Wege man es erreichen konnte, unter bundesdeutschen Verhältnissen zu leben. Die Alternativen waren ein Weggang oder Veränderungen in der DDR. Beide Gruppen aber bestimmten wesentlich Ablauf und Richtung des gesamten revolutionären Prozesses. Getragen wurden sowohl die Flucht - bzw. Ausreisebewegung als auch die Demonstrationen vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie waren „das charakterisierende Element der Bewegung“.827 Gegen die Unzufriedenheit der breiten Masse konnte die SED nichts ausrichten, machte diese sich doch nicht an ideologischen Debatten fest, sondern an mangelnder Lebensqualität und Unfreiheit. Mehr Freiheit aber konnte die SED nur um den Preis des eigenen Machtverlusts zulassen, eine bessere Versorgung angesichts des wirtschaftlichen und finanziellen Niedergangs nicht anbieten. Auch wenn die Stimmungsberichte des MfS und der SED von Sommer 1989 keinen Zweifel an der Unzufriedenheit mit der schlechten Versorgung lassen, handelte es sich beim Aufstand der Bürger doch nicht um eine „Konsumentenrevolution“.828 Zwar spielte die schlechte Lebensqualität vor allem bei der soge-

Diagramm 2: Anzahl der Parolen im Vergleich. 827 So schon Niethammer, Das Volk der DDR, S. 254. 828 Gegen den Begriff wendet sich auch Gehrke, Demokratiebewegung und Betriebe, S. 205.

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nannten „schweigenden Mehrheit“ eine dominante Rolle und zählten Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung oft wenig. Bei denen aber, die auf die Straße gingen, um Veränderungen zu erzwingen, stand nicht die Versorgung im Mittelpunkt des Interesses, sondern Demokratie und Freiheit. Ein Blick auf Diagramm 2 zeigt, dass dies für den gesamten Zeitraum der Revolution galt. Die Forderungen nach Demokratie und Freiheit gingen später in die Paketforderung nach deutscher Einheit über. Angesichts allgemeiner Unzufriedenheit wurden sie von der breiten, eher loyalen Masse der Bevölkerung zumindest toleriert, wenn nicht verbal unterstützt. Der allgemeine Frust angesichts der materiellen Lebensverhältnisse war Nährboden und Grundlage der öffentlichen Proteste, deren Anzahl vor allem seit September stark anstieg. Wichtigstes Zentrum war Leipzig, wo Proteste von „Ausreisern“ und „Dableibern“ zu einem wichtigen, von westlichen Medien verbreiteten Signal des revolutionären Aufbruchs wurden. Aber auch in den Kreisen stieg die Anzahl registrierter Proteste an. Aktiv wurde zunächst keine breite Bevölkerungsmehrheit, sondern „Ausreiser“ und couragierte Aktivisten, deren Ziel politische Veränderungen in der DDR waren. Auslöser der Proteste in Leipzig im September 1989 aber war die Massenflucht. Lutz Niethammer hat schon während der laufenden Ereignisse darauf hingewiesen, dass „Westwanderer und Demonstranten“ die Entwicklung in Gang setzten.829

Diagramm 3: Flüchtlinge / Ausreiser und Protestteilnehmer.

829 Niethammer, Das Volk der DDR, S. 254.

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Der Anstieg der Flucht - und Ausreisezahlen leitete direkt den Anstieg der Proteste ein. Flucht und innerer Protest liefen von nun an parallel und bestimmten das Geschehen. Die Diskussion um die Rolle von Flucht, Ausreise und loyalem Verhalten konzentriert sich auf das von Albert O. Hirschman entwickelte Paradigma von Exit, Voice und Loyality.830 Hirschman modifizierte angesichts der DDR - Entwicklung seine Grundthese „Freier Exit verhindert Voice“. Hier nämlich führte vollzogene wie angedrohte Ausreise ( exit ) zu Protesten ( voice ) und verlieh dem Protest das notwendige Gewicht. „Wir bleiben hier“ ließ sich zudem interpretieren als „Veränderungen sofort, oder auch wir gehen“. Exit unterstützte Voice, so nun die neue Sicht Hirschmans.831 Diese Argumentation erweiternd kann man sagen, dass sich beide nicht klar trennen lassen. Die Ausreisebewegung war selbst integraler Bestandteil der Proteste gegen das Regime. Die Protestler setzten sich aus Ausreisewilligen und denen zusammen, die Änderungen in der DDR erreichen wollten. Exit war auch voice, denn viele Ausreiser protestierten erst und reisten dann aus. Aber auch ihre Ausreise selbst war Protest gegen als unveränderbar erfahrene Verhältnisse. Nach Mark R. Thompson war die Abwanderung der Massen für die Systemüberwindung sogar wichtiger als der Widerspruch der Bürgerrechtler. Mit der Fixierung allein auf die Bürgerbewegung werde die Revolution „fundamental missverstanden“, so seine These. Schon bevor die Ausreisewelle im Sommer 1989 die Revolution ins Rollen brachte, hätten Gruppen von Ausreisewilligen öffentlich protestiert. Exit löste demnach nicht nur voice aus, die Ausreisewilligen übten selbst maßgeblich Widerspruch und verkörperten dabei die Forderung nach deutscher Einheit. Der kollektive Exit der DDR - Deutschen in die Bundesrepublik war demnach eine revolutionäre Massenbewegung.832 Hinsichtlich der Bürgerbewegungen sind Differenzierungen notwendig. Zunächst löste die Bildung von Gruppierungen wie des Demokratischen Aufbruchs, der SDP oder auch des Neuen Forums keine Massenmobilisierung aus. Eher gilt das für die kirchlichen Basisgruppen, die im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche im Wechselspiel mit den „Ausreisern“ für sich wiederholende, von den Medien verbreitete Proteste sorgten. Diese wurden zu „Ritualstätten“ der Proteste833 und für eine breitere Bevölkerung zum Signal des Aufbruchs. Der Antrieb für die Massenproteste aber kam aus der allgemeinen Unzufriedenheit. Aus ihr erwuchsen auch die Leipziger Proteste. Sie hatten Impulscharakter und waren wie Funken, die einen Flächenbrand auslösten. Unter dem Druck der Massenflucht nahmen aber nicht nur die öffentlich vorgetragenen Forderungen nach Veränderungen zu. Vor allem seit dem Sommer 1989 formierten sich aus den bisherigen Basisgruppen im Bereich der Kirchen neue Oppositionsgruppen und berieten über gemeinsame Strategien einer Ver830 Vgl. Hirschman, Exit Voice and Loyalty; ders., Exit, Voice and the Fate of the GDR, S. 173–202, auf deutsch : Abwanderung, Widerspruch, S. 330–358. 831 Vgl. Nitsch / Lepenies, Albert O. Hirschman, S. 4. 832 Thompson, Die „Wende“, S. 15 f. 833 Ebd., S. 19.

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änderung der Gesellschaft. Gruppen wie der Demokratische Aufbruch oder die Initiativgruppe zur Bildung einer Sozialdemokratischen Partei wurden zu Kristallisationspunkten von Teilen der allgemeinen Protestbewegung. Eine herausragende Bedeutung erlangte in dieser Hinsicht das sich seit September bildende Neue Forum. Es wurde mit seiner Forderung nach einem breiten Dialog über den künftigen Weg der Gesellschaft über intellektuelle Kreise hinaus für die gesamte Bevölkerung zum Symbol des Aufbegehrens gegen die kommunistische Diktatur.

Diagramm 4: Parolen für neue Gruppen und für Parteien.

Die DDR - weiten Proteste entstanden durch „massenhaftes Anschlusshandeln“, nachdem couragierte Vertreter der Bürgerrechtsbewegung vorangegangen waren.834 Hierin lag „der für die Verlaufsgeschichte zentrale Punkt des Umschlagens in ein Revolutionsgeschehen“. Vermittelt durch die Medien, schlug „das bekennende, demonstrative Handeln von Minderheiten in einen massenhaften Mobilisierungseffekt um“.835 Dabei war es nicht entscheidend, dass die Bürgerrechtsgruppen eine Minderheit repräsentierten. Ihr Verhalten hatte Auswirkungen auf das Verhalten eines erheblichen Teils der Bevölkerung.836

834 Vgl. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 347 f. 835 Vgl. ebd., S. 237 f. 836 Vgl. Gabriel, Politische Orientierungen, S. 279 f.

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3.

Auf zum letzten Gefecht – vor dem 40. Jahrestag

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Aktivierung der Einsatzleitungen und Militärorgane zur Niederschlagung von Unruhen Ende September

Angesichts des in allen Bereichen zunehmenden Widerstandes gegen das diktatorische Regime stellte sich die Frage, wie Honecker und seine Gesinnungsgenossen damit umgehen würden. Der Sommer 1989 zeigte, dass die seit 1988 verstärkten Übungen zur Niederschlagung innerer Unruhen ernstgemeint waren. Volksbildungsministerin Margot Honecker rief am 13. Juni dazu auf, den Sozialismus „wenn nötig, mit der Waffe“ zu verteidigen. Flankiert wurde der Aufruf von lobenden Stellungnahmen zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. Vor allem aber wurde tatsächlich gegen die eigene Bevölkerung mobilgemacht. In Sachsen gab der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden, Willi Nyffenegger, am 12. Juli Anweisungen zur Durchführung von Einsätzen gegen Provokationen von Feinden. Ziel sei es, in Kooperation mit dem MfS „feindlich - negative Handlungen“ zu verhindern. Dazu zählten nichtgenehmigte Ansammlungen, Schweigemärsche, Demonstrationen und Kundgebungen. In Verantwortung der Leiter der Volkspolizeiämter waren Handlungsvarianten für den Kräfteeinsatz zu erarbeiten. Dazu gehörten das „Anwachsen der Präsenz uniformierter Kräfte“, die Auf lösung kleinerer Gruppen, die „Bereitschaft für den Einsatz von Festnahmegruppen“, Vorbereitungen für den Einsatz kasernierter Einheiten, die Einrichtung von Zuführungswegen und - punkten, die Verhinderung des Eindringens von Störern in bedeutsame Objekte und Einrichtungen sowie ein zeitweiliges Verbot des Verlassens von Betrieben, Einrichtungen und Schulen. Nyffenegger gab die Parole aus : „Unter Nutzung aller operativen Möglichkeiten sind negative Demonstrationen, Schweigemärsche, Kundgebungen u. a. Aktivitäten zu verhindern.“ Es müsse „konsequent und energisch eingeschritten“ und „jegliche Diskussion mit den feindlichnegativen Personen unterlassen“ werden. Stattdessen gab es Anweisungen für Zuführungen in bereitgehaltene Zuführungspunkte.1 Zur Unterstützung der Volkspolizei wurden Mitglieder der Kampfgruppen seit August verstärkt im Gebrauch und in der Anwendung des Schlagstockes sowie im Sperren und Räumen von Plätzen ausgebildet.2 Die von der SED - Führung forciert betriebene Ausbildung der Kampfgruppen für Einsätze gegen die Bevölkerung fand aber keinesfalls ungeteilte Zustimmung unter den „Genossen Kämpfern“, deren SED - Anteil bei 71,9 Prozent lag.3 So gab es schon Anfang 1 2 3

BDVP Dresden, Nyffenegger, vom 12. 7. 1989 : Vorbereitung und Durchführung von Ordnungseinsätzen zur Verhinderung von Provokationen durch feindlich - negative Personen ( ABL, EA 890712_1). Vgl. Aussage Friedhelm Rausch. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 127, 140 und 144. Vgl. Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 53614, Bl. 50).

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April erhebliche Proteste von „Kämpfern“ des VEB Chemie - Anlagenbaus Leipzig - Grimma gegen einen Tagesbefehl, in dem „kirchliche Kreise“ als Aufwiegler bezeichnet wurden und Übungseinsätze mit Schlagstöcken und Schutzschilden gegen die Bevölkerung trainiert werden sollten. Vor allem jüngere Mitglieder waren nicht bereit, als „Knüppelgarde“ gegen die eigene Bevölkerung zu dienen.4 Ähnlich sah es in anderen Einheiten aus. Die SED - Bezirksleitung Leipzig berichte im Mai von Meinungen wie : „Handlungen gegen Bekannte, Ver wandte, gegen den Kumpel, eventuell auch gegen die eigene Familie fordern uns unwahrscheinlich hoch ! Kann man solche Forderungen überhaupt erfüllen ? [...] Bis vor kurzem haben wir als Kampfgruppen im Wald oder auf der Wiese mit ‚Gegnerdarstellungen‘ gehandelt, jetzt in der Stadt, vor der Kirche, am Markt, gegen echte Menschen.“5 Im Juni klagte die Leipziger SED Stadtleitung über „Wirkungen der ideologischen Diversion“ bei den Kampfgruppen, die sich in zahlreichen Ausschlüssen und Anträgen auf ständige Ausreise sowie in Diskussionen über die „sozialistischen Bruderstaaten“ zeigten.6 Eine neue Stufe der Eskalation wurde mit der Vorbereitung des Einsatzes der Armee gegen die Bevölkerung erreicht. Seit Mitte des Jahres 1989 trainierte die NVA ihr entsprechendes Vorgehen. Das Verteidigungsministerium ließ spezielle Unteroffiziers - und Offizierkompanien aufstellen, die auch in der Uniform der Kampfgruppen eingesetzt werden sollten. Sie wurden besonders für Dresden (24), Leipzig (30) und Berlin (30) gebildet und hatten vor allem die Aufgabe, Hauptbahnhöfe, Hauptpostämter und Sender zu sichern. Außerdem wurden die Einheiten der Armee in taktischen Übungen auf Absperrmaßnahmen und Einsätze gegen Demonstranten vorbereitet. Kurz vor dem Jahrestag wurden in Berlin zeitweilig alle 30 Hundertschaften in Bereitschaft gehalten.7 Die personelle Zusammensetzung der Hundertschaften war festgelegt; sie kamen in der Regel aus einem Bataillon und wurden von Offizieren des Divisionsstabes geführt. Fahrzeuge standen bereit, Waffen und Munition lagerten ausgabebereit in den Waffenkammern. Alle Vorkehrungen waren getroffen, schnell eine größere Menge Soldaten einsetzen zu können.8 Wie bei den Kampfgruppen gab es aber auch hier Weigerungen, sich an einem Einsatz zu beteiligen. Das MfS zählte bereits

4 5 6 7

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BVfS Leipzig vom 7. 4. 1989 : Info über Reaktionen auf Kampfgruppenübung. In : Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 608. SED - BL Leipzig vom 10. 5. 1989 : Ehrenamtliche AG Kampfgruppen ( ABL, H. XV - 2 SED ). SED - SL Leipzig vom 12. 6. 1989 : Stand der Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( ebd.). Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 272– 274); Aussagen von NVA - Generalmajor a. D. Engelmann und VP - Generalmajor Gerhard Straßenburg. In : Tage der Entscheidung, Bayerischer Rundfunk vom 7. 10. 1991; Günther Gillessen, Die Armee, die dabeistand. In : FAZ vom 10. 11. 1990; Ralf Georg Reuth, Legenden verklären die Rolle der früheren NVA. In : ebd.; Ablaß, Zapfenstreich, S. 20 f.; Weber, Gläubigkeit, S. 59; Hofmann, Das letzte Kommando, S. 23. Vgl. von Kirchbach, Was wäre gewesen. In : von Kirchbach / Meyer / Vogt, Abenteuer Einheit, S. 138 f.

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in der Trainingsphase in Plauen und Dresden 45 entsprechende Fälle.9 Generell war die Stimmung unter vielen Wehrpflichtigen aus Sicht der SED äußerst negativ. In einem Offiziersbericht über eine Mobilmachungsübung im Juli 1989 gab es offene Kritik an der SED - Politik, an der Wirtschaftslage, der Versorgung und „sehr böse“ Kommentare zur Politbüro - Siedlung in Wandlitz. Der berichtende Offizier meinte, dass „unsere Zustandsbeschreibung des Bewusstseinsstandes unserer Menschen nicht stimmt“.10 Während eines Trainings für die Militärparade zum 40. Jahrestag hatte Minister Keßler auch dem Chef der Dresdner Militärakademie, Generalleutnant Manfred Gehmert, den Auftrag erteilt, im Raum Dresden stationierte Armeekräfte für einen möglichen Einsatz zu formieren. Gehmerts Kommando wurden neben Angehörigen der Militärakademie auch Einheiten der Land - und Luftstreitkräfte unterstellt.11 In den Standorten Dresden und Pirna bildete die 7. Panzerdivision 14 Hundertschaften, von denen später tatsächlich elf in Dresden, Karl - MarxStadt und Plauen zum Einsatz kamen.12 Trotz der offenkundigen Tatsachen bestritten verantwortliche Generäle im Nachhinein die Vorbereitungen der NVA zum Einsatz gegen die Bevölkerung. So erklärte Generalmajor Raimund Kokott, „bis zum letzten Tag hatten wir uns als Nationale Volksarmee auf ein Eingreifen für die innere Sicherheit nicht vorbereitet. Ich möchte hier eindeutig betonen, es gab bei uns weder theoretische Ausarbeitungen noch Dienstvorschriften für eine solche Situation.“13 Der damalige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates und Chef des Hauptstabes der NVA, Generaloberst Fritz Streletz, erklärte wider besseres Wissen, „zu keinem Zeitpunkt“ habe sich „die politische oder militärische Führung während der Wende 1989 mit militärischen Planspielen über die Zerschlagung der Demonstrationen befasst“.14 Anfang September trat die Vorbereitung der SED - Führung auf mögliche gewaltsame Auseinandersetzungen in eine neue Phase. Zwischen Honecker und Mielke gab es Absprachen über militärische Einsätze, die nicht allen Politbüromitgliedern bekannt waren.15 Nach Information von Wolfgang Berghofer wurden die zentralen Anweisungen zur Aktivierung der Einsatzleitungen durch Instrukteure des ZK an die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen mündlich vermittelt, wodurch sich kaum relevante Unterlagen finden lassen.16 Am 1. Sep9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Wenzke, Zwischen „Prager Frühling“, S. 427; ders. ( Hg.), Staatsfeinde in Uniform, S. 418–425. Schreiben eines Teilnehmers an der Mobilmachungsübung des Militärbezirks III, Leipzig vom 4. 7. 1989 ( BStU, ZA, MfS - HAI, 13456, Bl. 291–294). Abgedruckt in Glaser, Auf die andere Seite, S. 61–64. Vgl. Interview mit Raimund Kokott. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 91 f.; ders. In: Dichtung und Wahrheit, S. 15 f. Vgl. Sektor NVA : Info über den Einsatz des MB - III zur Herstellung von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung vom 13. 10. 1989 ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 450 f.). Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 15. Leserbrief von Fritz Streletz. In : Neues Deutschland vom 17. 11. 1998. So Schabowski, Das Politbüro, S. 75. So Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 396.

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tember gab Mielke den Befehl 14/89 zur Sicherung der Veranstaltungen zum 40. Jahrestag der DDR und legte fest, alle Aktionen persönlich zu leiten.17 Die Bezirksver waltungen des MfS bildeten „Operative Einsatzstäbe“,18 die Kreisdienststellen des MfS hatten ihre „Einsatzbereitschaft bei Kriegsgefahr“ zu prüfen. Dazu gehörte das stabsmäßige Training der Vorbeugungsmaßnahmen der Kennziffer 4.1, also der Maßnahmen bei inneren Spannungen gemäß dem Statut der Einsatzleitungen.19 Was dies bedeutete, zeigte eine Sekretariatssitzung der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt am 14. September. Man müsse sich klar darüber sein, so hieß es hier, was auf dem Spiel stehe. Alle Mittel müssten eingesetzt werden, um der konterrevolutionären Entwicklung Einhalt zu gebieten.20 Auch die Volkspolizeikreisämter bereiteten sich auf die „Verhinderung feindlicher terroristischer u. a. negativer Störhandlungen und Provokationen“ vor und sorgten sich um die „verstärkte Sicherung besonders wichtiger pol. und ökon. Zentren bzw. Objekte sowie des VPKA“.21 Der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden, Nyffenegger, forderte die Strafvollzugseinrichtung Bautzen I auf, „Kräfte und Mittel“ einsatzbereit zu halten, was laut Stellvertreter des Anstaltsleiters, Frank Hiekel, den Übergang in den Verteidigungszustand bedeutete.22 Am 21. September befahl Mielke die Bekämpfung „feindlicher, oppositioneller Kräfte in Sammlungsbewegungen“ unter Führung der SED - Bezirks - und Kreisleitungen.23 Am nächsten Tag erklärte Honecker den 1. Sekretären der Bezirksleitungen, die Feinde bildeten konterrevolutionäre Gruppen. Diese Aktionen müssten „im Keime erstickt“, die Organisatoren „isoliert“ werden.24 Noch am selben Tag gaben die 1. Sekretäre den Text nach unten weiter.25 Der Chef der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt sprach sich für ein hartes Vorgehen gegen die Feinde aus. Sollte beschlossen werden, alle Oppositionellen einzusperren, „dann werden wir handeln“.26 Er legte fest, dass politische Entscheidungen der SED nicht in Frage gestellt würden.27 Ähnlich 17 Vgl. Aussage Wolfgang Schwanitz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 404. 18 Vgl. BVfS Leipzig vom 7. 9. 1989 : Info 77/89 ( ABL, FVS Dresden, 0006 Leipzig ). 19 Vgl. KDfS Geithain vom 16. 9. 1989. Zit. in Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 559. 20 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 15. 9. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 430, Bl. 10–14). 21 VPKA Wurzen vom 11. 9. 1989 : Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Vorbereitung und Durchführung des 40. Jahrestages ( SächsStAL, VPKA Wurzen, 7401, Bl. 1–8). 22 Aussage Thomas Schade ( PB Ronny Heidenreich ). 23 Erich Mielke vom 21. 9. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 97–99). 24 Erich Honecker an 1. Sekretäre der SED - BL vom 22. 9. 1989 ( BStU, ZA, Sekretariat des Ministers 664, Bl. 61). Vgl. Strafsache gegen Honecker und andere. Zit. in Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 118. 25 Hans Modrow an 1. Sekretäre der SED - KL, SL, Stadtbezirksleitungen vom 22. 9. 1989 ( ABL, Dresden ). 26 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt vom 22. 9. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 431, Bl. 16, 26 f.). 27 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt vom 3. 10. 1989 ( ebd. 432, Bl. 16). Vgl. Horsch, Das kann, S. 6.

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war die Lage bei der Volkspolizei. Am 25. September erklärte der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl - Marx - Stadt den Dienststellenleitern des Bezirkes, man werde tun, „was die Partei von uns erwartet“. Beim Reiseverkehr sollte aufgepasst werden, „dass keine 5. Kolonne einwandert“, die feindliche Arbeit leiste.28 Am 26. September unterzeichnete Honecker auf Grundlage des Statuts der Einsatzleitungen den Befehl 8/89 für den Jahrestag am 7. Oktober.29 Für alle Bezirks - und Kreiseinsatzleitungen galt Führungsbereitschaft. Damit war klar, dass die Situation als „innere Spannungsperiode“ im Sinne des Statuts der Einsatzleitungen interpretiert und gegen die Bevölkerung mobilgemacht wurde.30 Die Einsatzleitungen wurden in Krisenstäbe umgewandelt und mussten Einsatzbefehle für die bewaffneten Einheiten ausarbeiten und bestätigen.31 In Marxwalde ( heute wieder Neuhardenberg ) wurden ständig fünf Flugzeuge in Alarmbereitschaft gehalten, um die Partei - und Staatsführung notfalls außer Landes zu bringen.32 Der sowjetische Botschafter bestätigte später, Honecker habe „eindeutig mit einer Überwindung der Unruhen von der Position der Stärke“ gerechnet. Kotschemassow zitierte Äußerungen wie : „Man soll mit ihnen nicht viel Umstände machen, auf Lkws werfen und basta.“ Es handele sich um Feinde, und man müsse „mit ihnen entsprechend umgehen“.33 Einen Tag später befahl Minister Keßler für die NVA den „Übergang zu einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft“.34 Vor allem die Mobilisierung der Armee lässt kaum Zweifel an der Bereitschaft, einen Volksaufstand blutig niederzuschlagen. LDPD- Chef Gerlach meint, Honecker habe Anfang Oktober „ohne Zweifel“ geplant, die „Feinde des Sozialismus“ niederzuschlagen, „auch mit Einsatz bewaffneter Kräfte, auch mit dem Niederkartätschen von Demonstranten“.35 Dass dies kein unrealistisches Szenario war, zeigten mehrfache Armeeeinsätze in Staaten des Warschauer Paktes gegen die eigene Bevölkerung in den Jahren 1953, 1956, 1968 und 1981/82.36 Aktiviert wurden neben dem Militär auch politische Kräfte. Die SED - Bezirksleitungen riefen zur ideologischen Offensive auf, um den „Generalangriff des 28 Protokoll der Beratung des Chefs der BDVP mit Dienststellenleitern am 25. 9. 1989 (SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, 497). 29 Befehl 8/89 des NVR über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in der Hauptstadt der DDR Berlin anlässlich des 40. Jahrestages der DDR vom 26. 9. 1989 ( BArch Berlin, VA - 1/39592, Bl. 265 ff.). 30 Vgl. Lothar Ahrendt an Harry Harrland vom 27. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 31 Vgl. Inter view mit Wolfgang Herger. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 118 f. 32 Aussage eines Wachsoldaten in Marxwalde. In : Kurz, Ost - Berlin, S. 173 f. 33 Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 175 f. 34 Befehl 105/89 des Ministers für Nationale Verteidigung, Heinz Keßler, zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung anlässlich des 40. Jahrestages der DDR vom 27. 9. 1989 ( BArch, MA, DVW 1/67081, Bl. 213–217). Abgedruckt in Glaser, Auf die andere Seite, S. 34–37. 35 Manfred Gerlach. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 42–44. 36 Vgl. Aussage Theodor Hoffmann. In : Glaser, Auf die andere Seite, S. 54.

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Imperialismus“ abzuwehren und die innere und äußere Konterrevolution zu zerschlagen.37 Das Ministerium des Innern forderte die Bezirks - und Kreisleitungen der FDJ auf, „Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung feindlicher Aktivitäten bei Jugendveranstaltungen“ zu treffen und den kurzfristigen Einsatz von Einheiten zur Auf lösung von feindlichen Ansammlungen zu ermöglichen. Veranstaltungen durften nur noch gemeinsam mit dem MfS organisiert werden.38 Vor allem aber lösten Honeckers Befehle in allen bewaffneten Organen eine Reihe länger geübter Aktivitäten und Folgebefehle aus. MdI / VP : Am 29. September übermittelte Innenminister Dickel den Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei die Befehle 51/85 und 120/89. Sie standen im Zusammenhang mit dem Befehl 8/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates39 und enthielten die Weisung, zum 40. Jahrestag in Kooperation mit dem MfS keinerlei Störungen zuzulassen. Darin hieß es, an diesem Tag planten „imperialistische Kräfte der BRD und Westberlins sowie von ihnen inspirierte feindliche und andere negative Kräfte“ eine „außergewöhnliche Hetzkampagne“ gegen den Sozialismus.40 Der Befehl 120/89 wurde den Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei zugestellt. Die Leiter der Volkspolizeikreisämter, Transportpolizei - Ämter und VP - Inspektionen erhielten die Befehle 51/85 vom 15. November 1985 und 129/88 vom 28. Dezember 1988. Im Befehl 129/88 Ziffer 8. (1) hieß es, die Bereitschaftspolizei und andere kasernierte Einheiten hätte Varianten zur schnellen Beseitigung möglicher Störungen, zur Auflösung von Menschenansammlungen mit Störabsichten und zu Handlungen mit Sonderausrüstung zu trainieren.41 Der Innenminister befahl, „die Verwendung der VP - Bereitschaften neu zu durchdenken, die Einsatzgrundsätze zu überprüfen und die Relation zwischen Kampf - und Ordnungs - und Sicherungseinsatz neu festzulegen“. In einem Befehl von Dezember 1988 hatte es geheißen, dass die Bereitschaftspolizei neben polizeilicher Arbeit auch zur „Lösung von Aufgaben der Landesverteidigung“ eingesetzt werden könne.42 Am 29. September 1989 informierte daraufhin der Leiter Bereitschaften / Kampfgruppen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden über die neuen Einsatzgrundsätze der kasernierten Einheiten. Es gelte, der „gezielten, groß-

37 SED - BL Erfurt : Plan der politischen Massenarbeit für das IV. Quartal 1989 ( ThHSTA, 37517). 38 Lothar Ahrendt an Chefs der BDVP 1–16 vom 22. 9. 1989 ( BStU, ZA, Neiber 195, Bl. 64 f.). 39 Vgl. Erläuterung der Befehle des NVR, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 40 Befehl 120/89 des Ministers des Innern / Chefs der DVP über weitere Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR, o. D. ( BArch Berlin, DO 1). Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( ebd., 54023, Bl. 2). 41 Vgl. Lothar Ahrendt an Harry Harrland vom 27. 12. 1989 ( ebd., 52461). 42 Bereitschaften / Kampfgruppen der BDVP Dresden vom 29. 9. 1989: Info zur Stabsdienstberatung. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 48 f.

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angelegten und stabsmäßig geführten Hetze gegen den Sozialismus“ effektiv zu begegnen.43 Den Volkspolizisten wurde erklärt, draußen marschiere die „Konterrevolution“. Der Gegner habe seine Diversion zu einem „politisch - ideologischen Krieg“ ausgeweitet. Unter der Anleitung „führender Kreise der BRD“ solle „die Macht der Arbeiterklasse“ beseitigt werden.44 Laut Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden versuchte der Gegner antisozialistische Aktivitäten auszulösen, „um das Vertrauensverhältnis zwischen Volk, Partei und Staat zu untergraben und Unruhe unter der Bevölkerung zu erzeugen“. Jeder Volkspolizist müsse daher mit „Siegeszuversicht, wachsam und einsatzbereit“ die Arbeiter und Bauern - Macht schützen. Der Feind sei zum „Generalangriff gegen den Sozialismus von Berlin bis Peking übergegangen, um ihn zu destabilisieren und schließlich zu beseitigen“. Im Mittelpunkt der Angriffe stehe die DDR. Im Klassenkampf sei die führende Rolle der SED „der Garant, die Hauptquelle der Kraft und Stärke“. Deshalb werde der „Kampagne des Feindes, der SED die führende Rolle abzusprechen“ und politische Gegenkräfte im Lande zu formieren, eine Abfuhr erteilt.45 Aus der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl - Marx - Stadt hieß es, Grundlage der Arbeit sei die SED - Parteipolitik. Jetzt werde sich „beweisen, wer wirklich hinter der Fahne steht“.46 Beim Volkspolizeikreisamt Grimma war die Rede von einer „fünften Kolonne“ des Westens, die „fest gewillt“ sei, ihre „politische Wühltätigkeit auszuweiten“. „Hoch gepäppelte Personengruppen“ kröchen derzeit „wie die Ratten aus den Löchern“. Solche Kräfte müsse man „in die Schranken weisen“.47 Der Sprachgebrauch erinnert an das finsterste Kapitel deutscher Geschichte. MdI / Kampfgruppen : Auf stärkeren Widerstand als bei der Volkspolizei stieß die Mobilisierung bei den Kampfgruppen. Zwar informierte Hackenberg Honecker am 2. Oktober über deren Bereitschaft, „die Heimat mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen“,48 tatsächlich war die Lage differenzierter. Ein Teil der Männer zeigte wenig Neigung zum Einsatz. „Kämpfer“ im VEB Halbzeugwerk Auerhammer ( Aue ) meinten „im Zusammenhang mit möglichem Einsatz zur Bekämpfung innerer Feinde in der DDR“ : „Wo gibt es denn

43 BDVP Dresden vom 29. 9. 1989: Protokoll der Stabsdienstberatung ( ABL, Dresden ). 44 Nach Gedächtnisprotokollen von Volkspolizisten. Vgl. Und diese verdammte Ohnmacht, S. 239–241. 45 Chef der BDVP Dresden an alle nachgeordneten Dienststellen vom 4. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 46 Protokoll der Beratung des Chefs der BDVP vom 10. 9. 1989 ( SächStAC, BDVP Karl Marx- Stadt, 497). 47 VPKA Grimma vom 2. 10. 1989 : Aktivitäten kirchlicher Gruppierungen und zu einigen Hintergründen der Montagsgebete in der Nikolaikirche Leipzig ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Grimma 154/1). 48 SED - BL Leipzig an Erich Honecker über eine erneute Provokation feindlich - negativer Kräfte im Anschluss an das Montagsgebet in der Nikolaikirche Leipzig vom 2. 10. 1989 (SächsStAL, SED A 6339).

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Feinde in der DDR – sollen wir auf unsere eigenen Kollegen schießen ?“49 Mitglieder der Hundertschaft „Alfred Graf“ der VEB Papierfabrik Dreiwerden (Hainichen ) lehnten einen „wirklichen Einsatz gegen Demonstranten“ strikt ab. Einer der Zugführer meinte stattdessen sogar, es gehe eher darum, „dass endlich einige Genossen abgelöst werden müssen“.50 Im VEB Motorenwerk Cunewalde, Betriebsteil Gießerei Beiersdorf, erklärten „Kämpfer“, sie würden ihre Waffen nicht gegen Arbeiter erheben.51 Der Kommandeur einer Hundertschaft des VEB Geräte - und Werkzeugbau Wiesa ( Annaberg ) und Träger des goldenen Kampfordens „Für Verdienste um Volk und Vaterland“, Hanke, meinte : „Wann werden wir endlich begreifen, dass die Partei für das Volk da ist und nicht umgedreht ?“52 NVA : Wie ernst die Lage war, zeigte vor allem die Absicht, die NVA gegen das Volk einzusetzen. In der „Volksarmee“ basierten entsprechende Planungen auf den Befehlen 8/89 und 9/89. Die organisatorischen Grundlagen wurden mit dem Befehl 105/89 über „Maßnahmen zu einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft“ am 27. September geschaffen.53 Danach mussten „armeeuntypische“ NVA - Hundertschaften an verschiedenen Orten in Bereitschaft gehalten werden.54 MfS : Der 1. SED - Sekretär des MfS, Horst Felber, schwor die „Tschekisten“ Anfang September darauf ein, sich davon leiten zu lassen, „dass jede persönliche Erfahrung, die nicht von der Position des Marxismus - Leninismus aus verarbeitet wird, zu Fehlentscheidungen im Handeln“ führen könne.55 Im Wachregiment „Feliks E. Dzierzynski“ wurde erklärt, es sei mit „konterrevolutionären Aktionen zu rechnen“, die „auch mit Gewalt“ zu unterbinden seien.56 China : Nichts Gutes verhieß der demonstrative Schulterschluss mit der KP Chinas.57 Die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung Anfang Juni und die folgenden Erschießungen in Shanghai und anderen Städten wurden in der Bevölkerung als zu befürchtendes Gegenmodell zu den Reformentwicklungen in Ungarn oder Polen gedeutet.58 Die SED - Führung ließ keine Gelegenheit aus, das Vorgehen in China zu loben. Bis in den Herbst spielten der 49 KDfS Aue vom 26. 9. 1989 : Wochenlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 119– 124). 50 KDfS Hainichen vom 26. 9. 1989 : Lage ( ebd., 1, Bl. 89–98). 51 BVfS Dresden vom 2. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt D, XX 9181, Bl. 310–313). 52 KDfS Annaberg vom 12. 9. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 102– 106). 53 Befehl 105/89 des Ministers für Nationale Verteidigung über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung anlässlich des 40. Jahrestages der DDR vom 27. 9. 1989 ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 253–257). 54 MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA 1/37601, Bl. 271, 274). 55 Rede des 1. Sekretärs der Kreisparteiorganisation des MfS, Horst Felber, auf der Kreisparteiaktivtagung vom 7. 9. 1989 ( BStU, HA XXII, 5717). 56 Aussage des Aufklärers / Kompaniechefs im Wachregiment von Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 90. 57 Vgl. dazu Kap. II.2.3. 58 Vgl. BVfS Leipzig vom 27. 7. 1989 : Informationen ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 38/2, Bl. 98–102).

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Begriff und das Konzept einer „chinesischen Lösung“ daher nicht ohne Grund eine wichtige Rolle. Bereits Anfang Juli war eine von Modrow geleitete Delegation demonstrativ nach Peking gereist. Vom 20. bis 28. September besuchte erstmalig eine Delegation des DDR - Innenministeriums das chinesische Ministerium für Öffentliche Sicherheit.59 Zugleich empfing der Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, General Horst Brünner, eine Delegation der chinesischen „Volksbefreiungsarmee“.60 Anfang Oktober erklärte der Geraer SED - Stadtbezirkssekretär Wolfgang Heiland, man werde mit den Konterrevolutionären so wie in China abrechnen.61 Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, drohte gegenüber der Kirche, China sei „nicht so weit, wie es geographisch erscheint“.62 Honecker selbst nutzte einen Empfang für die chinesische Delegation zu den Feiern des Jahrestages, um ein striktes Festhalten am Sozialismus als „grundlegende Lehre aus dem konterrevolutionären Aufruhr in Peking“63 zu bezeichnen. Aktivierung der Einsatzleitungen : Deutliches Zeichen für die Einschätzung der innenpolitischen Lage als Spannungsperiode im Sinne des Statuts der Einsatzleitungen war deren regelmäßiges Tagen seit Ende September. Auffällig ist, dass einige Verantwortliche bestreiten, es habe sich um Sitzungen aktivierter Einsatzleitungen gehandelt, obwohl dies aus den Akten zweifelsfrei hervorgeht. Im Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids kam das Dresdner Landgericht in dieser Sache zu dem Schluss, die Bezirkseinsatzleitung Dresden habe im engen Sinne des Statuts im Oktober nicht getagt, allerdings in anderer, der Situation angepasster Form, und am 4. November auch im engeren Sinne. Sitzungen sind nachgewiesen für den 4., 5., 8., 10., 13. und 25. Oktober und den 4. November.64 „Normale“ Sitzungen der Einsatzleitungen fanden in der DDR zu Übungszwecken regelmäßig statt, nun aber galt erhöhte Einsatzbereitschaft. Lediglich Manfred Hummitzsch hatte später kein Problem damit, zu erklären, die Bezirkseinsatzleitung Leipzig habe seit ihrer Alarmierung Ende September „fast täglich“ getagt.65 Nach Auskunft des Leiters der Bezirkseinsatzleitung KarlMarx - Stadt, Siegfried Lorenz, fanden Anfang Oktober etliche Sitzungen statt, „die die Mitglieder der BEL betrafen“. Es habe sich dabei um Beratungen der BEL-Mitglieder, aber nicht um BEL-Sitzungen „im klassischen Sinn“ gehandelt.66 59 60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 53614, Bl. 96). Vgl. Wir sind das Volk 1, Aufbruch ’89, S. 29. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 15. 12. 1989. Zit. in Blutvergießen konnte vermieden werden ! Gespräch mit Martin Ziegler und Martin Lange am 3. 4. 1990. In : Herles / Rose ( Hg.), Vom Runden Tisch, S. 335. Neues Deutschland vom 10. 10. 1989. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9. 12. 1996, Urteilsverkündung, Mitschrift d. A., S. 36 ( HAIT, Modrow Prozess 1996). Inter view mit Manfred Hummitzsch von Juli 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 218. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9. 12. 1996, Aussage Siegfried Lorenz, Mitschrift d. A., S. 33 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996).

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Auch Modrow bestritt, dass es Sitzungen der aktivierten Bezirkseinsatzleitungen gab. Nach seiner Darstellung gab es auch nach dem Statut keinen Unterschied zwischen Sitzungen der Bezirkseinsatzleitung in Friedens - oder Spannungszeiten.67 Die letzte ordentliche und planmäßige Sitzung der Bezirkseinsatzleitung Dresden fand demnach am 18. September statt, bei der Dresden „als verteidigungsbereit“ erklärt und eingeschätzt wurde, dass „der Gegner mit seiner ideologischen Diversion unter Teilen der Bevölkerung Wirkungen erreicht“ habe.68 Danach gab es bis November weitere Beratungen zur aktuellen Entwicklung unter Leitung Modrows. Dies waren nach Meinung des Sekretärs der Bezirkseinsatzleitung Dresden, Edmund Geppert, angeblich keine Sitzungen der BEL, auch wenn in einigen Informationsberichten an das ZK der SED auch „von Beratungen der BEL gesprochen wurde“. Diese Informationen dienten angeblich nur dazu, „formal auf Weisungen und Erwartungen zu reagieren und die ‚Zentrale‘ zufriedenzustellen“.69 In Schreiben an Honecker und Krenz habe man auf Aktivitäten der Bezirkseinsatzleitung hingewiesen, weil Honecker eine Sitzung der Bezirkseinsatzleitung forderte, Modrow aber nicht wollte. „Geschönte Berichte an die SED - Führung waren möglich und Realität“, so auch Modrow, und „auch meine Berichte waren Schönfärberei“.70 Böhm sei ebenfalls bestrebt gewesen, nach außen den Eindruck zu erwecken, es gäbe entsprechende Aktivitäten.71 Böhm habe, so Frank Eberlein, manchmal übertrieben, oft etwas sporadisch reagiert. Der Begriff „BEL“ sei oft verwendet worden, auch wenn es gar nicht stimmte. Gegenüber dem Ministerium habe Böhm „auf jeden Fall“ zum Lügen geneigt. Da er unter Druck stand, habe er Mielke „was vorgaukeln“ müssen.72 Er habe „das Kürzel BEL zur groben Bestimmung des versammelten Personenkreises benutzt“, um „Vorgesetzten und Untergebenen Stärke und Entschlossenheit“ zu demonstrieren und „weil es deren Erwartungshaltung entsprach“.73 Berghofer meint, Modrow habe abgestritten, dass die Bezirkseinsatzleitung getagt habe, um sich aus der Verantwortung zu stehlen und diese dem MfS und der Volkspolizei zuzuschieben. Dafür habe ihn Böhm „gehasst, weil diese Version natürlich nicht stimmte“.74 Grund dafür, dass Modrow bestreitet, die aktivierte Bezirkseinsatzleitung habe getagt, war sein damaliges Bestreben nach politischen Lösungen. Er strebte 67 68 69 70

Gespräch d. A. mit Hans Modrow am 9. 12. 1996 ( ebd.). Protokoll der Sitzung der BEL Dresden vom 18. 9. 1989 ( ABL, Dresden ). Interview mit Edmund Geppert. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 64. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 29. 11. 1989, Erklärung Hans Modrows, Mitschrift d. A., S. 2 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 71 Ebd., Verlesung einer schriftlichen Erklärung Hans Modrows vom 5. 11. 1992, Mitschrift d. A., S. 5 ( ebd.). 72 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 4. 12. 1996, Aussage Frank Eberleins, Mitschrift d. A., S. 21 f. ( ebd.). 73 Plädoyer des Rechtsanwaltes Friedrich Wolff im Strafverfahren gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 11. 11. 1996, S. 24 ( ebd.). 74 Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 398 f.

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eine politische Lösung an, deswegen „konnte ich mich nicht in militärische Strukturen hineinbegeben“.75 Ihm widerstrebte es, Leiter einer Einsatzleitung zu sein, die mit militärischen Mitteln gegen die demonstrierende Bevölkerung vorging. So bestätigte auch Generalmajor Raimund Kokott, den das Verteidigungsministerium Anfang Oktober im Zusammenhang mit dem Einsatz der NVA nach Dresden entsandte, dass Modrow „in jeder Situation auf eine friedliche, politische Lösung drängte“ und „zu einigen Grundfragen der Politik der Partei - und Staatsführung prinzipielle Vorbehalte hatte“. Seine Auffassungen hätten „erheblich von denen der DDR - Oberen“ abgewichen.76 Das war wohl auch der Grund, warum Mielke Anfang Oktober häufig bei Böhm oder Frank Eberlein anrief und „recht unzufrieden mit Herrn Modrow“ war. Er forderte, „strenger vorzugehen“. Zwischen Modrow und Böhm gab es ein „gespanntes Verhältnis“.77 Modrow hatte auch nach eigenem Bekunden ein „konträres Verhältnis“ zum Bezirksstasichef.78 Das Verhältnis war „parteilich, kameradschaftlich, aber kritisch“. Auch Böhms Mitarbeiter hatten den Eindruck, es gebe Meinungsverschiedenheiten.79 Es gab unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man Herr der Lage werde.80 Gegenüber Pfarrer Kuczera erklärte Modrow, er hätte ständig Auseinandersetzungen mit Böhm und das Gefühl gehabt, von diesem observiert zu werden.81 Böhms Berichterstattung nach oben diene dazu, „sich ins rechte Licht zu rücken“.82 Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Dresden vertrat 1996 dennoch die Auffassung, dass Modrows Erklärungen, es habe sich bei den Hinweisen auf BEL - Sitzungen lediglich um Übertreibungen oder für das Politbüro geschönte Sprachregelung gehandelt, nicht ausreichen, die Beweiserheblichkeit der vorliegenden Dokumente auszuräumen. Die Meinung Modrows „würde voraussetzen, dass sich die Verfasser dieser Dokumente angemaßt hätten, gegenüber höchsten Vorgesetzten und in der Öffentlichkeit über Sitzungen von Bezirkseinsatzleitungen zu berichten, obwohl solche nach ihrem Verständnis nicht in dieser Form durchgeführt worden oder nicht vom ‚Statut‘ gedeckt waren. Dies hält der Senat für ausgeschlossen.“ Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass die BEL - Sitzungen in anderen als den vorgesehen Räumen und mit teils anderer Zusammensetzung stattgefunden hätten und nicht die üblichen Protokolle erstellt worden wären. Die „plötzliche ernsthafte Gefährdung der staatlichen 75 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9. 12. 1996, Abschließende Erklärung Hans Modrows, Mitschrift d. A., S. 35 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 76 Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 18 f. 77 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 4. 12. 1996, Aussage Frank Eberleins, Mitschrift d. A., S. 21 ( HAIT, Modrow- Prozess 1996). 78 Ebd. am 29. 11. 1989, Erklärung Hans Modrows, Mitschrift d. A., S. 2 ( ebd.). 79 Ebd. am 4. 12. 1996, Aussage Hardi Anders, Mitschrift d. A., S. 23 ( ebd.). 80 Ebd., Aussage Herbert Köhlers, Mitschrift d. A., S. 25 ( ebd.). 81 Ebd. am 6. 12. 1996, Aussage Lothar Kuczeras, Mitschrift d. A., S. 31 ( ebd.). 82 Ebd. am 4. 12. 1996, Aussage Herbert Köhlers, Mitschrift d. A., S. 25 ( ebd.).

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Sicherheit“ könne „einen der Gefahrenlage angepassten unkonventionellen Sitzungsablauf erfordert haben“. Darüber hinaus zeige die Übereinstimmung der Anforderungen des Statuts der Einsatzleitungen mit den getroffenen Maßnahmen, insbesondere dem Befehl 10/89, dass sich Modrow damals bewusst gewesen sei, „welche Aufgabe er als Vorsitzender der BEL auch für innere Spannungsfälle hatte, und dass er die Sitzungen des Gremiums in dieser Eigenschaft durchführte“.83 Für die Beurteilung der Frage, ob die SED - Führung in Berlin die Situation als Spannungsperiode interpretierte und die Einsatzleitungen gemäß dem Statut aktivierte, ist die Haltung Modrows unerheblich. Erkennbar ist, dass Modrow Vorbehalte gegen eine militärische Lösung hatte. Ebenso klar geht aus allen Unterlagen aber hervor, dass Honecker die Einsatzleitungen im Sinne der ersten Stufe der Mobilmachung gemäß Absatz 4 des Statuts aktiviert hatte und die Situation als Spannungsperiode deutete. Gerade die ablehnende Haltung Modrows unterstreicht den Willen Honeckers zum gewaltsamen Vorgehen. 3.2

Aus Prag in den Westen – Zugdurchfahrt, Grenzschließung und Proteste 1. bis 3. Oktober

Erste Zugdurchfahrt Ende September / Anfang Oktober Natürlich war ein gewaltsames Vorgehen gegen unbotmäßige Teile der Bevölkerung auch nicht das ersehnte Szenario der Altherrenriege um Honecker. Einen schönen 40. Jahrestag feiern, das war das erstrebte Ziel der greisen und von Altersstarrsinn geplagten Parteiführer. Ihr Handeln war vor allem darauf ausgerichtet, am 7. Oktober Ruhe und eine festliche Atmosphäre im Lande zu haben. Wie greise Jubilare trotz Friktionen in der Familie ihre hohen Geburtstage gern in fröhlicher Runde feiern, so handelten auch Honecker (77) oder Mielke (82), die im DDR - Jubiläum eine Bestätigung ihres Lebenswerkes sahen. Jeder, der störte, sollte, so hatte man es seit Jahrzehnten praktiziert, aus dieser Runde entfernt werden. So ist wohl auch zu erklären, warum sich Honecker auf Druck der sowjetischen Regierung am 29. September überzeugen ließ, die Flüchtlinge, die in der bundesdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten, in Sonderzügen via DDR in den Westen ausreisen zu lassen.84 Am Abend dieses Tages rief er das Politbüro zusammen, um die Mitglieder über seinen Beschluss zu unterrichten.85 Nachdem auch die Bundesregierung darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass eine Ausreise innerhalb von 24 Stunden erfolgen werde, begab sich Außenminister Hans - Dietrich Genscher am Abend des 30. September in die 83 Oberlandesgericht Dresden, 1. Strafsenat : Beschluss vom 25. 4. 1996 in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 23–25 ( ebd.). 84 Protokoll der Sitzung des Politbüros der SED vom 29. 9. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3243). Den gesamten Prozess beschreibt als Insider Duisberg, Das deutsche Jahr, S. 47–61. 85 Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 69; ders., Der Absturz, S. 234 f.

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Prager Botschaft. Vom Balkon des Palais Lobkowicz verkündete er die bevorstehende Ausreise.86 Die Nachricht löste Jubel aus. In der Nacht zum 1. Oktober konnten die Botschaftsbesetzer aus Prag und Warschau mit Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn über DDR - Gebiet in Richtung Bundesrepublik ausreisen. Am 1. Oktober verließ der letzte Zug gegen 17.10 Uhr die DDR. Zwei am Dresdner Hauptbahnhof aufgesprungene Personen konnten nicht mehr des Zuges verwiesen werden. Insgesamt reisten bei der Aktion über den Grenzübergang Gutenfürst 5 283 Personen aus, über Marienborn waren es 842.87 Bei der von Mielke geleiteten Aktion wurden die Flüchtlinge in sechs Sonderzügen in Abständen von zwei Stunden über das DDR Gebiet via Dresden nach Hof transportiert.88 Die DDR - Regierung bestand aus Prestigegründen darauf, ihnen im Zug eine offizielle Ausreisegenehmigung auszuhändigen. Dabei wurden Daten erfasst und intern wies man an, Ehepartnern oder minderjährigen Kindern, die einen entsprechenden Antrag stellten, ebenfalls unverzüglich die Ausreise zu gestatten.89 Jeder der vier Züge wurde von hochrangigen Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Bundeskanzleramtes und des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen begleitet, da die Angst vor Übergriffen durch die DDR - Geheimpolizei groß war. Der erste Sonderzug fuhr am Sonnabend gegen 22.00 Uhr mit erheblicher Verspätung aus Prag ab. Einheiten des MfS, der VP und der NVA säumten die Strecke über Dresden, Karl - Marx - Stadt und Plauen. Auf den Bahnhöfen, die die Züge passierten, sorgten sie dafür, dass diese nahezu menschenleer waren. Dennoch sprangen weitere Personen, teils unter Lebensgefahr, auf.90 Dresden stellte einen neuralgischen Punkt dar, weil der marode Hauptbahnhof nur langsam passiert werden konnte. Im DDR - Fernsehen und im „Neuen Deutschland“ erklärte Honecker zu den Flüchtlingen zynisch : „Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“91 Unter der Bevölkerung rief die Aktion Unverständnis hervor. Damit, so Wissenschaftler der Bergakademie Freiberg, werde das Problem nicht gelöst. Tatsächlich sammelten sich bereits neue Flüchtlinge. Das MfS im Grenzkreis Hohenstein - Ernstthal registrierte eine sprunghafte Zunahme von Straftaten gegen die Staatsgrenze.92 Studenten meinten : „Die da oben müssen senil geworden sein.“93 Bewohner aus Glauchau und Hainichen forderten, lieber die Ursa-

86 87 88 89 90 91 92 93

Vgl. John, Seiters, S. 92. Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 7). Vgl. Mittag, Um jeden Preis, S. 47 f. Vgl. Liste der „Zug - Ausreisenden“ des Bezirkes Erfurt, o. D. ( ThHSTA, 36681); RdB Erfurt vom 6. 10. 1989 : Innere Angelegenheiten ( ebd.). Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, lfd. Nr. 19 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). Neues Deutschland vom 2. 10. 1989. Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 2. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1812, Bl. 167–170). KDfS Freiberg vom 2. 10. 1989 : Informationsbedarf ( ebd. 533, 1, Bl. 73).

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chen für die Massenflucht zu beseitigen, dazu gehöre die Reisefreiheit für jedermann und eine Verbesserung der Versorgung.94 Hatte die Führung also geglaubt, das Problem habe sich mit der Ausreise erledigt, so sah sie sich bald getäuscht. Obwohl die Polizei das Botschaftsgelände in Prag nach der Abreise der letzten Flüchtlinge abriegelte und die Botschaft offiziell wegen Renovierungsarbeiten schloss, wurden bis zum Abend 300 neue Zufluchtsuchende aufgenommen. Auch vor der Botschaft in Warschau warteten am Sonntagabend bereits 70 neue Ausreisewillige. Am Nachmittag des 2. Oktober hielten sich bereits wieder etwa 1 000 Personen auf dem Prager Botschaftsgelände auf. Den neuen Zufluchtsuchenden bot die DDR - Regierung an, innerhalb von sechs Monaten in den Westen auszureisen, wenn sie sich in die DDR begäben. Da jedoch kaum jemand dem Vorschlag folgte, schlug die Bundesregierung eine „Nachzüglerregelung“ vor, bei der die neuen Ausreisewilligen wie das erste Kontingent behandelt werden sollten.95 Bundesminister Seiters appellierte an die SED - Führung, erneut eine humanitäre Lösung zu finden. Der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Horst Neubauer, legte zwar Verwahrung dagegen ein, „dass von BRD - Seite Absprachen und Zusagen im Zusammenhang mit der Ausweisung ehemaliger DDR - Bürger nicht eingehalten werden“96, und verlangte, die Flüchtlinge aus den Botschaften zu weisen. Seiters lehnte dies jedoch wegen der bundesdeutschen Rechtsauffassung einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft ab.97 Regionale Proteste 1./2. Oktober Aber nicht nur die Massenflucht war nicht mehr zu stoppen, auch die inneren Proteste als Reaktion darauf nahmen schnell zu. Im Bezirk Dresden häuften sich Anfang Oktober Aktivitäten „feindlich - negativer Kräfte“ u. a. in Form des Anbringens von Losungen. In Kamenz wurden „Schmierereien“ zur Massenflucht festgestellt, in Löbau zum Neuen Forum. Im Kreis Meißen war mit roter Farbe „Bekämpft die Ursachen, nicht die Wirkung“ angebracht worden.98 Bei einem „Gebet für den Frieden“ in der Kirche Riesa Gröba unterzeichneten am 2. Oktober 90 Teilnehmer eine Liste für das Neue Forum und forderten vom Rat des Kreises eine öffentliche Podiumsdiskussion zu den Themen Reisefreiheit, Friedensdienst, Reformen, Umwelt und Kernkraftwerke.99 In der Bergkirche Oybin protestierte Heinz Eggert auf seine Weise 94 Vgl. KDfS Glauchau vom 2. 10. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 533, 2, Bl. 61 f.); KDfS Hainichen vom 2. 10. 1989 : Stimmung (ebd. 534, 1, Bl. 117). 95 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 3. 10. 1989. 96 Neues Deutschland vom 3. 10. 1989. 97 Vgl. John, Seiters, S. 95–97. 98 BVfS Dresden vom 1. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 295–297). 99 Vgl. BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 252–256); Gebet für den Frieden in Riesa - Gröba ( HAIT, StKa ); Andreas Näther an RdK Riesa vom 2. 10. 1989 ( PB Andreas Näther ).

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gegen die Verhältnisse : Nur eine kleine Weile, so der Pfarrer, dann werde der verwüstete Libanon blühen und würden die Gewaltherrscher verschwinden.100 In Daubitz ( Weißwasser ) rief Kreisjugendpfarrer Havenstein beim Gottesdienst dazu auf, Mitglied des Neuen Forums zu werden. Ein IM meinte, er sei „schlimmer als der RIAS über die DDR hergezogen“.101 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Bei einer Beratung am 2. Oktober stellte der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl - Marx - Stadt, Müller, bei „Aktivitäten des Gegners“ eine „Steigerung im erheblichem Maße“ fest.102 Bezirk Leipzig : Wichtigstes Zentrum der Demonstrationen blieb Leipzig, wo es am 2. Oktober erneut zu größeren Demonstrationen kam.103 Im Vorfeld wurden Arbeiter in den Betrieben aufgefordert, sich nicht zu beteiligen, Studenten die Exmatrikulation angedroht. Für eventuelle Gewalteinsätze war ein Krankenhaustrakt freigemacht worden. Das Personal musste ausreichend Blut für Transfusionen bereithalten.104 Wolf - Dieter Legall, damals Dozent an der Martin Luther - Universität Halle, erinnert sich, von einem Vorgesetzten mit folgenden Worten gewarnt worden zu sein, nach Leipzig zu fahren : „Es wird und es muss Blut fließen.“105 Die SED - Bezirksleitung Leipzig erhielt aus Berlin den Befehl, im Falle einer Demonstration mit allen Mitteln gegen die protestierende Bevölkerung vorzugehen.106 Um die Mittagszeit bildete sich an der Nikolaikirche eine Demonstration, die langsam anwuchs. Um 13.00 Uhr rückten Einheiten der Kampfgruppen alarmgemäß aus. Sie waren erstmals mit scharfer Munition ausgerüstet. SED und MfS schickten „gesellschaftliche Kräfte“ in die Nikolaikirche, die dadurch bereits vor Beginn der Andacht überfüllt war.107 Mehrere Hundert Personen wichen in die Reformierte Kirche aus, die sich erstmals zum Friedensgebet öffnete.108 Im Umkreis der Nikolaikirche hielten sich während der Andacht weitere 3 000 Personen auf, darunter ebenfalls eine größere Anzahl „gesellschaftlicher Kräfte“. Während des Friedensgebetes wurde gegen die Verhaftungen und das Vorgehen der Sicherheitskräfte am 11. September protestiert. Die Anwesenden wurden laut MfS - Bericht zum Fasten für politische Gefangene aufgerufen und aufgefor100 Heinz Eggert, Predigttext vom 1. 10. 1989 in der Bergkirche Oybin ( PB Heinz Eggert ). 101 KDfS Weißwasser vom 5. 10. 1989 : Pfarrer Havenstein ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 583–585). 102 BDVP Karl - Marx - Stadt vom 2. 10. 1989 : Protokoll der Beratung mit den Dienststellenleitern ( SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, 497). 103 Vgl. Egon Krenz an Erich Honecker vom 3. 10. 1989 ( BStU, ZA, Sekretariat des Ministers 664, Bl. 62 f.); MdI : Berichte einzelner Bezirke über Vorkommnisse und polizeiliche Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400); Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 36–52; Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 407–450. 104 Info des Krankenhausdezernenten von Hannover, Rolf Wiese, nach Gesprächen mit Mitarbeitern des Leipziger Gesundheitsdienstes. In : Frankfurter Rundschau vom 11. 11. 1989. 105 Gespräch d. A. mit Wolf - Dieter Legall am 10. 4. 2008. 106 Vgl. Bericht von Gerald Pilz. In : Neues Forum Leipzig, S. 47. 107 MfS, ZAIG, Nr. 435/89 vom 3. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 190. 108 Vgl. Magirius, Selig sind, S. 14.

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dert, sich nicht an Demonstrationen zu beteiligen. Diese seien kein geeignetes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.109 Ungeachtet dessen demonstrierten nach dem Friedensgebet gegen 18.00 Uhr zwischen 8 000 und 20 000 Menschen für demokratische Erneuerung und Reformen.110 In Sprechchören hieß es : „Erich lass die Faxen sein, hol die Perestroika rein“, „Gorbi !“, „Wir bleiben hier !“, „Neues Forum zulassen !“, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit !“ und „Reiht euch ein !“. Die Demonstranten marschierten zum Hauptbahnhof und sangen die „Internationale“. Am Friedrich - Engels - Platz wurden sie durch eine Straßensperre aus Polizeifahrzeugen gestoppt.111 Die Menge rief den Volkspolizisten und Mitgliedern der Kampfgruppen zu „Schämt euch was !“ und „Väter gegen Söhne !“ und durchbrach schließlich die Sperrkette.112 Danach zerstreute sich die Demonstration bis auf etwa 3 000 Personen, die in Richtung Innenstadt marschierten, wo sich die Demonstration teilweise auf löste. Am Abend bildete sich ein neuer Demonstrationszug. In der Nähe der Thomaskirche gingen die Sicherheitskräfte nun gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Diese formierten sich zu einer Sitzblockade und riefen „Keine Gewalt“, „Schämt euch was“ und „Gorbi, Gorbi“.113 Es flogen Pflastersteine, Scheiben wurden zerschlagen und Autos angezündet. Bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gab es auf beiden Seiten Verletzte. Zwanzig Demonstranten wurden festgenommen.114 Mielke ließ erstmals seine Spezialtruppe mit Schlagstöcken und Hunden einsetzen, um der Bevölkerung zu zeigen, „dass unsere Macht noch Zähne hat“.115 Die VP - und MfS - Einheiten, unterstützt von Einheiten der Kampfgruppen und der Bereitschaftspolizei, erschienen mit Helmen, Schlagstöcken, Elektrostäben und Schilden und gingen mit Hunden und Wasserwerfern gegen die Bevölkerung vor.116 Zum Einsatz kamen je zwei Einsatzkompanien der 7. Volkspolizeibereitschaft (VPB) Erfurt, der 9. VPB Potsdam und der 12. VPB Halle mit „Schlagstock starr und dreiteilig sowie Führungsketten“ sowie eine Kompanie mit Sonderausrüstung. Zusätzlich waren Volkspolizisten aus Halle, Aschersleben und Wolfen nach Leipzig abkommandiert worden.117 109 Vgl. Mielke an Honecker vom 3. 10. 1989 : Info 435/89 ( ABL, FVS Dresden Parteiinform. BV - BL, Min. - SED, MfS an Politbüro ). 110 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 3. 10. 1989; Neues Forum Leipzig, S. 45–58; Heiduczek, Der „Kleine Oktober“, S. 95–97; Leipziger Demontagebuch, S. 17. Die VP sprach von 8 000 Personen. MdI: Bericht des Bezirkes Leipzig, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). 111 Vgl. MdI : Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 63 (ebd., 52461). 112 Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 151. 113 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 9. 114 Vgl. MdI: Bericht des Bezirkes Leipzig, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). 115 So Mielke vor leitenden MfS-Offizieren. In: Schell / Kalinka, Stasi und kein Ende, S. 298. 116 Vgl. Voigt, Gespräch, S. 74–82; Thomas Glöß, Als Dresden aufstand. Wie ein Bereitschaftspolizist die Oktoberereignisse 1989 erlebte. In : Sachsen - Spiegel vom 28. 9. 1990; Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 152. 117 Vgl. Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Wagner, an Chef der BDVP Halle, Leipzig vom 29. 9. 1989 : Kommandierung 170/89 ( BArch Berlin, DO 1, 52362); MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 41, 51 ( ebd., 52461).

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Angesichts der erneuten Gewalteskalation wandten sich in Leipzig die Arbeitsgruppen „Menschenrechte“ und „Umweltschutz“ und der „Arbeitskreis Gerechtigkeit“ in einem gemeinsamen Appell an die Bevölkerung und forderten zur Gewaltlosigkeit auf.118 Auch in anderen Städten verbanden sich Aktionen und Aufrufe zur Gewaltlosigkeit mit Protesten gegen die Gewalt der Staatsmacht. In der Berliner Gethsemanekirche begann am Abend des 2. Oktober eine Mahnwache für die politischen Gefangenen. Von nun an fanden in verschiedenen Städten regelmäßig Friedensgottesdienste und Fürbittandachten für die Inhaftierten von Leipzig statt.119 Hackenberg informierte Honecker über die Ereignisse am 2. Oktober und lobte Erklärungen der Kampfgruppen, „die Heimat mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen“. Es habe sich gezeigt, so Hackenberg, dass sich die Nikolaikirche zum „Ausgangspunkt aller feindlichen Handlungen“ entwickle. Daher müsste entschieden werden, ob der Gottesdienst dort weiter durchgeführt werden dürfe.120 Grenzschließung 3. Oktober Derweil spitzte sich die Situation am 3. Oktober in der Prager Botschaft erneut zu. Inzwischen hielten sich wieder ca. 4 500 Fluchtwillige im Garten des Palais Lobkowicz auf. Vor dem Zaun warteten etwa 2 000 Menschen, weitere 3 000 bis 4 000 waren unter wegs zur Botschaft. Am Zaun kam es zu dramatischen Szenen, als ČSSR- und DDR - Sicherheitskräfte versuchten, die Menschen mit Gummiknüppeln am Überklettern zu hindern. Im Kanzleramt kamen Vertreter der Bundesregierung unter Leitung Genschers zur Sondersitzung zusammen. Kohl versuchte vergeblich, mit Honecker zu telefonieren. Ohne Rücksprache mit Bonn entschied das Politbüro unterdessen am 3. Oktober, allen in der Botschaft Zufluchtsuchenden die Ausreise zu gestatten. Die Bundesregierung wurde am Nachmittag darüber informiert, dass die ca. 11 000 DDR - Bewohner, die sich auf dem Gebiet der ČSSR aufhielten, in die Bundesrepublik ausreisen könnten, gleichzeitig aber die Grenze zur ČSSR für den Reiseverkehr geschlossen werde. Der Abtransport verzögerte sich, weil die SED - Führung die Bahnstrecke sichern und entlang der Streckenführung durch die DDR Bahnhöfe und Gleise von Tausenden Menschen räumen ließ, die auf die Züge aufspringen bzw. die Züge stoppen wollten.121 Wegen des Aufschubs geriet die SED - Führung unter Druck der ČSSR- Regierung, die am 3. Oktober verlangte, den Abtransport der neuen Flüchtlinge noch am gleichen

118 Appell zur Gewaltlosigkeit. In : Rein, Die Opposition, S. 170 f. 119 Vgl. Fürbittandachten für die Inhaftierten in Leipzig und Berlin ( ABL, H. I ). 120 Helmut Hackenberg an Erich Honecker über eine erneute Provokation feindlich - negativer Kräfte im Anschluss an das Montagsgebet in der Nikolaikirche Leipzig am 2. 10. 1989 ( SächsStAL, SED A 6339). 121 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 438/89 vom 4. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 194.

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Tag durchzuführen. Die DDR - Regierung teilte daraufhin mit, dass der Beginn der Aktion für den nächsten Tag zu erwarten sei.122 Für den 3. Oktober ordnete Böhm an, alle Personen aus den Zügen in Richtung ČSSR auf dem Bahnhof Bad Schandau auszusetzen, die kein konkretes Reiseziel angeben konnten, „insbesondere Jungerwachsene, Ehepaare mit schulpflichtigen Kindern und Ehepaare mit Kleinstkindern“. Mit dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes Dresden wurde die Variante „Filtrierung“ der VP - Bereitschaft ausgelöst.123 Aus dem IEX 73 „Metropol“ nach Budapest, der gegen 1.00 Uhr in Bad Schandau kontrolliert wurde, mussten fast alle DDR - Bewohner samt Kindern aussteigen. Im vollbelegten D 979 aus Leipzig nach Dresden zählte die Volkspolizei allein 30 Kinder wagen. Die Fahrgäste wechselten in Dresden gegen 3.00 Uhr in den D 479 nach Bukarest. Im Zug befanden sich ca. 1 000 Personen, ca. 100 wurde in Bad Schandau die Weiterfahrt untersagt. Für ihre Rückführung nach Dresden standen Busse bereit. Auch aus dem Zug nach Budapest mussten von 461 DDR - Bewohnern 121, davon 36 Kinder, den Zug gegen 10.00 Uhr verlassen. Etwa 90 von ihnen setzten sich daraufhin auf die Gleise vor die Lok und verhinderten so die Weiterfahrt. Andere saßen in der Bahnunterführung und riefen „Deutschland“ und „Freiheit“. Die Volkspolizei löste die Sitzproteste auf und zwang die Reisenden zur Rückfahrt nach Dresden.124 Gegen Mittag wiederholte sich das Prozedere mit ca. l00 Personen, die aus dem D 375 ausgesetzt wurden. In Folge der Rückführungen sammelten sich immer mehr frustrierte Menschen am Dresdner Hauptbahnhof.125 Da ein zum Rücktransport eingesetzter Nahverkehrszug weder am Hauptbahnhof noch in Dresden - Neustadt hielt, zogen einige Ausreisewillige die Notbremse. 32 von ihnen besetzten die Dreikönigskirche im Stadtteil Neustadt, 31 weitere Personen begaben sich in die katholische Hofkirche und 54 in die Kreuzkirche. Am 6. Oktober erhielten alle eine Ausreisegenehmigung.126 Ein Teil der Ausgesetzten versuchte, sich in Richtung Grenze durchzuschlagen, allerdings wurden die Zufahrtswege dorthin besonders überwacht.127 In Schmilka wurden 14 Personen, die durch Sprechchöre ihre Ausreise erzwingen wollten, festgenommen.128 Insgesamt kamen am 3. Oktober 73 Personen in Haft.129 122 Vgl. Strafsache gegen Honecker u. a. Zit. bei Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 112 f. 123 BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Maßnahmen im Kontroll - und Filtrierungsprozess in den grenzüberschreitenden Zügen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 178 f.). 124 GüST DBS 117 an BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Maßnahmen über den Ausreiseverkehr in die ČSSR ( ebd., Bl. 194 f.). 125 Vgl. BDVP Dresden vom 15. 10. 1989 : Zusammengefasste Darstellung der Entwicklung in Dresden vom 3.–9. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 126 Vgl. Liebsch, Dresdner Stundenbuch, S. 8 f.; Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 270. 127 Vgl. BDVP Dresden vom 3. 10. 1989 : Sicherungsmaßnahmen im Bahnhof Bad Schandau und GüST Schmilka ( ABL, EA 891003). 128 Vgl. BDVP Dresden vom 3. 10. 1989 ( ebd., Dresden ); MdI: Berichte einzelner Bezirke über Vorkommnisse und polizeiliche Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). 129 Vgl. Nyffenegger an Dickel vom 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden ).

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Weniger Beachtung fand das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitsorgane auf dem Bahnhof Bad Brambach ( Oelsnitz ). Hier wurde gegen 15.00 Uhr der D 377 „Karlex“ kontrolliert. Im Zug befanden sich ca. 100 Reisende nach Prag, einige waren zuvor in Bad Schandau aus dem Zug geholt worden. Es gab sechs Zuführungen.130 Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs Am Nachmittag des 3. Oktober setzte die SED - Führung den pass - und visafreien Reiseverkehr in die ČSSR für DDR - Bürger mit sofortiger Wirkung aus.131 Bis dahin waren in Bad Schandau bereits ca. 1400 Personen, darunter 400 Kinder, ausgesetzt worden.132 Der Beschluss wurde über ADN verbreitet und auf den Bahnhöfen per Lautsprecher bekannt gegeben. Parallel zur Rückführung ausgesetzter Reisender wurden für die zweite Zugdurchfahrt zehn Leerzüge nach Prag überführt. Die Zurückgewiesenen empfanden es als Provokation, als gegen 21.45 Uhr auf dem Bahnsteig 4 des Dresdner Hauptbahnhofes ein solcher Leerzug bereitgestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf den Bahnsteigen ca. 1 000 Personen. Böhm konstatierte später, die Lage habe „in gewisser Weise eine Zuspitzung und einen qualitativen Umschlag“ erfahren, als bekannt wurde, dass sich die erneut in großer Zahl in der Botschaft in Prag aufhaltenden DDR - Bewohner innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal über das Territorium der DDR ausreisen konnten.133 Das Vorgehen zeigte entweder taktisches Unvermögen der Führung oder deutete auf ein Kalkül hin. Es war fast vorhersehbar, dass die Fluchtwilligen nach Einfahrt des Leerzuges in Richtung Prag spontan die Bahnsteige 4 und 5 stürmten. Es gab Sprechchöre wie „Wir wollen raus“, „Wir wollen Freiheit“, und es wurde die 1. Strophe der DDR - Nationalhymne mit dem Passus „Deutschland einig Vaterland“ gesungen. Den Aufforderungen, den Zug zu verlassen, kam niemand nach.134 Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei bereitete daraufhin die Räumung vor. 26 Personen, darunter elf Kinder, die in Bad Schandau aus den Zügen geholt worden waren, hatten sich in die Dreikönigskirche geflüchtet. Ihnen wurde mitgeteilt, sie sollten in ihren Heimatorten bei der Volkspolizei ihr Anliegen vortragen. Sie verließen daraufhin die Kirche.135 Etwa zeitgleich lief in Bad Schandau die Räumung des IEX 77 „Primator“ nach Prag. 82 DDR - Bewohner mit drei Kindern, die ausgesetzt werden sollten, weigerten sich auszusteigen. Ihre Wag130 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37039). 131 MdI an BDVP vom 3. 10. 1989 ( ABL, Dresden ); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 15). 132 Vgl. BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 191–193). 133 BVfS Dresden, Leiter, vom 9. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891009_2). 134 BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989: Entwicklung in Dresden ( ebd., Dresden ). 135 Vgl. BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 191–193).

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gons wurden daraufhin abgekoppelt und an einen Zug Richtung Dresden angehängt.136 Ebenso geschah es 170 DDR - Bewohnern bei der Abfertigung des D 477 „Istropolitan“ nach Bratislava gegen 23.00 Uhr.137 Nach dem Bekanntwerden der Grenzschließung versammelten sich bis zum Abend des 3. Oktober ca. 2 000 Menschen am Dresdner Hauptbahnhof. Viele hatten eigentlich nach Prag gewollt und hofften nun, auf die in Richtung Bayern fahrenden Züge aufspringen zu können. Kurz nach Mittenacht wurde ein verschlossener Leerzug in Richtung Grenze aus dem Bahnhof herausgefahren. 140 Personen versuchten aufzuspringen, wobei einem Reisenden ein Bein abgefahren wurde. Die Menschen reagierten immer aggressiver und griffen Volkspolizisten tätlich an. Die Ausreisewilligen aus allen Teilen der DDR verschmolzen mit dem Protestpotenzial aus der Region Dresden, in der es besonders viele Ausreisewillige gab. Gegen Ende des Jahres 1988 hatten etwa 30 000 Dresdner die ständige Ausreise beantragt. In den Monaten vor der friedlichen Revolution entfielen auf den Bezirk Dresden bei einem Bevölkerungsanteil der DDR von elf Prozent ein Viertel aller Ausreiseanträge. Im Jahre 1989 verließen ca. 18 000 Dresdner ihre Heimat, die meisten waren im Handel und im Gesundheitswesen beschäftigt gewesen.138 3.3

Gewaltsame Proteste in Dresden und Massenfestnahmen am 4. Oktober

Dresden am Morgen Kurz nach Mitternacht befanden sich auf dem Hauptbahnhof rund 1 000 Personen. Gegen 0.30 Uhr wurde der Bahnhof zum zweiten Mal per Schlagstock durch Kompanien der Offiziershochschule der Bereitschaftspolizei Dresden und der 8. VP - Bereitschaft geräumt.139 Gegen 1.00 Uhr erschien Superintendent Ziemer im Hauptbahnhof und versuchte zur Einsatzleitung vorzudringen, um durch Vermittlung eine Eskalation zu verhindern. Diese verweigerte auf Anweisung Böhms jedoch ein Gespräch und verwies ihn vom Gelände.140 Stattdessen 136 Vgl. GüST DBS 117 an BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Maßnahmen über den Ausreiseverkehr in die ČSSR ( ebd., Bl. 194 f.). 137 Vgl. GüST DBS 125 an DBVM, Ergänzung vom 4. 10. 1989 : Maßnahmen über den Ausreiseverkehr DDR - ČSSR ( ebd., Bl. 196). 138 Nach einem Bericht der Stadtplankommission vom 8. 1. 1990 waren es 17 518 Bürger. Vgl. Eckdaten der ökonomischen und sozialen Situation in der Stadt Dresden, S. 11. Ein Bericht des RdS vom 25. 1. 1990 spricht von 18 182 Dresdnern, die die DDR verließen. Vgl. Bericht des RdS an die 6. Tagung der StVV am 25. 1. 1990, S. 1 ( StA Dresden, StVV, Protokolle, Bl. 157). Vgl. Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 194 und 212. 139 Vgl. MdI: Bericht des Bezirkes Dresden, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024); Vernehmungsprotokoll des Zeugen Willi Nyffenegger vom 7. 12. 1989 ( ebd.). MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 105 ( ebd., 52461). 140 Vgl. BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 191–193); BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989: Lagefilm, Nr. 101 ( SächsHStA, BDVP, 3187); Inter view mit Christof Ziemer. In : Rein, Die protestantische Revolution, S. 230; Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 270.

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setzte der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei in Absprache mit Böhm weitere Kräfte, darunter Einheiten der Transportpolizei aus Neubrandenburg und Rostock,141 ein, die gegen 1.30 Uhr begannen, den Bahnhof zu räumen.142 Die Reisenden riefen „Wir wollen raus“ und „Schweine, ihr Schweine“. Sie sangen die „Internationale“ und warfen Steine. Gegen 3.00 Uhr setzten sich ca. 400 Personen auf den Bahnanlagen in Richtung Dresden - Strehlen in Bewegung. Der Zugverkehr kam zum Erliegen. Zwei Züge der Transportpolizei gingen gegen die Demonstranten vor. Erneut flogen Steine. Die Menge wurde auseinandergetrieben. Etwa 200 Personen sammelten sich im Stadtzentrum und begaben sich gegen 4.00 Uhr erneut zum Hauptbahnhof.143 Gegen 5.20 Uhr wurden die letzten ca. 200 Personen aus dem Hauptbahnhof gedrängt. Modrow meldete Honecker, dass das, was er unter „Ordnung und Sicherheit“ verstand, „wieder hergestellt“ sei.144 Insgesamt gab es am 3. Oktober 239 Zuführungen, davon 128 im Raum Bad Schandau / Schmilka, 74 bei der Räumung des Hauptbahnhofes und 37 im Raum Görlitz.145 An drei Stellen der Stadt musste die Volkspolizei am Morgen fünf Meter lange „Hetzschmierereien“ mit der Forderung „Wir wollen raus, Freiheit“ entfernen.146 Um 9.00 Uhr rief Modrow die Bezirkseinsatzleitung zusammen.147 Massenfestnahmen und Einrichtung von Zuführungspunkten Das Regime ging nicht nur mit Gewalt vor, es scheute auch vor Massenzuführungen nicht zurück. Bereits am 1. Oktober hatte Böhm angewiesen, bei Versuchen der Organisierung des Neuen Forums und anderer Zusammenschlüsse auch zeitweilige Zuführungen bzw. strafrechtliche Mittel anzuwenden und in den VP - Kreisämtern Zuführungspunkte einzurichten.148 Diese waren also nicht nur für Demonstranten gedacht. Das zeigten auch Ausführungen Mielkes, der am 3. Oktober vor dem Kollegium des MfS erklärte, jede Inkonsequenz führe 141 Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 97 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 142 Am Hauptbahnhof Dresden waren von Einsatzbeginn an im Einsatz : vier Kompanien der OHS (272 Mann ), zwei Kompanien und ein Zug des 8. VPB (158 Mann ), eine Hundertschaft des VPKA (80 Mann ), zwei Züge der SV - Schule (44 Mann ), zwei Züge der Kampfgruppe (40 Mann ), VK - Regler (20 Mann ), sechs Hundeführer ( gesamt 620 Mann). Später zugeführt wurden : eine Kompanie der OHS (68 Mann ), drei Züge der BDV (122 Mann ), zwei Züge der SV - Schule (44 Mann ), 7. PD (120 Mann ), MAK (300 Mann), insg. 654 Mann. BDVP an MdI vom 3. 10. 1989 : Lagebericht ( Anlage Kräfteeinsatzplan ) ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL, 1, Bl. 209–213). 143 BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ). 144 Modrow an Honecker vom 4. 10. 1989 ( ebd.). 145 Vgl. BDVP Dresden an MdI vom 3. 10. 1989 : Lagebericht ( Anlage Kräfteeinsatzplan ) (BStU, ASt. Dresden, 1. SdL, 1, Bl. 209–213). 146 Böhm an Modrow vom 14. 10. 1989 : Politisch - operative Vorkommnisse vom 3.– 8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 147 Vgl. Böhm an Mielke vom 5. 10. 1989 ( ebd.). 148 Vgl. Leiter der BVfS Dresden vom 1. 10. 1989 : Sicherung des 40. Jahrestages der DDR ( ebd., EA 891001_1).

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dazu, „dass der Feind sich weiter ausbreitet und sich von Woche zu Woche, von Tag zu Tag die Zahl der Protestierenden erhöht“. Jeder, der Aufrufe des Neuen Forums verbreite oder Listensammlungen durchführe, sei festzunehmen : „Für was ihr sie einsperrt, ist mir völlig egal, das überlasse ich eurem juristischen Sachverstand, aber eingesperrt werden sie.“ Nur mit Härte und Entschlossenheit sei die weitere „konterrevolutionäre Entwicklung“ aufzuhalten.149 Damit gab er ein Signal für die Einrichtung von Zuführungspunkten. In Dresden hatte Modrow bereits am 22. September nach Forderungen Honeckers „die konsequente Isolierung aller konterrevolutionären Kräfte“ angeordnet.150 Da nun wegen der Massenzuführungen die Zuführungspunkte in den VP - Kreisämtern nicht mehr ausreichten, wurde um 0.13 Uhr des 4. Oktober durch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei die Festnahmeaktion „Filter II“ ausgelöst und gegen 1.00 Uhr in der Kaserne der 8. VP - Bereitschaft auf der Kurt - FischerAllee ein „Zentraler Zuführungspunkt“ eingerichtet.151 Hierhin wurden nun zugeführte Ausreisewillige, Demonstranten und Passanten gebracht. Schon bei den Festnahmen wurde Gewalt auch gegen Unbeteiligte angewandt. Junge Frauen, die nichts mit den Demonstrationen zu tun hatten, wurden mit dem Schlagstock geschlagen, mussten sich mit hinter dem Nacken verschränkten Armen auf den Boden legen und die Beine spreizen : „Wir lagen wehrlos, schockiert, entsetzt, deprimiert und tief betroffen am Boden“, berichtete eine Beteiligte. Eine Frau, die lediglich die Bahnhofstoiletten benutzen wollte, wurde auf einen Lkw geworfen und mit einem Schlagstock mehrfach auf den Kopf geschlagen.152 Auch im Zuführungspunkt lebten Strafvollzugsmitarbeiter ihre Aggressionen an den Inhaftierten aus.153 Selbst das MfS registrierte, dass es im Zentralen Zuführungspunkt am Morgen des 5. Oktober „Aggressivität unter den eingesetzten Sicherungskräften“ gab. Alle Zugeführten mussten sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen an Wänden aufstellen. Es gab Unterkühlungen, die ärztlich behandelt werden mussten. Vor allem die Angehörigen der Strafvollzugsschule Radebeul schlugen massiv mit Schlagstöcken auf Zugeführte ein, schrieen sie an und zwangen sie, sich grundsätzlich im Laufschritt zu bewegen. Einige Festgenommene wurden „über einen längeren Zeitraum auf dem Hof der 8. VPB mit angelegten Hand - bzw. Fußfesseln an der Hauswand aufgestellt“. Es kam zu „unkontrollierten Übergriffen von Bewachungskräften“ und zu Verletzungen 149 MfS, Mielke : Hinweise für Kollegiumssitzung am 3. 10. 1989 ( DomA, Dokumentation 30. 9.–8. 10. 1989, Material des MfS ); Aussage eines MfS - Offiziers. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 41, 69 f. 150 Modrow an 1. Sekretäre der SED - KL, SL und SBL Dresden ( einschl. TU Dresden ) vom 22. 9. 1989 ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 24). 151 Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023). 152 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( UB Grohedo, PB Reinhard Müller / PB Superintendent Wolfgang Scheibner ). 153 Vgl. MdI: Bericht des Bezirkes Dresden, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024); Bahrmann / Links, Wir sind ein Volk, S. 15; Anzeigen und Berichte Betroffener. In : Dokumentation zur politischen Justiz V, S. 45–47.

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durch den Einsatz der Schlagstöcke.154 Der Kommandeur der 8. VP - Bereitschaft berichtete später, die Festgenommenen hätten bis zu sieben Stunden stehen müssen. Es wurde Gewalt angewandt, wenn sie sich widersetzten und „versuchten, Stimmung zu machen“. Dann wurde der Schlagstock eingesetzt, und sie „nahmen außerhalb der Garage mit dem Kopf am Garagentor und Hände im Nacken Aufstellung, bis sie sich wieder beruhigt hatten“. Die Gewalt sei weniger von den Angehörigen der VP - Bereitschaft – „diese brüllten nur extrem laut“ –, sondern von Offiziersschülern des Strafvollzugs und Schülern der VP Schule Bautzen angewandt worden.155 Ein Betroffener berichtete : „Überall hagelte es Schläge. Es ging zu wie beim Viehtreiben. Ich bekam im Laufen Fußtritte, Knüppelschläge auf das Gesäß und einen gezielten Knüppelschlag auf den Hinterkopf.“156 Der dafür verantwortliche Leiter der Bezirkseinsatzleitung, Hans Modrow, erklärte später, wie üblich, von nichts etwas gewusst zu haben.157 Reaktionen der Bevölkerung Am 4. Oktober weitete das Politbüro die Aussetzung des pass - und visafreien Verkehrs auch auf den Transitverkehr nach Bulgarien und Rumänien aus. Die Grenze zur ČSSR und nach Polen wurde durch MfS, Ministerium des Innern und NVA „in ihrer Gesamtlänge unter Kontrolle“ genommen.158 Mielke und Dickel ordneten an, Anträge auf Privatreisen nicht mehr entgegenzunehmen und Auskünfte nur mündlich zu erteilen, damit „der zentrale Charakter dieser Entscheidung nicht öffentlich bekannt“ werde.159 Da der visafreie Reiseverkehr nach Polen bereits 1980 einmal „vorübergehend“ ausgesetzt und bis dato nicht wieder erlaubt worden war, rechnete die Bevölkerung mit einem Ende aller freien Reisen in die „Bruderstaaten“, die einzigen Länder, in welche „normale“ DDR - Bürger überhaupt reisen konnten. Die Unzufriedenheit der Menschen nahm deshalb schnell zu. Die Maßnahmen wurden als endgültige Bankrotterklä154 BVfS Dresden vom 12. 10. 1989 : Einschätzung zum ZZP der 8. VP - Bereitschaft. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 442 f. Zum Schlagstockeinsatz in der 8. VPB Dresden vom 3.–8. 10. 1989 vgl. BVfS Dresden an 1. SdL, Oberst Anders vom 26. 10. 1989 : Ergebnisse der disziplinären Untersuchungen gegen sieben Angehörige der 8. VPB sowie Stand der Anzeigen - und Beschwerdebearbeitung in der BDVP Dresden im Zusammenhang mit den durchgeführten Ordnungseinsätzen im Zeitraum vom 3.–8. 10. 1989. In : ebd., Bl. 518 f. 155 Kommandeur der 8. VPB Dresden vom 13. 10. 1989 : Ablauf im ZZP ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 448 f.). 156 Bahrmann / Links, Wir sind ein Volk, S. 13. 157 Vgl. Hans Modrow, Bilanz nach 150 Tagen. In : Die Zeit vom 13. 4. 1990. 158 Protokoll der Sitzung des Politbüros der SED vom 4. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2350 und J IV 2/2A /3245). 159 MfS, Dokumentenverwaltung, Nr. 103624 vom 5. 10. 1989 : Mielke an Leiter der Diensteinheiten. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 197. Vgl. Fernschreiben 176 vom 3. 10. 1989 an alle BDVP, VPKÄ. In : Klemens, Geheime Verschlusssache, S. 196–198.

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rung des Regimes angesehen. Das MfS meldete, die Bevölkerung fühle sich nun völlig eingesperrt. Viele meinten, nun bleibe nur noch die Ausreise.160 In doppelter Weise war die Bevölkerung grenznaher Kreise betroffen. Sie hatte den kleinen Grenzverkehr für Einkäufe genutzt. Hier zog man Vergleiche mit 1968, befürchtete, es könnte sich um einen „Dauerzustand“ handeln und „das letzte attraktive sozialistische Reiseland verloren“ gehen.161 Schnell gab es Gerüchte, die Grenze nach Polen wäre bereits „mit Stacheldraht versperrt“.162 „Äußerst negative Reaktionen“ wurden aus Ober wiesenthal gemeldet. Sie waren von „Hass auf die DDR und die Regierung getragen“. Es gab Stimmen wie : „Da kommen mir vor Wut die Tränen über unsere Scheiß - Regierung“ und „wir werden wie Sklaven behandelt“. In Annaberg - Buchholz füllten sich nach der Veröffentlichung „fast schlagartig“ einige Gaststätten, wo es heftige Diskussionsrunden „mit durchweg negativen bis feindlichen Inhalten“ gab. Das MfS zitierte Stimmen wie : „Der Staat DDR ist am Ende; Die alte Regierung, die Betonköpfe, muss abgelöst und Reformen durchgesetzt werden; Hätten wir gewusst, dass so etwas passiert, wären wir auch vorher über Ungarn abgehauen.“ Wenn man wüsste, wo der Zug durchfährt, müsste man aufspringen; die es versucht haben, hätten „goldrichtig“ gehandelt.163 Ganz überraschend kam die Grenzschließung wohl nicht. So hatten Beschäftigte des VEB Halbmond Teppiche Oelsnitz Wetten abgeschlossen, wann die Grenze geschlossen werde. Alle hatten auf die Zeit nach dem 7. Oktober getippt.164 Auch hier war die Stimmung gereizt. Man sei nun „vollkommen eingesperrt“, die DDR ein Gefängnis. „Es ist“, so das MfS in Oelsnitz, „Unruhe unter der Bevölkerung zu verzeichnen. Ältere Menschen bevorraten sich mit Lebensmitteln.“165 Auch im Kreis Annaberg war die Grenzschließung Thema Nr. 1. Mitarbeiter des Rates der Stadt meinten, dass Unzufriedene und Fluchtwillige „nun erst recht gegen den Staat mobilisiert“ würden.166 Die Bürger im Kreis Brand - Erbisdorf sahen nicht ein, dass sie für Handlungen anderer bestraft wurden. Der Bevölkerung sei „die letzte Auslandsreisemöglichkeit genommen“ worden. Man sitze endgültig „im Käfig“.167 Aus den Kreisen Bischofswerda, Freital, Meißen und Riesa wurden spontane Austritte von SED - Mitgliedern gemeldet.168 Im VEB Zinnerz Altenberg im Erzgebirge setzte die Belegschaft mit einem Bummelstreik durch, dass Bewohner Altenbergs und umliegender Orte Sondergenehmigungen für Reisen 160 161 162 163 164 165 166 167 168

Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 438/89 vom 4. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 192 f. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL, 1, Bl. 41–47). SED - KL Bischofswerda vom 6. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). KDfS Annaberg vom 6. 10. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 130–135). Vgl. KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Info ( ebd. 2145, 1, Bl. 40–44). KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 45 f.); KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Lageinformation ( ebd., Bl. 47–51). KDfS Annaberg vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 75–77). KDfS Brand - Erbisdorf vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 165–167). Vgl. SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Info ( ABL, EA 891005_3); SED - KL Freital vom 5. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550).

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in die ČSSR erhielten.169 Auch in Hohenstein - Ernstthal gab es wegen der Einstellung des Reiseverkehrs Austritte aus der SED. In den Betrieben wurde gefordert, mehr Meinungsvielfalt zuzulassen und gegenüber „Andersdenkenden“ die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu überprüfen.170 Überall bei den VP - Kreisämtern erkundigten sich Bürger am Morgen des 4. Oktober über die Bedingungen für Erhalt eines Visums, allein in Dresden waren dies ca. 1 500. Überall gab es aggressive Reaktionen.171 In den Kreisen Bischofswerda und DresdenLand wurden sofort nach Bekanntgabe der Reisebeschränkungen 40 neue Anträge auf sofortige Ausreise gestellt.172 Einzelproteste Die Wut über die Grenzschließung ließ auch die Anzahl widerständiger Einzelaktionen anwachsen. Schwerpunkte waren am 3. Oktober Dresden sowie die Kreise Pirna und Bautzen. Sie richteten sich gegen die SED und die Einschränkung des Reiseverkehrs. Gleichzeitig wurde die Zulassung des Neuen Forums gefordert.173 So brachten zwei Radebeuler Bürger in Coswig die Losungen „SED verrecke“ und „Tod Honecker“ an. Wegen ähnlicher Losungen, nämlich „Honecker verrecke“ und „DDR - Polizeistaat“, kamen zwei Dresdner in Haft.174 An Wandzeitungen im VEB Konfektion Großröhrsdorf ( Bischofswerda ) und im Zentralinstitut für Festkörperphysik und Werkstoffforschung Dresden hing der Aufruf des Neuen Forums. In Bahratal ( Pirna ) war im VEB Solidor „No SED“ zu lesen, in Bad Gottleuba ( Pirna ) stand „SED Scheiße“ und „Rote raus“ an der Wand, in Pirna prangte an der Elbmauer „Freiheit Brüderlichkeit“, „Gorbi“, „Neues Forum“, „Menschenrechte“ sowie „Reisefreiheit statt Massenflucht“.175 In den Gemeinden Schönborn - Dreiwerden, Seifersbach, Sachsenburg und Irbersdorf ( Hainichen ) waren auf der Fahrbahn Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums und Angriffe auf die SED geschrieben.176 In Waldheim (Döbeln ) stand in großen Buchstaben „NF“ auf der Straße.177 169 SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., 13218). 170 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 2. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 171–173). 171 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1807, Bl. 165–167); BDVP Dresden vom 4. 10. 1989 ( ABL, Dresden ); SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Lage ( ebd., EA 891005_3); Nyffenegger an Dickel vom 5. 10. 1989 : Maßnahmen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 219–222). 172 Vgl. SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Info ( ABL, EA 891005_3). 173 Vgl. BVfS Dresden vom 5. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 263, 266). 174 Vgl. BVfS Dresden an Modrow vom 7. 10. 1989: Lage ( ebd., 1. SdL 1, S. 69–77). 175 BVfS Dresden an Modrow vom 4. 10. 1989 : Neues Forum ( ebd., XX, 9181, S. 267, 269– 271). 176 KDfS Hainichen vom 3. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 112–116). 177 KDfS Döbeln vom 4. und 10. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 520, Bl. 3–7).

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Am 4. Oktober meldete Modrow Honecker eine Zunahme der „Hetzschriften“ gegen die SED. Es gebe Forderungen an öffentlichen Gebäuden, auf Straßen und in Betrieben nach Reformen, Reisefreiheit, Demokratie und Wiedervereinigung sowie mit antisowjetischem Inhalt.178 In Bannewitz ( Freital ) stand an der Bushaltestelle „Mein Knast DDR“ und „Reformen“.179 In der Meißener Obergasse hing die „Hetzlosung“ „Demokratischer Aufbruch mit dem Neuen Forum“.180 In Pirna gab es Aktionen für das Neue Forum.181 Auf der Straße von Rositz nach Fichtenhainichen ( Altenburg ) stand „Schüsse, Erich tritt ab – Sklave in der DDR tut weh, Freiheit ade !“182 In Delitzsch stellte jemand ein Glas mit einem Zettel in das Schaufenster einer Sekundärrohstoffannahmestelle, auf dem die Zulassung des Neuen Forums gefordert wurde. Selbst das wurde polizeilich bearbeitet.183 In Stollberg ( Schwarzenberg ) war am 5. Oktober an einigen Wänden „Freiheit“ zu lesen.184 Im Kreis Annaberg wurde überlegt, die Feiern zum Jahrestag zu stören, indem man Fahnen und Transparente abreißt „oder das Rathaus abbrennt“. Wenn es so weitergehe, könne es zum Bürgerkrieg kommen.185 In Dommitzsch ( Torgau ) hing eine „BRD - Fahne mit weißem Punkt“ an einem Haus.186 In der Nacht zum 5. Oktober gab es im Kreis Schmölln „Schmierereien“ wie „Reisefreiheit für alle“, „Reformen“, „Demokratie“, „Lasst uns raus“, „Von der SU lernen heißt siegen“. An anderer Stelle war ein großes „D“ über ein Plakat „40 Jahre DDR“ gemalt.187 Am Kraftwerk Thierbach ( Borna ) hing ein Zettel : „An die SED, 40 Jahre Diktatur, jetzt kommt eure Stunde X“.188

178 Hans Modrow an Erich Honecker vom 4. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). Vgl. BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Tagesbericht zum 40. Jahrestag ( ebd.). 179 BVfS Dresden an Modrow vom 6. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 252, 258). 180 SED - KL Meißen vom 9. 10. 1989 : Info ( ABL, EA, 891009_5). 181 Vgl. RdB Dresden vom 4.–6. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 11). 182 SED - KL Altenburg vom 4. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED, 200, Bl. 22). 183 Vgl. BDVP Leipzig vom 8. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 1450). 184 KDfS Stollberg : Reaktion, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 122–128). 185 KDfS Annaberg vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG, 529, 1, Bl. 72–74). 186 VPKA Torgau vom 4.–5. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Torgau, 7339, Bl. 402). 187 VPKA Schmölln vom 5.–6. 10. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 188 Lagefilm vom 7. 10. 1989 ( ebd., SED Stadt Leipzig, 864, Bl. 129).

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Grenzsicherung In der Nacht zum 4. Oktober nahm die Zahl der Fluchtversuche über die tschechische Grenze zu. Unterstützt durch tschechische und polnische Grenzer wurden im Bezirk Dresden 111 Personen festgenommen.189 Am Morgen des 4. Oktober wurde auch an der innerdeutschen Grenze zur verstärkten Grenzsicherung übergegangen. Bei den Grenztruppen im Bereich Pirna stand ein Hubschrauber bereit. Auch die Präsenz der Volkspolizei an der Grenze wurde verstärkt.190 Es kamen zusätzliche Kräfte und Doppelstreifen zum Einsatz,191 später auch Einheiten der NVA.192 Die SED - Kreisleitungen der Grenzkreise ordneten „erhöhte politische Wachsamkeit, Ordnung und Sicherheit“ an.193 Obwohl es eine „wachsende Bereitschaft von Genossen“ gab, „die Grenzsicherungskräfte aktiv zu unterstützen“,194 stieg die Zahl der Fluchtversuche. In Dippoldiswalde versuchten allein am 6. Oktober etwa 100 Jugendliche einen Grenzübertritt.195 Im Bezirk wurden an diesem Tag 98 Personen festgenommen.196 Ähnlich war die Lage im Bezirk Karl - Marx - Stadt. Hier wurden an den Straßen in Richtung Grenze VP - Kontrollpunkte errichtet.197 In Klingenthal beteiligten sich Kampfgruppen und NVA an der Jagd auf flüchtige Bürger.198 Offenbar hatte das einen Hauch von Abenteuer, jedenfalls meldete das MfS im Kreis BrandErbisdorf, Grenztruppen, Volkspolizei und freiwillige Helfer bewältigten ihre Aufgabe „mit Optimismus und hoher Einsatzbereitschaft“.199 So konnten allein im Kreis Schwarzenberg vom 3. bis 6. Oktober 50 Erwachsene und vier Kinder gefangengenommen werden. Die Hälfte übergaben tschechische Genossen, die sich an der Hatz beteiligten. Vierzig Personen kamen allein hier in Haft.200 Im 189 Vgl. BVfS Dresden : Info über den 3. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 191– 193); Stab der Zivilverteidigung im Verantwortungsbereich des RdB Dresden vom 6. 10. 1989: Lagemeldung ( ebd., Bl. 20, 21); KDfS Brand - Erbisdorf vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 165–167); BDVP Dresden vom 3. 10. 1989 : Lagebericht vom Bahnhof Bad Schandau und GüST Schmilka ( ABL, EA 891003). 190 Vgl. BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Maßnahmen im Kontroll - und Filtrierungsprozess in den grenzüberschreitenden Zügen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 178 f.). 191 Vgl. KDfS Marienberg vom 4. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538). 192 Vgl. KDfS Marienberg vom 10. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 212–215). 193 SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Info ( ABL, EA 891005_3); SED - KL Bischofswerda: Info, o. D. ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 194 SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 195 Vgl. Stab der Zivilverteidigung im Verantwortungsbereich des RdB Dresden vom 6. 10. 1989: Lagemeldung ( ebd., Bl. 20 f.). 196 Vgl. RdB Dresden vom 4.–6. 10. 1989 : Lagemeldung ( ebd., Bl. 12). 197 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 45 f.); KDfS Marienberg vom 4. 10. 1989 : Info ( ebd. 538). 198 Vgl. Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution – Erinnerungen eines Klingenthalers ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang, Schneeberg ). 199 KDfS Brand - Erbisdorf vom 7. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 156–158). 200 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 72–84).

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Kreis Annaberg wurden im gleichen Zeitraum 106 Personen eingesperrt, von denen 88 Haftstrafen erhielten.201 Prag In der Prager Botschaft spitzte sich die Lage indessen am 4. Oktober weiter zu. Wegen des Andrangs wurden nur noch Frauen mit Kleinkindern aufgenommen. Selbst im Garten war kaum noch ein Platz frei. Da die ČSSR- Behörden sich weigerten, Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, verbrachten viele die Nacht auf der Straße. Bewohner der umliegenden Häuser reichten ihnen Tee, Milch, Suppe und Decken.202 Am Morgen ließ Ministerpräsident Ladislav Adamec Honecker mitteilen, die ČSSR werde selbst Maßnahmen ergreifen, wenn die DDR ihre Bürger nicht abtransportiere. Man sei bereit und vorbereitet, sie „direkt in die BRD zu transportieren“.203 Daraufhin beschloss das Politbüro, die Ausreiseaktion um 17.00 Uhr zu starten. Gegen 18.00 Uhr fuhr schließlich der erste Sonderzug aus Prag ab. Von nun an wurden über 7 600 Personen mit Sonderzügen über das Gebiet der DDR ins fränkische Hof transportiert. Den 1. Sekretären der SED - Bezirksleitungen Dresden und Karl - Marx - Stadt, Modrow und Lorenz, wurde mitgeteilt, in der Nacht zum 5. Oktober würden mehrere Züge mit Ausreisewilligen durch ihre Bezirke fahren. Sicherheitsmaßnahmen würden vom MfS zentral geleitet.204 Da Modrow neue Krawalle befürchtete, schlug er Verkehrsminister Otto Arndt vor, die Züge über tschechisches Gebiet und nur eine kurze Strecke von Bad Brambach nach Hof zu leiten. Ihm wurde jedoch erklärt, die Züge stünden bereits an der Grenze vor Bad Schandau.205 Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden erhielt die Anweisung, die Streckenführung zu sichern, Unterbrechungen, Zustiege auf Bahnhöfen und freier Strecke konsequent auszuschließen sowie eine „Annäherung unberechtigter Personen an das Eisenbahngelände rechtzeitig zu verhindern“.206 Als wäre es die Absicht der SED - Führung, die Stimmung weiter anzuheizen, beförderten in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober Sonderzüge 6 242 DDR - Bürger von Prag über die DDR nach Hof.207 Zwischen 1.00 und 2.00 Uhr rollten die Züge durch Dresden. Die von den Westmedien verbreite Meldung der zweiten Zugdurchfahrt löste „bei den aus dem Reisestrom herausgelösten und sich 201 Vgl. KDfS Annaberg vom 5. 10. 1989 : Lage an der Staatsgrenze Süd ( ebd. 529, 1, Bl. 70 f.). 202 Vgl. Neue Zürcher Zeitung / Die Welt vom 6. 10. 1989. 203 Günther Kleiber an Erich Honecker vom 4. 10. 1989. In : Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 366. 204 Vgl. Strafsache gegen Honecker und andere. In : ebd., S. 114 f. 205 Vgl. Hans Modrow, Bilanz nach 150 Tagen. Rückblick auf meine Regierungszeit. In : Die Zeit vom 13. 4. 1990; ders., Ich wollte ein neues Deutschland, S. 261 f. 206 MdI an Chef der BDVP Dresden zu den Transporten von Prag vom 4. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 207 Vgl. Statistische Aufbereitung der Aktion „Schiene“ vom 4./5.10.1989: Belegung der Züge ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 130–132); Horsch, Das kann, S. 9.

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noch in Dresden in hoher Anzahl konzentrierenden Antragstellern und anderen negativen Kräften“ Unruhe aus.208 Zahlreiche Ausreisewillige aus der gesamten DDR fuhren an die Bahnstrecke und belagerten Bahnhöfe und Haltepunkte. Im Bezirk Karl - Marx - Stadt zählte das Ministerium des Innern allein am 4. Oktober 3 500 Personen, die versuchten, auf fahrende Züge zu springen. Überall räumten Einheiten der Transportpolizei und der Kampfgruppen sowie MfS - Mitarbeiter mit Sonderausrüstung, Schlagstöcken und Hunden die Bahnhöfe und nahmen Demonstranten fest.209 In Dresden kam es in Folge der Maßnahmen zur Eskalation. Dresden am Abend Bis gegen Mittag war es im Stadtgebiet ruhig geblieben. Am Hauptbahnhof sammelten sich jedoch immer mehr zurückgewiesene Reisende.210 Am Nachmittag begaben sich je rund 50 Personen in die Kreuz - und in die Hofkirche und forderten ihre Ausreise. Um 15.00 Uhr wurde am Hauptbahnhof die Durchfahrt der 19 Sonderzüge vorbereitet. Da deren Transit dank Westmedien bekannt war, kam es hier zu Personenansammlungen. Gegen 16.45 Uhr wurde der Querbahnsteig in Richtung Bayrische Straße geräumt. 500 Menschen skandierten „Wir wollen Freiheit“, „Wir wollen Gorbatschow“, „Ihr Schweine“, „Faschisten raus“, „Ihr werdet mit Westgeld bezahlt“ und „Schönhubers Knüppelpolizei“. Gegen 18.00 Uhr sammelten sich am Bahnhofsvorplatz vor dem Lenindenkmal erneut größere Menschengruppen, die Sprechchöre riefen und die „Internationale“ sangen. Um 18.45 Uhr befahl das MdI erhöhte Einsatzbereitschaft. Es folgte eine zweite Räumung des Bahnhofs von inzwischen rund 1 000 Personen. Wenig später hielten sich in der Kuppelhalle erneut 2 500 Menschen auf. Nach 20.15 Uhr eskalierte die Lage. Die Eindringlinge zeigten „ein äußerst aggressives Vorgehen“ und warfen Pflastersteine, Brandflaschen sowie andere Gegenstände. Sie drangen in Betriebseinrichtungen der Deutschen Reichsbahn und der Mitropa ein und zerstörten Einrichtungen.211 Auf dem Bahnhofsvorplatz befanden sich weitere 6 000 Personen. Aus Sicht der Volkspolizei „bestand die Gefahr, dass der Eingang zur Querhalle gestürmt wird“.212 Deswegen wurde eine Einheit der Offiziershochschule der Bereitschaftspolizei Dresden herangeführt, mit deren Hilfe der Bahnhof gegen 20.45 Uhr erneut geräumt wurde. Die Polizei verbarrikadierte sich im Bereich der Bahnsteige, auf denen die Züge erwartet wurden, und setzte trotz kalten Wetters Wasserschläuche gegen die 208 BVfS Dresden : Lageeinschätzung für den 3.–8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 209 Vgl. MdI : Bericht von Karl - Marx - Stadt, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 114–132 ( ebd., 52461). 210 Zur Entwicklung vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 138, 140, 145, 148 und 150 ( BArch Berlin, DO 1); Horst Böhm an Erich Mielke vom 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 211 BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ebd. ). 212 Nyffenegger an Dickel vom 5. 10. 1989 : Maßnahmen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 219–222).

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Demonstranten ein. Die Ansammlung wuchs auf ca. 20 000 Demonstranten an. Sie riefen „Wir wollen raus“, „Wir wollen Gorbatschow“ sowie „Freiheit“ und beschimpften Uniformierte als „Faschisten“ und „Knüppelpolizei“. Militante Demonstranten versuchten, Absperrungen zu durchbrechen und zerschlugen Bahnhofstüren. Die Volkspolizei konnte wichtige Absperrungen mit Mühe halten. Ein Intershop - Laden wurde erheblich beschädigt. Vor dem Haupteingang wurde das Kopfsteinpflaster aufgerissen, um Steine zum Werfen zu gewinnen. Es bestand, so Böhm an Mielke, die „Gefahr einer vollständigen Besetzung des gesamten Bahnhofsgeländes“. Die Sicherungskräfte „leisteten aufopferungsvollen Widerstand und konnten ein weiteres Eindringen in das Bahnhofsgelände mit hohem Einsatz verhindern“. Dank weiterer Kompanien der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Halle gelang es, den Druck auf die Bahnhofseingänge zu vermindern und die im Bahnhof befindlichen ca. 700 „feindlich - negativen Kräfte“ nach außen zu drängen.213 Nach Einschätzung des MfS waren viele der Demonstranten Leipziger, die ihre „Erfahrungen feindlich - negativen Wirkens von dort in Dresden am Abend des 4. 10. 1989 vordemonstrierten und dadurch die Dresdner feindlich - negativen Elemente ermutigt[ en ]“.214 Nachträglich wurde freilich festgestellt, dass einige der aggressivsten Provokateure nicht aus Leipzig kamen, sondern zivile Mitarbeiter des MfS waren. Sie heizten die Stimmung künstlich an. Schon allein die Tatsache, dass die Züge über Dresden geleitet wurden, kann entweder als bewusstes Schüren der Aggressionen oder als völlige Ignoranz gewertet werden.215 Auffällig war auch, dass sich Offiziere der Bereitschaftspolizei sowie Mitarbeiter des MfS und der Schutzpolizei zurückhielten und stattdessen wehrpflichtige Bereitschaftspolizisten in die vordersten Linien schickten. Ein Wehrpflichtiger berichtete später : „Uns stellte man dorthin, wo es am gefährlichsten war. Wir hatten nur Angst. Auf unsere Schilde prasselten Steine, vor uns schlugen Brand - und Säureflaschen auf den Asphalt. Zwei Mann von uns kippten um. Steine hatten ihre Visiere durchschlagen. Danach wurden wir aus der ersten Reihe herausgenommen und mussten unsere Schilde ablegen. Dann wurden wir zu Fünfergruppen aufgeteilt und wurden in die Massen reingejagt, um die Steinwerfer herauszuholen. Unsere Offiziere, die Schutzpolizei und die Stasi blieben in sicherem Abstand hinter der Sperrkette. In diesen Minuten hatte ich das erste und bis jetzt das einzige Mal in meinem Leben das Gefühl von Todesangst. Vor uns die wütende Menschenmenge und hinter uns Offiziere, die Stasi und in der Kaserne der Militärstaatsanwalt.“216

213 Horst Böhm an Erich Mielke vom 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 214 BVfS Dresden : Lageeinschätzung für den 3.–8. 10. 1989 ( ebd., EA 891009_2). 215 Vgl. Erkenntnisse der UUK über die Ausschreitungen in Dresden. Vgl. Der Spiegel vom 12. 2. 1990. 216 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( UB Grohedo, PB Reinhard Müller / PB Superintendent Wolfgang Scheibner ).

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Gegen 21.00 Uhr wurde der Bahnverkehr eingestellt. Nyffenegger erbat von Dickel die Zustimmung zum Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern.217 Die Bestätigung für den Einsatz von Wasser werfern, den nur der Innenminister selbst erteilen konnte, erhielt Dickel von Krenz, der sich die Erlaubnis seinerseits von Honecker bestätigen ließ.218 Daraufhin erteilte der Chef des Stabes des MdI, Generaloberst Wagner, Nyffenegger die Genehmigung,219 was zur weiteren Eskalation führte. Ein Funkstreifenwagen der Transportpolizei wurde umgekippt und geriet in Brand. Gegen 21.45 Uhr drangen Demonstranten erneut in den Bahnhof ein und demolierten Einrichtungen.220 Nach Angaben Modrows wurden 320 Quadratmeter Fensterglas, 200 Scheiben in der Nordhalle, 88 große Scheiben und 44 kleine in den Büroräumen im Erdgeschoss am Leninplatz, alle Innentüren der Mittelhalle, alle Außentüren einschließlich der Alu - Rahmen, alle Schaukästen, 35 Quadratmeter Leuchtstoff lampen, sämtliche Fahrkartenautomaten einschließlich Drucker, Uhren und vieles andere mehr zerstört.221 Gegen 22.10 Uhr wurden drei weitere Einsatzkompanien der Bereitschaftspolizei Halle in Marsch gesetzt.222 Um die Lage zu beruhigen, verkündete die Volkspolizei über Lautsprecher, Ausreisewillige sollten sich nach Hause begeben, ihre Ausreiseanträge würden binnen drei Tagen bearbeitet. Da sich dies als falsch erwies und zahlreiche Ausreisewillige von den Behörden in ihren Wohnorten wie üblich abgewiesen wurden, kehrten viele von ihnen am 6. Oktober nach Dresden zurück und stärkten das dann allerdings friedlichere Protestpotenzial.223 Beschluss zum NVA - Einsatz Gegen 22.15 Uhr rief Modrow in seiner Funktion als Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung Dresden224 Keßler an und bat um den Einsatz der Armee.225 Der Wunsch war nicht aus der Luft gegriffen. Zuvor hatte die NVA - Führung auf Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates angeboten, die vorbereiteten Hun217 Vgl. Chefs der BDVP vom 4. 10. 1989 : Aktennotiz ( ABL, Dresden ). 218 So Lothar Ahrendt an Harry Harrland vom 27. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). Vgl. Aussage Wagner. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 188. 219 Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023). 220 Vgl. BDVP Dresden an MdI vom 4. 10. 1989 : Lagebericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 214 f.). 221 Vgl. Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 270. 222 Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 147 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 223 Vgl. Abschlussbericht der UUK an StVV Dresden zu Handlungen der Schutz - und Sicherheitsorgane am 3.–10. 10. 1989. In : Dokumentation zur politischen Justiz V, S. 38–44. 224 Vgl. Konzept für die Meldung der Lage an Egon Krenz am 5. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen Minderheitenvotum Arnold und Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 278–280. 225 Vgl. Keßler, Zur Sache, S. 264 f.

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dertschaften zur Verfügung zu stellen.226 Nyffenegger hatte ihn zuvor informiert, dass er den Chef des Hauptstabes der NVA um Unterstützung gebeten habe. Er bat ihn, Keßler „in dieser Frage anzusprechen“.227 Auch Böhm hatte ihm dies empfohlen,228 und Modrow war dem vom zentralen Stab befohlenen Vorgehen gefolgt, um eine Untergrabung der Stabilität des Regimes zu verhindern.229 Gegenüber dem ZK der SED erklärte er später : „Keiner kann daran Zweifel haben, ich habe die Verantwortung als Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung getragen, zu jeder Zeit, in jeder Phase, und habe auch in diesen Kämpfen versucht, gemeinsam mit den Genossen der Nationalen Volksarmee, den Streitkräften und unseren Sicherheitsorganen für unsere Arbeiter - und - Bauern Macht mit all dem, was erforderlich ist, einzustehen.“230 Auch das ZK betonte später, die Führungsorgane des Militärbezirks III und der 7. Panzerdivision hätten „die konkrete, zielklare Führung der Einsätze durch die Bezirkseinsatzleitungen“ gelobt.231 Nach Rücksprache mit Mielke schlug Keßler vor, Kräfte der Militärakademie sowie NVA - Einheiten aus dem Raum Dresden einzusetzen und Modrow zu unterstellen. Dieser stimmte zu, befahl nach Rücksprache mit führenden Generälen aller Waffengattungen für den Militärbezirk III ( Leipzig ) „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ und aktivierte die „nichtstrukturmäßigen Einheiten“ der Militärakademie „Friedrich Engels“, der 7. Panzerdivision sowie der im Bezirk Dresden stationierten Offiziershochschulen Löbau, Kamenz und Bautzen.232 Das Kommando erhielt der Chef der Militärakademie, Generalleutnant Manfred Gehmert.233 Kurz nach 22.00 Uhr wies Nyffenegger als Einsatzleiter in Absprache mit Modrow den Einsatz der NVA und der Kampfgruppen an.234 Außerdem wurde um 23.00 Uhr eine weitere Kompanie der Bereitschafts226 Vgl. Aussagen Gerhard Straßenburg und Roland Wötzel. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 52 f. 227 Aussage Hans Modrow am 22. 4. 1992 vor dem Sonderausschuss des 1. Sächsischen Landtages zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch. Zit. in Staatanwaltschaft Dresden vom 10. 3. 1994 : Anklageschrift in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 4 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 228 Horst Böhm an Erich Mielke vom 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). Vgl. Interview mit Hans Modrow. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 190. 229 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 14. 230 Hans Modrow. Zit. in Der Spiegel vom 12. 2. 1990. 231 Vgl. Sektor NVA vom 13. 10. 1989 : Info über den Einsatz des MB - III zur Herstellung von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 450 f.). Zwar geht aus dem Dokument seine organisatorische Zuordnung nicht eindeutig hervor, plausibel ist aber die Zuordnung zur Abteilung Sicherheit des ZK der SED. Vgl. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 248. 232 Vgl. Hoffmann, Das letzte Kommando, S. 11 f.; Oberlandesgericht Dresden, 1. Strafsenat : Beschluss vom 25. 4. 1996 in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 26 f. (HAIT, Modrow - Prozess 1996); Der Spiegel vom 12. 2. 1990. 233 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 271); Minister für Nationale Verteidigung vom 6. 2. 1990 : Zu den Einsatzhundertschaften (ebd., VA01/37619, Bl. 103). 234 Vgl. BVfS Dresden : Telefonate des Leiters vom 4.–5. 10. 1989; Lagefilm vom 4. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen Minderheitenvotum Arnold und Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 82–86.

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polizei mit Sonderausrüstung und Reizgasgranaten bereitgestellt. Raimund Kokott wurde um 23.10 Uhr im Verteidigungsministerium vom Stellvertreter des Ministers, Horst Brünner, darüber informiert, dass „die Lage in Dresden nicht unter Kontrolle“ sei. Er erhielt den Befehl, mit Generalleutnant Gehmert per Hubschrauber von Strausberg nach Dresden zu fliegen und dafür zu sorgen, dass Kräfte der NVA die Volkspolizei bei der „Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit“ unterstützen und für die Koordinierung von NVA und Volkspolizei sorgen.235 In Dresden begann um 23.15 Uhr eine BEL - Beratung, bei der Modrow informierte, Keßler habe seiner Bitte entsprochen, je zwei Bataillone der 7. Panzerdivision und der Offiziershochschule der NVA in Löbau, einhundert Absolventen der Militärakademie „Friedrich Engels“ Dresden und sieben Hundertschaften der Kampfgruppen bereitzustellen. Diese Kräfte wurden nach ihrem Eintreffen durch Nyffenegger gemeinsam mit MfS und NVA geführt. Krenz wurde durch Modrow ebenfalls informiert.236 Zur gleichen Zeit setzte die Volkspolizei erneut Tränengas ein und löste bis 2.30 Uhr eine Demonstration von zuletzt noch ca. 3 000 Personen auf. „Rädelsführer“ wurden festgenommen. Unterdessen warteten in Bad Schandau drei Sonderzüge aus Prag auf ihre Durchfahrt.237 Das Militär sollte nun die Durchfahrt der Sonderzüge sichern, die ab 1.52 Uhr aus Richtung Bad Schandau anrollten und den Bezirk in Richtung Karl - Marx - Stadt zwischen 2.00 und 3.00 Uhr ohne Vorkommnisse verließen.238 Um 2. 20 Uhr wurde der normale Personenverkehr wieder aufgenommen. Als Gehmert gegen 2.30 Uhr eintraf, ging gerade die BEL - Sitzung239 zu Ende, an der zuletzt neben Modrow auch Nyffenegger, Geppert, Schlase, Böhm 235 Vgl. Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 15 f.; ders. in Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 90 f.; Aussage Hans Modrow. In : Landgericht Dresden, 3. Strafkammer sowie Beschluss vom 15.9.1994 in der Strafsache gegen Hans Modrow, S. 29 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 236 Vgl. BVfS Dresden vom 5. 10. 1989 : Aktenvermerk ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 130). 237 BDVP Dresden vom 4. 10. 1989 : Lagebericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 214– 215). 238 Willi Nyffenegger an Friedrich Dickel vom 5. 10. 1989 ( ebd., Bl. 219–222). 239 Vgl. Konzept für Meldung der Lage an Erich Krenz am 5. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen Minderheitenvotum Arnold und Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 278–280; Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 2. 12. 1996, Vorhaltung durch den Oberstaatsanwalt, Mitschrift d. A., S. 12 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). Lagefilm des MfS, o. D. : 2.30 Uhr Beratung der BEL bei der BDVP. Siehe ebd., S. 20. Böhm an Mielke : Es habe eine „Beratung der BEL“ stattgefunden, Böhm an Mielke vom 5. 10. 1989. Zit. in Oberlandesgericht Dresden, 1. Strafsenat : Beschluss vom 25. 4. 1996 in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 15 ( ebd.). Leiter der Abteilung Parteiorgane der SEDBL an ZK der SED : „In dieser Lage kamen Kräfte der NVA zur Wirkung. In der Bezirkseinsatzleitung wurde am 5. 10. 1989, 2.30 Uhr eine erste Auswertung vorgenommen.“ SED - BL, Galle, an ZK der SED vom 5. 10. 1989 : Info zit. in ebd., S. 15. Die Erwähnung der an sich manifesten Tatsache der Sitzung der BEL rührt aus dem Umstand, dass Modrow bestreitet, dass es sich um eine BEL - Sitzung handelte. Interview mit Hans Modrow. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 191.

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und er teilnahmen. Gehmert informierte Modrow über seinen Auftrag, Hundertschaften der NVA zu bilden und in Bereitschaft zu halten. Schlase übernahm deren Führung. Man beschloss die Bereitstellung der 7. Panzerdivision der NVA in Kasernen und im Stadtgebiet.240 Nyffenegger bestand nach eigenem Bekunden darauf, keine Waffen mitzuführen. Gehmert meinte hingegen, Soldaten führten immer Waffen bei sich.241 Keinen Niederschlag fand der Armeeeinsatz im Bericht Modrows an das ZK. Hier hieß es zwar, die Bezirkseinsatzleitung habe am 5. Oktober um 2.30 Uhr die ständige Führungsbereitschaft der Sekretariate der SED - Kreisleitungen angeordnet, ansonsten vermied Modrow eine militärische Sprache. Die Rede war von einer „offensiven ideologischen Arbeit“, der Gewährleistung der staatlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung, der Beseitigung der Schäden und der Sicherung des Berufs - und Fernverkehrs.242 Zugdurchfahrt Bezirk Karl - Marx - Stadt Nach Dresden passierten die Sonderzüge den Bezirk Karl - Marx - Stadt. Entlang der Strecke waren Einheiten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei sowie motorisierte Kräfte der Volkspolizei postiert.243 In Bereitschaft lagen Kampfgruppeneinheiten.244 Mit Hilfe von Hubschraubern versuchte die Volkspolizei Personen an den Gleisen ausfindig zu machen.245 Auf dem Bahnhof Freiberg demonstrierten am Nachmittag knapp 200 Personen. Volks - und Transportpolizei räumten ihn per Schlagstock.246 In der Nacht zum 5. Oktober versammelten sich vor dem abgesperrten Bahnhof erneut ca. 200 Personen. Wieder ging die Volkspolizei brutal vor. Polizeihunde wurden ohne Beißkorb gegen Personen eingesetzt, die wehrlos am Boden lagen.247 22 Personen wurden zugeführt.248 In der U - Haft gab es Stockschläge.249 Nächster neuralgischer Punkt war die „Langsamfahrstelle“ Hetzdorfer Eisenbahnbrücke im Kreis Flöha. Sie wurde durch Transportpolizei und zwei Züge Bereitschaftspolizei 240 Vgl. Protokoll der 7. Beratung des RTB Dresden vom 1. 2. 1990, Anlage : Auszug aus dem Bericht über den Einsatz von Kräften der 7. Panzerdivision der NVA vom 4.– 8. 10. 1989 in Dresden ( PB Matthias Rößler ). 241 Vgl. Prozess gegen Hans Modrow vor dem Landgericht Dresden am 4.12. 1996, Aussage Willi Nyffenegger, Mitschrift d. A., S. 18 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). Zum Einsatz der NVA vgl. Wenzke ( Hg.), Staatsfeinde in Uniform, S. 426 f. 242 SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Info ( ABL, EA 891005_3). 243 MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 132 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 244 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 162–164); KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Lage ( ebd. 2145, 1, Bl. 47–51). 245 Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 118, 122 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 246 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 9. 12. 1989. 247 Vgl. Bürgerinitiative „Rechtsstaatlichkeit“ zum 4./5. 10. 1989, Gedächtnisprotokolle (StA Freiberg ). 248 Interview mit Peter Jelinek, Leiter des VPKA Freiberg. In : Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 7. 12. 1989. 249 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 9. 12. 1989.

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gesichert. Sechs Personen wurden zugeführt. Hubschrauber suchten die Umgebung nach weiteren Personen ab. Am Abend musste die Brücke erneut von 100 Personen geräumt werden. Auch vom Hauptbahnhof Karl - Marx - Stadt wurden am Abend ca. 300 Jugendliche vertrieben.250 Im Stadtgebiet standen drei Kampfgruppenhundertschaften in Bereitschaft.251 Gegen 1.40 Uhr des 5. Oktober hielten sich wieder ca. 800 Personen im Bahnhof auf, der erneut geräumt wurde. Gegen 2.00 Uhr waren letzte Ansammlungen im Stadtzentrum aufgelöst. Es gab 82 Zuführungen. Kurz nach 3.00 Uhr passierten drei Sonderzüge die Stadt. Am Hauptbahnhof Zwickau wurden eine Stunde vor deren Eintreffen ca. 100 Personen vertrieben und teilweise zugeführt. Am folgenden Bogendreieck Werdau und am Haltepunkt Steinpleis wurden ebenfalls etwa 150 Personen mit Schlagstöcken und Hunden vertrieben.252 Auch hier kamen Kampfgruppen zum Einsatz. Auf dem Plauener Bahnhof warteten ca. 500 Personen. Beide Bahnsteige waren voller Menschen. Sie riefen „Deutschland, Deutschland !“. Einige Jugendliche schwenkten schwarz - rot - goldene Fahnen.253 Zum Einsatz kam hier die Bereitschaftspolizei Karl - Marx - Stadt. Uwe Fischer von der Plauener Gruppe der 20 erinnert sich : „Die Leute wurden vertrieben, zum Teil festgenommen, auch geschlagen. Außen, um den Bahnhof herum, standen Stasi Leute in Zivil und haben alle Autonummern aufgeschrieben. Gegen Mittag 11 oder 12 Uhr kamen die ersten Züge an, haben auch kurzzeitig gehalten. Die Leute haben gewunken, aufspringen wollte eigentlich keiner. Man wollte den Leuten in den Zügen einfach zeigen, dass man mit ihnen verbunden ist.“254 Durch Plauen fuhren nicht nur die Züge, die aus Richtung Dresden kamen, sondern auch die letzten drei, die, wie Modrow es für alle empfohlen hatte, am Morgen des 5. Oktober durch Böhmen geführt wurden, um Dresden zu umgehen. Diese Züge kamen aus Richtung Bad Brambach, mussten in Plauen die Fahrtrichtung wechseln und hatten so einen längeren Aufenthalt. Die Zugdurchfahrten, aber auch die Bilder von der jubelnden Ankunft in Hof und dem begeisterten Empfang durch die Hofer, die das Westfernsehen zeigte, brachten in Plauen die Emotionen in Wallung.255 Alle Akteure sind sich über die Initialwirkung dieses Ereignisses einig. Am Abend des 5. Oktober versammelten sich mehr als 1 000 Menschen in der Markuskirche zur Friedensandacht. Am Bahnhof Reichenbach versuchten etwa 100 Personen aufzuspringen.256 Der Bahnhofsvorplatz wurde in der Nacht zum 5. Oktober durch Polizeikette, Schlagstöcke und Hunde ohne Beißkorb von ca. 500 Menschen geräumt. 21 Personen wur250 Vgl. MdI : Lagefilm vom 5. 10. 1989 ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 19 und 26). 251 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Einsatz der Kampftruppen in Karl - Marx - Stadt vom 4.– 5. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, Herbst 1989, Bl. 1–2). 252 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 23. 1. 1990. 253 Vgl. Schorlemmer, [...] und den Kindern, S. 34 f. 254 Lindner, Plauen, S. 124. 255 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 149. 256 MdI : Vorkommnisse und polizeiliche Einsätze im Oktober 1989, Bericht des Bezirkes Karl - Marx - Stadt vom 4. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 152 ( ebd., 52461).

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den zugeführt. Zum Einsatz kam auch hier ein Zug der Bereitschaftspolizei. Verhaftete berichteten von Misshandlungen. Weibliche Zugeführte mussten demnach entkleidet Kniebeugen machen, andere wurden „durch einfache körperliche Gewalt“ diszipliniert. Auch hier waren Kampfgruppen im Einsatz.257 Auf dem Bahnhof Oelsnitz beschimpften die Ausreisenden die Volkspolizei vom Zug aus. Gleisarbeiter grüßten mit Hupsignalen.258 Die nächste Station lag bereits in Bayern. 3.4

Armee gegen die Bevölkerung am 5. und 6. Oktober

Hauptbahnhof Dresden In Dresden kamen am Nachmittag des 5. Oktober die NVA - Hundertschaften erstmals zum Einsatz. Jeder Soldat erhielt dreißig Schuss Munition für Maschinenpistolen und zwölf für Pistolen. Es galt jedoch Schießverbot.259 Zuvor waren sie kurz in die Taktik der Volkspolizei und den Einsatz von Schlagstöcken bzw. die Anwendung der Schusswaffe für den persönlichen Schutz eingewiesen worden. Für die Offiziere, die Einsätze gegen die eigene Bevölkerung bislang nicht kannten, mussten nochmals Fragen der Führung und des Zusammenwirkens mit Volkspolizei und MfS geklärt werden, schließlich wurde das territoriale Führungsprinzip durch den Einsatz der NVA - Führungsgruppe überlagert.260 Gehmert und Kokott sahen zwar in den Demonstranten „gegen unseren Staat gerichtete aggressive Kräfte, Rowdys und Kriminelle“, waren sich aber einig, der Armeeeinsatz gegen die Bevölkerung könne „nur das allerletzte Mittel“ sein.261 Gehmert meinte später, die 7. Panzerdivision sei „politisch missbraucht“ worden.262 Kokott erklärte : „Wir haben nicht daran gedacht, dass uns die Verfassung das nicht gestattet.“ Gleichzeitig betonte er aber, dass Waffen ausgege-

257 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 5. 10. 1989: Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 122). Vgl. Bericht der UUK zu Vorfällen am 4.–5. 10. 1989. In : Landratsamt Reichenbach, Wir sind das Volk, S. 37; Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 9.11. und 21. 12. 1989; Horsch, Das kann man überhaupt nicht verstehen, S. 10. 258 KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 40–44). 259 Vgl. Untersuchungsausschuss des MfNV : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 1/37601, Bl. 271); Minister für Nationale Verteidigung vom 6. 2. 1990 : Einsatzhundertschaften der NVA (ebd. 1/37619, Bl. 103). 260 Vgl. BVfS Dresden vom 5.–10. 10. 1989 : Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden. Dieses Dokument ist unvollständig und ohne Unterschrift. Es enthält den handschriftlichen Vermerk : Einschätzung der PHV - Gruppe unter der Leitung Generalmajors Kokott, die im Einsatzstab gearbeitet hat ( ABL, EA 891010_2). 261 Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 16; ders. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 93 f. 262 Protokoll der 7. Beratung des RTB Dresden vom 1. 2. 1990, Anlage : NVA, 7. Panzerdivision, Kommandeur : Bericht über die Einsatzkräfte der 7. Panzerdivision vom 4.– 8. 10. 1989 in Dresden ( PB Matthias Rößler ).

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ben wurden, weil erhöhte Gefechtsbereitschaft galt.263 Das zeigt, dass die Generäle die Befehlslage im Fall innerer Unruhen selbstverständlich kannten. Der Missbrauch kam nicht von oben, sie gehörten „zu denen da oben“. Die Armeeeinheiten verfügten für den Einsatz gegen die eigene Bevölkerung „über keine praktischen Erfahrungen, waren mit der Polizeitaktik nicht vertraut“ und wurden „in großer Eile wirksam politisch motiviert, formiert und ausgebildet“.264 Ihr Einsatz wurde mit der „Verschärfung des Klassenkampfes“ und der „Offensive des Klassenfeindes“ begründet. Absurd klingt besonders die Argumentation, „der Klassenfeind“ habe sich auf Dresden konzentriert, „um eine Ausreise zu erzwingen“. Offenbar wollte man den Feind aber nicht ziehen lassen, sondern ihn schlagen. Die Politoffiziere erklärten den Soldaten, sie hätten „eine bedeutsame staatspolitische Aufgabe“ zu erfüllen. Betont wurde die „Bedeutung eiserner militärischer Disziplin“ und „bedingungsloser und exakter Befehlsausführung“. Die eingesetzten Soldaten hätten eine „hohe Kampfmoral“ gezeigt, was sich in Äußerungen ausgedrückt habe wie „endlich wird gehandelt“. Sie hätten „Vertrauen zur Führung“ und wüssten, „auf welcher Seite der Barrikade“ sie stünden.265 Während sie von Modrow und Lorenz nach ihrem Einsatz eine Prämie von 20 000 Mark erhielten,266 wurden sie von der Bevölkerung als „Kommunistenschweine“ und „Noske - Truppen“ beschimpft. Die jungen Männer hatten wohl nicht damit gerechnet, dass selbst am Abzeichen erkennbare SED - Mitglieder sich „feindlich zum Einsatz der Armee“ äußerten. Andere Demonstranten bemühten sich um Kontakte zu den Soldaten und Unteroffizieren, „um bei ihnen moralische Zweifel hervorzurufen“. „Nicht selten“, so eine MfS - Auswertung, „wurden junge Menschen, Mädchen, Frauen, Kinder vorgeschickt. Besonders bei Soldaten und Unteroffizieren nahmen deshalb Zweifel und Verunsicherungen zu.“ Es gab schnell Fragen wie : „Kennt die Parteiführung die Lage nicht ? Wir kämpfen mit dem Mob auf der Straße und werden dabei alleine gelassen. Wann wird die Bevölkerung aufgeklärt, dass unser Einsatz in ihrem Interesse erfolgt ?“ Die Politoffiziere bemühten sich daher „zu klären, dass die Feinde des Sozialismus nicht nur daran zu erkennen sind, mit welchen Formen und Methoden sie den Kampf führen ( gewalttätiges Verhalten oder ‚friedliche‘ Demonstration ), sondern dass das Kriterium die staatsfeindliche politische Zielsetzung und die Stoßrichtungen dieser Kräfte sind“. Neu für die Soldaten war es, auf der Straße „einer Großstadt mit starkem internationalen Besucher verkehr sowie spürbarem feindlichen Einfluss“ zum Einsatz zu 263 Podiumsdiskussion „Der heiße Herbst 1989“ am 10. 10. 2007 in der Buchhandlung Dresden Buch, Mitschrift d. A. 264 Einschätzung der PHV - Gruppe unter der Leitung Generalmajors Kokott im Einsatzstab vom 5. 10. 1989: Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen Minderheitenvotum Arnold und Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 425–433. 265 BVfS Dresden vom 5.–10. 10. 1989 : Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden ( ABL, EA 891010_2). 266 Vgl. Sektor NVA vom 13. 10. 1989 : Info über den Einsatz des MB - III zur Herstellung von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung ( ebd., BA Dresden 4, Bl. 450 f.).

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kommen. Dadurch konnte „der Feind an der Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung anknüpfen“, die „der ideologischen Hetze und psychologischen Beeinflussung durch den Gegner erlagen“. Negativen Einfluss hätten dabei besonders evangelische Kirchenkreise genommen.267 Wegen der Befehlsstruktur hielten sich Proteste gegen den Einsatz in Grenzen. Gerade einmal 16 NVA - Angehörige lehnten ihn ab, darunter ein Oberleutnant. Anders als bei den Soldaten war der überwiegende Teil der Offiziere, so Berghofer, „motiviert, die Panzer rollen zu lassen“.268 Die Bereitschaft dazu war im ideologisch indoktrinierten Offizierskorps durchaus vorhanden. Viele Offiziere befürworteten eine „chinesische Lösung“.269 Im Laufe des 5. Oktober wurde der Hauptbahnhof durch die Transportpolizei verstärkt gesichert. Im Stadtzentrum gab es bis in die frühen Abendstunden einen umfangreichen Touristen - und Passantenverkehr. Gegen 17.00 Uhr sammelten sich ca. 200 Personen, meist Jugendliche, in der Nähe des Hauptbahnhofes, ohne zunächst „negative Verhaltensweisen“ zu zeigen. Erst gegen 18.00 Uhr riefen Einzelne : „Wir wollen raus“ und „Gorbi, Gorbi“. Nach der Auf lösung der Gruppe begaben sich einige zum Rathaus und riefen weiter : „Gorbi, Gorbi“ und „Wir wollen Reformen“. Das waren eher Rufe derer, die in der DDR bleiben wollten. Fünf „Wortführer“ wurden zugeführt, die anderen begaben sich über den Altmarkt erneut zum Hauptbahnhof.270 Hier wuchs die Zahl der Demonstranten, sodass gegen 18.45 Uhr der Straßen - und Straßenbahnverkehr umgeleitet werden musste. Die Einsatzkräfte begannen, den Hauptbahnhof zu sichern. Der Haupteingang wurde geschlossen. Gegen 19.00 Uhr versammelten sich vor dem Hauptbahnhof ca. 500 Jugendliche. Einige setzten sich und riefen „Gorbi, Gorbi“ oder „Wir wollen raus“. Binnen Kurzem verfolgten etwa 6 000 Interessierte das Geschehen. Es entstand eine Mischung aus Reisenden, Berufstätigen und mehr oder weniger militanten Demonstranten. Etliche riefen Sprechchöre, andere warfen Steine, einige stellten brennende Kerzen auf. Die Zusammensetzung war wesentlich differenzierter als am Vortag. Die Volkspolizei räumte den Bahnhofsvorplatz. Rund 1 000 Demonstranten bewegten sich zur Prager Straße. Einige warfen Brandflaschen und zerstörten Bänke, Laternen, Container sowie Schaufensterscheiben des „Delikat“ - Geschäftes. Gegen 20.00 Uhr hielten sich am Bahnhof erneut etwa 10 000 Personen auf. Sie versuchten, aus Bänken, Stühlen und „Ausgestaltungselementen“ Barrikaden zu errichten. Es gab Rufe wie „Ihr Kommunistenschweine“, „Wir wollen eine 267 BVfS Dresden vom 5.–10. 10. 1989 : Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden ( ebd., EA 891010_2). 268 Interview mit Wolfgang Berghofer am 8. 9. 1996. 269 Abschlussbericht des Ausschusses zur Untersuchung von Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen der DDR vom 15. 3. 1990. In : Trend, (1990) 3 vom 12. 4. 1990, S. 14; Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 213, geht von einer Drittelung des Offizierskorps aus : Reformer, Gleichgültige und Veränderungsgegner. 270 Böhm an Mielke : Bericht zum 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden ); Böhm an Modrow vom 14. 10. 1989 : Vorkommnisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ebd.).

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grüne Leiche sehen“, „Hängt die Kommunisten auf“, „Deutschland – Deutschland“, „Gorbi, Gorbi“, „1–2–3–Knüppelpolizei“, „Bullenschweine, wir hängen Euch auf“ und Ähnliches.271 Gegen 19.50 Uhr gingen fünf Kompanien der Bereitschaftspolizei mit Sonderausrüstung, Schlagstöcken, Tränengas und Hunden gegen die Demonstranten vor.272 Die Prager Straße wurde geräumt und „eine erhebliche Anzahl von Zuführungen realisiert“.273 Das ganze Geschehen wurde durch ein Fernsehteam von NBC - News festgehalten; damit gingen die Bilder um die ganze Welt. Erst gegen Mitternacht herrschte Ruhe.274 Insgesamt wurden bei den Unruhen am 4. Oktober 225 Personen festgenommen, davon 24 aus dem Bezirk Dresden. Am 5. Oktober folgten noch einmal 207 Festnahmen.275 Frank Richter fühlte sich an die Vorgänge in Chile 1972 erinnert.276 Trotz aller Aggressivität hatten die Demonstrationen am 5. Oktober einen anderen Charakter als am Tag zuvor. Es versammelten sich nicht nur Ausreisewillige, sondern immer mehr Einwohner Dresdens und umliegender Orte, die sich ein Bild machen wollten.277 Das hinderte die Bezirkseinsatzleitung freilich nicht daran, undifferenziert gegen Demonstranten und Passanten vorzugehen und diese reihenweise zuzuführen. Erst am Abend schätzte die Einsatzleitung ein, dass es zwar „einen harten Kern von Gewalttätern“ gebe, aber die absolute Mehrheit der Demonstranten gewaltlos sei.278 Nach einem Bericht Böhms an Mielke wurden die „Ausschreitungen der Rowdys und Provokateure“ seitens der Dresdner Bevölkerung am 5. Oktober mit Empörung aufgenommen. Es herrsche die Meinung vor, „dass derartige Hand-

271 So BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ). 272 Vgl. MdI: Bericht des Bezirkes Dresden, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers am 7. 12. 1989 ( ebd., 54023). 273 BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ). 274 Vgl. Böhm an Mielke : Bericht zum 5. 10. 1989 ( ebd.). 275 Zum Einsatz kamen in der Nacht vom 4. zum 5. 10. 1989 am Hauptbahnhof insgesamt 1757 Kräfte der VP und der Feuerwehr, fünf Kompanien der 8. VP - Bereitschaft Dresden, ein Zug und zwei Gruppen der 5. Kompanie T, zwei Züge unterstellte Kräfte Kompanien ( T ), fünf Kompanien der Offiziershochschule ( B ), sechs Züge der Schule VD Bautzen, vier Züge der Strafvollzugsschule Radebeul (68 Offiziersschüler, 1 Offizier ), drei Züge Formationen aus dem Bestand der BDVP Dresden, drei Kompanien der 6. VP- Bereitschaft Halle und eine Kompanie der 16. VP - Bereitschaft Cottbus. Die fünf Bataillone der NVA wurden auf Grund der Lageentwicklung nicht in Marschbereitschaft versetzt. 200 Angehörige der Militärakademie „Friedrich Engels“ und 229 Angehörige der 7. Panzerdivision standen in Reserve. Berichte einzelner Bezirke über Vorkommnisse und polizeiliche Einsätze über die Oktoberereignisse 1989, Abzug einer Zusammenfassung ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400); BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989: Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ); Nyffenegger an Dickel vom 5. 10. 1989: Maßnahmen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 219–222). 276 Podiumsdiskussion „Der heiße Herbst 1989“ am 10. 10. 2007 in der Buchhandlung Dresden Buch, Mitschrift d. A. 277 Vgl. Interview mit Frank Richter am 18. 8. 1994; Liebsch, Dresdner Stundenbuch, S. 15. 278 Vgl. Inter view mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 17; ders. in Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 93 f.; Untersuchungsausschuss des MfNV : Info o. D. (BArch Berlin, VA - 1/37601, Bl. 272); Ablaß, Zapfenstreich, S. 20.

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lungen mit aller Macht durch die Schutz - und Sicherheitsorgane unterbunden werden“ müssten. Kritische Stimmen habe es „nur aus kirchlichen Kreisen und von Personen, die eine negativ - feindliche Einstellung zur DDR besitzen ( Mitglieder und Sympathisanten von Basis - und alternativen Gruppen )“ gegeben.279 Die SED „organisierte“ Leserbriefe. So fragten Brigadeleiter aus Bischofswerda, ob es sich bei den Randalierern „überhaupt noch um Menschen handle“.280 Tatsächlich war die Meinung unter der Bevölkerung einschließlich der SED - Mitglieder gespalten. Während Volkspolizei, NVA und MfS aus verschiedenen Fenstern der Häuser an der Prager Straße Beifall erhielten,281 machte sich die Mehrheit der Dresdner eher Gedanken darüber, wie auf friedlicherem Wege Veränderungen erreicht werden könnten. Am Morgen des 6. Oktober präparierte sich die Armee auch in Dresden für ihren nächsten Einsatz gegen Zivilisten. Einige Generäle und Offiziere hatten Bedenken und ersuchten den Verteidigungsminister, den Verbleib von Waffen und Munition in den Kasernen zu befehlen. Dieser befahl daraufhin um 10.25 Uhr, die Soldaten mit Schlagstöcken auszurüsten.282 Statt mit automatischen Waffen sollte die Revolte nun mit Schlagstöcken befriedet werden. Wie am Vortag waren die NVA - Kräfte operativ dem Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei bzw. jeweils den zuständigen Kommandeuren der Volkspolizei unterstellt. Jeder Einsatz der NVA war jedoch nur mit Zustimmung von General Gehmert möglich.283 Unter Leitung von Superintendent Ziemer und Bischof Hempel berieten auch die Regimegegner, die auf Veränderungen in der DDR setzten, die Lage. Sie waren über die Gewalttätigkeiten erschrocken, setzten sich nun dafür ein, den politischen Charakter der Ansammlungen zu verändern, und versammelten sich in den folgenden Tagen zu friedlichen Protesten.284 Als gegen 18.00 Uhr etwa 35 Jugendliche in der Nähe der Kreuzkirche und des Rathauses in Sprechchören „Wir wollen mehr Freiheit“ riefen, wurde die Ansammlung gewaltsam aufgelöst. Um 19.00 Uhr sammelten sich 400 Personen auf dem Leninplatz ( Wiener Platz ) am Leninmonument. Einige besprühten ein Leinentuch mit dem Text: „Warum soll ich schweigen ? Der Traum aller Menschen heißt Freiheit.“ Sie wurden zugeführt, während die anderen in Sprechchören u. a. „Deutschland“ und „Deutschland erwache“ riefen sowie Volkspolizei und MfS als Nazis beschimpf-

279 BVfS Dresden an MfS vom 6. 10. 1989 : Tagesbericht zum 40. Jahrestag ( ABL, Dresden). 280 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 11. 10. 1989. 281 Vgl. BVfS Dresden an Modrow vom 6. 10. 1989 : Info zur Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR ( BStU, ASt. Dresden, XX 9185, Bl. 13–16). 282 MfNV, Untersuchungsausschuss: Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601 Bl. 272). Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 20. 283 Vgl. Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 18. 284 Vgl. Böhm an Modrow vom 17. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 105–111).

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ten.285 Gegen 19.30 Uhr wurden die Prager Straße und der Leninplatz durch Einheiten der Bereitschaftspolizei gesperrt. Hier befanden sich ca. 5 000 Demonstranten. Die Volkspolizisten wurden „in übelster Weise beschimpft“ und mit Steinen beworfen. Einige Demonstranten beschafften sich von einer Baustelle Bauklammern, Stahlrohre, Steine und andere Gegenstände. Die Prager Straße wurde in Richtung Altmarkt geräumt. Nach Polizeiangaben befanden sich unter den Demonstranten „einzelne vermummte Bürger“, die „bestimmte Körperteile abgepolstert hatten, Sturzhelme trugen und mit Stahlkugeln bewaffnet waren“.286 Angesichts der gewaltsamen Auseinandersetzungen und Festnahmen rief Superintendent Ziemer in einem Friedensgebet in der Kreuzkirche, an dem sich etwa 3 000 Menschen beteiligten, zur Gewaltlosigkeit auf.287 Danach bestimmten eher friedliche Demonstranten das Bild. Gegen 20.00 Uhr versammelten sich auf der Prager Straße erneut 5 000 Menschen. Sie riefen : „Wir wollen Forum“, „Wir wollen raus“ sowie „Menschenrechte und Freiheit“. Die Einsatzleitung setzte zwei Kompanien der Offiziers - Hochschule der Bereitschaftspolizei, zwei Kompanien der 8. VPB und drei Kompanien der 6. VPB ein.288 Im Dresdner Staatsschauspielhaus erklärten unterdessen Schauspieler : „Wir haben ein Recht auf Dialog“; eine der Forderungen, die von nun an bei allen Auftritten vorgetragen wurden. Schon am 4. Oktober hatten sie erklärt : „Wir treten aus unseren Rollen heraus.“ Verlangt wurden unter anderem das Recht auf Information, Dialog, Reisefreiheit und eine Überprüfung der staatlichen Leitungen.289 Am Rundkino riefen derweil Jugendliche „Freiheit“, „Gorbi“ und „Reformen“.290 Gegen 21.00 Uhr verließen fünf NVA - Hundertschaften ihre Objekte, um den Hauptbahnhof abzuriegeln. Sie wurden als Räumketten gegen die Bevölkerung und bei der Festnahme von Demonstranten eingesetzt.291 Aus einer Hundertschaft wurden zwanzig Angehörige eines Fernaufklärungszuges herausgelöst, die unter Leitung des Zugführers Demonstranten gewaltsam hinter die Sperrlinie von Armee, Volkspolizei und MfS zerrten.292 Die Festgenommenen wurden dem MfS überstellt.293 Die militärischen Kräfte gingen weiterhin gewaltsam vor. Auf der Prager Straße riefen die Menschen : „Wir bleiben 285 Vgl. Böhm an Modrow vom 14. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891014_1). 286 BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ). 287 Vgl. Interviews mit Lilli Ulbrich am 11. 9.1997 und Christof Ziemer am 7. 7.1996. 288 Vgl. MdI: Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 247 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 289 Wortmeldung des Ensembles des Staatstheaters Dresden vom 6. 10. 1989 ( PB Frank Richter ). Abgedruckt in Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 54 f. Vgl. Kromer, Die friedliche Revolution; Bahr, Sieben Tage im Oktober, S. 76; Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 213. 290 Böhm an Modrow vom 14.10.1989: Ereignisse vom 3.–8.10.1989 (ABL, EA 891014_1). 291 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 272 f.). 292 Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 20. 293 Vgl. Protokoll der 7. Beratung des RTB Dresden vom 1. 2. 1990, Anlage : NVA, 7. Panzerdivision, Kommandeur vom 5. 2. 1990 : Auszug aus dem Bericht über die Einsatzkräfte der 7. Panzerdivision vom 4.–8. 10. 1989 in Dresden ( PB Matthias Rößler ).

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hier, Reformen wollen wir“, „Gorbi“, „Wir wollen Forum“, „Wir wollen raus“, „Menschenrechte“, „Freiheit“ und sangen die „Internationale“. Der Zug, der bald auf etwa 10 000 Menschen anwuchs, bewegte sich über die Leningrader Straße, den Pirnaischen Platz und durch die Ernst - Thälmann - Straße zum Postplatz und über die Georgi - Dimitroff - Brücke zurück zum Pirnaischen Platz, wo bereits mit Schilden und Schlagstöcken bewaffnete VP - Einheiten warteten.294 Neben dem größeren Teil friedlicher Demonstranten sammelten sich gegen 21.30 Uhr vor dem Hauptbahnhof erneut ca. 300 Personen mit Sturzhelmen, Spraydosen und Knüppeln. Gegen 23.00 Uhr gingen die Sicherheitskräfte mit Sonderausrüstung, Tränengas und Schlagstöcken gegen die meist jugendlichen Demonstranten vor.295 Dabei wurden sie von Volkspolizei - und MfS- Mitarbeitern regelrecht gejagt und zusammengeschlagen.296 Gegen 22.30 Uhr erfolgte die endgültige Räumung der Prager Straße.297 Gegen 0.30 Uhr wurde die Menschenmenge am Hauptbahnhof aufgelöst. Erneut wurden auch unbeteiligte Passanten zugeführt. Insgesamt gab es an diesem Tag in Dresden 367 Zuführungen.298 Viele davon kamen in Haft, so die Träger des Transparentes „Warum soll ich schweigen ? Der Traum aller Menschen heißt Freiheit“.299 „Unter Vorgabe christlichen Glaubens“, so Böhm, vertraten sie die „Auffassung, Reformen in der DDR wären unerlässlich. Um ihre feindliche Haltung öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren und mit der Zielstellung, weitere Personen in deren Meinungsbildung zu beeinflussen“, hätten sie das „konterrevolutionäre Transparent“ gestaltet.300 Wie am Vortag gab es im Zentralen Zuführungspunkt in der 8. VP - Bereitschaft „körperliche Einwirkung mit Führungskette und Schlagstock“. Einige der willkürlich festgenommenen Passanten, so eine Sicherheitsstreife der Hochschule für Verkehrswesen, wurden wieder freigelassen.301 Trotz Gewalttätigkeiten beiderseits hatte sich der Charakter der Demonstrationen zu ändern begonnen. Unter dem Einfluss der Kirchen gingen sie in friedliche Massenaktionen der Dresdner Bevölkerung über, die von den politischen Postulaten des Neuen Forums dominiert wurden.302 Das blieb nach Darstellung 294 Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023). NVA - General Werner Hübner spricht von 30 000 Personen. Gysi / Falkner, Sturm auf’s Große Haus, S. 36. 295 Vgl. MdI: Bericht des Bezirkes Dresden, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). 296 Vgl. Bericht meiner Festnahme. In : Arbeitsmaterial der Dresdner Friedens - , Umwelt und Zweidrittelwelt - Gruppen von Oktober / November 1989; Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine, S. 20. 297 Vgl. BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Entwicklung in Dresden ( ABL, Dresden ). 298 Vgl. MdI : Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). 299 BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Tagesbericht Aktion „Jubiläum 40“ ( ABL, Dresden ). 300 BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 69–77). 301 Bericht der Fachschule des MdI Radebeul „Heinrich Rau“ über den Sicherungseinsatz am 6./7. 10. 1989 vom 11. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 302 Vgl. BVfS Dresden vom 5.–10. 10. 1989 : Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden. Einschätzung der PHV - Gruppe unter der Leitung Generalmajors Kokott, die im Einsatzstab gearbeitet hat ( ebd., EA 891010_2); Rein, Die Opposition, S. 189.

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von General Kokott angeblich auch der Bezirkseinsatzleitung nicht verborgen, die die Ereignisse am Abend auswertete. Hier habe Modrow die Meinung vertreten, der Konflikt sollte angesichts des friedlichen Charakters der Demonstrationen mit politischen Mitteln gelöst werden. Es sei festgelegt worden, in der Bezirkspresse und im Sender Dresden offen über die Ereignisse zu berichten.303 Er habe Modrow unterstützt, da auch er konstatierte, dass die NVA - Hundertschaften an diesem Tag „mit einem neuen Erscheinungsbild konfrontiert“ worden waren : „Keine terroristischen, rowdyhaften Ausschreitungen durch einige Hundert“, stattdessen Demonstrationszüge mit Tausenden Bürgern, besonders Jugendlichen, „Gesang der Internationalen, rote Fahnen im Demonstrationszug“ und Massenrufe wie „Wir bleiben hier, schließt euch an, wir brauchen jeden Mann“, „Wir bleiben hier, Neues Forum brauchen wir“ oder „Gorbi, Gorbi hilf uns“.304 Freilich ist Kokott der einzige Zeuge für diesen Sinneswandel. Er behauptete später auch, Brünner angerufen und gesagt zu haben, was stattfinde, sei keine Konterrevolution. Die Menschen wollten eine bessere DDR.305 Einen differenzierteren Eindruck vermitteln schriftliche Unterlagen der SED - Bezirksleitung von diesem Tag. Hier forderte Modrow, überzeugender „nachzuweisen, dass der Hauptgrund für Vaterlandsverrat, Zusammenrottungen und rowdyhafte Ausschreitungen der Generalangriff des Imperialismus ist, nicht zuallererst ungelöste Fragen unserer Entwicklung“.306 Allerdings betont er auch, beim Einschreiten gegen „feindliche und negative Elemente“ sei „grundsätzlich zu unterscheiden zwischen solchen Elementen und der Masse der Bürger“.307 Auch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei schlussfolgerte am Abend, womöglich unter dem Eindruck zahlreich schuldlos Zugeführter, das „Erkennen, Isolieren und Herauslösen der tatsächlichen Störer“ sei „wirksamer zu gestalten“.308 Regionale Einzelaktionen Parallel zu den Dresdner Ereignissen kam es in vielen Kreisen zu widerständigen Einzelaktionen. Bezirk Dresden: Seit dem 1. September registrierte die SED - Bezirksleitung Dresden insgesamt 47 Verbreitungen von „Hetzschriften“, vor allem in Dres303 Vgl. Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 17. 304 BVfS Dresden vom 5.–10. 10. 1989 : Erkenntnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen des Einsatzes in Dresden. Einschätzung der PHV - Gruppe unter Leitung Generalmajor Kokott, die im Einsatzstab gearbeitet hat ( ABL, EA 891010_2). 305 Podiumsdiskussion „Der heiße Herbst 1989“ am 10. 10. 2007 in der Buchhandlung Dresden Buch, Mitschrift d. A. 306 SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL, 13218). 307 Hans Modrow an die 1. Sekretäre der SED - KL, SBL, SL (einschl. TU-Dresden) vom 6. 10. 1989 (ABL, Dresden ). 308 Schlussfolgerungen des Chefs der BDVP Dresden, Nyffenegger, BEL vom 6. 10. 1989 (ABL, Dresden ).

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den, Zittau, Kamenz und an der TU Dresden, 35 Schmierereien, 21 anonyme Anrufe und 65 „Hetzzettel“ gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes Dresden Gittersee.309 Vor allem seit den Ereignissen am Dresdner Hauptbahnhof gab es eine „Zunahme von Vorkommnissen in Form der Anbringung von Losungen mit gegen die Partei und Regierung gerichteten Textaussagen“ in Dresden und der Mehrzahl der Kreisstädte. Meist handelte es sich um Sympathiebekundungen für das Neue Forum.310 In Großpostwitz ( Bautzen ) kursierte ein Flugblatt mit der Aufschrift „Wir wollen das Neue Forum, Freiheit, Gerechtigkeit, Redefreiheit, Reisefreiheit“. In Bautzen wurde eine Postanweisung mit folgender Aufschrift vorgefunden : „Russen und Schlitzaugen – Arschkriecher, Empfänger : Honecker, der Totengräber der Nation, 40 Jahre Scheiße“. In Großröhrsdorf (Bischofswerda ) zitierte ein Bürger bei einer „Dankeschönveranstaltung für Handwerker“ das Programm des Neuen Forums.311 Im VEB Sondermaschinenund Rationalisierungsmittelbau Neukirch sammelte ein Elektronikfacharbeiter Unterschriften für das Neue Forum.312 Im Edelstahlwerk „8. Mai 1945“ Freital gab es Hakenkreuzschmierereien. In Kamenz wurde „Reisefreiheit – Reisefreiheiten – Reformen“ an eine Wand geschrieben. Auf den Straßen um den Stausee Quitzdorf ( Niesky ) war „Wir fordern Reformen“ zu lesen.313 Am Ortseingang Röderau ( Riesa ) stand „Verdummung – Nein danke !“. An einer Hauswand in Röderau war von der Losung „Wir feiern 40 Jahre“ das „f“ durchgestrichen. In Zeithain wurden Fahnen heruntergerissen.314 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Flöha entfernten Unbekannte „DDR - und Arbeiterfahnen“.315 Im VEB Zwirnerei - und Nähfadenfabrik Oederan, Betriebsteil Mittweida ( Hainichen ) war „Forum“ und „Deutschland“ zu lesen.316 In Rübenau ( Marienberg ) stellte der Sohn des LPG - Vorsitzenden brennende Kerzen ins Fenster. Am Tag zuvor hatte ein Mitglied des CDU - Hauptvorstandes im Westfernsehen erklärt, statt offener Konfrontationen zum 7. Oktober sollte man besser brennende Kerzen ins Fenster stellen.317 Im Kreis Schwarzenberg stand auf der Fahrbahn zwischen Schwarzenberg und Gründstädtel „Neues Forum“.318 In Stollberg ging bei der SED - Kreisleitung der Brief von angeblich 624 Mitgliedern eines unabhängigen Jugendbundes „FDM“ ( Freiheit, Demokratie, Men309 SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218). Zu Einzelprotesten bis Ende September vgl. Kap. II.2.8. 310 BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Aktion „Jubiläum 40“ ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27–34). 311 Stab der Zivilverteidigung im Bezirk Dresden vom 5.–6.10.1989 : Provokationen auf dem Territorium des Bezirkes Dresden ( ebd., Bl. 18 f.). 312 SED - KL Bischofswerda vom 6. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 313 Stab der Zivilverteidigung im Bezirk Dresden vom 5.–6.10.1989 : Provokationen auf dem Territorium des Bezirkes Dresden ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 18 f.). 314 SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 315 BDVP Karl - Marx - Stadt vom 7.–8. 10. 1989 : Rapport 280/89 ( SächsStAC, BDVP, Abt. Info /325, Bl. 15–17). 316 KDfS Hainichen vom 6. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 833, Bl. 105). 317 Vgl. KDfS Marienberg vom 6. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 538, Bl. 212–215). 318 KDfS Schwarzenberg vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 72–84).

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schenrechte ) des Kreises ein, in dem die Aussetzung der Feiern zum Jahrestag und stattdessen die Lösung der Probleme gefordert wurde. Am 7. Oktober werde man in Berlin für Freiheit, „Demokratie ( Errichtung der Diktatur des Volkes, Sturz der Diktatur der SED )“, Menschenrechte, Reformen und einen „wahren Sozialismus“ demonstrieren.319 An das HO - Kaufhaus in Thalheim schrieb jemand „Reise - Freiheit“, in Jahnsdorf „Freiheit“, „40 Jahre eingesperrt“ und an die Poliklinik Thalheim „Frei - Heit“.320 An der Wand der Bahnhofshalle Cainsdorf ( Zwickau ) stand : „Wählt das Neue Forum“.321 Bezirk Leipzig : In Altenburg und Rositz befanden sich Losungen auf der Straße, „deren Inhalt sich gegen die staatliche Ordnung richtete“.322 In der Gemeinde Ehrenhain stand „Reformen jetzt“ auf der Fahrbahn. In Langenleuba wurden Fahnen aus der Halterung gerissen und in den Dorfteich geworfen.323 In Altenburg malte ein Jugendlicher „herabwürdigende Symbole“ an Wände, ein anderer riss eine DDR - Fahne aus der Halterung und entfernte das Emblem.324 In Rötha ( Borna ) stand an Häusern : „Wir fordern demonstrativ das Neue Forum“, „40 Jahre DDR – kein Tag länger“, „Demokratie – jetzt oder nie“, „Diktatur bleibt Diktatur“ und „Wir bleiben hier“.325 In Döbeln klebte ein Flugblatt mit dem Text „Wir wollen jetzt Reformen“. In Hartha fand die Volkspolizei Flugblätter mit den Texten „SED nein – Neues Forum ja“ und „Gorbi hilf uns“.326 In Oschatz klebte ein DIN - A4 - Blatt mit der Aufschrift „40 Jahre DDR, 40 Jahre Sklaverei“.327 An der LPG Dobitschen ( Schmölln ) wurden rote und DDR - Fahnen sowie ein Plakat „40 Jahre DDR, 40 Jahre erfolgreiche Agrarpolitik“ heruntergerissen und verbrannt. An der Bushaltestelle hing ein weißes Tuch mit der Aufschrift „Von der SU lernen heißt siegen“. In der Mitte prangte ein schwarzer Stern. Im Buswartehaus Abzweig Gimmel stand „Stasi raus“.328 Im VEB Landmaschinenbau Wurzen und im Silikatwerk Brandis wurden Bilder Honeckers zerstört.329 Obwohl sich Einzelaktionen häuften, blieben sie doch, gemessen an der Haltung der Gesamtbevölkerung, Einzelerscheinungen. Sie waren allerdings Signale einer wachsenden Aktionsbereitschaft. Das galt natürlich umso mehr für 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329

KDfS Stollberg vom 5. 10. 1989 : Demonstrativhandlung ( ebd., St. 45, Bl. 36 f.). KDfS Stollberg vom 5. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 122–128). KDfS Zwickau vom 13. 10. 1989 : Lage ( ebd., AKG 3078, 2, Bl. 137–142). VPKA Altenburg vom 28. 9.–5. 10. 1989 : Wochenbericht ( SächsStAL, VPKA Altenburg, 3119). Vgl. VPKA Altenburg : Lagefilm über die Vorkommnisse am 6. 10. 1989 ( ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 1209). BDVP Leipzig : Rapporte, Lagefilme, o. D. ( SächsStAL, BDVP Leipzig, Rapporte, Lagefilme ODH 1989, 1450). Lagefilm vom 7. 10. 1989 ( ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 125). SED - KL Döbeln vom 6. 10. 1990 : Lagefilm ( ebd., Bl. 121). KDfS Oschatz vom 6. 10. 1989 : Öffentliche Herabwürdigung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Oschatz 177, Bl. 165). VPKA Schmölln vom 6.–7. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). BDVP Leipzig vom 6.10.1989 : Lagefilm ( ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 121).

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gemeinschaftliche oder gar organisierte öffentliche Proteste, bei denen die Wirkung, aber auch die Gefahr erheblich größer war als bei Einzelaktionen. Gemeinschaftliche und öffentliche regionale Proteste Bezirk Dresden : Während und nach einem „Ball der Jugend“ kam es am 5. Oktober in Wilthen ( Bautzen ) zu Ausschreitungen. Der Abschnittsbevollmächtigte (ABV ) wurde bedroht, die Bürgermeisterin konnte ihre Rede nicht halten. Jugendliche riefen : „Rache für Dresden“, „Freiheit für Mandela, Freiheit für uns, Freiheit für das deutsche Volk“, „Lasst uns endlich aus der Zone“, „Bullenstaat“, „Freies Deutschland“, „Lasst uns raus aus dem Bullenstaat“ sowie „Was denkt Ihr Euch mit Dresden, mit Euch wird abgerechnet“. 17 Jugendliche wurden zugeführt, sechs von ihnen kamen in Haft.330 In Bautzen sammelten sich am 6. Oktober 150 Personen, davon 50 Antragsteller, zum Schweigemarsch. 15 Personen wurden zugeführt.331 In Großröhrsdorf ( Bischofswerda ) sangen am Abend des 6. Oktober Jugendliche die „Internationale“ und riefen „Gorbi, Gorbi“. Es gab elf Zuführungen.332 Auch in Dippoldiswalde gab es „Zusammenrottungen von jugendlichen Gruppierungen, die in Sprechchören mit feindlichnegativen Aktivitäten in Erscheinung traten“. Es gab 22 Zuführungen.333 In Riesa - Gröba fand am 4. Oktober ein zweites Gebet für den Frieden statt.334 In der Kirche Großschönau ( Zittau ) folgte am nächsten Tag eine Veranstaltung zur Umweltbelastung, bei der das Neue Forum vorgestellt wurde.335 Bezirk Leipzig: Wichtigstes Zentrum regimefeindlicher Aktionen blieb die Stadt Leipzig. Hier vereinbarten die leitenden Vertreter der Kirchen, die ev. luth. Superintendenten Magirius und Richter, der katholische Propst Hanisch und der ev. - ref. Pfarrer Sievers am 3. Oktober, die Friedensgebete trotz staatlicher Forderungen nicht abzusetzen. Stattdessen wurde die Öffnung weiterer Kirchen für Demonstranten vereinbart. Von nun an trafen sich die Geistlichen wöchentlich zu Absprachen über das Verhalten während der revolutionären Ereignisse.336 Auf Bitte von Pfarrer Führer beschloss der Kirchenvorstand, die 330 Stab der Zivilverteidigung im Bezirk Dresden vom 5.–6.10.1989 : Provokationen auf dem Territorium des Bezirkes Dresden ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 19) : BVfS Dresden an MfS vom 6. 10. 1989 : Tagesbericht zur Aktion „Jubiläum 40“ ( ebd., Bl. 27– 34). 331 Vgl. BVfS Dresden : Schweigemarsch auf dem Postplatz in Bautzen, o. D. ( ebd., Bl. 35– 36). 332 BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 ( ebd., Bl. 101). 333 BVfS Dresden an Leiter aller Struktureinheiten vom 7. 10. 1989 : Aufgaben im Bezirk (ebd., Leiter, 403673, Bl. 1–3); MdI: Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). 334 Große Kreisstadt Riesa an Staatskanzlei vom 11. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 335 KDfS an SED - KL Zittau vom 6. 10. 1989 : Veranstaltung in der Kirche Großschönau (BStU, ASt. Dresden, KDfS Zittau, 7009 1, Bl. 12–16). 336 Vgl. Sievers, Stundenbuch, S. 61–63.

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Thomaskirche ebenfalls für Friedensgebete zu öffnen.337 Am Abend des 3. Oktober klebten in der Stadt Zettel mit Losungen wie „Rentner Staat – Nein Danke“, „Sozialismus so – Nein Danke“ oder „Gewalt gegen Gewalt – Warum ?“.338 Während sich die Regimekritiker in Friedensandachten rüsteten, bereitete sich das Regime ideologisch und militärisch auf den „Klassenkampf“ vor. In der „Leipziger Volkszeitung“ protestierte am 5. Oktober die Kampfgruppenhundertschaft „Gerhard Amm“ gegen die „konterrevolutionären Machenschaften“, denen man nicht weiter tatenlos zusehen werde. Tags darauf erklärte der Kommandeur der Hundertschaft „Hans Geiffert“, Günter Lutz, im selben SED - Blatt, die Kampfgruppe sei willens, die „konterrevolutionäre Aktion endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand !“339 SED - Mitglieder verschiedener Volkspolizei - Dienststellen erklärten, sie würden dem Feind „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ entgegentreten und kämpfen, wo die SED sie brauche.340 Auch die meisten Kampfgruppenmitglieder waren bereit, „die Errungenschaften mit der Waffe standhaft zu verteidigen“.341 Dass es sich nicht um leere Drohgebärden handelte, zeigte die Tatsache, dass am 5. Oktober wie in Dresden auch für Leipzig Hundertschaften der NVA gebildet wurden.342 In Bad Düben und Delitzsch wurden Unteroffiziersschüler mit Gummiknüppeln und Schutzschilden auf einen Einsatz gegen die Bevölkerung vorbereitet.343 Auf die Frage nach der Anwendung erhielten sie die Anweisung : „Reinschlagen, immer nur reinschlagen !“344 Am 5. Oktober rückten in Leipzig zwischen 1.00 Uhr und 3.00 Uhr drei Hundertschaften mit Maschinenpistolen aus ihren Objekten aus, am Abend folgten fünf weitere.345 Insgesamt wurden am 5. und 6. Oktober acht Hundertschaften aktiviert, jedoch nicht alle gegen die Bevölkerung eingesetzt.346 An einer Fürbittandacht in der katholischen Kirche Borna beteiligten sich am 6. Oktober 60 Personen.347 Am selben Tag protestierten evangelische Pfarrer und Kirchenmitarbeiter gegen die Beiträge in der „Leipziger Volkszeitung“, in denen Gewalt gegen Demonstranten gefordert wurde. Oberstes Gebot, so die 337 338 339 340 341 342

343 344 345 346 347

Vgl. Pfarrer Führer an Pfarrer Ebeling vom 3. 10. 1989 ( ABL, H 54). SED - SL Leipzig vom 5. 10. 1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 884). Leipziger Volkszeitung vom 6. 10. 1989. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 63. SED - SL Leipzig vom 5. 10. 1989 : Info über die Grundorganisationen des VPKA ( ABL, H. XV SED, FDJ ). SED - SL Leipzig vom 4. 10. 1989 : Info über die Einheiten der Kampfgruppen ( ebd.). Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss: Info, o. D. (BArch Berlin, VA-01/37601, Bl. 272 f.). Aussage des NVA - Generalmajors a. D. Engelmann und des VP - Generalmajors Gerhard Straßenburg. In : Tage der Entscheidung, Bayerischer Rundfunk am 7. 10. 1991 um 22.15 Uhr. Vgl. Schneider, Oktoberrevolution, S. 8; Ablaß, Zapfenstreich, S. 20. Vgl. Angaben von Generalmajor Diderich, Chef des Wehrbezirkskommandos, und Generalmajor Wiegang, Chef des Militärbezirkes Leipzig. Zit. bei Oldenburg, Die Implosion, S. 16. So Der Stern vom 25. 1. 1990. Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601 Bl. 272). Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 20. Borna ( HAIT, StKa ).

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Kirchenleute, müsse es vielmehr sein, Blutvergießen unter allen Umständen zu verhindern. Der Gebrauch von Waffen sei ebenso wenig gerechtfertigt wie das Reden davon.348 Im Kreis Geithain verteilten Jugendliche Flugblätter des Neuen Forums und riefen in der Kreisstadt „Neues Forum“. Auf dem Markt von Frohburg diskutierten 400 Personen über Themen wie Versorgung und freie Wahlen.349 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Die Lage im Bezirk stand am 5. und 6. Oktober noch unter dem Eindruck der Zugdurchfahrten. In Plauen versammelten sich am Abend des 5. Oktober weit über 1 000 Menschen an der Markuskirche zur Friedensandacht, die wegen des Andrangs wiederholt werden musste. „Diese mit größter innerer Anteilnahme gehaltenen Friedensandachten am 5. Oktober“, so Superintendent Küttler, „stellen für viele, zumal Christen in Plauen, den inhaltlichen Höhepunkt der Wende dar“.350 3.5

Zuführungen und Zuführungspunkte bis zum 7. Oktober

Bei den späteren Auseinandersetzungen im Herbst kam den Protesten gegen die Massenfestnahmen um den 7. Oktober eine wichtige Mobilisierungsfunktion zu. Hier zeigte das kommunistische Regime noch einmal deutlich, dass es gewillt war, seine Diktatur auch gewaltsam zu verteidigen. Allein im Bezirk Dresden, dem Verantwortungsbereich Modrows, wurden bereits vom 3. bis zum 7. Oktober 1 303 Personen zugeführt.351 Eine Auf listung der am Abend des 6. Oktober in Dresden 361 Festgenommenen zeigt, dass inzwischen die über wiegende Mehrzahl (335) aus Dresden kam. Die meisten waren unter 25 Jahre alt (243) und „Beschäftigte der volkseigenen Industrie“ (262). Unter den Festgenommenen waren 30 Frauen. Gegen 165 Personen wurden Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet.352 Nach Darstellung Nyffeneggers gab es während der Zuführungen keine Befugnisüberschreitungen, obwohl die festgenommenen „Rechtsverletzer und Rowdys“ das Militär mit Steinen beworfen hatten und „bei den Zuführungen provokatorisch auftraten und aktiven sowie passiven Widerstand leisteten“. So seien Uniformierte angespuckt und als „Bullenschweine“, „Nazis“, oder „Schweine wie in Chile“ beschimpft worden. Die Zugeführten seien deswegen mit den Händen im Nacken sitzend transportiert, bei Nichtbefolgen von Weisungen sei auch „mit Hilfe des Schlagstockes die Ordnung durchgesetzt“ 348 Superintendentur Borna an RdB Leipzig vom 6. 10. 1989 : Resolution gegen „Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden“ [16 Unterschriften ] ( Superintendentur Borna ). 349 Vgl. VPKA Geithain vom 6.–7. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 503). 350 Küttler, Die Wende in Plauen, S. 149 f. Vgl. Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 179–181. 351 Vgl. BDVP Dresden vom 26. 10. 1989 : Operative Lage von Oktober 1989 ( ABL, EA 891026_1). 352 BVfS Dresden an Hans Modrow vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, S. 69–77).

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worden.353 Anders stellte sich die Situation aus Sicht Betroffener dar. Ein 15 - Jähriger berichtete, er sei am 6. Oktober von zwei Polizisten mit Schild, Helm und Schlagstock gegriffen und mit dem Gummiknüppel geschlagen worden. Wer beim Aufsteigen auf die Lkws nicht schnell genug war, „steckte Schläge ein oder wurde auf rüde Art herumgerissen“.354 Nach Polizeidarstellung änderte sich der Charakter der Zugeführten ab dem 7. Oktober. „Sie verhielten sich relativ ruhig und diszipliniert, und es kam kaum zu Provokationen oder Widerstandshandlungen.“355 Über den Umgang mit Demonstranten im Zentralen Zuführungspunkt in der 8. VPB Dresden zeichnen Volkspolizei und Verhaftete ein unterschiedliches Bild. Nach Darstellung der Fachschule des MdI Radebeul gab es „keine Widerstandshandlungen, die eine Anwendung körperlicher Einwirkung mit Hilfsmitteln erforderlich machten“.356 Nach einem Bericht des Kommandeurs der 8. VPB wurden Männer von außen an die Garagentore gestellt und durch Offiziersschüler des Strafvollzugs bzw. Angehörige der Schule der Versorgungsdienste Bautzen durchsucht. Danach mussten sie in einer Reihe mit den Händen im Nacken etwa sieben Stunden stehen, vereinzelt auch länger. „Gewalt wurde nur angewendet, wenn zugeführte Personen sich den Anweisungen widersetzten und in der Garage versuchten, Stimmung zu machen. Dann wurde auch mal der Schlagstock eingesetzt, und diese Personen nahmen außerhalb der Garage mit dem Kopf am Garagentor und Händen im Nacken Aufstellung, bis sie sich wieder beruhigt hatten.“ Beim Absitzen der Zugeführten von den Lkws habe die Transportpolizei „überspitzt Gewalt angewendet“. Die Angehörigen der VPB hätten nur „vereinzelt Gewalt angewendet“, dafür aber extrem laut gebrüllt. „Härter angefasst“ wurden Personen, die einen Vermerk auf der Zuführungskarte hatten, wie „Gewaltanwendung gegen Sicherheitsorgane, Aussprechen von Morddrohungen, Steinewerfer, Verbrennen von Fahnen, Rädelsführer, Aufwiegler“.357 Laut Nyffenegger wurden die Verhafteten durch Zuführungskommandos mittels Lkw zum Zentralen Zuführungspunkt gefahren und dort von einer „Arbeitsgruppe Sicherheit“ aus Angehörigen der 8. VPB sowie Kräften der Fachschulen Bautzen und Radebeul übernommen. Sie wurden „mit dem Gesicht zur Wand, Händen im Nacken bzw. an der Wand gegrätschten Beinen aufgestellt, so dass ein möglicher Angriff auf unsere Genossen bzw. ein Fluchtversuch rechtzeitig erkannt und verhindert werden konnte“. Es „wurde stets darauf geachtet, dass die Anwendung der Hilfsmittel dem 353 Nyffenegger an Böhm vom 21. 10. 1989 : Info zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen ( ABL, EA 891021_1). 354 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( UB Grohedo, PB Superintendent Wolfgang Scheibner). 355 Nyffenegger an Böhm vom 21. 10. 1989 : Info zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen ( ABL, EA 891021_1). 356 Bericht der Fachschule des MdI „Heinrich Rau“ über den Einsatz im ZZP der 8. VPB am 7. 10. 1989 in der Zeit von 0.50–13.40 Uhr ( ebd., Dresden ). 357 8. VPB Dresden, Kommandeur vom 13. 10. 1989 : Ablauf im ZZP ( ebd., EA 891013_6).

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Umfang und dem Grad des Widerstandes entsprach. In keinem Fall wurde zugelassen, dass Personen grundlos geschlagen wurden“. Aufgrund der Organisation und der Arbeitsweise des Zuführungspunktes sei es notwendig gewesen, „einen Großteil der Zugeführten bis zur Befragung durch die Vernehmergruppe der Kriminalpolizei über einen längeren Zeitraum stehen zu lassen“.358 Dem widersprechen Zeitzeugenberichte Betroffener, die das Landeskirchenamt zusammentrug. Nach Darstellung eines wehrersatzdienstpflichtigen Bereitschaftspolizisten wurden unbeteiligte Zuschauer und gewaltlos demonstrierende Menschen im Zuführungspunkt genauso empfangen wie Personen, die Brandflaschen geworfen hatten. Auch Frauen, Mädchen und ältere Menschen seien geschlagen worden. Ein Betroffener berichtete. „Wer sich beschwerte, wurde hinausgeführt und zusammengeschlagen.“ Von einem 16 - Jährigen, der nicht mehr stehen konnte, hörten die anderen seine Schreie und die Schläge der Knüppel. „Ein anderer wurde mit dem Kopf mehrmals an eine Garagentür geschlagen.“ In einem anderen Bericht hieß es : „Stehen bis zur Schmerzgrenze – Leibesvisite – Jacke und Hose aus, Schuhe aus – dies alles unter Schlägen [...] Es wird keine Notiz von meiner Verletzung genommen – Anziehen der Sachen unter Stockschlägen und im Laufschritt zur nächsten Garage [...] Frage nach einem Arzt wegen meiner Verletzung nicht möglich – die Antwort sind Schläge, Schläge.“359 Angesichts der Überlastung des Zuführungspunktes wurde die Verlegung der Regimegegner in die Strafvollzugsanstalt Bautzen I vorbereitet. Schon am Abend des 4. Oktober war hier der Befehl eingegangen, alle Verteidigungspläne zu aktualisieren, Waffen und Munition zu sichern und die Bediensteten an der Waffe zu unterweisen. Am 5. Oktober ordnete der Anstaltsleiter, Oberstleutnant Dieter Sternberg, an, die Unterbringungskapazitäten in der U - Haft um 300 Betten zu erhöhen.360 Am 6. Oktober erhielt die Leitung kurz nach 17.00 Uhr von der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei den Befehl, Sondertransporte vorläufig festgenommener Personen und deren Aufnahme zu veranlassen. Es handele sich um Personen, die sich aktiv an den Ausschreitungen in Dresden beteiligt und Widerstand geleistet hätten. Deshalb seien verstärkte Maßnahmen zur Sicherung der Strafvollzugseinrichtung notwendig. Obwohl die Verlegung „Zugeführter“, gegen die noch kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, in eine Strafvollzugsanstalt ungesetzlich war,361 wurde am 7. Oktober entschieden, den gesamten Zuführungspunkt von Dresden in die Strafvoll-

358 Nyffenegger an Böhm vom 21. 10. 1989 : Info zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen ( ebd., EA 891021_1). 359 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( UB Grohedo, PB Superintendent Wolfgang Scheibner ). 360 Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 361 Vgl. Bericht des Bezirksstaatsanwaltes vom 22. 11. 1989 ( StA Dresden, StVV, Protokolle, 154).

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zugseinrichtung Bautzen zu verlegen. In der 8. VP - Bereitschaft Dresden wurden die Zugeführten nun nur noch für Transporte nach Bautzen gesammelt.362 Bei der Verlegung ging der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden, Nyffenegger, nach eigenem Bekunden von der „Notwendigkeit weiterer Zuführungen“ in „zumindest gleichen Größenordnungen wie vorher“ aus.363 In der Nacht zum 7. Oktober wurden 280 Personen aufgenommen und gefesselt nach Bautzen transportiert, wo die Strafvollzugseinrichtung bereits überfüllt war. Angesichts der vermeintlichen Gefährlichkeit der Zugeführten kamen bei deren Eintreffen „Hilfsmittel zur Anwendung“ und war „eine hohe Präsenz der eingesetzten Kräfte gewährleistet“.364 Die Festgenommenen mussten die Hände ins Genick nehmen und sich im Laufschritt bewegen.365 Michael Dulig erinnert sich : „Unter lauten Gebrüll wurden wir von den Lkws gejagt. ‚Hände in den Nacken !‘ ‚Im Laufschritt !‘ Wächter bildeten eine Gasse. Überall hagelte es Schläge. Ich bekam im Laufen Fußtritte, Knüppelschläge auf das Gesäß und einen gezielten Schlag auf den Hinterkopf ( ärztliche Diagnose : Kopfprellung ).“ Ähnlich die Aussage eines anderen Zeugen, Mario Göpfert : „An der Tür werden uns die Handschellen abgenommen. Hände wieder in den Nacken. Und im Laufschritt eine Treppe hinauf. Auf jedem Absatz wartete ein Knüppelschlag auf das Gesäß.“366 Einige Einsatzkräfte wurden mit Worten wie „schlimmer wie die SS und die Nazis“ und als „Nazischweine“ beschimpft. „Andere vorläufig Festgenommene“, so Nyffenegger, „grinsten die Einsatzkräfte zynisch an.“ „Zur Durchsetzung einer hohen Sicherheit und Ordnung wurde durch die Einsatzkräfte gegen die genannten Personen der Schlagstock“ angewandt.367 In der Nacht zum 8. Oktober nahmen in Bautzen Einsatzgruppen der Kriminalpolizei, des MfS, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte ihre Arbeit auf. Sie führten parallel Vernehmungen durch und stellten gegebenenfalls Haftbefehle aus. Am selben Tag wurde ca. 400 Verhaftete dem Kreisgericht Bautzen vorgeführt. Hierbei herrschte Rechtswillkür.368 Etliche Gefangene waren noch am 11. Oktober weder vernommen worden noch hatten sie einen Haftbefehl erhal362 Vgl. Bericht über den Einsatz von Kräften der Fachschule des MdI „Heinrich Rau“ Radebeul am 8. und 9. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 363 Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023). 364 BVfS Dresden : Aufnahme vorläufig festgenommener Personen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Dresden, Bautzen vom 12. 10. 1989 ( ABL, EA 891012). Vgl. Bericht des Bezirksstaatsanwaltes vom 22. 11. 1989 ( StA Dresden, StVV, Protokolle, 154); BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Aktenvermerk über die Zuführungen in die Haftanstalt Bautzen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 24). 365 Vgl. Nyffenegger an Böhm vom 21. 10. 1989 : Info zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit den zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen ( ABL, EA 891021_1). 366 Die Union vom 9./10. 12. 1989. Zu den Übergriffen in Bautzen und deren späterer Untersuchung vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 367 Nyffenegger an Böhm vom 21. 10. 1989 : Info zur Verfahrensweise bzw. zum Umgang mit den zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen ( ABL, EA 891021_1). 368 Vgl. BVfS Dresden vom 12. 10. 1989 : Aufnahme vorläufig festgenommener Personen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Dresden ( ebd.).

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ten. Eine Betroffene berichtet, bei der Durchsuchung ihrer Sachen habe man eine Visitenkarte des ZDF mit Adressen und Telefonnummern ausgereister Personen gefunden. Ein MfS - Mann in Zivil habe sie angeschrien : „So sehen Bestien aus, Sau, Ratte. Vieh, wir werden uns an dir furchtbar rächen, ich werde dich niedermachen, du wirst mich um Gnade anflehen.“ Sie sei eine Westspionin und Hure, die vom ZDF bezahlt werde. Dann habe er erklärt, er werde sie jetzt etwas misshandeln und habe ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen und auf die Füße getreten. Andere Festgenommene berichteten unabhängig voneinander, sie seien „unzählige Male grundlos geschlagen und ununterbrochen unflätig beleidigt“ worden, mit Worten wie „Reaktionäres Schwein – halt die Schnauze“ oder „Solche Ratten wie du haben kein Recht zu leben.“ Wiederholt wurde von Versuchen berichtet, auch mit Gewalt oder Gewaltandrohung ein Geständnis zu erpressen.369 Ein späterer Untersuchungsausschuss bestätigte die Übergriffe. Die rechtliche Lage der „Zugeführten“ war der Gefängnisleitung nicht bekannt. Die Information der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden lautete lediglich auf Verstöße gegen die Paragraphen 213, 215 und 217 StGB. Selbst Sternberg, der zwar nicht anwesend war, sprach im Nachhinein von „ungesetzlichen Zuständen“.370 Als Bezirkseinsatzleiter wusste Modrow natürlich von den Zuführungen. Unklar ist, wie genau er über Gewaltanwendungen informiert wurde. Auf jeden Fall trug er die Verantwortung für die Übergriffe. Später erklärte er, „die Angst unseres Apparates“ habe „zur Entgleisung geführt“. Dadurch sei „ein Hass gewachsen, von dem ich heute weiß, dass er ein letzter entscheidender Grund für tausendfache Abkehr vom Sozialismus wurde“. Seine eigene Haltung sei von „Überforderung der Gefühle und Handlungsfähigkeiten“ geprägt gewesen : „Ehe ich begriff, dass es sich bei den tatsächlich als ‚zugeführt‘ Gemeldeten um Hunderte von Verhafteten handelte und also etwas nicht stimmen konnte – es brauchte leider Tage !“371 In Dresden gab es zunächst die meisten Zuführungen. Aber auch in den Nachbarbezirken wurden Zuführungspunkte gebildet. Bezirk Leipzig : In Leipzig bereitete das Regime vor allem mit Blick auf den 9. Oktober Hunderte von Festnahmen vor. Im Volkspolizeikreisamt Leipzig wurden für 60 Personen, in der Turnhalle Leipzig - Paunsdorf für 100 und in zwei Hallen des Agra - Geländes Haftmöglichkeiten für etwa 600 Personen vorbereitet.372 Allein 70 VP - Angehörige waren für Befragungen vorgesehen.373 Das 369 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( UB Grohedo, PB Superintendent Wolfgang Scheibner ). 370 Die Union vom 30. 11. 1989. 371 Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 295 und 307. 372 Vgl. Entschluss des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP, Drs. 1/4773, Anlagen Minderheitenvotum Arnold und Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 663–671. 373 Markus Wolf spricht von „lächerliche( n ) Vorkehrungen [...]. Die Jungens hatten am Tag vorher Schlagstöcke in den Kasernen bekommen“. In : Runge / Stellbrink, Markus Wolf, S. 108.

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Gelände der Landwirtschaftsausstellung war in Kriegs - bzw. Krisenzeiten als Internierungslager vorgesehen.374 Vom Zuführungspunkt „Agra“ wurde Gebrauch gemacht. Die Festgenommenen wurden hier „menschenunwürdig“375 zu zehnt in Tierboxen eingepfercht.376 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt wurden im Zusammenhang mit den Zugdurchfahrten rund 200 Personen zugeführt. Ein später eingesetzter Untersuchungsausschuss stellte fest, dass es seitens der Demonstranten, bis auf Ausnahmen in Plauen, keine maßgeblichen gewaltsamen Provokationen der VP - Kräfte gab. Demgegenüber gab es bei den Polizeikräften zahlreiche Übergriffe wie Schlagstockeinsatz, Einsatz von Hunden, teils ohne Leine und Beißkorb, Gewaltanwendung im Gewahrsam, insbesondere in der U - Haftanstalt, Ankettung auf Zuführungsfahrzeugen, unzureichende Nahrungsgaben, herabwürdigende Behandlung, Beleidigung, unnötige Entkleidungsforderungen oder Leibesvisitation und unangemessene Verhörpraktiken sowie Nötigung zur schriftlichen Bestätigung guter Behandlung. Als „Einsatzübergriffe im organisierten Handeln“ wurden festgestellt : Anwendung von Gewalt gegenüber gewaltlosen Demonstranten, Drohungseffekte durch Schiebeschildfahrzeuge, Wasserwerfer und andere technische Mittel, Bereitstellung von Einheiten der Grenztruppen in Plauen, der Einsatz paramilitärischer Kräfte, die Verfolgung und Aufspürung von teils unbeteiligten Personen als vermeintliche Rädelsführer, die Anwendung erkennungsdienstlicher Maßnahmen bei Zugeführten, eine filmische Darstellung der Demonstranten ohne ausreichende Mitdarstellung der polizeilichen Maßnahmen, die Zuführung an getarnte bzw. abgelegene Zuführungspunkte sowie die „Fliegerstellung“ über lange Zeit.377 Die U - Haftanstalt Karl - Marx - Stadt war seit September ständig mehrfach überbelegt. Am 8. Oktober befanden sich in der Haftanstalt, die für ca. 100 Personen ausgelegt war, etwa 340 Festgenommene. Die Mitarbeiter behandelten sie brutal. Auch ihnen war „vorgespiegelt worden, die Konterrevolution sei ausgebrochen“.378

374 RdB Leipzig vom 25. 5. 1987 : Info für die BEL über die Verantwortung des RdB zur materiell - technischen Sicherstellung von Internierungsmaßnahmen und die Bereitstellung erforderlicher Kräfte, Mittel und Objekte zur Einrichtung des Internierungslagers ( ABL, FVS Dresden, Lagefilme Leipzig ). Vgl. RdB Leipzig vom 29. 8. 1989 : Vorlage für die BEL Leipzig: Bericht über die Planung und Sicherstellung des Internierungslagers, gez. Opitz und Straßenburg. Textauszug abgedruckt in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 63–65. 375 So Gerhard Straßenburg im Nachhinein. Zit. in ebd., S. 61. 376 Vgl. Aussage Uwe Meisselbach. In : ebd., S. 59. 377 Abschließender Bericht des UUA des BT Karl - Marx - Stadt zu den Ereignissen um den 7. 10. 1989 und zu den Zugdurchfahrten vom 11. 4. 1990 ( SächsStAC, 124556). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 12. 4. 1990. 378 Abschlussbericht zur Untersuchung der Vorfälle um den 7./8. 10. 1989 in Hainichen vom 20. 2. 1990 [ Verfasser unbekannt ] ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ).

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Stimmung der Bevölkerung vor dem 40. Jahrestag

Die Grenzschließung und die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge mit Sonderzügen führte nicht nur zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Sie führten auch zur weiteren Verschlechterung der allgemeinen Stimmungslage und zur weiteren Ausdifferenzierung der Meinungen in allen Bevölkerungskreisen einschließlich der SED. Wie im Bezirk Dresden machten sich zudem erste Brüche in der bislang einheitlichen Haltung der SED - Führung bemerkbar. Bezirk Dresden : Im Bezirk Dresden verstärkte sich nach der Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs das „renitente Auftreten von Reisenden und von Bürgern im Bezirk“.379 Die Bezirksverwaltung des MfS meldete, die Grenzschließung werde nicht akzeptiert. Die DDR sei nach allgemeiner Meinung nun „endgültig auf dem Weg zum sozialistischen Gefängnis“. Lediglich von „progressiven und staatsbewussten Bürgern, vor allem mittleren und leitenden Kadern sowie Funktionären“, wurde die Grenzschließung als „richtig, aber zu spät“ bewertet. Allerdings wurde auch hier einschränkend angemerkt, dass sie wieder nur die treffe, die „zur Stange“ hielten. Modrow erklärte am 6. Oktober gegenüber dem ZK, die Bevölkerung erwarte, dass Honecker den Menschen zu erkennen gebe, dass „über real existierende Probleme nachgedacht werde“. Viele Werktätige, auch Genossen, seien der Meinung, die entstandene Situation könne nicht nur gegnerischer Propaganda angelastet werden, sondern es seien auch innenpolitische Ursachen dafür verantwortlich. Es werde eine Regierungserklärung zur Lage und strategischen Vorhaben erwartet. Man müsse „die ganze Wahrheit sagen“ und Veränderungen in den Bereichen Versorgung, Bauwesen, Dienstleistungen, Gesundheitswesen und Reiseverkehr einleiten. Die Austritte aus den Reihen der SED nähmen zu.380 Es gab „Abwehrpositionen von Kadern in den Kreisen zum offensiven Auftreten an der Basis“.381 Im VEB Zinnerz Altenberg ( Dippoldiswalde ) gingen die Beschäftigten in den Bummelstreik über, um eine Sonderregelung zu erreichen.382 Die hiesige SEDKreisleitung meinte, der Gegner versuche, eine „konterrevolutionäre Stimmung“ zu schaffen und dazu Gruppen wie das Neue Forum zu bilden. Die Position der Partei sei „klar formuliert“ : „In der Frage der Macht gibt es keinen Pluralismus.“383 Im Zentralinstitut für Festkörperphysik und Werkstoffforschung Dresden planten einige SED - Wissenschaftler eine Resolution an das ZK, in der Honecker und die Visapflicht verurteilt werden sollten.384 Die Studenten 379 BDVP Dresden vom 3. 10. 1989 ( ABL, Dresden ); MdI: Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. (BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). 380 SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 381 SED - BL Dresden, 1. Sekretär vom 6. 10. 1989 : Lageeinschätzungen ( SächsHStA, SEDBL Dresden, 13218). 382 Vgl. BVfS Dresden vom 4. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9185, Bl. 17–19). 383 1. Sekretär an SED - KL vom 4. 10. 1989 ( SächsHStA, SED - KL Dippoldiswalde, IV / E 4./03. - 80). 384 Vgl. BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Aktion „Jubiläum 40“ ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27–34).

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der TU Dresden äußerten sich überwiegend skeptisch gegenüber der Entwicklung und nannten Reisen ein Grundbedürfnis gebildeter Menschen. Auch die meisten Lehrenden zeigten Unverständnis über den Versuch, die Schuld der Bundesrepublik zuzuschieben.385 In Freital wurde die Grenzschließung „relativ einheitlich“ abgelehnt. Nicht die Politik des Westens, sondern innere Probleme hätten zur Situation geführt. Die Informationspolitik wurde als „Verdummung“ der Bürger und die Ablehnung des Neuen Forums als „Angstreaktion des Staates“ bezeichnet. Es werde „Stimmung gegen Leitungskräfte mit einem autoritären Leitungsstil“ gemacht.386 Aus Löbau meldete die Kreisleitung, zur Informationstätigkeit der Medien gebe es verstärkte Kritik.387 Überall würden „sehr erregte und fordernde Diskussionen geführt“ und es häuften sich die Austritte aus SED und FDGB. Arbeiter des VEB Wittol Ebersbach meinten, wenn sich die Lage nicht bald normalisiere, komme es „zum Kochen“. Arbeiter des VEB Motorenwerke Cunewalde, Gießerei Beiersdorf, sahen es als bewiesen an, dass der Sozialismus versagt habe : „Wie lange will unsere Führung noch mit geschlossenen Augen rumlaufen und die Realitäten missachten, überall stinkt es und in Berlin wird gefeiert.“ Im Raum Neugersdorf, Ebersbach, Oppach wurde befürchtet, die Grenze zur ČSSR werde mit Stacheldraht gesichert. Mitarbeiter des Konsum - Backwarenkombinates in Neugersdorf meinten, es könnte „zu Auseinandersetzungen zwischen den Behörden und dem Volk kommen“.388 Im Kreis Riesa gab es innerhalb einer Stunde 75 telefonische Anfragen. Empörung rief besonders hervor, dass die Volkspolizei angewiesen sei, keine Privatreiseanträge entgegenzunehmen.389 Das „Neue Deutschland“ sei eine „Lügenpresse“, von der man „belogen und betrogen“ werde. Auch im Kreis Zittau waren Meinung und Stimmung „sehr differenziert“ und reichten von prinzipieller Ablehnung bis zur Begrüßung der Grenzschließung.390 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Vor allem unter der Bevölkerung des Grenzgebietes ( Annaberg ) wurde die Grenzschließung wegen wegfallender Kaufmöglichkeiten in der ČSSR abgelehnt. Es gab erste Hamstereinkäufe bei Lebensmitteln und Befürchtungen vor einem Bürgerkrieg.391 In Bärenstein ( Annaberg ), wo es am 4. Oktober Bananen zu kaufen gab, erklärten Arbeiter, sie bräuchten keine Almosen. Sie kauften nur wegen ihrer Kinder, die die Konflikte ja nicht verstünden.392 Im Kreis Annaberg vermieden es SED - Mitglieder, mit Parteiabzeichen in die Öffentlichkeit zu gehen, „da es sonst bei Diskussionen zu tätlichen Auseinandersetzungen kommt“. Es gebe „Leute, die sagen einem offen ins Gesicht, setz dich nicht so sehr für die Partei ein, sonst bist du einer der Ersten, die sie 385 386 387 388 389 390 391

BVfS Dresden vom 4. 10. 1989 : Info ( ebd., XX 9185, Bl. 13–16). KDfS Freital vom 3. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10917, Bl. 528–531). Vgl. SED - KL Löbau : Einschätzung, o. D. ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 75–77). Vgl. BVfS Dresden vom 4. 10. 1989 : Info ( ebd., XX 9185, Bl. 17–19). SED - KL Zittau vom 4. 10. 1989 : Meinungen ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). Vgl. KDfS Annaberg vom 5. 10. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 83). 392 Vgl. KDfS Annaberg vom 4. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 72–74).

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aufhängen“. VP - Angehörige erklärten dazu, es könne einem „ja total Angst werden, das kann doch nicht so weitergehen“. Auch SED - Mitglieder wurden immer kritischer. Im VEB Garnveredlungswerk Sehma verweigerten viele den Umtausch der Parteidokumente, weil die Versorgung zu schlecht sei und die Mitglieder der SED - Kreisleitung durch Sondereinkaufsmöglichkeiten privilegiert seien. Für ältere Menschen werde nichts getan. Man habe das Vertrauen zur Partei verloren. Diese gebe keine Antworten.393 Busfahrer des VEB KKV meinten : „Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, kommen fast täglich Funktionäre in die Betriebe, vorher bekam man keinen zu sehen.“394 Ein ehemaliger Kampfgruppenkommandeur aus Aue äußerte die Befürchtung, „dass uns [ DDR ] die BRD noch einverleibt“.395 Im Kreis Auerbach wurde verlangt, schnell Maßnahmen zu ergreifen, um die Versorgungslage zu verbessern. Ansonsten sei „das Vertrauen völlig hin und der innere Frieden in der DDR ernsthaft gefährdet“. Es gebe „kaum aussprechbare Befürchtungen“, die „von Aufgabe des Sozialismus bis zum Putsch à la Jaruzelski“ reichten. Zur Unzufriedenheit trug die Meinung bei, es gebe „eine privilegierte Schicht“, nämlich die Partei - und Staatsführung ab Bezirksebene aufwärts, die nicht auf die normale Versorgung angewiesen sei, sondern extra versorgt werde.396 „Selbst unter bisher zuverlässigen Bürgern“ und SED - Mitgliedern machte sich „ein gewisser Subjektivismus breit“ und sei „ein Zurückweichen von progressiven Auseinandersetzungen“ zu verzeichnen.397 Viele sähen zum Jahrestag keinen Grund zum Feiern. SED - Austritte nähmen zu. In Grünhain meinte der Bürgermeister, nicht die SED - Mitgliedschaft dürfe künftig eine Rolle spielen, sondern nur noch Kenntnisse.398 Auch im VEB Vereinigte Wäschefabriken Auerbach herrschte eine „ausgesprochene Missstimmung“. Man glaube nur noch den Westmedien. SED - Mitglieder teilten oft „voll und ganz die Meinungen der anderen Kollegen“ und würden „in keiner Weise“ ihrer „Rolle als Genosse“ gerecht. Auch der Kreisvorstand der Gesellschaft für Sport und Technik ( GST ) meinte, man wisse nicht mehr, woran man sei und habe den Eindruck, „als wenn sich nichts bewegt“. „Beherrscht das Politbüro, teilweise auch als ‚alte Männer‘ bezeichnet, überhaupt die Lage noch?“ Unter SED - Mitgliedern der Dozenten der Fachschule für Ökonomie Rodewisch ( Auerbach ) herrschte „Ratlosigkeit über den weiteren Werdegang unserer Partei unter den Umständen der gegenwärtigen Klassenkampfsituation“. Über 90 Prozent kritisierten die Medienpolitik, forderten eine größere Bedeutung der fachlichen Leiter gegenüber den Funktionären und betonten die Notwendigkeit des Leistungsprinzips. Vor allem auch im Gesundheits - und Sozialwesen des Kreises nahm die Zahl der SED - Austritte zu. Gründe waren die „miserable Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, Bekleidung und Baustellen, die Medi393 394 395 396 397 398

Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 84–90). KDfS Annaberg vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 120–124). KDfS Aue vom 3. 10. 1989 : Wochenlage ( ebd. 531, 1, Bl. 142–147). KDfS Auerbach vom 4. 10. 1989 : Bericht ( ebd. 530, Bl. 90–94). KDfS Stollberg vom 3. 10. 1989 : Info ( ebd. 542, 2, Bl. 1–8). Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 72–84).

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enpolitik und die Vernachlässigung gesellschaftlich notwendiger Aufgaben im Gesundheits - und Sozialwesen“. Es gab aber auch hier entgegengesetzte Meinungen. So lehnten die Mitarbeiter des Wehrkreiskommandos Auerbach die Zugdurchfahrten ab. Man verstand nicht, dass bei der Flucht Festgenommene eingesperrt würden und „diesen Verbrechern bezahlen wir sogar noch die Fahrkarte in die BRD“. Es sei eine „Schande“, dass „keine Härte gegen diese Verbrecher“ gezeigt werde.399 Verkäuferinnen des Kaufhauses Auerbach empfanden die „Aktuelle Kamera“ als Belustigung. Die Regierung habe „wahrscheinlich über vieles keine Kenntnis“, da gefälschte Meldungen von „unten“ nach „oben“ gegeben würden. Kritik werde schon in den Betrieben unterdrückt.400 Auch in den Betrieben des Kreises Brand - Erbisdorf war die Stimmung schlecht. Arbeiter stellten Leitungskadern in aggressiver Form Fragen, wollten konkret wissen, wie es weitergehen solle.401 Arbeiter des VEB Narva „Rosa Luxemburg“ Leuchten - und Leuchtstofflampenwerk Brand - Erbisdorf und des VEB Press - und Schmiedewerke „Einheit“ Brand - Erbisdorf reagierten mit Unverständnis auf die Grenzschließung. Der Kreissekretär des Kulturbundes bezeichnete sie als „Riesensauerei“ und erklärte, das „Neue Deutschland“ würde nur Lügen verbreiten.402 Arbeiter im VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf und im VEB Möbelkombinat, Betriebsteil Rechenberg - Bienenmühle, kritisierten, die Grenzschließung treffe den „kleinen Arbeiter“, der ordentlich arbeite. Einige Arbeiter seien aggressiv und träten gegen die Politik der SED auf.403 Auch das Verhältnis zwischen der Bevölkerung der Grenzregion und Angehörigen der bewaffneten Organe verschlechtere sich. Gespräche mit ihnen würden gemieden.404 In Eppendorf ( Flöha ) kursierte der Witz, Honecker sei einer der größten Feldherren. Er habe 17 Millionen eingekesselt und 20 Tausend in die Flucht geschlagen. Man erzähle den Spruch : „Lieber Gott, mach mich blind, damit ich nicht nach Ungarn find. Lieber Gott, mach mich taub, damit ich nicht dem Westen glaub. Bin ich taub, bin ich blind, bin ich Erichs liebstes Kind.“405 In vielen Betrieben, so im VEB Verbundnetz Gas, Bereich Sayda, und im VEB Kreisbau Brand - Erbisdorf wurden Funktionäre nur noch belächelt, wenn sie die offiziellen Argumente vortrugen.406 Aber auch hier kritisierten nicht alle das Vorgehen der SED - Führung. Besonders linientreu war offenbar das Lehrerkollektiv der Polytechnischen Oberschule ( POS ) „Lilo Herrmann“. Hier sah man die Zugdurchfahrt als Ausdruck der „zu großen Humanität der Partei“ und äußerte „Hass und Abscheu“ über die Flüchtlinge. Die Verräter müsste man „alle einsperren“. Noch aber, so die Lehrer, sei es nicht zu spät, Ordnung zu schaf399 400 401 402 403 404

KDfS Auerbach vom 3. 10. 1989 : Bericht ( ebd. 530, Bl. 95–100). KDfS Auerbach vom 4. 10. 1989 : Bericht ( ebd., Bl. 87–89). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1807, Bl. 162–164). KDfS Brand - Erbisdorf vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 159–161). KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 152–155). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 532, 1, Bl. 132– 135). 405 KDfS Brand - Erbisdorf vom 7. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 156–158). 406 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 162–164).

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fen. Äußerungen wie, es dürfe nicht so weit gehen, dass sich „die Partei vor der Bevölkerung lächerlich“ mache,407 erinnern an Bert Brechts Kommentar zum 17. Juni 1953, die Führung sollte sich ein neues Volk suchen, das alte habe versagt. Offensichtlich standen die Lehrer aber nicht allein. Das gewaltsame „Vorgehen der Schutz - und Sicherheitsorgane zur Auflösung von Zusammenrottungen“ auf den Bahnhöfen fand unter der „progressiven Bevölkerung des Kreises im Wesentlichen Zustimmung“.408 Im VEB Klingenthaler Harmonikawerke, Betriebsteil Satzung ( Marienberg ), kündigten viele Beschäftigte wegen der Grenzschließung ihren FDGB - Austritt an. Der stellvertretende Vorsitzende des FDGB - Kreisvorstandes wurde „niederdiskutiert“ und „verließ ohne positives Ergebnis den Betrieb“. Im VEB Glaswerk Marienberg wurden die SED - Mitglieder aufgefordert, die Partei zu verlassen. Die Kreisleitung registrierte immer mehr Austritte. Im VEB Kinderstrickwaren, BT Marienberg - Gebirge, sprach die Belegschaft vom „verknöcherten Politbüro“, von „Betonköpfen“ und „Stalinisten“. Im VEB Federnwerk Marienberg meinten Mitarbeiter : „Jetzt sind wir vollkommen eingesperrt. Wir leben in keinem Arbeiter- und Bauern - Staat, sondern in einem Polizeistaat.“409 Unter der Bevölkerung von Seiffen herrschte ebenfalls Unzufriedenheit und Missstimmung. Der Grundtenor lautete : „Nun hat man uns die letzte Möglichkeit des freien Reisens genommen. Es hat wieder einmal die Unschuldigen und kleinen Leute getroffen.“410 Im Ratiomittelbau VEB Elektroinstallation Deutschneudorf hieß es : „Nun haben die Kommunisten alles dicht gemacht und uns die letzte Freiheit genommen.“411 In Reichenbach kam es zu Protesten, als – wie üblich – zehn Omnibusse aus der ČSSR zu Einkaufsfahrten in die Stadt kamen. Lautstark wurde kommentiert, diese könnten „alles wegkaufen“, während die Deutschen „eingesperrt und die Dummen“ seien.412 Im Kreis Oelsnitz war „ausnahmslos von allen Bürgern“ zu hören, man erwarte ein offenes Wort der Partei - und Staatsführung. „Es dürfe nicht nur der BRD die Schuld gegeben werden. In erster Linie müssten wir unsere Fehler offen ansprechen [...]. Das Vertrauen in unsere Führung ist total verloren gegangen. Man glaubt nichts mehr.“ Unter SED - Mitgliedern mache sich Resignation breit. Die DDR werde untergehen, wenn die „Alten“ nicht endlich abträten und Veränderungen in der Wirtschaft einleiteten. SED - Mitglieder der Staatsbäder lehnten weitere Parteiversammlungen und - lehrjahre als „vollkommen unsinnig“ ab. Seit Jahren würden „dieselben Probleme diskutiert und nichts ändert sich. Es sei schade um die Zeit.“413 Im Kreis „herrscht Angst, dass es im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag zu Schießereien kommt“, und es wurde gehofft, „dass es keinen 17. Juni gibt“. Auch hier nahmen Parteiaustritte zu.414 In Schwar407 408 409 410 411 412 413 414

KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Eigeninformation ( ebd., AKG 532, 1, Bl. 89). KDfS Brand - Erbisdorf vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 159–161). KDfS Marienberg vom 6. und 7. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 212–215). KDfS Marienberg vom 8. 10. 1989 : Info ( ebd.). KDfS Marienberg vom 13. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 185 f.). KDfS Reichenbach vom 19. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 541, 1, Bl. 22–24). KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Info ( ebd. 2145, 1, Bl. 40–44). KDfS Oelsnitz vom 6. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 36–39).

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zenberg seien die Menschen „verärgert und gereizt“. „Uneinsichtige Bürger“ meinten : „Am besten gleich eine Mauer um die ganze DDR bauen, damit keiner mehr rauskommen kann. Das begreift kein normaler Mensch mehr, aber wo gibt es denn noch normale Menschen in der DDR.“415 Auch im Kreis Zschopau waren die Ausreisewelle und die Grenzschließung Diskussionsschwerpunkte in allen Bevölkerungsschichten. Etwa je die Hälfte der Bevölkerung sprach sich hier nach Einschätzung des MfS für bzw. gegen die Grenzschließung aus.416 Bezirk Leipzig : Auch die Leipziger SED - Mitglieder hatten Probleme, den „Charakter der politischen Kampagne“ gegen die DDR „klassenmäßig“ zu beurteilen. Allerdings befürwortete die Mehrzahl den Einsatz der Kampfgruppen gegen die Demonstranten und ein schärferes Vorgehen gegen „antisozialistische Kräfte“. Es gab aber auch „Auffassungen, stärker mit diesen Leuten zu reden“.417 Von SED - Mitgliedern in den Kampfgruppen gab es sowohl Treuebekenntnisse als auch Parteiaustritte sowie „Zweifel an der führenden Rolle unserer Partei und an der Richtigkeit unserer Wirtschaftspolitik“.418 SED - Mitglieder der Anschlussbahn Phönix in Rositz ( Altenburg ) meinten, einen Verzicht auf die führende Rolle der SED und eine Änderung der Produktionsverhältnisse werde es nicht geben. Es könne nur um eine Verbesserung des Sozialismus gehen.419 Unmittelbar vor dem Jahrestag hatte der Grad der Unzufriedenheit einen für das Regime gefährlichen Stand erreicht. Gleichzeitig führten die Ereignisse zu einer wachsenden Polarisierung zwischen „progressiven Kräften“, zu denen längst nicht mehr alle SED - Mitglieder gehörten, und der Bevölkerungsmehrheit. Das Regime hätte also allen Grund gehabt, auf Deeskalation und Entgegenkommen zu setzen, tat aber genau das Gegenteil. Mit auch für viele SED - Mitglieder nicht nachvollziehbarer Härte ging es gegen die unzufriedene Bevölkerung vor, beschimpfte diese als „Klassenfeind“ und brachte so immer mehr Menschen gegen sich auf. Verblendet durch die Ideologie, war die Führung außerstande, die Situation angemessen zu analysieren. Es fehlten aber vor allem finanzielle und ökonomische Möglichkeiten, auf Wünsche der Bevölkerung nach besserer Versorgung einzugehen. So bewahrheitete sich die Lenin’sche Analyse einer revolutionären Situation, die eintrete, wenn „die da unten“ nicht mehr wollen und „die da oben“ nicht mehr können. Nicht die Unwilligkeit der Führung zur Änderung der Lage war entscheidend, sondern ihre Unfähigkeit. Insofern war die Situation Ausdruck des allgemeinen Scheiterns des realen Sozialismus.

415 416 417 418

KDfS Schwarzenberg vom 6. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 542, 1, Bl. 72–84). Vgl. KDfS Zschopau vom 12. 10. 1989 : Stimmungsbild ( ebd. 1821, Bl. 9–11). SED - SL Leipzig vom 3. 10. 1989 : Lage ( ABL, H. XV - 3 SED ). SED - SL vom 4.10.1989 : Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( SächsStAL, SED Leipzig, 884). 419 Vgl. SED - Parteileitungssitzung GO AWA am 9.10.89 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 6).

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Neues Forum und Demokratischer Aufbruch Anfang Oktober

Anders als in großen Teilen der Bevölkerung dachte man in der Berliner Initiativgruppe des Neuen Forums. Diese erklärte am 1. Oktober in einem organisatorischen und programmatischen Grundsatzpapier, es müsse von der fortdauernden Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgegangen werden. Veränderungen würden in der DDR angestrebt, wobei man kein Reformkonzept vorgebe. Es müsse sich aus der Diskussion entwickeln. Ziel sei die Bildung einer legalen Plattform für einen Dialog unter Einbeziehung von Opposition und SED. Hier wurden auch Vorschläge zur Organisationsstruktur gemacht.420 Sprecher Sebastian Pflugbeil sprach sich klar gegen jede Wieder vereinigung aus. Das Neue Forum stehe auf dem Boden der Verfassung der DDR und strebe „ausdrücklich eine sozialistische DDR“421 an. Damit ging er über die Formulierungen im Papier vom 1. Oktober hinaus, wo ein klares Bekenntnis zum Sozialismus so nicht vorkam. Ein weiterer Tagesordnungspunkt am 1. Oktober war die Reaktion der SED - Führung auf die republikweite Anmeldung des Neuen Forums am 19. September, die nicht nur abgelehnt wurde. Vielmehr wurde das Neue Forum in den eigenen Medien als „staatsfeindliche Plattform“ und „5. Kolonne“ diffamiert. Andreas Schönfelder, der am 1. Oktober Mitglied der Initiativgruppe des Neuen Forums wurde,422 hatte eine Analyse über die Chancen einer Zulassung und die Strategie im Zusammenhang mit einem einzuleitenden Beschwerdeverfahren vorgelegt. Ein Kerngedanke, der in das Positionspapier Eingang fand, war, dass eine Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen nicht dazu missbraucht werden kann, das Verfassungsrecht auf Gründung von Vereinigungen ( Art. 29 DDR - Verfassung ) auszuhebeln. Auf dieser Grundlage verfasste Rechtsanwalt Gregor Gysi am 3. Oktober im Auftrag des Neuen Forums eine Eingabe an das Innenministerium zur Nichtzulassung.423 Ein zweiter Kerngedanke war die deutliche Aussage, dass sich das Neue Forum „weder in die Illegalität noch ausschließlich in den kirchlichen Raum abdrängen lassen“ werde. Erstmalig wurden in dem Papier Kontaktadressen genannt, an die sich Interessierte zwecks Aufbaus einer Organisation und thematischer Mitarbeit wenden konnten. Für Sachsen war die Adresse von Andreas Schönfelder angegeben. Im Innenministerium erklärte man ungeachtet dessen, da das Neue Forum die Staats - und Rechtsordnung diffamiere und den Grundsätzen und Zielen der 420 Aufruf des Neuen Forums vom 1. 10. 1989, gez. Reinhard Schult, Reinhard Meinel, Christian Tietze, Matthias Büchner, Heidemarie Wüst, Rudolf Tschäpe, Jutta Seidel, E. Seidel, Hans - Jochen Tschiche, Eva Reich, Jens Reich, Bärbel Bohley, Andreas Schönfelder, Sebastian Pflugbeil, Hagen Eckrath, Lothar Imme, Rolf Henrich ( ABL, H. XIX /1). 421 Interview mit Sebastian Pflugbeil. In : Bremer Nachrichten vom 4. 10. 1989. 422 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 423 Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED vom 20. 10. 1989, Anlage 1 : Info über Aktivitäten zur Gründung einer Vereinigung „Neues Forum“, Anlage 1 : Schreiben von Gregor Gysi an das MdI, HA Innere Angelegenheiten vom 3. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3252).

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Verfassung widerspreche, sei die Versagung der Bestätigung für die Anmeldung endgültig.424 Am 7. Oktober forderte das Neue Forum die SED - Mitglieder auf, endlich die führende Rolle auszuüben. Das Neue Forum sei aktiv, solange die SED durch ihre Untätigkeit den Sozialismus gefährde.425 Derartige Bekenntnisse änderten nichts daran, dass die Partei - und Staatsführung von seiner „Imperialismushörigkeit und - abhängigkeit“ sprach. Tatsächlich gehe es dem Neuen Forum nicht um Reformen, sondern um Abschaffung des Sozialismus.426 Nicht so recht ins zweistaatliche Konzept passte es, dass sich am 6. Oktober in WestBerlin auf Initiative führender Mitglieder des Bereiches „Berlin - Politik“ der Alternativen Liste ein „Neues Forum West“ konstituierte, welches das Neue Forum in der DDR unterstützen wollte. In der „taz“ veröffentlichten am 10. Oktober Freya Klier, Guntolf Herzberg und Lotte Templin einen Gründungsaufruf, in dem es hieß, man betrachte sich nicht als „Exilorganisation“ oder „Hilfskomitee“, wolle aber die Zusammengehörigkeit mit dem Neuen Forum hervorheben. Auch die Führung von Solidarność bemühte sich um Kontakte zum Neuen Forum.427 In Sachsen erhielt das Neue Forum von Anfang an unerwartet starken Zulauf. Die Initiatoren wurden manchmal von einer Unterschriftenwelle nahezu überrollt, die sie angesichts zunächst fehlender Infrastruktur oftmals überforderte. Der Erfolg hing damit zusammen, dass das Neue Forum nicht mit einem fertigen Reformkonzept an die Öffentlichkeit trat, sondern alle zum Dialog über die Probleme aufrief. Damit wurde die Kompetenz jedes Einzelnen zur Lösung der Probleme angesprochen und keine neuen Rezepte präsentiert. Das Neue Forum wurde so zum Symbol, „unter dem jeder alles verstehen und jeder seine Erwartungen eintragen konnte“.428 Zudem wurden Probleme aus dem praktischen Leben der Bevölkerung angesprochen und, jedenfalls in Sachsen, weitgehend auf den Begriff „Sozialismus“ verzichtet. Dadurch verweigerten hier zwar etliche Intellektuelle ihre Unterschrift, andererseits stieg die Zustimmung in der Bevölkerung.429 In den meisten Kreisen kümmerte man sich wenig um Vorgaben aus Berlin und formte sich ein Neues Forum nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen. Meist war unbekannt, dass das Neue Forum in Berlin von verschiedenen Basisgruppen gebildet worden war, unter Einbeziehung von Personen aus verschiedenen Regionen, die zum Teil bereits jahrelang in vernetzten Zusammenhängen arbeiteten und sich untereinander vertrauten. Tatsächlich

424 Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED vom 20. 10. 1989, Anlage 2 : Antwortschreiben des MdI zur Eingabe von Gregor Gysi ( ebd.). 425 Neues Forum zum 40. Jahrestag der DDR vom 7. 10. 1989 : Aufruf an alle Mitglieder der SED ( ABL H. XIX /1). Text abgedruckt in Rein, Die Opposition, S. 15 f. Vgl. Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 69 f. 426 MdI an BDVP 1 bis 16, Chefs, Schulen des MdI 31 bis 50, Leiter und Kommandeure vom 9. 10. 1989 ( ThSTAM, BDVP, 630). 427 MfS, ZAIG, Nr. 451/89 vom 9. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 210. 428 Interview mit Edgar Dusdal. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 73. 429 Vgl. Reich, Rückkehr nach Europa, S. 186.

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war der Kern des Neuen Forums aus konspirativen Zusammenhängen erwachsen, die es bereits seit Jahren gab. Das Neue Forum begann sich Anfang Oktober in den sächsischen Bezirken auszubreiten. Der Bezirksverwaltung des MfS Dresden fiel auf, dass Gruppen und Personen des Bezirkes zwar die DDR - weiten Sammlungsbewegungen unterstützten, im Bezirk jedoch keine darüber hinausgehenden, eigenständigen Vereinigungen bildeten.430 In der Tat gab es kaum regionale Gruppen, die sich nicht als Gruppen des Neuen Forums verstanden. Ausnahmen waren eine Bürgerinitiative „Sozialismus in Demokratie“, die am 27. September ihre Genehmigung beantragte und zur Gründung im Oktober aufrief,431 und in Plauen wirkte eine „Initiative zur Demokratischen Umgestaltung“. Sie ging aus einem Kreis von Arbeitskollegen der Firma ELGAWA hervor und bereitete die Demonstration am 7. Oktober in Plauen vor.432 Aber auch diese orientierten sich am Neuen Forum. MfS und die Abteilungen Inneres der Räte der Bezirke begannen mit der Disziplinierung der Organisatoren und der „beweiskräftigen Dokumentierung ihres Vorgehens“.433 Dresden : Schwerpunkte von Versuchen der Gründung des Neuen Forums im Bezirk waren die Kreise Bautzen, Dresden - Land, Meißen, Pirna, Zittau, Löbau und Görlitz. Das MfS fasste die Verbreitung des Aufrufs am 6. Oktober noch unter „Vorkommnisse“ wie Anbringen von Losungen, Bombendrohungen und Drohanrufe zusammen. Bis dahin gab es 50 Fälle, wobei in einigen Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden.434 In Bautzen verstärkte eine Gruppe des Neuen Forums ihren Kontakt mit Zittau. Trotzdem blieb ihre Arbeit unabhängig. Anders sah es in Löbau und Görlitz aus, deren Initiativen durch eine Initiativgruppe geprägt wurden, die sich in Zittau um die Pfarrer Alisch und Hempel bildete.435 In Neugersdorf ( Löbau ) wurden Unterschriften für das Neue Forum gesammelt.436 Im Entwurf vorläufiger Richtlinien des Bautzener Neuen Forums wurden die Ausreisewelle und die Straßenproteste als „die deutlichsten Anzeichen für grundlegende Schäden in der Gesellschaft“ bezeichnet. Es sei dringend erforderlich, Lösungsvorschläge demokratisch zu erörtern. Das Neue Forum Bautzen wollte sich an der Diskussion wichtiger Probleme beteiligen und trat für eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft ein. Zwar berief sich die Gruppe auf die Verfassung, anders als in Berlin war jedoch von Sozialismus keine Rede.437 Im Kreis Bischofswerda stellte sich das Neue Forum per Flug430 431 432 433 434

Vgl. BVfS Dresden vom 25. 9. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 342–346). Agnes Mehlhorn an RdSB Karl - Marx - Stadt - Süd vom 27. 9. 1989 ( SächsStAC, 128706). Vgl. Lindner, Plauen, S. 124. SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, A 13218). BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27– 34). 435 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 436 Vgl. KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 75– 77). 437 Neues Forum Bautzen vom 7. 10. 1989 : Vorläufige Richtlinien ( Entwurf ) ( PB Ronny Heidenreich ).

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blatt als „unabhängige politische Vereinigung“ und „Bürgerbewegung“ vor, die offen „für Menschen verschiedenster Weltanschauungen und politischer Überzeugungen“ sei. Man wolle das demokratische Engagement der Bürger außerhalb der Parlamente organisieren und sei zur Übernahme politischer Verantwortung bereit. Ziele seien die Schaffung eines demokratischen Rechtsstaates, die Bewahrung der natürlichen Umwelt, eine freie Marktwirtschaft mit einem System sozialer Sicherheit, die Wahrung der Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen und „das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zum Erlangen der staatlichen Einheit Deutschlands“.438 In Dresden stellte das MfS am 1. Oktober beim Fürbittgottesdienst gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes erstmals Aktivitäten einer „Bürgerinitiative Dresden zum Neuen Forum“ fest. Treibende Kraft war hier Pfarrer Hanno Schmidt aus Coswig, der auch Protestschreiben gegen das Verbot des Neuen Forums veranlasste.439 Hier gab es Anfang Oktober Unterschriftensammlungen in der Medizinischen Akademie und im Bereich Bühnentechnik des Staatsschauspielhauses. Durch einen IM konnte der Versuch der amtierenden FDJ - Sekretärin der Hochschule für Bildende Künste verhindert werden, den Aufruf des Neuen Forums zu diskutieren. Auch im Verkehrs - und Tiefbaukombinat Dresden wurden Unterschriften gesammelt,440 ebenso in mehreren Kirchen.441 Um den 9. Oktober wurden in Wilsdruff ( Freital ) Vorbereitungen für ein erstes Treffen des Neuen Forums getroffen und Einladungen verschickt.442 In Königsbrück ( Kamenz ) gab es ab Anfang Oktober eine starke Gruppe des Neuen Forums.443 Einwohner initiierten eine Unterschriftensammlung und sammelten ca. 300 Unterschriften. Zu den Aktivisten gehörte hier „eine Reihe von Handwerksbetrieben“.444 In Meißen wurde Anfang Oktober in der Frauenkirche unter Leitung von Superintendent Berger über den Aufruf des Neuen Forums diskutiert.445 In der Kirche Riesa - Gröba bemühte sich der Staat mit Hinweis auf die Anmeldepflicht nichtkirchlicher Veranstaltungen vergeblich, eine Vorstellung des Neuen Forums am 2. Oktober zu verhindern.446 In Zittau versuchte das MfS die Aktivisten durch Androhung von Geldstrafen von einer Werbung für das Neue Forum abzubringen.447 438 Was versteht man unter dem Begriff „Neues Forum“ ? vom 9. 10. 1989 ( PB Hubertus Wolf ). 439 Vgl. BVfS Dresden vom 2. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 280). 440 Vgl. BVfS Dresden vom 3. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 273–275). 441 Vgl. BVfS Dresden vom 8. 10. 1989 : Komplexe politisch - operative Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Absichten und Vorhaben feindlich negativer Kräfte ( ABL, EA, 89 0000_1). 442 Vgl. Freital ( HAIT, StKa ). 443 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 4. 1. 1990. 444 KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1– 3). 445 Vgl. BVfS Dresden vom 3.10.1989: Lage (ebd., XX 9181, Bl. 273–275). Zur Entwicklung in Meißen vgl. Tiesler, Systemtransformation; Burkhardt, Politik und Alltag in Meißen. 446 Vgl. BVfS Dresden vom 2. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 310–312). 447 Vgl. BVfS Dresden vom 4. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 267, 268).

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Karl - Marx - Stadt : Im Bezirk Karl - Marx - Stadt lagen am 3. Oktober etwa 400 Interessenbekundungen zum Aufruf des Neuen Forums vor. Wesentlich mehr Bürger protestierten an diesem Tag gegen die Ablehnung der Zulassung. Auf Bezirksebene gab das Neue Forum als Nahziele eine offene Aussprache zwischen Bevölkerung und Regierung und eine sofortige Änderung des Wahlgesetzes an. Es berief sich auf die Verfassung und erklärte, nicht als illegale oder Untergrundorganisation wirken zu wollen.448 Am 4. Oktober trafen sich Aktivisten des Neuen Forums bei Martin Böttger, um Demonstrationen vorzubereiten und über die Ausbreitung des Neuen Forums zu beraten.449 In Annaberg - Buchholz kam es bereits Ende September zur Kontaktaufnahme mit Bärbel Bohley. Anfang Oktober wurde eine Ortsgruppe in Crottendorf gebildet und über 1 000 Unterschriften gesammelt.450 Ähnlich sah es in Scheibenberg aus.451 Der Aufruf lag auch im Kreistheater Annaberg, in der Buchhandlung „Buch und Kunst“ und im Aufenthaltsraum des Lok - und Rangierpersonals des Bahnhofes Annaberg - Buchholz / Süd aus.452 Das MfS konstatierte, die Anhänger würden „in immer breiterer Front vorgehen“ und versuchen, eine Massenbasis zu erreichen.453 Vor allem in der Kreisstadt und in den Gemeinden Elterlein, Schönfeld und Scheibenberg wurden „Hetzzettel“ mit dem Text „Sozialismus ja – SED nein, Neues Forum auch in Annaberg“ ausgelegt.454 Im VEB Messgerätewerk Cranzahl gab es eine Unterschriftensammlung für das Neue Forum.455 Am 8. Oktober stellte Pfarrer Neels aus Rodewisch öffentlich im Gottesdienst das Neue Forum vor.456 Hier kursierte das Gerücht, Markus Wolf sei der eigentliche Initiator des Neuen Forums.457 Auch in Brand - Erbisdorf gab es Diskussionen über das Neue Forum,458 wobei es auch Ablehnungen wie unter den Lehrern der POS „Lilo Herrmann“ in Eppendorf gab. Sie nannten die Akteure „absolute Spinner“. Wer „die sozialistischen Errungenschaften in dieser Art versuche in Misskredit zu bringen, gehöre hinter Schloss und Riegel“.459 In der Poliklinik Hohenstein - Ernstthal sah man im Neuen Forum eine mögliche Alternative zur SED, meinte aber, als reine Vereinigung von Intellektuellen werde es unter der Bevölkerung keine ausreichende Zustimmung fin448 Neues Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 9. 10. 1989 : Neues Forum - Aktuell ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 70). 449 Vgl. Martin Böttger am 7. 10. 2006 in Plauen, Mitschrift d. A.; BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4. 10. 1989: Bericht des IM Achim Öser ( BStU, ASt. Chemnitz, XIV 257/84–II ). 450 Vgl. Jörg Lötzsch / Andreas Demmler, Chronik der Wende ( HAIT, StKa ). 451 Vgl. Gabriele und Karlheinz Schlenz, Wende in Scheibenberg ( ebd.). 452 Vgl. KDfS Annaberg vom 6. 10. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 133–135). 453 KDfS Annaberg vom 7. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 128 f.). 454 KDfS Annaberg vom 20. 10. 1989 : Feindlich - negative Kräfte ( ebd., Bl. 60–68). 455 KDfS Annaberg vom 9. 10. 1989 : Neues Forum ( ebd., AKG 3078, 1, Bl. 11 f.). 456 Vgl. Karl Rink, Ortsgeschichte Reumtengrün ( HAIT, StKa, Bl. 743 f.). 457 Vgl. KDfS Auerbach vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 74–78). 458 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 152–155). 459 KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Eigeninformation ( ebd. 532, 1, Bl. 89).

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den.460 Jedenfalls fand es laut MfS unter kirchlichen Würdenträgern des Kreises zahlreiche Sympathisanten.461 Auch im Kreis Oelsnitz kursierten Anfang Oktober Zettel, die auf das Neue Forum hinwiesen.462 In Plauen wurde das Neue Forum Ende September / Anfang Oktober gegründet und am 5. Oktober in der Kirche vor ca. 2 000 Teilnehmern vorgestellt.463 In Schwarzenberg registrierte das MfS mehrere Sympathisanten, die meinten, das Neue Forum zeige, wie die Menschen wirklich denken. Als Gegenmaßnahme empfahl das MfS die Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte.464 Zwickau war durch Martin Böttger ein Zentrum des Neuen Forums im Bezirk. Hier wurde am 3. Oktober formal der Antrag auf Zulassung für den Bezirk abgelehnt.465 Böttger fungierte als Kontaktmann in die Kreise, allein am 4. Oktober registrierte das MfS Kontaktaufnahmen aus Meerane, Annaberg, Stollberg und Plauen.466 Fünf Tage später hatte das Neuen Forum bereits mehr als zehn Kontaktstellen im Bezirk. Nach von Böttger organisierten Treffen in Karl - Marx - Stadt und Stollberg am 8. Oktober rief es ab dem 9. Oktober zum Dialog und zu freien Wahlen auf.467 Leipzig : Am 1. Oktober benannte das Neue Forum Berlin für Leipzig Ansprechpartner, unter ihnen Michael Arnold, Uwe Schwabe und Jochen Läßig. Es wurde zur Bildung von Gruppen in Wohngebieten, regionalen Zentren und zur Wahl eines Sprecherrates sowie zur Bildung thematischer Arbeitsgruppen aufgerufen. Zur politischen Orientierung hieß es : „Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben.“468 Im Bezirk konstatierte das MfS am 5. Oktober zunehmende Aktivitäten zur Erweiterung der Basis.469 Daran änderten auch Erklärungen von SED - Grundorganisationen wie der des TVW Rositz ( Altenburg ) nichts, in der man oppositionellen Kräften den Kampf ansagte und die Nichtzulassung des Neuen Forums begrüßte.470 Am 5. Oktober übernahm Peter Burck die Verantwortung für den Aufbau des Neuen Forums in den Kreisen Eilenburg, Delitzsch und Torgau.471 In Grimma wandten sich „Freunde des Neuen Forums“ am 6. Oktober anonym an den 1. Sekretär der SED - Kreis460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471

Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 534, 2, Bl. 94–98). Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 83–85). Vgl. KDfS Oelsnitz : Info, o. D. ( ebd., Oe 40). Vgl. Bericht von Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 134 f. Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 3. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818). Vgl. Neues Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 9. 10. 1989 : Neues Forum - Aktuell (ebd., St. 45, Bl. 70); Baum, „... ehrlich und gewissenhaft“, S. 5–10. Vgl. BStU, ASt. Chemnitz, XX 833, Bl. 61. Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt: Bericht des IM Achim Öser vom 8. 10. 1989, Anlage 1 : Neues Forum Aktuell vom 9. 10. 1989, Anlage 2 : Kontaktadressen im Bezirk Karl - Marx Stadt ( ebd., XIV 257/84–II ). Neues Forum Berlin vom 1. 10. 1989 : Liebe Freundinnen und Freunde des Neuen Forums ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg, 138, Bl. 1 f.). BVfS Leipzig, AKG vom 5. 10. 1989 : Neues Forum ( AB Leipzig, Hefter VIII ). Vgl. SED GO TVW Rositz vom 5. 10. 1989 : Stellungnahme der APO - Ökonomie ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 36). Vgl. Peter Burck ( Eilenburg ) an OB Wacker vom 15.2.99 ( HAIT, Eilenburg A5.1).

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leitung und kündigten an, künftig Übergriffe durch Sicherheitskräfte zu dokumentieren. Es sei „nicht ausgeschlossen, dass diese Leute im Nachgang außer Gefecht gesetzt werden“, wenn das Neue Forum in der gesamten DDR Fuß gefasst habe.472 Am 8. Oktober stellte sich das Neue Forum Leipzig erstmals in der Michaeliskirche öffentlich vor, wegen des Andrangs musste die Veranstaltung am Abend wiederholt werden.473 Haltung der Kirchen zum Neuen Forum Die Haltung zum Neuen Forum war in den Kirchen unterschiedlich. So gab es in der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens Differenzen, die, so Modrow, „wir beachten und auch nutzen müssen“.474 Das MfS konstatierte in den Kirchenvorständen und Kirchgemeinden „eine zum Teil starke geistige bzw. personelle Verbundenheit mit dem Neuen Forum“. Ungeachtet dessen lehnte das Landeskirchenamt Veranstaltungen zur Unterstützung mit der Begründung ab, dies sei keine Sache der Kirche. Als Landesbischof Hempel diese Position am 6. Oktober auf einem Pfarrertag in Bautzen vertrat, widersetzten sich einige Pfarrer wie Gühne ( Pirna ), Schmidt ( Coswig ) und Hempel ( Großschönau ).475 Der Superintendent sowie der Stadtpfarrer von Pirna, Günther und Gühne, meinten, es sei schlimm, das Neue Forum abzulehnen.476 Gühne rief am 4. Oktober vor ca. 1 000 Jugendlichen in der Klosterkirche Pirna dazu auf, aus allen Parteien und Massenorganisationen auszutreten und distanzierte sich von seiner eigenen Partei, der CDU.477 Auch im Kreis Flöha konstatierte das MfS Zustimmung der meisten kirchlichen Amtsträger zum Neuen Forum.478 In anderen Kirchenkreisen wurden die Vorgaben der Landeskirche umgesetzt. So wurde bei einer Ephoralkonferenz in der Superintendentur Dresden - Mitte festgelegt, keine Veranstaltungen für das Neue Forum durchzuführen.479 Wie stark der Druck des Staates war, zeigten Vorgänge in Zittau. Auch hier musste das Regime feststellen, dass Amtsträger und Basisgruppen die Ziele des Neuen Forums als „ihre eigenen Ziele“ ansahen480 und sich „fast alle Pfarrer geistig in Richtung“ Neues Forum bewegten. Auch die katholische Kirche unternahm verstärkt Aktivitäten.481 In 472 Lagefilm vom 7. 10. 1989 [ ohne Verfasser ] ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 128). 473 Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 78. 474 1. Sekretär der SED - BL Dresden an 1. Sekretäre der SED - KL, SBL, SL (einschl. TU Dresden) vom 6. 10. 1989: Lage im Bezirk ( ABL, EA 891006_1). 475 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 476 Vgl. BVfS Dresden : Neues Forum, o. D. ( ebd., XX 9181, Bl. 267, 269–271). 477 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., 1. SdL 1, Bl. 41–47). 478 Vgl. KDfS Flöha vom 14. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 87–90). 479 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 480 An die Bürgermeister der Städte und Gemeinden des Kreises Zittau vom 3. 10. 1989 [ohne Verfasser ] ( ebd., KDfS Zittau, 7009, 1, Bl. 173–251; 2, Bl. 247–253). 481 Vgl. SED - KL Zittau vom 9. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550).

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Einzelgesprächen wurde Pfarrern daraufhin erklärt, es handele sich um eine verbotene Organisation. Wer sich dafür engagiere, handle illegal. Die Volkspolizei verhängte Ordnungsstrafen gegenüber Pfarrern, die das Neue Forum unterstützten. Ihnen wurde erklärt : „Für uns steht die Frage der Macht und daran werden wir nicht rütteln lassen.“482 Nach Einzelgesprächen verpflichteten sich alle Pfarrer außer Hempel ( Großschönau ) und Alisch ( Zittau ) bei einer Dienstberatung am 6. Oktober beim Rat des Kreises Zittau, sich nicht aktiv für die Zulassung einzusetzen. Ungeachtet dessen waren sich alle Pfarrer einig, dass dessen Ziele „sehr gut“ seien.483 Anders war die Lage in der Evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebietes, wo Superintendent Peter Lobers sehr eng mit dem Staat kooperierte. Lobers distanzierte sich eindeutig von „rowdyhaften Ausschreitungen“ und erklärte, „das Verhältnis Staat - Kirche sei im Territorium nicht mit anderen Kirchengebieten zu vergleichen“. Er werde keine Belastung zulassen. Er zeigte auch „grundlegendes Verständnis für volkspolizeiliche Maßnahmen zur Verhinderung von Ausschreitungen“.484 Wieder anders war die Lage in der Ev. - meth. Kirche. Deren Bischof, Rüdiger Minor, forderte die Mitglieder zu „rückhaltlosem Freimut“ auf und identifizierte sich „teilweise mit den gegenwärtigen Aktivitäten feindlich - negativer Kräfte zur Forderung einer sogenannten Opposition“.485 Entsprechend couragiert war auch die Haltung der meisten Pfarrer in den Gemeinden.486 In der katholischen Kirche gab es keine direkten Vorgaben zum Umgang mit dem Neuen Forum. Generell wurde in den Predigten aufgefordert, Probleme nicht durch Gewalt zu lösen und in der Heimat zu bleiben.487 Konstituierung des Demokratischen Aufbruchs am 1. Oktober Der „Demokratische Aufbruch“ konstituierte sich am 1. Oktober.488 Allerdings wurde der erste Versuch einer Gründungsversammlung mit etwa 60 bis 70 Vertretern aus der gesamten DDR vom MfS weitgehend unterbunden und den anreisenden Personen der Zutritt zur Samariterkirche in Berlin - Friedrichshain verwehrt. Die Organisatoren489 begaben sich daraufhin in das Gemeindehaus 482 Wolfgang Müller an OLKR Ihmels, Landeskirchenamt Sachsen, vom 10. 10. 1989 ( UB Grohedo ). 483 KDfS Zittau vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Zittau, 7009, 1, Bl. 247). 484 KDfS Görlitz vom 12. 10. 1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( ebd., LBV 10989, Bl. 1– 6). 485 KDfS Schwarzenberg vom 4. 10. 1989 : ev. - meth. Kirche ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818). 486 Vgl. KDfS Annaberg vom 16. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 52–54). 487 Vgl. KDfS Annaberg vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 120–124). 488 Aufruf zum „Demokratischen Aufbruch – sozial, ökologisch“ vom 2. 10. 1989. Abgedruckt in Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 162–164. 489 U. a. Rainer Eppelmann, Wolfram Hülsemann ( Berliner Stadtjugendpfarrer ), Heino Falcke ( Erfurter Propst ), Ehrhardt Neubert ( Pfarrer ), Daniela Dahn und Rosemarie Zepplin ( Schriftstellerinnen ).

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der Kirchengemeinde Alt - Pankow, wo Struktur, Organisation und Programm beraten und präzisiert wurden. Anwesend waren auch Vertreter von Demokratie Jetzt, der Initiativgruppe zur Bildung einer Sozialdemokratischen Partei und der Dresdner Initiative „Demokratische Erneuerung“. Nach der Zusammenkunft informierten Eppelmann, Neubert und Pahnke westliche Journalisten über den Ablauf und das geplante weitere Vorgehen.490 Der von Edelbert Richter verfasste Programmentwurf proklamierte eine demokratische, soziale und ökologische Erneuerung der DDR, die Einführung von Informations - und Meinungsfreiheit, Parteienpluralismus, gesellschaftliche Kontrolle des Staates, die „Beibehaltung des Volkeigentums“ an wichtigen Produktionsstätten und ein „Zusammenspiel von Plan und Markt“. Ausdrücklich wurde der Führungsanspruch einer Partei bestritten. Der Demokratische Aufbruch erklärte, nicht die Wiedervereinigung Deutschlands anzustreben, betonte aber die Bedeutung des besonderen Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland, das sich aus der Einheit der deutschen Geschichte und Kultur ableite.491 Eppelmann erklärte den reformsozialistischen Ansatz damit, dass ein Teil der Gruppe, ehemalige SED Mitglieder, ihr Mitwirken davon abhängig gemacht hätten, dass das Positive am Sozialismus beerbt werden müsse.492 Im Gegensatz zu Demokratie Jetzt beschloss der Demokratische Aufbruch sofort eine straffe Organisation „weg von der Spontaneität, hin zu Verbindlichkeit und festen Strukturen“.493 In dem am 2. Oktober verbreiteten Aufruf hieß es : „Wir wollen neu lernen, was Sozialismus für uns heißen kann.“ Am 2. Oktober wurden die Initiatoren unter Arrest gestellt.494 Trotz des Bekenntnisses zum Sozialismus ließe der Demokratische Aufbruch nach Meinung des MfS Übereinstimmungen mit dem deutschlandpolitischen Konzept der CDU / CSU erkennen.495 3.8

Blockparteien und Nationale Front 1. bis 9. Oktober

In den Blockparteien setzten sich die bisherigen Entwicklungstendenzen fort. Bis auf die Vorstöße Gerlachs gingen von ihnen keine wesentlichen Impulse für die Entwicklung aus. Vielmehr reagierten sie auf die jeweilige Entwicklung und passten sich den sich ändernden Umständen an. Einzelne Mitglieder und Funktionäre allerdings beteiligten sich wie andere Teile der Bevölkerung an Protestaktionen. Kennzeichnend waren aber auch hier Unsicherheit über die politische Zukunft und die eigene Rolle. Zahlreiche Funktionäre hatten das System verinnerlicht und dachten nur in Kategorien der Systemmodifizierung. Seitens der 490 Interview mit Rainer Eppelmann. In : Junge Welt vom 9./10. 12. 1989. Text des Aufrufes und Bericht abgedruckt in Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 180–183. 491 Demokratischer Aufbruch, sozial und ökologisch. Perspektiven für unser Land, Programmentwurf vom 2. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1838, Bl. 13–15). 492 Interview mit Rainer Eppelmann. In : taz vom 3. 10. 1989. 493 Aussage Rainer Eppelmann. In : DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 49. 494 Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 23–28. 495 Vgl. Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang der Stasi, S. 270–281.

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SED wurden die Sekretäre der Blockparteien auf eine Fortsetzung der bisherigen Bündnispolitik getrimmt.496 Sie wurden weitgehend vom Staat finanziert.497 Die SED - Kreisleitungen mussten ihre Kontakte zu den Blockparteien „noch enger“ gestalten. Einzelne Mitglieder der Sekretariate wurden für konkrete Blockparteien verantwortlich gemacht, um dem seit Längerem beobachteten inneren Auseinanderdriften der Blockparteien zu begegnen.498 Nicht nur die Unterschiede zwischen den Blockparteien nahmen zu, auch innerhalb der „Bündnispartner“ wuchsen die Differenzen zwischen Personen und Organisationseinheiten. Im Kreis Weißwasser schätzte das MfS ein, dass Funktionäre und Mitglieder der Blockparteien „eine annähernd gleiche Auffassung zur Fortführung der Bündnispolitik“ vertraten wie die SED. 90 bis 95 Prozent sprächen sich für die Beibehaltung der Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik aus, trügen aber auch die gängigen Kritiken an der Wirtschafts - und Medienpolitik vor. Allerdings würden alle Kreisvorstände neue oppositionelle Strukturen ablehnen. Reformen zur Beseitigung des Sozialismus wurden hier nicht gefordert.499 Auch im Kreis Werdau vertraten die Kreisvorstände einheitlich die Auffassung, „dass an der Arbeiter - und Bauernmacht nicht gerüttelt wird“.500 Das „bewährte Bündnis unter Führung der SED“ wollten auch alle Blockparteien des Kreises Delitzsch fortsetzen.501 Kritischer als in den Kreisvorständen sah die Lage unter den Mitgliedern aus. Hier war bei vielen das Vertrauen zur DDR - Staatsführung „auf den Null - Punkt abgesunken“. Viele „Blockfreunde“ seien darüber verärgert, von ihren Vorständen keine Antworten zu bekommen. Die Austritte mehrten sich.502 Auf Mitgliederversammlungen, so auch im Bezirk Karl - Marx - Stadt, wurde „offener und deutlicher als in der Vergangenheit [...] die führende Rolle der SED in Frage gestellt und der gleichberechtigte Anspruch an der Führung herausgestellt“.503 LDPD : Allein in der LDPD konnten sich die Mitglieder bei systemimmanenten Kritiken auf ihre Führung stützen. Zum 40. Jahrestag hatte der LDPD - Vorsitzende Gerlach Kritik an Missständen in der DDR erneut gutgeheißen, ohne den Sozialismus in Frage zu stellen. Seine Äußerungen wurden nicht nur in der LDPD als Ermutigung empfunden. Die SED - Führung versuchte, meist vergeblich, Kreis - und Bezirksverbände gegen ihn zu mobilisieren. Gerlach selbst nutz496 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 5. 10. 1989. 497 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 359. 498 Vgl. SED - BL Dresden vom 6. 10. 1989: Lage ( ABL, EA 891006); SED - KL Zittau vom 9. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 499 KDfS Weißwasser vom 3. 10. 1989 : Gegenwärtige Situation in den befreundeten Parteien im Kreis Weißwasser ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 588–594). 500 Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 6. 10. 1989. 501 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 12. 10. 1989. 502 KDfS Freital vom 5. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 510–513). 503 KDfS Annaberg vom 7. 10. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 128 f.).

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te seine sowjetische Rückendeckung und Meinungsverschiedenheiten in der SED - Führung aus, um seinen Kurs fortzusetzen. Seine Haltung hatte in dieser Phase der Entwicklung mobilisierende Wirkung über die LDPD hinaus. Sie stärkte all jenen den Rücken, die kritische Fragen stellten und sich dabei auf ihn beziehen konnten.504 Am 9. Oktober beriet die LDPD - Führung ein Sofortprogramm der Partei, in dem u. a. ein öffentlicher Dialog unter Einbeziehung der Bürgergruppen, eine demokratische Medienpolitik, Reisemöglichkeiten, eine umfassende Demokratisierung und eine neue Wirtschaftsstrategie gefordert wurden.505 In der LDPD in Sachsen reagierten, wie z. B. im Kreis Oelsnitz, viele Mitglieder positiv auf Gerlachs offenes Ansprechen der Probleme und seine Aussage, dass man mit Andersdenkenden wie dem Neuen Forum reden müsse.506 Im Kreis Weißwasser meinten viele Mitglieder, das Neue Forum sei keine antisozialistische Gruppierung.507 Vielerorts arbeiteten CDU und LDPD - Mitglieder selbst in Basisgruppen der Kirche oder Gruppierungen des Neuen Forums mit.508 Oft gingen die Forderungen an der Basis noch über die Gerlachs hinaus und betrafen immer häufiger die Führungsrolle der SED. In Bärenstein ( Annaberg ) gab es Äußerungen wie : „Wir dürfen nicht mehr der SED hinterherlaufen, sondern neben ihr gehen.“ Die LDPD müsse eigenständiger werden.509 In Ebersbach ( Löbau ) fragten Mitglieder, was eine Partei wie die LDPD überhaupt solle, da die Führungsrolle der SED ohnehin nicht angetastet werden dürfe und alle politischen Führungsstellen von SED - Mitgliedern besetzt würden. Hier setzte sich der Kreissekretär der LDPD, Klaus - Dieter Füssel, dafür ein, gesellschaftlich aktiver in Erscheinung zu treten und Leitungsfunktionen zu übernehmen.510 CDU : Seit dem „Brief aus Weimar“ gärte es an der Basis der CDU, ohne dass von ihr Impulse auf die Entwicklung ausgingen. Umgekehrt trieb der revolutionäre Prozess die innerparteiliche Polarisierung voran. Wohl aber beteiligten sich auch CDU - Mitglieder an oppositionellen Aktivitäten. So wirkten z. B. in Zittau CDU - Mitglieder in Basisgruppen der Kirche mit.511 Auch an der CDU - Basis gab es erhebliche Unterschiede in der Haltung zum kommunistischen Regime und zur eigenen Rolle in der Diktatur. Das zeigt ein Blick auf sächsische CDU - Kreisverbände. In den Kreissekretariaten wurde Anfang Oktober der „Brief aus Weimar“ diskutiert. Die Haltung dazu markiert vorhandene politische Unterschie504 Vgl. Marcowitz, Der schwierige Weg, S. 13–15. 505 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 285–287. 506 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 47– 51). 507 Vgl. KDfS Weißwasser vom 3. 10. 1989 : Situation in den befreundeten Parteien ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 588–594). 508 Vgl. SED - KL Zittau vom 9. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 509 KDfS Annaberg vom 7. 10. 1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 128 f.). 510 Vgl. KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : LDPD, NDPD, CDU ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 68–74). 511 Vgl. SED - KL Zittau vom 9. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550).

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de. Am 2. Oktober war sich z. B. das Sekretariat des CDU - Kreisverbandes KarlMarx - Stadt Land einig, dass die SED „kein Konzept, keine Lösung“ habe. Die CDU solle beginnen, eigene Wege zu gehen.512 Der CDU - Kreisverband Oelsnitz forderte vom Bezirkssekretariat, Stellung zu beziehen. In der CDU gab es wegen des SED - freundlichen Kurses des Bezirksvorsitzenden Klaus Reichenbach bereits Parteiaustritte und die Tendenz zur Niederlegung politischer Funktionen und Ämter. Auch der Kreisvorsitzende, Geipel, kündigte an, als Kreisvorsitzender zurückzutreten.513 Der CDU - Kreisvorstand Weißwasser legte fest, die Mitglieder nicht über den „Brief aus Weimar“ zu informieren, da dieser ungerechtfertigte Forderungen enthalte. Aber auch hier gab es Kritiken und Forderungen etwa hinsichtlich der Ausreisepraxis, der Verantwortung der Kirche oder der Medienpolitik. CDU - Mitglieder, so hieß es, kritisierten, dass Beschlüsse der CDU „zu sehr von der SED übernommen werden“.514 In der Leipziger Ausgabe der „Union“ vom 4. Oktober rief ein Mitglied im Namen der CDU zum gesamtgesellschaftlichen Dialog auf. Die CDU müsse Raum für kulturvollen Streit um die gesellschaftliche Entwicklung bieten. Ausgangspunkt des Dialogs könne die Erkenntnis sein, dass sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus reformbedürftig seien. Notwendig sei ein gelassenes Tolerieren der Meinung Andersdenkender. Am 5. Oktober beschloss der CDU - Kreisvorstand Schwarzenberg, den „Brief aus Weimar“ in den Ortsgruppen zu diskutieren und eventuelle Vorschläge an den Hauptvorstand in Berlin zu richten. Zum Neuen Forum meinte der Kreisvorsitzende, es gebe in der DDR genug Parteien, sie müssten ihre Möglichkeiten nur mehr ausschöpfen.515 Am 9. Oktober befasste sich eine erweiterte Kreisvorstandssitzung der CDU Flöha mit dem „Brief aus Weimar“. Der Kreisvorstand forderte alle Ortsgruppen auf, sich schriftlich an den Hauptvorstand zu wenden und Götting aufzufordern, bei Honecker auf Veränderungen zu drängen. „Dies sei alles mit dem Bezirksvorstand der CDU abgestimmt.“ Es gab Meinungen wie : „Der Staat müsse jetzt alles verändern, mit der derzeitigen Politik kann es so nicht weitergehen.“516 Aus Löbau wusste das MfS zu berichten, dass der dortige Kreissekretär der CDU, Roman Krebs, zur Entwicklung „eine abwartende Haltung“ einnehme, tatsächlich aber den „Brief aus Weimar“ eine „feine Sache“ genannt habe. Es sei an der Zeit, dass der CDU - Vorstand endlich aufwache und sich etwas einfallen lasse. Krebs lehnte es auch ab, wie vom Bezirksvorstand gefordert, die feste Verbundenheit der CDU zum Staat zu erklären. Auch unter den Mitgliedern wurden zunehmend Forderungen nach Veränderung laut. Ca. 70 Prozent identifizierten sich mit dem „Brief aus Wei512 Protokoll der Sitzung des Sekretariats des KV der CDU Karl - Marx - Stadt - Land vom 2. 10. 1989 ( PB Klaus Reichenbach ). 513 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 40– 44); KDfS Oelsnitz vom 9. 10. 1989 : CDU - Kreisverband Oelsnitz ( ebd., Bl. 67). 514 KDfS Weißwasser vom 3. 10. 1989 : Situation in den befreundeten Parteien im Kreis Weißwasser ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 588–594). 515 KDfS Schwarzenberg vom 5. 10. 1989 : Abschrift des Briefes Beierfeld ( BStU, ASt. Chemnitz, Sb 53, Bl. 4–17). 516 KDfS Flöha vom 9. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., AKG 532, 2, Bl. 79–83).

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mar“. Ein großer Teil führender Parteifunktionäre des Kreisvorstandes war nicht mehr bereit, Wahlfunktionen in der Partei auszuüben, solange die CDU nicht offen Stellung zur Entwicklung beziehe. Die CDU müsse sich reformieren, sonst gebe es ein böses Erwachen. Einzelne Mitglieder forderten öffentliche Stellungnahmen der CDU u. a. zum Umweltschutz, zur Wirtschaftspolitik und zur Verdrehung von Tatsachen. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht sowie in der Parteiarbeit müsse wieder zur Wahrheit zurückgefunden werden.517 Der CDU - Kreisvorstand Freital verschickte einen offenen Brief an alle Mitglieder mit dem Ziel, „die entstandenen Widersprüche zwischen Führungsorganen und ihren Mitgliedern wieder abzubauen, um in der Perspektive eine qualifiziertere Arbeit leisten zu können“.518 NDPD : Anfang Oktober orientierte der NDPD - Bezirksvorstand Karl - Marx Stadt die Kreisverbände, sich verstärkt im gesellschaftlichen Leben des Kreises zu profilieren. Vor jeder Sitzung des Kreistages, des Rates der Stadt usw. sollten die Abgeordneten der NDPD zusammenkommen, um ihr Vorgehen abzustimmen. Das war zwar im Vergleich zum bisherigen Verhalten schon mutig, wurde aber an Deutlichkeit von einigen Kreisverbänden weit in den Schatten gestellt. Bei der Sitzung des Sekretariats des Kreisvorstandes Klingenthal am 2. Oktober sprach sich z. B. Kreissekretär Reinhard Eichelberg gegen die Vormachtstellung der SED in allen Bereichen aus, forderte eine Kontrolle des MfS und politische Grundrechte. Die Bespitzelung der Bürger durch das MfS müsse aufhören. In Klingenthal bespitzele ja inzwischen „jeder jeden“. Die Lage zeige, wie machtlos die SED sei und „wie sie den Dingen nur noch hinterherläuft“. Für die NDPD komme es darauf an, die Stunde zu nutzen. Ein „äußerst negatives“ Beispiel demokratischer Gesinnung lieferte die Parteigruppe der NDPD in Markneukirchen. Hier beteiligte sich der Ortsvorstand geschlossen an Demonstrationen im Ort und meinte, die SED habe ihren Führungsanspruch eingebüßt. Die Parteigruppe ging, so das MfS, „mit ihren Ansichten immer mehr in die Richtung oppositioneller Kräfte“.519 Unter NDPD - Mitgliedern im Kreis Weißwasser wurde gefragt : „Was macht die NDPD anders als die SED ?“520 Der Löbauer NDPD - Kreissekretär Peter Helminski verhielt sich, so das MfS, in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage der führenden Rolle der SED sehr vorsichtig. Intern formulierte er seine Kritiken jedoch deutlicher und meinte auch, jeder solle das Recht haben, die DDR zu verlassen.521 517 KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : LDPD, NDPD, CDU ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 68–74). 518 KDfS Freital vom 10. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459– 461). 519 KDfS Klingenthal vom 6. 10. 1989 : Feindlich - negative Erscheinungen in der NDPD (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 22–24). 520 KDfS Weißwasser vom 3. 10. 1989 : Gegenwärtige Situation in den befreundeten Parteien im Kreis Weißwasser ( BstU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 588–594). 521 KDfS Löbau vom 9. 10. 1989 : LDPD, NDPD, CDU ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 68–74).

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Auf zum letzten Gefecht

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DBD : Anfang Oktober forderten auch viele Mitglieder der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, die Verantwortung ihrer Partei gegenüber der SED zu erhöhen und kritisierten es, wie in Oelsnitz, „als Diktatur von oben“, wenn die SED - Kreisleitung und der Rat des Kreises die Entwicklung der Landwirtschaft allein bestimmten.522 Ansonsten aber hielten sich die Kritiken aus der DBD sehr in Grenzen. 3.9

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Entwicklung im Sommer 1989 zeigte, dass die Partei - und Staatsführung in einen unlösbaren Gegensatz zur Bevölkerung, einschließlich breiter Kreise der eigenen Parteibasis, geriet. Statt sich auf den allseits geforderten Dialog über drängende und unabweisbare Probleme einzulassen, interpretierte die Führung die Proteste der Bevölkerung gegen Stagnation und Niedergang ideologiebefangen als „Generalangriff des Imperialismus“. Die Folgen waren fatal. Während man im übrigen Europa gemeinsam Wege zu neuen Formen der Sicherheit und Zusammenarbeit suchte, kapselte sich das kommunistische Regime in der DDR weiter ab und machte für die gewaltsame Niederschlagung der Bevölkerungsproteste mobil. Alle militärischen Kampfverbände, einschließlich der Armee, wurden auf ein gewaltsames Vorgehen gegen die unbotmäßige Bevölkerung vorbereitet und umgerüstet. Ende September interpretierte die SED - Führung die Situation als Spannungsperiode im Sinne von Absatz 4 des vor allem für den Kriegsfall vorgesehenen Statuts der Einsatzleitungen. Die Folge war die Aktivierung von Bezirks - und Kreiseinsatzleitungen, die Bereitstellung besonders trainierter Armeehundertschaften, die Schaffung eines Netzes von Zuführungspunkten für unbotmäßige Regimegegner ähnlich der Schutzhaft der Nationalsozialisten nach 1933, die Aktualisierung entsprechender „Zuführungslisten“ und die Herstellung der Bereitschaft aller militärischen „Organe“ auf eine gewaltsame Niederschlagung der Bevölkerungsproteste. An seiner Entscheidung für eine „chinesische Lösung“ ließ das Regime nicht den geringsten Zweifel und instruierte die Parteiorgane flächendeckend über die geplante Gewaltlösung. Zahllose Zeugenaussagen legen darüber Rechenschaft ab. Parallel zur inneren Aufrüstung suchte die SED - Führung eine Lösung des Problems der Besetzung bundesdeutscher Botschaften in Prag und Warschau durch fluchtwillige DDR - Bewohner, die dort nach dem Ende der Reisemöglichkeiten nach Ungarn Zuflucht gesucht hatten. Anfang Oktober konnten diese auf Anweisung Honeckers mit Sonderzügen über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik ausreisen. So hoffte man, den 40. Jahrestag der DDR ruhig feiern zu können, was sich freilich als Trugschluss erwies. Während die Flüchtlingszüge durch die DDR fuhren, nahm die Zahl der Protestdemonstrationen zu, und 522 KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 40–44).

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Finale Krise des SED-Regimes

neue Flüchtlinge versuchten zu Tausenden, die bundesdeutsche Botschaft zu erreichen. Am 3. Oktober ordnete Honecker die Schließung aller Grenzen der DDR für den normalen Reiseverkehr an und gestattete parallel dazu eine zweite Ausreise Tausender Zufluchtsuchender aus den bundesdeutschen Botschaften. Überall im Lande gab es nun wütende Reaktionen auf das Ende jeglichen freien Reisens. In Folge der Anweisungen sammelten sich in Dresden Tausende frustrierte Ausreisewillige am Hauptbahnhof. Hier kam es seit dem 4. Oktober zu gewaltsamen Protesten, auf die das Regime mit Gewalt und Massenzuführungen in die Zuführungspunkte reagierte, wo viele Gefangene misshandelt wurden. In der Nacht zum 5. Oktober rollte die zweite Welle von Sonderzügen durch die Bezirke Dresden und Karl - Marx - Stadt. Überall an der Strecke kam es zu Unruhen und Versuchen, auf die Züge aufzuspringen. Am Dresdner Hauptbahnhof eskalierte die Gewalt, woraufhin der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Hans Modrow, die Bezirkseinsatzleitung aktivierte und den Einsatz der Armee gegen die Protestierenden anordnete. Die Stimmung großer Teile der Bevölkerung war unmittelbar vor dem Jahrestag äußerst gereizt, freilich fand die Vorgehensweise unter „progressiven Bürgern“ auch Zustimmung. Die unzufriedene Mehrheit aber sprach dem Regime jede Legitimation zur Führung des Landes ab, die es ohnehin nie gehabt hatte. Stattdessen wurde immer häufiger die Zulassung des Neuen Forums gefordert.

Bilder 14 und 15: Gewaltsame Auseinandersetzungen am Dresdner Hauptbahnhof am 4. Oktober 1989.

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III. Aufstand gegen die Diktatur 1.

Chinesische Lösung oder Dialog ? (7.–9.10.)

1.1

40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989

Gorbatschow in Berlin : Wie geht es weiter ? Angesichts der explosiven Situation kam dem Besuch Gorbatschows zum Jahrestag besondere Bedeutung zu. Immer hatte die sowjetische Haltung den Ausschlag über den weiteren Weg der DDR gegeben. Vorab ließ er sich von der Ost-Berliner KGB - Zentrale die Lage schildern. Der Bericht zeige „unmissverständlich“, dass der sofortige Rücktritt Honeckers notwendig sei.1 Als Sprecher systemkonser vativer Parteikreise bombardierte ihn umgekehrt Botschafter Kotschemassow mit Telegrammen und forderte ihn auf, Honecker „zu retten“. Gorbatschow wies das Ansinnen zurück und erklärte intern, er sei von Honeckers Unfähigkeit, das Problem in den Griff zu bekommen, „angewidert“.2 Die Botschaft wurde angewiesen, sich nicht in die Auseinandersetzungen um Honecker einzumischen.3 Um keine missverständlichen Signale zu geben, wäre Gorbatschow am liebsten nicht gefahren, aber auch dies wäre bereits als „Anti - Honecker - Demonstration“ verstanden worden. Eine so klare Stellungnahme und damit verbundene Einflussnahme wünschte die sowjetische Führung jedoch nicht.4 Die offizielle Haltung beschrieb im Vorfeld des Besuches Valentin Koptelzew, der Leiter des Sektors DDR in der internationalen Abteilung des ZK der KPdSU. Die SED und die mit ihr verbündeten Parteien und Organisationen seien imstande, „für sich selbst zu entscheiden, was, wo und wann sie verändern und umgestalten“ müssten. Bei jedem Reformvorschlag aus der DDR solle aber auch bedacht werden, „dass solche Vorstellungen DDR - eigen sein müssen, sich klar davon abgrenzen müssen, was aus dem Westen kommt“. Nur dann habe das Erreichte Bestand und Dauer.5 Die sowjetische Botschaft in Bonn erklärte, sowjetische Truppen würden auch dann nicht eingreifen, wenn es zu Massendemonstrationen oder Schießereien kommen sollte. Voraussetzung sei, dass sich der Westen ebenfalls zurückhalte. Lösungen müssten aus der DDR kommen. Kohls Berater Teltschik versicherte daraufhin dem sowjetischen Botschafter Julij Kwizinski, die Bundesregierung werde Verträge und Erklärungen „buchstabengetreu einhalten“.6 Diese Haltung, sich nicht direkt in die internen DDR - Entwicklungen 1 2 3 4 5 6

Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. Zit. bei Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 174. Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1138. Falin, Politische Erinnerungen, S. 484. Interview von Valentin Koptelzew mit „Nowosti“. In : taz vom 6. 10. 1989. Vgl. Der Spiegel vom 9. 10. 1989.

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Aufstand gegen die Diktatur

einzumischen, bestimmte fortan die sowjetische Haltung und auch die Stellungnahmen Gorbatschows in Ost - Berlin. Das hieß freilich nicht, dass das KGB nicht versuchte, auf eine Absetzung hinzuwirken.7 Am Vormittag des 6. Oktober holte Honecker die sowjetische Delegation vom Flugplatz Schönefeld ab. Trotz der täglichen Bilder in den weltweiten Fernsehnachrichten dementierte Honecker gegenüber Journalisten ein Flüchtlingsproblem und Demonstrationen. Während der Autofahrt erklärte er seinem Moskauer Gast, Westsender hätten zum Aufstand aufgerufen, weswegen er angewiesen habe, die Sendungen des West - Berliner Privatsenders „100,6“ zu stören.8 Gleich zu Beginn der Visite vertrat er seine Auffassung, die Lage sei auf Aktivitäten des Westens zurückzuführen und nicht das Ergebnis ungelöster Probleme in der DDR. Obwohl informiert, versuchte Gorbatschow, den Eindruck einer Krise abzuschwächen. Ihn könne nichts mehr in Erstaunen versetzen. In der Sowjetunion habe man gelernt, wie eine Sache voranzubringen und zu verteidigen sei. „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“, erklärte er im Anschluss an eine Kranzniederlegung. Wer die Impulse aus der Gesellschaft aufgreife und seine Politik danach gestalte, dürfte keine Angst vor Schwierigkeiten haben.9 Während der gesamten Visite versuchte er den Eindruck zu vermeiden, er mische sich ein. Bei einer Festveranstaltung im „Palast der Republik“ wies Honecker alle Demokratisierungsversuche als Kampagne des „Imperialismus“ zurück und beharrte auf einer Politik der „Kontinuität und Erneuerung auch künftig in den Farben der DDR“.10 Gorbatschow machte in seiner Rede nur indirekt deutlich, dass er Veränderungen erwarte. Natürlich habe die DDR, wie jedes andere Land, ihre eigenen Entwicklungsprobleme. Er zweifle aber nicht daran, dass die SED imstande sei, Antworten zu finden. Er betonte das Interesse der UdSSR an einer DDR, die „erstarkt, wächst und sich entwickelt“.11 Um 19.00 Uhr fand „Unter den Linden“ ein Fackelmarsch der FDJ statt.12 Die Jugendlichen wurden zuvor belehrt, Gorbatschow nicht zuzujubeln, die chinesische und rumänische Delegation nicht auszupfeifen, keine Flugblätter des Neuen Forums aufzuheben, westlichen Kamerateams keine Interviews zu geben und ihre FDJ - Anstecker nicht wegzuwerfen.13 Trotz der Regieanweisungen ertönten immer wieder „Gorbi“ - Rufe, welche die Regie sofort durch Hochrufe auf die SED - Führung überschallen ließ.14 7

Zu dieser vom KGB - Chef in der DDR, Anatolij Nowikow, geleiteten Aktion „Ljutsch“ liegen keine genauen Informationen vor. Vgl. Fricke / Marquardt, DDR Staatssicherheit, S. 94 f.; Andreas Förster. In : Berliner Zeitung vom 12. 6. 2004. 8 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 7. und 9. 10. 1989. 9 Prawda vom 7. 10. 1989; taz vom 7. 10. 1989. 10 Neues Deutschland vom 9. 10. 1989. 11 Text der Ansprache am 6. 10. 1989. In : Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa, S. 117–126. 12 Vgl. MdI - Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 211 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 13 Vgl. Belehrungen der Teilnehmer am Fackelzug der FDJ zum 40. Jahrestag, o. D. ( ABL, H. I). 14 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 281.

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Am Morgen des 7. Oktober gingen die Feiern mit einer Militärparade weiter. Von West - Berlin aus wurden Tausende Luftballons mit Flugblättern wie „SED hat versagt“ gestartet, die mit dem Wind nach Ost - Berlin flogen.15 Im Gegenzug überlagerte, wie von Honecker angekündigt, ein Störsender den Sender „100,6“, der regelmäßig über die Ost - Berliner Oppositionsszene informierte.16 Anschließend trafen sich Honecker und Gorbatschow im Schloss Niederschönhausen zum Vier - Augen - Gespräch.17 Dabei gab man der sowjetischen Seite zu verstehen, Mittag werde Honeckers Nachfolger werden.18 Nach Aussage Falins versuchte Gorbatschow Honecker nahezulegen, „etwas zu unternehmen, die Initiative zu gewinnen, sonst werde es zu spät sein“. Honecker zeigte jedoch „keinen Wunsch, darüber eine Unterhaltung zu führen. Er beendete abrupt dieses Gespräch“19 und erklärte, er habe die Lage voll „im Griff“. „Wohl wissend, dass Honecker nach Vier - Augen - Gesprächen seine Führung oft ganz anders informierte“20, kam es auf Wunsch Gorbatschows nach der Unterredung auch zu einem Gespräch mit den Mitgliedern des Politbüros und des Sekretariats des ZK der SED. Hier erklärte er mit Blick auf die UdSSR, man lerne aus Fehlern und dürfe die Signale der Realität nicht übersehen : „Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt [...]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“ Gorbatschow, für den die DDR noch immer der „vorrangigste Partner und Verbündete“ war, warnte vor dem Westen, der zwar versichere, „dass die sich in unseren Ländern vollziehenden Prozesse die Angelegenheit dieser Völker“ seien, tatsächlich aber „schadenfroh“ versuche, „Revanche zu nehmen und den Bereich des Sozialismus einzuengen“. Er äußerte seine Zufriedenheit über die „völlige Übereinstimmung“ mit Honecker in Bezug auf die Einschätzung der Prozesse, die sich in den sozialistischen Staaten vollzogen, schlussfolgerte daraus aber, die Parteien müssten die „Impulse des sich entwickelnden Lebens“ unbedingt aufnehmen. Er vermutete, dass in der SED - Führung die Arbeit zum nächsten Parteitag, „der eine Wende in der Entwicklung des Landes sein und die Perspektiven für die weitere Entwicklung der Gesellschaft bestimmen“ müsse, in vollem Gange sei.21 Mit keinem Wort deutete Gorbatschow die Notwendigkeit eines Wechsels in der Führung an. Dennoch machten die Ausführungen klar, dass hier „zwei verschiedene Konzeptionen“ besprochen wurden.22 Auf Honeckers Erwiderung, bei der dieser die Entwicklung in der DDR ausschließlich positiv darstellte, konnte Gorbatschow „Resigna15 Vgl. MdI - Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 270–273 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 16 Vgl. Momper, Grenzfall, S. 81. 17 Niederschrift des Gesprächs Erich Honeckers mit Michail Gorbatschow am 7. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2.035/60). Abgedruckt in Küchenmeister, Honecker Gorbatschow, S. 240–251. 18 Vgl. Falin, Politische Erinnerungen, S. 485. 19 Aussage Valentin Falin. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 55 f. 20 Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Der Spiegel vom 16. 11. 1992. 21 Niederschrift des Treffens des Politbüros des ZK der SED mit Michail S. Gorbatschow am 7. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2.035/60). 22 So Egon Krenz. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 57.

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Aufstand gegen die Diktatur

tion und Verständnislosigkeit“ doch nicht ganz verbergen.23 Honecker wiederholte seine oft gebrauchte und von der Bevölkerung verspottete Formel „Vorwärts immer, rückwärts nimmer !“, die zwar eine „Vereinfachung“ sei, aber den Vorteil habe, „vom Volk gut verstanden“ zu werden. Zur Enttäuschung Gorbatschows meldete sich niemand vom Politbüro zu Wort, um Honecker zu widersprechen. „Niedergeschlagen“ erklärte er nach dem Treffen gegenüber dem sowjetischen Botschafter Kotschemassow : „Was du auch tust, hier prallt alles ab.“24 Nach der „peinlichen“ Sitzung25 setzten sich Stoph, Krenz, Axen und Sindermann zusammen. Sie meinten, die Rede Honeckers sei eine Beleidigung Gorbatschows gewesen, und beschlossen, dass Stoph bereits am nächsten Tag bei der Sitzung des Politbüros die Absetzung Honeckers vorschlagen sollte.26 Am Abend des 7. Oktober gab es im asbestverseuchten „Palast der Republik“ einen Festempfang, der angesichts der Demonstrationen vor dem Gebäude dem Trubel im Ballsaal der Titanic glich. Am Rande der Feier mit Staatsgästen aus aller Welt deuteten Krenz und Schabowski in Gesprächen mit Falin und dem Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gerassimow, erstmals an, dass Veränderungen in der SED - Führung bevorstünden.27 Gegenüber Krenz erklärte Falin, Gorbatschow habe mehr gesagt und getan, als man von einem Gast erwarten könne. Alles andere hänge nun von ihm ab. Welche Wendung die Entwicklung auch nehmen werde, solange sie internen Charakter habe, würden sich die sowjetischen Streitkräfte heraushalten.28 Das war ein klares Signal zum Sturz Honeckers. Unmittelbar nach dem Empfang trat Gorbatschow die Heimreise an. Vor dem Abflug erklärte ihm Kotschemassow, die DDR stehe „auf der Kippe“. Gorbatschow gab ihm die Weisung : „Nichts von Bedeutung übersehen! Das sowjetische Volk wird uns den Verlust der DDR nicht vergeben !“ In einer etwas später stattfindenden Unterredung erklärte er : „Unter keinen Umständen dürfen wir die DDR verlieren.“29 Auf dem Rückflug meinte er sinngemäß : „Die Situation ist verloren. Es ist kaum möglich, dass diese Republik so bleibt, wie sie früher gewesen war.“30 Die UdSSR musste wegen der starren Haltung der SED - Führung um ihre wichtigste Trophäe des Zweiten Weltkrieges fürchten. Schewardnadse erklärte später, die sowjetische Regierung habe wegen ihres Prinzips der „Freiheit der Wahl“ aller Staaten über ihren eigenen Weg Honecker die sowjetische Position nicht aufzwingen können. Dadurch konnte nicht verhindert werden, dass durch die Haltung der SED - Führung „die Zeit für Reformen unwiederbringlich verpasst“ wurde.31 Aus Sicht des Erhalts des Sozialismus, das zeigte die weitere Entwicklung, behielt freilich eher Honecker recht. 23 24 25 26 27 28 29 30 31

So Schabowski, Das Politbüro, 74 f. Zit. bei Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Der Spiegel vom 16. 11. 1992. Schabowski, Der Absturz, S. 242. So Horst Sindermann. In : Neues Deutschland vom 27./28. 1. 1990. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 242. Vgl. Falin, Politische Erinnerungen, S. 487. Zit. bei Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1138 f. Aussage Valentin Falin. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 57. Interview mit Eduard Schwewardnadse. In : Izvestija vom 19. 2. 1990.

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Der Auffassung Machiavellis und de Tocquevilles folgend, wonach diktatorische Regime am anfälligsten sind, wenn sie sich der Veränderung öffnen,32 scheute Honecker vor einer Demokratisierung und Liberalisierung des Sozialismus zurück. Ihm war offensichtlich klarer als Gorbatschow, dass Sozialismus und liberale Demokratie unüberbrückbare Gegensätze waren. Nach der Rückkehr vertraute Gorbatschow seinen Mitarbeitern an, Honecker müsse so schnell wie möglich abgelöst werden : „Die Führung der DDR kann nicht länger im Amt bleiben.“ Der sowjetische Generalstab hatte sicherzustellen, dass die in der DDR stationierten Truppen nicht in Auseinandersetzungen um die Macht eingreifen würden.33 Im sowjetischen Fernsehen betonte er, Honecker auf die Notwendigkeit von Reformen hingewiesen zu haben. Es scheine so, als ob die Bürger der DDR „feurige Befürworter der Perestroika“ seien, die sich fragen, wie es weitergehe. Man werde aber anderen Ländern nicht länger Vorschriften über ihre politische Ordnung machen. Über „Fragen, die die DDR betreffen“, werde „nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden“. So seien auch Aufforderungen zum Abriss der Mauer an die SED - Führung zu richten. Damit war klar, Änderungen würden nicht an der UdSSR scheitern. Für die Bevölkerung in der DDR hörten sich solche Äußerungen an wie eine Aufforderung zum Handeln, und das taten sie dann auch. Proteste am 7. Oktober : Gewalt des Staates u. a. in Hainichen und Plauen Parallel zu den Feierlichkeiten demonstrierten am 7. Oktober in zahlreichen Städten der DDR mehrere Tausend Menschen für Reformen, Meinungsfreiheit und demokratische Erneuerung. Schwerpunkte waren Berlin sowie die Bezirke Karl - Marx - Stadt, Potsdam und Rostock.34 Bezirk Dresden : In Dresden war der 40. Jahrestag „vorbereitet worden, als gebe es keine inneren Probleme“. Modrow redete sich nach eigenem Bekunden ein, „mit vielfältigen Kulturveranstaltungen und einem großen Volksfest an diesem Tage könne tatsächlich als überwiegendes Wirkungsmoment die Verbundenheit der Bürger mit ihrem Land zum Ausdruck kommen“.35 Die inszenierten Jubelveranstaltungen stießen aber selbst in der SED auf Unverständnis. Neben Demonstrationen registrierte das MfS im Bezirk erneut Einzelaktionen wie das Anbringen von Losungen gegen Partei und Regierung, für das Neue Forum und für Reisefreiheit.36 Dresden war das Zentrum der Proteste. Am frühen Abend sammelten sich vor dem Hauptbahnhof Jugendliche, die „Freiheit,

32 33 34 35 36

Vgl. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution. Vgl. Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 175. Vgl. MfS, ZOS : 1. Tagesbericht, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 183). Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 265. Vgl. BVfS Dresden: Tagesbericht Aktion „Jubiläum 40“, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27–34); BDVP Dresden vom 8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ).

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Freiheit !“ riefen.37 Es gab einige Zuführungen. Kurz nach 19.00 Uhr waren es auf dem Leninplatz ( Wiener Platz ) bereits wieder mehrere Hundert Personen. Erneut flogen Steine und Flaschen. Es gab Rufe wie „Knüppelpolizei“, „Wir wollen Forum“, „Gorbi - Gorbi“, „Wir wollen raus“, „Menschenrechte und Freiheit“ sowie „Schlagt die Kommunistenschweine und hängt sie auf“.38 Die Menge wurde in Richtung Prager Straße abgedrängt.39 Dabei kamen vier NVAHundertschaften der 7. Panzerdivision und zwei Hundertschaften der Militärakademie „Friedrich Engels“ ohne Waffen, jedoch mit Schlagstöcken zum Einsatz.40 Nachdem Ziemer bei einem Friedensgebet in der Kreuzkirche vor 3 000 Menschen zur Gewaltlosigkeit aufgerufen hatte,41 bildete sich gegen 20.00 Uhr am Pirnaischen Platz und auf der Ernst - Thälmann - Straße ( Wilsdruffer Straße ) ein Demonstrationszug mit 4 000 Teilnehmern. Erstmals setzten sich die Demonstranten in Bewegung. Damit erhielten die Proteste eine neue Qualität. „Das war“, so Ziemer, „der erste Schritt weg aus dieser statischen Konfrontation zwischen Polizei und Demonstranten“.42 Beate Mihály von der Gruppe der 20 meinte später, dass es am 7. Oktober erstmals zu einer „richtigen Demonstration“ kam : „Sie war nicht organisiert, war wirklich spontan. Aber sie lief ab wie eine total organisierte Demonstration.“43 An der Demonstration waren nur noch wenige Ausreisewillige beteiligt, die meisten waren bereits weg.44 Die Demonstranten verhielten sich friedlich, sangen die „Internationale“ und riefen : „Wir fordern Neues Forum !“ sowie „Wir bleiben hier – schließt euch an – wir brauchen jeden Mann !“.45 Augenzeugen berichteten, dass Störenfriede als mutmaßliche Provokateure des MfS zur Ruhe ermahnt wurden.46 Mit den so bislang nicht erhobenen Forderungen grenzten sie sich von den Ereignissen der letzten Tage ab. Sie wollten nicht ausreisen, sondern bleiben. Zusammensetzung und Forderungen begannen sich zu ändern. Nun bildeten Dresdner den Kern. Das MfS konstatierte, es handele sich vorwiegend um Anhänger des Neuen Forums und andere oppositionelle Kräfte, nicht um Randalierer.47 In Absprache mit Modrow wurde beschlossen, die Demonstration lediglich „zu begleiten und zu beobachten, um Konfrontationen zu vermeiden“.48 Gegen 37 Vgl. Böhm an Hans Modrow vom 14. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891014_1). 38 So Chef der BDVP Dresden an MdI vom 7. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 39 Vgl. BDVP Dresden : Entwicklung in Dresden vom 3.–9. 10. 1989 ( ebd.). 40 Vgl. Aktennotiz Streletz’ für den Minister für Nationale Verteidigung vom 8. 10. 1989 (BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 262–266). 41 Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffeneggers vom 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023). 42 Interview mit Christof Ziemer am 7. 7.1996. 43 Interviews mit Beate Mihály am 22. 8.1994 und am 29.11.1996. 44 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 9. 10. 1989. 45 BDVP Dresden : Entwicklung in Dresden vom 3.–9. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 46 Vgl. Bahr, Sieben Tage im Oktober, S. 91; Interview mit Herbert Wagner am 16. 8.1994. 47 Vgl. Böhm an Modrow vom 14. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891014_1). 48 MdI- Lagebericht vom 8. 10. 1989, S. 2 ( SächsHStA, BDVP Dresden, 3186).

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21.15 Uhr befahl Nyffenegger, es dürfe seitens der Volkspolizei zu keiner Konfrontation mit den Demonstranten kommen.49 Offenbar drangen die Anweisungen jedoch nicht durch und galten auch nicht für Zuführungen, denn allein am 7. Oktober wurden in Dresden 129 Personen festgenommen.50 Am Pirnaischen Platz griffen die Sicherheitskräfte wahllos Demonstranten heraus und schlugen sie zusammen. Ein Teil der Menschen floh, ein anderer Teil setzte sich und ließ sich verprügeln. Die gewaltsame Auflösung51 der Demonstration wurde später mit ihrem anti - sozialistischen Charakter begründet.52 Die am 7. Oktober Zugeführten wurden zunächst ebenfalls in den „Zentralen Zuführungspunkt“ auf der Dr. - Kurt - Fischer - Allee ( Stauffenbergallee ) und später nach Bautzen gebracht.53 Parallel zur friedlichen Demonstration gab es auf der Prager Straße und auf dem Leninplatz ( Wiener Platz ) erneut auch Auseinandersetzungen mit randalierenden Jugendlichen.54 Die Volkspolizei setzte Sonderausrüstung und Tränengas ein.55 Während auf den Straßen demonstriert und randaliert wurde, feierte die Politprominenz im Rathaus den Jahrestag. Unter den Gästen waren, so Modrow, „viele Ausländer, aber, so ich die Szene überblicken konnte, kaum ein Künstler, kaum ein Geistesschaffender“. Vor dem Rathaus skandierte die Bevölkerung indessen : „Wir sind das Volk !“ und „Schämt euch !“ Vom Rathaus aus beobachteten auch zahlreiche ausländische Gäste das Geschehen. Modrow kommentierte das Geschehen später wie folgt : „Peinlichkeit. Wachsende Unruhe. Entsetzen. Der Empfang war quasi zu Ende.“56 „Es war“, so Berghofer, „wie bei Kafka.“57 Im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden wurde zur selben Zeit das Stück „Übergangsgesellschaft“ gespielt. Hier riefen Schauspieler und Angestellte die Besucher auf, sich zu einer Schweigeminute für die Opfer des Polizeieinsatzes zu erheben.58 Am Hauptbahnhof kam es in der Nacht zum 8. Oktober erneut zu schweren Auseinandersetzungen mit der Volkspolizei, Einheiten des MfS und fünf Hun49 Vgl. BDVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989: Lagefilm, Nr. 581 ( ebd., 3187). 50 Vgl. BVfS Dresden an Modrow vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 69 und 72). 51 Vgl. Interview mit Andreas Horn am 16. 8.1994; Darstellung Wagners, o. D. ( PB Herbert Wagner, Bl. 14 f.); Christof Ziemer. In: Rein, Die Opposition, S. 189 f. Zur Auflösung der Demonstration vgl. Interviews mit Frank Richter am 18. 8.1994 und am 18. 3.1997. Friedrich / Wehnert / Graff, Stürmischer Herbst, S. 22 f. 52 Vgl. Bericht des Bezirksstaatsanwaltes an die StVV Dresden vom 22. 11. 1989 ( StA Dresden, StVV, Protokolle, Bl. 154). 53 Vgl. Bahr, Sieben Tage im Oktober, S. 108–114. 54 Böhm an Modrow vom 14. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891014_1). 55 Vgl. Chef der BDVP Dresden an MdI vom 7. 10. 1989 ( ebd., Dresden ). 56 Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, S. 272 f. 57 Wolfgang Berghofer beim Podiumsgespräch im Hotel Newa Dresden am 18. 1. 1999, Mitschrift d. A. ( HAIT, Gruppe der 20). 58 Vgl. Leiter OES der BVfS Dresden an Leiter ZOS, HA XX vom 7. 10. 1989: Tagesbericht Aktion „Jubiläum 40“ ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 184–189).

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dertschaften der Armee.59 In der Bezirksverwaltung des MfS befürchtete man, die ca. 10 000 Personen könnten in Richtung der 8. Volkspolizei - Bereitschaft ziehen, „um das Objekt zu stürmen und die zugeführten Personen zu befreien“. Es gab daher Einsatzalarm, und es wurden scharfe Munition sowie Handgranaten ausgegeben.60 MfS - Mitarbeiter erhielten die Erlaubnis, bei Angriffen auf „fortschrittliche“ und „eindeutig nach außen gekennzeichnete Parteimitglieder der SED“ die Schusswaffe einzusetzen.61 Von einer wirklichen Entspannung der Situation konnte am 7. Oktober noch keine Rede sein. Auch in den Kreisen gab es vereinzelt Proteste. In Bautzen wurde auf Handzetteln zur Versammlung auf dem Postplatz aufgerufen. Am Abend ging die Bereitschaftspolizei gegen eine kleine Ansammlung vor und nahm einige Demonstranten fest.62 In Sohland, Großdubrau und Hochkirch ( Bautzen ) wurden „Hetzschriften“ wie „Bürger fordert Reformen“ gefunden.63 In Großröhrsdorf ( Bischofswerda ) sangen Jugendliche die „Internationale“ und riefen : „Gorbi, Gorbi“. Es gab elf Zuführungen. In Dippoldiswalde riefen ca. 50 Jugendliche in Sprechchören : „Erich lass die Faxen sein und hol die Perestroika rein“. Es gab ca. 20 Zuführungen.64 In Malter ( Dippoldiswalde ) riefen Jugendliche „Wir wollen raus“, „Stasi raus“ und „Bullenschweine - Kommunisten- NazisScheißstaat“. Auch hier gab es 23 Zuführungen.65 Im Kreis Freital gab es keine Demonstrationen, allerdings registrierte das MfS eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Festveranstaltungen zum Jahrestag, an denen nur die Hälfte der geladenen Gäste teilnahmen. Arbeiter des VEB Edelstahlwerk Freital meinten, die Situation sei dort „rosarot“ dargestellt worden. Es wurde erwartet, dass die Partei - und Staatsführung eine Erklärung abgibt und „zum Teil sehr pessimistisch diskutiert“.66 In Schwepnitz ( Kamenz ) wurde eine DDR - Fahne heruntergerissen und in Elstra von einer Fahne das Emblem entfernt.67 In Ebersbach (Löbau ) gab es „Schmierereien“ wie „Wehrt Euch“ und „NF“.68 In Pirna konnte eine vom ev. - luth. Pfarrer Gühne und vom evangelischen Diakon Klammt geplante Demonstration auf dem Marktplatz durch einen IM verhindert wer59 Vgl. Untersuchungsausschuss des MfNV: Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 272 f. ); Lagebericht des Chefs der BDVP vom 8. 10. 1989, S. 2 ( Archiv des Polizeipräsidiums Dresden ). 60 BVfS Dresden, VII, an 1. SdL, Anders, vom 13. 10. 1989: Verhaltensweisen von Führungskadern der BDVP Dresden sowie der 8. VP - Bereitschaft im Zusammenhang mit den durchgeführten Ordnungseinsätzen in Dresden im Zeitraum vom 3.–9. 10. 1989 (ABL, BA Dresden 4, Bl. 452–454). 61 Aussage von MfS - Offizieren am 4. 12. 1989 gegenüber dem Untersuchungsausschuss für Korruption und Amtsmissbrauch. In : Klemm, Korruption, S. 40 f. 62 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 63 Vorsitzender des RdB Dresden an Modrow vom 8. 10. 1989 ( MDA Berlin, PB Ronny Heidenreich ). 64 BVfS Dresden an MfS Berlin vom 7. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 101). 65 BVfS Dresden an Modrow vom 7. 10. 1989: Info ( ebd., Bl. 69–77). 66 KDfS Freital vom 7. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10917, Bl. 456–458). 67 Vgl. VPKA Kamenz vom 28. 10. 1989 : Monatslage ( SächsHStA, I 359, VPKA Kamenz). 68 SED - KL Löbau vom 7. 10. 1989 : Lage ( ebd., SED - BL Dresden, 13550).

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den. Mitglieder kirchlicher Basisgruppen wollten hier für das Neue Forum werben.69 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Hier registrierte die Bezirksverwaltung des MfS vor dem Jahrestag in fast allen Kreisen „eine stark zunehmende Tendenz von Erscheinungen offener Feindtätigkeit“, eine Zunahme von Gewaltandrohungen und öffentlichen Diskreditierungen von SED und Sicherheitsorganen in „einer steigenden aggressiven Form“.70 Aus dieser Sicht erklärt sich wohl auch die hohe Zahl an Zuführungen am 7. Oktober, von denen in 55 Fällen Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet wurden.71 Zu einem anderen Ergebnis kam allerdings ein späterer Unabhängiger Untersuchungsausschuss des Bezirkstages, der feststellte, es habe am 7. Oktober im Bezirk von Seiten der Demonstranten – bis auf Plauen – „keine maßgeblichen direkten Provokationen gegenüber den Sicherheitskräften“ gegeben. Vielmehr gab es durch die Volkspolizei Übergriffe, „die nicht allein mit der Ausnahmesituation und der Befehlslage zu erklären waren“.72 Auch im Kreis Annaberg blieben viele Menschen den Feierlichkeiten fern.73 Eine auf dem Markt in Annaberg - Buchholz geplante Demonstration wurde vom MfS „durch vorbeugende Maßnahmen wirkungsvoll unterbunden“. Allerdings nahmen Jugendliche beim Tanz im Jugendclub „Karl Marx“ westliche Meldungen über Demonstrationen in verschiedenen Städten der DDR begeistert auf und kritisierten, dass in der Stadt diesbezüglich „nichts losgehe“.74 In Zwönitz ( Aue ) feierten am Abend des 6. Oktober Partei - und Staatsfunktionäre. Als etwa Hundert Pioniere und FDJler mit Fackeln durch die Stadt zogen, demonstrierten auch 25 Personen schweigend mit Kerzen. In einigen Fenstern standen ebenfalls Kerzen. Volkspolizei und MfS schritten nicht ein. Wenn es auch eine kleine Willensbekundung war, so handelte es sich doch um die erste freie Demonstration nach 57 Jahren in der Stadt. Am nächsten Tag standen überall Volkspolizei, MfS sowie Kampfgruppen in Alarmbereitschaft und suchten nach den für sie so gefährlichen Kerzen in den Fenstern.75 Im Kreisbetrieb für Landtechnik Auerbach verließen fast alle Arbeiter eine Festveranstaltung mit der Bemerkung, es gebe nichts zu feiern.76 Auch im Kreis Brand - Erbisdorf registrierte das MfS am 7. Oktober in 14 Kommunen 41 „Protestkerzen“ in Fenstern. In Brand - Erbis69 Vgl. BVfS Dresden an Modrow vom 7. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 71). 70 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 398). Vgl. Horsch, Das kann, S. 9. 71 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 12. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 670, 3, Bl. 3–7). 72 UUA des BT Karl - Marx - Stadt : Vorlage für die 18. Tagung des BT am 23. 5. 1990 ( SächsStAC, 149646). 73 Vgl. KDfS Annaberg vom 10. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 63–69). 74 KDfS Annaberg vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 120–124). 75 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). 76 Vgl. KDfS Auerbach vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 74–78).

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dorf war auf einem Spielplatz „Wir wollen Reformen“ zu lesen. An einem Müllcontainer stand „Reformen, Freiheit, Demokratie“. In Nassau klebten Zettel mit den Aufschriften „Reisefreiheit, mehr Freiheit, NF“, „Gorbi hilf uns“, „Wir wollen Reformen“ und „Freie Wahl, Demokratie, NF“.77 Im Kreis Flöha gab es Verärgerung unter den Mitarbeitern des Heckertkombinats, weil vor einer Betriebsbesichtigung durch den 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung die Arbeiter an den Maschinen durch MfS - Mitarbeiter ersetzt worden waren.78 In Freiberg gab es an mehreren Stellen Losungen für das Neue Forum.79 In der Kirche von Niederbobritzsch ( Freiberg ) nahmen 100 Personen an einer Fürbittandacht teil, bei der es um die Proteste gegen das Reinstsiliziumwerk Dresden und fehlende Meinungsfreiheit ging.80 Wie nervös der Staat reagierte, zeigte die Tatsache, dass beinahe eine Wandergruppe des VEB Dampfkesselbau Meerane ( Glauchau ) gewaltsam aufgelöst worden wäre, weil sie für eine Demonstration gehalten wurde.81 An der Autobahnabfahrt Hohenstein - Ernstthal hatten Systemgegner mit weißer Farbe eine 6,50 x 7m große Losung „mit pazifistischem Inhalt“ sowie eine DDR - Fahne mit ausgeschnittenem Staatsemblem auf der Fahrbahn angebracht.82 In Hainichen kam es am Abend zu gewaltsamen Übergriffen von Volkspolizei und MfS. Hier trafen sich gegen 17.00 Uhr etwa 20 Jugendliche zu einem Schweigemarsch auf dem Markt. Sie trugen Kerzen und sangen die „Internationale“. Nach kurzer Zeit wurde der Zug durch die Volkspolizei gestoppt. Die Teilnehmer wurden auf dem Volkspolizeikreisamt registriert und wieder entlassen. Die meisten gingen danach zur Disco ins Kreiskulturhaus.83 Nachdem es hier am Abend zu „Deutschland - Rufen“ kam, reagierten andere Jugendliche mit Sprechchören wie „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“, „Gorbi“, „Reformen“, „Wir bleiben hier“ und „Stasi raus“. Es wurden Kerzen angezündet.84 Nach einem IM - Bericht verlasen drei Jugendliche um 22.30 Uhr von der Bühne den Aufruf des Neuen Forums. Sie wurden aus dem Saal geworfen, woraufhin sich rund 200 Personen anschlossen.85 Diese riefen vor dem Gebäude weiter,

77 KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 152–155). 78 Vgl. KDfS Flöha vom 12. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 97–100). 79 Vgl. BDVP Karl - Marx - Stadt vom 7.–8. 10. 1989 : Rapport 280/89 ( SächsStAC, BDVP, Abt. Inf./325, Bl. 15, 17). 80 Vgl. KDfS Freiberg vom 10. 10. 1989 : Lageeinschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 60–64). 81 Vgl. KDfS Glauchau vom 7. 10. 1989 : Demonstration in Meerane ( ebd. 533, 2, Bl. 43). 82 BDVP Karl - Marx - Stadt vom 7.–8. 10. 1989 : Rapport 280/89 ( SächsStAC, BDVP, Abt. Info/325, Bl. 15, 17). 83 Vgl. Bericht nach unterschriebenen Zeugenaussagen vom 1. 11. 1989 ( PB Günter Lorenz). 84 BVfS Karl - Marx - Stadt : Info über eine in der Nacht vom 7.–8. 10. 1989 in Hainichen stattgefundene öffentlichkeitswirksame rowdyhafte Zusammenrottung von bis zu 200 negativ - dekadenten Personen, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 152–155). 85 BVfS Karl - Marx - Stadt : Info des IMS „Achim Oeser“, o. D. ( ebd., XIV 257/84–III, Bl. 9–18).

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nach MfS - Angaben auch „Bullenschweine, Bullenstaat, Drecksstaat“.86 Daraufhin gingen mit Gummiknüppeln bewaffnete Volkspolizisten gegen sie vor und schlugen einige Jugendliche zusammen. Ein Teil bewegte sich durch die Innenstadt. Erneut wurde die „Internationale“ gesungen und es wurden Sprechchöre gerufen. In der Stadt wurde die Ansammlung gewaltsam aufgelöst. Eine Zeugin hörte den Befehl aus dem Funkgerät eines Polizeiwagens : „Schlagt gnadenlos auf sie ein.“ Nach Zeitzeugenberichten knüppelten Volkspolizisten die Demonstranten teilweise bis zur Bewusstlosigkeit. Es gab ca. 30 Zuführungen.87 Mit Schlagstöcken bewaffnete Mitglieder der Kampfgruppe bewachten die Festgenommenen im Volkspolizeikreisamt.88 In der Haft ging die Gewalt weiter. Die Jugendlichen wurden zunächst ins Ziegelwerk Hainichen gebracht. Hier mussten sie in „Fliegerstellung“ an der Wand stehen. Proteste wurden mit Schlägen

Bild 16 : Polizeiabsperrung in Karl - Marx Stadt, Oktober 1989. 86 BVfS Karl - Marx - Stadt : Info über eine in der Nacht vom 7.–8. 10. 1989 in Hainichen stattgefundene öffentlichkeitswirksame rowdyhafte Zusammenrottung von bis zu 200 negativ - dekadenten Personen, o. D. ( ebd., AKG 2280, Bl. 152–155). 87 Der 40. Jahrestag unserer Republik in der Gellertstadt Hainichen / Sa. ( PB Günter Lorenz ); KDfS Hainichen vom 10. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 80–88). 88 Vgl. Aussage Siegfried Kieckes zu den Ereignissen am 8. 10. 1989 ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ).

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quittiert. Einige wurden mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, ein Jugendlicher wurde die Treppe hinuntergestoßen. Im Zuführungspunkt im Volkspolizeikreisamt schlugen einzelne Angehörige den Zugeführten mit der Faust ins Gesicht. Jugendliche wurden als „Sack“ und „Drecksau“ bezeichnet. Die Verhafteten mussten bis zu 22 Stunden stehen, bekamen zunächst kaum Essen und Trinken. Mehrere wurden ohnmächtig. Einige der Zugeführten kamen in Untersuchungshaft nach Karl - Marx - Stadt, darunter ein 17 - jähriges Mädchen, das für drei Tage in Einzelhaft saß. Die Eltern der verhafteten Jugendlichen wurden nicht informiert.89 Die Gewaltorgie des Regimes löste unter der Bevölkerung von Hainichen Proteste aus. Während „progressive Bürger“ harte Strafen forderten, lehnte die Mehrheit die Brutalität der Sicherheitskräfte ab.90 Pfarrer Siegfried Lorenz veranlasste, dass jeden Montag eine Fürbitte für die Inhaftierten in der Kirche abgehalten wurde.91 Bei einer Veranstaltung im Kulturpalast Karl - Marx - Stadt verlasen Künstler eine Resolution.92 Vor dem „Luxorpalast“ formierten sich Besucher zu einem Schweigemarsch und forderten die Zulassung des Neuen Forums. Die Demonstranten sangen das „Deutschlandlied“, riefen : „Wir wollen keine Parteigenos-

Bild 17: Karl - Marx - Stadt, Oktober 1989. 89 Vgl. Bericht nach unterschriebenen Zeugenaussagen vom 1. 11. 1989 ( ebd.). 90 Vgl. KDfS Hainichen vom 13. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 62–67). 91 Vgl. Der 40. Jahrestag unserer Republik in der Gellertstadt Hainichen / Sa. ( PB Günter Lorenz ). 92 Vgl. MdI vom 7. 10. 1989 : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 48); Reum / Geißler, Auferstanden, S. 33–35.

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Bild 18: Karl - Marx - Stadt : Formierung der Staatsmacht.

sen“, „Wir wollen Freiheit“, „Die Mauer muss weg“, „Wir wollen raus“ und zeigten Transparente mit der Aufschrift „Dialog jetzt“.93 Etwa 4 800 Personen bewegten sich in Richtung Johanneskirche.94 Gegen Mittag gingen Volkspolizei und MfS mit Sonderausrüstung, Wasser werfern, Schlagstöcken und Hunden gegen sie vor. Erneut kamen drei NVA - Hundertschaften zum Einsatz.95 Unter den Demonstranten befand sich ein Unteroffizier der NVA. Er wurde zugeführt, geschlagen und zu sechs Monaten Strafarrest verurteilt.96 In der Innenstadt kam der Verkehr zum Erliegen. 30 Personen wurden zugeführt.97 In Plauen lief alles auf eine Auseinandersetzung am 7. Oktober zu.98 „Schon am Tag davor kreisten Polizeihubschrauber im Tiefflug über der Stadt. Der Flug93 MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 274). 94 MdI : Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, Abt. EA 400). 95 Aktennotiz für den Minister für Nationale Verteidigung vom 8. 10. 1989, gez. Streletz (BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 262–266). 96 Vgl. Wenzke, Zwischen „Prager Frühling“, S. 427. 97 Vgl. MdI - Bericht vom 7. 10. 1989 : Karl - Marx - Stadt ( BArch Berlin, DO 1, 54024); Augenzeugenbericht aus Karl - Marx - Stadt, o. D. ( ABL, H. I ); Reum / Geißler, Auferstanden, S. 40; Orobko, Ein wenig, S. 40 f. 98 Zu den Gründen, weshalb Plauen früh ein Zentrum der Revolution wurde, vgl. Heydemann / Mai / Müller, Einleitung, S. 16. Plauen hatte als sächsisches Industriezentrum

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lärm dröhnte angsteinflößend durchs Tal, und so war es wohl auch gemeint.“ Die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft“ verteilte den Aufruf : „Bürger der Stadt Plauen ! Am 7. Oktober findet auf dem Plauener Theaterplatz eine Protestdemonstration statt ! Beginn : 15.00 Uhr. Unsere Forderungen lauten : Versammlungs - und Demonstrationsrecht, Streikrecht, Meinungs und Pressefreiheit, Zulassung der Oppositionsgruppe ‚Neues Forum‘ sowie anderer unabhängiger Parteien und Umweltgruppen, freie, demokratische Wahlen, Reisefreiheit für alle. Bürger ! Überwindet eure Lethargie und Gleichgültigkeit ! Schließt euch zusammen ! Es geht um unsere Zukunft ! Informiert die Arbeiter in den Betrieben !“99 Die Zettel hatte der 21 - jährige Jörg Schneider verfasst.100 Jugendliche aus Plauen forderten auch in den Nachbarstädten dazu auf, sich an der Demonstration am 7. Oktober in Plauen zu beteiligen.101 Bereits Mitte September hatten Ausreisewillige sie angemeldet und eine Absage erhalten. Am Vormittag des 7. Oktober kursierten Handzettel mit dem Zitat Rosa

Bild 19: Demonstration in Dresden am 7. Oktober 1989. besonders unter dem Regime und der Randlage zu leiden. Hier war der Westen durch bayerische Medien präsent und der Stolz auf frühere Leistungen ungebrochen. 99 Zit. bei Küttler, Die Wende in Plauen, S. 149–151. 100 Gespräch d. A. mit Jörg Schneider am 7. 10. 2006 in Plauen. 101 Vgl. KDfS Reichenbach vom 6. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 833, Bl. 79).

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Luxemburgs „Freiheit ist immer Freiheit des anderen“.102 Jugendliche zogen durch die Stadt und rissen Fahnen herunter.103 Am Nachmittag kam es zur Auseinandersetzung. Das Regime hatte drei NVA - Hundertschaften und eine Grenztruppeneinheit nach Plauen verlegt.104 Zum Einsatz kamen eine Kompanie und zwei Züge der Volkspolizeibereitschaft, Einsatzkräfte der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl - Marx - Stadt, Formationen der Schutzpolizei aus Aue, Auerbach, Karl - Marx - Stadt und Zwickau, zehn Hundeführer, Transportpolizei aus Plauen, Zwickau und Karl - Marx - Stadt sowie Kräfte der Grenztruppen.105 Pünktlich um 15.00 Uhr begann die Demonstration. Wegen des angesetzten Volksfestes konnten der Theaterplatz und angrenzende Plätze und Straßen nicht gesperrt werden. Ein junger Mann schwenkte eine schwarz - rot goldene Fahne, es erklangen erste Sprechchöre wie „Freiheit, Freiheit !“ und „Gorbi, Gorbi !“. Es gab selbstgefertigte Transparente und Aufschriften wie „Freiheit“, „Freie Wahlen“ und „Reisefreiheit“.106 Insgesamt versammelten sich etwa 10 000 Demonstranten. Einheiten der Bereitschaftspolizei mit Schlagstöcken, Schilden und Helmen sperrten die Straße zwischen Rathaus und Lutherkirche ab, dahinter zogen Kampfgruppeneinheiten mit Maschinenpistolen auf.107 Nachdem Aufforderungen, den Platz zu räumen, nicht Folge geleistet wurde, befahl der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Karl - Marx - Stadt, Müller, den Einsatz von Löschfahrzeugen der Feuer wehr.108 Nach Zeugenaussagen fuhren die Feuer wehrautos „ohne Rücksicht auf Verluste in die Massen“ hinein. Die Demonstranten reagierten aggressiv. Ein Zeitzeuge erinnert sich : „Die Stimmung ist im Grunde genommen von einem Moment auf den anderen umgeschlagen.“ Nun flogen seitens der Demonstranten Steine.109 Es gab Rufe wie „Ihr Nazis, ihr Verbrecher“. Die Masse griff nun ihrerseits die Wasserwerfer an und zerstörte Scheiben von Volkspolizei - Fahrzeugen. Ständig kam es zu Zuführungen. Die Demonstranten bewegten sich zum Rathaus, das von Volkspolizisten mit Helm und Schild verteidigt wurde. Die Masse bewegte sich daraufhin zum Bahnhof und zurück, der Zug zog durch die ganze Stadt. In der Nähe des Rathauses schlugen Volkspolizisten mit den Schlagstöcken auf ihre Schilder. Hubschrauber kreisten im Tiefflug über der Menge. 102 Vgl. BDVP Karl - Marx - Stadt vom 7.–8. 10. 1989 : Rapport 280/89 ( SächsStAC, BDVP, Abt. Inf./325, Bl. 15, 17). 103 Vgl. VPKA Plauen vom 6.–7. 10. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Plauen 1100, Bl. 13). 104 Streletz an Minister für Nationale Verteidigung vom 8. 10. 1989 ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 262–266). 105 Vgl. MdI vom 7. 10. 1989 : Lagefilm ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 51). 106 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Lageeinschätzung des Bezirkes Karl - Marx - Stadt, o. D. (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 114, Bl. 310 f.). 107 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 150 f. 108 Vgl. MdI : Bericht des Bezirkes Karl - Marx - Stadt, o. D. ( BArch Berlin, 54024 GLKA ); MdI von Oktober 1989 : Lagefilm, Nr. 282 ( ebd., 52461); Freie Presse vom 9. 10. 1989; Küttler / Röder, Es war das Volk, S. 15 und 37–41; Bericht Thomas Küttlers. In : Swoboda, Die Revolution, S. 181–183. 109 Lindner, Plauen, S. 126 f.

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Bild 20: Wasserwerfer in Plauen am 7.10.1989.

Die Menge schrie : „Keine Gewalt !“. Superintendent Thomas Küttler begab sich ins Rathaus und forderte den Oberbürgermeister vergeblich auf, sich der Menge zu stellen. Stattdessen räumte man ihm ein, zu sprechen. Er sei zwar jetzt zu keinem Gespräch bereit, werde aber versuchen, in der kommenden Woche mit den Bürgern zu sprechen. Nun wurden der Hubschrauber und die Kampfgruppen mit Maschinenpistole im Anschlag abgezogen. Die Staatsmacht gab nach und die Bevölkerung fühlte sich als Sieger. Die Menge skandierte : „Wir kommen wieder !“, bevor sich die Demonstration auf löste.110 Eingesetzte Volkspolizisten kritisierten die „Feigheit“ des Oberbürgermeisters und meinten, der Superintendent von Plauen habe die Situation gerettet.111 Insgesamt gab es an diesem Tag in Plauen 72 Zuführungen.112 Die Entwicklung in der Stadt zeigte deutlich, dass das Regime für die Gewalteskalationen verantwortlich war. So gab es überall in den Betrieben der Region Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte.113 Die Volkspolizei, so hieß es, habe selbst Kinder blutig geschlagen. 110 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 150; Steffen Kretzschmar. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 129. 111 Vgl. KDfS Auerbach vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 38–44). 112 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 23. 11. 1989. 113 Vgl. KDfS Plauen vom 12. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 10– 13).

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„Alles wäre friedlich gewesen, bis eben die Polizei eingegriffen hätte.“114 Unter Volkspolizei - Angehörigen herrschte nach der eigenen Gewaltanwendung Angst. Es gab Bedenken, nachts allein auf Streife zu gehen. Bekannte und Verwandte kritisierten die Volkspolizei - Angehörigen.115 Bereits am nächsten Tag sah sich die Freiwillige Feuer wehr Plauen veranlasst, den Einsatz der Tanklöschfahrzeuge „auf das Schärfste“ zu verurteilen. „Das zweckentfremdete Einsetzen von Tanklöschfahrzeugen als Wasser werfer gegen fast ausschließlich friedliche, unbewaffnete Bürger und Kinder vereinbart sich auf keine Weise mit den Aufgaben der Feuerwehr.“ Durch den „völlig sinnlosen Einsatzbefehl des Einsatzleiters der Volkspolizei wurden Leben und Gesundheit der bis dahin überwiegend friedlichen Bürger gefährdet“.116 Erst Mitte November räumte das Volkspolizeikreisamt, aber auch nur angesichts der veränderten Verhältnisse, ein, die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Der verantwortliche Leiter wurde entlassen und die Dienstverhältnisse mehrerer Angehöriger gelöst.117 In den Kreisen Klingenthal, Marienberg und Oelsnitz fanden Festveranstaltung in halbleeren Sälen statt. In Markneukirchen wurden DDR - Fahnen angebrannt oder aus den Halterungen gerissen.118 Es gab eine „stumme Demonstration“ von 50 Jugendlichen mit Kerzen am Zschuckebrunnen, die von Volkspolizei und MfS aufgelöst wurde.119 Im Kreis Oelsnitz lachten laut MfS alle nur über Honeckers Rede zum Jahrestag.120 In Arnsdorf ( Rochlitz ) riefen Jugendliche : „Gorbi“ und „Wir bleiben hier“.121 In Meinersdorf ( Schwarzenberg ) stand am Eingang der POS : „Der Sozialismus ist eine gute Sache, nur die Sozis taugen nichts“.122 Beim Christlichen Friedensseminar am 7. und 8. Oktober in der St. - Jacobi - Kirche Königswalde ( Annaberg ) meinte Oberkirchenrat Volker Kreß vor 600 Teilnehmern, es gehe in der DDR um die Machtfrage. Niemand wünsche Großkonzerne oder eine Änderung der Eigentumsverhältnisse, aber man fordere eine Beteiligung an der Macht. Ausführlich wurde über das von Martin Böttger vorgestellte Neue Forum diskutiert. Um das Dorf standen Einheiten der Kampfgruppe in Bereitschaft.123 114 115 116 117 118

119 120 121 122 123

Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 10. 1989 : Info ( ebd. 2145, 1, Bl. 33–35). Vgl. KDfS Plauen vom 11. 10. 1989 : Info ( ebd. 540, 2, Bl. 14–16). Freiwillige Feuerwehr Plauen an den RdS Plauen vom 8. 10. 1989 ( HAIT, Plauen ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 17. 11. 1989. Vgl. Ortschronik Zwota ( HAIT, Klingenthal F5); KDfS Marienberg vom 6. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 212–215); KDfS Oelsnitz vom 5. 10. 1989 : Info (ebd. 2145, 1, Bl. 40–44); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 7.–8. 10. 1989 : Rapport (SächsStAC, BDVP, Abt. Info/325, Bl. 15 f.). Vgl. Lothar Fichtner an Willi Stoph vom 9. 10. 1989 ( ebd., 126409); Markneukirchen. Die „Wende“ und die Zeit danach 1989–1998 ( PB Johannes Sembdner ). Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 33– 35). KDfS Rochlitz vom 9. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 541, 2, Bl. 135 f.). KDfS Stollberg : Reaktion, o. D. ( ebd., St. 45, Bl. 122–128). Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Christliches Friedensseminar am 7./8. 10. 1989 in der Ev. Luth. - St. - Jacobi - Kirche Königswalde ( ebd., AKG 2280, Bl. 139–143); Kluge, Das Christliche Friedensseminar Königswalde, S. 422–435; Weigel, Man wandelt nur, S. 162 f.

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Bild 21: Polizeieinsatz in Leipzig am 7.10.1989.

Bezirk Leipzig : Zentrum des Geschehens im Bezirk war weiterhin Leipzig. Hier versammelten sich bereits am Vormittag des 7. Oktober erste Demonstranten um die Nikolaikirche.124 Sie riefen : „DDR – mein Vaterland – wir bleiben hier“, „Neues Forum zulassen“, „Eins, zwei, drei – Knüppelpolizei“, „Kommt mit, kommt mit“125 und wurden von Einheiten der Volkspolizei und des MfS verdrängt bzw. festgenommen. Nach MfS - Angaben hatten die „Anhänger des Umfeldes Nicolaikirche“ vereinbart, sich hell zu kleiden, um sich von den meist dunkel gekleideten Mitarbeitern des MfS in Zivil zu unterscheiden.126 Nachdem sich etwa 500 Personen versammelt hatten, zog eine Polizeikette auf, die mit Schilden, Schlagstöcken und Helmen ausgerüstet waren. Erstmalig wurden Lkws mit Schiebeschilden und ein Wasserwerfer eingesetzt.127 Gegen 14.00 Uhr befanden sich erneut ca. 2 000 Personen vor der Nikolaikirche.128 Um 14.45 Uhr erfolgte ein erneuter Einsatz zur Räumung des Platzes, dem eine Stunde später ein weiterer folgte. Trotz der Präventivmaßnahmen wuchs die Demonstration bis zum Nachmittag auf etwa 7 000 Menschen an. Obwohl Volkspolizei, MfS und Kampfgruppen Elektro - Knüppel und Hunde einsetzten, verhinderten sie nicht, dass die Menschen nach jedem Einsatz erneut in die Innenstadt strömten. Im Polizeibericht hieß es resignierend : „Ständiges 124 Das Neue Forum war dagegen, an diesem Tag zu demonstrieren. Seine Vertreter zogen sich aus der Innenstadt zurück. Vgl. Augenzeugenbericht in Czok, Nikolaikirche, S. 284; ausführlich Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 451–500. 125 MdI - Bericht : Bezirk Leipzig, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). 126 BVfS Leipzig vom 6.–8. 10. 1989 : Lagefilm, Nr. 32 ( ABL, FVS Dresden Lagefilme Leipzig ). 127 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 12. 128 Vgl. MdI von Oktober 1989 : Lagefilm, Nr. 276 ( BArch Berlin, DO 1, 52461); SED - BL Leipzig vom 7. 10. 1989 ( ABL, H. XV SED, FDJ ).

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Räumen des Platzes vor Niko in Richtung Karl- Marx - Platz. Nach durchgeführter Räumung erneute Personenansammlung auf Platz der Niko.“129 Wegen der „Leipziger Markttage“ hielten sich ohnehin zahlreiche Menschen im Zentrum auf. Das Hin und Her erschien wie „eine gemeinsame Übung, die Angst abzubauen“. Unter Demonstranten und Passanten, die kaum zu trennen waren, herrschte ein Stimmungsgemisch aus „Wut und sächsischer Ironie“.130 Gegen 16.20 Uhr versammelten sich etwa 2 500 Menschen vor dem Hauptgebäude der Karl - Marx - Universität auf der Grimmaischen Straße. Gegen 17.00 Uhr gingen die Sicherheitskräfte, mit Gummiknüppeln auf ihre Schilde trommelnd, gegen die Demonstranten vor. Diese skandierten : „Wir bleiben hier“, „Neues Forum zulassen“, „Stasi raus“ und „Keine Gewalt“ und sangen die „Internationale“. Auch hier nahm das MfS mehrere Personen fest.131 Um 17.25 Uhr wurde das 1. Kampfgruppen - Battaillon alarmiert und vor dem Hauptbahnhof platziert.132 Am Abend kamen Wasserwerfer und neue Hundestaffeln zum Einsatz. Insgesamt wurden 220 Personen zugeführt,133 die zunächst zum Zuführungspunkt in Pferdeställe der Landwirtschaftsausstellung „agra“ gebracht wurden. Die Ställe waren in Krisenzeiten als Internierungslager vorgesehen.134 Jetzt wurden sie erstmals genutzt. Gegen 14 Personen wurden später Ermittlungsverfahren eingeleitet, mehr als 50 Personen bekamen Ordnungsstrafverfahren.135 Aus Sicht der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei erreichten „die Störungen aus widerrechtlichen Ansammlungen“ am 7. Oktober in Leipzig „eine völlig neue Qualität“. Die Rede war von „aktiven Widerstandshandlungen gegen die Einsatzkräfte“, die „in hoher Aggressivität und Brutalität zum Ausdruck“ kamen.136 Akteure der Bürgergruppen traten in Leipzig bei den Demonstrationen nicht in Erscheinung.137 Sie standen den Demonstrationen eher ablehnend gegenüber. In Appellen riefen sie Demonstranten und Sicherheitskräfte permanent zur Gewaltlosigkeit auf.138 Wie die SED rannten auch sie der Entwicklung hinterher. Weder waren sie in der Lage, Demonstrationen zu organisieren, noch stellten ihre Akteure Identifikationsfiguren für die Mehrheit der Bevölkerung dar. 129 BVfS Leipzig vom 6.–8. 10. 1989: Lagefilm, Nr. 102 ( ebd., FVS Dresden Lagefilme Leipzig ). 130 Wolfgang Doré. In : taz vom 9. 10. 1989. 131 Vgl. BVfS Leipzig vom 6.–8. 10. 1989 : Lagefilm, Nr. 85 ( ABL, FVS Dresden Lagefilme Leipzig ). 132 Vgl. MdI von Oktober 1989 : Lagefilm, Nr. 276 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 133 Vgl. MdI - Bericht : Bezirk Leipzig, o. D. ( ebd., 54024). 134 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 13; Vorlage für BEL Leipzig : Bericht über die Planung und Sicherstellung des Internierungslagers vom 29. 8. 1989. In : Stasi intern, S. 92–95. 135 Vgl. BVfS Leipzig vom 6.–8. 10. 1989 : Lagefilm, Nr. 151 ( ABL, FVS Dresden Lagefilme Leipzig ). 136 BDVP Leipzig vom 12. 10. 1989 : Analyse des „ Friedensgebets“ am 12. 10. 1989 ( SächsStAL, BDVP 1). 137 Vgl. taz vom 9. 10. 1989. 138 Appell des AK Gerechtigkeit, der AG Menschenrechte und AG Umweltschutz Leipzig. In : taz vom 9. 10. 1989.

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Die Gruppen forderten ein Ende der Demonstrationen, um „dem Politbüro einen Ausweg zu lassen“. Aber sie waren ebenfalls ohne brauchbares Konzept. In Leipzig wurde dem Neuen Forum dann auch vorgeworfen, es sei ein „Hohlkörper“ ohne Organisationselemente und Treffpunkte. Selbst seinen Aufruf könne man nicht unterschreiben, da man keine Anschrift wisse.139 Obwohl viele Menschen zu den Demonstrationen nach Leipzig fuhren, rumorte es auch in den Kreisen. Das Regime richtete hier, wie z. B. in Döbeln, seine Hauptanstrengung auf „das Verhindern bzw. rechtzeitige Erkennen gegnerischer Tätigkeit, besonders des negativ - dekadenten Auftretens von Personen in der Öffentlichkeit, von Schmierereien sowie mündlicher und schriftlicher Hetze“.140 Dennoch legten z. B. in Altenburg Unbekannte einen Fahnenmast um und verbrannten die DDR - Fahne. Auch an anderen Stellen verbrannte oder zerriss man Fahnen. Am Gebäude des Rates der Gemeinde Haselbach wurde ein „herabwürdigender Text“ angebracht.141 Kritisch festgehalten wurde sogar, dass am 7. Oktober einige Jugendliche im Festzelt der Gemeinde Lehndorf (Altenburg ) Kerzen aufstellten.142 In der Nikolaikirche von Eilenburg fand eine Zusammenkunft unter dem Thema „Gebet gegen Gewalt“ statt, bei der „zur Mäßigung aller Beteiligten der Ereignisse in Leipzig“ aufgerufen wurde. Vorgesehen war, wie in Leipzig Montagsgebete durchzuführen, „um die Eilenburger aus der Stadt Leipzig wegzuziehen“.143 Obwohl es im Kreis Geithain keine Hinweise auf Demonstrationen gab, hatten Volkspolizei und MfS Einsatzbereitschaft. Ausreisewillige standen unter Beobachtung, in wichtigen Gaststätten und öffentlichen Veranstaltungen wurden IM platziert. Streifenwagen kontrollierten öffentliche Gebäude. Betriebe und Einrichtungen wurden angehalten, zu schmücken. Es gab verstärkte Streifentätigkeit zur Kontrolle des Fahnenschmucks, nach Waffen und von Besuchern aus dem Westen.144 In Gößnitz ( Schmölln ) versammelten sich etwa 20 Personen mit Kerzen in der Hand.145 In Großtreben (Torgau ) wurden DDR - Fahnen abgerissen und das Emblem entfernt. Ähnliches wurde aus Bennewitz und Thammenhain ( Wurzen ) berichtet.146

139 taz vom 9. 10. 1989. 140 VPKA Döbeln vom 20. 9. 1989 : Befehl 7/89 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 381/8, Bl. 1–5). 141 BDVP Leipzig : Rapporte, o. D. ( SächsStAL, BDVP Leipzig : Rapporte, Lagefilme ODH 1989, 1450). 142 Vgl. RdK Altenburg : Stimmungen und Meinungen, o. D. ( SächStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 49–54). 143 KDfS Eilenburg vom 6./7. 10. 1989 : Tagesberichte ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 87). 144 Vgl. KDfS Geithain vom 29. 9. 1989 : Maßnahmeplan Aktion „Jubiläum 40“ ( ebd., KDfS Geithain 21, Bl. 56–61). 145 Vgl. VPKA Schmölln vom 7.–8. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 146 Vgl. BDVP Leipzig vom 8.–9. 10. 1989 : Rapport ( ebd., BDVP Leipzig, 1450).

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Proteste von Künstlern Auffällig war, dass sich viele Künstler und „Kulturschaffende“ zu Sprechern der Bevölkerung machten. Sie verbreiteten „reformistisches Gedankengut in Wort und Schrift“ und protestierten gegen das Regime.147 In Dresden gab es einige mutige Inszenierungen. Das Staatsschauspiel profitierte von der „Strafversetzung“ des Intendanten Gerhard Wolfram vom Deutschen Theater Berlin nach Dresden und davon, dass Wolfgang Engel als Regisseur ans Staatsschauspiel kam. Auch die SED - Leitung des Staatsschauspiels musste wegen Kritik an der starren Haltung des Politbüros gerügt werden. Für die Spielzeit 1988/89 wurden kritische Stücke wie Volker Brauns „Die Übergangsgesellschaft“, „Nina, nina, tam Kartina“ von Werner Buhss und „Die Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein auf das Programm gesetzt. Am 27. September gaben Mitglieder der Staatskapelle Dresden eine Erklärung ab. An der Staatsoper folgte zwei Tage später eine Resolution, die nach der Vorstellung verlesen wurde. Im Vorfeld des Jahrestags traten einige Künstler aus der SED aus und lehnten staatliche Auszeichnungen ab. Am 4. Oktober trat das Ensemble des Schauspielhauses nach der Aufführung vor das Publikum und verlas die Resolution der Unterhaltungskünstler. Das Publikum reagierte mit langem Applaus. Noch am selben Abend begannen Überlegungen, eine eigene Resolution zu verfassen. Maßgeblich an der Ausarbeitung beteiligt war Regisseur Wolfgang Engel. Unter dem Titel „Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu“ wurden die Ursachen für die Ausschreitungen am Hauptbahnhof und der Ausreisewelle analysiert und das Recht auf Information, Dialog, selbstständiges und pluralistisches Denken, Reisefreiheit, Kontrolle staatlicher Leitung und ein neues Denken eingefordert.148 Am 6. Oktober war die Reaktion überwältigend. Das Publikum applaudierte, umarmte sich, Zuschauern standen Tränen in den Augen. Mit dem Aufruf hatten die Schauspieler den richtigen Ton getroffen. Die Resolution verbreitete sich in Dresden, aber auch an anderen Bühnen der Republik.149 Die Schauspieler erklärten, sie seien nicht bereit, zum festlichen Ball am 7. Oktober aufzutreten. Es sei „keine Zeit zum Feiern“.150 Am selben Tag forderten auch die Mitarbeiter des Gerhart - Hauptmann - Theaters Zittau Meinungs - und Reisefreiheit.151 Modrow konstatierte unter den Künstlern des Bezirkes „starke politische Differenzierungen“ und die Tendenz, öffentlich eine andere Politik zu fordern. Er wies an, dafür zu sorgen, dass die Volksfeste „nirgendwo zum Ausgangspunkt feindlicher Provokationen gemacht werden“, und 147 BVfS Dresden vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 107– 110). Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 164–167. 148 Aufruf der Schauspieler : Wir treten aus unseren Rollen heraus. In : Rein, Die Opposition, S. 154. Vgl. taz vom 20. 10. 1989. 149 Vgl. Richter, Wir treten aus unseren Rollen, S. 42 f.; Neubert, Geschichte der Opposition, S. 844. 150 BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Tagesbericht Aktion „Jubiläum 40“ ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27–34). 151 Abgedruckt in Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 67 f.

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proklamierte eine Art Kampf ums Mikrofon.152 Nachdem er eine weitere Verlesung verbot, standen die Künstler fortan nach der Vorstellung schweigend auf der Bühne.153 Auch am 7. Oktober gingen die Künstlerproteste weiter. Nach der Vorführung des Stückes „Übergangsgesellschaft“ im Kleinen Haus des Staatsschauspiels versammelten sich alle Schauspieler und Angestellten auf der Bühne und forderten die Besucher auf, sich zu einer „Schweigeminute für die Opfer des Polizeieinsatzes“ zu erheben. In einer von Peter Glatte unterzeichneten Erklärung der Staatskapelle Dresden an Modrow und das ZK der SED wurde Bedauern und Bestürzung über den Weggang vieler Menschen geäußert, Dialog gefordert und gegen eine Diffamierung und Kriminalisierung protestiert : „Es sind unsere Kinder, unsere Freunde, Verwandte, Mitbürger, deren Hoffen für dieses Land erloschen ist und die hier nicht mehr leben wollen.“ In der Semperoper lief die Premiere des „Fidelio“ in einer Inszenierung von Christine Mielitz. Bühnenbild und Kostüme spiegelten ein Stück DDR - Strafvollzug wider. Dichtung und Wirklichkeit, Bühne und Leben verschmolzen. Quer über die Bühne verlief ein hoher Drahtzaun, darüber Stacheldraht, dahinter ein Gefängnis. Der Gefangenenchor war, so Martin Walser, „am durchschlagendsten“. Hier wurde eine „genaue Studie der Angst exekutiert“.154 Der Orchesterleiter der Oper kündigte am nächsten Tag eine Unterschriftensammlung an.155 Wie geplant, weigerten sich Künstler des Schauspielhauses, am 7. Oktober auf dem Festball im Kulturpalast aufzutreten. Es sei „keine Zeit zum Feiern“. Das Dresdner Kabarett „Die Herkuleskeule“ und andere Ensembles sagten ihre Teilnahme am Volksfest ebenfalls ab. Beim Kolloquium „Kunst und Politik“ anlässlich der „3. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“ am 7. Oktober im Hygienemuseum wurde die Resolution des Staatsschauspiels ebenfalls verlesen.156 Der Vorsitzende des Verbandes Bildender Künstler im Bezirk, Dieter Bock, forderte zur Eröffnung der Bezirkskunstausstellung eine demokratische Umgestaltung der Gesellschaft und erklärte, mit den Basisgruppen der Kirche ins Gespräch kommen zu wollen.157 Auf einer Veranstaltung im Deutsch - Sorbischen Volkstheater Bautzen am 8. Oktober wurde die Dresdner Resolution verlesen.158 Einen Tag später setzte

152 Modrow an 1. Sekretäre der SED - KL, SBL, SL einschließlich der TU vom 6. 10. 1989: Lage ( ABL, EA 891006_1). 153 Vgl. Wir sind das Volk 1, S. 50 f.; Schüddekopf, Wir sind das Volk, S. 54 f. 154 Martin Walser, Kurz in Dresden. Einige Szenen aus dem deutschen Frühling im Herbst. In : Die Union vom 25. 11. 1989. 155 Vgl. MfS vom 8. 10. 1989 : Komplexe politisch - operative Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Absichten und Vorhaben feindlich negativer Kräfte ( ABL, EA, 89 0000_1). 156 Vgl. BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Aktion „Jubiläum 40“ ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 30, 55–60). 157 Vgl. BVfS Dresden vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( ebd., Bl. 107–110). Vermutlich Dieter Bock. 158 MfS vom 8. 10. 1989 : Komplexe politisch - operative Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Absichten und Vorhaben feindlich negativer Kräfte ( ABL, EA, 89 0000_1).

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sich Barbara Thalheim im Zentraltheater Bautzen kritisch mit der Situation auseinander.159 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Ähnlich sah es im Nachbarbezirk aus. Bei einer „Country - Veranstaltung“ am 1. Oktober im Kulturhaus von Annaberg - Buchholz machte die Gruppe „Ecke und co“ Bemerkungen wie : „Ich grüße alle, die heute den letzten Zug verpasst haben“, „Wer ist Bekannter einer 3 - Städte - Reise von Budapest über Wien nach Gießen ? Aber wir wollen damit aufhören, ab dem 7. Oktober soll es ja besser werden, schlimmer geht’s ja nicht mehr“ oder „Wisst ihr, was in der DDR passiert, wenn alle Rentner aufhören zu arbeiten ? – Dann gibt es keine Regierung mehr“. Unter den ca. 250 Anwesenden „löste insbesondere letztgenannte Äußerung lautes Gegröle aus“.160 Künstler des Eduard - vonWinterstein - Theaters in Annaberg - Buchholz kritisierten die Medienpolitik und Ignoranz der Parteiführung. Der Intendant, in dessen Vorzimmer seit Ende September der Gründungsaufruf des Neuen Forums auslag,161 meinte, wenn die Bilanzen der Realität entsprechen würden, würde man schon im Kommunismus leben.162 In Hainichen trat am 16. Oktober das Kabarett „Die Schleifer“ aus Kriebstein mit dem Programm „Kader sein dagegen sehr“ auf. Es gab „Angriffe gegen die Partei - und Staatsführung und leitende Funktionäre“ und Aussagen wie : „Man tritt nicht ab, wenn man nicht stirbt. Wer einmal oben ist, wird mit dem Seil festgebunden, damit er nicht wieder herunterfällt.“ Leitende Funktionäre wurden als Isolatoren dargestellt, die den Informationsfluss unterbrechen. Orden bekämen nur Kriecher, Jasager und Leute, sie sich Positionen erschleichen. In einer Fassung des Märchens „Rotkäppchen und der Wolf“ konnte der Wolf nicht bestraft werden, weil er bereits dreimal Aktivist war. Er erhielt statt der Strafe den Orden „Banner der Arbeit“. Das Publikum „nahm sichtlich erfreut die Kritik“ auf.163 Auch Programme der Kabarette „Prellbock“ der Reichsbahn, „Make up“ des VEB Numerik Karl - Marx - Stadt und „Spottknappen“ der Bergakademie Freiberg waren „direkt gegen die Partei gerichtet“.164 In Glauchau wurde bei einer Veranstaltung mit Berliner Liedermachern der Aufruf des Neuen Forums verlesen. Der Chefdirigent der Philharmonie Karl - MarxStadt verlas am 2. Oktober vor den Musikern eine Resolution des Rundfunktanzorchesters Berlin mit Reformforderungen, die an alle größeren Orchester der DDR verschickt worden war. Am 3. Oktober hing im Schaukasten am Bühneneingang des städtischen Theaters „Luxorpalast“ der Aufruf des Neuen Forums aus. Vier Tage später unterzeichneten Angestellte des Theaters den Aufruf der Unterhaltungskünstler. Mitglieder des Schauspielensembles Karl - Marx 159 BStU, BV Dresden, Stellv. Operativ 4, Bl. 98; SED - KL Bautzen vom 10. 10. 1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, SED - BL Dresden , 13550). 160 KDfS Annaberg vom 4. 10. 1989 : Zwei Veranstaltungen innerhalb der „IV. Kulturtage der Jugend“ in Annaberg - Buchholz ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 140–142). 161 Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 10. 1989 : Lageeinschätzung ( ebd. 529, 1, Bl. 84–90). 162 Vgl. KDfS Annaberg vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 120–124). 163 KDfS Hainichen vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 534, 1, Bl. 59–61). 164 KDfS Hainichen vom 18. 10. 1989 : Kabarettveranstaltung ( ebd., Bl. 53–58).

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Stadt verlasen beim Theaterfest am 7. Oktober im „Luxorpalast“ kritische Gedichte, Texte und Resolutionen.165 Bezirk Leipzig : In Leipzig erklärten Studenten der künstlerischen Hochschulen Leipzig in einem u. a. von den FDJ - Sekretären unterzeichneten offenen Brief, die Ausreise sei „nicht allein mit Abenteuerlust und Verblendung durch BRD - Medien zu erklären“, und forderten die Zulassung des Neuen Forums.166 Aber selbst das DDR - Fernsehen schien vor Kritik nicht mehr gefeit. So meinten zahlreiche „progressive Bürger“, bei Inhalt und Gestaltungsweise der 20.00 Uhr - Sendung „Hinein ins Vergnügen“, der offiziellen Fernseh - und Geburtstagsgala aus dem Friedrichstadtpalast Berlin am 7. Oktober, handele es sich um einen „hintergründigen Protest“ der Künstler.167 Haltung der Kirchen Am 6. und 7. Oktober trafen sich fast alle Bischöfe und Leiter kirchlicher Verwaltungseinrichtungen in Berlin und berieten über eine Teilnahme an den Feiern zum Jahrestag. Zwei Bischöfe und einige Kirchenfunktionäre plädierten dafür, die Mehrzahl widersprach. Nachdem sich zunächst eine knappe Mehrheit für ein Fernbleiben vom offiziellen Staatsempfang ergeben hatte, hob eine außerordentliche Tagung des Vorstandes der Konferenz der Kirchenleitungen den Beschluss zur Nichtteilnahme mit neun Zustimmungen, sechs Gegenstimmen und fünf Enthaltungen wieder auf.168 Konsistorialpräsident Stolpe und Oberkirchenrat Ziegler wurden beauftragt, in den Palast der Republik zu gehen, wo ihnen der Staatssekretär für Kirchenfragen, Löff ler, erklärte, China sei „nur geografisch weit von uns entfernt“.169 In Dresden nahmen Vertreter der Jüdischen Gemeinde, der Siebenten - Tags - Adventisten und der Kirche Jesu Christi die Einladung zur Festveranstaltung am 5. Oktober im Kulturpalast an. Die Vertreter des katholischen Bistums Dresden - Meißen und der Apostolischen Administratur Görlitz, der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens, der Evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebietes und der Russisch - Orthodoxen Kirche lehnten die Teilnahme mit der Begründung ab, Einladungen würden nur auf zentraler Ebene angenommen.170 Die Ev. - Luth. Landeskirche hatte allen Superintendenten empfohlen, Einladungen nicht wahrzunehmen, was auch fast alle befolg165 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt von Oktober 1989 : Rapport ( ebd., XX 779, Bl. 1, 2 und 6); KDfS Annaberg vom 12. 10. 1989 : Unterschriftensammlung für die Resolution der Unterhaltungskünstler ( ebd., AKG 3078, 1, Bl. 218). 166 Offener Brief an die Staats - und Parteiführung von Studenten der künstlerischen Hochschulen Leipzig vom 4. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 209/6, Bl. 3–5). 167 KDfS Geithain vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( ebd., KDfS Geithain 146, Bl. 50–53). 168 Vgl. MfS, ZAIG : Info über die 127. Tagung der Konferenz der KKL in der DDR am 12. 10. 1989. Zit. bei Wolle, Der Weg, S. 93–95. Vgl. Leich, Wechselnde Horizonte, S. 241 f. 169 Zit. bei Leich, Wechselnde Horizonte, S. 242. 170 Vgl. BVfS Dresden vom 6. 10. 1989 : Aktion „Jubiläum 40“ ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 27–34).

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ten.171 Meist wurde erklärt, es gebe „gegenwärtig keinen Anlass zum Feiern“.172 Im Kreis Annaberg nahmen nur ein Pfarrer sowie die Vertreter der Neuapostolischen Kirche und der Mormonen Einladungen an.173 Im Kreis Brand - Erbisdorf erklärte der Pfarrer von Zethau, es gebe nichts zu feiern. Zehntausende würden das Land verlassen, was eine Tragödie schlimmsten Ausmaßes sei. Solange die bedrückenden Zustände nicht offen besprochen würden, könne er beim besten Willen nicht feiern.174 Im Kreis Marienberg empfahl Superintendent Theodor Küttler den Pfarrern, nicht teilzunehmen.175 Absagen gab es auch in den anderen Kreisen, so in Oelsnitz.176 In Leipzig sagten 90 Prozent aller eingeladenen kirchlichen Amtsträger ab.177 Der Superintendent von Borna führte als Begründung an, dass statt offener Gespräche lediglich Maßnahmen ergriffen würden, die Ruhe und Ordnung herstellen sollten. Es werde „Härte demonstriert, die unserer Gesellschaft mit Sicherheit schadet“. Auch die „Kriminalisierung des sogenannten Neuen Forums“ helfe nicht, die Probleme zu lösen.178 1.2

Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR ( SDP ) am 7. Oktober

Während die Funktionäre feierten und Teile der Bevölkerung demonstrierten, dokumentierte ein anderer Vorgang, wie sehr sich die Situation in der DDR bereits verändert hatte. Genau am 40. Jahrestag der DDR wurde im Pfarrhaus von Schwante ( Oranienburg ) die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP ) unter konspirativen Bedingungen gegründet.179 Die Teilnehmer mussten jeden Augenblick damit rechnen, vom MfS verhaftet zu werden.180 Für den Fall staatlichen Eingreifens war bereits in der Nacht zum 2. Oktober eine erste Gründungsurkunde unterzeichnet und bei Vertrauenspersonen mit der Bitte depo171 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 41–47). 172 ZK der SED vom 6. 10. 1989 : Zur Situation und Vorschläge zur Weiterführung der politischen Arbeit gegenüber den ev. Kirchen nach dem 40. Jahrestag der DDR ( SAPMOBArch, SED, IV B 2/14/14, Bl. 24–27). 173 Vgl. KDfS Annaberg vom 10. 10. 1989 : Lageeinschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 63–69). 174 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 162–164). 175 Vgl. KDfS Marienberg vom 6. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 212–215). 176 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Lageinfo ( ebd. 2145, 1, Bl. 47–51). 177 Vgl. ZK der SED vom 6. 10. 1989 : Situation und Vorschläge zur Weiterführung der politischen Arbeit gegenüber den ev. Kirchen nach dem 40. Jahrestag der DDR ( SAPMOBArch, SED, IV B 2/14/14, Bl. 24–27). 178 Ev. - Luth. Superintendentur an RdK Borna vom 4. 10. 1989 : Absage zur Teilnahme am Festakt des 40. Jahrestages ( Superintendentur Borna ). 179 Gründungsurkunde in Rein, Die Opposition, S. 89. Vgl. Vortrag Markus Meckel zur SDP - Gründung. In : Zimmerling, Neue Chronik DDR 1, S. 78–87; MfS, ZAIG, Nr. 451/89 vom 9. 10. 1989. In : Mitte / Wolle, Ich liebe, S. 210 f.; Elitz, Sie waren dabei, S. 108; Sturm, Uneinig, S. 124–129; Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 46 f.; Walter, Von der Gründung, S. 407–428. 180 So Angelika Barbe. Zit. in Fink, Die SPD, S. 181.

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niert worden, sie notfalls an Westmedien weiterzuleiten.181 Schwante war auch deshalb gewählt worden, weil es hier über das Kirchengelände und den Friedhof Fluchtmöglichkeiten gab.182 Vor diesem Hintergrund war es besonders makaber, dass zum Geschäftsführer der neuen Partei mit Ibrahim Böhme ausgerechnet ein IM des MfS gewählt wurde. Durch ihn stand die SDP von Anfang an unter Kontrolle und Einfluss des MfS. Nach Aussagen von Martin Gutzeit und Arndt Noack hatte der Spitzel jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf die Gründungsdokumente und die erste Ausrichtung der SDP.183 Wichtiger für den Gründungsprozess war Markus Meckel, der einen programmatischen Vortrag hielt.184 Mit der Verabschiedung eines Statuts185 und von Grundpositionen zur Erarbeitung eines Parteiprogramms schuf sich die Partei einen organisatorischen und programmatischen Rahmen und rief zur Mitgliedschaft sowie zur Bildung von Ortsverbänden auf.186 Als Volkspartei wollte sie die im Westen üblichen Organisationsformen annehmen. Die Entscheidung für eine Partei und gegen die Struktur einer Bürgerbewegung wurde nicht von allen Teilnehmern mitgetragen. Konrad Elmer vertrat räte - und basisdemokratische Vorstellungen. Auch in einigen später gegründeten Gruppen der SDP setzte sich der Parteicharakter gegenüber den Vorstellungen einer Bürgerbewegung erst allmählich durch.187 Das Programm war, so Meckel, „rot - grün“ und sollte eine grüne Partei überflüssig machen.188 In der Gründungsurkunde hieß es, die Partei setze sich in „entschiedener Ablehnung allen totalitären Denkens und Handelns“ für eine konsequente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ein, für eine parlamentarische Demokratie mit Parteienpluralität, für eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft, eine Trennung von Parteien und Staat sowie Kirche und Staat und wende sich gegen jede Monopolisierung und Zentralisierung in Staat und Gesellschaft. Der Vormachtsanspruch der SED wurde abgelehnt. In der deutschen Frage ging die SDP von der „Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit unseres Volkes“ aus, ohne jedoch andere Optionen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung auszuschließen.189 181 182 183 184 185

186 187 188 189

Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 45. Vgl. Interview mit Martin Gutzeit. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 99. Vgl. FAZ vom 11. 1. 1992; Gutzeit, Die Stasi, S. 41–52. Abgedruckt in Meckel / Gutzeit, Opposition in der DDR, S. 379–396. SDP : Statut der Sozialdemokratischen Partei in der DDR ( PB Mike Schmeitzner ). Als Kontaktadressen für Dresden wurden genannt : Gerhard Brenn, Norbert Patzelt, Annemarie Müller und Hagen Hilse, für Karl - Marx - Stadt Volkmar Henke und für Leipzig Maike Dittel und Andreas Schurig. Vgl. SDP - Statut mit Anhang „Grundpositionen zur Erarbeitung des Parteiprogramms“. In : Meckel / Gutzeit, Opposition in der DDR, S. 376–378; Elmer, Vor - und Wirkungsgeschichte, S. 29–39. Vorstand der SDP vom 14. 10. 1989 : Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger ! ( MDA, SDP). Vgl. Offener Brief der SDP. In : Wir sind das Volk 1, S. 77 f. Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 47. Interview mit Markus Meckel. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 123. Mitteilungen der SDP von Oktober 1989. In : Texte zur Deutschlandpolitik III, 7, 1989, S. 278–280.

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Ließen sich manche Reformideen der Bürgerrechtsbewegungen, vor allem des Neuen Forums, durchaus mit dem Machtmonopol der SED vereinbaren, stellte die SDP es explizit in Frage und widerstand gleichzeitig der Versuchung, sich selbst zum Sprecher der gesamten oppositionellen Bevölkerung zu erklären. Der Rückgriff auf den Begriff „Sozialdemokratie“ war als Affront gegen die SED gemeint und stellte deren Selbstverständnis als einer Partei in Frage, die aus der angeblich freiwilligen Vereinigung von KPD und SPD im Jahr 1946 her vorgegangen sei.190 Mit der SDP - Gründung war es der SED „nicht mehr möglich, das sozialdemokratische Erbe zu beanspruchen, geschweige denn zu vertreten“.191 Strittig war zunächst das Verhältnis zur staatlichen Einheit. Während der Erarbeitung des Statuts hatten Konrad Elmer und Martin Gutzeit eine deutsche Konföderation als Ziel der SDP vorgeschlagen, waren damit jedoch an Meckel gescheitert, der sich als „rot - grünen“ linken Sozialdemokraten ansah.192 In seiner Rede bei der Gründungsversammlung bestätigte er zwar einen ausgeprägten Wunsch der Bevölkerung nach Wiedervereinigung, bezeichnete dies jedoch als „äußerst unproduktiv und rückwärtsgewandt“. Er sprach von der Chance der Zweistaatlichkeit. Ein zweiter kapitalistischer deutscher Staat sei sinnlos, die Vision des Sozialismus habe etwas mit der Identität der DDR zu tun. Stattdessen solle die SDP einen freien Reiseverkehr mit der Bundesrepublik und die Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft anstreben.193 Ein Eintreten der SDP für die deutsche Einheit hätte zu diesem Zeitpunkt auch noch „den klaren Tatbestand des Hoch - und Landesverrats erfüllt“.194 Die Gründer planten nicht, einen offiziellen Antrag auf Zulassung zu stellen. Aus ihrer Sicht gab es kein Parteiengesetz, nach dem dies sinnvoll gewesen wäre. Außerdem bestritten sie der SED das Recht, über die Legitimität einer demokratischen Partei zu befinden.195 Stattdessen wurde die Gründungsurkunde am 9. Oktober durch Ibrahim Böhme beim Ministerium des Innern hinterlegt bzw. dem Innenminister zugesandt.196 Dort nannte man den Vorgang rechtswidrig. Der Aufruf weise „eindeutig die Verfassungswidrigkeit des Zusammenschlusses nach“. Bei weiteren Schritten wurden rechtliche Konsequenzen angekündigt.197 Im SPD - Vorstand in Bonn löste die Gründung Kontroversen aus. Man gab sich „eher unverbindlich erfreut“ und behauptete, die Gründer rekurrierten auf einen „demokratischen Sozialismus“. Davon war aber bei der Gründung erklär190 Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 42 f.; ders., Die Opposition gegen die SED, S. 101; Interview mit Markus Meckel. In : ebd., S. 119. 191 Sturm, Uneinig, S. 129. 192 Rein, Die Opposition, S. 95 f. Vgl. Elmer, Ein sozial - demokratisches Deutschland, S. 17. 193 Rede Markus Meckel auf der SDP - Gründungsversammlung, o. D. ( SLUB, 1 D 145, Mappe SPD ). Vgl. Die Welt vom 28./29. 10. 1989. 194 Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 47. 195 Vgl. ebd., S. 52. 196 Vgl. Interview mit Ibrahim Böhme. In : Vorwärts, (1989) 11. 197 Antwort auf die Mitteilung an das MdI über die Gründung der SDP, o. D. ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2A /3250).

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termaßen keine Rede gewesen.198 In der SPD - Führung hatte man bislang auf eine Sozialdemokratisierung der SED wie in Ungarn oder Polen gesetzt. Am Tag der SDP - Gründung löste sich in Budapest die USAP selbst auf, und es entstand die „Ungarische Sozialdemokratische Partei“ ( USP ). SPD - Vorsitzender Hans - Jochen Vogel begrüßte am 9. Oktober die Gründung der SDP in der DDR und erklärte, man sei zu jeder Form der Zusammenarbeit bereit. Die Gründung sei ein Zeichen, dass sich in der DDR immer mehr Menschen zum demokratischen Sozialismus bekennen würden. Die SPD erklärte sich mit den Gründern solidarisch und ermutigte sie, sich zu organisieren. Eine demokratische Entfaltung in der DDR sei ohne starke Sozialdemokratie nicht möglich. Vogel betonte, die Gründung sei in eigener Verantwortung der Gruppe erfolgt. Die SPD könne und werde nicht an Stelle der DDR - Bevölkerung handeln.199 Zustimmung kam auch von Willy Brandt, der am 11. Oktober den Antrag der SDP um Aufnahme in die Sozialistische Internationale erhielt.200 Im Präsidium der SPD sorgten vor allem Björn Engholm, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder für eine schnelle Anerkennung der SDP,201 während Walter Momper auf Distanz ging.202 Egon Bahr betonte, seine Partei werde sich auch weiterhin daran halten, in anderen Ländern nicht konspirativ tätig zu werden. Ungeachtet dessen sah er eine „Sozialdemokratisierung Osteuropas“ kommen.203 Er machte seine Haltung davon abhängig, wie die SED reagieren und was sie der SDP gestatten werde.204 Die SPD befand sich in einer schwierigen Situation. Wie in der DDR, so stand sie auch in Polen und Ungarn „nicht auf Seiten der antreibenden Kräfte der demokratischen Umstürze“. In der DDR hatte sie den Ruf, besser mit der SED als mit Oppositionsgruppen auszukommen. Die mangelnde Bereitschaft, neben den Herrschenden auch mit konspirativ arbeitenden Oppositionsgruppen zu sprechen, erwies sich in dem Augenblick als ein Manko ihres Konzeptes „Wandel durch Annäherung“, als die Oppositionsgruppen begannen, das herrschende Regime in Frage zu stellen.205 Wie schwer manchem Sozialdemokraten das Umdenken fiel, zeigt ein Bericht Steffen Reiches, dem eine Woche nach der Gründung der SDP ein der SPD nahestehender Politologe in Bonn dringend nahelegte, vom Ausbau der SDP Abstand zu nehmen und geschlossen der SED beizutreten, um die dortigen Reformkräfte zu unterstützen.206 Reiche betonte im Westen die Unabhängigkeit von der SPD, zu der es vor der SDP Gründung keine Kontakte gegeben habe und von der man keine materielle Hilfe haben wolle.207 Beide Parteien hätten unterschiedliche Aufgaben. Während die 198 Vgl. Sturm, Uneinig, S. 153. Dort auch zur Haltung der SDP im Einzelnen. 199 Vgl. Hans - Jochen Vogel. In : Dowe, Die Ost - und Deutschlandpolitik der SPD, S. 44. 200 Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 56; Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang der Stasi, S. 270–281. 201 Vgl. Ehmke, Mittendrin, S. 397 f. 202 Vgl. Reiche, Motivationen der Gründergeneration, S. 25. 203 Süddeutsche Zeitung vom 10. 10. 1989. 204 Vgl. Sturm, Uneinig, S. 155. 205 Klaus Hartung. In : taz vom 10. 10. 1989. 206 Vgl. Interview mit Steffen Reiche. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 196. 207 Vgl. Das deutsche Jahr, S. 20.

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SDP plane, den Sozialismus zu reformieren, müsse die SPD eine „eher kapitalistische Ordnung“208 umgestalten. Ausdrücklich wandte sich Reiche gegen eine Wiedervereinigung. Zunächst müsse sich in der DDR in einem langen Prozess die Mündigkeit des Bürgers entwickeln. Am 23. Oktober sprach Reiche in Bonn mit Vogel und wurde dem Bundesvorstand der SPD vorgestellt.209 Bahr erklärte hier unter Zustimmung, es gebe ab sofort eine Präferenz für Gespräche und Kontakte der SPD mit der SDP.210 Nun begrüßte auch Momper die Gründung mit „solidarischem Gruß“, betonte aber zugleich, die SPD werde weiterhin das Gespräch mit der SED führen, ohne die Reformen unmöglich seien.211 Lafontaine erklärte, die SPD diskutiere „mit allen, mit der SED, aber auch mit den Oppositionsgruppen“.212 Machtkontrolle sei eine entscheidende Voraussetzung für Demokratie. Dies bedeute für die DDR die Zulassung einer Opposition, die notfalls in der Lage sei, eine Regierung abzulösen.213 Im „Stern“ erklärte SDP Gründer Thomas Krüger umgekehrt, die DDR sollte irgendwann „zu einem Mekka der Linken werden, wo neue Modelle diskutiert und ausprobiert werden könnten“.214 Mit solchen Äußerungen gewann die SDP vielleicht einige Sympathien unter westdeutschen 68ern, nicht aber in der DDR - Bevölkerung.215 Während die SPD ihr Verhältnis zur SDP klärte, brachte die Wende an der SED - Spitze auch hier Bewegung in die Bewertungen. Nach dem Machtwechsel erhielt Krenz eine Ausarbeitung von Innenminister Dickel, in der die SDP als anti - sozialistisch und verfassungsfeindlich deklariert und Vorgehensweisen gegen sie vorgeschlagen wurden.216 Auf einer Beratung von Krenz mit den 1. Sekretären der SED - Bezirksleitungen am 27. Oktober meinte Günther Jahn, die SDP dürfe „auf keinen Fall zugelassen“ werden. Ihr Ziel, die „Spaltung der Arbeiterklasse“, müsse entlarvt werden.217 Mielke erklärte auf einer Dienstversammlung am 21. Oktober gar, es sei besser, als Kommunist zu sterben, denn als Sozialdemokrat zu leben.218 Bezirk Dresden : An der SDP - Gründung in Schwante nahmen das Dresdner Ehepaar Matthias und Annemarie Müller teil. Sie trieben nun die SDP - Gründung in Dresden voran. Parallel dazu wurde hier Gerhard Brenn aktiv. Er hatte bereits nach 1945 der SPD angehört. Sein Ziel war es, an die Politik der SPD

208 209 210 211 212 213 214 215 216

Steffen Reiche am 18. 10. 1989 um 7.17 Uhr im DLF. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 24. 10. 1989. Vgl. FAZ vom 25. 10. 1989. Zit. in FAZ vom 23. 10. 1989. Interview mit Oskar Lafontaine. In : Tribüne vom 1. 11. 1989. Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 41. Interview mit Thomas Krüger. In : Der Stern vom 26. 10. 1989. Zur Haltung der SPD bis Ende Oktober vgl. Sturm, Uneinig, S. 199–206. Standpunkt zum Vorgehen gegen die Gründung einer „SDP“ in der DDR vom 17.10.1989, gez. Friedrich Dickel, Armeegeneral. Abgedruckt in taz vom 15. 3. 1990. 217 [ Günther Jahn ], Konzeption für mein Auftreten auf der Beratung des Generalsekretärs des ZK der SED mit den 1. Sekretären der SED - BL am 27. 10. 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, 4). 218 Zit. bei Horsch, Das kann, S. 19.

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in der Nachkriegszeit anzuknüpfen. Noch am 7. Oktober gründete er mit anderen früheren SPD - Mitgliedern ein „Initiativkomitee der Sozialdemokratischen Partei“. Er sah die SDP in der Tradition der deutschen und sächsischen Sozialdemokratie und beanspruchte in Dresden deren Vorsitz. Die Entwicklung der Partei war hier fortan vom Konflikt zwischen der reformsozialistisch orientierten Richtung um das Ehepaar Müller und traditionellen Sozialdemokraten mit gesamtdeutschem Anspruch um Brenn bestimmt. Beide sahen sich als legitimierte Sprecher der SDP an.219 Am 13. Oktober informierte das Ehepaar Müller in der ev. - luth. Kirche Dresden - Weißer Hirsch über die SDP. Sie stehe dem Neuen Forum nahe und verfolge prinzipiell gleiche Ziele. Parallel dazu trat Brenn auf und stellte samt Mitstreitern ein Acht - Punkte - Programm vor. Am 19. Oktober trat er auch in der Lutherkirche in Meißen auf, wo er sich als Vorsitzender eines Initiativkomitees der SDP vorstellte und seine Zielstellungen verlas. Am selben Tag informierte er im Deutschlandfunk über die Gründung des Initiativkomitees, einen Tag später plante Brenn eine Gründungsveranstaltung der Dresdner SDP in der Lukaskirche. Auf Beschluss des Kirchenvorstands und in Abstimmung mit Superintendent Ziemer blieb die Kirche allerdings geschlossen.220 Brenn nahm nun Kontakt zum Ehepaar Müller auf, rückte aber nicht vom Anspruch ab, Vorsitzender der Dresdner SDP zu sein. Als solcher trat er bei Veranstaltungen im Dresdner Umland auf. Mit seinem Eintreten für die Wiedervereinigung und vor dem Hintergrund der Konflikte mit dem Ehepaar Müller stieß er jedoch meist auf Widerstände in der sich eher reformsozialistisch verstehenden SDP. Eine erste öffentliche Informationsveranstaltung der SDP fand am 30. Oktober in der St. Hubertus Kirche in Dresden - Weißer Hirsch statt.221 Außerhalb Dresdens gab es wenig Aktivitäten. Lediglich im Institut für Sorbische Volksforschung Bautzen222 und in Zittau wurde auf Flugblättern über die Gründung der SDP informiert.223 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 17. Oktober bildete sich in Karl - Marx - Stadt eine Initiativgruppe der SDP.224 In einem Brief an Angelika Barbe wurde darüber informiert und um Vermittlung von Kontakten zu anderen Gruppen in der Region und um Hinweise für die Beantragung einer Zulassung gebeten. Volkmar Wohlgemuth und Mathias Wagner wurden als Kontaktadressen genannt. Am 30. Oktober traf man sich ein weiteres Mal. Barbe hatte inzwischen darüber informiert, dass es sich um die erste SDP - Gruppe im Bezirk handele. Tatsächlich gab es in Plauen bereits eine Gruppe und im Vogtland sogar mehrere.225 219 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 249–260. 220 BVfS Dresden vom 21. 10. 1989 : Weitere Formierung oppositioneller Sammlungsbewegungen im Bezirk bis 19. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 80–91). 221 Vgl. Die Union vom 2. 11. 1989. 222 Vgl. BVfS Dresden vom 25. 10. 1989 : Tagesinfo ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 370). 223 Aufruf an die Bürger des Kreises Zittau zur SDP - Gründung, o. D. ( ebd., KDfS Zittau 7009, 1, Bl. 165). 224 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 19). 225 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 31. 10. 1989 : Rapport ( ebd., XX 850, Bl. 14).

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Man einigte sich darauf, sich als provisorischer Bezirksvorstand zu konstituieren. Wohlgemuth und Roland Richter wurden gleichberechtigte Sprecher.226 Bezirk Leipzig : Nachdem bei der Demonstration am 23. Oktober Gründungsaufrufe der SDP verteilt worden waren, gründeten Mike Dietel, Thomas Lipp, Andreas Bertram, Christian Schultze und Andreas Schurig am 24. Oktober eine Initiativgruppe der Leipziger SDP. Die meisten waren Studenten des Theologischen Seminars. Sie beschlossen, die Leipziger SDP am 7. November in der Reformierten Kirche offiziell zu gründen und Karl - August Kamilli für den Vorsitz zu nominieren.227 Am nächsten Tag fuhr Schurig nach Berlin und stellte eine Verbindung zur Gründungsgruppe von Schwante her. Die Gruppe war damit vom Berliner Vorstand als Initiativgruppe autorisiert.228 Der Gründungsaufruf der SDP kursierte Ende Oktober auch außerhalb Leipzigs, ohne dass hier bereits Gründungen von SDP - Gruppen bekannt wurden.229 1.3

Der 8. Oktober – Signale aus Dresden

Entwicklungen in der SED Am 8. Oktober informierte Modrow Krenz über eine Beratung mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen, bei der die „große und wachsende Erwartung“ betont worden sei, dass die Partei - und Staatsführung eine Erklärung zur Lage abgebe und „damit sichtbar macht, dass der Ernst der Lage gesehen wird“. Man fordere, dass eine baldige Tagung des ZK der SED „festlegt, wie der erklärte Grundsatz von Kontinuität und Erneuerung weitergeführt werden soll, was uns am Voranschreiten hindert und über Bord gehen soll“.230 Überlegungen dieser Art gab es in Berlin bereits. So schickte die Sektion „Marxistisch - Leninistische Philosophie“ der Humboldt - Universität unter Regie von André Brie der SED - Führung am 8. Oktober ein Strategiepapier für eine „Konzeption des modernen Sozialismus“. Es deckte sich weitgehend mit den späteren Konzepten Modrows. Dem Machtanspruch anderer Parteien wurde eine Absage erteilt und die Funktion oppositioneller Gruppen auf Diskussionen begrenzt. Organisiertes Handeln gegen den Sozialismus sollte verboten bleiben und Opposition gegen den Sozialismus nicht zugelassen werden. Sozialistischer Opposition war ein „begrenzter legaler Raum“ einzuräumen. Wahlen wurden abgelehnt, da sie „unmittelbare Gefahren für die sozialistische Orientierung der Politik“ heraufbeschwörten. Wenn die sozialistische Erneuerung nicht gelinge, so drohten die Philosophen, könne eine Vereinnahmung durch die Bundesrepublik „im Rahmen neuer inter226 Vgl. Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. 227 Handschriftliches Protokoll vom 24. 10. 1989 ( PB Mike Schmeitzner ). Vgl. Schulze, Rückblick, S. 164–167; Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160; Motzer, Die Gründung, S. 229–234. 228 Vgl. Schurig, Die Anfangsphase, S. 201–206. 229 Vgl. Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989 ( HAIT, Wur A6). 230 Hans Modrow an Egon Krenz vom 8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ).

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nationaler Regelungen nicht ausgeschlossen“ werden.231 Die Gruppe um Brie hatte Kontakt zu Markus Wolf,232 Brie selbst arbeitete als IM für das MfS. Befürworter im Politbüro fand das Papier nicht. Brie schickte es am 8. Oktober an einige Bezirkssekretäre, fand aber nur bei Modrow Resonanz. Die SED - Basis, das zeigt ein Blick auf Sachsen, war weiter gespalten. Die übergroße Mehrheit stand, so die SED - Kreisleitung Bautzen, „fest hinter den Beschlüssen der Partei“, die Leitungskader seien bereit, „offensiv die Politik der Partei zu vertreten“. Es gebe aber nach wie vor Austritte.233 Im Kreis Meißen erklärten beim Umtausch der Parteidokumente zwischen dem 4. und 9. Oktober 59 Mitglieder ihren Austritt.234 In Zittau unterstützten die Mitglieder das Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen „Hetzattacken und Ausschreitungen“ prinzipiell, allerdings war man mit den Erklärungen des ZK, wie es zu diesen „Erscheinungen der Konterrevolution“ gekommen sei, nicht zufrieden. Die Leiterin der Jugendbrigade „Elsa Fenske“ im VEB Lautex Zittau, Eva Pospischil, forderte angesichts der Demonstranten : „Mit solchen Elementen müssen wir in unserem Staat ein für alle Mal aufräumen und auf das Strengste bestrafen.“235 Mitglieder im Kreis Altenburg fragten verängstigt : „Wie soll das weitergehen, wie soll dem Spuk ein Ende gesetzt werden ?“236 Solchen Stellungnahmen standen mehrheitlich ausgewogenere Überlegungen gegenüber. So forderte eine andere SED - Betriebsparteiorganisation im Kreis, die Probleme offen und ehrlich zu diskutieren. Es seien Veränderungen in der Wirtschaft notwendig, welche die Effektivität und Produktivität steigern helfen. Kritisiert wurde die Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“, die Versorgungslage, die Privilegien Einzelner und die fehlende Präsenz leitender Funktionäre vor Ort.237 In Leipzig verlangten SED - Grundorganisationen, auf Gewalt gegen Andersdenkende zu verzichten, die Forumschecks zum Einkauf im Intershop abzuschaffen und die Autopreise auf Arbeiterniveau zu senken.238 Besprechung bei Mielke am 8. Oktober Am Vormittag des 8. Oktober trafen sich Schabowski, Krenz, Herger, Dickel, Wagner, sowie Schwanitz, Mittig und weitere leitende Mitarbeiter des MfS ohne Wissen Honeckers bei Mielke.239 Krenz stellte den Generälen der Ministerien 231 232 233 234 235 236

Zit. in Oktober 1989, S. 106–115. Vgl. FAZ vom 3. 11. 1989. Vgl. Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 91. SED - KL Bautzen vom 10. 10. 1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13550). Vgl. SED - KL Meißen vom 9. 10. 1989 : Info ( ABL, EA, 891009_5). SED - KL Zittau vom 9. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). SED - Parteileitungssitzung der GO AWA am 9. 10. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147). 237 SED - BPO Phönix / Rositz an SED - KL Altenburg vom 9. 10. 1989 ( ebd.). 238 Vgl. SED - SL Leipzig vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., SED - SL Leipzig, 884); SED - SL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Info ( ebd., 885). 239 Vgl. Interview mit Rudolf Mittig. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 189; Aussage Wolfgang Schwanitz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 217. Die Aussa-

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für Verteidigung, des Innern und für Staatssicherheit seinen Entwurf einer Erklärung des Politbüros vor und betonte, es gelte, „die Errungenschaften des Sozialismus mit allen Mitteln zu verteidigen“. Dazu seien Veränderungen in der Parteiführung nötig und zu erwarten.240 Nach Darstellung Honeckers wurde sein Sturz mit dieser „Wendeerklärung“ praktisch vorbereitet. Mielke, der ständigen Kontakt zum KGB hielt, sei zum „Mitträger einer Konspiration“ zur Vorbereitung des „innerparteilichen und staatlichen Putsches“ geworden.241 Bereits seit Längerem hatte es zwischen Krenz, Mielke, Stoph und einigen weiteren Personen Kontakte gegeben, bei denen über eine Verjüngung der Parteispitze beraten worden war.242 Auf der Sitzung am 8. Oktober wurde jedoch nicht offen über Honeckers Entmachtung gesprochen. Neben dem Krenz - Entwurf kamen die Demonstrationen zur Sprache. Mielke informierte über die Zusammenstöße des Vortages.243 Er kritisierte, dass Demonstrationen nicht von vornherein verhindert worden waren, und befahl, künftig „feindlich - negative Ansammlungen und Demonstrationen“ unmöglich zu machen.244 Gemeinsam legten Mielke, Krenz und Schabowski ein härteres Vorgehen gegen die demonstrierende Bevölkerung fest. Die Sicherheitsorgane sollten die Unruhen beenden und „um jeden Preis Ruhe“ schaffen.245 Nach der Sitzung besprachen Krenz und Schabowski den Krenz - Entwurf, der „meilenweit von einer unverhohlenen Charakterisierung der Tatbestände entfernt“ und völlig von der üblichen Sprachregelung „über wuchert“246 war. Lediglich in zwei Punkten setzte er neue Akzente : Ein Abschnitt beschäftigte sich erstmals mit den Medien und der Versorgung, und im Gegensatz zu Honecker bedauerte man den Weggang vieler Menschen ausdrücklich. Ihre Bedeutung gewann die Erklärung durch die ausdrückliche Distanzierung von Formulierungen Honeckers. Nach Darstellung Schabowskis überlegten Krenz und er

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gen zum Treffen sind widersprüchlich. Der Chef der Aufklärung war nicht geladen, da zwischen ihm und Mielke „Funkstille“ herrschte. Vgl. Großmann, Bonn im Blick, S. 172. Aussage Wolfgang Schwanitz. Zit. in Und diese verdammte Ohnmacht, S. 288. Vgl. Aussage eines beteiligten Offiziers des MfS. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 70. So Erich Honecker. In : Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 36 und 375. Fricke sieht eine gewisse Plausibilität für Honeckers Verschwörungstheorie. Mielke verfügte über belastende Unterlagen. Vgl. Fricke, Honeckers Sturz, S. 5–7. Zur Zusammenarbeit des MfS mit dem KGB vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst VI, S. 24–31. So Schalck - Golodkowski. In : Die Welt vom 4. 4. 1990. Lothar Rühl, Zeitenwende in Europa, S. 332, bis 1989 im Bonner Verteidigungsministerium als Staatssekretär für Sicherheitsfragen zuständig, wertet entsprechende Aussagen eines hohen MfS - Offiziers in „Die Welt“ vom 21. 5. 1990 als authentisch. Wolf meint, Krenz erwähne Mielke „aus gutem Grund“ nicht in seinen Memoiren. Mielke sei einer derjenigen, „wenn nicht derjenige“ gewesen, mit dem Honeckers Ablösung besprochen wurde. Markus Wolf, Der General und die Revolution. In : Der Stern vom 22. 11. 1990. Aussage Friedrich Dickel. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 177; Schabowski, Das Politbüro, S. 78 f. Aussage Wolfgang Schwanitz. In : ebd., S. 217. Aussage eines beteiligten Offiziers des MfS. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 70. Vgl. Aussage Wolfgang Schwanitz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 288. Schabowski, Das Politbüro, S. 81.

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am Nachmittag, ob es sinnvoll sei, gegenüber Hager, Stoph und Mielke „durchblicken zu lassen, dass der Stoß letztlich auf die Entmachtung Honeckers zielte“.247 Mielke hatte nach dieser Darstellung mit den Absprachen zwischen Schabowski und Krenz über Honeckers Absetzung nichts zu tun. Zwar habe am Morgen des 8. Oktober „die straffere Phase der konspirativen Aktion“ begonnen, dies habe aber weder Mielke noch seine Generäle betroffen.248 Diese Darstellung übersieht, dass es nach den erstarrten Ritualen durchaus genügte, wenn die MfS - Führung die Erklärung von Krenz, die an sich einen Affront gegen Honecker darstellte, guthieß. Mittig antwortete später auf die Frage, ob über eine Absetzung des Generalsekretärs gesprochen worden sei : „Dass sich dies in den Köpfen als Konsequenz anbot, ist natürlich. Aber das stand nicht im Dokument. Die Parteiführung hatte endlich Konsequenzen zu ziehen. Wie die Konsequenzen aussahen, das hatte das Politbüro zu entscheiden.“249 Das MfS griff also nicht direkt in den Machtkampf ein, stellte sich aber de facto hinter Krenz und machte den Wechsel so erst möglich. Unmittelbar nach der Unterredung mit Schabowski ließ Krenz den Entwurf Honecker zukommen und schlug ihm vor, das Papier auf der Sitzung des Politbüros am 10. Oktober zu verhandeln. Honecker wandte sich noch am selben Tag entschieden gegen die Erklärung, bestritt ihre Notwendigkeit und bezeichnete sie als gegen sich gerichtet. Er beabsichtige nicht, sie ins Politbüro einzubringen.250 Ihm war klar, dass Krenz keine wesentliche Veränderung der Politik anstrebte, sondern der Entwurf vor allem einen Affront gegen ihn bedeutete. Honecker aktiviert Bezirkseinsatzleitungen Noch hielt Honecker alle Zügel in der Hand. Am 8. Oktober wies er die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen an, weitere Demonstrationen „von vornherein zu unterbinden“ und für die „sofortige Zusammenkunft der Bezirkseinsatzleitungen“ zu sorgen. Diese wurden angewiesen, alle Partei - , Gewerkschafts - und FDJ - Funktionäre sowie die Mitarbeiter der staatlichen Organe aufzufordern, „unmittelbar vor Ort an der Unterbindung der Krawalle“ teilzunehmen und „offensiv in Erscheinung“ zu treten.251 Generalleutnant Neiber rief daraufhin in den betroffenen Bezirksverwaltungen des MfS an und machte ausdrücklich auf die Anweisungen Honeckers aufmerksam. Er ver wies zugleich auf Anweisungen Mielkes, „keine Ansammlungen zuzulassen und Gruppenbildung sofort zu 247 Ders., Der Absturz, S. 249. 248 Ders., Das Politbüro, S. 80. 249 Interview mit Rudolf Mittig im Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 189. Mittigs Äußerungen sind mit Zurückhaltung zu behandeln, da er sich prinzipiell nur entlastend äußert. 250 Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 32; Schabowski, Das Politbüro, S. 82. 251 Erich Honecker an alle 1. Sekretäre der SED - BL einschließlich GL Wismut, MfNV Brünner, MfS Felber, MdI Primpke, o. D. ( BStU, ZA, Sekretariat d. Ministers 664, Bl. 67 f.).

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unterbinden. Alles ist im Keim zu ersticken, journalistische Aktivitäten sind zu unterlassen, gesellschaftliche Kräfte müssen verstärkt zum Einsatz kommen. Wichtig ist, Präsenz der Sicherungskräfte / Volkspolizei zu zeigen, notwendige Einsatzreserven überall zu bilden, um schnell handeln zu können. Alle Bürger können und sollen uns sehen.“252 Mielke forderte ausdrücklich, von westlichen Journalisten ausgehende feindliche Aktivitäten „konsequent zu verhindern“.253 Nyffenegger nannte die westlichen Massenmedien Träger und Organisatoren der „wütenden Angriffe unserer Feinde“. Wie beim 17. Juni 1953 seien sie Inspiratoren und Organisatoren der Opposition und subversiver Handlungen. Randalierer und Rowdys würden „medienwirksam vermarktet“ und erhielten „konkrete Anleitung zum Handeln“.254 Mielke befahl gegen 16.00 Uhr für alle Diensteinheiten des MfS volle Dienstbereitschaft. Der Feind versuche, „eine Gefährdung der sozialistischen Staats und Gesellschaftsordnung der DDR herbeizuführen“. Die Dienstwaffe war zu tragen. Reservekräfte sollten „zur Unterbindung und Auf lösung von Zusammenrottungen“ bereitgehalten werden. Dienstobjekte und Wohngebiete von MfS Angehörigen waren zu sichern. Terror - und Gewalthandlungen gegen SED Mitglieder und „progressiv auftretende Bürger“ sowie gegen Angehörige der Schutz- und Sicherheitsorgane einschließlich deren Objekte und Einrichtungen waren ebenso zu verhindern wie die Inbesitznahme von Waffen und Munition durch Feinde. Westliche Journalisten sollten an der Berichterstattung über Demonstrationen gehindert werden.255 Parallel befahl der Innenminister, ein Auftreten der „feindlich - negativen Kräfte zu verhindern bzw. konsequent zu beseitigen“.256 In allen Bezirken fanden daraufhin Zusammenkünfte der Bezirkseinsatzleitungen statt.257 Isolierungslager Damit war klar, dass die SED - Führung weiterhin auf Gewalt zur Lösung der Krise setzte. Nicht nur wurden die Einsatzleitungen aktiviert, wegen „der Verschärfung der Lageentwicklung“ befahl Mielke, die „Einschätzung und Neubewertung von OV, OPK und operativen Ausgangsmaterialien unverzüglich weiterzuführen“. Es sollten alle Personen erfasst werden, von denen „feindlich negative Handlungen“ zu erwarten bzw. nicht auszuschließen waren, um „erfor252 BVfS Karl - Marx - Stadt : Anruf des Generalleutnants Neiber am 8. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 96). 253 Erich Mielke an alle BVfS außer Berlin vom 8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 254 BDVP Dresden, Nyffenegger, an Leiter / Kdr., VPKÄ, StVE, 8. VPB vom 9. 10. 1989 : Die politisch - ideologische Arbeit zielstrebig weiterführen ( ABL, EA 891009_3). 255 Erich Mielke an Diensteinheiten vom 8. 10. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 90–95). 256 Friedrich Dickel an Chefs der BDVP 1–16 vom 8. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 257 Vgl. ZK der SED, Abt. Parteiorgane, vom 9. 10. 1989 : Info der SED - BL über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 62).

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derlichenfalls kurzfristig die Zuführung bzw. Festnahme solcher Personen zu realisieren“. Das betraf u. a. die „potenziellen Führungskräfte“ der politischen Oppositionsbewegung. Alle zu diesen Personen vorliegenden Materialien sollten „kurzfristig politisch - operativ und strafrechtlich eingeschätzt werden“, um angesichts der geplanten Massenfestnahmen „zur tatbestandsmäßigen Bearbeitung und Beweisführung“ zu dienen.258 Die Leiter der Bezirksverwaltungen des MfS gaben den Befehl an die Kreisdienststellen weiter.259 Damit lösten Honecker und Mielke am 8. Oktober die erste Stufe des Vorbeugekomplexes im Rahmen der erhöhten Einsatzbereitschaft im Spannungsfall gemäß dem Statut der Einsatzleitungen aus.260 Die landesweite Isolierung der Opposition konnte beginnen. Nachdem einzelne Vertreter der Volkspolizei, des MfS und der Bezirksstaatsanwalt bereits begonnen hatten, die am 7. Oktober festgenommenen Demonstranten wieder zu entlassen, um gesetzliche Fristen einzuhalten, wies der Generalstaatsanwalt auf Initiative Mielkes bereits kurz nach 9.00 Uhr an, „sofort alle Personen weiter festzuhalten und die Inhaftierung aller vorzubereiten“.261 Entlassungen durften erst nach Abstimmung mit dem MfS erfolgen.262 Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass sich Freigelassene erneut an Demonstrationen beteiligten.263 Als einige der Festgenommenen darauf hinwiesen, dass eine Festnahme laut Strafgesetzbuch nach spätestens 24 Stunden entweder mit Freilassung oder Vorstellung vor dem Haftrichter abgeschlossen sein müsse, bekamen sie als Antwort, „dass es bei Gericht Recht gäbe. Wir wären hier aber woanders. Sie könnten uns auch 3 Tage festhalten.“264 Mielke verbot ausdrücklich, auch die Personen zu entlassen, die offensichtlich unschuldig inhaftiert worden waren.265 Unter Umgehung der Strafprozessordnung wurden Tausende Demonstranten ohne richterlichen Haftbefehl eingesperrt und zum Teil weiter misshandelt. In der Nacht zum 9. Oktober wurden die ersten Demonstranten, die beim MfS als Oppositionelle bekannt waren, in Einrichtungen verbracht, die gemäß der Geheimen Verschlusssache 5 - M 55/89 des MfS zur Isolierung vorgesehen und inzwischen entsprechend vorbereitet worden

258 Erich Mielke an Diensteinheiten vom 8. 10. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 90–95). 259 Vgl. Knabe, Die geheimen Lager, S. 33; Arbeitsberichte über die Auflösung, S. 232 f.; Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang, S. 250–253. 260 Vgl. Auerbach, Vorbereitungen auf den Tag X, S. 6. 261 MdI, HA KriPo, vom 13. 11. 1989 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 54023). Vgl. Lothar Ahrendt an Harri Harrland vom 27. 12. 1989 ( ebd., 52461). 262 Staatsanwalt Bezirk Suhl an Generalstaatsanwalt der DDR vom 30. 11. 1989 : Befehlslage über den Einsatz der Sicherheitskräfte vom 7./8. 10. 1989 in Ilmenau ( BArch Berlin, DO 1, 54023). 263 Vgl. Und diese verdammte Ohnmacht, S. 24, und Aussage Hähnels. In : ebd., S. 136. 264 Gedächtnisprotokoll über die Zuführungen am Fetscherplatz, o. D. ( PB Beate Mihály). Vgl. Michael Dulig, Zuführung – Ein Bericht zu den Ereignissen am 8. 10. 1989 in Dresden ( PB Michael Curth ). 265 Vgl. Militär - Oberstaatsanwalt Berlin vom 16. 1. 1990 : Vernehmung Erich Mielke. In : Lang, Erich Mielke, S. 270–275; Vernehmungsprotokoll Mielkes vom 30. 1. 1990. In : ebd., S. 283 f.; Vernehmungsprotokoll Mielkes vom 31. 1. 1990. In : ebd., S. 285.

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waren.266 Die Argumentation Inhaftierter, sie würden unter Missachtung geltender Gesetze länger als erlaubt in Gewahrsam gehalten, ließ außer Acht, dass statt der gesetzlichen Bestimmungen die Verordnungen 1/67 und 4/67 des MfS für Spannungsperioden in Kraft waren, nach denen Bürger ohne Gerichtsbeschluss isoliert werden konnten. Davon hatten freilich die Betroffenen keine Kenntnis. Am 9. Oktober befanden sich in Bautzen I rund 2 700 Personen hinter Gittern. Ausgelegt war das Gefängnis aber nur für halb so viele Insassen. Die Versorgung stand vor dem Kollaps, das Anstaltspersonal war nervös und überfordert. Der amtierende Anstaltschef, Hauptmann Frank Hiekel, berichtete später : „Die zugeführten Demonstranten waren weder vom Haftrichter noch von Kriminalbeamten oder Staatsanwälten vernommen worden. Sie hatten keinerlei Dokument, das eine Inhaftierung rechtfertigte. Von den meisten kannten wir nicht mal den Namen.“ Stattdessen berichteten die einliefernden Begleitmannschaften, es handele sich um Staatsfeinde, gefährliche Randalierer und Schläger. Unter diesen Eindrücken habe sich ein Teil der Anstaltswärter zu Exzessen hinreißen lassen. „Es sind einigen in unverzeihlicher Weise die Sicherungen durchgebrannt.“ Einige Demonstranten mussten Spießruten laufen.267 Wachleute erklärten später, ihnen sei angekündigt worden, es würden Staatsfeinde eingeliefert werden, die auch so zu behandeln seien.268 Ein Untersuchungsausschuss registrierte in dieser Zeit für den Bezirk Dresden insgesamt 181 Gewaltanwendungen bei Festnahmen, 199 im „Zentralen Zuführungspunkt“, 136 in der Strafvollzugsanstalt Bautzen und sechs in Görlitz. Daneben kam es zu zahlreichen Drohungen bei Verhören, wobei gegen Beteiligte wie Unbeteiligte mit gleicher Brutalität vorgegangen wurde.269 Dresden : „Wir sind das Volk !“ Wende zum Dialog und Bildung der „Gruppe der 20“ Bezirk Dresden : Während die SED - Führung in Berlin auf Gewalt setzte, deutete sich am 8. Oktober in Dresden eine andere Entwicklung an.270 Nach Aufrufen zur Gewaltlosigkeit durch Superintendent Ziemer standen die Demonstrationen in Dresden seitens der Demonstranten erstmals unter dem Motto : „Keine Gewalt !“.271 Um 15.00 Uhr sollte auf einer Kundgebung auf dem Theaterplatz über das Neue Forum informiert werden. Da der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei befohlen hatte, „Zusammenrottungen“ zu

266 So Andreas Förster, Aus diesem Lager kommt ihr nie wieder raus. In : Berliner Zeitung vom 8. 10. 1991. 267 Vgl. Sächsische Zeitung vom 20. /21. 11. 1999. 268 Vgl. Und diese verdammte Ohnmacht, S. 23. 269 Zit. in Dokumentation zur politischen Justiz V, S. 38–44. Vgl. Schnauze !, S. 158–248. 270 Vgl. ausführlich Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 41–66. 271 Vgl. Liebsch, Dresdner Stundenbuch, S. 29.

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verhindern,272 löste die Volkspolizei die Kundgebung von etwa 400 Personen unter Einsatz von fünf Kompanien auf.273 Dabei kamen Einheiten der Bereitschaftspolizei aus Halle und Dresden sowie der Offiziershochschule Dresden zum Einsatz.274 Aus der Menge formierte sich danach ein neuer Demonstrationszug, der am Fetscherplatz umzingelt wurde. Die Volkspolizei setzte Schlagstöcke ein und nahm etwa 200 Personen fest. Sie wurden in den Zentralen Zuführungspunkt in die 8. Volkspolizeibereitschaft Dresden gebracht.275 Auch hier griffen inzwischen die Befehle Mielkes, die „Konterrevolution“ durch Massenfestnahmen zu bekämpfen. Die Volkspolizei hatte den ausdrücklichen Befehl, möglichst viele Festnahmen durchzuführen.276 Wie am Tag zuvor kam es zu etlichen Übergriffen durch Volkspolizei und MfS. Zahlreiche Personen wurden zusammengeschlagen.277 Weitere Demonstrationen gab es am Fucik - Platz und am Pirnaischen Platz. 1 500 Personen bewegten sich zur Prager Straße und riefen : „Neues Forum – wir sind dabei“ und „Keine Gewalt“. Erstmals erklang an diesem Tag in Dresden der legendäre Ruf : „Wir sind das Volk“.278 Um 17.00 Uhr wurden weitere Volkspolizei - Hundertschaften eingesetzt. Ungeachtet ständiger Massenfestnahmen formierte sich gegen 19.00 Uhr erneut ein Demonstrationszug vom Hauptbahnhof in Richtung Prager Straße. Hier standen sich am frühen Abend etwa 10 000 Demonstranten und bewaffnete Einheiten der Volkspolizei und des MfS gegenüber. Mehrere NVA - Hundertschaften standen bereit.279 Nachdem eine rund 800 Personen starke Demonstrantengruppe von Polizeieinheiten umstellt und jeder Fluchtweg abgeschnitten worden war, setzten sich diese mit brennenden Kerzen in den Händen auf den Boden, sangen Lieder und riefen : „Keine Gewalt“ und „Bruder, schlag mich nicht“.280 Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits 259 Personen festgenommen worden.281 Eine neue Konfrontation schien unausweichlich. Nun kam es zu einer überraschenden Entwicklung, die den Fortgang der Ereignisse in der DDR maßgeblich beeinflusste. Angesichts der verschärften Befehlslage durch Mielke nach der Besprechung mit Krenz und der MfS - Spitze in der Normannenstraße versuchte Modrow einen anderen Kurs durchzuset272 Vgl. UUK-Abschlussbericht an die StVV Dresden zu Handlungen der Schutz- und Sicherheitsorgane vom 3.–10. 10. 1989. In : Dokumentation zur politischen Justiz V, S. 38–44. 273 Vgl. MdI von Oktober : Lagefilm 1989, Nr. 321 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 274 Befragungsprotokoll des Behördenangestellten D. B. vom 9. 11. 1989 ( ebd., 54023). 275 Vgl. Vernehmungsprotokoll Willi Nyffenegger vom 7. 12. 1989 ( ebd.). 276 Aussage des VP - Majors Gerd - Uwe Malchow. In : Der Spiegel vom 12. 2. 1990. 277 Vgl. Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 13; Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 116 f. 278 Lagefilm der BDVP Dresden vom 8. 10. 1989. In : Richter / Sobeslavsky, Entscheidungstage, S. 68. Nach Zwahr, „Wir sind das Volk !“, S. 253–265, erklang der Ruf am 9. 10. 1989 erstmals in Leipzig. 279 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 272 f.). 280 Vgl. Interview mit Friedrich Boltz. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 31. 281 MdI - Bericht : Bezirk Dresden, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024).

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zen. Er plädierte für einen Dialog mit den Demonstranten, und es gelang ihm, die Militärs vor Ort für seinen Deeskalationskurs zu gewinnen. Zu dieser Entwicklung kam es, nachdem die Kaplane Frank Richter und Andreas Leuschner aus der Demonstration heraus um Kontakt gebeten hatten. Sie forderten einen Dialog zwischen den Demonstranten und einem staatlichen Vertreter, um drohende Gewalt zu verhindern.282 Zeitgleich mit der Aktion der beiden Kaplane, aber unabhängig davon, kam es zu einem Gespräch zwischen Oberbürgermeister Berghofer und Landesbischof Hempel sowie Superintendent Ziemer, die sich als Vermittler zwischen Bevölkerung und Staatsmacht anboten.283 Berghofer beriet sich mit Modrow, der eine Gelegenheit sah, seiner reform - und dialogorientierten Politik zum Durchbruch zu verhelfen. Hatte ihm bereits die Aktivierung der Einsatzleitungen missfallen, so stießen auch die weiteren Anweisungen aus Berlin, die einen Spannungszuwachs unausweichlich machten, auf seinen Widerwillen. Nach seiner Überzeugung konnte „Ruhe nur ohne Anwendung von Gewalt wiederhergestellt werden“. Da, so Modrow, „die Demonstranten Gewaltlosigkeit zum Prinzip ihrer Aktionen erhoben hatten, konnte und musste ein Weg gesucht und gefunden werden, um die Gewaltlosigkeit zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften herzustellen“.284 Nach Aussage des Beauftragten des Ministeriums für Nationale Verteidigung während der Ereignisse in Dresden, Generalmajor Raimund Kokott, sprach sich Modrow während einer BEL - Sitzung am 8. Oktober285 „offen gegen die Einschätzung der Partei und Staatsführung“ aus. Für ihn kam nur eine politische Lösung der Konflikte in Frage. Die Sicherheitskräfte sollten die Demonstrationen begleiten und absichern, aber jegliches Eingreifen vermeiden. Kokott gab, weil er die Lage ähnlich wie Modrow einschätzte, im Bewusstsein der „Tragweite dieser Wertung“ seine Zustimmung. Er informierte Generaloberst Horst Brünner, von dem er zwar zur Bedachtsamkeit gegenüber den Einschätzungen der Partei - und Staatsführung ermahnt wurde, der ihm jedoch gleichzeitig einräumte, „an Ort und Stelle die Ereignisse einzuschätzen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen“. Kokott war nach eigenem Bekunden bereits vor seiner Abkommandierung nach Dresden darüber informiert, dass Modrow in einigen Grundfragen der Politik der Partei - und Staatsführung prinzipielle Vorbehalte hatte. Deshalb war er über Modrows Auffassungen, die „erheblich von denen der DDR - Oberen abwichen“, nicht sonderlich überrascht.286 Auch den Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, Nyffenegger, forderte Modrow auf, den Demonstrationen ab sofort nur noch friedlich zu 282 Vgl. Ziemer, Wachen und Beten, S. 102; Wagner, Gruppe der 20, S. 13. 283 Diskussionsbeiträge der 15. Tagung des BT Dresden vom 20. 11. 1989. Abg. Wolfgang Berghofer ( SächsHStA, BT / RdB, 47116/1, Bl. 58); Liebsch, Dresdner Stundenbuch, S. 34; Interview mit Christof Ziemer. In : Rein, Die protestantische Revolution, S. 232. 284 Modrow, Aufbruch und Ende, S. 15–17. 285 BdVP Dresden vom 3.–9. 10. 1989 : Lagefilm, Nr. 625 ( Archiv Polizeipräsidium Dresden, Archivgut MdI I /3187). 286 Inter view mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit, S. 18 f. Vgl. Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 95.

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begegnen.287 Daraufhin kam es „in einer dramatischen Situation“ zur Diskussion der Linie Modrows. Gehmert und Kokott bestärkten Nyffenegger darin, keine Gewalt anzuwenden.288 Der Volkspolizei - General folgte schließlich ebenfalls dem Votum Modrows und beschloss, „entgegen auch zentraler Festlegungen, keine Personenansammlungen bzw. Demonstrationen durch Zuführung mehr aufzulösen“.289 Damit handelten NVA und Volkspolizei in Abstimmung mit ihren Berliner Vorgesetzten gegen Mielkes Linie.290 Freilich verließen weder Modrow noch Kokott oder Nyffenegger den Boden der Legalität. Sie handelten nach dem Statut der Einsatzleitungen, in dem für die Arbeitsweise der Einsatzleitungen nach kurzfristiger Erhöhung der Führungsbereitschaft die „Übernahme der Führung durch die Vorsitzenden der Einsatzleitungen nach dem Prinzip der Einzelleitung bei Wahrung der Eigenverantwortung der Mitglieder der Einsatzleitungen“ vorgesehen war. Allerdings nutzte Modrow seine relative Eigenverantwortlichkeit am 8. Oktober dazu, eine Eskalation des Konfliktes zu vermeiden. Statt den zentralen Crash - Kurs eigenverantwortlich auszufüllen, verwandte er seine größere Entscheidungskompetenz und Autonomie im Status der „Erhöhten Einsatzbereitschaft“ dazu, den international geächteten Kurs der Führung zu konterkarieren. Diese Auseinandersetzungen bedeuteten eine zentrale Weichenstellung für den gesamten Verlauf der friedlichen Revolution. Die friedlichen Massenproteste führten zu einer Ausdifferenzierung der Auffassungen innerhalb der SED - Führung über die richtige Handlungsstrategie. Teile der SED - Führung schlossen sich der Auffassung an, dass die Krise nur auf friedlichem, politischem Wege gelöst werden könne. Die Entscheidung, an die Stelle gewaltsamer Auseinandersetzungen einen gesamtgesellschaftlichen Dialog treten zu lassen, die nach der Initiative Modrows in der SED - Führung Schritt für Schritt an Akzeptanz gewann, war freilich alles andere als selbstverständlich. Deswegen ist Modrow Recht zu geben, wenn er erklärt : „Zur Geschichte des Oktober 89 gehört vor allem die Tatsache, dass der Bezirk Dresden der erste in der ganzen Republik war, in dem Gewaltlosigkeit erreicht worden ist, woran die Verantwortlichen dieses Bezirkes einen entscheidenden Anteil haben.“291 Vor allem aber ist es sein persönliches Verdienst. Die neue Orientierung wirkte sich sofort auf der Straße aus. Nun wurden aus den Demonstranten nach einer Aufforderung von Kaplan Frank Richter durch Beifall spontan 20 Personen bestimmt, die mit der Polizei und Vertretern der Stadt verhandeln sollten.292 Die Demonstranten wurden von Frank Richter aufgerufen, Forderungen für Gespräche zu benennen. Daraufhin wurden folgende

287 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 15. 288 Vgl. Interview mit Raimund Kokott. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 95. 289 Diskussionsbeitrag Willi Nyffeneggers auf der 15. Tagung des BT Dresden, o. D. (SächsHStA, RdB, 47116, Bl. 60–61). 290 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 16. 291 Hans Modrow vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 11. 12. 1996, S. 6 ( HAIT, Modrow - Prozess ).

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Themen vorgeschlagen und durch Beifall bestätigt : Reisefreiheit, Pressefreiheit, Einführung eines Zivildienstes, Legalisierung des Neuen Forums, gewaltfreier Dialog in der Gesellschaft, freie Wahlen, Recht auf friedliche Demonstrationen und Freilassung politischer Gefangener. „Der erste Forderungskatalog des Volkes“ war entstanden.293 Über ein Megaphon forderte Superintendent Ziemer die Sicherheitskräfte auf, sich zurückzuhalten. Er erklärte, Bischof Hempel und er seien bei Oberbürgermeister Berghofer gewesen. Sie hätten die Forderungen der Demonstranten vorgetragen und der Oberbürgermeister sei bereit, am nächsten Vormittag eine Abordnung der Demonstranten zu empfangen. Ein Vertreter fuhr noch am selben Tag nach Leipzig, um die Botschaft zu überbringen, dass in Dresden eine gewaltfreie Lösung und Gespräche möglich waren. Am Abend wurden auch die Leipziger Superintendenten telefonisch über den Dialog mit dem Rat der Stadt und die Gründung der Vertretergruppe informiert. Bei den Vertretern, die später den Namen „Gruppe der 20“ erhielten, handelte es sich um eine „willkürlich zusammengesetzte Gruppe“ von Demonstranten, die sich grundsätzlich von kirchlichen Gruppen unterschied. Mit ihr entstand eine neue Art von Bürgervertretung, die ihre Legitimität der durch Beifall bekundeten Zustimmung der Demonstranten verdankte. Die Gruppe wurde von einem Tag zum nächsten Gesprächspartner für die staatlichen Stellen.294 Dresden war am 8. Oktober das entscheidende Zentrum des Geschehens für die gesamte DDR. Vor allem hatte es entscheidenden Signalcharakter für die bevorstehende Montagsdemonstration in Leipzig.295 Es gab aber an diesem Tag im Bezirk auch außerhalb Dresdens Protestaktionen. Die Polizei registrierte 13 Fälle des Anbringens von „Hetzzetteln“ und „Schmierereien“ für Reformen, Neues Forum, gegen die SED und die staatliche Ordnung sowie die Grenzschließung. In neun Fällen wurden Fahnen angebrannt oder das DDR - Emblem entfernt. In Hochkirch ( Bautzen ) riefen 200 Jugendliche nach einer Tanzveranstaltung lautstark : „Gorbi, jag sie weg“, „Reformen“, „Macht die Grenzen auf“ und „Freiheit“.296 Nach dem Tanz kam es am Abend auch in Bischofswerda zur Demonstration. Vor der SED - Kreisleitung und der MfS - Kreisdienststelle riefen Jugendliche : „Stasi - Schweine“, „Stasi raus“, „Freiheit“, „Die Mauer muss weg“, „Gorbi her“ und „Wir bleiben hier“. 45 Personen wurden zugeführt,297 nachdem, so die Einschätzung eines SED - Funktionärs, „die VP grundlos auf die ver-

292 Christof Ziemer. In : Rein, Die Opposition, S. 193. 293 Ziemer, Wachen und Beten, S. 102. Vgl. Die Union vom 10. 10. 1989; Interview mit Friedrich Boltz. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 32. 294 Interview mit Christof Ziemer. In : Rein, Die protestantische Revolution, S. 234 f. 295 Was in den Darstellungen des 9. 10. 1989 in Leipzig oft ignoriert wird. 296 MfS, Lagebericht vom 8. 10. 1989 : Absichten und Vorhaben feindlich negativer Kräfte (ABL, EA 891008_9). 297 BVfS Dresden : Ergebnisse strafrechtlicher Prüfungshandlungen zu Teilnehmern einer Zusammenrottung am 8. 10. 1989 in Bischofswerda ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 191–193).

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Bild 22: Bildung der Gruppe der 20 auf der Prager Straße in Dresden am 8. Oktober 1989.

sammelten Jugendlichen eingeschlagen und gegen diese brutal den Knüppel eingesetzt“ hatte.298 Auch in Großröhrsdorf ( Bischofswerda ) wurde eine Demonstration durch die Volkspolizei gewaltsam aufgelöst und elf Personen wurden zugeführt.299 In Meißen rissen Jugendliche mehr als 20 Fahnen aus den Halterungen.300 Im Stadtgebiet von Niesky gab es „Schmierereien“ wie „Hoch lebe Ungarn“ und mehrere Plakate für das Neue Forum.301 In der Kirche RiesaGröba fand ein Gebet für den Frieden statt,302 und in der Sankt - Jacobi - Kirche von Neustadt ( Sebnitz ) forderte Superintendent Günther aus Pirna den Rücktritt Honeckers.303

298 SED - KL Bischofswerda : Info, o. D. ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 299 Vgl. VPKA Bischofswerda vom 23. 1. 1990 : Lage ( ebd., BDVP Dresden, Stab - Inf., I /756). 300 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 8. 10. 1990. 301 Vgl. VPKA Niesky vom 8.–9. 10. 1989 : Lagefilm zum Rapport 59/89 ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990). 302 Vgl. Manuskript für Begrüßung und Andacht, o. D. ( PB Andreas Näther ). 303 Vgl. Chronologie der Wende ( Stadt Neustadt in Sachsen, Heimatmuseum ).

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Proteste in Karl - Marx - Stadt und Leipzig Bezirk Karl - Marx - Stadt : An einer Schule des Kreises Auerbach äußerten die Lehrer, es stehe ein neuer 17. Juni bevor. Sie forderten die Bestrafung und Absetzung verantwortlicher Funktionäre, ohne jedoch die führende Rolle der SED in Frage zu stellen.304 In Treuen ( Auerbach ) rissen Jugendliche mehrere Fahnen herunter und riefen „Neues Forum“.305 In Dittersbach ( Brand - Erbisdorf ) wurden beim Jugendtanz demonstrativ Kerzen auf die Tische gestellt. In acht Gemeinden des Kreises standen ebenfalls „Protestkerzen“ in den Fenstern. In Brand - Erbisdorf trafen sich Jugendliche und forderten Reformen und die Zulassung des Neuen Forums. Ältere Bürger zogen ebenfalls Parallelen zum 17. Juni 1953.306 Beim Gottesdienst in der Freiberger Petri - Nikolai - Kirche versuchte der Initiator des Arbeitskreises „Frieden und Umwelt“, Karl Schlosser, gegen den Widerstand des Pfarrers Unterschriften für das Neue Forum zu sammeln.307 Nach der Gewalteskalation am 7. Oktober in Hainichen protestierte am 8. Oktober in der katholischen Kirche von Mittweida Pfarrer Jensch gegen die Gewaltübergriffe des Staates und forderte Reformen. Christen würden in der DDR nur Unterdrückung und Hass erfahren. In Hainichen zogen am Abend erneut Jugendliche durch die Stadt, sangen die „Internationale“ und riefen Parolen.308 Wieder gab es 36 Festnahmen.309 In Karl - Marx - Stadt trieb das Regime eine Demonstration von 1 500 Personen auseinander.310 In Markneukirchen ( Klingenthal ) löste die Volkspolizei eine „stumme Ansammlung“ von 70 Personen mit Kerzen dank Hilfe von Mitgliedern der SED - Kreisleitung durch „einfache körperliche Gewalt“ ( Schlagstock und Schäferhund ) auf. Es gab einige Festnahmen.311 Auch in Plauen versammelten sich am Abend wieder 3 000 Menschen vor dem Rathaus. Die Volkspolizei löste die Ansammlung auf.312 In Schwarzenberg gab es vor dem Jugendklub im Ernst - Thälmann - Wohngebiet „rowdyhafte Ausschreitungen“ und etliche Festnahmen.313 In Thalheim ( Stollberg ) waren Losungen wie „Freiheit für unsere Kinder“ und „Gebt uns die Freiheit“ zu lesen.314 Überall wurden im Bezirk Hundertschaften der Kampfgruppe 304 Vgl. KDfS Auerbach vom 4. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 79 f.). 305 Vgl. KDfS Auerbach vom 8. 10. 1989 : Bericht ( ebd., XX 833, Bl. 103). 306 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1807, Bl. 152–155). 307 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 10. 10. 1989 : Info ( ebd. 3078, 1, Bl. 19–21); KDfS Freiberg vom 10. 10. 1989 : Lage ( ebd., 533, 1, Bl. 60–64). 308 Vgl. KDfS Hainichen vom 10. 10. 1989 : Bericht ( ebd. 534, 1, Bl. 80–88). 309 Vgl. MdI : Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024, EA 400). 310 BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 180. 311 KDfS Klingenthal : Summe der Ansammlung von Personen in Markneukirchen, o. D. (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 1, Bl. 39). Vgl. Markneukirchen. Der Anfang vom Ende / Die „Wende“ und die Zeit danach 1989–1998 ( PB Johannes Sembdner ). 312 Vgl. Lothar Fichtner an Willi Stoph vom 9. 10. 1989 ( SächsStAC, 126409). Zahlenangabe : BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 180. 313 Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 13. 10. 1989. 314 Vgl. KDfS Stollberg : Reaktion, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 122–128).

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alarmiert, viele weigerten sich aber, gegen Bevölkerungsproteste eingesetzt zu werden. In Marienberg war von der 27. Kampfgruppen - Hundertschaft nur gut die Hälfte erreichbar, elf Kämpfer lehnten den Einsatz ab, darunter zwei SED Mitglieder. Einer von ihnen war Jugendbrigadier und Träger des Ordens „Banner der Arbeit“ sowie der Verdienstmedaille der Kampfgruppe in Gold.315 Bezirk Leipzig : Im Bezirk Leipzig konstatierte die SED eine wachsende Tendenz, auch in den Kreisen Friedensgebete zu organisieren, so z. B. am 8. Oktober in Delitzsch, Döbeln, Oschatz, Torgau und Wurzen. Die Teilnehmerzahlen schwankten zwischen 75 Personen in Oschatz und 1 200 in Torgau. Themen waren die Legalisierung des Neuen Forums und die Haltung der Kirche.316 Daneben kam es aber auch weiterhin zu widerständigen Einzelaktionen. In mehreren Gemeinden des Kreises Altenburg brachen Unbekannte Fahnenmaste um, zerrissen oder verbrannten Fahnen, trennten die Embleme ab oder setzten sie auf Halbmast.317 Auch im Kreis Wurzen entlud sich die Wut in Aktionen gegen Fahnen.318 In der LPG Lucka ( Altenburg ) stand auf Plakaten : „Die Jugend hat keine Zukunft – die Alten sind um ihre Jugend gebracht worden“ und „40 Jahre DDR – stille Gewalt, jetzt offene Gewalt“.319 In Rötha ( Borna ) fand die Volkspolizei an Hauswänden „herabwürdigende Texte“ gegen den SED - Staat.320 Im Kreis Delitzsch fiel die geringe Beflaggung der Wohnungen selbst von SED - Mitgliedern auf. Vereinzelt hingen Fahnen ohne DDR - Emblem.321 In Torgau wurden zwei Teilnehmer einer Veranstaltung in der ev. - luth. Kirche verhaftet, weil sie eine Resolution zur Bildung der SDP verbreiteten.322 In Leipzig blieb es tagsüber ruhig. Vereinzelt gab es „Schmierereien“ für das Neue Forum und Aktionen gegen DDR - Fahnen.323 Nachmittags und abends stellte sich in der Michaeliskirche das Neue Forum vor.324 Am frühen Abend entwickelte sich vom Nikolaikirchhof aus eine Demonstration von etwa 4 000 Personen, die von der Volkspolizei gegen 21.15 Uhr aufgelöst wurde.325 Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig teilte allen Volkspolizeikreisämtern mit, es sei den Rädelsführern trotz Zuführungen gelungen, „die Menge weiterhin aufzuputschen“, wodurch sich vor allem Jugendliche zunehmend „respektlos und provozierend, zum Teil auch aggressiv verhielten“. Ziel der „Formierung des politi315 Vgl. KDfS Marienberg vom 8. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 538, Bl. 212–215). 316 SächsStAL, SED - SL Leipzig, 864, Bl. 23. 317 Vgl. RdK Altenburg : Stimmungen, o. D. ( SächStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 49– 54). 318 Vgl. BDVP Leipzig vom 8.–9. 10. 1989 : Rapport ( ebd., BDVP Leipzig, 1450). 319 Lagefilm über die Vorkommnisse am 8. 10. 1989 [ Verfasser nicht ersichtlich ] ( ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 131). 320 BDVP Leipzig vom 8. 10. 1989 : Lagefilm ( ebd., BDVP Leipzig, 1450). 321 Vgl. SED - KL Delitzsch vom 8. 10. 1989 ( ebd., SED LPZ, IV 4/04/58). 322 Vgl. ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 133. 323 BDVP Leipzig vom 8.10.–10.10.1989 : Lagefilme ( ebd., BDVP, 1450/1). Vgl. Lageplan der BDVP Leipzig vom 6.–9.10. 1989 ( Auszug ). Abgedruckt in Lindner, Zum Herbst ’89, S. 89 f. 324 Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 78. 325 MfS, ZOS : 2. Tagesbericht, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 179).

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schen Untergrundes durch den Klassengegner“ sei es, „die Macht der Arbeiter und Bauern in Frage zu stellen und schließlich zu beseitigen“. Daher gelte es, den Klassenauftrag „mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln“ und „mit kühlem Kopf und heißem Herzen“ zu erfüllen.326 Mit dieser unmissverständlichen Orientierung bereiteten sich die Volkspolizisten auf den bevorstehenden Montag vor, für den allgemein die „chinesische Lösung“ erwartet wurde. 1.4

Der 9. Oktober – Entscheidung in Leipzig

Ankündigung der „chinesischen Lösung“ Mit Blick auf den 9. Oktober herrschte eine gespannte Erwartungshaltung.327 Der Angst vor einer „chinesischen Lösung“ stand die Auffassung entgegen, das Regime könne nicht ungestraft auf Zehntausende demonstrierender Bürger schießen. Am Tag zuvor hatte es in Dresden eine friedliche Lösung als Startschuss für einen Dialog gegeben. In Leipzig rechneten aber immerhin noch Rund zwei Drittel der Demonstranten damit, dass die Sicherheitskräfte schärfer durchgreifen würden.328 Honecker plante, ein Panzerregiment zur Abschreckung durch die Stadt fahren zu lassen, Fritz Streletz hielt ihn davon ab.329 Die Stadt war ohnehin, so Pfarrer Führer von der Nikolaikirche, „sehr gespannt vor Angst“.330 Der Erwartung der Gewalt wurde von der SED - Führung nicht widersprochen, offenbar zog man sie ins Kalkül ein, was für Masur allein schon ein Verbrechen war.331 Auf jeden Fall herrschte das Gefühl vor, an diesem Tag werde über den weiteren Weg der DDR entschieden. „Heute“, so ein Teilnehmer, „ist der entscheidende Tag, heute wird alles aufgefahren, was sein kann, heute ist die Entscheidung“.332 Wie früher auf dem Schlachtfeld konzentrierten beide Seiten möglichst große kritische Massen in der Stadt, um eine Entscheidung zu erzwingen. Aus verschiedenen Teilen der DDR fuhren Menschen nach Leipzig, um die Front der Regimegegner zu stärken. Das Neue Forum,333 der Arbeitskreis „Gerechtigkeit“ sowie die AG „Menschenrechte“ und „Umweltschutz“ riefen im Vorfeld zur Gewaltlosigkeit auf. Erstmals, hier noch bezogen auf das Gegenüber von demonstrierender Bevölkerung und Sicherheitskräften, hieß es: „Wir sind ein Volk ! Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden !“334 326 BDVP Leipzig, Straßenburg, an VPKÄ vom 8. 10. 1989 ( SächsStAL, BDVP 1). 327 Zum 9. 10. 1989 in Leipzig vgl. ausführlich Hollitzer, Der friedliche Verlauf, S. 247– 288; Geyer, Nikolaikirche, S. 219–265. 328 Vgl. Opp / Voß / Gern, Die volkseigene Revolution, S. 187. 329 Vgl. Heider, Nationale Volksarmee, S. 108. 330 Aussage Christian Führer. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 75. 331 Aussage Kurt Masur. In : ebd., S. 148. 332 Vgl. ebd., S. 76. 333 BDVP, Polit. Abteilung : Informationsblätter 2 und 3, Anlage 2 : Aufruf vom 9. 10. 1989 im Namen von Mitgliedern und Befürwortern des Neuen Forums ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2839). 334 AK Gerechtigkeit / AG Menschenrechte und Umweltschutz Leipzig vom 9. 10. 1989 : Appell ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1904, Bl. 10).

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Auch in der SED - Führung und beim Militär ahnte man, dass es entweder zu einem Blutbad oder zu einem Durchbruch zu Reformen kommen werde. Das aber wollte vor allem Honecker verhindern. Mielke rechnete deswegen mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Blutvergießen.335 Honecker nutzte den Empfang einer chinesischen Delegation am Vormittag des 9. Oktober noch einmal, um das Festhalten am Sozialismus als „grundlegende Lehre aus dem konterrevolutionären Aufruhr in Peking“ zu bezeichnen.336 Nach Meinung Gerlachs sorgte er dafür, dass die Leipziger Bezirkseinsatzleitung ( BEL ) unter Helmut Hackenberg auf eine „chinesische Lösung“ eingestellt war.337 Sie wurde nicht nur in Betracht gezogen, sondern vorbereitet.338 Am Abend des 8. Oktober wurden mehr als 400 SED - Parteisekretäre sowie Kommandeure der Kampfgruppen entsprechend instruiert.339 In einigen Betrieben wurden die SED - Mitglieder am Vormittag des 9. Oktober informiert, dass heute die Zerschlagung der „Konterrevolution“ erfolge, „dass heute zugeschlagen, dass heute aufgeräumt wird, dass von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird“.340 Belegschaften waren aufgefordert, die Innenstadt zu meiden, da Blut fließen werde. Die Kirche habe zur Gewalt aufgerufen. Studenten erklärte man, mit Maschinenpistolen bewaffnete Skinheads wollten sich gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr setzen. Einem Pfarrer der Thomaskirche wurde gesagt, man werde zwar „nicht als Angriffshandlung“ schießen, wohl aber bei Übergriffen auf staatliche Gebäude oder Staatsorgane.341 Unter Teilen der Bevölkerung kursierte die Äußerung des SED - Sekretärs der Stadt Gera : „Mit den Provokateuren und Konterrevolutionären hier werden wir nach dem 40. Jahrestag abrechnen, so wie das in China bereits geschehen ist.“342 Am 5. Oktober berichtete ein wehrpflichtiger Bereitschaftspolizist in Eilenburg, es gebe für den 9. Oktober „Befehle zum harten ‚Durchgreifen‘“.343 In den Schulen erklärte man den Kindern, sie sollten heute nicht in die Stadt gehen, es werde möglicherweise „etwas Schlimmes“ passieren. Schüler durften Internate nicht verlassen. Den Lehrern wurde angekündigt, es werde mit Rowdys und kriminellen Elementen aufgeräumt.344 Eltern wurden aufgefordert, ihre Kinder bis 335 Vgl. anonymes Interview mit Manfred Hummitzsch. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 217. 336 Neues Deutschland vom 10. 10. 1989. 337 Vgl. Manfred Gerlach. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 43. 338 So auch Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 19; Hein, Die fünfte Grundrechenart, S. 209; Niethammer, Wir sind das Volk, S. 253; Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 7. 339 Vgl. SED - SL Leipzig vom 8. 10. 1989 : Beschluss ( ABL, H. XV - 3 SED ). 340 Aussage Claus - Dieter Knöfler. In : Klemm, Korruption, S. 198. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 86. 341 DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44; Tetzner, Leipziger Ring, S. 17; Kai Hermann. In : Der Stern vom 1. 2. 1990. 342 Zit. in Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 140. 343 KDfS Eilenburg vom 6. 10. 1989 : IMB „Karo“ ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 20). 344 Vgl. Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 75–77.

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15.00 Uhr aus Kindergärten abzuholen. Wer in der Innenstadt arbeitete, bekam bereits am frühen Nachmittag frei und wurde aufgefordert, das Zentrum zu verlassen. Geschäfte, Cafés und Restaurants im Umfeld der Nikolaikirche blieben seitdem geschlossen. Die Verkäufer vor dem Alten Rathaus mussten ihre Stände bis 16.00 Uhr räumen.345 Bereits am 6. Oktober waren Zuführungspunkte eingerichtet worden. Die Leipziger Bereitschaftspolizei war auf Hunderte Festnahmen vorbereitet. Im Volkspolizeikreisamt Leipzig wurden für 60, in der Turnhalle Paunsdorf für 100 und in zwei Hallen des Agra - Geländes Verwahrmöglichkeiten für etwa 600 Personen geschaffen.346 Das Agra - Gelände war in Kriegs - bzw. Spannungszeiten als Internierungslager vorgesehen.347 Allein 70 Volkspolizei - Angehörige sollten die Verhafteten vernehmen. Der Zuführungspunkt wurde auch genutzt, wenn auch nicht im erwarteten Ausmaß, und Festgenommene hier „menschenunwürdig“348 zu zehnt in Tierboxen eingepfercht.349 Die „Leipziger Volkszeitung“ brachte am 9. Oktober ganzseitig bestellte Leserbriefe, in denen die Demonstranten als Kriminelle, Skinheads, Nazis oder Asoziale dargestellt wurden. So wurde die Bevölkerung auf Gewalt eingestimmt. In einem Leserbrief hieß es : „Weshalb bringt man diese Handlanger, die von der BRD aufgefordert werden, die innere Ruhe zu stören, nicht hinter Gitter, denn dort gehören sie hin ? Unsere 40 - jährige stolze Republik hat diese Machenschaften nicht verdient. Wenn diese Elemente, denn anders kann man diese Leute nicht bezeichnen, nicht begreifen wollen, wessen Brot sie essen, dann muss man es ihnen beibringen.“350 Bereits am 5. Oktober hatte die Kampfgruppenhundertschaft „Gerhard Amm“ gegen die „konterrevolutionären Machenschaften“ protestiert, denen man nicht weiter tatenlos zusehen werde. Einen Tag später erklärte der Kommandeur der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert“, Günter Lutz, man sei willens, die „konterrevolutionäre Aktion endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand !“351 Auch sonst forderten „progressive Bürger“, „Schluss zu machen mit

345 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 17; Aussage Claus - Dieter Knöflers. In : Klemm, Korruption, S. 197 f. 346 Vgl. Entschluss des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. 10. 1989. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 48–51. 347 Vgl. RdB Leipzig, gez. Reitmann vom 25. 5. 1987 : Info für die BEL über die Verantwortung des RdB zur materiell - technischen Sicherstellung von Internierungsmaßnahmen und die Bereitstellung erforderlicher Kräfte, Mittel und Objekte zur Einrichtung des Internierungslagers ( ABL, FVS Dresden Lagefilme Leipzig ); RdB Leipzig, gez. Opitz und Straßenburg vom 29. 8. 1989 : Vorlage für die BEL Leipzig : Bericht über die Planung und Sicherstellung des Internierungslagers. Textauszug abgedruckt in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 63–65. 348 So der Chef der BDVP Leipzig, Straßenburg, im Nachhinein. Zit. in ebd., S. 61. 349 Vgl. Aussage Uwe Meisselbach. In : ebd., S. 59. 350 Ursula Maschner. In : Leipziger Volkszeitung vom 9. 10. 1989. 351 Ebd. vom 6. 10. 1989. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 63; Wir sind das Volk 1, S. 52.

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den konterrevolutionären Aktionen“.352 Ein Schlosser aus dem VEB Silikatwerk Bad Lausick verlangte, dass mit dem „Spuk“ endlich Schluss gemacht werde. Ein Meister im VEB Säurebau Kohren - Sahlis ( Geithain ) meinte, dass „nur noch mit Gewalt, auch mit Waffengewalt, wirksam noch Schlimmeres verhindert werden“ könne. Ein NDPD - Stadtverordneter und selbstständiger Klempnermeister aus der Gemeinde plädierte dafür, „diesem Idiotenvolk ordentlich auf die Finger“ zu hauen. Nach Erkenntnissen der MfS gab es hier eine Reihe ähnlicher Forderungen, „mit allen Mitteln durchzugreifen“. Dokumentiert ist auch die Forderung eines Mitarbeiters des FDGB - Kreisvorstandes Geithain, „den Störenfrieden die Grenzen ihres Handelns aufzuzeigen. Man habe viel zu lange auf ein konsequentes Handeln der Sicherheitskräfte warten müssen“. Aber auch hier stand den eher wenigen, zudem oft inszenierten Gewaltforderungen eine Bevölkerungsmehrheit gegenüber, die sich zwar passiv verhielt, die Demonstrationen aber begrüßte.353 Militärische Vorbereitungen Entscheidender als verbale Attacken war, dass Honecker das Militär auf Gewalt einstimmte.354 Im Sinne des Statuts der Einsatzleitungen ( Absatz 4) wurde der NVA - Führung erklärt, die Sicherung der staatlichen Ordnung sei „gegenwärtig eine erstrangige Frage der Landesverteidigung“.355 So standen am 9. Oktober vor der Stadt Panzer bereit, um gegebenenfalls „dem ganzen Spuk ein Ende“ zu machen. Den Soldaten wurde erklärt, heute werde bei den Demonstranten „auch reingehalten“.356 Innenminister Dickel forderte die Volkspolizei - Angehörigen auf, allen, die sich an der SED - Macht vergreifen, eine Abfuhr zu erteilen. Es handele sich um Randalierer und Rowdys, darunter viele Vorbestrafte, kriminell Gefährdete und Asoziale. Ihr Ziel sei der „Sturz unserer sozialistischen Staatsmacht“. Sie seien ein Werkzeug jener, die zum Großangriff zur Beseitigung der DDR geblasen hätten.357 In Leipzig betätigte sich Nyffenegger als Multiplikator der ideologischen Eingebungen und ergänzte die Liste der Feinde um 352 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 353 Vgl. KDfS Geithain vom 9. und 10. 10. 1989 : Berichte ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 47–53). 354 Honecker behauptete später, nie eine „chinesische Lösung“ geplant, „vielmehr den Weg der Sicherheitspartnerschaft“ gesucht zu haben. Seine Befehle „enthielten von vornherein, dass Schusswaffen nicht gebraucht werden durften“. Zit. in Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 94. 355 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 356 Voigt, Gespräch, S. 75. 357 Friedrich Dickel an BDVP, Schulen des MdI, Ltr./ Kdr., MdI Berlin vom 9. 10. 1989 (ThStAM, BDVP 630).

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Kräfte „aus der BRD, Berlin / West und andere Ausländer, selbst aus den USA“, die eigens angereist seien, um beim Sturz des Sozialismus zu helfen.358 Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei rief „zur standhaften Verteidigung der soz. Ziele“ auf.359 Verschiedene Volkspolizei - Einheiten bestätigten gegenüber der Leipziger SED, sie würden den Feinden „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ entgegentreten und dort kämpfen, wo die SED sie brauche.360 Auch die Kampfgruppen zeigten sich bereit, das Regime „mit der Waffe standhaft zu verteidigen“.361 Den Wehrpflichtigen der Bereitschaftspolizei wurde befohlen, nach Anweisung zu schießen und dabei auf Kinder keine Rücksicht zu nehmen. Der Organisationschef der Leipziger Bereitschaftspolizei, Alfred Wächter, bereitete die Besatzungen von Schützenpanzerwagen darauf vor, „auf Befehl aus dem Bordmaschinengewehr das Feuer zu eröffnen“. Befehlsver weigerern drohte er mit dem Militärstaatsanwalt.362 Entsprechend gespannt war die Stimmung. Die Volkspolizei - Angehörigen hatten „das Gefühl, dass eine unmittelbare Entscheidung bevorsteht“. Wenngleich man Angst hatte, dominierte doch die Bereitschaft, nach Befehlslage zu handeln.363 Vor allem die Wehrpflichtigen der Bereitschaftspolizei hatten Angst vor einem Einsatz und identifizierten sich meist nicht damit. Einzelne planten, die Sperrketten zu destabilisieren.364 Auch in den Kasernen der NVA herrschte Anspannung. Wehrpflichtigen, die sich weigerten, an Einsätzen teilzunehmen, wurden Strafen angedroht. Vom Einsatz ausgeschlossen blieben schließlich etwa zehn Prozent. Am Morgen des 9. Oktober warnten Armeeangehörige ihre Familien davor, an diesem Tag in die Innenstadt zu gehen.365 Es kursierten Gerüchte über medizinische Vorbereitungen auf militärische Auseinandersetzungen. Demnach wurden Operations tische aufgestellt sowie Blutplasma und Leichensäcke gelagert. Im Bezirkskrankenhaus St. Georg wurden ebenfalls Blutkonser ven bereitgestellt und eine seit Jahren stillgelegte zweite Intensivstation funktionstüchtig gemacht. Einige Krankenhausstationen wurden geräumt, um Platz für Verletzte zu schaffen. Die Herzchirurgen der Karl - Marx - Universität wurden in die Behandlung von Schusswun-

358 Chef der BDVP Dresden an Leiter / Kdr., VPKÄ, StVE, 8. VPB vom 9. 10. 1989 ( ABL, EA 891009_3). 359 BDVP, Polit. Abteilung : Informationsblätter 2 und 3, Anlage 2 : Aufruf vom 9. 10. 1989 im Namen von Mitgliedern und Befürwortern des Neuen Forums ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2839). 360 SED - SL Leipzig vom 5. 10. 1989 : Informationen aus der GO des VPKA ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 361 SED - SL Leipzig vom 4. 10. 1989 : Informationen aus Kampfgruppen ( ebd.). 362 Zit. in Neue Zeit vom 28. 1. 1993. Vgl. Voigt, Gespräch, S. 78; Aussagen von fünf ehemaligen Bereitschaftspolizisten. In : Neues Forum Leipzig, S. 92 f. 363 Aussage des Oberstleutnants Wolfgang Schröder. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 80. 364 Vgl. KDfS Eilenburg vom 6. 10. 1989 : IMB „Karo“ ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 20). 365 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 17.

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den eingewiesen.366 Die Rettungsdienste wurden angewiesen, Verletzte nicht in kirchliche Krankenhäuser zu transportieren. Ärzte und medizinisches Personal wurden für die Spät - und Nachtschicht verpflichtet bzw. hatten Bereitschaftsdienst. Die Chefärzte wurden prophylaktisch über den geplanten Schusswaffeneinsatz informiert. Am 9. Oktober galt weiterhin der in Vorbereitung des 7. Oktober ergangene Befehl Nr. 8/89. Mielke befahl auf dessen Grundlage volle Dienstbereitschaft.367 Nach Aussagen Hergers gab es für den 9. Oktober einen Komplexbefehl Mielkes, der alle bewaffneten Einheiten betraf.368 Das Vorgehen basierte auf Absprachen zwischen Krenz, Mielke, Dickel und Keßler.369 Die Koordinierung der Entscheidungen erfolgte über Einzelentscheidungen und Einzelabsprachen zwischen Honecker und den Führungsstäben der Ministerien.370 Die oberste Entscheidungsbefugnis in Leipzig lag, neben Mielke, beim Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung, Helmut Hackenberg.371 Für das operative Handeln waren der Chef der Bezirksverwaltung des MfS, Hummitzsch, und der Chef der Bezirksbehörde der DVP, Straßenburg zuständig. Ihnen unterstanden die Einsatzstäbe und - kräfte. Auf zahlreichen Sonderleitungen nach Berlin wurden alle Schritte ständig mit dem dortigen Einsatzstab koordiniert.372 NVA : Auf einer Sitzung der Bezirkseinsatzleitung Leipzig hatte die NVA - Führung am 3. Oktober nach Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates angeboten, am 9. Oktober Einheiten zur Verfügung zu stellen.373 Vorausgegangen waren Absprachen zwischen Krenz und Keßler.374 Grundlage waren die Befehle des Nationalen Verteidigungsrates 8/89 und 9/89 über die Planung von Teilkräften der NVA für einen Polizeieinsatz. Die organisatorischen Grundlagen waren mit dem Befehl 125/89 des Ministers für Nationale Verteidigung geschaffen worden, der die Bildung von NVA - Hundertmannkommandos enthielt.375 Auf Grundlage des Befehls 105/89 über Maßnahmen zu einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft376 wurde am Abend des 8. Oktober die Fallschirmjäger366 Vgl. Aussage Anna Rädler. In : Neues Forum Leipzig, S. 82; Gerhard Mumme, Vor dem Ende. In : Berliner Illustrierte, Sonderausgabe von 12/1989, S. 106; Pfarrer Christian Führer. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 74 f.; Sievers, Stundenbuch, S. 17. 367 Vgl. MfS, Arbeitsbuch des Leiters der HA XX, Kienberg, o. D. ( BStU, XX 987, Bl. 121). 368 Aussage Wolfgang Herger am 18. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 202. Fritz Streletz erklärte, für den 9. 10. 1989 in Leipzig habe es keinen Befehl gegeben. Aussage vom 18. 1. 1990. In : ebd., S. 193. 369 Vgl. Aussage Fritz Streletz am 18. 1. 1990. In : ebd., S. 196 f. 370 So Manfred Gerlach. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 43. 371 Aussage Roland Wötzel. In : ebd., S. 78. Vgl. Anhörung Werner Eberleins am 9. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 148. 372 Aussagen Gerhard Straßenburgs und eines MfS - Offiziers. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 78 f. 373 Aussagen Gerhard Straßenburgs und Roland Wötzels. Zit. in ebd., S. 52 f. 374 Anhörung Wolfgang Hergers und Fritz Streletz am 18. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 195 und 201. 375 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 271 und 274). 376 Befehl 105/89. Vgl. Schell / Kalinka, Stasi, S. 312 f.

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kompanie des Luftsturmregiments 40 aus Lehnin in die Nähe Leipzigs verlegt.377 Bereits seit dem 6. Oktober wurden auf Befehl Keßlers NVA - Hundertschaften in Bad Düben und Delitzsch zur Sicherung des Leipziger Hauptbahnhofs, des Hauptpostamtes und des Senders Leipzig stationiert. Vor allem Unteroffiziersschüler wurden auf den Einsatz vorbereitet.378 NVA - Einheiten aus Eggesin und Dresden wurden in und um Leipzig zusammengezogen.379 Leipziger Bürger beobachteten NVA - Truppenbewegungen in der Georg - SchumannStraße und in Richtung Schkeuditzer Kreuz.380 Auch die Hubschrauber - Staffel der Albert Zimmermann - Kaserne in Cottbus hatte Führungsbereitschaft.381 Alle Armeehundertschaften waren für polizeiliche Aufgaben vorgesehen, kamen aber dank der Entwicklung nicht zum Einsatz.382 MfS : Im MfS wurde die volle Einsatzbereitschaft, die Mielke am 8. Oktober angeordnet hatte, verschärft. Mielke gab die Parole aus, in Leipzig werde „exemplarisch ein Unruheherd der Konterrevolution liquidiert“, da das Schicksal der SED - Herrschaft auf dem Spiel stehe. Die Instruktionen für die MfS - Offiziere lauteten, den Demonstrationszug aufzuhalten und zu zerschlagen, drei Kessel mit Demonstranten zu bilden und Rädelsführer festzunehmen. Mündlich erging der Befehl zum Gebrauch der Schusswaffen.383 Da das MfS „ein sich weiter eskalierendes abgestimmtes Zusammenwirken von Vertretern westlicher bürgerlicher Medien mit feindlichen, oppositionellen Elementen und der durchgängigen Präsenz solcher Medienvertreter an den Ausgangspunkten feindlicher bzw. provokatorisch - demonstrativer Aktivitäten“ konstatierte,384 wurde westlichen Journalisten der Zugang nach Leipzig verwehrt. Im Gürtel um Leipzig wurde das „Wachregiment Feliks Dzierzynski“ in Einsatzbereitschaft gehalten. In einem Hof der Bezirksverwaltung des MfS standen Schützenpanzer bereit, die mit Kehrschildern aus Maschendraht nachgerüstet waren. Jeder Kommandeur war mit einer Pistole bewaffnet, in jedem Wagen lag eine Maschinenpistole mit 60 Schuss Munition bereit. Im Gebäude des MfS stand ein zusätzliches Waffenarsenal zur Verfügung. Bereitschaftspolizei : Auf Befehl des Stabschefs des MdI, Wagner, wurden der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig Führungsgruppen und Einsatzkompanien der 4., 6., 7., 9., 10., 12. und 13. Volkspolizei - Bereitschaften zur Verfügung gestellt. Die insgesamt 14 Kompanien waren mit Sonderaus-

377 Aussage Fritz Streletz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 128; Aussage Theodor Hoffmann. In : Glaser, Auf die andere Seite, S. 55. 378 So Generalmajor Diderich, Chef des Wehrbezirkskommandos, und Generalmajor Wiegang, Chef des Militärbezirks Leipzig. Zit. bei Oldenburg, Die Implosion, S. 16. 379 Vgl. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 212 f. 380 Vgl. DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44. 381 Vgl. Der Spiegel vom 27. 11. 1989. 382 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 271 und 274). 383 So Schell / Kalinka, Stasi, S. 314 f. 384 MfS, ZAIG, Nr. 451/89 vom 9. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 208.

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rüstung, Gummiknüppeln, Schlagstöcken und Führungsketten ausgestattet. Hinzu kamen pro Einsatzkompanie fünf Maschinenpistolen Kalaschnikow, fünf Abschussgeräte sowie fünf Sätze Tränengas mit Zünder und Treibpatronen. Allein die Kompanien der Bereitschaftspolizei verfügten damit über 70 Maschinenpistolen. Die Kompanien der Bereitschaftspolizei führten insgesamt 12 Krankenwagen mit nach Leipzig.385 Insgesamt waren am 9. Oktober in Leipzig 28 Kompanien der Bereitschaftspolizei mit je 80 Mann im Einsatz.386 Auf Anforderung des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei wurden zusätzlich Kräfte aus Aschersleben mit Sonderausrüstung nach Leipzig verlegt.387 Aus anderen Bezirken wurden Wasserwerfer und Räumfahrzeuge nach Leipzig überführt. Die Kommandanten trugen Pistolen mit jeweils 16 Schuss Munition, die Einsatzfahrer Maschinenpistolen mit 60 Patronen.388 Die Angehörigen der Bereitschaftspolizei wurden am Vormittag aufgeklärt, dass ein friedlicher Ausgang der Demonstration an diesem Tag wenig wahrscheinlich sei. Die Einheiten führten größere Mengen an Tränengas und Reizwurfkörper mit sich.389 Innenminister Dickel befahl am 9. Oktober verstärkte Maßnahmen zur Sicherung aller Objekte der Volkspolizei in der gesamten DDR und die unbedingte Verhinderung des Zugriffs auf Waffen und Ausrüstung.390 Kampfgruppen : Für den 9. Oktober standen fünf Kampfgruppen - Hundertschaften des GG Interdruck, des Baukombinats Leipzig und des Kirow - Bataillons bereit.391 Bereits am 6. Oktober wurden Maßnahmen der Sicherung von Betrieben und Einrichtungen festgelegt und ein Diensthabenden - System organisiert.392 Die „Kämpfer“ waren teilweise mit Schlagstöcken ausgerüstet und wurden in Ringen um die Innenstadt postiert. Bei der Hauptpost am Karl - MarxPlatz wurden Maschinengewehre abgeladen, die teilweise erst am Abend um 22.00 Uhr wieder eingesammelt wurden.393 Nach Darstellung der SED - Bezirksleitung war mehrheitlich die Bereitschaft vorhanden, „mit der Waffe in der Hand den Kampf gegen innere und äußere Feinde aufzunehmen“. Es gab jedoch die Befürchtung, „dass selbst bei Einsatz von Gewalt die militärischen Mittel nicht mehr ausreichend seien“, um die Entwicklung unter Kontrolle zu halten. Hinzu

385 MdI, Generaloberst Wagner, an Chef der BDVP Magdeburg, Halle, Karl - Marx - Stadt, Chef der BDVP Leipzig vom 6.10.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52362). MdI, Generaloberst Wagner an Chef der BDVP Erfurt, Gera, Suhl, Chef der BDVP Leipzig vom 6. 10. 1989 ( ebd.). 386 Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 93. 387 Vgl. MdI von Oktober 1989 : Lagefilm, Nr. 334 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 388 Aussage des Oberwachtmeisters Große. Zit. in Oldenburg, Die Implosion, S. 17. 389 Vgl. Schneider, Oktoberrevolution, S. 7. 390 Friedrich Dickel an Chefs der BDVP vom 9. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 391 BVfS Leipzig, XV, an AKG vom 12. 10. 1989 : Zur politisch - ideologischen Situation in den Kampfgruppen - Hundertschaften der Stadt Leipzig. In : Sélitrenny / Weichert, Das unheimliche Erbe, S. 220. 392 Entschluss des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. 10. 1989. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 48–51. 393 Vgl. DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44.

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kämen bei den bewaffneten Einheiten „Angst vor Gewalt und Zerstörung sowie der Bedrohung des eigenen Lebens“.394 So erschienen zahlreiche „Kämpfer“ erst gar nicht bzw. hatten schon im Vorfeld der Ereignisse erklärt, sich nicht an Gewaltaktionen zu beteiligen.395 Das MfS registrierte als Hauptgründe eine Solidarisierung mit dem Neuen Forum sowie die Ablehnung des Einsatzes in Zivil mit Schlagstock und Bauarbeiterhelm.396 Beim Einsatz weigerten sich weitere Einheiten auszurücken. Bis zum 11. Oktober wurden in Leipzig 140 „Kämpfer“ wegen ihrer Haltung vom Dienst suspendiert.397 Dresden : Erstes Rathausgespräch und freie Volksversammlungen in Kirchen Während das Regime in Leipzig mobil machte, galten auch in Dresden formal alle Befehle, die auf eine gewaltsame Zerschlagung der Proteste orientierten. Gewalt - und Dialogorientierung vermischten sich. In „Elbflorenz“ bezogen am 9. Oktober wieder mehrere NVA - Hundertschaften in ihren Bereitschaftsräumen Stellung.398 Vor dem Hintergrund des Gewaltszenarios und der befürchteten „chinesischen Lösung“ in Leipzig gewann das „1. Rathausgespräch“ am Vormittag in Dresden schon durch sein bloßes Zustandekommen eine enorme Bedeutung.399 Modrow und Berghofer stimmten ihr Vorgehen nicht mit der Berliner SED - Führung ab, weswegen Neiber konstatierte, Modrow trage die alleinige Verantwortung für die Aufnahme des Dialogs.400 Am „1. Rathausgespräch“ nahmen neben Berghofer auch Funktionäre der Blockparteien teil, um politische Vielfalt zu simulieren. Die Vertreter der Demonstranten wurden von Superintendent Ziemer, den Kaplänen Richter und Leuschner sowie von Pfarrer Horn begleitet. Sie wiederholten ihre am Abend zuvor auf der Straße formulierten Forderungen. Berghofer betonte, eine Infragestellung des Sozialismus und der Verfassung sei für ihn nicht diskutabel. Im Übrigen sei die Gruppe durch nichts legitimiert und repräsentiere keinesfalls die Bürger der Stadt. Es handele sich um ein normales Gespräch mit Einwoh394 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 395 Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 90; SED - SL Leipzig vom 3. 10. 1989 : Lage (ebd., H. XV 3 SED ). 396 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 457/89 vom 15. 10. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 222. 397 BVfS Leipzig, XV an AKG vom 12. 10. 1989 : Zur politisch - ideologischen Situation in den Kampfgruppen - Hundertschaften der Stadt Leipzig. In : Sélitrenny / Weichert, Das unheimliche Erbe, S. 220; SED - SL Leipzig vom 4. 10. 1989 : Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( ABL, H. XV SED, FDJ ). Markus Wolf spricht von „lächerliche( n ) Vorkehrungen [...]. Die Jungens hatten am Tag vorher Schlagstöcke in den Kasernen bekommen.“ Zit. in Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 108. 398 Vgl. Untersuchungsausschuss des MfNV: Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 272 f.). 399 Vgl. Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 66–80. 400 Lagefilme des MfS vom 8. 10. 1989. In : ebd., S. 234–248.

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nern Dresdens, wie er es häufiger führe. Es war erkennbar, dass die Dresdner Machthaber vor allem weitere Demonstrationen verhindern wollten, die Vertreter der Demonstranten wollten das Gegenteil. Es wurde vereinbart, das Gespräch am 16. Oktober fortzusetzen. Die Bedeutung des Treffens lag weniger in den eher mageren Ergebnissen als in der überwundenen Sprachlosigkeit zwischen Bevölkerung und Herrschenden. Jahrzehnte hatte die SED auf Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten mit politischer Verfolgung reagiert. Nun waren einzelne Vertreter der Macht erstmals bereit, mit Personen zu reden, die mit der SED - Herrschaft prinzipiell nicht mehr einverstanden waren. Der Erfolg bestand im bloßen Zustandekommen und in der Entscheidung zur Fortsetzung der Gespräche auf der Grundlage wechselseitigen Gewaltverzichts. Nicht die Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen, nach Demokratie und Menschenrechten, die es auch zuvor immer wieder gegeben hatte, machten das Besondere der Situation aus, sondern die Bereitschaft von Vertretern des SEDApparates, sich trotz anderslautender zentraler Anweisungen dem Gespräch über politische Grundfragen zu stellen. Daher wurde das Treffen von der Vertretergruppe mehrheitlich, trotz aller Unzufriedenheit wegen fehlender konkreter Resultate, als wichtiger Durchbruch gewertet. Der Verzicht auf Gewaltanwendung läutete, ohne dass sich die Akteure bereits darüber Rechenschaft ablegten, das Ende der auf direkter wie struktureller Gewalt basierenden kommunistischen Herrschaft ein. Was den Demonstranten als zurückhaltendes Lavieren und Taktieren erschien, stellte für die Vertreter des Apparates eine enorme Herausforderung dar, verband sich doch damit eine Gefährdung ihrer Positionen im Partei - und Staatsapparat. Die entscheidende, von der Vertretergruppe kaum registrierte Veränderung war das Aufbrechen des bislang durch Parteidisziplin zusammengehaltenen, monolithischen Blocks des Parteiapparates. Während die Vertretergruppe sich eher unzufrieden zeigte, war für Berghofer nach dem Gespräch „alles bis dato Gängige, Funktionierende im System, in der Staats - und Parteimaschinerie nicht mehr existent“. Plötzlich war er als Inhaber des obersten staatlichen Amtes in der Stadt der aktiv Handelnde und nicht mehr der 1. Sekretär der Stadtleitung, Werner Moke. Der gab später ihm gegenüber zu, „hinter dem mutigen, klugen und wirkungsvollen Auftreten der Genossen Modrow und Berghofer“ nur „in zweiter Reihe“ gestanden zu haben.401 Einig waren sich beide Seiten darin, den begonnenen Dialog nicht auf Dresden zu begrenzen. Modrow sah in entsprechenden Reformen die einzige Chance, einer drohenden politischen Isolierung und politischen Ächtung zu entgehen,402 und auch Ziemer drängte, das Dresdner Modell zum Maßstab für die Entwicklung in Leipzig zu machen. Bereits unmittelbar nach dem Gespräch berichteten westliche Medien über die Zusammenkunft und die folgenden 401 Werner Moke an Wolfgang Berghofer von Ende Dezember 1989 ( StA Dresden, Sekretariat OB, Allg. Schriftwechsel A - Z 1988–1990). 402 Vgl. Interview mit Hans Modrow am 7. 9.1996.

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Volksversammlungen. Rainer Eppelmann forderte im Deutschlandfunk, der „Dresdner Dialog“ solle zum Vorbild für die gesamte DDR werden.403 Angesichts der am Nachmittag bevorstehenden Montagsdemonstration in Leipzig kam dem in Dresden begonnenen Dialog eine sehr große Bedeutung zu. „Wenn das in Dresden gekracht hätte“, so Berghofer, „dann wäre klar gewesen, was am 9. in Leipzig passiert.“ Es stellte sich also die Frage, ob die von Modrow angestoßene Entwicklung in Dresden zum Präzedenzfall für die weitere Entwicklung werden konnte. Angesichts der gegen Honecker gerichteten Bestrebungen in der SED - Führung war nicht auszuschließen, dass der Dresdner Weg weitere SED - Funktionäre veranlasste, sich Honeckers Kurs zu widersetzen. Ziemer forderte Berghofer deshalb zum Kontakt mit dem Leipziger Oberbürgermeister Bernd Seidel auf. Er rief Seidel gegen 12.00 Uhr mittags an, informierte ihn über die Dresdner Entwicklung und schlug vor, sich an die SEDBezirksleitung zu wenden. Seidel hielt dies für ausgeschlossen, wenn er nicht im Gefängnis landen wollte. Joachim Prag und Horst Schumann als Stadt - und Bezirkschef der SED galten als Hardliner im Sinne Honeckers.404 Außerdem schickte Ziemer nach dem Rathausgespräch zwei Vertreter der Demonstranten nach Leipzig, um in der Nikolaikirche über die Lage in Dresden zu berichten. Frank Neubert und René Bachmann fuhren mit einem Trabant dorthin und gaben noch vor Beginn der Demonstration in der Nikolaikirche einen Situationsbericht. Sie appellierten, dem Dresdner Vorbild folgend, für Gewaltlosigkeit und Dialog. Besonders positiv wurde hier die Nachricht aufgenommen, dass Berghofer bereit gewesen war, mit Vertretern der Demonstranten zu sprechen.405 General Kokott berichtet, man habe auch „auf der militärischen Ebene mit Leipzig gesprochen und zur Zurückhaltung aufgefordert“. Er meint, vor Leipzig habe „die eigentliche Wende schon in Dresden stattgefunden“.406 Richtig ist, dass die Entwicklung in Dresden Maßstäbe setzte und allen Seiten einen Ausweg aus der Konfliktsituation zeigte. In einer internen ADN - Information hieß es : „Die Ergebnisse der ersten Gesprächsrunde in Dresden waren von einer kleinen Delegation aus der Elbestadt am Montagnachmittag in Leipzig mitgeteilt worden und hatten dort nach Angaben aus Kirchenkreisen auch zur Beruhigung beigetragen.“407 Freilich war auch in Dresden noch kein endgültiger Durchbruch erreicht. Wie in Leipzig galt auch nach dem Rathausgespräch unverändert „erhöhte Einsatzbereitschaft“. NVA, Volkspolizei und MfS bezogen erneut Stellung in ihren Bereitschaftsräumen, Kampfgruppen und „gesellschaftliche Kräfte“ der SED 403 SED - BL Dresden : Deutschlandfunk vom 9. 10. 1989 um 8.00 Uhr ( SächsHStA, SED BL Dresden, 13218). 404 Interview mit Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 403. 405 SED - SL Leipzig : Bericht über die Einschätzung zum Gottesdienst am 9. 10. 1989 in der Nikolaikirche ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 884). 406 Podiumsdiskussion „Der heiße Herbst 1989“ am 10. 10. 2007 in der Buchhandlung Dresden Buch, Mitschrift d. A. 407 ADN - Information, Interne Dienstmeldung vom 10. 10. 1989 : In Dresden neue gemeinsame Gespräche angekündigt ( BStU, ZA, Neiber, 72, Bl. 17).

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standen bereit. Es war jedoch bereits das Ziel der Dresdner SED - Führung bekannt, Gewalt zu vermeiden. In Absprache mit Modrow wandte sich der Leiter der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt, Fuchs, am Nachmittag an den Bischof des Bistums Dresden - Meißen, Joachim Reinelt, und bat ihn darum, in den Kirchen bekannt zu geben, dass „1. die SED Fehler gemacht habe, 2. sie bereit sei, diese Fehler einzugestehen, 3. nicht nur Worte gemacht, sondern auch Taten folgen würden“. Fuchs bat darum, die Versammelten von weiteren Demonstrationen abzuhalten, damit ein friedlicher Ausgang des Ganzen gesichert sei und es Signalwirkung für Berlin habe. Dort gebe es ebenfalls Kräfte, die einen friedlichen Ausgang wünschten. Reichelt sagte zu, bat aber seinerseits darum, im Umfeld der Kirchen nicht unnötig viele Uniformierte zu postieren, was auch eingehalten wurde.408 Auch die evangelische Kirche versprach, dafür zu sorgen, dass es weder in den Kirchen noch davor zu „Demonstrativhandlungen“ kommen werde. Am Abend fanden in der Kreuz - , Hof - , Versöhnungs - und Christuskirche parallel und in je zwei Durchgängen emotionsgeladene und freie Informationsveranstaltungen statt.409 Während die Dresdner bereits dorthin strömten, lief auf dem Leipziger Ring noch die mit Spannung erwartete Montagsdemonstration. In Dresden war man sich über den eigenen Beitrag zur dortigen Deeskalation durchaus im Klaren. Nun erhofften sich viele umgekehrt ein positives Signal der Leipziger auf die Dresdner Entwicklung und schließlich auf den Fortgang der gesamten Ereignisse. Insgesamt 23 600 Personen wollten sich direkt über die Ergebnisse der Aussprache mit dem Oberbürgermeister informieren. Die Kirchen waren überfüllt. Seit Jahrzehnten hatte Dresden nicht solche spontanen und nichtinszenierten, tatsächlichen Volksversammlungen erlebt.410 In allen vier Kirchen referierten die Gruppenvertreter über die Entstehung der Gruppe und wiederholten die Forderungen, die sie dem Oberbürgermeister vorgetragen hatten. Sie forderten noch einmal auf, Gewalt zu vermeiden, sich von Randalierern und Rowdys zu distanzieren, und kündigten an, energisch im Sinne ihrer Forderungen wirken und die Herrschenden weiter zum Dialog zwingen zu wollen. Die Anwesenden kamen auch selbst zu Wort. Zettel kursierten durch die Bankreihen, auf denen jeder Fragen und Forderungen aufschreiben konnte, die dann durch einen „Anwalt des Publikums“ gesichtet, sortiert und vorgetragen wurden. In der Christuskirche verabschiedeten die Teilnehmer eine Resolution, in welcher der „Vertretergruppe“ für ihre Arbeit gedankt und ihr Forderungskatalog bestätigt und angenommen wurde. Die Gruppe erhielt von den Anwesenden ausdrücklich das Mandat, weiterzuarbeiten. Die Stimmung in den Kirchen schwankte zwischen Skepsis gegenüber der Führung, Bedrückung über die offensichtliche Beschattung durch die allgegenwärtige Staatssicherheit und Euphorie darüber, dass endlich Gespräche begon408 Bericht des Bischöf lichen Ordinariats Dresden - Meißen von Oktober 1989 ( PB Frank Richter ). Vgl. Die Union vom 11. 10. 1989. 409 Vgl. Richter / Sobeslavsky, Gruppe der 20, S. 75–80. 410 Vgl. Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine, S. 25.

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nen wurden und die Ausschreitungen und Übergriffe zumindest vorläufig ein Ende hatten. Insgesamt überwog jedoch deutlich die Zustimmung zum eingeschlagenen Weg. Für die Vertreter der Demonstranten lag die Bedeutung der Veranstaltungen vor allem darin, dass sie durch die Resonanz in den Kirchen oder durch direkte Mandatserteilung einen nachweisbaren Handlungsauftrag erhielten. Ihre demokratische Legitimation wurde auf eine breitere Grundlage gestellt, was ihre Autorität gegenüber den Vertretern des Staates stärkte. In einer Situation, in der keine demokratisch gewählte Vertretung der Bevölkerung existierte, avancierte die aus der Menge der Demonstranten spontan und direktdemokratisch gebildete Gruppe der 20 zur revolutionär - demokratischen, mit einem symbolischen Mandat ausgestatteten Vertretung großer Teile der Bevölkerung gegenüber der Staatsmacht. Als Keimzelle demokratischer Strukturen in Dresden stellte sie das politische System schon durch ihr bloßes Vorhandensein radikal in Frage. Regionale Proteste Auf Anweisung der Kreiseinsatzleitungen galt am 9. Oktober auch in den Kreisen erhöhte Einsatzbereitschaft. Die Räte der Kreise und Städte mussten ständig besetzt sein, die Bürgermeister der Gemeinden hatten durchgängige Telefonbereitschaft. Für alle galt eine Urlaubssperre.411 Die Leiter der Kreisdienststellen des MfS wiesen volle Einsatzbereitschaft an. Dienstwaffen waren am Mann zu tragen. An den Dienstobjekten wurden verstärkte Sicherungsmaßnahmen angeordnet. Alle IM wurden zum Einsatz gebracht und Maßnahmen eingeleitet, „um kurzfristig Zuführungen und Festnahmen realisieren zu können“. Das galt insbesondere für Sympathisanten des Neuen Forums, des Demokratischen Aufbruchs und für andere „Personen mit Schwankungen in der Haltung“. Auch die Arbeit in den bewaffneten Organen wurde zwecks „Verhinderung von Beschaffung von Waffen und Munition“ verstärkt.412 Bezirk Dresden : Zwar hatte das Regime in Dresden auf Dialog umgeschaltet, doch das bedeutete kein Ende individueller und kollektiver Protestaktionen. Überall gab es eine weitere Zunahme von „Hetzschriften“, anonymen Drohanrufen, „Schmierereien mit feindlichen Losungen“ mit Texten wie : „Wie weiter ?“, „Glasnost und Perestroika“, „Jetzt oder nie“ und „Zulassung des Neuen Forums“. In Betrieben mehrten sich Unterschriftensammlungen zur Unterstützung des Neuen Forums.413 Auch im Bezirk Dresden wurden Losungen und Zet411 Vgl. RdK Döbeln, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden vom 9. 10. 1989 : Festlegungen aus der Beratung des RdK, der Bürgermeister der Städte und Gemeinden ( Landratsamt Döbeln, KA, EA / S, 3525). 412 KDfS Eilenburg vom 9. 10. 1989 : Dienstbesprechung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 88, Bl. 27 f.). 413 ZK der SED vom 9. 10. 1989 : Info der SED - BL über die Lage und die eingeleiteten Maßnahmen ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 71).

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tel mit Forderungen für das Neue Forum angebracht, Fahnen abgerissen und lautstark protestiert. In Pulsnitz ( Bischofswerda ) riefen Jugendliche nach einer Tanzveranstaltung : „Kommunistenschweine, Bullenschweine, Vaterlandsverräter.“414 In Pirna kündigten 45 Kraftfahrer des VEB Dienstleistungsbetriebs Stadtwirtschaft einen einstündigen Warnstreik an. Streikdrohungen kamen auch aus dem VEB Zinnerz Altenberg. Hier wurde zur Senkung der Arbeitsleistung aufgerufen. Bezirk Karl - Marx - Stadt : Orientierte die SED - Führung in Dresden auf Dialog, war dies in Karl - Marx - Stadt noch ganz anders. Hier wurde die Stimmung durch eine Darstellung in der „Freien Presse“ angeheizt, in der die Demonstrationen am 7. Oktober in Karl - Marx - Stadt und Plauen unter der Überschrift „Gewissenlose Provokation“ abgehandelt wurden. Die Schuld an den Auseinandersetzungen wurde den Demonstranten gegeben.415 Aber nicht nur der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Siegfried Lorenz, orientierte auf Eskalation.416 Der Parteisekretär der MfS - Bezirksverwaltung gewann den Ereignissen „fast positive Züge ab“.417 Man habe dem Feind gegenübergestanden, und das sei der Herausbildung des Feindbildes unter den MfS - Genossen förderlich gewesen.418 Unter der Bevölkerung des Bezirkes nahmen dagegen, trotz passiver Grundhaltung der Mehrheit, die Proteste zu. An der Wandzeitung eines Wohnheimes der Bergakademie Freiberg wurde gegen den Gewalteinsatz gegen Demonstranten protestiert. An der Petri - Nikolaikirche demonstrierten einige Personen mit Kerzen und Blumen in der Hand. Vor der SED - Kreisleitung fand man Ausdrucke des Aufrufs vom Neuen Forum.419 In Hainichen bekannte sich ein anonymer Anrufer zum Neuen Forum und verlangte unter Androhung einer Zugentgleisung die Freilassung inhaftierter Jugendlicher.420 In Markneukirchen (Klingenthal ) zogen 150 bis 250 Personen nach einem Gottesdienst in der Nicolaikirche mit Kerzen still durch die Stadt. Volkspolizei mit Hunden, ein Wasserwerfer, Mitarbeiter des MfS und Kampfgruppeneinheiten mit Schlagstöcken aus Klingenthal standen in Bereitschaft, kamen aber nicht zum Einsatz. Unter dem Eindruck der Entwicklungen in Dresden und Leipzig hielten sich die Sicherheitskräfte zurück, und die Demonstration löste sich am späten Abend friedlich auf.421 Dass dies nicht selbstverständlich war, machten Stellungnahmen „progressiver Bürger“ in Marienberg deutlich, die den Gewalteinsatz der Volkspoli414 BVfS Dresden vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 107– 110). 415 Freie Presse vom 9. 10. 1989. Vgl. Horsch, Das kann, S. 12. 416 Vgl. Fernschreiben von Siegfried Lorenz nach der außerordentlichen Beratung der BEL am 5. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 433, Bl. 13 f.). 417 Horsch, Das kann, S. 12. 418 BVfS Karl - Marx - Stadt : Bericht über die erweiterte Beratung der zentralen Parteileitung am 9. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, Mappe Herbst 1989, Bl. 1–2). 419 Vgl. KDfS Freiberg vom 10. 10. 1989 : Lageeinschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56–64). 420 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 63). 421 Vgl. Der Anfang vom Ende / Markneukirchen. Die „Wende“ und die Zeit danach 1989– 1998 ( PB Johannes Sembdner ).

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zei begrüßten und meinten, dass die Demonstranten „schon viel eher die Staatsmacht hätten spüren sollen“.422 Im Rat der Stadt Plauen bekannten sich fast alle Mitarbeiter zur Linie der Partei. Zwei Abweichler, die „an den Provokationen beteiligt waren“, wurden fristlos entlassen.423 Allerdings vereinbarte Oberbürgermeister Martin mit Superintendent Küttler bereits am 9. Oktober auch in Plauen ein Gespräch mit einer Gruppe von Bürgern im Rathaus am 12. Oktober.424 In der Stadt kursierten Zettel „mit staatsfeindlichen Parolen“.425 So hing z. B. in der HO - Verkaufsstelle Fichtestraße ein Schild mit der Aufschrift: „Ein offenes Land mit freien Wahlen und freien Bürgern. Neues Forum.“426 Im Messgerätewerk Beierfeld ( Schwarzenberg ) sowie in anderen Betrieben klebten an Werkzeugschränken Bilder einer „BRD - Fahne“ und der Aufschrift „Guten Morgen Deutschland“.427 In Wilkau - Haßlau ( Zwickau ) wurde mit Farbe „Neues Forum“ an Häuser geschrieben. In Zwickau fand die Volkspolizei handgefertigte „Hetzzettel“ mit Forderungen nach Freiheit für Inhaftierte und der Drohung : „Nicht mehr lange und die Demonstranten schlagen zurück“.428 Bezirk Leipzig : Im Kreis Delitzsch mehrten sich Austritte aus der Kampfgruppe, dem FDGB und der SED. Pfarrer brachten „unter fälschlicher Auslegung“ an ihren Fenstern die Äußerungen Gorbatschows an : „Das Volk will die ganze Wahrheit“ und „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“429 Bei einem Fürbittgottesdienst in der St. Nicolaikirche Döbeln wurde das Neue Forum vorgestellt.430 In Schreiben protestierten Pfarrer des Kreises Eilenburg beim Rat des Kreises gegen die veröffentlichten Stellungnahmen der Kampfgruppen sowie die Ausgabe scharfer Munition und forderten einen Dialog. In anonymen Schriftstücken an den Kommandeur im VEB Ebawe Eilenburg wurden die Maßnahmen der Kampfgruppen mit Gestapomethoden verglichen.431 In Bad Lausick ( Geithain ) hing im Schaufenster eines Steinmetzgeschäftes ein Schild mit der Aufschrift : „Mehr Demokratie und Menschenrechte.“ Daneben stand eine Kerze.432 In Geithain befestigte ein selbstständiger Fuhrunternehmer folgendes Schild an seinem Fahrzeug : „Wir feiern 40 Jahre DDR, 15 Jahre warten auf ein Auto, 10 Jahre warten auf ein Telefon, miserable Straßen und Umwelt, auf den Rat des Kreises kein Verlass, Kaffeesahne und Butter aus dem 422 KDfS Marienberg vom 9. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 212–215). 423 Lothar Fichtner an Willi Stoph vom 9. 10. 1989 ( SächsStAC, 126409). 424 RdS Plauen : Gespräch mit Superintendent Küttler am 9. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2055, Bl. 113–115). 425 BVfS Karl - Marx - Stadt, Abt. M an AKG vom 10. 10. 1989 ( ebd. 3078, 1, Bl. 155–158). Vgl. KDfS Plauen vom 11. 10. 1989 ( ebd., Bl. 153 f.). 426 VPKA Plauen vom 9.–10. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAC, VPKA Plauen, 1100, Bl. 22). 427 KDfS Schwarzenberg vom 9. 10. 1989 : Verbreitung von antisozialistischen Machwerken in volkseigenen Betrieben des Kreises ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 62 f.). 428 KDfS Zwickau vom 9. 10. 1989 : Lage ( ebd. 1823, 1, Bl. 153–156). 429 SED - KL Delitzsch vom 9. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL, IV 4/04/58). 430 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 431 Vgl. KDfS Eilenburg : Informationsbericht, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 23 f.). 432 KDfS Geithain vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( ebd., KDfS Geithain 146, Bl. 50–53).

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Delikat.“433 Im Wurzener Dom nahmen am ersten Friedensgebet ca. 80 Personen teil.434 9. Oktober in Leipzig Um 7.30 Uhr trat die Bezirkseinsatzleitung unter Führung des 1. Sekretärs der SED - Bezirksleitung, Hackenberg, zusammen. Anwesend waren der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, Straßenburg, der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, Hummitzsch, und für die NVA - Verbände Generalmajor Günther Diederich. Honecker hatte die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen früh am Morgen nochmals aufgefordert, feindliche Aktionen im Keim zu ersticken und Organisatoren zu isolieren.435 Die Einsatzleitung beriet den Befehl Honeckers 8/89 vom 26. September, wonach „feindliche Aktionen offensiv“ zu verhindern waren. Straßenburg erklärte, er rechne mit bis zu 50 000 Demonstranten. Diederich verwies darauf, dass seine NVA - Einheiten aus Unteroffiziers - Schülern ungenügend für Gewaltaktionen gegen die Bevölkerung vorbereitet seien und kaum den Umgang mit dem Gummiknüppel beherrschten. Es wurde beschlossen, dass mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die Spitze des Demonstrationszuges zwischen Karl - Marx - Platz und Hauptbahnhof unter massivem Einsatz von Schlagstöcken angreifen, mit Unterstützung von Schützenpanzern in Seitenstraßen abdrängen und zu kleinen Gruppen „zernieren“ sollten.436 Nach Darstellung von Hummitzsch teilte die Bezirkseinsatzleitung seine Einschätzung, dass, „im Gegensatz zu zentralen Befehlen“, es weder durch Einsatz von Schusswaffen noch anderer polizeilicher Hilfsmittel mehr möglich sein würde, die Demonstrationen zurückzudrängen.437 In Berlin suchte gegen 9.00 Uhr der Direktor des Leipziger Instituts für Jugendforschung, Walter Friedrich, Krenz auf und informierte ihn über seine Einschätzung, dass es am Abend zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen werde. Er bat Krenz, Gewalt zu verhindern. Der erklärte ihm, der Staat dürfe sich nicht alles gefallen lassen. Eine Konfrontation sei möglicher weise unvermeidbar. Er werde sich aber bei Honecker dafür einsetzen, dass nicht auf die Bevölkerung geschossen werde. Er informierte Friedrich über die Absicht, Honecker abzusetzen. Er sei dafür, dass nicht geschossen werde, könne es aber nicht garantieren, da Gewalt von beiden Seiten kommen könne.438 Nach Aus433 434 435 436 437

KDfS Geithain vom 10. 10. 1989 : Tagesbericht ( ebd., Bl. 47–49). Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 132. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 135. Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 1. 2. 1990. Wortprotokoll der Sitzung der SED - BL Leipzig, o. D.; Wortbeitrag Manfred Hummitzschs, S. 56 ( ABL, H. XV - 3 SED ); Interview mit Manfred Hummitzsch im Juli 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 218. 438 Vgl. Aussagen Walter Friedrichs und Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 87–89; Text der Ausarbeitung Friedrichs in ebd., S. 91–111; Aussage Egon Krenz. In : Bayerischer Rundfunk vom 7. 10. 1991 um 22.15 Uhr; Der Stern vom 25. 1. 1990.

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sage von Krenz war er bis dahin nicht darüber informiert, dass es einen Befehl zur Gewaltanwendung gab. Im Laufe des Tages habe er versucht, diesen Befehl ausfindig zu machen, um zu verhindern, dass Gewalt ausgeübt werde.439 Demgegenüber berichtet Kotschemassow, Krenz habe ihn am Abend des 8. Oktober „sichtlich besorgt“ angerufen und mitgeteilt, Honecker habe ihn beauftragt, nach Leipzig zu fliegen, um notwendige Maßnahmen durchzuführen. Kotschemassow habe ihm den Ernst der Lage bestätigt und empfohlen, Blutvergießen auf jeden Fall zu vermeiden. Krenz habe die Meinung geteilt und erklärt, er habe in dieser Frage eine andere Meinung als Honecker. Krenz habe verstanden, dass Honecker auf diese Weise den „Hauptschlag gegen ihn“ führen wollte. Kotschemassow setzte sich nach dem Gespräch mit dem Oberbefehlshaber der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, Boris Snetkow, in Verbindung und forderte ihn auf, dafür zu sorgen, dass die Truppen in den Kasernen bleiben und auch keine Übungen oder Truppenbewegungen durchgeführt werden. Snetkow sicherte zu, entsprechende Befehle zu geben und die Ausführung persönlich zu überwachen.440 Am Vormittag machte Krenz indirekt Druck auf Honecker. Dieser erhielt einen Brief von dem FDJ - Vorsitzenden Eberhard Aurich, dessen Stellvertreter Wilfried Poßner und dem ZK - Abteilungsleiter Gerd Schulz. Er enthielt eine „Einschätzung der politischen Lage unter der Jugend“, wonach eine Mehrheit „mit der einseitigen Bewertung der Erfolge der DDR, der einseitigen ‚Schuldzuweisung‘ für die ‚Abwerbe - und Entführungsaktion‘ von DDR - Bürgern an den Imperialismus durch die Partei und die Massenmedien nicht einverstanden“ sei. Als „eine entscheidende Ursache für den ungenügenden Dialog der Parteiführung mit der Bevölkerung“ sähen die Jugendlichen die „Tatsache, dass Mitglieder der Parteiführung, aber auch leitende Genossen in den Bezirken, zu alt und nicht dynamisch genug“ seien.441 Freilich legten die FDJ - Funktionäre kein Reformkonzept vor, sondern forderten eine weitere Stärkung des Sozialismus unter Führung der SED.442 Im FDJ - Blatt „Junge Welt“ erschien ein offener Brief von Hermann Kant, der ebenfalls moderate Reformen vorschlug. Am selben Tag überreichte auch Mittag Honecker Vorschläge über eine „grundsätzliche Neuorientierung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung mit entsprechenden neuen Aufgabenstellungen“. Honecker reichte die Vorschläge über eine Wirtschaftsreform an eine Arbeitsgruppe aus Krenz, Schabowski, Mittag und Herrmann weiter.443 Tisch flog nach Moskau, wo er Gorbatschow über den bevorstehenden Sturz Honeckers informierte.444

439 440 441 442 443 444

Nach Schabowski hat Krenz „Schlimmstes verhütet“. Zit. in Golombek / Ratzke ( Hg.), Facetten, S. 109. Auch Gregor Gysi, Manfred von Ardenne und Werner Leich meinten, Krenz habe mäßigend gewirkt. Vgl. Rein, Die Opposition, S. 170. Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 90. Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 168 f. Honecker an Krenz vom 9. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, 2/2.039/322, Bl. 12–61). Vgl. Stephan, Die Bewertung, S. 163; Mählert, Die gesamte junge Generation, S. 12. Günter Mittag. In : Der Spiegel vom 9. 9. 1991; ders., Um jeden Preis, S. 23. Vgl. Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 18.

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Im Leipziger Zentrum sammelten sich seit dem Vormittag immer mehr Menschen. Gemäß Polizeitaktik sollte ab 10.00 Uhr in der Innenstadt keine Menschenansammlung mehr zugelassen werden, um von vornherein Demonstrationen zu unterbinden.445 Bei den Leipziger Kirchenleitungen trafen von früh an Meldungen ein, dass sich Militäreinheiten formierten, um Demonstrationen „ein für alle Mal ein Ende zu bereiten“ und dabei „mit der Waffe einzugreifen“.446 Von dieser Einschätzung war das Verhalten der Kirchenführung ebenso bestimmt wie von der Entwicklung in Dresden. Am Vorabend hatte man telefonisch aus Dresden von der Bildung der Gruppe der 20 und der Bereitschaft der Herrschenden zum Dialog erfahren.447 Vor diesem Hintergrund suchte Landesbischof Hempel um 10.00 Uhr den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres, Reitmann, auf und forderte ihn auf, keine Gewalt gegen Demonstranten auszuüben. Reitmann erklärte, die Verantwortung liege allein bei der Kirche. Wenn sie die Demonstration absage, werde es auch keine Gewalt geben. Der Bischof erklärte, es liege nicht in der Macht der Kirche, das Zusammenkommen von Zehntausenden von Menschen zu unterbinden. Er werde in den Kirchen dazu auffordern, sich friedlich zu verhalten. Für den Fall eines friedlichen Verlaufs sicherte Reitmann Hempel die Bereitschaft zu, am 10. Oktober mit Vertretern aus kirchlichen Gruppen ein Gespräch zu führen.448 Das Dresdner Modell begann zu wirken. In Berlin sprach gegen 14.00 Uhr Krenz mit Honecker, der gegen das „GorbiGorbi - Geschrei beim Fackelzug“ der FDJ protestierte und Krenz anwies, den Leiter der Jugendabteilung, Gerd Schulz, sofort abzusetzen. Den bislang undenkbaren Widerspruch gegen dieses Ansinnen überging Honecker mit unbewegter Miene449 und erklärte, er werde verhindern, dass im Politbüro über den Entwurf von Krenz gesprochen werde. Es sei das politische Ende von Krenz, wenn er die Erklärung ins Politbüro einbringe.450 Krenz setzte sich darüber hinweg und sorgte nach der Besprechung dafür, dass seine Erklärung sofort an die Mitglieder des Politbüros verteilt wurde. Danach telefonierte er mit den sechs auswärtigen Bezirkssekretären, die Mitglieder des Politbüros waren, und informierte sie über die geplante Vorlage im Politbüro am kommenden Mittwoch.451 Am Nachmittag kursierten im ZK und in der Regierung bereits Gerüchte über einen möglichen Wechsel. Vor diesem Hintergrund sank die Bereitschaft von Krenz, die Verantwortung für ein gewaltsames Vorgehen in Leipzig zu übernehmen. Es scheint, dass Honecker, Mielke und Krenz das Vorgehen in Leipzig vor 445 446 447 448

Vgl. Aussage Gerhard Straßenburg. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 46. Magirius, Wiege der Wende, S. 13. Vgl. DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44. Vgl. SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 449 Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 1. 2. 1990. 450 So Krenz gegenüber Schabowski. Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 83; Aussage Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 149; Werner Hübner. In : Gysi / Falkner, Sturm, S. 36. 451 Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 1. 2. 1990.

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allem unter dem Gesichtspunkt beurteilten, welche Bedeutung es für die Durchsetzung der eigenen Politik haben würde. Da sich eine Entscheidung für Gewalt mit der Person Honeckers verband, verhielt sich auch Mielke vorsichtig. Höchstwahrscheinlich erhielt er auch Hinweise von sowjetischer Seite. Hummitzsch erhielt schon am Vormittag zwei Anrufe Mielkes, bei denen dieser ihn aufforderte, „alles zu unterlassen, was zu einer Zuspitzung der Situation führt“.452 Sollte dies stimmen, dann war auch Mielke zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an einer Gewaltlösung im Sinne Honeckers interessiert und orientierte sich bereits an Krenz. Zwischen 13.30 und 14.00 Uhr besetzten ca. 2 000 SED - Mitglieder und MfSMitarbeiter das Mittelschiff der Nikolaikirche, der „steinernen Arche der Revolution“.453 Aus Hochschulen und VEB waren dafür zuverlässige SED - Mitglieder ausgewählt und vorbereitet worden. Ebenso standen 500 SED - Mitglieder für eine Besetzung der Reformierten Kirche bereit.454 In die Nikolaikirche begaben sich u. a. der Vorsitzende der Bezirksleitung des Kulturbundes, Heldt, Kurt Starke vom Jugendforschungsinstitut Leipzig sowie die Professoren Okun und Neuhaus von der Karl - Marx - Universität. Die SED - Mitglieder waren instruiert, ohne Parteiabzeichen zu erscheinen.455 Ihnen war erklärt worden, wenn sie da wären, „könnten keine Konterrevolutionäre da sein“.456 Sie sollten sich nach der Andacht unverzüglich aus der Innenstadt entfernen.457 Die Idee, SEDMitglieder in die Kirche zu schicken, um so eine Demonstration zu vermeiden, stammte von Stapelburg. Bereits am 3. Oktober war dies in der Bezirkseinsatzleitung entschieden und der 1. Sekretär der SED - Stadtleitung Leipzig mit der Durchführung beauftragt worden.458 Stapelburg beschloss den Einsatz von insgesamt 5 000 „gesellschaftlichen Kräften“, davon 2 000 in der Nikolaikirche, 3 000 auf dem Nikolaikirchplatz. Weitere 500 Mann hielt man in Reserve.459 Nach Darstellung Wötzels hatten er und Bernd - Lutz Lange bereits im Sommer die Auffassung vertreten, man solle mit den Gruppen in der Nikolaikirche „eine Art Gespräch“ versuchen. Er habe mit Lange verabredet, in die Nikolaikirche zu gehen und dort einen Dialog anzubieten. An passender Stelle sollte „ein Genosse von uns“ auftreten und sagen, es gebe in der SED - Bezirksleitung Leute, 452 Wortprotokoll der Sitzung der SED - BL Leipzig, o. D., Wortbeitrag Manfred Hummitzschs, S. 56 ( ABL, H. XV - 3 SED ). 453 Zwahr, Die Revolution, S. 130. Vgl. Aufzeichnungen von Pfarrer Christian Führer über das Friedensgebet in der Nikolaikirche. In : Czok, Nikolaikirche, S. 287–290. 454 Vgl. SED - BL Leipzig an Egon Krenz vom 5. 10. 1989. Abgedruckt in Dietrich / Schwabe ( Hg.), Freunde und Feinde, S. 445–450; Interview mit Bernd Okun. In : DA, 23 (1990), S. 1938; Aussage Michael Werner. In : Heym / Heiduczek ( Hg.), Die sanfte Revolution, S. 139; BVfS Leipzig vom 9. 10. 1989 : Lagefilm ( ABL, FVS Dresden, Lagefilme Leipzig). 455 Vgl. DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44; Junge Welt vom 7. 11. 1989. 456 Tetzner, Leipziger Ring, S. 17. 457 Aussage Helga Wagner. In : Neues Forum Leipzig, S. 88 f. 458 Aussage Gerhard Straßenburg. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 48. 459 Entschluss des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. 10. 1989. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 48–51.

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die zum Gespräch bereit seien.460 Nun besetzten die Genossen die Nikolaikirche gegen 14.00 Uhr weitgehend allein und ohne Dialog, während um die Nikolaikirche begann, was der Volksmund „Schwulenparade“461 nannte : der Aufmarsch von je zwei MfS - Mitarbeitern in Zivil. Im Laufe des Nachmittags wurde die gesamte Innenstadt abgeriegelt. In der Kirche hieß Pfarrer Führer drei Stunden vor Andachtsbeginn die SED - Mitglieder willkommen und wies darauf hin, dass die Empore bis zum Beginn der Andacht geschlossen bleibe, „damit auch noch ein paar von der arbeitenden Bevölkerung und ein paar Christen in die Kirche kommen können“.462 Unterdessen wandte sich Kurt Masur an die SED - Bezirksleitung und erklärte, er befürchte für den heutigen Abend das Schlimmste. Er forderte die SED Funktionäre auf : „Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was man tun kann, um zu verhindern, dass es Tote gibt.“463 Am frühen Nachmittag setzte er sich mit dem Mitglied des CDU - Kreisvorstandes und dem Theologen an der Sektion Theologie der Karl - Marx - Universität Peter Zimmermann, dem Kabarettisten Bernd - Lutz Lange und dem SED - Bezirkssekretär für Kultur, Kurt Meyer, in Verbindung.464 Meyer informierte gegen 14.00 Uhr Roland Wötzel und Jochen Pommert über sein Telefonat mit Masur. Trotz eines drohenden Parteiausschlusses465 beschlossen die drei SED - Bezirkssekretäre, das Angebot Masurs anzunehmen und zu ihm zu fahren. Sie trafen die Entscheidung ohne Auftrag, Vollmacht oder Deckung von Seiten der SED - Führung.466 Zunächst trafen sie sich bei Lange und fuhren von dort zu Masur. Zu dieser Zeit, gegen 15.00 Uhr, waren bereits alle bewaffneten Einheiten postiert, alles war „zur Zerschlagung der Montagsdemonstration vorbereitet“.467 Die Spannung in der Stadt wuchs. Als sich trotz der Warnungen, das Stadtzentrum zu meiden und sich an keinen Aktionen zu beteiligen, dennoch Tausende in den vier Kirchen der Innenstadt einfanden, „spürte jeder seelisch und körperlich die Atmosphäre bis zum Bersten gespannt“.468 Um 15.00 Uhr musste die Nikolaikirche wegen einer Bombendrohung vorübergehend geräumt werden. Bei Pfarrer Führer drohten am Vormittag „anonyme Anrufer aus der Parteiszene“ damit, die Kirche anzuzünden.469 Zur selben Zeit formierten sich 460 Aussagen Roland Wötzel und Bernd - Lutz Lange. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 112–114. 461 162 Tage, S. 14. Vgl. Aussage Claus - Dieter Knöfler. In : Klemm, Korruption, S. 198. 462 Aussage Christian Führer. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 120. SED - SL Leipzig : Einschätzung des Gottesdienstes am 9. 10. 1989 in der Nikolaikirche ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 884, Bl. 16–19). 463 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 464 Vgl. Masur, Man darf nicht, S. 69; Kurt Meyer. In : Neues Forum Leipzig, S. 284. 465 So Kurt Meyer. In : ebd., S. 285. 466 So Jochen Pommert gegenüber Schabowski. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 252. 467 So auch Gerlach, Mitverantwortlich, S. 283. 468 Magirius, Wiege der Wende, S. 13. 469 Aussage Christian Führer. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 74.

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um die Nikolaikirche ca. 5 000 „gesellschaftliche Kräfte“ mit dem Auftrag, „die Formierung negativer Kräfte auf dem Kirchenvorplatz zu verhindern“.470 Gegen 15.30 Uhr wurde am Vorbau der Nikolaikirche ein Tuch mit der Aufschrift angebracht : „Leute, keine sinnlose Gewalt, reißt Euch zusammen. Lasst die Steine liegen.“471 Unterdessen prallten bei Masur unterschiedliche Auffassungen aufeinander. Während die SED - Funktionäre die Menge nur beruhigen wollten, forderten Masur, Lange und Zimmermann, die Sicherheitskräfte dürften nicht eingreifen. Außerdem seien sie zu einem Aufruf an die Leipziger bereit, „wenn die Vertreter der Partei sich dabei an ihre Seite stellen“. Im Verlauf der „harten Diskussion“ drohten Masur, Lange und Zimmermann zweimal mit dem Ende des Gesprächs und erklärten, bei den Vorgängen handele es sich um „ein Aufbegehren des Volkes, und Tote würden das Vertrauen vollends vernichten“.472 Nach seiner Rückkehr aus Berlin fuhr auch Professor Friedrich zu Masur. Dort informierte er Wötzel über sein Gespräch mit Krenz und dessen Absicht, Honecker abzusetzen,473 meinte aber, die Kräftekonstellation im Politbüro gestaltete sich nicht zugunsten von Krenz.474 Wötzel gab die Information an die anderen Sekretäre weiter, die nun Stellung beziehen mussten. Sie akzeptierten schließlich die Forderungen,475 wobei nicht nur Verantwortung, wie später erklärt wurde, sondern auch Machtinstinkt eine Rolle spielte. Allerdings blieb ihr Handeln so oder so mit einem Risiko verbunden. Wötzel erklärte später, für sie sei es „gnadenlos wichtig“ gewesen, wie sich die Kräftekonstellation in Berlin entwickelte.476 Nach der Einigung hatte Masur schon Formulierungen für einen Aufruf parat. Meyer hatte Masur bereits am 6. Oktober aufgefordert, einen Aufruf zu verfassen.477 Nun einigte man sich auf endgültige Formulierungen.478 Die „Sechs“ verließen um 16.30 Uhr das Haus Masurs und fuhren in dessen Büro im Gewandhaus. Vor dem Gebäude waren bereits Volkspolizei und Kampfgruppen aufgezogen. Inzwischen war es wegen Überfüllung auch fast unmöglich, die Nikolaikirche zu betreten.479 Auch in der Reformierten Kirche am Tröndlinring und in der Thomaskirche befanden sich je ca. 2 000 und davor etwa 1 000 Personen.480

470 SED - BL Leipzig an Egon Krenz vom 5. 10. 1989. Abgedruckt in Dietrich / Schwabe (Hg.), Freunde und Feinde, S. 445–450. 471 BVfS Leipzig vom 9. 10. 1989 : Lagefilm ( ABL, FVS Dresden, Lagefilme Leipzig ). 472 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 473 Aussage Walter Friedrich. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 90. 474 Aussage Roland Wötzel. In : ebd., S. 117. 475 Vgl. Interview mit Kurt Masur. In : Die Weltwoche vom 30. 11. 1989. 476 Aussage Roland Wötzel. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 118. 477 Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 1. 2. 1990. 478 Zwei Aufrufe in Leipzig am 9. 10. 1989 ( ABL, H. I ). 479 Vgl. Sievers, Stundenbuch, S. 72. 480 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 64–68).

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Im Tonstudio des Gewandhauses sprach Masur den Text zweimal auf Band, einmal für den Sender Leipzig und einmal für den Stadtfunk, der den Aufruf ab 18.00 Uhr über Lautsprecher in der Innenstadt sendete.481 Erst anschließend informierten die drei Bezirkssekretäre den amtierenden 1. Sekretär der SED Bezirksleitung und Leiter der Bezirkseinsatzleitung, Helmut Hackenberg.482 Dieser protestierte und erklärte, die SED dürfe dabei keinesfalls in Erscheinung treten. Es entstehe sonst der Eindruck eines uneinheitlichen Handelns der Bezirksleitung.483 In seiner Funktion telefonierte Hackenberg aber dennoch mit den Militärs und forderte sie auf, sich zurückzuhalten.484 Auch Agitprop - Sekretär Pommert forderte die Kommandeure dazu auf.485 Der Volkspolizei - Chef von Leipzig sorgte daraufhin dafür, dass „bestimmte Offiziere, die an bestimmten Schwerpunkten eingesetzt waren, [...] abgeholt wurden, damit es nicht zur Konfrontation kommt“.486 Dass die Intervention erfolgreich war, zeigte auch eine Sofortmeldung der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, in der es hieß: „Auf Grund der zentralen Entscheidung erfolgen im Zusammenhang mit der Demonstration nur die unbedingt erforderlichen polizeilichen Maßnahmen, insbesondere Observation, Eigensicherung, Einzelzuführungen, verkehrsorganisatorische Maßnahmen zur Freihaltung der Demonstrationsstrecke vom Straßenverkehr.“487 Mit dem Bezirkschef des MfS, Hummitzsch, setzten sich die Unterzeichner des Aufrufs freilich aus gutem Grund nicht in Verbindung.488 Um 17.00 Uhr begann in der Nikolaikirche die Andacht. Nach Auseinandersetzungen über die Gewaltandrohungen in der „Leipziger Volkszeitung“ berichteten die beiden Vertreter aus Dresden über die dortige Entwicklung. Die dortige Bereitschaft des Staates zum Dialog wurde sehr positiv aufgenommen. Anschließend wurde der Aufruf der „Sechs“ „unter Angabe aller Namen als Dialogangebot verlesen und erhielt von allen Teilnehmern in der Kirche starken, entsprechend der Einschätzung der Genossen frenetischen Beifall“. Landesbischof Hempel informierte über Gesprächsangebote des Rates des Bezirkes und rief zu Gewaltlosigkeit auf.489 Anders als erwartet störten die kommunisti-

481 Vgl. SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Gespräch am 9. 10. 1989 von Jochen Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meyer mit Kurt Masur, Bernd - Lutz Lange und Peter Zimmermann ( ABL, H. XV SED, FDJ ); Aufruf von sechs Leipziger Bürgern. In : Wir sind das Volk 1, S. 57 f. 482 Vgl. Kurt Meyer. In : Neues Forum Leipzig, S. 285. Der 1. Sekretär der SED - BL Horst Schumann war krank. Vgl. Wielepp, Montags abends, S. 71. 483 Vgl. Kurt Meyer. In : Neues Forum Leipzig, S. 285–287. 484 Vgl. Interview mit Kurt Meyer. In : Jetzt oder nie, S. 284; Pollack, Ursachen, S. 21. 485 Vgl. Interview mit Kurt Masur. In : Schäfer, Mut und Zuversicht, S. 81, 186. 486 Informationen des VP - Chefs von Leipzig. Zit. in Klemm, Korruption, S. 198. 487 BDVP Leipzig vom 9. 10. 1989 : Sofortmeldung ( SächsStAL, BDVP 1, BDVP an MDI, Grundlagen und Dokumente, Bl. 1–9). 488 Vgl. Interview mit Manfred Hummitzsch. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 217. 489 SED - SL Leipzig : Einschätzung des Gottesdienstes am 9. 10. 1989 in der Nikolaikirche (SächsStAL, SED - SL Leipzig, 884, Bl. 16–19).

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schen Kirchenbesetzer die Andacht kaum. Die Spannung war angesichts des vermuteten bevorstehenden Waffeneinsatzes groß. Auch in der Reformierten Kirche, der Thomaskirche und der St. Michaelis Kirche gab es Friedensandachten.490 Landesbischof Hempel ging nacheinander zu allen Veranstaltungen, wies, gestützt auf den Aufruf, auf die Dialogbereitschaft der örtlichen Behörden im Gegensatz zu einer „böswilligen Führung in Berlin“491 hin und forderte zur Gewaltlosigkeit auf.492 In der Thomaskirche forderte Superintendent Johannes Richter die Besucher auf, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen.493 Erstmals öffneten sich an diesem Tag auch die Thomaskirche und die katholische Probsteikirche für Friedensgebete.494 In der Thomaskirche hatte es zuvor heftige innerkirchliche Auseinandersetzungen über diese Frage gegeben.495 Unterdessen versammelten sich um die Kirchen weitere Personen, die sich nach dem Ende der Veranstaltungen mit den Andachtsteilnehmern zusammenschlossen. In den Kirchen wurde auch ein Appell des AK „Gerechtigkeit“ und der AG „Menschenrechte“ sowie „Umweltschutz“ verlesen, in dem es hieß : „Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt. Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde und um den Menschen neben uns und Angst um den, der da in Uniform uns gegenübersteht. [...] Gewalt schafft immer Gewalt. Gewalt löst keine Probleme, ist unmenschlich [...]. Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt. Wir sind ein Volk. Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.“496 Auch in einem weiteren Aufruf des Neuen Forums wurden die Teilnehmer aufgefordert, keine Gewalt anzuwenden und stattdessen den Dialog zu suchen.497 Noch während in den Kirchen die Andachten liefen, wurde an zentraler Stelle die Weisung erlassen, eine Eskalation der Ereignisse zu vermeiden. Zwischen 17.15 und 18.00 Uhr kam von Honecker die Anweisung, auf Dialog umzuschalten. Honecker erkannte wohl, dass seine Gewaltpolitik gegen den hinhaltenden Widerstand von Krenz, Mielke und anderen nicht länger durchsetzbar war. Angesichts des auch von den Leipziger SED - Bezirkssekretären mitgetragenen Aufrufes zum Dialog musste er befürchten, durch den Schusswaffeneinsatz „seine Ablösung zu forcieren, seine Kritiker und Widersacher zu ermuntern und für einen Bürgerkrieg verantwortlich gemacht zu werden“.498 Bei einem Telefonat mit Masur versicherte ihm dieser, die Demonstration werde friedlich bleiben.499 490 491 492 493 494 495 496

Vgl. Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 127–130. Kaden, Von den Friedensgebeten ging alles aus, S. 105. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 452/89, o. D. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 216 f. Vgl. Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 130. Vgl. Magirius, Selig sind, S. 14. Vgl. Alisch, Die Gebetswand, S. 137. Zwei Aufrufe in Leipzig am 9. 10. 1989 ( ABL, H. I ); MfS, ZAIG, Nr. 452/89, o. D. In: Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 219. 497 Abgedruckt in ebd., S. 218. 498 Schell / Kalinka, Stasi, S. 316 f. Auch Rühl, Zeitenwende, S. 332, meint, Honecker habe im kritischen Moment seinen Befehl zum Waffeneinsatz zurückgezogen. 499 Vgl. 162 Tage, S. 48.

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Bild 23: Demonstration in Leipzig am 9. Oktober (am Opernhaus).

Gegen 18.00 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Die Teilnehmer berichteten später übereinstimmend von einem zwiespältigen Gefühl aus Angst und Zuversicht. Zur gleichen Zeit erhielten die Züge der Bereitschaftspolizei den Befehl zum Absitzen. Nun bildete sich ein Demonstrationszug von etwa 70 000 Personen,500 der sich zunächst ohne Sprechchöre über den Karl - Marx - Platz zum Platz der Republik und von dort über den Tröndlinring und den Dittrichring zum Roßplatz bewegte. Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig hatte mit ca. 50 000 Teilnehmern gerechnet.501 Die Zahl von 70 000 verdeutlichte auch den Machthabern : hier demonstrierten nicht ein paar Oppositionelle, die mit Hilfe von Hunden und Knüppeln in Schach gehalten werden konnten, „hier demonstrierte das aktiv gewordene werktätige Volk der DDR“.502 Ab 18.00 Uhr wurde der Aufruf über Radio DDR, den Sender Leipzig und den Stadtfunk verlesen. Er hatte erheblichen Einfluss auf die Lageentwicklung 500 MdI : Berichte einzelner Bezirke über die Vorkommnisse und polizeilichen Einsätze bei den Oktoberereignissen 1989. Abzug einer Zusammenfassung, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54024). 501 Vgl. Entschluss des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abg. Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 663–671. Opp / Voß / Gern, Die volkseigene Revolution, S. 47, errechnen höhere Zahlen. 502 Gehrke, Demokratiebewegung und Betriebe, S. 241.

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und die Verhinderung von Gewalt und besaß folgenden Wortlaut : „Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Lande. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“503 Voraussetzung dafür, dass er von allen Seiten akzeptiert wurde, war einerseits die moralische Autorität Masurs, andererseits die Teilnahme sowohl führender SED - Funktionäre als auch eines Theologen.504 Vor allem die Beteiligung der SED - Funktionäre wirkte auf die Sicherheitskräfte beruhigend. Ihre Entscheidung war während der kritischen Phase, als ein Waffeneinsatz noch vorgesehen war, nicht durch das Politbüro abgedeckt. Wie zuvor bei Modrow handelte es sich um eine gegen die Beschlüsse der SED - Führung gerichtete Aktion von Bezirkssekretären, die aus eigener Verantwortung versuchten, „sehr Schlimmes für die Bürger der Stadt und für das ganze Land“505 abzuwenden. Statt mit Unterstützung mussten sie damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.506 Im Gegensatz zu Dresden, wo der 1. Sekretär die treibende Kraft war, mussten sich Meyer, Wötzel und Pommert am nächsten Tag gegenüber Hacken-

Bild 24: Demonstration in Leipzig am 9. Oktober. 503 504 505 506

Aufruf in Leipzig am 9. 10. 1989 ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 885). So Peter Zimmermann. In : Neues Forum Leipzig, S. 292. Jochen Pommert gegenüber Schabowski. In : Schabowski, Der Absturz, S. 252. Vgl. Interview mit Kurt Masur. In : Schäfer, Mut und Zuversicht, S. 79.

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berg verteidigen,507 der sie kritisierte und Konsequenzen ankündigte. Damit lag er auf der Linie Honeckers, der auf der Sitzung des Politbüros erklärte : „Nun sitzen die Kapitulanten schon in der Bezirksleitung.“508 Einerseits bewirkte die Beteiligung der SED - Bezirkssekretäre an dem Aufruf, dass dieser von den Sicherheitskräften akzeptiert wurde, andererseits wurde die Beteiligung der Funktionäre von Teilen der Bevölkerung als Versuch interpretiert, das Volk ruhig zu halten. Viele bekamen gar nicht mit, wer den Aufruf im Einzelnen unterzeichnet hatte. Außerdem hörten ihn keinesfalls alle Demonstranten. Ihr Verhalten hing nicht allein vom Aufruf ab. Vielmehr ging der Wille zur Gewaltlosigkeit von den Demonstranten aus und schlug sich in den Reaktionen der SED - Sekretäre nieder.509 Die SED - Sekretäre informierten Krenz telefonisch und per Fernschreiben über den Appell und baten ihn, sich dafür einzusetzen, dass die „bewaffneten Organe“ den Appell respektierten.510 Eine Antwort von Krenz blieb jedoch aus. Angeblich war dieser damit beschäftigt, mit zuständigen Leuten zu reden, so dass er erst gegen 19.00 Uhr in Leipzig anrufen konnte. Es seien sich aber angeblich alle einig gewesen, dass es zu keiner Gewaltanwendung kommen dürfe.511 Ähnlich zurückhaltend verhielt er sich gegenüber den Militärbefehlshabern in Leipzig. Nachdem sich der Demonstrationszug immer mehr auf den Hauptbahnhof zu bewegte, wo er nach der militärischen Planung gestoppt werden sollte, informierte Hackenberg Krenz, der erklärte, sofort zurückzurufen, da er sich nochmals abstimmen wollte, sich dann aber in der entscheidenden Situation nicht meldete. Hackenberg fragte die anwesenden SED - Sekretäre. Diese erklärten, Hackenberg solle entscheiden, dass sich alle Verbände weiter zurückziehen sollten, damit es möglichst keinen äußeren Anlass zu Auseinandersetzungen gebe.512 Im entscheidenden Moment weigerte sich Krenz, die Absage des Gewalteinsatzes zu bestätigen.

507 Kurt Meyer. In : Neues Forum Leipzig, S. 286. Honecker auf der folgenden Sitzung des Politbüros : „Nun sitzen die Kapitulanten schon in der Bezirksleitung.“ Zit. in Der Spiegel vom 4. 2. 1991. Vgl. Kurt Meyer. In : Neues Forum Leipzig, S. 287. 508 Zit. bei Egon Krenz an Erich Honecker. Zit. in Der Spiegel vom 4. 2. 1991. 509 Vgl. Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 142. 510 Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 250 f. An anderer Stelle erklärt er, Krenz habe aus der Leipziger SED - BL schon am Vormittag von der Initiative zur Gewaltlosigkeit in Leipzig erfahren und versucht, in diesem Sinne auf die drei Generäle einzuwirken. Schabowski hält es für möglich, dass der Aufruf über Zimmermann vom MfS gesteuert wurde. Vgl. Interview mit Günter Schabowski. In : Extra vom 11. 4. 1991, S. 53. 511 Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 80. Markus Wolf meint, dass Krenz „nicht der Mann der Pekinger Lösung gewesen war oder ernsthaft an eine solche gedacht hat“. Mielke hätte nach Meinung Wolfs „keine moralischen Skrupel, wenn es denn hätte sein sollen. Aber in dieser Situation war das auch für ihn denkbar“, weil er „eine gute Nase“ für das hatte, „was zu tun oder nicht zu tun ist“. In : Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 107 f. Gregor Gysi erklärte am 4. 11. 1989, vor allem Krenz habe Gewalt verhindert. Die Gewaltlosigkeit sei aber ein Verdienst der Demonstranten gewesen und „nicht in erster Linie“ das von Krenz. Vgl. Gysi / Falkner, Sturm, S. 19. 512 Aussage Roland Wötzel. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 130 f.

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Generalmajor Straßenburg informierte gegen 18.00 Uhr Innenminister Dickel in Berlin über die riesige, völlig friedliche Menschenmenge und forderte eine Entscheidung. Er erklärte, die eigenen Kräfte reichten für ein Vorgehen mit polizeitaktischen Mitteln nicht aus. In der Berliner Kommandozentrale verfolgte man die Ereignisse in Leipzig am Bildschirm.513 Dickel erklärte, man solle in Leipzig in eigener Verantwortung nach Einschätzung der Lage entscheiden.514 Nun erbat sich Straßenburg 18.15 Uhr die Zustimmung Dickels, nur noch zur Selbstverteidigung zu handeln. Dickel forderte ihn auf, nach Möglichkeit keine Gewalt anzuwenden, übertrug aber Straßenburg letztendlich die Verantwortung, eine Entscheidung vor Ort durchzuführen. Nach seiner Aussage gab es weder durch Krenz noch durch Hackenberg Forderungen, „nicht zur Beruhigung und nicht zur Eskalation“. Straßenburg hatte seinen abgegrenzten Verantwortungsbereich, in dem er hätte so oder so entscheiden können. Um 18.25 Uhr gab er den Befehl zur Selbstverteidigung und zum Rückzug der Kräfte.515 Vom „Appell der Sechs“ erfuhr er nach eigenen Angaben erst um 19.00 Uhr.516 Unmittelbar nach dem Eingang des Befehls änderte sich die Atmosphäre auf der Straße. Oberstleutnant Schröder berichtet : „Die Spannung war weg, es wurde auf einmal locker diskutiert bis hin, dass einige Tränen in den Augen hatten.“517 Um 18.30 Uhr erhielt Hackenberg aus Berlin die telefonische Bestätigung für die Deeskalation.518 Etwa zu diesem Zeitpunkt zog der Demonstrationszug am Hauptbahnhof vorbei,519 was laut Planung durch Schusswaffengebrauch verhindert werden sollte. Wahrscheinlich schreckten die Befehlshaber vor allem wegen der Menge der ca. 70 000 Menschen vor Waffengewalt zurück. Aber ihre Entscheidung, nicht einzugreifen, war eine autonome Entscheidung, die erst nachträglich aus Berlin bestätigt wurde.520 Um 18.45 Uhr informierte Hackenberg Krenz telefonisch über den Rückzug der Sicherheitskräfte. Krenz erklärte kommentarlos, später zurückzurufen.521 Erst um 19.30 Uhr, „zwei Stunden, nachdem die Verantwortung hier von den Leipziger Stellen übernommen“522 und bereits eine Entspannung eingetreten war, gab es in Gegenwart der drei beteiligten Sekretäre ein Telefongespräch zwischen Hackenberg und Krenz, bei dem dieser der Initiative der drei SED - Sekre-

513 Aussage Karl-Heinz Wagner. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 195. 514 Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 15. 2. 1990. 515 Aussagen Gerhard Straßenburg. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 79, 133, 135. 516 Aussage Gerhard Straßenburg. In: Bayerischer Rundfunk vom 7.10.1991 um 22.15 Uhr. Vgl. Schell / Kalinka, Stasi, S. 316. 517 Aussage Wolfgang Schröder. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 138. 518 Vgl. Der Spiegel vom 27. 11. 1989. 519 Vgl. Lageplan der BDVP Leipzig vom 6.–9. 10. 1989. Abgedruckt in Lindner, Zum Herbst ’89, S. 90–93. 520 Interview mit Kurt Masur. In : Schäfer, Mut und Zuversicht, S. 81. 521 Vgl. Kai Hermann. In : Der Stern vom 15. 2. 1990. 522 Interview mit Kurt Masur. In : Schäfer, Mut und Zuversicht, S. 83.

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täre nachträglich seine Zustimmung gab.523 Die Verzögerung seiner Antwort begründete Krenz später damit, dass er vergeblich versucht habe, Honecker zu erreichen.524 Ebenso habe er sich mehrfach telefonisch „mit der ausdrücklichen Bitte“ an Mielke gewandt, keine Gewalt anzuwenden.525 Mielke behauptet hingegen, in Gegenwart von Keßler, Dickel und Streletz angewiesen zu haben, nicht zu schießen. Er habe dies entschieden „und niemand anders, schon gar nicht Krenz, diese Figur [...]. Wenn ich gesagt hätte : ‚Schießen !‘, wäre doch geschossen worden.“526 So oder so wussten die Verantwortlichen in Leipzig davon nichts. Sie waren auf sich angewiesen und warteten vergeblich auf ein Votum gegen die Gewaltanwendung. Krenz meldete sich nicht, was zeigt, dass er die Frage der Gewaltanwendung offenbar nach seinem politischen Kalkül bewertete. Eine Antwort blieb aus, weil ihm noch nicht klar war, welche Variante sich günstiger für seinen Griff nach der Macht auswirken würde. Nach Gerlachs Meinung verhielt sich Krenz wie immer, „er wollte nach allen Seiten offen sein und war nicht sehr mutig“. Gerlach vermutet, dass Krenz zwar verhindern wollte, dass Blut floss, dass er aber „selbst noch sehr wenig mit dem Mut zur Verantwortung dazu getan hat, dass kein Blut geflossen ist“.527 Nach Aussagen Hergers hatte Krenz wegen der Vorbereitung des Absetzung Honeckers kein Interesse an gewaltsamen Zusammenstößen.528 Vielleicht spielte er aber nur ein doppeltes Spiel und kalkulierte mit der Gewalt gegen die Bevölkerung. Wäre es zur Schießerei gekommen, hätte er die Schuld auf die alte Garde geschoben und sich selbst als Reformer stilisiert. Angesichts des friedlichen Verlaufs erteilte er der Haltung der SED - Sekretäre im letzten Moment seinen Segen, um sich danach als Verhinderer der Gewaltanwendung zu stilisieren. Am Abend erfasste die friedliche Demonstration die gesamte Innenstadt. Hatten die Demonstranten zunächst „Wir sind keine Rowdys !“ gerufen, um der Diskriminierung der Bürgerproteste durch die kommunistischen Medien zu begegnen, ging dieser Massenruf nun über in die aus Dresden übernommene „Massenerkenntnis“529 : „Wir sind das Volk.“530 Weitere Sprechchöre waren : „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt“, „Demokratie jetzt oder nie“, „Gorbi, Gorbi“, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, „Erich, laß die Faxen sein, hol die Perestroika rein“, „Wir wollen Reformen“, „Freie Wahlen“, „Führungswechsel“, „Neues Forum“, „Stasi raus“, „Berufsverbot für Schnitzler“ oder „Schließt 523 So Johannes Richter. In : Rein, Die Opposition, S. 187. Vgl. Aussage Kurt Masurs. In : Neues Forum Leipzig, S. 275; Werner Brahmke, Die historische Tat der Sechs. In : Leipziger Volkszeitung vom 17. 11. 1989; Interview mit Egon Krenz. In : FAZ vom 25. 11. 1989. 524 Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 89. 525 Aussage Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 150 f. 526 Zit. in Berliner Zeitung vom 29. 2. /1. 3. 1992. 527 Aussage Manfred Gerlach. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 136. 528 Vgl. Interview mit Wolfgang Herger. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 123. 529 Zwahr, Die Revolution, S. 128. 530 MfS, ZAIG, Nr. 452/89, o. D. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 216.

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Euch an“. Es gab ein Transparent mit der Aufschrift „Freie Wahlen !“.531 Beim Vorbeimarsch an der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, der Bezirksverwaltung des MfS ( Runde Ecke ) sowie am Volkspolizeikreisamt gab es Buhrufe und Pfiffe. Angehörige wurden aufgefordert : „Schließt Euch an.“ Vom Neuen Forum wurde ein Flugblatt verteilt, in dem die Bevölkerung zu Gewaltlosigkeit aufgerufen wurde.532 Die Losung „Keine Gewalt !“, mit der sich die Demonstranten auch selbst ermahnten, war die am häufigsten skandierte Losung.533 Während um 20.00 Uhr das Gewandhausorchester unter Kurt Masur sein Konzert begann, riefen die Menschen, die in breiten Reihen über den Stadtring zogen : „Kurt Masur, wir danken dir !“, „Bravo, Kurt Masur!“ oder einfach nur „Kurt Masur ! Kurt Masur !“. Sein am Künstlereingang geparktes Auto wurde mit Blumen geschmückt.534 Um 20.45 Uhr erreichte der Marsch erneut den Karl - Marx - Platz und löste sich langsam auf.535 Beteiligung der Landbevölkerung an Protesten in größeren Städten „Heldenstadt“ – so wird Leipzig vor allem wegen der Demonstration am 9. Oktober zu Recht genannt. Aber nicht alle Helden kamen aus der Messestadt, vielmehr stärkten nicht erst im Oktober auswärtige Teilnehmer die Friedensgebete und anschließenden Demonstrationen. Umgekehrt zog auch der Staat Kräfte aus anderen Teilen der DDR in den Städten zusammen, in denen die Bevölkerung demonstrierte. Ganze Fahrgemeinschaften aus Dörfern fuhren in Bezirks- und Kreisstädte, um an Demonstrationen teilzunehmen. Dabei fuhr man nicht nur in die eigene Bezirksstadt, sondern auch über Bezirksgrenzen hinaus. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Fahrten kaum im Einzelnen nachweisen und schwer quantitativ erfassen lassen. In Erinnerungen und staatlichen Archiven finden sich aber genügend Akten, die das Geschehen exemplarisch belegen. Vor allem die festgehaltene regionale Herkunft zugeführter Personen zeigt recht genau den prozentualen Anteil auswärtiger Demonstranten. So wurden schon beim Straßenmusikfestival am 10. Juni in Leipzig 57 Personen zugeführt, von denen mit 34 mehr als die Hälfte aus anderen Kreisen und Bezirken kamen.536 Bei einer Demonstration am 12. Juni waren von 27 Zugeführten elf aus anderen Kreisen und Bezirken.537 Diese Beteiligung am Leipziger Geschehen blieb im September und Anfang Oktober erhalten und ist für

531 532 533 534 535 536 537

Vgl. Leipziger Demontagebuch, S. 42. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 61. So Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 153. Vgl. Schäfer, Mut und Zuversicht, S. 21. Vgl. MdI vom 9. 10. 1989 : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 64–68). Vgl. VPKA Leipzig vom 10. 6. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 14, Bl. 21). Vgl. BDVP Leipzig vom 12. 6. 1989 : Info ( ebd., Bl. 36).

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Kommunen des Bezirkes Leipzig u. a. für Regis - Breitingen ( Borna ),538 Kitzscher ( Borna ),539 Delitzsch,540 Döbeln,541 Eilenburg,542 Geithain543 und Gersdorf544 dokumentiert. Wolf - Dieter Legall berichtet, er habe als Dozent an der Martin Luther - Universität Halle Ende September extra seine Vorlesungen verlegt, damit die Studenten ( wie er selbst ) am Abend zur Demonstration nach Leipzig fahren konnten.545 Aber auch aus anderen Bezirken reisten Regimegegner in die Messestadt. Die hier am 7. Oktober erfolgten „Zuführungen von Rädelsführern“ zeigten, dass „Personen aus anderen Bezirken und Kreisen zielgerichtet nach Leipzig“ kamen. Daran änderte sich auch in den folgenden Tagen nichts.546 Je nach Geschehen fuhren Demonstrationsteilnehmer auch an andere Orte, so am 8. Oktober nach Dresden. Jugendliche aus Zethau und Brand - Erbisdorf berichteten anschließend über das Erlebte. Das MfS im Kreis Brand - Erbisdorf informierte, dass immer mehr Personen planten, an Demonstrationen in Leipzig und Dresden teilzunehmen.547 Es ging darum, die großen Demonstrationen zu stärken, um so zur Entmachtung des Regimes beizutragen. Am 9. Oktober fuhren etliche Bewohner von Oberwiesenthal ( Annaberg ) mit Pkws nach Leipzig. Man wollte demonstrieren, sich orientieren und „bereitete die örtliche Umsetzung“ des Erlebten vor.548 Auch aus Zwönitz ( Aue ) fuhren am 9. Oktober Bewohner in kleinen Gruppen nach Leipzig, danach aber auch zu Demonstrationen nach Karl - Marx - Stadt, Plauen und Aue.549 Wenn das MfS, wie im Kreis Brand - Erbisdorf, von Reiseabsichten erfuhr, wurden „Maßnahmen zur Unterbindung der Anreise“ eingeleitet.550 In Waldheim ( Döbeln ) kam es zu Auseinandersetzungen, als Jugendliche in einer Diskothek erklärten, zur Montagsdemonstration nach Leipzig fahren zu wollen. Sie wurden vorübergehend festgenommen, mussten auf dem Volkspolizei - Revier schriftlich von ihrem Vorhaben Abstand nehmen und wurden bis zur Abfahrtszeit des letzten Zuges auf der Wache festgehalten. So wollte man wohl auch ein Ausbreiten der Demonstrationen verhindern. 538 Vgl. Arnold, Über die Wiederentstehung, S. 240–244. 539 Basisgruppe Neues Forum Kitzscher, Dorothea Tschubert, von Januar 1990 : In Kitzscher stellen sich engagierte Bürger der Verantwortung ( HAIT, StKa ). 540 Vgl. Montagsandachten ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). 541 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 542 Vgl. KDfS Eilenburg vom 10. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 31 f.). 543 Vgl. StV Frohburg an Sächsische Staatskanzlei vom 19. 2. 1999 ( HAIT, Geithain, A2). 544 Gemeindeverwaltung Gersdorf an Sächsische Staatskanzlei vom 25. 3. 1999 ( ebd., Döbeln B2). 545 Gespräch d. A. mit Wolf - Dieter Legall am 10. 4. 2008. 546 BDVP Leipzig vom 12. 10. 1989 : Lagebericht ( SächsStAL, BDVP 1). 547 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 132–135); KDfS Brand - Erbisdorf vom 10. 10. 1989 : Info ( ebd., 3078, 1, Bl. 19–21). 548 Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 im Kurort Oberwiesenthal vom 15. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 549 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( ebd.). 550 KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 132–135).

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Der Fall von Studenten aus dem Kreis Hainichen, die an Demonstrationen in Leipzig und Dresden teilgenommen hatten, zeigt, dass diese nach ihrer Teilnahme vor Ort selbst als Organisatoren in Erscheinung traten.551 Die Teilnehmer an den Demonstrationen kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Im Kreis Hohenstein - Ernstthal beteiligten sich „insbesondere der ev. - luth. Kirche angehörende bzw. nahestehende Personen“ an Demonstrationen außerhalb des Kreises.552 In Johanngeorgenstadt ( Schwarzenberg ) gab es Fahrgemeinschaften zu den Montagsdemonstrationen nach Leipzig.553 Hier fand das MfS Ende Oktober Hinweise darauf, Demonstrationen auch in die Kreisstädte zu verlagern. Dieses Vorgehen stand demnach „in Übereinstimmung mit Orientierungen feindlich - negativer Kräfte vom 23.10.1989 in Leipzig, wonach derartige demonstrative Handlungen in die Kreis - und Bezirksstädte gelegt werden sollten, um damit eine Erhöhung der Wirksamkeit zu erreichen“.554 Viele Demonstranten reisten mit Zügen an. Aus Schmölln berichtete das MfS am 23. Oktober, dass 1150 Personen mit Zügen in Richtung Leipzig fuhren, die vermutlich aus Zwickau und Karl - Marx - Stadt kamen und zur Demonstration wollten.555 Ein Zentrum des Geschehens war Plauen, das Teilnehmer aus der gesamten Vogtlandregion anzog.556 In Reichenbach fand das MfS am 11. Oktober ein vom Kreisvorstand der LDPD unterzeichnetes Flugblatt mit der Aufforderung, sich an Demonstrationen in Plauen zu beteiligen.557 Ende Oktober nahm die Beteiligung an Demonstration außerhalb der eigenen Region vor allem dort weiter zu, wo es noch kaum ein eigenes Demonstrationsgeschehen gab. In Oppach ( Löbau ) wurde Ende Oktober dazu aufgerufen, sich an Demonstrationen in Dresden zu beteiligen.558 In Gohrisch ( Pirna ) gab es Fahrgemeinschaften zu Demonstrationen in Dresden.559 Auch im Kreis Brand Erbisdorf häuften sich Fahrten nach Leipzig, Freiberg und in andere Bezirke.560 Beteiligte erklärten laut MfS - Bericht, „dass sie durch die Teilnahme an Demonstrationen schon etwas vorbereitet seien, wie man so etwas am besten anstelle“, 551 Vgl. KDfS Hainichen vom 11. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 534, 1, Bl. 74–79). 552 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 534, 2, Bl. 43 f.). 553 KDfS Schwarzenberg vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 26–31); StV Johanngeorgenstadt an Sächsische Staatskanzlei vom 15. 2. 1999 ( HAIT, Schwarzenberg, F2). 554 KDfS Schwarzenberg vom 25. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 91–93). Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 30. 10. 1989 : Aktivitäten einer oppositionellen Gruppierung im Kreis Schwarzenberg ( ebd., 1818, Bl. 7–9). 555 Vgl. VPKA Schmölln vom 23.–24. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 556 Vgl. BVfS Gera : Lagefilm, o. D. ( BStU, ASt. Gera, AKG 3702, Bl. 250); KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 86–88). 557 Vgl. KDfS Reichenbach vom 12. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 72 und 221). 558 Vgl. Willy Nyffenegger an Hans Modrow : Schlussfolgerungen aus der Beurteilung der Lage für den 23. 10. 1989 ( ABL, EA, 891023_2). 559 Vgl. Taffelt, Von der Kolonie, S. 41. 560 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 35–39).

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wenn es zu Demonstrationen in Brand - Erbisdorf käme.561 Aus dem Kreis Flöha fuhren Personen Ende Oktober zu Demonstrationen nach Karl - Marx - Stadt und in andere Bezirke.562 Einwohner von Mittweida ( Hainichen ) nahmen Anfang November regelmäßig an den Montagsdemonstrationen in Leipzig und Karl Marx - Stadt teil.563 In Kamenz fanden die eigenen Friedensgebete mit Demonstration ab November extra am Dienstag statt, um die Teilnahme an Demonstrationen in Dresden und Leipzig zu ermöglichen.564 Das Demonstrationsgeschehen im Bezirk Leipzig zeigt, dass vor allem Leipzig die protestbereite Bevölkerung aus dem Umland anzog. Gründe dafür sind auch in der erhöhten Medienpräsenz wegen der Messe zu suchen. Die Folge war hier ein geringeres Demonstrationsgeschehen in den Kreisen. Umgekehrt zog es wenig Bürger des Bezirkes Karl - Marx - Stadt in die nicht so attraktive Bezirksstadt. Hier verteilte sich das wesentlich intensivere Protestgeschehen auf die Kreise. Der Bezirk Dresden lag in dieser Hinsicht in der Mitte. Gründe für Deeskalation Hätte es einen günstigen Zeitpunkt zum Eingreifen sowjetischer Truppen wie 1953 gegeben, wäre dies wohl die Zeit um den 9. Oktober gewesen. Das aber war das entscheidend Neue an der Situation, dass die sowjetische Führung nicht nur betonte, keinesfalls in die inneren Entwicklungen der Noch - Vasallenländer einzugreifen. Im Fall der DDR sah sie darüber hinaus keine Veranlassung, so den reformunwilligen Honecker zu stützen. Zwar passte der sowjetischen Führung die avisierte „chinesische Lösung“ nicht ins Konzept, aber auch hier griff sie nicht direkt ein. Allerdings gab es, wie der Ablauf des 8. Oktober in Dresden zeigte, über den Warschauer Pakt und die NVA Möglichkeiten einer indirekten, mäßigenden Einflussnahme. Außerdem ließ Gorbatschow die SED - Führung nicht im Unklaren darüber, dass die sowjetische Führung „nicht noch einmal in etwas verwickelt werden“ wolle, „was beiden Seiten nicht gut bekommen kann“.565 Entsprechend ließ diese ihrem „Missfallen über die sowjetische Neutralität mit Blick auf die Ereignisse in der DDR freien Lauf“.566 Aus abgehörten Telefonaten war wahrscheinlich auch die CIA darüber informiert, dass die Sowjets nicht eingreifen würden und gab diese Information weiter.567

561 KDfS Brand - Erbisdorf vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 2144, 1, Bl. 18–30). 562 Vgl. KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Bevölkerung ( ebd. 532, 2, Bl. 73–77); KDfS Flöha vom 26. 10. 1989 : Erkenntnisse ( ebd., Bl. 71 f.). 563 Vgl. Gisela Dietz, Wendezeit in Mittweida und im ehemaligen Kreis Hainichen ( HAIT, StKa ). 564 Vgl. Chronik der Ereignisse von 1989/1990 in Königsbrück ( SA Königsbrück ). 565 Interview mit Willy Brandt. In : Süddeutsche Zeitung vom 14. 12. 1989. 566 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 567 Vgl. Kroh, Wendemanöver, S. 224.

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Nach Aussage Kotschemassows setzte Schewardnadse bereits im August 1989 gegen die Meinung sowjetischer Militärs bei Gorbatschow einen Befehl an den Oberkommandierenden der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte durch, sich bei Massendemonstrationen nicht einzumischen, in diesem Sinne auch auf die NVA einzuwirken568 und die sowjetischen Verbände in den Garnisonen zu belassen.569 An diese Anweisung hielt sich auch die 20. Garde - MotDivision mit ihren 271 Panzern in Leipzig.570 Allerdings war diese Haltung keinesfalls selbstverständlich. Vielmehr wurde die Regierung, so Schewardnadse, „ziemlich aktiv zur Anwendung von Gewalt gedrängt, das heißt zur Wiedergeburt jener Doktrin, nach welcher eine Machtkrise in einem Land durch die bewaffnete Einmischung anderer Länder bewältigt wird“.571 Auch bei den sowjetischen Weststreitkräften wurde vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen Militärs und Gorbatschow durchaus bis auf die mittlere Führungsebene ein Eingreifen erwogen.572 Die Haltung der Führung war, so Falin, allerdings klar, und „es gab keinen Moment, wo eine andere Position in Erwägung kam“.573 Die sowjetische Haltung war insofern bedeutungsvoll, als nach dem Warschauer Vertrag die oberste Gewalt im Notstandsfall bei den sowjetischen Truppen lag.574 Die sowjetische Führung wurde von Generaloberst Streletz auch ständig über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten575 und über den sowjetischen Botschafter auch von Honecker persönlich informiert.576 In der DDR, so der ehemalige Botschafter in Ost - Berlin, Pjotr Abrassimow, „befand sich die Stoßspitze der Sowjetarmee. Die Berater auf KGB - Ebene, von ihnen gab es mehr als genug, passten auf die Kollegen auf. Ein wachsames Auge hatte man auch auf die NVA – bis hin zum Divisionskommandeur saßen überall Berater aus der UdSSR. [...] Rein formal wurden sie nur konsultiert. Faktisch mussten die Ratschläge unserer Emissäre erfüllt werden.“ In allen höheren Stäben der NVA saßen sowjetische Offiziere, an denen sich keine Operation der NVA vorbeientwickeln konnte.577 Aus der Zurückhaltung der sowjetischen Truppen und der Tatsache, dass die NVA unmittelbar dem Oberbefehlshaber des Warschauer Paktes unterstellt war, ergab sich nach Meinung Falins und Daschitschews deren 568 Wjatscheslaw Daschitschew. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 30. Krenz bezeichnete den Befehl als Legende : „Einen solchen Befehl kenne ich nicht, ich habe nie davon gehört, und ich zweifele daran, dass es einen solchen gegeben hat.“ Zit. in ebd., S. 31. Dass die Regierung der UdSSR den Truppen in Deutschland ein Eingreifen untersagte, geht nach Schabowski „an den Tatsachen vorbei“. Schabowski, Das Politbüro, S. 80. 569 So Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Izvestija vom 29. 4. 1990. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. 5. 1990. Egon Krenz widerspricht. Snetkow hätte ihn „mit Sicherheit“ über einen solchen Befehl informiert. Vgl. Krenz, Anmerkungen, S. 365. 570 Aussage Wjatscheslaw Daschitschew. In : Der Spiegel vom 15. 4. 1991. 571 Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Literaturnaja gazeta vom 10. 4. 1991. Zit. bei Oldenburg, Moskau und die Wiedervereinigung, S. 17. 572 Vgl. Heider, Nationale Volksarmee, S. 121. 573 Valentin Falin. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 29. 574 Vgl. Oldenburg, Sowjetische Deutschland - Politik, S. 70. 575 Aussage Fritz Streletz am 18. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 198 f. 576 So Wjatscheslaw Kotschemassow. In : Izvestija vom 29. 4. 1990. 577 Interview mit Pjotr Abrassimow. In : Der Spiegel vom 17. 8. 1992.

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Zurückhaltung selbst nach ihrer Aktivierung durch Honecker.578 Das wiederum wirkte sich direkt auf die Haltung der anderen militärischen Kräfte des MdI und des MfS aus. Mit der Weigerung der sowjetischen Regierung, der SED - Führung bei der gewaltsamen Niederschlagung der Freiheitsbewegung beizustehen, war für die Entwicklung in der DDR der „Point of no Return“ erreicht. Die sowjetische Regierung zog damit die Konsequenz aus der Tatsache, dass die DDR sich in einen Krisenherd zu ver wandeln drohte. Eine destabilisierte DDR war nicht mehr in der Lage, ihre von der sowjetischen Führung zugedachte geostrategische Funktion zu erfüllen. Die Haltung der UdSSR in dieser Frage war nicht nur für die Tage Anfang Oktober entscheidend, sie war auch die Grundlage für den gesamten Umwandlungsprozess in der DDR. Die SED - Spitze wie führende DDR - Militärs wurden mit der sowjetischen Auffassung konfrontiert und hätten sich bewusst gegen die deutlich formulierten sowjetischen Interessen stellen müssen. Vor diesem Hintergrund scheuten immer mehr von ihnen davor zurück, die Entwicklung gewaltsam aufzuhalten. Nur durch eine Intensivierung der bislang praktizierten direkten wie strukturellen Gewalt ließ sich die Herrschaft der SED fortsetzen. Bis zum 9. Oktober gab es in dieser Hinsicht, wie die Aktivierung der Einsatzleitungen und die Vorbereitungen der „chinesischen Lösung“ zeigen, in der obersten Führung keinen laut vorgetragenen Widerspruch. Nach dem couragierten Vorstoß Modrows aber kam es auch in der Leipziger SED - Bezirksleitung zu einem Differenzierungsprozess in Befürworter und Gegner einer Gewaltanwendung, was dieses Entscheidungszentrum praktisch handlungsunfähig machte.579 Der Widerspruch der Bezirkssekretäre und der Griff von Krenz nach der Macht zerstörten den einheitlichen Willen zur Gewaltanwendung. Diese weniger programmatisch als machtpolitisch bedingte Differenzierung stellte die auf Einheitlichkeit orientierte Funktionsweise des SED - Staates in Frage.580 Auffällig dabei ist, dass die greisen Parteiführer bereit waren, Gewalt zur Aufrechterhaltung ihres kommunistischen Lebenstraumes anzuwenden, die nachrückenden Funktionärsgenerationen aber eher Skrupel zeigten. Sie wollten ihre Karriere nicht mit einem blutigen Gemetzel an der eigenen Bevölkerung belasten, zumal viele von ihnen selbst an Reformen des Systems interessiert waren.581 Vor dem Hintergrund einer uneinheitlichen Willensbildung in der Parteiführung, ohne die verloren gegangene sowjetische Rückendeckung und angesichts einer unklaren Befehlslage aber waren die betreffenden Militärs nicht bereit, die Verantwortung für eine Gewaltanwendung auf sich zu nehmen. Manfred Gerlach aber hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es dennoch durchaus zu einem 578 Valentin Falin und Wjatscheslaw Daschitschew. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 30. 579 Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 153, sprechen von einer „Rebellion“ der Bezirksverantwortlichen gegenüber Berlin. 580 So auch Runge / Stelbrink, Markus Wolf, S. 107. 581 Vgl. Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 396 f.

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Blutbad wie in Peking hätte kommen können. Hätte der Kommandant einer beliebigen Einheit die Nerven verloren und geschossen, wäre er durch die Sicherheitsdoktrin der Staatsführung und die vorliegenden Befehle und Weisungen gedeckt gewesen. Der Weg zur Anwendung von Schusswaffen war kurz.582 Straßenburg antwortete später auf die Frage, ob eine Gewaltanwendung denkbar gewesen wäre, er könne nicht sagen, „ich hätte dort keine anderen Befehle erteilt. Ich möchte ausdrücklich sagen, ich habe keine Notwendigkeit gehabt, andere Befehle zu erteilen.“583 Wirkte sich also die sowjetische Interessenlage trotz aller Zurückhaltung doch dominant aus, so galt dies auch für die Bevölkerung. Hier stand der Angst vor der Unberechenbarkeit der Honecker - Clique am Ende ihrer Macht die Gewissheit gegenüber, mit dem Aufstand gegen das reformfeindliche Regime sowjetischen Vorstellungen zu entsprechen und im Trend der internationalen Entspannungspolitik zu liegen. Dabei war es schnell Konsens, dass Gewaltlosigkeit die einzig wirksame Taktik zur Durchsetzung von Reformen war.584 Sie war der Hebel, der das System zum Einsturz brachte.585 Das Geheimnis des Erfolges, so Rainer Eppelmann, „waren diese zwei Worte : keine Gewalt !“.586 „Weil in jener Nacht Gewalt ausblieb“, so Schorlemmer, „war der Weg zur Demokratie frei.“587 Nach den Erfahrungen mit den Gewaltausbrüchen am Dresdner Hauptbahnhof erhielten die Protestmärsche der folgenden Tage allein durch ihre Friedlichkeit eine unvorhergesehene Durchschlagskraft. Nur so bekamen die Reformkommunisten in der Führung angesichts des Zustandes erhöhter Einsatzbereitschaft überhaupt eine Handhabe, ihrerseits keine Gewalt anzuwenden. Zur Friedfertigkeit kam in Leipzig die bis dahin unvorstellbare Zahl von 70 000 Demonstranten. Sie hätten ein gewaltsames Vorgehen für jeden Verantwortlichen zum Politikum höchsten Grades gemacht. Grundlage dafür aber war der Mut, sich trotz Gewaltandrohung des Regimes an den Protesten zu beteiligen. Der Mut der Menschen in Leipzig half die Angst zu über winden. Ohne „das stabilisierende Element der Angst vor den Mächtigen“ aber „ist eine Diktatur nicht lange aufrechtzuerhalten“.588 Die Masse mutiger, friedlicher Demonstranten, darunter mehr als 50 Prozent Arbeiter, machten ein militäri582 583 584 585 586

Manfred Gerlach. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 45. Aussage Gerhard Straßenburg. In : ebd., S. 47. Zur taktischen Bedeutung der Gewaltlosigkeit vgl. Schwarz, Die Zentralmacht, S. 181. Vgl. Reich, Rückkehr, S. 182. Aussage Rainer Eppelmann. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 146. Es gibt auch Kritik an der Friedlichkeit. Vgl. Bohrer, Deutsche Revolution, S. 958; Schäuble, Der Vertrag, S. 15–17; Bierling, Die sieben Mythen, S. 94 f. Maaz, Der Gefühlsstau, S. 140 und 168, setzt sich am kritischsten mit der Friedfertigkeit auseinander. Er sieht darin nicht einen Ausdruck „neurotischer Gehemmtheit“ und plädiert für „berechtigte Aggressivität“. Die Gewaltfreiheit mit ihrer „verhängnisvollen Affektbremse“ kennzeichnet demnach den „Aufstand der Neurose“ als eine bloße Wende von der Unterwerfung unter die SED - Führung zur Unterwerfung unter die „Verheißungen der D - Mark - Kapitäne“. 587 Friedrich Schorlemmer, Den Frieden riskieren. In : FAZ vom 11. 10. 1993. 588 Nooke, Die Friedliche Revolution, S. 196.

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sches Eingreifen fast unmöglich.589 Der Aufruf zur Gewaltlosigkeit der „Leipziger Sechs“ bildete vielleicht dabei das letzte Zünglein an der Waage und nahm dem sprachlosen Politbüro in Berlin die Entscheidung ab.590 Es war schließlich dem Selbsterhaltungstrieb der politisch und militärisch Verantwortlichen zu danken, dass die von langer Hand vorbereiteten Instrumente zur massenweisen Isolierung der vorher sorgsam aufgelisteten und per Computer erfassten politisch missliebigen Personen nicht mehr zum Einsatz kam.591 Praktisch hatte nun Honeckers Befehl zur erhöhten Einsatzbereitschaft gemäß Statut der Einsatzleitungen ( Absatz 4) keine Relevanz mehr. Der Vorbeugekomplex wurde letztendlich nicht in die Tat umgesetzt.592 Noch am 9. Oktober wurden die zur Isolierung vorgesehen Objekte wieder aufgelöst, allerdings blieben überall Zugeführte gefangen.593 Auch in der Strafvollzugseinrichtung Bautzen wurde der Zuführungspunkt aufgelöst. Insgesamt waren hier 615 Personen aufgenommen worden. Davon wurden bis zum 12. Oktober 532 Personen wieder entlassen.594 Insgesamt wurden bis zum 9. Oktober im Bezirk Dresden über 1100 „Beteiligte an den feindlichen Aktionen“ zugeführt.595 DDR - weit waren es bis zum 10. Oktober insgesamt 3 284 Personen,596 was heißt, dass allein im Verantwortungsbereich Modrows rund ein Drittel aller Zuführungen realisiert wurden. Die Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, blieben inhaftiert. Noch am 11. Oktober war ein Teil von ihnen weder vernommen, noch war ihnen ein Haftbefehl vorgelegt worden.597 428 der insgesamt 1 303 zwischen dem 4. und 11. Oktober in Dresden zugeführten Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, kamen erst im Dezember wieder frei.598 Die bis zum 9. Oktober überall erfolgten Übergriffe aber lassen erahnen, was passiert wäre, hätte sich Honecker durchgesetzt. In den Zuführungspunkten soll es „wie bei 589 So auch Schütt, Heldenstadt Leipzig, S. 1467. 590 Vgl. Manhenke, Erinnerungen, S. 182–200. 591 Vgl. Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Schlussbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch infolge der SED - Herrschaft zum 1. Untersuchungsgegenstand, S. 30. 592 Vgl. Auerbach, Vorbereitung auf den Tag X, S. 128. 593 Vgl. Und diese verdammte Ohnmacht, S. 25. 594 Vgl. BVfS Dresden, Abt. VII vom 12. 10. 1989 : Sachstandsbericht zur Aufnahme von vorläufig festgenommenen Personen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Dresden ( ABL, EA 891012). 595 Hans Modrow an SED - Politbüro vom 9. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 596 MdI, HA KriPo, vom 10. 10. 1989 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445). Vgl. Bericht über die bisherigen Ergebnisse der Überprüfung der Handlungen der Sicherheitsorgane anlässlich der Demonstrationen am 7./8. 10. 1989 ( ebd., 54023). Nach DDR - Generalstaatsanwalt Günter Wendland wurden im Zusammenhang mit dem Jahrestag in der DDR 3 456 Personen verhaftet, gegen 639 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Vgl. Berliner Zeitung vom 20. 11. 1989. Vgl. Berichte über Verhaftungen und Misshandlungen unbeteiligter Bürger. In : Neues Forum Leipzig, S. 65–69. 597 Vgl. BVfS Dresden, Abt. VII, vom 12. 10. 1989 : Sachstandsbericht zur Aufnahme von vorläufig festgenommenen Personen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in der Bezirksstadt Dresden in Bautzen ( ABL, BA Dresden 4, Bl. 444–447). 598 Vgl. Albert Funk, Wahlfälschung ist das geringste Delikt. In : FAZ vom 19. 4. 1993.

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den Nazis“ zugegangen sein.599 Überall seien die Inhaftierten in einer Form misshandelt worden, deren „folterähnliche Behandlungsmethoden“600 „an die SA - Keller von 1933 erinnerten“.601 Gewaltpotenziale / Morddrohungen Die Gewaltlosigkeit der Demonstranten hatte das Regime veranlasst, selbst auf den Einsatz staatlicher Gewaltmittel zu verzichten. Es gab aber nicht nur in der Führung potenzielle Gewalttäter, auch in der Bevölkerung gab es Aggressionen. Darauf deuten exemplarisch erfasste Mord - und Gewaltdrohungen hin, die hier für den gesamten Oktober wiedergegeben werden.602 So erklärten Kunden des Kinderkaufhauses und von Lebensmittelgeschäften in Oelsnitz am 4. Oktober, an allem sei die „Stasi“ Schuld. Die müsse man „einsperren oder am nächsten Baum aufhängen“.603 Am 5. Oktober gab es bei der SED - Kreisleitung Bautzen anonyme Anrufe mit dem Inhalt : „Das habt Ihr mit der ČSSR wunderbar gemacht, Ihr Lumpen, Ihr Schweine!“ Gegenüber der SED - Kreisleitung Sebnitz erklärte ein anonymer Anrufer : „Ihr Kommunistenschweine sperrt uns immer mehr ein.“604 Dem Direktor der POS „Otto - Grotewohl“ und Ortsparteisekretär in Medingen ( Dresden - Land ) drohte am 5. Oktober ein anonymer Anrufer: „Du wirst hängen – Du Hund.“605 Am gleichen Tag drohte ein anonymer Anrufer der Volkspolizei - Wache Coswig ( Meißen ), diese in die Luft zu sprengen.606 Am 5. Oktober sprach ein anonymer Anrufer gegenüber dem Bürgermeister von Heidenau ( Pirna ) Drohungen aus.607 Am Abend und der Nacht des 6. Oktober gab es in Dresden anonyme Bombendrohungen.608 Modrow erhielt am 6. Oktober eine anonyme Morddrohung.609 Am 6. Oktober gab es bei der SED - Kreis599 Kompaniechef im Wachregiment in Berlin von Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 95. 600 Schmidt, Letzte Worte, S. 282. 601 So Heinrich Toeplitz als Vorsitzender des Ausschusses zur Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch am 18. 1. 1990. In : Klemm, Korruption, S. 191. Mag die Analogie mit den SA - Kellern in der Frühphase der NS - Herrschaft noch plausibel erscheinen, bedeutet jeder Vergleich mit dem späteren Lager - und Vernichtungssystem der Nazis dessen Verharmlosung. 602 Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass es sich um Berichte des MfS bzw. der VP handelt. 603 KDfS Oelsnitz vom 4. 10. 1989 : Lageinformation ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 47–51). 604 SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Info ( ABL, EA 891005_3). 605 Stab der Zivilverteidigung Dresden vom 5.–6. 10. 1989 : Provokationen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 19). 606 Vgl. 1. Sekretär der SED - KL Meißen vom 9. 10. 1989 ( ABL, EA, 891009_5). 607 Vgl. Stab der Zivilverteidigung Dresden vom 5.–6. 10. 1989 : Provokationen ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 18). 608 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 41–47). 609 Vgl. BVfS Dresden vom 14. 10. 1989 : Tagesinformation ( ebd., Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42).

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leitung Aue mehrere anonyme Anrufe mit der Androhung von Gewalt.610 In Bad Lausick ( Geithain ) ging in der Nacht zum 7. Oktober eine Scheune der LPG „Ernst Thälmann“ nach Brandstiftung in Flammen auf.611 Am 7. Oktober erhielt die MfS - Kreisdienststelle Stollberg die anonyme Drohung : „18.00 Uhr wird gesprengt.“612 Im Bezirk Dresden gab es am 7. Oktober sechs anonyme Anrufe, davon drei Bombendrohungen gegenüber der SED - Kreisleitung Zittau, eine „Androhung von Zusammenrottungen“ auf dem Bahnhof Meißen und je eine Androhung von Gewaltakten gegenüber der Bezirksleitung Dresden der SED und dem Rat des Bezirkes.613 Am 8. Oktober drohte ein anonymer Anrufer bei der Reiseverkehrsaufsicht im Hauptbahnhof Dresden : „Heute wird zurückgeschossen.“614 In Plauen gab es einen Anruf mit der Androhung : „In einer Stunde brennt die Wema, die Plamag und die Narva.“615 Der Parteisekretär des RAW „Herbert Warnke“ erhielt am gleichen Tag eine telefonische Morddrohung. Weitere Anrufe im Kreis Delitzsch drohten Gewaltanwendungen in Rackwitz und Zschortau an.616 Am 9. Oktober verlangte ein Anrufer, der sich zum Neuen Forum bekannte, beim Kreisvorstand des DFD in Hainichen die Freilassung von zehn zugeführten Jugendlichen und drohte, den Zug von Hainichen nach Roßwein entgleisen zu lassen.617 Die SED - Bezirkleitung Leipzig berichtete am 10. Oktober, es gebe „in wachsender Anzahl Erscheinungen, dass Genossen provoziert und vereinzelt sogar bedroht werden“.618 Am 10. Oktober gab es anonyme Drohanrufe beim Parteisekretär des VEB Riesaer Ölwerke, bei einem Mitarbeiter der FDJ - Stadtbezirksleitung Dresden - Mitte und beim Volkspolizeikreisamt Dippoldiswalde.619 In Plauen wurden am 11. Oktober in Briefkästen „Hetzzettel“ gefunden, die zur Gewalt aufriefen. So hieß es : „Stürmt das Rathaus“ und „Schlagt die SED zum Teufel.“620 Am 13. Oktober drohte ein Anrufer der MfS - Kreisdienststelle Plauen, in einer Stunde würden um das Objekt zehn Brandbomben hochgehen. „Wenn ihr weiterleben wollt, verlasst das Haus.“621 Im Kreis Schwarzenberg häuften sich Mitte Oktober „Drohungen und Überfälle gegen standhafte Kommunisten“. In Johanngeorgenstadt wurden 610 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 38). 611 Vgl. ODH des WBK vom 7. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 864, Bl. 125). 612 KDfS Stollberg : Reaktion, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 122–128). 613 Vgl. BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 55–60). 614 MfS [ genaue Diensteinheit unklar ] : Komplexe politisch - operative Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Absichten und Vorhaben feindlich negativer Kräfte vom 8. 10. 1989 ( ABL, EA, 89 0000_1). 615 VPKA Plauen vom 8.–9. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAC, VPKA Plauen, 1100, Bl. 17). 616 Vgl. SED - KL Delitzsch vom 8. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). 617 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461). 618 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 619 Vgl. BVfS Dresden : Info, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 4, Bl. 97). 620 KDfS Plauen vom 11. 10. 1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 153 f.). 621 VPKA Plauen : Rapport, o. D. ( SächsStAC, VPKA Plauen, 1100, Bl. 34 f.).

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beim Ortsparteisekretär die Scheiben eingeschlagen.622 In Wurzen wurde dem Vorsitzenden des Rates des Kreises ein Strick vor die Tür gehängt, die 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung und die Kreisschulrätin erhielten nächtliche Morddrohungen. Die betroffenen Funktionäre reagierten mit Ner venzusammenbrüchen oder Rückzug in Krankheit.623 Mitte Oktober gab es telefonische Morddrohungen gegenüber dem Direktor des VEB Fleischkombinat Dresden und einer SED - Lehrerin der 15. POS Dresden.624 In Dresden drohte ein anonymer Anrufer am 16. Oktober damit, den Hauptbahnhof in die Luft zu sprengen.625 Am 19. Oktober ging beim Leiter der Kriminalpolizei des Volkspolizeikreisamtes Hainichen ein anonymer Brief mit Morddrohungen gegen ihn und seine Familie ein, der mit „Neues Forum“ unterzeichnet war.626 Am 20. Oktober erklärten Jugendliche im Jugendclub im Ernst-Thälmann-Wohngebiet Schwarzenberg, gegen die Machtübernahme von Krenz notfalls mit Gewalt vorzugehen.627 Am 22. Oktober teilte ein anonymer Anrufer dem Volkspolizeikreisamt Zittau mit, dass um 22.10 Uhr das „Weiße Haus“ ( MfS - Kreisdienststelle ) in die Luft fliegen werde.628 Am 24. Oktober drohte ein anonymer Anrufer beim Volkspolizeikreisamt Dresden, im Hauptbahnhof werde in zwei Stunden eine Bombe explodieren.629 In Görlitz kam es bei einer Demonstration am 27. Oktober vor dem Wohngrundstück des Oberbürgermeisters zu Drohungen.630 Der Pkw Trabant eines Mitarbeiters der MfS - Kreisdienststelle Klingenthal wurde mit brauner Farbe übergossen.631 Ende Oktober waren immer mehr SED - Parteisekretäre sowie Mitarbeiter des MfS und ihre Familien Drohungen ausgesetzt. Nachdem mehrfach Volkspolizei - Angehörige im Namen des Neuen Forums Morddrohungen erhalten hatten, sah sich der Sprecherrat des Neuen Forums im Bezirk Karl - Marx - Stadt am 9. November zur Erklärung veranlasst, man werde es nicht dulden, dass „Angehörige der Staats - , der Schutz - und Sicherheitsorgane und deren Familien in anonymen Briefen und anderer Form bedroht werden“. Das gelte besonders für die Fälle, in denen der Name „Neues Forum“ missbraucht werde.632 622 KDfS Schwarzenberg vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1, Bl. 26–31). 623 Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 135 f. 624 Vgl. BVfS Dresden vom 14. 10. 1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42). 625 MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 150–153). 626 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( ebd., Bl. 167). 627 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1, Bl. 26). 628 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 184 f.). 629 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( ebd., Bl. 195 f.). 630 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1– 16). 631 BVfS Karl - Marx - Stadt : Bisher bekannt gewordene Angriffe, Drohungen und Beleidigungen gegenüber MfS - Mitarbeitern seit dem 7. 10. 1989, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 414). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 29. 632 Freiheit vom 10. 11. 1989. Vgl. Wir sind das Volk 2 : Hoffnung ’89, S. 84.

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Aufstand gegen die Diktatur

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In explosiver Situation forderte Gorbatschow als Gast der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR die SED - Führung erneut indirekt zu Reformen auf. Viele Menschen verweigerten eine Teilnahme an den Feiern und demonstrierten stattdessen in zahlreichen Orten gegen das Regime. Vor allem in Plauen und Hainichen, aber auch in den Bezirksstädten ging das Regime mit Gewalt und Massenzuführungen gegen die Protestierenden vor. Nun solidarisierten sich auch immer mehr Künstler und Kirchenvertreter mit den Verhafteten und forderten Reformen. Unmittelbar am 7. Oktober gründete sich die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ ( SDP ), die anders als das Neue Forum eine direkte Entmachtung der SED verlangte. Die Straßenproteste hörten nun nicht mehr auf. Eine neue Entwicklung deutete sich am 8. Oktober in Dresden an, als hier der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung und Chef der Bezirkseinsatzleitung, Hans Modrow, der gerade noch selbst den Einsatz der Armee bewirkt hatte, aufgrund der erkennbaren Friedlichkeit der Proteste ein Ende der staatlichen Gewalt gegen Demonstranten anordnete. Zu diesem Zeitpunkt wurden unter seiner Regie über Tausend Personen in Zuführungspunkten festgehalten und schikaniert. In Folge der Umorientierung bildete sich in Dresden als Vertretergruppe der Demonstranten die Gruppe der 20, die am Morgen des 9. Oktober von Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zum „Rathausgespräch“, dem ersten Dialog zwischen Vertretern des Staates und der Demonstranten, empfangen wurde. Von diesem Vorgehen ging Signalwirkung für die gesamte DDR aus. Besondere Bedeutung erlangte der Beginn des Dialoges für die Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig. Hier wurde allgemein ein gewaltsames Vorgehen des Regimes im Sinne einer „chinesischen Lösung“ erwartet. Aus allen Teilen des Landes reisten Menschen in die Messestadt, um die SED - Führung unter Lebensgefahr zur Änderung ihrer Politik zu zwingen. Angesichts von schließlich 70 000 friedlichen Demonstranten entschloss sich die SED - Führung vor dem Hintergrund wachsender Machtrivalitäten zwischen Honecker und Krenz, auf Waffengewalt zu verzichten, und folgte dem Dresdner Vorbild eines Dialoges zwischen Staatsmacht und Demonstranten. An diesen Tagen hatte die protestierende Bevölkerung einen ersten wesentlichen Sieg über das Regime errungen. Viele weitere waren freilich notwendig, bis die SED / SED - PDS Ende Januar 1990 ihren Anspruch aufgeben musste, dass Land gegen den Willen der Menschen zu regieren. Spätestens die Proteste um den 40. Jahrestag der DDR herum zeigten deutlich, dass dem Regime nicht mehr nur die kleinere Gruppe von Ausreisern oder oppositionellen „Dableibern“ gegenüberstand, sondern die sehr viel größere der „ganz normalen“ Werktätigen.633 Zwar waren die medienvermittelten Protestaktionen aus dem Umfeld basisdemokratischer Gruppen aus dem kirchlichen Raum und die Bildung oppositioneller Gruppen wichtige Signale und 633 Gehrke, Demokratiebewegung und Betriebe, S. 238.

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Chinesische Lösung oder Dialog ?

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Kristallisationspunkt der Bevölkerungsproteste. Eine Ansicht aber, wonach die breite Masse der Bevölkerung ohne die Proklamationen neuer Gruppen „wohl kaum zu massenhafter Demonstrationstätigkeit zu bewegen gewesen“ wäre,634 verkennt die Ursachen der Revolution und das wechselseitige Bedingungsgefüge des Aufstands breiter Bevölkerungsteile und der meist dem kirchlichen Milieu entstammenden Bürgerbewegungen.635 Die vorurteilsbeladene Gegenüberstellung einer schweigenden Masse und einer agilen Minderheit wird der Entwicklung nicht gerecht, ist aber eine der wichtigsten und ambitioniert gepflegten Mythen der Revolution. Tatsächlich wäre die Bevölkerung von elitären Gruppen wohl kaum zu Protesten zu bewegen gewesen, hätten aus Sicht der Bevölkerung nicht plausible Gründe vorgelegen, zu protestieren. In den Massenprotesten entlud sich die angestaute Unzufriedenheit mit den allgemeinen Lebensbedingungen, die das MfS in seinen Stimmungsberichten so eindrucksvoll wie vielfältig beschrieb. So fand seit den Massenprotesten zwischen dem 7. und 9. Oktober nicht mehr allein der Aufstand einer zivilgesellschaftlich emanzipierten Minderheit statt, vielmehr wurden breite Teile der Bevölkerung von nun an und bis zum Erreichen freier Wahlen im März 1990 zum Hauptakteur der Revolution. Ein Blick auf den Verlauf der Proteste zeigt, dass die erste Protestwelle bis zum 9. Oktober einen Durchbruch bedeutete. Sie war eine Reaktion auf die Massenflucht und der Impuls für die nun ständig anwachsenden Massenproteste, welche die SED - Herrschaft insbesondere Ende Oktober und Anfang

Diagramm 5: Protestarten ( ohne Streik ). 634 Geisel, Auf der Suche, S. 79. 635 Stolle, Der Aufstand, S. 14 f., weist auf die hermeneutische Schwierigkeit einer Trennung zwischen „Bürgerbewegungen“ und der allgemeinen Bürgerbewegung hin. Hier gilt es, zu differenzieren.

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Aufstand gegen die Diktatur

November ins Wanken brachten. Zahlenmäßig dominierten in der Zeit bis kurz nach dem 40. Jahrestag noch mehr oder weniger anonyme Einzelaktionen wie das Verteilen von Flugblättern, das Verbrennen staatlicher Symbole oder das Anbringen von Schriftzügen an Wänden und auf Straßen. Gemessen an der Anzahl der Beteiligten stellten die bereits im September begonnenen Demonstrationen bis zum 9. Oktober dagegen eine neue Qualität der Proteste dar. Vor allem aber handelte es sich um zwar spontane und kaum gesteuerte, aber kollektive Proteste. Nur gemeinsam aber konnte man die Diktatur zum Einsturz bringen. Die gemeinsamen Aktionen aber ließen keinen Zweifel am Willen der protestbereiten Bevölkerung und an der allgemeinen Meinung, der Zeitpunkt sei gekommen, die finale Auseinandersetzung mit dem Regime zu suchen.

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2.

„Wir sind das Volk !“ contra SED - Dialogstrategie (10.–23.10.)

2.1

Die Wende zum Dialog 10.–11. Oktober

Stimmung der Bevölkerung Gewaltandrohungen oder - anwendungen seitens der Bevölkerung blieben Einzelerscheinungen, hingegen war in fast allen Stimmungsberichten von deren Unzufriedenheit, Resignation und Pessimismus die Rede.1 Die Stimmung sei „äußerst angespannt“,2 die Haltung „abwartend und teilweise aggressiv“.3 Ständig wiederkehrendes Thema war die Versorgungslage. Manche hofften auf Veränderungen, andere zeigten sich skeptisch. Wirkung entfaltete ein offener Brief von ZK - Mitglied Hermann Kant in der „Jungen Welt“, in dem von verordneter „Abstinenz gegenüber Gütern, die anderswo als Normbestandteile des 20. Jahrhunderts gelten“ die Rede war.4 Als es am Nachmittag des 6. Oktober, einen Tag vor dem Jahrestag, im Zentrum der Kreisstadt Annaberg kein Brot mehr zu kaufen gab, gab es Äußerungen wie : „Da seht ihr, was 40 Jahre DDR gebracht haben.“5 Vereinzelt kam es zu verstärkten Geldabhebungen und zum Hamsterkauf von Waschmaschinen und Benzin.6 Besonders kritisiert wurde die Berichterstattung. Es gab „massive Angriffe gegen die Medienpolitik der SED“.7 Das „Neue Deutschland“ bringe nur noch „Hofnachrichten“.8 Die Rede war von jahrelanger Verschleppungstaktik nach dem Motto „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ und von „Schön - und Rosafärberei in den Berichten nach oben“.9 In der DDR würden Berichte nach oben generell „schöngefärbt und Informationen nach unten gefiltert“.10 Das gelte auch für Probleme in den Betrieben.11 Hier gebe es durchweg „Inkonsequenz 1

Vgl. KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459– 461); KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56– 59). 2 KDfS Schwarzenberg vom 12.10.1989 : Lage ( ebd. 1818, Bl. 48–51). 3 FDGB - Kreisvorstand Altenburg vom 11.10.1989. Lage in den GO ( SächsStAL, SED KL Altenburg, 1147, Bl. 156–159). 4 Zit. in KDfS Löbau vom 10.10.1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 65–67). 5 KDfS Annaberg vom 8.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 125– 127). 6 Vgl. VPKA Altenburg vom 11.–12.10.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1148, Bl. 12); KDfS Auerbach vom 10.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 68–73). 7 KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 101–105). 8 KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 56–59). 9 KDfS Löbau vom 10.10.1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 65– 67). 10 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 11.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 227–231). 11 Vgl. KDfS Annaberg vom 8.10.1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1804, Bl. 125–127); SEDParteisekretär des VEB Nähmaschinenwerke Altenburg an SED - KL vom 11.10.1989 (ebd., Bl. 101 f.).

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in den Arbeitskollektiven ( Einkaufen während der Arbeitszeit )“12 und Schlamperei.13 In die Wirtschaft müssten Ordnung und Disziplin einziehen.14 Auch die staatliche Arbeit wurde bemängelt. Zu deren Verbesserung müsste von der „vielen Berichterstattung von Schreibtisch zu Schreibtisch Abstand genommen werden“.15 Im Zusammenhang mit der inzwischen weniger diskutierten Massenausreise stand die Jugend im Fokus der Kritik. Vor allem „Progressive“ fragten : „Weshalb verlässt unsere Jugend zu Tausenden fluchtartig das Land ?“16 Lag dies an der ungenügenden Erziehung zu „staatsbürgerlichem Denken“ ?17 Offensichtlich habe man bei der Erziehung etwas falsch gemacht.18 Statt über die Massenflucht wurde nun verstärkt über fehlende Reisefreiheit diskutiert und fast durchweg die Einschränkung des Reisens in die ČSSR „sehr hart“ diskutiert.19 Die Zahl der Eingaben und Vorsprachen bei den Volkspolizeikreisämtern nahm zu.20 Die Schließung der Grenze wurde als „Bankrotterklärung“ des Regimes angesehen, und man befürchtete, dass auch hier Stacheldraht angebracht werde.21 Vor allem in den grenznahen Kreisen war die Empörung groß. Man fühle sich, so hieß es, „eingesperrt oder wie auf einer Insel lebend“. Die Sicherungsmaßnahmen und die Hatz auf Flüchtende glichen „bürgerkriegsähnlichen Situationen“.22 Einwohner von Ober wiesenthal brachten vor diesem Hintergrund „vereinzelt auch Handlungsbereitschaften zum Ausdruck“.23 Da sich die SED - Führung nicht äußerte, schlussfolgerte man, dass sie der Entwicklung „ohnmächtig gegenüberstehe“. Keiner könne sagen, wie es weitergeht.24 Auch „Progressive“ fragten, wie lange „unsere Regierung“ noch brauche, „um zu notwendigen innenpolitischen Entscheidungen zu gelangen“.25 So nahm das Misstrauen in die SED - Führung rasant zu.26 Verbreitet war die Ansicht, die geistige Beweglichkeit der Partei - und Staatsführung sei „nicht mehr für eine 12 Ebd., AKG 679, 2, Bl. 232–235. 13 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 11.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, HE 67, 1, Bl. 227–231). 14 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1807, Bl. 138–141). 15 RdG Großzöbern an RdK Plauen vom 11.10.1989 ( Landratsamt Vogtlandkreis, SG Archiv – Dienststelle Plauen, VwA - Nr. 21402, 5). 16 SED - KL Bautzen vom 10.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13550). 17 KDfS vom 10.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 2, Bl. 232–235). 18 Vgl. KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 56–59). 19 RdG Theuma an RdK Plauen vom 10.10.1989 ( Landratsamt Vogtlandkreis, SG Archiv – Dienststelle Plauen, VwA - Nr. 21402, 37). 20 Vgl. KDfS Löbau vom 10.10.1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 65–67). 21 KDfS Aue vom 9.10.1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 112, 116). 22 KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 63–69). 23 KDfS Annaberg vom 8.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 125–127). 24 KDfS Auerbach vom 10.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 68–73). 25 SED - KL Bautzen vom 10.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13550). 26 Vgl. KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56– 59).

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dynamische Staatsleitung geeignet“.27 Die Führung wurde mit den drei Affen verglichen, die sich Augen, Ohren und Mund zuhielten. Man werde „gehalten wie ein Sklave“.28 „Die Alten an der Führungsspitze“ wollten Probleme nicht wahrhaben und berauschten sich an Erfolgen.29 Die „Großen“ würden feiern, als gebe es keine Probleme.30 In Dresden meinte man, dass die Stadt „für Berlin nicht existiert“.31 Das Misstrauen galt nicht nur der SED - Führung, sondern der gesamten SED,32 die in Agonie verharre. So nahm auch die Kritik an regionalen Funktionären zu. Die Rede war von Gleichgültigkeit, Bürokratie, Verantwortungslosigkeit und Privilegien von Leitungskadern.33 Vor diesem Hintergrund wuchs das Interesse der Bevölkerung an Aktivitäten von Demonstranten und Oppositionellen.34 Vor allem das Neue Forum fand Interesse, und es wurde beklagt, dass es darüber keine Informationen gebe.35 Schüler fragten, wieso das Neue Forum staatsfeindlich sei. Hinsichtlich der überall diskutierten Demonstrationen gingen die Meinungen je nach politischer Position und persönlichen Interessen auseinander. „Progressive“ äußerten angesichts der „Randale auf der Straße“36 Sorgen über die weitere Entwicklung und hofften, „dass es keinen neuen 17. Juni 53 gibt“.37 „Die Masse der Bevölkerung“ aber begrüßte Demonstrationen wie in Dresden und verurteilte den Einsatz der Volkspolizei und anderer bewaffneter Organe. „Viele Arbeiter“ meinten, die Krawalle seien erst „durch die Schutz - und Sicherheitsorgane provoziert worden“, während „die Demonstranten friedlich“ waren.38 Es handele sich nicht um Rowdys, Asoziale und Vorbestrafte. Wenn die SED - Argumente stimmten, dann seien „Hunderttausende Bürger unseres Landes vorbestraft“.39 Schüler fragten nach den Gründen für die „Brutalität der Polizei“.40 Die Volkspolizei 27 28 29 30 31 32 33 34 35

36 37 38 39 40

KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( ebd., Bl. 56–59). KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( ebd., AKG 529, 1, Bl. 63–69). KDfS Aue vom 9.10.1989 : Berichterstattung ( ebd. 531, 1, Bl. 112, 116). KDfS Aue vom 9.10.1989 : Berichterstattung ( ebd., Bl. 112, 116). KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459– 461). Vgl. KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56– 59). Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd., HE 67, 1, Bl. 227– 231). Vgl. RdG Schneckengrün an RdK Plauen vom 11.10.1989 ( Landratsamt Vogtlandkreis, SG Archiv – Dienststelle Plauen, VwA - Nr. 21402, 31). Vgl. KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56– 59); KDfS Brand - Erbisdorf vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 138–141); KDfS Auerbach vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 61–67); KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459–461). SED - Parteisekretär des VEB Nähmaschinenwerke Altenburg an SED - KL vom 11.10. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 101 f.). FDGB - Kreisvorstand Altenburg vom 11.10.1989 : Lage in den GO ( ebd., Bl. 156–159). KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459– 461). SED - KL Bautzen vom 10.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13550). SED - Parteisekretär des VEB Nähmaschinenwerke Altenburg an SED - KL vom 11.10. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 101 f.).

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habe „genauso brutal [...] geprügelt wie in der BRD“. Dabei sei die SED an den Ausschreitungen selbst schuld, da sich nichts ändere.41 Angesichts fehlender politischer Freiheiten42 und der Tatsache, dass „keine vertrauensbildenden Maßnahmen von der Partei - und Staatsführung veranlasst“ würden, glaubte „der überwiegende Teil nicht an Veränderungen in der DDR“.43 Die Kehrseite dieser auf Aktivitäten der Führung bezogenen Feststellung war die Erwartung, „dass sich in nächster Zeit grundlegende Veränderungen in allen Lebensbereichen vollziehen“.44 So war es nur konsequent, dass u. a. anderem viele Einwohner von Oberwiesenthal auf ein Erstarken der Proteste wie in Leipzig, Dresden und in Karl - Marx - Stadt hoffen.45 Demonstrationen 10. –12. Oktober Zwar hatte die demonstrierende Bevölkerung in Leipzig einen Sieg gegen das Regime errungen, die weitere Entwicklung aber zeigte, dass die SED - Führung noch nicht daran dachte, sich auf der Straße geschlagen zu geben. Noch lagen alle staatlichen Machtmittel in SED - Hand. Nach dem 9. Oktober verschärfte Mielke den Einsatzbefehl vom 8. Oktober sogar noch. Das MfS - Wachregiment wurde mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstet und in der neuen Ausrüstung für Einsätze gegen die Bevölkerung ausgebildet. Die MfS - Einsatzbereitschaft blieb ( bis Mitte November ) erhalten.46 Auch Streletz wies am 11. Oktober für die NVA an, den möglichen Einsatz von Hundertschaften „entsprechend der in den letzten Tagen geübten Praxis stabsmäßig vorzubereiten“.47 Fast schien es wie ein Kampf zwischen Gewalt und Friedlichkeit, wenn das Landeskirchenamt der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens am selben Tag an alle Pfarrämter eine Kanzelabkündigung von Landesbischof Hempel schickte, in dem dieser sich für Dialog und Gewaltfreiheit einsetzte. Er forderte zugleich die Vorsitzenden der Räte der Bezirke auf, alle Verhafteten unverzüglich freizulassen.48 Gleichzeitig startete in den Kirchen eine Solidaritätskampagne für die politischen Gefangenen. An der Tür der Lutherkirche in Plauen hing am 10. Oktober ein Plakat : „Freiheit für alle unrechtmäßigen Inhaftierten“.49 In der Refor41 KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56–59). 42 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd., HE 67, 1, Bl. 227– 231). 43 KDfS Aue vom 9.10.1989 : Berichterstattung ( ebd., AKG 531, 1, Bl. 112, 116). 44 KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 63–69). 45 Vgl. KDfS Annaberg vom 8.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1804, Bl. 125–127). 46 Aussage des Kompaniechefs des Wachregiments von Mai 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 102. 47 MfNV, Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes, Streletz, an MfS, Leiter der AG des Ministers, Rümmler, vom 11.10.1989 ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 248 f.). 48 Landesbischof Hempel an Vorsitzende der RdB Dresden, Karl - Marx - Stadt, Leipzig vom 10.10.1989 ( UB Grohedo, Reinhard Müller ). 49 VPKA Plauen vom 10.–11.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAC, VPKA Plauen 1100, Bl. 28 und 31).

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mierten Kirche Leipzig gab es einen Aufruf zum solidarischen Fasten.50 Am Zwickauer Dom wurden Zettel mit dem Text „Freiheit für alle Inhaftierten und Reformen in unserem Land“ angebracht.51 Bezirk Leipzig : Für die Staatsorgane in den Bezirken waren die Vorgaben aus Berlin bindend. Die Leipziger Bezirkseinsatzleitung analysierte nach der machtvollen Montagsdemonstration die Lage,52 und die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei meinte, den Gegnern der „Macht der Arbeiter und Bauern“ müsse auch weiterhin „entschlossen entgegengetreten werden“.53 In NVA Kasernen galt nun jeweils montags erhöhte Alarmbereitschaft. In der 9. Panzerdivision standen sieben Hundertschaften bereit.54 Die SED - Bezirksleitung forderte, man dürfe sich „die Initiative nicht aus der Hand nehmen lassen“. Viele Genossen fragten : „Warum lässt man so etwas zu ? Wie soll es weitergehen, hier kann eigentlich nur eine politische Lösung zum Erfolg führen ?“55 Zwar blieb das Militär in Bereitschaft, unter dem Druck der Straße zeigte das Regime allerdings Entgegenkommen. SED - Funktionäre trafen sich bei einem von Kurt Masur moderierten Gespräch mit Vertretern des Neuen Forums. Seitens der Kirchen und der protestierenden Bevölkerung setzte man nun weiter auf gewaltfreien Protest. An einer Fürbittandacht in der Altenburger Brüderkirche nahmen am 10. Oktober ca. 400 Menschen teil.56 In einem offenen Brief forderten sie Dialog und die Freilassung politischer Häftlinge.57 Auch in Kirchen von Eilenburg, Döbeln und Wurzen wurden nun regelmäßige Friedensgebete geplant.58 In Karl - Marx - Stadt wurde beschlossen, künftig montags aktiv zu werden, um Solidarität mit Leipzig zu bekunden und Sicherheitskräfte zu binden.59 Bezirk Dresden : Auch in Dresden tagte am Morgen des 10. Oktober die Bezirkseinsatzleitung.60 Modrow behauptete später, es habe sich nicht um eine BEL - Sitzung gehandelt. Man habe dies nur so dem Politbüro gemeldet, weil alles andere die friedliche Arbeit in Dresden gefährdet hätte.61 Es sei, so Jürgen 50 Vgl. BDVP Leipzig vom 12.–13.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP, 1450/1). 51 Vgl. KDfS Zwickau vom 13.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1, Bl. 140–146). 52 Vgl. SED - BL Leipzig vom 10.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 53 BDVP Leipzig an VPKÄ vom 10.10.1989 ( SächsStAL, BDVP, 1, FS 457). 54 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 52; Kirchbach; Was wäre gewesen, S. 138 f. 55 SED - BL Leipzig vom 10.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 56 RdK Altenburg vom 11.10.1989 : Info ( ebd., SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 124). 57 Offener Brief an den RdB, Abt. Inneres, o. D. ( ebd. 1148, Bl. 104 f.) 58 Vgl. SED - BL Leipzig vom 10.10.1989 : Info ( ebd., SED Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 59 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 7). 60 Vgl. Oberlandesgericht Dresden. 1. Strafsenat. Beschluss vom 25. 4.1996 in der Strafsache gegen Hans Modrow, S. 16 f. ( HAIT, Modrow - Prozess 1996); Protokoll der Dienstbesprechung des BVfS Dresden, Böhm, vom 10.10.1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 494 f. 61 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 29.11.1992, Verlesung der schriftlichen Erklärung Hans Modrows vom 5.11.1992, Mitschrift d. A., S. 5 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996).

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Schlase, „ein bestimmtes Erwartungsbedürfnis vorgesetzter Stellen befriedigt“ worden.62 Bei der BEL - Sitzung, die in der Tat mehr der Auflehnung gegen die zentrale Linie als deren Umsetzung diente, kritisierte Modrow die geplante Erklärung des Politbüros. Es fehlten grundlegende konzeptionelle Antworten : „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir unser Konzept nicht unverzüglich zustandebringen, kommen andere mit ihren Konzepten zur Wirkung; am Ende auch jene, die den Sozialismus in unserem Lande am liebsten begraben würden.“ Man dürfe es nicht den Blockparteien überlassen, zu sagen, was geschehen müsse. Noch habe die SED die Chance, notwendige tiefgreifende Veränderungen ohne die „großen politischen Ausbrüche und sozialen Erschütterungen, wie wir sie in einigen Bruderländern erleben“, zu realisieren. Wenn man diese nicht unverzüglich nutze, komme „der Gegner noch entschiedener zum Zuge. Es arbeiten die differenziertesten, uns nahe - , aber auch weit fernstehende Kräfte intensiv an solchen Konzepten, ohne uns und am Ende gegen uns.“ Das Bild einer Normalisierung täusche, weil sich die Kräfte noch stärker formierten, die gewaltlos „Änderungen erzwingen wollen“. Entscheidend sei, dass der Sozialismus und die führende Rolle der SED „nirgends und niemals über Bord gehen“ dürften. Es gelte, die Initiative in die Hand zu bekommen. Die Erneuerung müsse „von der Partei und nicht von anderen Kräften ausgehen“. Von der SED „und nicht von denen auf der Straße oder in der Kirche muss gesagt werden, was erneuert wird, was über Bord geht !“ Deswegen müsse unverzüglich eine Tagung des ZK der SED einberufen werden.63 Damit hatte Modrow seine politischen Reformvorstellungen abgesteckt, die auch später als Ministerpräsident sein Handeln bestimmten. Raimund Kokott berichtet, bei der BEL - Sitzung sei bei Modrow „das Fass zum Überlaufen voll“ gewesen. Modrow sei jedoch von allen unterstützt worden64 und ordnete nochmals an, keine Gewalt anzuwenden.65 Vor diesem Hintergrund wurden am gleichen Tag in Dresden die Gespräche zwischen Berghofer und den Demonstranten fortgesetzt. 500 Zugeführte wurden freigelassen.66 Bei kirchlichen Informationsveranstaltungen in Kirchen von Rabenau und Oelsa ( Freital ) unter Teilnahme von Superintendent Dähne hieß es, die Kirche werde so lange informieren, so lange die Massenmedien schwie-

62 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 2.12.1996, Aussage des Zeugen Jürgen Schlase, Mitschrift d. A., S. 15 (ebd.). 63 SED - BL, 1. Sekretär : Einschätzungen der Lage und Ereignisse von Oktober 1989, Konzept der Rede von Hans Modrow für die Politbüro - Sitzung am 10./11.10.1989 (SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218). 64 Interview mit Raimund Kokott. In : Dichtung und Wahrheit über die Einsatzleitungen, S. 19. 65 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 29.11.1992, Verlesung der schriftlichen Erklärung Hans Modrows vom 5.11.1992, Mitschrift d. A., S. 5 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 66 Vgl. Interview mit Friedrich Boltz. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 34.

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gen. Klar war auch hier der Aufruf zu Gewaltlosigkeit und Dialog.67 In der Kamenzer Just - Kirche fand ebenfalls eine kirchliche Informationsveranstaltung mit Konzert statt, nach der ein Marsch zum Markt geplant war.68 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Karl - Marx - Stadt beriet die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei am 10. Oktober ihr Vorgehen und orientierte in Richtung „Verschärfung der Mittel“. Die Einsatzbereitschaft sollte auf hohem Niveau gehalten werden. Selbst FDJ - und Dorfveranstaltungen böten inzwischen keine Garantie mehr, „dass alles seinen Gang geht“. Der Einsatz von Hunden „ohne Beißkorb“ habe sich bewährt. Es müsse aber aufgepasst werden, dass eigene Kräfte nicht gebissen werden. Die Kampfgruppen sollten künftig in Uniform mit Stahlhelm eingesetzt werden und den Schlagstock einsetzen. Bei Maßnahmen gegen Aktivitäten der Kirche sollte darauf geachtet werden, „dass keine Märtyrer geschaffen werden“. Entsprechend zentraler Anweisung wurden auch die Volkspolizeikreisämter künftig „mit langer Waffe abgesichert“, wobei eingeschätzt wurde, „dass diese Maßnahme keinesfalls der Beruhigung der Lage dienlich sei“. Künftige Festnahmen sollten vor allem Rädelsführer betreffen, und die Zuführungspunkte an gesicherte Orte verlegt werden.69 In den Kreisdienststellen des MfS galt am 11. Oktober „volle Dienstbereitschaft“. Die Waffe war ständig am Mann zu tragen, die Objekte wurden verstärkt gesichert.70 Die sich auch hier ausdrückende Tendenz zur Eskalation ging offensichtlich „von oben“ aus. Für die SED - Bezirksleitung informierte Klaus Bartl im Bezirkstag über die Linie. Man werde „einen Abbau des Sozialismus in der DDR nicht zulassen“.71 Von den Demonstranten gingen indes weiter friedliche Signale aus. So wurden bei einer „stummen Demonstration mit brennenden Kerzen“ von rund 1 000 Menschen unter dem Motto „Erich leit Reformen ein, oder geh ins Altersheim“ in Markneukirchen ( Klingenthal ) an der Kirche über 2 000 brennende Kerzen abgestellt.72 Superintendent Johne aus Oelsnitz plädierte für Reformen und Friedlichkeit, Pfarrer Johannes Sembdner organisierte die Bildung einer Vertretergruppe der Demonstranten nach Dresdner Vorbild.73 Im Schaukasten der katholischen Kirche in Reichenbach war zu lesen, die Demonstranten seien keine Chaoten und Randalierer. „Wir müssen“, so die Aufforderung, „mit67 Vgl. KDfS Freital vom 13.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 473– 476). 68 Vgl. SED - KL Kamenz vom 11.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 69 Protokoll der Beratung des Chefs der BDVP mit den Dienststellen am 10.10.1989 (SächsStAC, BDVP, 497). Vgl. KDfS Auerbach vom 10.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 68–73). 70 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( ebd., BE 98, Bl. 1–42). 71 Protokoll der Beratung der Ständigen Kommission für Ordnung und Sicherheit BT KarlMarx - Stadt am 11.10.1989 ( SächsStAC, 121507). 72 KDfS Klingenthal vom 10.10.1989 : Stumme Demonstration mit brennenden Kerzen in Markneukirchen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 55–57). 73 Vgl. Markneukirchen. Die „Wende“ und die Zeit danach 1989–1998 ( PB Johannes Sembdner ).

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einander sprechen.“74 Im Glauchauer Lutherhaus nahmen am 11. Oktober 900 Personen an einer Veranstaltung mit dem Titel „Gehen oder Bleiben“ statt, bei der das Neue Forum vorgestellt wurde.75 Individuelle Proteste Noch drückte sich Protest auch in Einzelaktivitäten aus. Am 10. Oktober fand sich in Leipzig eine „Schmiererei“ gegen SED und MfS.76 Auf dem Bahnhof Bautzen wurde ein Zuglaufschild mit dem Zusatztext „Weiterreise bis zur Demokratisierung gestrichen“ angebracht, auf dem alle westdeutschen Bahnhöfe eingerahmt und durchgestrichen waren.77 Im VEB Spurenelemente Freiberg hing ein Zettel mit dem Text „Freiheit jetzt erst recht“.78 Im Frankenberger Krankenhaus hing eine „Wandzeitung mit herabwürdigenden Inhalt“.79 In Lunzenau (Rochlitz ) war an mehreren Stellen „Freies Neues Forum“ zu lesen.80 In einer HO - Verkaufsstelle in Plauen hing ein Schild „Ein offenes Land mit freien Wahlen und freien Bürgern. Neues Forum“.81 Auf der Landstraße Girbigsdorf Königshain ( Görlitz ) stand am 11. Oktober „Wir wollen Reformen“. An einer Baracke der LPG Schöpstal in Holtendorf war „Nieder mit der roten Brut“ und „Stasi raus“ zu lesen.82 In Plauener Briefkästen fanden sich 15 verschiedene „Hetzzettel“ mit Texten wie „Rote Faschisten raus“, „Stürmt das Rathaus“, „Weg mit der Ostzone“, „Rettet unser Deutschland“ und „Es lebe Neues Forum“.83 Immer wieder registrierte das MfS, wie z. B. im Neubaugebiet Frankenberg in Hainichen oder in Cämmerswalde, „brennende Kerzen in den Fenstern als Zeichen des ‚stillen Protestes‘“.84 Autos wurden mit Schildern versehen, in Mittweida fand das MfS ein Schild mit der Aufschrift „Glasnost“ notierenswert.85 Am Zwickauer Dom hingen ab dem 12. Oktober Zettel mit dem Text „Freiheit für alle Inhaftierten und Reformen in unserem Land“.86 In Limbach Oberfrohna war an einer Haltestelle „Neues Forum“ zu lesen. Daneben stand 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

KDfS Reichenbach vom 10.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 53 f.). Vgl. KDfS Glauchau vom 11.10.1989 : Kirchliche Veranstaltung ( ebd., Bl. 75–81). BDVP Leipzig vom 10.–11.10.1989 : Rapport ( SächsStAL, BDVP Leipzig, Lagefilme ODH 1989, 1450). BVfS Dresden vom 3.10.1989 : Zur Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 273, 275). KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 56–59). Ebd. 3078, 1, Bl. 63. Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in Lunzenau ( Archiv der Ortschronik Lunzenau ). VPKA Plauen vom 9.–10.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAC, VPKA Plauen, 1100, Bl. 22). KDfS Görlitz vom 12.10.1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10989, Bl. 1–6). KDfS Plauen vom 11.10.1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 153 f.). KDfS Brand - Erbisdorf vom 15.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 120–122). KDfS Hainichen vom 12.10.1989 : Info ( ebd. 534, 1, Bl. 68–73). KDfS Zwickau vom 13.10.1989 : Lage ( ebd. 1823, 1, Bl. 140–146).

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durchgestrichen „SED“.87 Am 14. Oktober stand auf der F 7 von Altenburg nach Schmölln das Wort „Freiheit“ auf der Straße.88 Auf Zetteln forderten Bewohner von Nassau ( Brand - Erbisdorf ) Demokratie sowie Meinungs - und Pressefreiheit.89 Die Bezirksverwaltung des MfS Dresden registrierte Mitte Oktober vermehrt Aushänge, Wurfzettel und „Schmierereien“, vor wiegend mit Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums und Schilderungen der Ereignisse in Dresden.90 Stimmung an der SED - Basis In der SED herrschte Katerstimmung. Mitglieder forderten, die Parteiführung müsse endlich Orientierung geben. Das Schweigen wurde als Führungsschwäche gedeutet. Die Zahl der Austritte nahm zu. Das ZK schätzte ein, dass „die Kampfkraft vieler Grundorganisationen gelähmt“ sei. Resignation und Ratlosigkeit mache sich breit, man fordere die Einberufung einer ZK - Tagung.91 Entsprechend war die Lage in Sachsen, wenngleich Zweckoptimismus verbreitet wurde.92 Verbreiteter aber waren „Resignation und zum Teil Verzweif lung“. Inzwischen würden sogar antikommunistische Äußerungen unwidersprochen hingenommen.93 In Pirna fühlten sich „Genossen überfordert“ und legten „eine Abwartehaltung an den Tag“.94 Austritte wurden mit der Versorgung und der Grenzschließung begründet.95 Im VEB Ring Mittweida ( Hainichen ) erklärte ein Ex - Genosse, er wolle mit diesem „Knüppelstaat“ nichts mehr zu tun haben.96 Neueintritte gab es kaum. Ein Schlosser des VEB KVK Betriebsteil Marienberg wies einen entsprechenden Versuch mit der Äußerung zurück : „Lasst mich mit dem Kommunistenverein in Ruhe, ihr habt genug Schaden angerichtet.“97 Die Partei - und Gewerkschaftsleitung im Metallleichtbaukombinat Plauen solidarisierte sich gar mit den Demonstranten.98 Aus dem Bezirk Leipzig berichtete die SED - Bezirksleitung, Unzufriedenheit und Verbitterung hätten sich angestaut. Das Fehlen eines offiziellen Standpunktes bewirke eine defensive Haltung. 87 Vgl. Schnurrbusch, Herbst 1989, S. 35. 88 SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1049, Bl. 107. 89 KDfS Brand - Erbisdorf vom 15.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 120–122). 90 BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42). 91 ZK der SED vom 11.10.1989 : Info der SED - BL ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 52). 92 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 13.10.1989. 93 BVfS Dresden vom 11.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 226–228). 94 SED - KL Pirna vom 15.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 95 Vgl. SED - KL Löbau vom 11.10.1989 : Lage ( ebd., 13550); SED - KL Sebnitz vom 10.10.1989 : Lage ( ebd., SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–3). 96 KDfS Hainichen vom 13.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 62–67). 97 KDfS Marienberg vom 13.10.1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 185 f.). 98 Vgl. KDfS Plauen vom 11.10.1989 : Info ( ebd. 3078, 1, Bl. 61).

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Wenn die Führung weiterhin schweige, verstärke sich der Eindruck ihrer Handlungsunfähigkeit. Man könne die Probleme nicht nur dem Gegner zuschreiben, sondern müsse über Ursachen in der DDR nachdenken. Die Führung müsse unverzüglich zu Problemen, welche die Bürger aggressiv machten, Entscheidungen treffen, so zum Reiseverkehr, zur Versorgung, zu Pkw - Wartezeiten sowie zur materiellen und personellen Absicherung der Produktion, der Erneuerung der Grundmittel und der Durchsetzung des Leistungsprinzips. Viele Genossen bewerteten die Lage als besorgniserregend und beängstigend. Es sei „zur Zeit sehr kompliziert“, die Stimmung durch Partei - und Massenarbeit positiv zu verändern, vielmehr werde es immer schwerer, sich als Parteimitglied zu bekennen. Man werde provoziert und vereinzelt sogar bedroht.99 Sitzung des Politbüros am 10./11. Oktober In schwieriger Lage trat am 10. Oktober das Politbüro zusammen.100 Zuvor informierten Schabowski und Krenz einige Mitglieder über den Entwurf von Krenz. Der übergab ihn auch Honecker, welcher daraufhin erklärte, Krenz werde die Führung der Partei spalten. Er werde sich dafür einsetzen, dass die Erklärung nicht beschlossen wird. Krenz habe „damit zu rechnen, dass die Kaderentscheidungen, die früher oder später im Politbüro eingebracht würden, anders aussehen als bisher geplant“.101 Parallel dazu gab Mielke allen Mitgliedern und Kandidaten „ziemlich aufschlussreiche Informationen des MfS“ über die Lage.102 Da Modrow dem Politbüro nicht angehörte, wies er Honecker fernschriftlich auf die Erwartung hin, dass die Führung eine Erklärung zur Lage gibt und sichtbar macht, „dass der Ernst der Lage gesehen wird“. Nötig sei eine sofortige Tagung des ZK.103 Angesichts des Drucks von verschiedenen Seiten befürwortete Honecker bei der Sitzung plötzlich die Krenz - Erklärung, griff ihn aber indirekt durch Vorwürfe gegenüber der FDJ - Führung an.104 Krenz erhielt jedoch Rückendeckung durch fast alle Mitglieder des Politbüros, die den Ernst der Lage bestätigten und Genugtuung über den veränderten Ton der Erklärung äußerten. Schürer redete Klartext über die Wirtschaftslage105 und griff damit über Mittag indirekt auch Honecker an. Auch Neumann gab Mittag die Schuld an der Misere und bean99 SED - BL Leipzig vom 10.10.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 100 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10./11.10.1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2351). 101 Vgl. Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 ( ebd. 2/1/707). 102 Wolf, In eigenem Auftrag, S. 197. 103 Hans Modrow an Politbüro des ZK der SED zur Beratung am 10.10.1989, z. Hd. Erich Honecker. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 230–232. 104 Vgl. Eberhard Aurich. In : Junge Welt vom 11./12.11.1989; Schabowski, Der Absturz, S. 254. 105 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 17 f.

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tragte, ihn zu entbinden. Auch Stoph versuchte, ihn zum „Sündenbock“ zu stilisieren.106 Kritisiert wurde auch die Medienpolitik. Am Abend des ersten Tages der zweitägigen Sitzung wurde eine Kommission gebildet, der Krenz, Mittag, Herrmann und Schabowski angehörten. Ihr Ziel, so Krenz, „bestand darin, die Erklärung zu verwässern“. Es gelang Krenz und Schabowski jedoch, die Annahme der Erklärung in der eingebrachten Form durchzusetzen.107 Am 11. Oktober ging die Sitzung weiter.108 Krenz legte den überarbeiteten Entwurf vor, in dem es nun hieß : „Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle.“ Der von Honecker formulierte zynische Passus seiner letzten Erklärung, wonach man Ausreisenden keine Träne nachzuweinen brauche, wurde abgeschwächt. Erstmals akzeptierte die SED - Führung, dass es auch in der DDR Gründe für die Massenflucht gebe, wies die Hauptschuld aber weiterhin dem Westen zu. Die Sitzung stellte, so Krenz, trotz ihres Kompromisscharakters „das erste Zeichen einer Abkehr von der politischen Linie“ Honeckers dar.109 Pressekampagne ab 10. Oktober Statt in ihren Medien für „Glasnost“ zu sorgen, startete die SED ab dem 10. Oktober in ihren Zeitungen Protesterklärungen gegen Demonstranten, Ausreisewillige und neue Kräfte. Im Stil einer Massenmobilisierung beschlossen Bezirkseinsatz - und SED - Bezirksleitungen die „Durchführung von Arbeiterforen in den Betrieben, in deren Ergebnis vielfältige öffentliche Stellungnahmen zur Politik der Partei sowie gegen aufwieglerische Handlungen negativ - feindlicher Elemente und Demonstrationen bekundet werden“ sollten.110 Die Folge war eine Flut von Stellungnahmen gegen „Ausschreitungen krimineller und antisozialistischer Kräfte“,111 die vom Westen in Gang gesetzt worden seien.112 Den „staatsfeindlichen und antisozialistischen Aktionen aufgeputschter Elemente“, so hieß es, müsse „mit der ganzen Härte des Gesetzes entgegengetreten werden“.113 In Leserbriefen war von zügelloser Hetze und einer Verleumdungskampagne gegen den Sozialismus die Rede,114 von verabscheuungswürdigem Rowdy-

106 So Günter Mittag. In : Der Spiegel vom 9. 9.1991, S. 85. Vgl. ders., Um jeden Preis, S. 16. 107 Vgl. Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/1/707). 108 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10./11.10.1989, Anlage 1 : Erklärung des Politbüros des ZK der SED ( ebd. 2/2/2351). 109 Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 33. 110 SED - BL Leipzig vom 12.10.1989 : Erste Reaktionen zur Erklärung des Politbüros vom 11.10.1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 95–98). 111 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 10.10.1989. 112 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 10.10.1989. 113 Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 11.10.1989. 114 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 10.10.1989.

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tum,115 von „Randalierern und Schmierern“.116 „Progressive“ äußerten ihre „Abscheu“ denen gegenüber, „deren Hirne von den ewig Gestrigen verkleistert sind“.117 Ein Schutzpolizist in Pirna erlebte „mit Empörung, wie Eltern sogar ihre Kinder missbrauchten, um erpresserische Forderungen durchzusetzen“. Er frage sich : „Was sind das für Mütter, die ihre eigenen Kinder so unmenschlich behandeln ?“ Man dürfe nicht zulassen, dass durch „Feinde unseres Staates das zerstört wird, was mühsam durch Fleiß der Bürger unseres Kreises erarbeitet und geschaffen wurde“.118 An anderer Stelle wurden die Protestaktionen von Personen, denen „Menschlichkeit fremd“ sei, verurteilt.119 Ein junger FDJler weigerte sich „strikt, irgendwelchen reaktionären Elementen [meine] Unterstützung zu geben für etwaige staatsfeindliche Aktionen“. Andere stellten sich „klar gegen jegliche oppositionelle Organisationen“, da die bestehenden Parteien ausreichten.120 Die Antwort aller anständigen und progressiven Bürger müsse „Dialog und Planerfüllung“ lauten.121 Die CDU - Stadtverordnete von Kamenz, Birgit Schneider, forderte, demonstrierende Jugendliche „einer gerechten Strafe“ zuzuführen.122 Veröffentlichung der Erklärung des Politbüros am 11. Oktober Mitten in der organisierten Pressekampagne erschien am 12. Oktober im „Neuen Deutschland“ die Krenz - Erklärung, mit der aus Modrows Sicht „weder die Lage realistisch eingeschätzt noch ein Reformkonzept vorgelegt“ wurde.123 Die DDR - Medien berichteten nun sofort und ausführlich über positive Reaktionen. Am selben Tag beriet Honecker mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen. Hier kritisierte Modrow die Führungslosigkeit der letzten Tage. Die Flüchtlingszüge hätten ihn in eine schwierige Situation gebracht. Es bezweifelte, dass das Politbüro über die Vorgänge in der DDR informiert sei, wenn dort alles auf die NATO geschoben werde. Da der Sozialismus und „die führende Rolle der Partei“ „niemals über Bord gehen“ dürften, müsse von der SED eine Erneuerung ausgehen, „und nicht von denen auf der Straße oder in der Kirche“. Es gehe nicht „um ein bisschen mehr sozialistische Demokratie“, sondern „um eine neue Qualität ihrer Entwicklung im Lenin’schen Sinne“. Außerdem müsse sehr schnell gehandelt werden, „wenn wir nicht alles, was wir geschaffen haben, aufs Spiel 115 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 11.10.1989; Ausgabe Zittau, vom 11. und 12.10.1989; Ausgabe Sebnitz, vom 10.10.1989; Ausgabe Pirna, vom 11. und 13.10.1989. 116 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 11.10.1989. 117 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 11.10.1989. 118 Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 10.10.1989. 119 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 11.10.1989. 120 Ebd., vom 13.10.1989. 121 Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 10.10.1989. 122 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13.10.1989. 123 Modrow, Aufbruch und Ende, S. 18.

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setzen wollen“.124 Statt militärischer müssten politische Lösungen gefunden werden. Die SED - Führung habe versagt. Honecker warf ihm daraufhin vor, „eine gegen die Parteiführung gerichtete politische Plattform“ zu vertreten.125 In der Diskussion lobte der Chef der Politischen Hauptver waltung der NVA, Horst Brünner, die Haltung Modrows. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung des MfS, Felber, bestätigte den Ernst der Lage.126 Neben Modrow äußerten sich auch Chemnitzer ( Neubrandenburg ), Lorenz ( Karl - Marx - Stadt ), Walde ( Cottbus ) und Jahn ( Potsdam ) kritisch und berichteten über die Verschlechterung der Stimmung. Jahn forderte Honecker zum Rücktritt auf.127 In seinem Bezirk könne von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Partei und Volk keine Rede mehr sein.128 Demgegenüber traten Albrecht ( Suhl ) und Ziegenhahn ( Gera ) durch die „übliche Phraseologie“ und eine „bestürzende politische Ahnungslosigkeit“ hervor.129 Reaktionen der SED - Basis Unter den SED - Mitgliedern fand die vordergründige Art der Machtsicherung wenig Befürworter. Zwar wurde begrüßt, dass es überhaupt eine Erklärung gab, aber viele Mitglieder lehnten deren Inhalt samt Dialogbeschluss ab und stellten die Reformfähigkeit der Führung in Frage. Die Erklärung, so hieß es, sei lediglich unter dem Druck der Ereignisse abgegeben worden, käme zu spät und sei viel zu wenig konkret fassbar, um mobilisierend zu wirken. Auch wäre es besser gewesen, wenn sie statt vom Nachrichtensprecher von einem Mitglied des Politbüros vorgetragen worden wäre.130 Überall in der SED war der Vorwurf zu hören, die Führung habe nicht auf die Krise reagiert und so „schweren Schaden für die SED und die DDR herbeigeführt“.131 Das Vertrauensverhältnis zwischen Parteiführung und den Grundorganisationen sei „stark angegriffen“.132

124 Redemanuskript Hans Modrows für die Beratung der 1. Bezirkssekretäre der SED mit Erich Honecker am 12.10.1989 ( SächsHStA, SED Dresden, 13218). Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 94. 125 Vgl. Letztes Wort Hans Modrows vor der 4. Strafkammer Dresden am 11.12.1996, Mitschrift d. A., S. 2 f. ( HAIT, Modrow - Prozess 1996); Modrow, Aufstieg und Ende, S. 19. 126 Anleitung aller 1. Kreissekretäre, der Stadtleitung, der Stadtbezirksleitungen und Vorsitzenden der RdK, beim 1. Sekretär der SED - BL Dresden am 14.10.1989, ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10717, Bl. 1–7). 127 Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 37; Schabowski, Der Absturz, S. 256. Nach Modrow, Aufstieg und Ende, S. 19, hatte er die Forderung nach Absetzung mit Chemnitzer bereits besprochen. 128 Vgl. Info des 1. Sekretärs der SED - BL, Günther Jahn, am 13.10.1989 vor leitenden Kadern des Bezirkes. In : Meinel / Wernicke, Mit tschekistischem Gruß, S. 158–160. 129 Schabowski, Das Politbüro, S. 95; ders., Der Absturz, S. 256. 130 SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 131 Vgl. MfS, ZAIG vom 16.10.1989 : Reaktionen ( BStU, ZAIG 7388, Bl. 32–34). 132 SED - KL Bischofswerda vom 16.10.1989 : Info ( SächsHStA,SED - BL Dresden, 13551).

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So traf die Erklärung zwar auf eine kritische Grundstimmung,133 erste Reaktionen zeigten aber auch, dass die Überwindung der „Sprachlosigkeit der Parteiführung“ doch positiv bewertet wurde.134 Einige Kreisleitungen meldeten „abstrichlose Zustimmung“, höchstens verbunden mit der Frage, warum die Erklärung so spät erfolge,135 und mit der Befürchtung, dass Krenz es allein nicht schaffe.136 Vielerorts wurde die Zustimmung mit Erklärungen verbunden, man werde „nicht an unseren Grundprinzipien rütteln“ lassen und den Sozialismus weiter „unter unseren Bedingungen“ entwickeln und nicht „wie es die BRD gern möchte“.137 In Sachsen schöpften vor allem „progressive Werktätige“ aus den Worten von Krenz neue Hoffnungen und meinten, die Führung habe damit bewiesen, „dass sie in der Lage lebt“. Bei einem Meeting des Generaldirektors des VEB Kombinat Oberbekleidung Lößnitz ( Aue ) hieß es sogar, jeder könne nun erkennen, wie ernst es der Parteiführung mit Reformen sei. Wer das jetzt immer noch nicht begreife, „müsse eben gezwungen werden“.138 Auch im Kreis Brand - Erbisdorf meinten SED - Mitglieder, die Erklärung komme zu spät, trage aber immerhin zur Beruhigung bei.139 In der Erklärung, so Mitglieder in Freiberg, ginge es um die Probleme, welche die Menschen „echt bewegen“. Endlich würden Perspektiven für die Erneuerung des Sozialismus aufgezeigt. Meist verbanden aber auch SED - Mitglieder ihre Bewertungen mit Forderungen nach schnellen Veränderungen beim Warenangebot und Reisen. Unterschwellig kam zudem selbst bei ihnen „die Besorgnis zum Ausdruck, dass auf dem jetzigen eingeschlagenen Weg stehen geblieben wird und man nach der Beruhigung in das ‚Alte‘ zurückfällt“.140 Verbreitet gab es die Sorge, dass angesichts der fehlenden Orientierung durch die SED - Führung die Einheitlichkeit der Partei gefährdet sei. In den Kreisleitungen legte man deshalb Wert auf eine „einheitliche Formierung aller Parteikräfte“.141 Es könne nicht sein, so die Kreisleitung Bischofswerda, „dass jeder Kreis und jede GO ihre Leitlinien aufmachen“.142 So ordnete auch die SED - Bezirksleitung Leipzig an, „bei den Kommunisten feste politische Standpunkte und kämpferische Haltungen für ihr einheitliches Auf-

133 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( ebd., 13550); KDfS Auerbach vom 13.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 53–56). 134 BVfS Leipzig, Abt. XX vom 12./13.10.1989 : Zusammenfassung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839). 135 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 104–114). 136 Vgl. KDfS Geithain vom 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 31–34). 137 SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 15.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 120–122). 138 KDfS Aue vom 12.10.1989 : Berichterstattung ( ebd. 531, 1, Bl. 96 f.). 139 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 15.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 120–122). 140 KDfS Freiberg vom 13.10.1989 : Lageeinschätzung ( ebd. 533, 1, Bl. 51–53). 141 SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 142 SED - KL Bischofswerda vom 16.10.1989 : Info ( ebd., 13551).

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treten auszuprägen“.143 Hier aber zeigte sich bereits seit Längerem eine Polarisierung in drei Strömungen : ideologische Hardliner, pragmatische Reformer und Mitläufer. Die erste Gruppe zeigte Sorge um den Fortbestand des Sozialismus und gab weiterhin dem Westen die Schuld an der Krise.144 In Annaberg begrüßten „progressive Kräfte“ das harte Durchgreifen der Sicherheitskräfte. „Man müsse“, so hieß es hier, „zeigen, dass die Macht der Arbeiterklasse nicht angetastet werden darf.“145 Auch im Kreis Flöha forderten „politisch positive Personen“ ein „rigoroses Durchgreifen bei Demonstrationen“.146 Bei künftigen Vorkommnissen, so SED - Mitglieder aus Rochlitz, sollte auch „mit Waffengewalt aufgewartet werden“.147 Bei den Befürwortern einer Gewaltanwendung ist eine nachträgliche Unterscheidung in ideologische Überzeugungstäter und pathologische Gewaltbefürworter kaum mehr möglich. Den Ewiggestrigen standen Reformkommunisten gegenüber, die sich, wie z. B. die Partei - und Gewerkschaftsleitung im Metallleichtbaukombinat Plauen, mit den Demonstranten solidarisierten.148 Diese Richtung war es auch, die eine bessere Medienarbeit im Sinne von Glasnost149 und eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Neuen Forum forderte.150 Ganz im Sinne Modrows verlangten sie von der Parteiführung, schnellstens Konzepte zu erarbeiten, „um die Verhältnisse in unserem Staat so zu gestalten, dass ihn niemand mehr verlassen will“.151 Dazu gehörten die Einführung des Leistungsprinzips, Entscheidungsfreiheit in der Wirtschaft und Reisemöglichkeiten.152 Vertreter beider Richtungen aber standen angesichts der Wucht der Kritik aufgebrachter Kollegen der Situation „hilf los gegenüber“ und hatten „keine Argumente“, mit denen sie „in die Kollektive gehen“ konnten. Sie fühlten sich „von der Parteiführung im Stich gelassen“153 und bemängelten, dass kaum Funktionäre in den Betrieben zu 143 SED - BL Leipzig vom 17.10.1989 : Information, Entwurf ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 52 f.). 144 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); SED - KL Sebnitz vom 11.10.1989 : Info ( ebd., SED - KL Sebnitz, IV / E/4/14/ 060). 145 KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 63–69). 146 KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 101–105). 147 KDfS Rochlitz vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd. 541, 2, Bl. 128). 148 Vgl. KDfS Plauen vom 11.10.1989 : Solidarisierung mit „Demonstranten“ ( ebd. 3078, 1, Bl. 61). 149 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550); SED - KL Sebnitz vom 11.10.1989 : Info ( ebd., SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/ 060); KDfS Plauen vom 17.10.1989 : Informationen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 1 f.); KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 101–105). 150 Vgl. SED - BL Leipzig vom 12.10.1989 : Reaktionen ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 95–98); KDfS Glauchau vom 11.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 37–39). 151 SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 152 Vgl. KDfS Plauen vom 17.10.1989 : Informationen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 1 f.). 153 KDfS Glauchau vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 37–39).

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sehen waren.154 Bei den meisten war denn auch „die Verantwortung zur eigenen offensiven politisch - ideologischen Arbeit [...] nicht im erforderlichen Maße ausgeprägt“,155 und es mehrten sich die „Anzeichen von passivem Verhalten“.156 Zur dritten Gruppe gehörten all jene „Mitläufer in der Partei“,157 die der SED ohne besondere ideologische Überzeugung und nur unter dem Zwang der Verhältnisse beigetreten waren. Sie verließen nun das sinkende Boot. Aus Angst, dass die Ausschreitungen weitergingen und sich die Verhältnisse änderten, so die Glauchauer MfS - Kreisdienststelle, würden viele aus dem FDGB, der FDJ und der SED austreten, „um später wegen der Mitgliedschaft [...] nicht zur Verantwortung gezogen zu werden“.158 So stieg die Zahl der Austritte täglich.159 In einer Situation, wo in Betrieben wie dem VEB Press - und Schmiedewerke Brand- Erbisdorf der FDJ - Sekretär als „Kommunistenschwein“ tituliert und auch der Parteisekretär „hinter dem Rücken beschimpft“ wurde, lagen die Gründe für einen Rückzug aus der nur vermeintlichen „Avantgarde des Proletariats“ auf der Hand.160 Reaktionen der Bevölkerung Die mit Abstand meisten Stellungnahmen aus den Reihen der Bevölkerung, die nicht der SED angehörten, waren skeptisch bis ablehnend. Die Erklärung wurde als „Sieg der Opposition“ bezeichnet, „da es ohne Druckausübung keine Dialogbereitschaft der SED gegeben hätte“.161 Die SED habe damit nur dem Druck von unten nachgegeben. Jahrelang habe die Führung auf Probleme nicht reagiert. Jetzt, da „die Situation brenzlig“ sei, mache man „dem Volk Angebote“.162 So wurde zwar der Wille zum Dialog begrüßt, aber schon die angekündigte Form163 und die ernsthafte Bereitschaft zu „positiven Veränderungen“ angezweifelt.164 So müsse der „Dialog mit allen Kräften und Gruppen geführt und 154 Vgl. KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 101–105). 155 SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 156 KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 101– 105). 157 SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 158 KDfS Glauchau vom 11.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 37–39). 159 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); SED - KL Delitzsch vom 11.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). 160 KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 104–114). 161 KDfS Brand - Erbisdorf vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd. 1807, Bl. 134–137). 162 KDfS Geithain vom 17./18.10.1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain). 163 Vgl. BVfS Leipzig, Abt. XX vom 12./13.10.1989 : Zusammenfassung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839); KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 108–110). 164 KDfS Brand - Erbisdorf vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 134–137).

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niemand ausgeschlossen werden“.165 Die Erklärung sei „zu unkonkret“,166 komme zu spät,167 habe „wenig Substanz“168 und sei „nichtssagend und allgemein“.169 Sie sei zwar ein guter Anfang, jedoch „ohne jegliche Selbstkritik“.170 Es seien schon oft Erklärungen abgegeben worden, geändert habe sich nichts.171 Solche Erklärungen dienten nur der „Vertröstung der Massen“.172 Früher oder später werde es im alten Trott weitergehen.173 Dennoch führte die Erklärung kurzzeitig zu einer Beruhigung,174 wenngleich bezweifelt wurde, dass sich die Lage wirklich entspanne. Häufig wurde die Meinung geäußert, statt zu reden sollte endlich gehandelt werden, der Erklärung müssten direkt Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation folgen,175 das allgemeine „Gelaber“, so Beschäftigte des VEB Robotron Elektroschaltgeräte Auerbach, sei „nicht mehr anzuhören“.176 Deutlich war der Wunsch erkennbar, wieder mehr mitentscheiden zu können. Endlich sollten „Hinweise und Vorschläge der Werktätigen öffentlich diskutiert werden“.177 Es würden Vorschläge unterbreitet, wie Probleme zu lösen seien.178 In der Wirtschaft müsse man „mit Schluderei Schluss“ machen und das Leistungsprinzip durchsetzen.179 Leider aber sei die Meinung der Arbeiter und ihre „aktive Teilnahme an der Planung und Leitung der Volkswirtschaft nicht mehr gefragt“.180 In kirchlichen Kreisen überwogen skeptischere Töne. Hier galt die Erklärung als „Beruhigungspille“.181 Angehörige des Ordinariats des Bistums Dresden Meißen bezeichneten die Erklärung am 15. Oktober als „Hinhaltetaktik der Par165 KDfS Freital vom 12.10.1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 489 f.). 166 BVfS Leipzig, XX vom 12./13.10.1989 : Zusammenfassung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839). 167 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 16.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 168 KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 114–118). 169 KDfS Plauen vom 13.10.1989 : Info ( ebd. 540, 2, Bl. 3–6). 170 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 177–181). 171 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 16.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 172 KDfS Plauen vom 13.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 3–6). 173 KDfS Zwickau vom 15.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 124–128). 174 Vgl. KDfS Hainichen vom 13.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 62–67); KDfS Flöha vom 16.10.1989 : Reaktion ( ebd., 3078, 2, Bl. 147–151). 175 Vgl. BVfS Leipzig, XX vom 12./13.10.1989 : Zusammenfassung ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839); KDfS Zwickau vom 16.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1, Bl. 133–136); KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 108– 110); KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114); KDfS Zwickau vom 16.10.1989 : Lage ( ebd. 1823, 1, Bl. 133–136); KDfS Hainichen vom 13.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 62–67); BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info (BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 177–179). 176 KDfS Auerbach vom 12.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 57– 60). 177 KDfS Hainichen vom 16.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 105–111). 178 Vgl. KDfS Hainichen vom 13.10.1989 : Lage ( ebd., Bl. 62–67). 179 KDfS Aue vom 18.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 80–83). 180 KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 108–110). 181 KDfS Annaberg vom 11.10.1989 : Reaktionen ( ebd. 529, 1, Bl. 61 f.).

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tei gegenüber dem Volk“ und „Schönfärberei“.182 In einem Hirtenbrief wandte sich der katholische Bischof von Dresden - Meißen, Joachim Reichelt, am 16. Oktober an die Gläubigen und forderte einen „wahren Dialog und wirkliche Veränderungen“. Dialog könne nur bedeuten, dass beide Seiten gleichberechtigt seien. Für die Christen sei es jetzt an der Zeit, grundlegende Veränderungen zu verlangen. Dazu gehörten die Öffnung der Grenzen, gesellschaftliche Pluralität, freie Wahlen, objektive Information in den Medien, effektivere Wirtschaftsstrukturen und das Recht der Eltern, darüber zu bestimmen, wie ihre Kinder erzogen werden.183 Der Hirtenbrief wurde am 22. Oktober verlesen.184 Ambivalent und kompromissorientiert war die Reaktion des Neuen Forums in Berlin. Hier begrüßte man die Erklärung als „erstes Zeichen, sich mit den angestauten und tiefgreifenden Problemen der Gesellschaft auseinanderzusetzen“. Nach Freilassung aller politischen Gefangenen müsse nun ein „echter Dialog“ auf Grundlage der Anerkennung der führenden Rolle der SED und der Eigenstaatlichkeit der DDR erfolgen. Gefordert wurde zugleich die Zulassung des Neuen Forums und aller anderen Basisgruppen, Parteien und Bürgerinitiativen, ihr Zugang zu den Medien sowie Presse - , Versammlungs - und Demonstrationsfreiheit.185 Andere Berliner Bürgergruppen warnten davor, die Erklärung im Sinne eines Umdenkens der SED - Führung zu bewerten. Wie das Neue Forum forderten sie als Beweis zunächst die Freilassung politischer Gefangener, eine Anerkennung demokratischer Bürgerinitiativen und einen Dialog, der alle Formen der demokratischen Meinungsäußerung einschließt.186 Die Bundesregierung meinte zur Erklärung, die SED - Führung bekräftige nur „die bekannten dogmatischen Positionen“ und biete „Steine statt Brot“. Dem Ruf nach Demokratie werde der „unbedingte Führungsanspruch der SED entgegengesetzt“.187 Die Kritiken an der Erklärung verbanden sich in der Bevölkerung mit allgemeinen Äußerungen zur Lage. Hauptkritikpunkt war weiterhin die unzureichende Versorgung.188 Als es am 10. Oktober um 17.00 Uhr in der HO - Kaufhalle Flöha wieder einmal kein Brot mehr gab, kam es durch mehrere Frauen zur „spontanen, zum Teil relativ laut vorgebrachten Unmutsäußerung“.189 Kritisiert 182 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 177 und 180). 183 Hoffnung auf wirkliche Veränderungen. Hirtenbrief des Bischofs von Dresden - Meißen, Joachim Reichelt, vom 16.10.1989. In : St. Hedwigsblatt vom 29.10.1989. 184 Vgl. KDfS Annaberg : Gottesdienst in Annaberg - Buchholz am 23.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 77 f.); KDfS Schwarzenberg vom 24.10.1989 : Gottesdienst der röm. - kathol. Kirche Schwarzenberg am 22.10.1989 ( ebd., AKG 1818, Bl. 10 f.). 185 Stellungnahme des Neuen Forums, o. D. ( MDA, Neues Forum ). 186 Gruppe Gegenstimmen, Friedenskreis Friedrichsfelde, Kirche von Unten – Berliner Gruppe, Umweltbibliothek Berlin, Friedenskreis Weißensee : Erklärung vom 12.10.1989 (MDA, Wende IV ). 187 Informationen des BMB 19 vom 20.10.1989, S. 4. 188 Vgl. BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 177, 179); KDfS Annaberg vom 12. und 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 57–60 und AKG 529, 1, Bl. 55 f.); KDfS Brand - Erbisdorf vom 13. und 14.10.1989: Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114 und 1807, Bl. 108–110); KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 114–118). 189 KDfS Flöha vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 97–100).

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wurden immer wieder auch die Berichterstattung der Medien und fehlende Informationen über das Neue Forum.190 Angesichts der verlogenen Informationspolitik unterliege auch die Führung selbst „seit Jahren einer Fehleinschätzung in der Bewusstseinsbildung der Bevölkerung“.191 Kritikpunkt war weiterhin die „Schluderei in den Betrieben“.192 In der Wirtschaft müsse es gravierende Änderungen geben, ebenso in der Verwaltung und im Gesundheitswesen. Hier würden sich die Privilegien der Funktionäre besonders deutlich zeigen.193 Nach wie vor wurde heftig über die Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs in die ČSSR diskutiert und diese „zunehmend abgelehnt“.194 Allgemein verbreiteter Wunsch waren „Reisemöglichkeiten in alle Länder“.195 Vor allem mit Blick auf die Feriengestaltung 1990 gab es Verärgerung. Schon jetzt würden Ferienplätze fehlen.196 Deshalb häuften sich Austritte aus dem FDGB und der SED. Die Vorsitzende des Ortsausschusses der Nationalen Front von Cämmerswalde erklärte lautstark : „Kann es uns denn noch schlechter gehen, wir sind doch bloß noch von Stacheldraht umgeben.“197 Zunehmend steigerte die Verärgerung die Bereitschaft zu Protestaktionen. Aus Zwickau meldete das MfS Äußerungen wie : „Wir lassen uns nicht einmauern“. Man werde bis zum Äußersten gehen und schrecke auch vor Demonstrationen nicht zurück.198 Immer häufiger wurde die DDR als „Gefängnis, umgeben von Stacheldraht“ und als „Polizeistaat“ bezeichnet.199 „Wer“, so Einwohner von Zethau ( Brand Erbisdorf ) „offen seine Meinung äußere, würde eingesperrt oder niedergeknüppelt“.200 Im VEB Robotron Elektroschaltgeräte Auerbach hieß es, „das ist ja keine Volkspolizei, die knüppeln das Volk zusammen“.201 Die Volkspolizei gehe, so Stimmen aus Brand - Erbisdorf, „unmenschlich gegen Demonstranten“ vor. Es

190 SED - KL Kamenz vom 16.10.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); KDfS Annaberg vom 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 55 f.); KDfS Brand - Erbisdorf vom 13. und 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114 und 1807, Bl. 108–110); KDfS Flöha vom 16.10.1989 : Reaktion ( ebd. 3078, 2, Bl. 147– 151); KDfS Reichenbach vom 12.10.1989 : Lage ( ebd. 541, 1, Bl. 51–56). 191 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 72–77). 192 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 177, 179). 193 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 177, 179); KDfS Annaberg vom 14.10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 55 f.); KDfS Auerbach vom 12.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 57–60). 194 KDfS Görlitz vom 12.10.1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10989, Bl. 1–6). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 104–114); KDfS Flöha vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd., 2, Bl. 97–100). 195 KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd., AKG 1807, Bl. 108–110). 196 SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 197 KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 104–114). 198 KDfS Zwickau vom 13.10.1989 : Lage ( ebd. 3078, 2, Bl. 137–142). 199 KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114). 200 KDfS Brand - Erbisdorf vom 12.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 134–137). 201 KDfS Auerbach vom 12.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 57–60).

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gab aber auch Zustimmung zu den Maßnahmen von MfS und Volkspolizei.202 Ältere Mitarbeiter des VEB Kraftverkehr Annaberg erklärten, 1953 habe man „mit dem Pack anders aufgeräumt, solche Leute gehören in Arbeitslager“.203 Arbeiter des VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf und des VEB Verbundnetz Gas in Sayda meinten, „dass Rowdys und Randalierer in Haft gehören“.204 Ein großer Teil der Bevölkerung stand den Demonstrationen ablehnend bis gleichgültig gegenüber und reagierte nur sensibel „auf Mängel und Missstände, die sich negativ auf die private und beruf liche Sphäre auswirken“.205 Volksvertretungen In den aus den gefälschten „Kommunalwahlen“ her vorgegangenen kommunalen „Volksvertretungen“ gab es bis Mitte Oktober so gut wie keine kritischen Debatten. Die Wahl von Krenz wurde hier ebenso begrüßt wie man zuvor Honecker zugejubelt hatte. Die Abgeordneten fast aller Parteien und Massenorganisationen erwiesen sich als bessere Stützen des Regimes als viele SED - Mitglieder. Nur vereinzelt kam es hier seit Ende September zu kritischen Debatten. So gab es auf einer öffentlichen Stadtratssitzung in Freital im September 1989 lautstarke Proteste.206 In der Stadtverordnetenversammlung von Zwönitz ( Aue ) kritisierte die 2. Bürgermeisterin am 20. September unter Protesten vieler Abgeordneter die Partei - und Staatsführung wegen der Informationspolitik und dem Verschweigen der wahren Ursachen der Fluchtwelle.207 Bei einer Abgeordnetenschulung des Kreistages Stollberg am 28. September forderte ein Abgeordneter der LDPD die Zulassung des Neuen Forums.208 In der Stadtverordnetenversammlung Altenburg erklärte ein LDPD - Abgeordneter am 12. Oktober, er sei stolz, den Aufruf des Neuen Forums unterschrieben zu haben. Ein anderer LDPD - Abgeordneter erklärte, seine Partei unterstütze die Ziele des Neuen Forums.209

202 203 204 205 206 207 208

Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114). KDfS Annaberg vom 16.10.1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 52–54). KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 108–110). KDfS Flöha vom 14.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 87–90). Vgl. Freital, o. D. ( HAIT, StKa ). Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). Vgl. KDfS Stollberg vom 11.10.1989 : Das Verhalten von Abgeordneten des Kreistages ( BStU, ASt. Chemnitz, KDfS Stollberg, Bl. 132–134). 209 Vgl. RdB Altenburg vom 12.10.1989 : Qualifizierung neuer Abgeordneter StVV ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1148).

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2.2

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Blockparteien

In den Blockparteien war die Stimmung ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung. Auf Kritik stießen z. B. die Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, die Einschränkung der Reisefreiheit und die Funktionärsprivilegien.210 Im Kreis Rochlitz lavierten die Vorsitzenden der Blockparteien. Sie wollten sich „den politischen Anforderungen der gegenwärtigen Zeit stellen und tatkräftig an der Lösung der bevorstehenden Aufgaben mitwirken“.211 Das hieß alles und nichts. In Bautzen gab es, verbunden mit den Kritiken an Versorgung und Reisen, Übereinstimmung, dass „jeder entsprechend seiner Spezifik Verantwortung bei neuen Anforderungen übernehmen, neue Lösungen herausarbeiten und neue Wege gehen muss“.212 Die Leipziger Bezirksver waltung des MfS konstatierte aber nicht nur solche das System nicht in Frage stellenden Forderungen, sondern eine Zunahme der Forderungen nach Demokratie und realem Mitspracherecht und die Forderung, von der „Vormundschaft durch die SED“ abzugehen.213 Mitten in den Machtauseinandersetzungen an der SED - Spitze empfing Honecker am 13. Oktober die Vorsitzenden der Blockparteien und den Präsidenten des Nationalrats der Nationalen Front. Er forderte, im Block dürfe kein Eindruck von Zweigleisigkeit entstehen. In Zukunft werde die Nationale Front eine größere Rolle spielen. In der Volkskammer werde die SED den Blockparteien künftig Anfragen und Antworten erlauben. Entscheidend sei bei künftigen Reformen, „am Sozialismus in der DDR nicht rütteln zu lassen“.214 Außer Gerlach stimmten alle Parteivorsteher den Ausführungen Honeckers uneingeschränkt zu. Einzig der LDPD - Vorsitzende kritisierte die Führungs - und Sprachlosigkeit der SED, forderte einen öffentlichen Dialog, Reisefreiheit, mehr Demokratie im politischen Leben, Änderungen im politischen Strafrecht und ein neues Wahlsystem.215 Noch am selben Tag traten in den Bezirken die „Demokratischen Blocks der Parteien und Massenorganisationen“ zusammen. Die Zwangsverbündeten betonten ihre „Gemeinsamkeit beim „Wirken für Kontinuität und Erneuerung“, erklärten, die „sozialistische Demokratie“ biete „alle erforderlichen Foren zum Dialog“ und lehnten Demonstrationen ab.216 Im nächsten Schritt traten überall die in der Nationalen Front zusammengefassten Blockparteien und Massenorganisationen auf Kreisebene zusammen, um den noch von Honecker verkündeten Kurs in Vorbereitung des XII. Parteitages der 210 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 12.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 134–137). 211 Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 10.10.1989. 212 KL - SED Bautzen vom 10.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13550). 213 BVfS Leipzig vom 11.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839). 214 Schabowski, Der Absturz, S. 258. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 287 f. 215 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 288–290; Interview mit dems. In : Der Spiegel vom 6.11.1989. 216 Erklärung des Demokratischen Blocks des Bezirkes Leipzig. In : Leipziger Volkszeitung vom 14./15.10.1989. Vgl. Sächsische Neueste Nachrichten, Ausgabe Dresden, vom 16.10.1989; Sächsisches Tageblatt vom 14./15.10.1989.

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SED mit Blockleben zu erfüllen. Überall war man sich einig, dass die Nationale Front die Plattform für den Dialog mit allen Schichten der Bevölkerung sei, die „Bündnispartner der SED“ künftig ihr Profil stärken müssten und man kein Neues Forum brauche. In dieser Situation gab es immer mehr Stimmen aus der Bevölkerung, die eine größere Rolle der Blockparteien forderten. Vor allem die Machtübernahme und Ämterhäufung durch Krenz provozierte die Frage nach der Rolle der Blockparteien und einer künftigen „Koalitionsregierung“ gleichberechtigter Partner.217 LDPD : Vorreiter bei Reformforderungen war auch weiterhin die LDPD. Am 10. Oktober druckte „Der Morgen“ ganzseitig Forderungen der LDPD - Basis nach Reformen ab.218 Am selben Tag wurden die Bezirksvorsitzenden der LDPD über den Kurs des Parteivorstandes instruiert. Dieser wurde „einmütig“ begrüßt. Gerlach erklärte hier, die LDPD müsse aktiver auftreten, da die SED ihre Führungskraft eingebüßt habe. Allerdings wolle die LDPD nicht die führende Rolle übernehmen. Das war nun auch der offizielle Kurs in den Bezirken. Bei einer Kreissekretärsberatung im Bezirksvorstand Dresden der LDPD am 11. Oktober war die Linie, künftig unter Führung der SED anstehende Probleme zu lösen. Die meisten Kreissekretäre sprachen sich gegen das Neue Forum und dagegen aus, von der LDPD als „Opposition“ zu sprechen. Zwischen den Parteien herrschte Klarheit, dass die Probleme nur gemeinsam gelöst werden könnten.219 Auch in Karl - Marx Stadt ging es beim Gespräch des Bezirksvorsitzenden Dietmar Schicke mit Parteimitgliedern und Abgeordneten nicht um eine Alternative zum Regime, sondern um „Notwendigkeiten und Möglichkeiten der vollen Ausschöpfung des Gesetzes über die örtlichen Volksvertretungen im Interesse des Bürgerwohls“. Ähnlich war die Lage in Leipzig.220 Noch war das Eis nur angetaut. Wie gefährlich kritische Äußerungen zu diesem Zeitpunkt noch waren, zeigte ein Vorgang im Kreis Rochlitz. Nachdem in der Gemeinde Hausdorf ein LDPD - Mitglied der stellvertretenden Bürgermeisterin seine Bedenken zur politischen Lage mitgeteilt und sie über das Neue Forum informiert hatte, wurden in Abstimmung mit den Räten des Kreises und des Bezirkes „geeignete Maßnahmen zur Disziplinierung“ gegen ihn eingeleitet.221 Solche Maßnahmen reichten vom Berufsverbot bis hin zur Zerstörung der sozialen Kontakte. Umso höher sind Aktivitäten an der LDPD - Basis zu bewerten, die bereits über die Reformforderungen des LDPD - Vorstandes an der Seite der SED hinausgingen. So unterzeichnete die Ortsgruppe Auerbach am 11. Oktober eine Resolution gegen das SED - Machtmonopol und die Wahl von Krenz. Sie wurde später von allen Ortsgruppen des Kreises unterzeichnet und an die Regierung 217 KDfS Schwarzenberg vom 20.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1, Bl. 26–31); KDfS Freiberg vom 20.10.1989 ( ebd. 533, 1, Bl. 39 f.). 218 Vgl. Marcowitz, Der schwierige Weg, S. 14. 219 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Tagesinformation ( BStU, Ast Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 43–49). Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 285–287. 220 Sächsisches Tageblatt vom 12. und 13.10.1989. 221 KDfS Rochlitz vom 11.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1).

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geschickt.222 In Reichenbach forderten der Kreissekretär und der Kreisvorsitzende der LDPD per Flugblatt auf, sich an Demonstrationen in Plauen zu beteiligen.223 Im Kreis Altenburg erklärten LDPD - Mitglieder in der Kampfgruppe, nicht gegen Arbeiter aufzutreten und das Neue Forum zu unterstützen.224 Auch Mitglieder des Freiberger Kreisvorstandes der LDPD sprachen sich für eine Zulassung des Neuen Forums aus.225 In Cossebaude ( Dresden - Land ) brachte ein LDPD - Abgeordneter in der Gemeindevertretung einen Beschlussentwurf der Ziele des Neuen Forums ein, der von den Gemeindevertretern zurückgewiesen wurde.226 In der Lunzenauer LDPD ( Rochlitz ) gab es Widerspruch zur Äußerung Gerlachs, die LDPD stehe fest zur SED. Hier orientierte man bereits auf eine mögliche Wiedervereinigung beider deutscher Staaten.227 Gerlach sprach sich am 13. Oktober öffentlich für einen „demokratischen Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte“ unter Einbeziehung von Bürgerbewegungen aus, die „in Übereinstimmung mit der Verfassung am Dialog teilnehmen wollen“. Gerlach erklärte, „dass keine Partei im Sozialismus a priori, schon kraft ihrer Existenz und ihres Wirkens, die politische Wahrheit für sich“ habe.228 Der Politische Ausschuss des Zentralvorstandes der LDPD erklärte am 17. Oktober seine Bereitschaft zur Flexibilisierung der Politik, bekannte sich aber deutlich zur Blockpolitik und zur führenden Rolle der SED. Allerdings sollten die Bürgerbewegungen in den gesellschaftlichen Dialog einbezogen werden.229 Allen „Versuchen des Imperialismus der BRD, den Sozialismus in der DDR aus den Angeln zu heben“, sollte, so Gerlach, „eine entschiedene Abfuhr“ erteilt werden. Die SED sollte sich bemühen, ihre führende Rolle „beständig überzeugend wahrzunehmen und auf politischem Wege zu verwirklichen, ohne Administration und ohne Übernahme staatlicher Aufgaben“. Gerlach nannte das Mehrparteiensystem die „politische Grundlage des Sozialismus“ und plädierte dafür, es stärker als bisher zu nutzen.230 Am 21. Oktober verbreitete die LDPD eine Erklärung, in der sie die SED aufforderte, das Neue Forum offiziell anzuerkennen. Die LDPD sei bereit, dessen Mitglieder aufzunehmen und auf eigenen Listen kandidieren zu lassen. Das Neue Forum bedankte sich, betonte jedoch seine Eigenständigkeit. Einige Mitglieder wiesen das Angebot als unangemessenen 222 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 120. 223 Vgl. KDfS Reichenbach vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 221). 224 Vgl. SED - KL Altenburg vom 15.10.1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 114). 225 Vgl. KDfS Freiberg vom 16.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 49 f.). 226 Vgl. BVfS Dresden vom 23.–24.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 131– 134). 227 Vgl. KDfS Rochlitz vom 12.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 5). 228 Der Morgen vom 13.10.1989. 229 Vgl. Der Morgen vom 18.10.1989. 230 Der Morgen vom 18.10.1989.

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Vereinnahmungs - und Profilierungsversuch der Blockpartei zurück.231 In Falkenstein ( Auerbach ) äußerten Parteimitglieder und Parteilose die Hoffnung, die LDPD werde „eine Art Oppositionsrolle“ übernehmen. Hier gab es Aktivitäten, die Kontakte zum Neuen Forum auszubauen. Bei einer Sitzung des Sekretariats des LDPD - Kreisvorstandes Auerbach unter Leitung des Kreisvorsitzenden Wolfgang Doss gab dieser am 23. Oktober als neue Richtlinie heraus, die LDPD müsse „sich sukzessive auf eine Art Oppositionskurs“ begeben.232 Auch bei einer Versammlung der LDPD des Karl - Marx - Städter Stadtbezirks West mit 120 Personen wurden politische Grundrechte und Reisefreiheit gefordert233 und die SED - Herrschaft damit grundsätzlich in Frage gestellt. CDU : Am 10. Oktober erschien in der Dresdner CDU - Zeitung „Die Union“ ein Artikel der Redakteurin Uta Dittmann unter dem Titel : „Es ist möglich, miteinander zu reden.“ Am 11. Oktober setzte sich auch das CDU - Zentralorgan „Neue Zeit“ über die üblichen Regeln der Berichterstattung hinweg, verkürzte eine ADN - Meldung über die Unruhen am 10. Oktober und setzte den eigenen Bericht im Konjunktiv fort.234 Was nach westlichen Maßstäben lapidar schien, hatte in der DDR erhebliche Bedeutung. Auch der Hauptvorstand befasste sich nun intensiver mit dem Aufbruch an der Basis. In einer internen Analyse hieß es, alle Hoffnungen auf einen eigenständigen Beitrag der CDU seien enttäuscht worden, es gebe keine Antworten auf die Fragen der Bevölkerung und die Zahl der Austritte nehme schnell zu. Überall gebe es Zustimmung zum „Brief aus Weimar“ und Proteste gegen die Haltung des Hauptvorstandes. Gefordert werde die Herausarbeitung eines eigenen Standpunktes der CDU, realistische Medienberichte, die Anerkennung der Mündigkeit der Bürger sowie die Beseitigung von Bevormundung und Manipulierung der öffentlichen Meinung.235 Erst nachdem die SED ab dem 11. Oktober offiziell auf Dialogpolitik umschwenkte und im ganzen Land offizielle Wende - Erklärungen abgegeben wurden, zeigte auch der Hauptvorstand der CDU gemäß den Vorgaben der SED Bewegung. Götting nannte den „Brief aus Weimar“ am 12. Oktober plötzlich einen „Anstoß“, durch den die CDU „ihr Profil als politische Partei von Christen unverwechselbar“ zeige.236 Während sich der Hauptvorstand kaum bewegte, setzte sich die Ausdifferenzierung in den sächsischen Kreisen fort. Der CDU - Kreisvorstand Görlitz dachte am 11. Oktober über „unzeitgemäße Arbeitspraktiken“ nach. Nötig sei eine reale Einschätzung der Situation als „Ausgangspunkt neuer Aktivitäten“.237 Im 231 Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 41. 232 KDfS Auerbach vom 1.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 14– 18). 233 Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 43). 234 Vgl. Holzweissig, DDR - Presse im Aufbruch, S. 226. 235 Sekretariat der HV der CDU vom 10.10.1989 : Meinungsbildung der CDU - Mitglieder (ACDP, VII - 010–3529). 236 Gerald Götting, Unsere Verantwortung. In : Neue Zeit vom 12.10.1989. 237 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 14./15.10.1989.

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Kreis Brand - Erbisdorf forderten Mitglieder eine Stellungnahme des Hauptvorstandes „hinsichtlich eines selbstständigen Beitrages“ der CDU „unabhängig von der SED“ und „als Oppositionspartei“. Wegen der Haltung Göttings drohten etliche Mitglieder mit einem Wechsel in die LDPD.238 Eher auf SED - Linie lag der Vorsitzende des CDU - Kreisvorstandes Annaberg, Günter Richter. Er begrüßte die Erklärung von Krenz und meinte, nur ein Dialog „zur Weiterentwicklung und Vervollkommnung des Sozialismus in der DDR und der Beseitigung der Mängel und Schwächen könne auch viele Mitläufer bei Demonstrationen auf die richtige Seite ziehen“. „Rowdys und Mütter“ aber, „die ihre Kinder auf die Schienen setzen, müsse die ganze Härte des Gesetzes treffen“.239 Während vor allem der CDU - Bezirksvorstand Dresden unter Herbert Dreßler lange die Linie Göttings vertrat, forderte der Karl - Marx - Städter CDU - Bezirksvorsitzende Klaus Reichenbach Mitte Oktober Götting zum Rücktritt auf. Unter dem Druck entsprechender Forderungen aus fast allen Kreisverbänden gab er seine systemstützende Haltung auf und mobilisierte Unterschriftensammlungen zugunsten eines Sonderparteitages.240 Am 16. Oktober tagte das Präsidium des Hauptvorstandes der CDU mit den Bezirkssekretären. Auch bei diesem Treffen änderte Götting seine Haltung nicht. Die Bezirksvorsitzenden von Karl - Marx - Stadt und Schwerin, Klaus Reichenbach und Lothar Moritz, erklärten unter dem Beifall der Anwesenden, dass es in der CDU längst eine andere CDU gebe als die, die Götting noch zu führen meine. Götting verbot daraufhin jede Beifallskundgebung und prognostizierte, die Entwicklung werde sich durch den Einsatz sowjetischer Truppen bald wieder ändern.241 Dennoch übte das Präsidium des Hauptvorstandes angesichts der Forderungen der Bezirkssekretäre erstmals Selbstkritik. Man habe zu sehr auf Kontinuität gesetzt und Signale aus den eigenen Reihen nicht früh genug erkannt. Der Hauptvorstand schloss sich jetzt den allgemein erhobenen Forderungen nach Dialog, Reisefreiheit etc. an, erklärte aber zugleich, für die CDU sei „all das unverzichtbar [...], was zum Sozialismus in der DDR und zu seinen eigenen Zügen beigetragen“ habe.242 Nach der offiziellen Selbstkritik gaben nun nacheinander auch die meisten Bezirks - und Kreisvorstände der CDU offizielle Erklärungen ab, in denen sie sich der neuen Linie des Hauptvorstandes anschlossen oder aber bereits ihre zum Teil wesentlich weiter gehenden Forderungen formulierten.243 Immer wieder gab es, wie vom CDU - Kreisvor238 KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 108–110). 239 KDfS Annaberg vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 55 f.). 240 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 14 und 37). 241 Vgl. Horst Korbella, Die personelle und programmatische Erneuerung der CDU seit dem Sommer 1989. Bonn, den 25. 2.1991, S. 11 ( PB Michael Richter, Ost - CDU 2). 242 Neue Zeit vom 17.10.1989. 243 Sekretariat der HV der CDU vom 25.10.1989 : Vorschläge aus Briefen von Unionsfreunden und Ortsgruppen sowie Informationsberichten von Vorständen der CDU ( ACDP, VII - 0101–3529).

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stand Rochlitz, Misstrauensanträge gegen Götting.244 Die SED - Kreisleitung Altenburg kommentierte, in der CDU stünden die meisten Mitglieder „zu den 40 Jahren Entwicklung in der DDR“, es gebe aber auch „viele, die knieweich werden und Bauchkneifen haben“.245 NDPD : Mitte Oktober forderten immer mehr NDPD - Kreisverbände von der Parteiführung eine deutliche Stellungnahme zur innenpolitischen Entwicklung. Angesichts der zögerlichen Haltung nahm die Zahl der Austritte schnell zu.246 Dabei wurde die Machtübernahme durch Krenz z. B. bei einer Tagung des NDPD - Bezirksvorstandes Karl - Marx - Stadt am 18. Oktober, so der berichtende IM, „nicht begrüßt“. Mit Krenz sei ein „Mitläufer“ und „kranker Mann“ ans Ruder gekommen. Hier gab es „mehrfach Angriffe auf die zwei Hauptgrundsätze der NDPD, Akzeptieren der führenden Rolle der SED, Freundschaft zur SU“. Ähnlich sah die Lage in einigen Kreisorganisationen aus. Hier wartete man auf eine Stellungnahme des Präsidiums. Zur Information, dass das Präsidium die Erklärung des ZK der SED abwarte, hieß es, daran erkenne man „die Mitläuferrolle der NDPD bei der SED“. Insgesamt schätzte der IM die „Situation im Bezirksmaßstab als äußerst beunruhigend“ ein.247 Am 19. Oktober bestätigte das Präsidium des Hauptvorstandes der NDPD unter Leitung Heinrich Homanns noch einmal den bisherigen Kurs. In die Partei dürften keine Kräfte Eingang finden, die das verfassungsmäßige Fundament des Staates zu verändern trachten. Die NDPD setze sich für die weitere Stärkung des Sozialismus ein.248 Ganz in diesem Sinne meinte auch der Zittauer NDPD - Vorsitzende Reichel : „Wir sind eine Gemeinschaft, die zu unserem Staat gehört.“ Grundlage auch der künftigen Arbeit sei das „bewährte Bündnis“.249 Auch der Vorsitzende des NDPD - Kreisvorstandes Sebnitz, Gottfried Hoffmann, plädierte für die Mitarbeit der NDPD bei der „klugen Weiterführung und Verbesserung unserer Wirtschafts - und Sozialpolitik“. Das geschehe „in enger Zusammenarbeit mit der SED, den anderen Blockparteien und allen fortschrittlichen Kräften“.250 Im Kreis Aue distanzierten sich fast alle Mitglieder der NDPD - Ortsgruppe Zwönitz am 18. Oktober vom Neuen Forum und sprachen sich für die Führungsrolle der SED aus.251 NDPD - Kreissekretär Schindler rief dazu auf, innerhalb des Blocks einen „Schulterschluss“ herzustellen, um sich gemeinsam mit der außerparlamentarischen Opposition auseinanderzusetzen. Die NDPD sei eine staatstragende Partei und müsse nur besser die vorhandenen 244 KDfS Rochlitz vom 21.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 541, 2, Bl. 118 f.). 245 SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 135 f. 246 Vgl. NDPD - Bezirksvorstand Potsdam vom 18.10.1989 : Info 21/89 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, 587). 247 KDfS Klingenthal vom 19.10.1989 : IM - Bericht über die Tagung des NDPD - Bezirksvorstandes ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 7–8). 248 National - Zeitung vom 20.10.1989. 249 SED - KL Zittau vom 18.10.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 250 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 20.10.1989. 251 KDfS Aue vom 24.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 49–53).

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Freiräume nutzen. Freilich gab es auch hier andere Stimmen und Kritik an der Führungsspitze der NDPD. Sie zeige die systemtreueste Haltung aller Blockparteien, und die „National - Zeitung“, so hieß es, sei die „lahmarschigste Zeitung“ der DDR.252 Unterstützte ein Teil der Mitglieder und Funktionäre der NDPD das SED - Regime weiter, so wandten sich immer mehr Mitglieder dagegen. In Klingenthal lehnte der NDPD - Ortsausschuss den offiziellen Kurs des NDPD Sekretariats ab, da man dort Schönfärberei betreibe und „keine Distanz zur SED“ zeige. Stattdessen wurde hier ein eigenes 15- Punkte-Programm verfasst,253 in dem die Beseitigung der Führungsrolle der SED, des Begriffes „Freundschaft zur SU“ sowie politische Grundrechte gefordert wurden.254 Bei einer Sitzung des NDPD - Kreissekretariats am 23. Oktober forderte der Vertreter der Ortsgruppe, die Erklärung in der „Freien Presse“ zu veröffentlichen. Sollte dies nicht erfolgen, werde die Ortsgruppe geschlossen aus der NDPD austreten, eine eigene Partei gründen oder sich dem Neuen Forum anschließen. Der Sozialismus habe bewiesen, dass er nicht lebensfähig sei. Jetzt sei die Zeit, ihn abzuschaffen.255 Der NDPD - Kreisverband Marienberg kritisierte in einem Schreiben an den Hauptvorstand am 20. Oktober dessen abwartende Haltung und forderte eine klare Position wie bei LDPD oder DBD. Durch das Zögern des überalterten Hauptausschusses bestehe die Gefahr, dass die junge Basis kaputt gemacht werde. Es gebe bereits etliche Austritte.256 Auch im Kreisverband Löbau gab es Bestrebungen, aus der Partei auszutreten.257 Der NDPD - Kreissekretär von Hohenstein - Ernstthal, Manfred Wagner, sprach sich klar gegen den Führungsanspruch der SED aus. Gespräche mit der SED - Kreisleitung seien „nutzlose Schmarren“.258 Auch die NDPD - Mitglieder im Kreis Geithain erwarteten von ihrer Partei „eine kritischere und offenere Stellungnahme“ sowie „Vorschläge zu den aktuellen politischen Problemen und wirtschaftlichen Fragen“. Sie sprachen sich für eine Veränderung in der Führung der Partei aus.259 Am 19. Oktober kritisierte der NDPD - Kreisvorstand Aue das Kommuniqué des Präsidiums des Hauptausschusses. Die NDPD werde ihrer Führungsaufgabe nicht gerecht. Parteivorstand und Parteipresse versäumten es, in die Diskussion mit der Bevölkerung einzugreifen. Dadurch habe die Partei in der demokratischen Öffentlichkeit an Bedeutung verloren und werde ihrer „viel zitierten Eigenständigkeit nicht

252 KDfS Aue vom 23.10.1989 : Umweltkonferenz der NDPD ( ebd. 1805, Bl. 28 f.). 253 KDfS Klingenthal : Anlage zum CFS 77, o. D. ( ebd. 2437, 2, Bl. 252). 254 KDfS Klingenthal vom 18.10.1989 : NDPD - Ortsgruppe Markneukirchen ( ebd. 3078, 2, Bl. 181 f.). 255 KDfS Klingenthal vom 24.10.1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 4–6). 256 Vgl. KDfS Marienberg vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 2143, 1, Bl. 129 f.). 257 Vgl. KDfS Löbau vom 25.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 106– 108). 258 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 21.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 48–52). 259 KDfS Geithain vom 26.10.1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 5).

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gerecht“. Die „National - Zeitung“ hülle sich in vornehmes Schweigen. Die Zahl der Austritte nehme zu. Es sei höchste Zeit, aktiv zu werden.260 DBD : Als dies schon fast zum guten Ton gehörte, meinte DBD - Vorsitzender Günther Maleuda am 13. Oktober, niemand, der „es ehrlich mit dem Sozialismus in der DDR“ meine, dürfe „ausgegrenzt“ oder in die „antisozialistische Ecke“ gestellt werden. Die DBD bleibe jedoch auf jeden Fall „ein zuverlässiger Bündnispartner der Partei der Arbeiterklasse“.261 Auch in den Kreisverbänden der DBD gab es zwar Kritiken an einzelnen Missständen, das SED - Regime selbst wurde aber kaum in Frage gestellt.262 2.3

Neues Forum 10. – 16. Oktober

In der ersten Oktoberhälfte stieg die Zahl Sympathisanten und Verbreiter der Ideen des Neuen Forums. Besonderen Anklang fand es unter Jugendlichen, Studenten und Schülern. Die Bezirksverwaltung des MfS Dresden sprach von einer „flächendeckenden Verbreitung und Propagierung“.263 Verbunden war dies mit Unterschriftensammlungen, die oft in Kirchgemeinden organisiert wurden. Die Vervielfältigung von Aufrufen erfolgte durch Schreibmaschinen, Abzugstechnik und PC in Kirchen, Betrieben und privat.264 Allein im Bezirk Dresden hatte die Bezirksverwaltung des MfS etwa 600 Personen im Visier, die Zettel vervielfältigten und verbreiteten. Sie wurden „massenhaft per Post“ verschickt, in Hausbriefkästen gesteckt, lagen in Bibliotheken, Studentenwohnheimen, Wartezimmern von Arztpraxen und Krankenhäusern sowie Speisesälen von Betrieben aus, hingen an Wandzeitungen, in Schaufenstern, an Haltestellen und wurden persönlich weitergegeben.265 Es handelte sich um Flugblätter aus Berlin, wie den Gründungsaufruf, aber auch um regionale Schriften wie Schilderungen der 260 KDfS Aue vom 26.10.1989 : NDPD - Kreisvorstand Aue ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 38–40). 261 Bauern - Echo vom 13.10.1989. 262 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 18.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 263 BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 182– 184). Vgl. BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Info ( ebd., Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42); BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 177–181); SED - KL Sebnitz vom 13.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–5); SED - KL Bischofswerda vom 16.10.1989 : Info ( ebd., SED - BL Dresden, 13551); KDfS Marienberg vom 12. und 13.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 185 f.). 264 Vgl. KDfS Görlitz vom 12.10.1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10989, Bl. 1–6); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 16.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 65–67). 265 KDfS Stollberg vom 12. und 15.10.1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 268–270). Vgl. KDfS Werdau vom 20.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 15–18); KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd., AKG 532, 1, Bl. 104–114); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd. 3078, 2, Bl. 28); VPKA Altenburg vom 11.–12.10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1148, Bl. 12); Saarfried Thiele an Helmut Hackenberg vom 10.10.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Borna 90, Bl. 1–3).

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Ereignisse in Dresden, Auswertungen von Gesprächen mit Vertretern der Partei - und Staatsorgane, Erklärungen des Staatsschauspiels und der Semperoper Dresden, kirchlicher Basisgruppen, von Seminargruppen aus Hoch - und Fachschulen sowie aus Abteilungen von Betrieben und Einrichtungen. Daneben gab es mit Farbe gemalte Losungen für das Neue Forum.266 Die Vielzahl kam dem allgemeinen Informationsbedürfnis unter der Bevölkerung entgegen, zeigte aber auch die Heterogenität des Neuen Forums. Viele Akteure standen einer einheitlichen Organisation offen gegenüber. In Plauen forderten die Aktivisten, es solle „Basis und Sammelbecken für alle demokratischen Bewegungen sein“.267 In Dresden bemühte man sich, die lokale Dominanz der Gruppe der 20 durch Einfluss auf die Mitglieder zu brechen. Hier gab es auch Bemühungen, die parallelen Arbeitsgruppen „Neuer Aufbruch“ und „Neues Forum“ zusammenzuführen. In Annaberg - Buchholz gab es bereits zu diesem Zeitpunkt Überlegungen, eine „Forumpartei“ zu gründen.268 Programmatisch gab es eine Grundtendenz mit unterschiedlichen Ausprägungen. Hanno Schmidt etwa forderte die Schaffung einer breiten Plattform zur Verbesserung des Sozialismus in der DDR. Er wollte Gruppierungen wie die „Neue Linke“, die SDP, die „Böhlener Plattform“ und die „Initiative Demokratische Erneuerung“ zusammenführen. Das Neue Forum nannte er „verfassungskonform“ und „DDR - freundlich“. Eine Wieder vereinigung der beiden deutschen Staaten stand für ihn nicht zur Debatte.269 Auch das Neue Forum im Bezirk Karl - Marx - Stadt verstand sich „als Podium für all jene, die das Vertrauen in die Partei - und Staatsführung verloren haben, aber trotzdem kreativ an der Vervollkommnung des demokratischen Sozialismus mitarbeiten wollen“. Man sah sich „voll auf dem Boden der Verfassung der DDR“ und wollte „den demokratischen Charakter der Verfassung der DDR in der Gesellschaft zum Tragen bringen“. Man distanziere sich von Äußerungen, die die Grundprinzipien des demokratischen Sozialismus in Frage stellten. Gleichzeitig wurden alle politischen Grundrechte eingefordert, die Grundlage einer demokratischen Ordnung seien.270 Unterschiedlich war auch das Verhältnis zu Demonstrationen. Wäh-

266 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); BDVP Leipzig vom 10.–11.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 1450); KDfS Hainichen vom 10. und 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 68–73 und 80–88); KDfS Schwarzenberg vom 12.10.1989 : Lage ( ebd. 1818, Bl. 48–51). 267 Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 9). 268 Vgl. BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 182–184); BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Info ( ebd., Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42); KDfS Annaberg vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 53– 57). 269 Vgl. BVfS Dresden : 30. „Friedensseminar“ in der Trinitatiskirche Meißen - Zscheila am 14./15.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 185 f.). 270 Neues Forum Karl - Marx - Stadt vom 13.10.1989 : Sprechererklärung ( SächsStAC, 128706).

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rend das Neue Forum in Plauen deren Hauptorganisator war,271 sprach das Neue Forum Leipzig von „nichtkalkulierbaren Risiken der spontanen Massendemonstrationen“.272 Nachdem der Leipziger Sprecher, Bernhard Becker, hier freilich aufrief, drei Wochen auf Demonstrationen zu verzichten, wurde er als „Kontaktperson“ einstimmig abgewählt,273 was zeigt, dass es hier unter den Akteuren keine einheitliche Linie gab. Am Wochenende des 14./15. Oktober beteiligten sich am ersten Koordinierungstreffen des Neuen Forums in der Elisabethkirche in Berlin etwa 120 Personen aus der DDR. Das Treffen diente der praktischen Umsetzung der Vorschläge des Strukturpapiers vom 1. Oktober. Das MfS versuchte im Vorfeld, die Anreise von Akteuren zu verhindern.274 Für den Bezirk Karl - Marx - Stadt nahm Martin Böttger teil, für Dresden Dieter Reinfried und Alfred Hempel. Es wurde vereinbart, Bezirks - und Kreissprecher zu benennen, die Kontaktpersonen anleiten sollten. Diese sollten für Werbung und Unterschriftensammlungen verantwortlich sein. Zwecks Schaffung basisdemokratischer Strukturen sollten je Bezirk drei bis sechs Personen benannt werden und die Bezirkssprecher eine Sprecherversammlung bilden, aus der wiederum ein ständiger Sprecherrat von 15 Personen her vorgehen sollte. Beschlossen wurde auch, ab November eine eigene Zeitung herauszugeben.275 Konkrete Vereinbarungen scheiterten am Widerstand von Bezirksvertretern gegen den Führungsanspruch der Berliner Initiativgruppe. Schon im Vorfeld gab es Kritik an der Berlin - Zentrierung der medienträchtigen und meinungslenkenden Repräsentanz des Neuen Forums, verbunden mit der Forderung, alle Sprecher demokratisch zu wählen.276 Vor allem Bärbel Bohley repräsentierte in den Augen vieler das Neue Forum. Sie war es auch, die Hinweise zu Aktivitäten und zum taktischen Vorgehen gab. Schon vor dem Treffen hatte es in Leipzig Bemühungen gegeben, Sprecher zu benennen und die Strukturen „in den Griff zu bekommen“.277 Im Bezirk Dresden registrierte das MfS nach dem Treffen verstärkte Bemühungen, organisatorische Strukturen zu schaffen. Noch hing dies meist von unter operativer Kontrolle stehenden Aktivisten ab, von denen das MfS im Bezirk Dresden elf zählte. Sie waren in der Regel in der Vergangenheit „dem Vorfeld der politischen Untergrundtätigkeit zuzuordnen“ gewesen und versuchten nun, Unter-

271 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 9). 272 Aufruf des Neuen Forums, Sprechergruppe Leipzig, vom 12.10.1989 ( ABL, H. XVII Neues Forum ). 273 Vgl. Neues Forum Leipzig 2 vom 23.10.1989 ( ebd., H. XIX /1). 274 Vgl. BVfS Dresden vom 13.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 205–207). 275 Vgl. BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( ebd., XX 9195, Bl. 80–91); Bericht des IMS „Achim Oeser“ über Martin Boettger ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 187–195); Jens Reich. In : taz vom 16.10.1989. 276 Vgl. Telegraph 2 vom 11.10.1989. 277 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 43–49).

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schriften zu sammeln und organisatorische Strukturen aufzubauen.278 Dazu gehörten auch Kontaktadressen, bei denen man sich informieren und eintragen konnte.279 Im Bezirk Dresden waren dies 14 Stellen.280 Das MfS registrierte ebenfalls die Mitglieder und Sympathisanten , um gegebenenfalls gegen sie vorgehen zu können.281 Ständig entstanden auch neue Gruppen, so im Zeitraum vom 10. bis zum 16. Oktober u. a. in Großenhain,282 Crimmitschau ( Werdau ),283 Schlettau, Königswalde, Cranzahl und Crottendorf ( Annaberg ),284 in Marienberg285 und in Plauen.286 Daneben entstanden Kreisverbände in Döbeln287 und Schwarzenberg.288 Am 15. Oktober beantragte Jochen Läßig für den Bezirk Leipzig die Zulassung des Neuen Forums.289 Vorbereitende Versammlungen gab es in Freiberg,290 Sebnitz291 und Nauwalde ( Riesa ).292 Im Kreis Bautzen gelang es zunächst, die Gründung des Neuen Forums dank „des guten Nebeneinanders zwischen Staat und Kirche“ in Bautzen, Schirgiswalde, Neschwitz und weiteren Orten zu verhindern.293 Daneben nahm die Zahl an Informationsveranstaltungen stetig zu, so z. B. in der evangelischen Kirche in Daubitz ( Weißwasser ),294 in der Luther - und Johan-

278 BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Aktivitäten des Neuen Forums ( ebd., XX, 9181, Bl. 182–184). 279 BVfS Dresden vom 12.10.1989 : Kontaktadressen des Neuen Forums ( ABL, Dresden ); KDfS Freiberg vom 16.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 49 f.). 280 BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Aktivitäten des Neuen Forums ( BStU, ASt. Dresden, XX, 9181, Bl. 182–184). 281 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt an Leiter aller KDfS ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 44). 282 Vgl. Großenhain im Aufbruch, S. 27. 283 Vgl. Meusel, Wunde Punkte – Wendepunkte, S. 45. 284 Vgl. KDfS Annaberg vom 20.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 60–68). 285 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 10). 286 Vgl. KDfS Plauen vom 17.10.1989 : Neues Forum ( ebd., Pl 44, Bl. 16–18, 23, 27); Bericht von Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 135. 287 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 288 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (HAIT, StKa ). 289 Jochen Läßig an RdB Leipzig, Abt. Inneres, o. D. ( ABL, H. XIX /1). 290 Vgl. KDfS Freiberg vom 23.10.1989 : Aktivitäten bekannter Personen aus Freiberg zur Gründung einer Ortsgruppe des Neuen Forums ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 76 f.). 291 Vgl. Das Wendejahr 1989 in Neustadt / Sachsen ( HAIT, StKa ). 292 Vgl. BVfS Dresden : Aktivitäten feindlich - negativer Personen, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 156). 293 SED - KL Bautzen vom 27.10.1989 : Bericht ( SächsHStA, IV / E - 4./01.–181). 294 Vgl. KDfS Weißwasser vom 16.10.1989 : Aktivitäten des Pfarrers Havenstein ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 577–579).

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niskirche in Karl - Marx - Stadt,295 in der Trinitatiskirche Meißen - Zscheila,296 in Dresden in der Kreuzkirche, der Herz - Jesu - Kirche, der Versöhnungskirche297 und in der Kirche Weißer Hirsch,298 in der Maria - Martha - Kirche Bautzen,299 in der Kirche Eibau300 und im Pfarrhaus Großschönau ( Zittau ).301 Daneben gab es immer mehr Unterschriftensammlungen, um die Massenbasis des Neuen Forums zu verdeutlichen. Zentren waren Kirchen und Betriebe. Sie waren die Grundlage für Petitionen an staatliche Stellen, in denen die Zulassung des Neuen Forums gefordert wurde.302 Angesichts der Massenbewegung dämmerte es nach Modrow und Berghofer nun immer mehr Funktionären, dass man um Gespräche mit den „Andersdenkenden“ nicht herumkommen würde. In Leipzig trafen sich am 10. Oktober Vertreter der SED - Bezirksleitung mit Vertretern des Neuen Forums,303 vor dessen „Imperialismushörigkeit“ die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei noch am selben Tag warnte.304 Auch in der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt deutete sich zu diesem Zeitpunkt ein Umdenken an,305 und der Oberbürgermeister von Karl - Marx - Stadt bot Vertretern des Neuen Forums einen Dialog an. Die Richtung der damit verbundenen Überlegungen brachte der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, Gehlert, auf den Punkt : „Die Antwort kann nur lauten, entweder das Neue Forum wird Bestandteil der Nationalen Front oder es wird verboten.“306 Dabei kamen die führenden Köpfe des Neuen Forums in Berlin den Machthabern weit entgegen. So erklärte Rolf Henrich am 13. Oktober, die SED werde auch in Zukunft eine „entscheidende Rolle“ spielen.307 Eine entscheidende Rolle reichte vielen SED - Funktionären freilich nicht; es sollte schon 295 Vgl. KDfS Annaberg vom 19.10.1989 : Aktivitäten kirchlicher Kräfte zur Organisierung der Vereinigung Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 219–221). 296 Vgl. BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Verlauf des 30. „Friedensseminars“ in der Trinitatiskirche Meißen - Zscheila am 14./15.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 185 f.). 297 Vgl. BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( ebd., XX 9195, Bl. 80–91). 298 Vgl. BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Tagesinformation ( ebd., Stellv. Operativ 15, Bl. 43–49). 299 Vgl. BVfS Dresden vom 17.10.1989 : Info ( ebd., XX 9195, Bl. 105–111). 300 Vgl. BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 80–91). 301 Vgl. KDfS Zittau vom 12.10.1989 ( ebd., KD Zittau, 7009, II, Bl. 270 f.). 302 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550); SED - KL Zittau vom 9.10.1989 ( ebd.); SED - KL Pirna vom 15.10.1989 : Info (ebd., 13551); KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 63–69); KDfS Zschopau vom 18.10.1989 ( ebd., XX 833, Bl. 253); KDfS Zittau / KDfS Bautzen vom 12.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, KD Zittau, 7009, 2, Bl. 270 f.); Petition von Oelsnitz vom 16.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 2). 303 Vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 81. 304 BDVP Leipzig vom 10.10.1989 : Aufgabenstellung für die zielstrebige Weiterführung der politisch - ideologischen Arbeit ( SächsStAL, BDVP 1). 305 Vgl. Protokoll der Beratung der Ständigen Kommission für Ordnung und Sicherheit des BT Karl - Marx - Stadt vom 11.10.1989 ( SächsStAC, 121507). 306 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS vom 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 51). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 14. 307 Interview mit Rolf Henrich. In : Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 13.10.1989.

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die führende bleiben. So blieben auch die Anstrengungen der Bezirksver waltung des MfS Dresden darauf gerichtet, „strukturelle Organisationsformen zu verhindern“ und die „Zurückdrängung“ des Neuen Forums zu intensivieren.308 Vor allem Modrow sah eine unliebsame Konkurrenz heranwachsen und forderte alle SED - Funktionäre auf, man müsse mit Hilfe des MfS „allen Gruppen und Grüppchen den Boden entziehen“.309 Dem ZK der SED schrieb er : „Wir dürfen nicht zulassen, dass diese illegale und oppositionelle Gruppierung Grundsatzfragen der Politik unseres Staates bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung zur Diskussion stellt.“310 2.4

Proteste in Betrieben

Besondere Sorgen musste dem Regime die wachsende Unzufriedenheit in den VEB bereiten. Schon vor dem Jahrestag waren von dort alarmierende Stimmungsberichte gekommen.311 In Dresden wies MfS - Chef Böhm daher auf die Notwendigkeit hin, „alles zu tun, um zu verhindern, dass die feindlich - negativen Kräfte Einfluss auf und unter der Arbeiterklasse erhalten“.312 Er übersah, dass ein Großteil der Arbeiter selbst „feindliche Kräfte“ waren und von den Betrieben entsprechende Aktivitäten ausgingen. Ein großer Teil der Belegschaften lehnte denn auch das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten ab.313 Typisch war die Stellungnahme der BGL des VEB Baureparaturen Karl - Marx - Stadt Süd, die sich gegenüber dem Rat des Bezirkes „tief betroffen von der Welle der Gewalt gegen friedliche Bürger, insbesondere gegen Frauen und Kinder, und den Einsatz der Kampfgruppen und Volkspolizei gegen die Bevölkerung“ zeigte und „gegen die Ausgrenzung und Kriminalisierung von Menschen, die sich für Dialog und Gewaltlosigkeit einsetzen“ protestierte.314

308 BVfS Dresden vom 16.10.1989 : Aktivitäten des Neuen Forums ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 182–184). 309 Anleitung beim 1. Sekretär der SED - BL Dresden am 14.10.1989 ( ebd., LBV 10717, Bl. 1–7). 310 SED - BL Dresden vom 13.–15.10.1989 : Stimmungsbild ( ebd., AKG 7001, Bl. 187 f.). 311 Vgl. Kap. II.2.5. Nicht nachvollziehbar ist die Charakterisierung der „betrieblichen Wende“ als „zeitlich verzögertes Nachvollziehen der politischen Entwicklungen im Herbst 1989“. So Röbenack, Aber meistens, S. 142. Tatsächlich gab es in den Betrieben parallele Proteste, die wenig mit Aktivitäten der Bürgerbewegungen zu tun hatten. Ähnlich urteilt Neubert, Geschichte der Opposition, S. 848. Fraglich ist auch ( Heydemann / Mai / Müller, Einleitung, S. 25), ob „anders als 1953 – der Betrieb als Feld sozialer und machpolitischer Auseinandersetzung fast völlig ausschied“. Auf die Bedeutung der Betriebe verweist dagegen Weil, Wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen, S. 525–544. 312 BVfS Dresden vom 3.–8.10.1989 : Ereignisse ( ABL, EA 891009_2). 313 Vgl. KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 119– 122); KDfS Zwickau vom 9.10.1989 : Lage ( ebd. 1823, 1, Bl. 153–156). 314 VEB Baureparaturen Karl - Marx - Stadt / Süd - BGL an RdB Karl - Marx - Stadt vom 11.10.1989 ( SächsStAC, 121516).

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Längst gab es in vielen VEB Wandzeitungen mit kritischen Stellungnahmen.315 Auf Zetteln, durch Unterschriftensammlungen und mündlich wurde das Neue Forum unterstützt,316 in einigen Betrieben auch von SED - Mitgliedern und staatlichen Leitern.317 Oft verband sich dies mit generellen Forderungen nach Zulassung neuer Parteien und einer Opposition sowie nach politischen Grundrechten,318 in einigen Fällen mit der Forderung nach einem demokratischen Sozialismus.319 Das MfS konstatierte einen schnell wachsenden Vertrauensschwund zur Parteiführung und Zweifel, ob mit Krenz Veränderungen eintreten werden.320 „Die da oben“, so hieß es, würden „starr an der alten Linie festhalten“.321 Oft richtete sich die Stimmung direkt gegen die SED, der man nicht zutraute, Verbesserungen in Handel, Versorgung und Dienstleistungen zu erzielen.322 Im „Zentrum der Arbeiterklasse, dem VEB Edelstahlwerk Freital“, gab es Stimmen wie „Ihr Kommunisten habt den Staat so runtergewirtschaftet wie noch nie“. In den Produktionsabteilungen gab es Beschimpfungen von SED - Mitgliedern, und es war die Rede von der „Unfähigkeit der Kommunisten“. Sie wurden als „Schandflecke“ und „Schweine“ beschimpft.323 Im VEB Hochvakuum Dresden hing zum Jahrestag die Losung „Honecker verrecke, DDR - Polizeistaat“ an der Wand.324 Ein Arbeiterkollektiv im VEB VBM Werk Frohburg ( Geithain) 315 Vgl. KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 10– 13). 316 Vgl. ZK der SED vom 9.10.1989 : Info der SED - BL über die Lage und eingeleiteten Maßnahmen ( BStU, ZAIG 7834 Bl. 71); KDfS Hoyerswerda vom 24.10.1989 : Vorkommnis im ACZ Hoyerswerda ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 22–25); KDfS Schwarzenberg vom 10.10.1989 : Pumpspeicherwerk Markersbach (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 52–54); KDfS Stollberg vom 12.10.1989 : Meldung ( ebd. 3078, 1); KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( ebd., 2, Bl. 50–52); KDfS Brand - Erbisdorf vom 14.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 108–110); VEB Baureparaturen Karl - Marx - Stadt / Süd - BGL an RdS Karl - Marx - Stadt vom 11.10.1989 ( SächsStAC, 121516); SED - KL Riesa vom 15.10.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); SED - KL Löbau vom 7.10.1989 : Lage ( ebd., 13550). 317 Vgl. KDfS Hainichen vom 11. und 13.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 62–67 und 74–79); KDfS Reichenbach vom 13.10.1989 : Info ( ebd. 541, 1, Bl. 43–48). 318 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 25.10.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 40–42); BVfS Dresden vom 2.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 310–313); KDfS Görlitz vom 12.10.1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( ebd., LBV 10989, Bl. 1–6); KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 10917, Bl. 459–461). 319 Vgl. VEB Baureparaturen Karl - Marx - Stadt / Süd - BGL an RdB Karl - Marx - Stadt vom 11.10.1989 ( SächsStAC, 121516). 320 Vgl. SED - BL Leipzig vom 17.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 864, Bl. 52 f.); SED - SL Leipzig vom 16.10.1989 : Zu feindlichen Aktivitäten ( ebd., SED - SL Leipzig, 885); KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 117 f.); VEB Werkzeugmaschinenfabrik Johanngeorgenstadt vom 26.10.1989 : Belegschaftsversammlung ( PB Dieter Vollert ); BVfS Dresden vom 2.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 310–313). 321 KDfS Freiberg vom 18.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 43–45). 322 Vgl. BVfS Dresden vom 11.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, S. 226–228). 323 KDfS Freital vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10917, Bl. 459–461). 324 BVfS Dresden vom 7.10.1989 : Tagesbericht ( ABL, Dresden ).

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fand nicht, dass die DDR das Werk des ganzen Volkes sei. Grundlegende Entscheidungen würden „nicht von der Arbeiterklasse, sondern von der SED getroffen“.325 Die SED solle „mit dem Berauschen an Erfolgen, Orden und Wanderfahnen aufhören“326 und den Privilegien der Funktionäre ein Ende machen. In vielen Betrieben kursierten Gerüchte, es gebe für Mitarbeiter des Parteiapparates von der Bezirksleitung an aufwärts gesonderte Läden, wo Westwaren für DDR-Mark gekauft werden könnten. Es habe sich eine „privilegierte Schicht von Funktionären“ herausgebildet, die sich alles leiste.327 Arbeiter des VEB Papierfabriken Grünhainichen ( Flöha ) kritisierten den Betriebsdirektor, der sich „kaum unter den Arbeitern sehen lasse“, aber „sein Eigenheim auf Kosten des Betriebes errichtet“ habe.328 Es wurde bezweifelt, dass die SED willens und in der Lage sei, „umfangreiche Privilegien einiger weniger Bürger“ abzubauen.329 Die wachsende Ablehnung der SED ging einher mit dem Wunsch nach möglichst sofortigen Veränderungen der eigenen Lage durch eine andere Politik330 und Wirtschaftsweise und konkrete Maßnahmen gegen den „Verfall der Wirtschaft“.331 Es gab Zweifel, ob auf Grundlage der sozialistischen Wirtschaft Verbesserungen der Lebensbedingungen überhaupt erreichbar seien.332 Arbeiter zweifelten, „dass bei aller ehrlichen Absicht die Situation in den Betrieben bei Material, Zulieferungen und Ersatzteilen schnell zu überwinden“ sei. Kritiken „in verbitterter Form“ bezogen sich auf die Diskontinuität der Produktion, auf verschlissene Maschinen und Gebäude, mangelhafte sanitäre Einrichtungen, die Nichtbeachtung des Arbeiterwortes bei Leitungskadern sowie auf den bürokratischen Arbeitsstil staatlicher Organe. Es gab Verärgerung, weil Vorschläge der Kollegen keine Beachtung fanden.333 So produzierte der VEB Halbzeugwerke Auerhammer trotz Einwänden der Kollegen im Überfluss Windlichter und Petroleumleuchten, die kaum einer kaufte.334 Die Kritik an der Wirtschaft verband sich mit jener an örtlichen Leitern. Da Leiterpositionen ausschließlich nach der Zugehörigkeit zur SED vergeben würden, komme es zu Fehlbesetzungen, die wiederum eine Ursache für Misswirtschaft und Schlamperei seien.335 Leitungsentscheidungen sollten in erster Linie von fachlicher Kompetenz geprägt 325 KDfS Geithain vom 18.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 19– 22). 326 BVfS Dresden vom 10.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 85–89). 327 KDfS Flöha vom 17.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 84– 86); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3. und 12.10.1989 : Stimmung ( ebd. 534, 2, Bl. 72–77 und 94–98); KDfS Freiberg vom 18.10.1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 43–45). 328 KDfS Flöha vom 14.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 87–90). 329 BVfS Dresden vom 11.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, S. 226–228). 330 Vgl. BVfS Dresden vom 10.10.1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 85–89); KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 10–13). 331 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 25.10.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 40–42). 332 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 83–85). 333 Vgl. SED - BL Leipzig vom 20.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 31– 34). 334 Vgl. KDfS Aue vom 3.10.1989 : Wochenlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 142–147). 335 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 13.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114).

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sein.336 Im VEB Werkzeugmaschinenfabrik Johanngeorgenstadt ( Schwarzenberg ) wurde bereits Ende Oktober gefordert, die Parteiorganisation der SED aus dem Betrieb zu entfernen und den Verwaltungsapparat zu verkleinern.337 Ein Kennzeichen der Situation in der DDR war, dass es die Beschäftigten selbst waren, die „ein echtes Leistungsprinzip [...] mit differenzierter Entlohnung“ forderten, „um einen Durchbruch bei der Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu erreichen“.338 Die Belegschaft des VEB Tetex Meerane, Werk V in Treuen (Auerbach ) forderte am 23. Oktober Meinungs - , Presse - und Reisefreiheit, freie Wahlen, eine unabhängige Gewerkschaftsarbeit, die Durchsetzung des Leistungsprinzips und ein Ende der Parteiarbeit im Betrieb.339 Im Kreis Auerbach forderten Werktätige „kapitalistische Methoden“ bis hin zur „freien Marktwirtschaft“.340 Allerdings gab es parallel Forderungen nach freien Gewerkschaften bzw. einer entsprechenden Umwandlung des FDGB,341 aus dem immer mehr Arbeiter austraten.342 Streiks und Streikandrohungen wegen der Grenzschließung Es musste das Regime alarmieren, dass die vermeintlichen Herrscher des „Arbeiter - und Bauernstaates“ es nicht bei verbalen Protesten beließen, sondern ihren Forderungen nicht nur bei Demonstrationen, sondern seit Anfang Oktober auch durch Streiks oder Streikandrohungen Ausdruck verliehen. Damit erinnerte die Situation an die Zeit vor dem 17. Juni 1953. Zu ersten Arbeitsniederlegungen oder Streikandrohungen kam es im Zusammenhang mit der Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs am 3. Oktober in den grenznahen Bezirken. Bezirk Dresden : Im VEB Edelstahlwerk Freital gab es noch am Abend des 3. Oktober im Bereich Stahlwerk Drohungen, die Arbeit niederzulegen, die jedoch nicht umgesetzt wurden.343 Im VEB Zinnerz Altenberg ( Dippoldiswalde ) senkten die Kumpel die Leistungen des Bereiches Grube aus Protest gegen die Grenzschließung von 72 Prozent der Tagesleistung am 3. Oktober auf 51 Prozent am 5. Oktober. Mangelhafte Versorgung, so hieß es, zwinge sie, regelmäßig in die ČSSR zu reisen. Sie kündigten an, in den nächsten Tagen eine Liste mit politisch - ideologischen, kommunalen und betrieblichen Forderungen 336 Vgl. KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( ebd. 540, 2, Bl. 10–13). 337 Vgl. VEB Werkzeugmaschinenfabrik Johanngeorgenstadt vom 26.10.1989 : Belegschaftsversammlung ( PB Dieter Vollert ). 338 KDfS Oelsnitz vom 6.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 36–39). Vgl. KDfS Annaberg vom 10.10.1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 63–69). 339 Vgl. KDfS Auerbach vom 25.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 29–32). 340 KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 38–44). 341 Vgl. KDfS Löbau vom 10.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 65–67); SED - KL Bautzen vom 10.10.1989 : Stimmung ( SächsHStA, A 13550). 342 Vgl. KDfS Annaberg vom 31.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 20–25). 343 Vgl. KDfS Freital vom 3.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 528– 531).

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zu übergeben.344 Aus Sicht der Funktionäre war „das politische Klima ernst“. Am 6. Oktober entschied deshalb der Leiter des Volkspolizeikreisamtes Dippoldiswalde, für die Einwohner der Gemeinden Altenberg, Zinnwald und Geising zeitlich begrenzte Visa zu erteilen. Daraufhin fuhren die Kumpel ab dem 6. Oktober wieder volle Leistung. Auch in verschiedenen anderen Betrieben und Einrichtungen gab es „Drohungen zur Arbeitsniederlegung bzw. Leistungseinschränkungen“,345 die sich am Altenberger Vorbild orientierten. Mitarbeiter des VEB Kosora Geising stellten im Volkspolizeikreisamt Dippoldiswalde die Frage, ob sie auch erst streiken müssten, um einen „Stempel“ zu bekommen. Auch ein selbstständiger Rundfunk - und Fernsehmechaniker sowie ein Schlossermeister in Altenberg drohten, ihre Geschäfte zu schließen.346 Zwei Mitarbeiter des VEB Porzellanmanufaktur Meißen kündigten am 6. Oktober aus Protest eine Reduzierung der Arbeitsleistung an. Ihr Kollektiv „Blume 6“ plante, aus der FDJ auszutreten.347 Am 6. Oktober nahmen 45 Müllfahrer des VEB Stadtwirtschaft Pirna aus Protest gegen die Grenzschließung ihre Arbeit mit einstündiger Verspätung auf.348 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Im VEB OPEW Annaberg, Betriebsteil Bärenstein, ruhte die Arbeit am 3. Oktober 90 Minuten. Auch die folgende Frühschicht legte die Arbeit für eine Stunde nieder.349 Am 6. Oktober legten Arbeiter des VEB Vereinigte Lederwerke ( Freiberg ) ihre Arbeit nieder.350 Beschäftigte des Agrochemischen Zentrums Langenau ( Brand - Erbisdorf ) meinten ebenfalls, man sollte streiken.351 Von nun an gab es immer wieder einmal Streikdrohungen aus verschiedenen Anlässen. Um die Zulassung des Neuen Forums durchzusetzen,352 drohten die Mitarbeiter eines Heizhauses des VEB IFA - Ingenieurbetrieb Hohenstein - Ernstthal im Kreis Flöha mit Streik, „falls sich nichts verändert“ : „Sie brauchten nur auf ein paar Knöpfe zu drücken und alles stehe still, auch die SED - Kreisleitung erhalte dann keinen Dampf mehr.“353 Am 13. Oktober wurde im VEB ELGAWA Plauen mit einem einstündigen Warnstreik gedroht, falls Anfragen an die Betriebs - , Gewerkschafts - und SED - Kreisleitung nicht beantwortet würden. Für den 16. Oktober wurde angekündigt, den ganzen Betrieb

344 Vgl. BVfS Dresden vom 6.10.1989 : Tagesbericht ( ebd., 1. SdL 1, Bl. 27–34); ZK der SED vom 9.10.1989 : Info der SED - BL zur Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 71). 345 SED - BL Dresden vom 7.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 346 BVfS Dresden vom 11.10.1989 : Info ( ebd., XX 9181, Bl. 226–228). 347 Vgl. BVfS Dresden vom 6.10.1989 : Tagesbericht ( ebd., 1. SdL 1, Bl. 27–34). 348 Vgl. SED - BL Dresden vom 7.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 41–47). 349 Vgl. KDfS Annaberg vom 4.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 72–74). 350 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 138–141). 351 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 9.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 132–135); KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( ebd., BE 98, Bl. 1–42). 352 Vgl. KDfS Flöha vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd., AKG 532, 2, Bl. 97–100). 353 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 14.10.1989 : Heizhaus „West“ des VEB IFA - Ingenieurbetrieb Hohenstein - Ernstthal ( ebd. 1812, Bl. 62–65).

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zu bestreiken.354 Streikdrohungen bzw. entsprechende Gerüchte gab es wenig später auch im VEB Plamag, im VEB Wema,355 im VEB Sächsische Zellwolle und beim VEB Schlachthof Plauen.356 Ende Oktober verdichteten sich die Gerüchte, am 25. Oktober würde in zehn größeren Betrieben gestreikt. Krenz forderte alle Parteisekretäre auf, „bei Hinweisen auf Streiks vor Ort in die Offensive zu gehen“.357 Arbeiter des VEB Formenbau Schwarzenberg drohten Ende Oktober mit Streik und Austritt aus dem FDGB, wenn ihre „Lohn - und Normierungsprobleme“ nicht geklärt würden.358 Streiks gab es auch in anderen Teilen der DDR, so im VEB Narva Berlin, im Uhrenwerk Ruhla und bei den WartburgWerken in Eisenach.359 Kampfgruppen der Arbeiterklasse Zum Schutz der kommunistischen Diktatur hatte sich die SED bereits unmittelbar nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 Kampfgruppen zugelegt, der auch Parteilose und Mitglieder anderer Blockparteien angehörten. Während der Demonstrationen um den 40. Jahrestag kamen Hundertschaften dieser Kampfgruppen zum Einsatz. Meist wurden sie nicht direkt gegen Demonstranten eingesetzt, überall aber als Reserven der 1. Sekretäre der SED - Bezirks - und Kreisleitungen in Bereitschaft versetzt.360 In Klingenthal standen „Kämpfer“ für die Verteidigung der Kreisdienststellen des MfS in Bereitschaft. Sie bekundeten angeblich, „einmütig hinter der Aufgabe des Schutzes des MfS“ zu stehen, kamen aber nicht zum Einsatz.361 Aus Sicht des MfS waren sie eher unsichere Kantonisten. Neben überzeugten Kommunisten standen Mitglieder, die mehr oder weniger zu diesem Dienst gedrängt worden waren. In Leipzig hatten sich einzelne Einheiten der Kampfgruppen geweigert, auszurücken und mussten durch zuverlässige Kräfte aus Neubrandenburg ersetzt werden.362 Die Kreisdienststellenleiter wurden gewarnt, Kampfgruppen in die Verteidigung von MfSLiegenschaften einzubeziehen, weil befürchtet wurde, ein Teil könnte zu den 354 355 356 357 358 359 360 361 362

Vgl. KDfS Plauen vom 12.10.1989 : Info ( ebd. 3078, 1, Bl. 219). KDfS Plauen vom 17.10.1989 : VEB Wema / VEB Plamag Plauen ( ebd. 2437, 2, Bl. 99). Vgl. KDfS Plauen vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 2280, Bl. 126 f.). Zit. bei KDfS Plauen vom 25.10.1989 : Hinweise zur Streikandrohung ( ebd. 540, 1, Bl. 237). Vgl. KDfS Plauen vom 24.10.1989 : Gerüchte über Streikandrohung ( ebd. 2143, 1, Bl. 55 f.). KDfS Schwarzenberg vom 23.10.1989 : Reaktion einzelner Arbeiter des VEB Formenbau Schwarzenberg auf die offensichtlich mangelhafte Klärung betrieblicher Probleme ( ebd. 1818, Bl. 12 f.). Vgl. Telegraph vom 18.10.1989; Der Stern vom 26.10.1989. Vgl. MdI : Dienstbesprechung mit den Chefs der BDVP am 19.11.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52444). KDfS Klingenthal vom 14.10.1989 : Reaktionen und Diskussionen von Angehörigen der 25. Kampfgruppenhundertschaft, die am 13.10.1989 zur Sicherung der KDfS eingesetzt wurden ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1759, Bl. 283 f.). Vgl. DDR Journal zur Novemberrevolution, S. 44.

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Demonstranten überlaufen. Einige „Kämpfer“ waren schon als Demonstrationsteilnehmer ermittelt worden.363 Das MfS beschloss daher nach den Unruhen, die Abwehrarbeit in den Kampfgruppen zu intensivieren, „Unsicherheitsfaktoren“ herauszulösen und zu analysieren, „wer steht“.364 Auf einen Großteil der Kämpfer konnte sich die SED aber verlassen. Die Kampfgruppenhundertschaft des Edelstahlwerks Freital war sich nach offizieller Darstellung einig, erneut, wie schon 1961, „allen Feinden des Sozialismus“ eine Lektion zu erteilen.365 „Kämpfer“ aus Oelsnitz meinten, ihr Einsatz „habe unsere Macht erst richtig deutlich gemacht“.366 Auch in Flöha gab es „die Bereitschaft zur Erfüllung aller Befehle“.367 Die Bezirksverwaltung des MfS Dresden konstatierte, dass die Überzeugung überwiege, den „Klassenauftrag unter allen Lagebedingungen zu erfüllen“.368 Vor allem die Kommandeure unterstrichen ihren Willen, „auch mit der Waffe stets zuverlässig“ zu kämpfen.369 Moralische Unterstützung erhielten die Kampfgruppen in vielen Betrieben von vietnamesischen Gastarbeitern. So erklärten diese z. B. im VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf ihre Bereitschaft, „erforderlichenfalls mit der Waffe in der Hand den Sozialismus in der DDR schützen zu helfen“.370 Tatsächlich aber war auch bei den regimetreuen „Kämpfern“ die Stimmung gemischt. Kämpfer aus Tannenbergsthal ( Klingenthal ) fragten, wann die Regierung endlich „die Fragen unserer Zeit löst“.371 In Hohenstein - Ernstthal wurde zwar die Notwendigkeit von Einsätzen anerkannt, aber gefragt, warum man nicht mit „den gemäßigten Kräften des Neuen Forums rede“.372 Im VEB Narva Brand - Erbisdorf war die Mehrheit bereit, ihre Aufgaben zu erfüllen, einige „Kämpfer“ aber äußerten, „Angst zu haben, gegen Freunde und Bekannte eingesetzt zu werden“ und erklärten ihren Austritt.373 Auch in Flöha wurden aus ähnlichem Grund einige „Kämpfer“ aus der Kampfgruppe entfernt.374 Im VEB ESA Auerbach war die Kampfgruppenhundertschaft „zum Schutz des Betriebes in Spannungsperioden einsetzbar“, ein Einsatz gegen Demonstranten wurde jedoch „vom überwiegenden Teil der Kämpfer“ abgelehnt. Darunter könnten sich Familienangehörige oder Kollegen befinden, gegen die man nicht mit 363 Vgl. Horsch, Das kann, S. 18. 364 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 98, Bl. 1–42). 365 SED - BL Dresden vom 7.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 366 KDfS Stollberg vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1, Bl. 268– 270). 367 KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 101–105). 368 BVfS Dresden vom 9.10.1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 107– 110). 369 SED - KL Großenhain vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 370 KDfS Brand - Erbisdorf vom 12.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 134–137). 371 KDfS Klingenthal vom 17.10.1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 13 f.). 372 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 83–85). 373 KDfS Brand - Erbisdorf vom 7.10.1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 156–158). 374 Vgl. KDfS Flöha vom 14.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 87–90).

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Schlagstöcken vorgehe.375 Die Skrupel waren hier weniger prinzipieller, sondern mehr praktischer Art. So hatten die Kämpfer hier nichts gegen Einsätze in anderen Kreisen oder Bezirken, „wo man unbekannt ist“.376 In Altenburg erklärte ein „Kämpfer“, der Mitglied der LDPD war, er trete nicht gegen Arbeiter auf. Seine Partei samt ihrem Vorsitzenden Gerlach vertrete „Veränderungen im Sinne des Neuen Forums“.377 Andere redeten sich damit heraus, für solche Einsätze zu alt zu sein, Gewalt zu verabscheuen378 oder begründeten ihre Ablehnung mit der Schließung der Grenzen.379 Der Kommandeur der Gießerei Beiersdorf ( Löbau ) ließ sich krankschreiben, weil er den Befehl nicht geben wollte, „die Waffen auf die eigenen Kollegen“ zu richten.380 Auch in Plauen konstatierte das MfS „Knieweichheit“, eine „geringe Zahl nach Alarmierung“ und die „Vortäuschung von Krankheiten“. Ähnlich war die Lage überall, vor allem seit in der Bevölkerung die Kritik an den Kampfgruppen zunahm.381 Im Bezirk Leipzig wurden bis zum 11. Oktober 140 Kämpfer wegen Befehlsverweigerung vom Dienst suspendiert,382 gegen andere wurden Parteiverfahren eröffnet.383 Um die Moral zu verbessern, führten Kommandeure ab dem 11. Oktober Gespräche mit Kampfgruppenangehörigen über den „Einsatz gegen Demonstranten und Ver weigerungshaltungen“384 zwecks „Erhöhung der Kampfkraft“385 und der „Ausprägung kämpferischer Haltungen“.386

375 KDfS Auerbach vom 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 61–67). 376 KDfS Auerbach vom 9.10.1989 : Einschätzung der tatsächlichen Kampfkraft der Kampfgruppeneinheiten im Kreis Auerbach ( ebd. 530, Bl. 22–24). 377 SED - KL Altenburg vom 15.10.1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 114). 378 Vgl. KDfS Hainichen vom 10.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 80–88). 379 KDfS Aue vom 24.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 49–53). 380 KDfS Löbau vom 10.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 65– 67). 381 ZK der SED : Info der SED - BL über die Lage und Wirkung der eingeleiteten Maßnahmen vom 11.10.1989 ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 53). Vgl. Protokoll der Beratung der Chefs der BDVP mit den Dienststellen am 10.10.1989 ( SächsStAC, BDVP, 497); KDfS Flöha vom 16.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 147–151); KDfS Zwickau vom 9.10.1989 : Lage ( ebd. 1823, 1, Bl. 153–156); SED - SL Leipzig vom 3.10.1989 : Lage, S. 10 ( ABL, H. XV - 3 SED ). 382 BVfS Leipzig, Abt. XV an AKG, vom 12.10.1989 : Politisch - ideologische Situation in den Kampfgruppen - Hundertschaften der Stadt Leipzig. In : Sélitrenny / Weichert, Das unheimliche Erbe, S. 220. 383 SED - SL Leipzig vom 4.10.1989 : Informationen aus den Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( ABL, H. XV SED, FDJ ). 384 BStU, ASt. Leipzig, XX 740, Bl. 22–24, 27, 29 f. 385 SED - KL Pirna vom 15.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 386 SED - KL Sebnitz vom 11.10.1989 : Info ( ebd., SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060).

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Friedensgebete, Demonstrationen und Dialoge 12.–16. Oktober

12. Oktober : Die SED - Führung beschloss, auf Grundlage der Krenz - Erklärung eine Politik des Dialogs einzuleiten. Überall sollten Funktionäre und „leitende Kader“ neues Vertrauen schaffen, Konflikte entschärfen, Rädelsführer ausgrenzen und mit kirchlichen Würdenträgern gegen Provokateure kooperieren. Möglichst schnell sollten „Arbeitermeetings“ Zustimmungserklärungen abgeben. Das Neue Forum galt weiterhin als ungesetzlich. Demonstrationen sollten mit politischen Mitteln verhindert und Gewalt nur im äußersten Notfall angewendet werden. „Aber wenn es sein muss“, so Günther Jahn, „wird unsere Hand nicht zittern.“387 Berghofer, der selbst den ersten Dialog mit Vertretern der protestierenden Bevölkerung geführt hatte, nennt die damaligen Motive der Parteiund Staatsführung für den Dialog : „Wir müssen die Demonstranten von der Straße kriegen, wir müssen das in Tausend vielfältige Einzelgespräche auflösen und die Kraft der Straße brechen, dann können wir – natürlich über eine Konsolidierungsphase – wieder fest im Sattel sitzen und mit neuen Gesichtern weitermachen wie bisher.“388 Im ZDF erklärte Hager, der Dialog werde nur mit denen geführt, die „gutmeinend“ seien. Wer die SED - Herrschaft in Frage stelle, mit dem gebe es „keine Basis für ein Gespräch“.389 Ins selbe Rohr blies auch Stoph, der aufrief, Aktivitäten oppositioneller Gruppen zu stören und gleichzeitig das Vertrauen der Bevölkerung durch eine Verbesserung der Versorgung wieder herzustellen.390 Otto Reinhold erklärte, man werde sich auf „keine Form bürgerlicher Demokratie“ einlassen. Polen werde immer Polen, Ungarn immer Ungarn bleiben, die DDR jedoch sei „als kapitalistischer Staat neben der kapitalistischen Bundesrepublik nicht vorstellbar“.391 In Dresden warnte Modrow, man müsse trotz Dialogs „den Gegner im Auge“ behalten. Die Einheit der Partei sei derzeit die „wichtigste Sache, denn alles richtet sich gegenwärtig gegen die Partei“. Kräfte aus nah und fern würden gegen sie arbeiten und die Kräfte der Gewaltlosigkeit sich weiter formieren. Die bisherigen Mittel und Methoden seien in ihrer Wirkung eingeschränkt. Man müsse schnell reagieren, sonst nehme die Resignation und der Vertrauensschwund zur Partei zu. Kommunisten stünden unter Druck. „Erneuerung muss von uns ausgehen, nicht von Leuten auf der Straße. Aber : Noch besitzen wir diese Initiative nicht, wenn wir sie nicht ergreifen, läuft die Zeit gegen uns. Die nächste ZK - Tagung muss dies klären und gegnerischen Kräften den Boden entziehen. [...] Uns bleibt keine Zeit, wenn wir nicht alles aufs Spiel setzen wollen.“392 Damit agierte Modrow zwar klarsichti387 Günther Jahn am 13.10.1989. Zit. in Meinel / Wernicke, Mit tschekistischem Gruß, S. 158–160. 388 Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 405. 389 Zit. in FAZ vom 13.10.1989. 390 Vgl. Protokoll der Sitzung des Ministerrates am 12.10.1989, S. 4, 27–31 ( BArch Berlin, I /3–2859). 391 Berliner Zeitung vom 12.10.1989. 392 Anleitung aller 1. Kreissekretäre, der Stadtleitung, der Stadtbezirksleitungen, der Vorsitzenden der RdK beim 1. Sekretär der Bezirksleitung, Hans Modrow, am 14.10.1989

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ger als Krenz, dem aber folgte die Mehrheit der Partei. Führende SED - Funktionäre gingen nun im Stil bisheriger Massenkampagnen demonstrativ in die Betriebe, um Dialogbereitschaft mit allen zu demonstrieren, die für Sozialismus waren.393 Ausgeschlossen blieb, wer die Menschen zu „konterrevolutionären“ Aktionen „missbrauchen“ wollte.394 Sehr schnell konstatierten Funktionäre wie Harry Tisch, dass in den Betrieben das Klima „ein anderes geworden“ sei. Die Stimmung unter den Kollegen habe sich verändert.395 Bezirk Leipzig : Am 12. Oktober, einen Tag nach Verlesung der Politbüroerklärung, war die Lage ruhig. Überall befanden sich Einsatzkommandos der NVA in Bereitschaft.396 In Leipzig traf sich Oberbürgermeister Bernd Seidel mit den Superintendenten Johannes Richter und Friedrich Magirius, Propst Günter Hanisch und Pfarrer Hans - Jürgen Sievers zur Vorbereitung eines Gesprächs mit Vertretern der protestierenden Bevölkerung. In der Presse äußerte Seidel seine Bereitschaft zum Meinungsaustausch mit „Leipzigern, die in und vor Kirchen Willen zu konstruktivem Dialog über Weiterführung des Sozialismus zeigten“.397 Das Neue Forum reagierte angesichts „der nichtkalkulierbaren Risiken der spontanen Massendemonstrationen“ darauf am selben Tag mit der Forderung nach einem gleichberechtigten Dialog aller politischen Kräfte.398 Ansonsten meldete das MfS aus dem Bezirk lediglich ein Treffen des Kirchenkreises Delitzsch - Eilenburg zur „Ökumenischen Versammlung der DDR“ in der Marienkirche Eilenburg, bei dem Kreisjugendpfarrer Ragalski kontinuierliche Friedensgebete wie in Leipzig vorschlug.399 Bezirk Dresden : Auch die Gruppe „Menschenrechte“ der Evangelischen Kirche des Görlitzer Kirchengebietes und andere Oppositionelle schlugen wöchentliche Fürbittgottesdienste vor, u. a. um Aufrufe der neuen politischen Gruppen zu propagieren.400 Im Kreis Bischofswerda sicherte das MfS eine Großtanzveranstaltung durch Teilnahme aktiver FDJler und sorgte dafür, dass ein Zug Kampfgruppen in Bereitschaft stand.401 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Wie zwischen Oberbürgermeister Norbert Martin und Superintendent Thomas Küttler vereinbart, fand am 12. Oktober in Plauen ein Gespräch mit Vertretern der protestierenden Bevölkerung statt. In der

393 394 395 396 397 398 399 400 401

( BStU, ASt. Dresden, LBV 10717, Bl. 1–7). Vgl. SED - BL Dresden vom 13.–15.10.1989: Lage ( ebd., AKG 7001, Bl. 187 f., 193). Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 16.10.1989. Tribüne vom 12.10.1989. Junge Welt vom 16.10.1989. Vgl. Sektor NVA vom 13.10.1989 : Info über den Einsatz von Kräften des MB - III zur Herstellung von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung ( ABL, EA 891013_7). Zit. in Leipziger Volkszeitung vom 13.10.1989. Aufruf des Neuen Forums, Sprechergruppe Leipzig, vom 12.10.1989 ( ABL, H. XVII Neues Forum ). Vgl. KDfS Eilenburg o. D. : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 62–65). Vgl. KDfS Görlitz vom 12.10.1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10989, Bl. 1–6). Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551).

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Superintendentur hatten sich dafür Hunderte von Bürgern gemeldet und in Listen für eine Bürgerinitiative eingetragen. Küttler wählte daraus eine Führungsgruppe aus, nach Dresdner Vorbild „Gruppe der 20“ genannt, die mit der Stadtverwaltung verhandeln sollte. Küttler übernahm den Vorsitz, sein Stellvertreter wurde Pastor Straka von der ev. - meth. Gemeinde. Die katholische Gemeinde war durch ein Mitglied des Pfarrgemeinderates vertreten.402 Beim Gespräch wurden folgende Forderungen erhoben : Zulassung politischer Gruppen und Parteien, die sich nicht durch die SED, die Nationale Front und die gesellschaftlichen Organisationen vertreten lassen, Reformierung des Wahlsystems, Freiheit des politischen Denkens und Handelns, Offenheit der Medien für alle gesellschaftlichen Kräfte und Reisefreiheit. Einige Teilnehmer forderten direkt ein Ende der SED - Alleinherrschaft.403 13. Oktober, Bezirk Leipzig : Auch am 13. Oktober war die Lage in allen Bezirken ruhig,404 allgemein war aber klar, dass es eine Ruhe vor dem Sturm war. In der NVA wurde zwar der Befehl Nr. 105 des Verteidigungsministers aufgehoben, der Einsatzbefehl für die NVA - Hundertschaften aber blieb in Kraft. Das Luftsturmregiment 40 aus Lehnin wurde nach Leipzig verlegt. Mielke drängte auf ein militärisches Eingreifen, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.405 Um die Situation zu entschärfen, flogen am Vormittag Krenz, Herger, Streletz, Mittig und Wagner zur Beratung der Bezirkseinsatzleitung nach Leipzig,406 deren Einsatzbereitschaft Honecker befohlen hatte.407 Sie wollten den Verantwortlichen klarmachen, dass die Situation „mit offensiven Niederschlagungselementen“ nicht mehr zu beherrschen sei.408 Krenz orientierte darauf, eine blutige Auseinandersetzung auszuschließen.409 Hummitzsch stimmte ihm schließlich darin zu, „dass wir nichts mehr aufhalten können und dürfen“. Rudolf Mittig bestätigte Hummitzsch zwei Tage später, die neue, mit Krenz abgestimmte Linie sei nicht mehr zu „blockieren“. Man handele damit nicht gegen eine Weisung Mielkes.410 Während des Fluges bereitete Streletz den Befehl Nr. 9/89 des Nationalen Verteidigungsrates vor, den er und Krenz nach ihrer Rückkehr mit Honecker besprachen. Durch seinen Besuch in Leipzig hatte Krenz genügend 402 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 151. 403 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 13.10.1989 : Gespräch des OB Plauen, Martin, mit Superintendent Küttler ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1759, Bl. 324–327). 404 Vgl. MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 85). 405 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats der PHV der NVA am 18.11.1989. Zit. bei Glaser, Neues Denken, S. 818. 406 Vgl. Aussage Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 149; Interview mit Manfred Hummitzsch. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 218. 407 Vgl. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 2.12.1996, Aussage des Zeugen Edmund Geppert, Mitschrift d. A., S. 11 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). 408 Aussage eines beteiligten Offiziers des MfS. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 151. 409 Aussage Manfred Gerlachs. In : ebd., S. 151. 410 Inter view mit Manfred Hummitzsch. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 218 f.

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Rückendeckung, um Honecker zu überzeugen, den Befehl zu unterzeichnen.411 Der weigerte sich freilich zunächst,412 und erst als Streletz ihm erklärte, es sei sicherheitspolitisch unmöglich, gewaltsam gegen eine so große Menschenmenge vorzugehen,413 zeichnete er widerwillig gegen. Der Befehl sah einen aktiven Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel „nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten gegenüber Objekten“ vor. Der Einsatz von Schusswaffen bei Demonstrationen wurde „grundsätzlich verboten“, diese sollten stattdessen schon im Entstehen verhindert werden.414 Der Befehl wurde am Abend den SED - Bezirksleitungen zugesandt. Honecker forderte die Bezirkseinsatzleitungen zu einheitlichem Vorgehen in Abstimmung mit den Militärorganen auf.415 Die neuen Richtlinien wurden von der Freilassung der am 7. Oktober verhafteten Personen flankiert, die der Generalstaatsanwalt am 13. Oktober bekannt gab. Auch die meisten Demonstranten, die bis zum 9. Oktober in Leipzig inhaftiert worden waren, wurden entlassen.416 Elf Personen blieben wegen Gewalt, Plünderei und Brandstiftung in U - Haft.417 Die Freilassung stieß unter „leitenden Genossen“ teilweise auf Protest.418 Am 13. Oktober traf sich der stellvertretende Vorsitzende des Rates des Bezirkes für Inneres, Hartmut Reimann, mit zwanzig Vertretern verschiedener kirchlicher Basisgruppen. Anwesend waren daneben für die Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens Superintendent Johannes Richter, für die katholische Kirche Probst Günter Hanisch, für die Reformierte Kirche Pfarrer Hans - Jürgen Sievers, sowie für die Ev. - meth. Kirche Pastor Gerhard Riedel. Die gesteuerte Presse bezeichnete es als verwunderlich, dass die Regimegegner nicht gefordert hätten, „den Dialog in inhaltlich - fixierten Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen fortzuführen“ und dabei mit den jeweils verantwortlichen Ratsmitgliedern und Abgeordneten zu kooperieren. Hier war der Versuch erkennbar, den politischen Protest in handhabbare Arbeitsgruppen zu zerlegen. Auch eine Nutzung der „vorhandenen Möglichkeiten in den Parteien und in der Nationalen Front“ lockte die Vertreter der Basisgruppen wenig. Sie forderten stattdessen eine Freilassung der politischen Häftlinge, eine Zulassung des Neuen Forums sowie politische wie 411 Vgl. von Lang, Erich Mielke, S. 167. 412 So Manfred Gerlach. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 149 f. Brief von Egon Krenz an Erich Honecker. Zit. in Der Spiegel vom 4. 2.1991. 413 Aussage Fritz Streletz. In : Klemm, Korruption, S. 194 und 200 f. Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 150 f. 414 Befehl 9/89 des Vorsitzenden des NVR der DDR über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in Leipzig vom 13.10.1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 1655–1657. Vgl. Aussagen Wolfgang Hergers und Fritz Streletz. In : Klemm, Korruption, S. 193 f. 415 Erich Honecker an Vorsitzende der BEL vom 13.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10003, Bl. 13). 416 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 14./15.10.1989. 417 Vgl. MdI, Leiter der HA KriPo, Generalleutnant Nedwig, an Leiter K der BDVP 1–16 vom 13.10.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023 GLKA, Abtlg. EA 400). Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 14./15.10.1989. 418 SED - KL Bischofswerda vom 14.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551).

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wirtschaftliche Systemveränderungen und ließen sich auf die taktischen Winkelzüge des Regimes nicht ein.419 So entsprach es wohl eher den Wünschen der Medienverantwortlichen in der SED - Bezirksleitung, die Montagsdemonstration in „andere, wirkungsvollere und somit wahrhaftig demokratischere Formen“ zu überführen.420 Immerhin aber ignorierten die SED - Funktionäre unter dem Druck der Proteste die Forderung von Krenz, nur mit denen zu diskutieren, die den realen Sozialismus nicht in Frage stellten. Hätten sie sich geweigert, mit Vertretern der Opposition zu diskutieren, ohne bei diesen die Befür worter des Sozialismus zu selektieren, hätte dies die Glaubwürdigkeit der Dialogpolitik von vornherein untergraben. Es lag somit von Beginn an nicht in ihrer Verfügung, zu entscheiden, wer sich am Dialog beteiligen darf und wer nicht. Die Folge war, dass die Dialogveranstaltungen von Anfang an zu Tribunalen der Anklage gegen die SED - Herrschaft und zu Plattformen der Forderung nach tiefgreifenden Veränderungen wurden. Wie in Leipzig trafen sich auch in Kreisstädten Vertreter der SED - Kreisleitungen mit Vertretern der Kirche und der Bevölkerung und erklärten ihre Bereitschaft zum Dialog mit allen, die sich für die Stärkung der sozialistischen Gesellschaft einsetzten.421 Bezirk Dresden : Auch in Dresden trat am 13. Oktober auf Befehl Honeckers die Bezirkseinsatzleitung zusammen.422 Die dort besprochenen Planungen lassen sich an den Aktivitäten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei vom selben Tag ablesen. Im Fall künftiger Störungen größeren Umfangs sollten, so Nyffenegger, mit dem Deckwort „Badeofen“ unverzüglich in Bereitschaft stehende NVA - Einheiten der Offiziershochschulen „Ernst Thälmann“ Löbau, „Otto Lilienthal“ Bautzen, „Franz Mehring“ Kamenz, „Ernst Thälmann“ Zittau, des Panzer - Regiments 16 Großenhain und des Pionier - Bataillons VII Pirna herangeführt werden.423 Außerdem sollte Dresden durch „ein wirksames Informations - und Aufklärungssystem ständig unter Kontrolle“ gehalten werden. Zur Vorbereitung von „Handlungen unter besonderen Lagebedingungen“ wurde die Stadt in fünf Sicherungsbereiche gegliedert. Für Massenfestnahmen war ein „Konzentrierungsraum“ in der Kaserne der 7. Panzerdivision in der Dr. - Kurt Fischer - Allee vorgesehen. Zur Aufnahme „großer Gruppen von Störern“ sollten daneben das Heinz - Steyer - Stadion, das Dynamo - Stadion und die Rennbahn in Dresden - Reick dienen. Weitere Zuführungspunkte sollten im Bereich des Volkspolizeikreisamtes Dresden sowie am Hauptbahnhof und im Bahnhof Neustadt eingerichtet werden. Zentraler Zuführungspunkt blieb weiterhin die 419 420 421 422

Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 14.10.1989. Vgl. ebd. vom 16.10.1989. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 18.10.1989. Horst Böhm an Hans Modrow vom 14.10.1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 468 f. 423 Chef der BDVP Dresden an VPKÄ Bautzen, Großenhain, Kamenz, Löbau, Pirna, Zittau vom 13.10.1989 : Aufgabenstellung zur Unterstützung von Einheiten der NVA bei der Heranführung in die Bezirksstadt Dresden ( ABL, EA 891012).

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8. Volkspolizei - Bereitschaft in der Dr. - Kurt - Fischer - Allee.424 Gleichzeitig stellte die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei klar, man werde an der führenden Rolle der SED „nicht rütteln lassen“. Dialog heiße nicht, die Vorschläge oppositioneller Gruppierungen, die „letztendlich auf die Unterhöhlung der Staatsmacht gerichtet sind“, zu akzeptieren.425 Die Gegner des Regimes orientierten unterdessen auf Ausweitung ihres gewaltlosen Widerstandes. In der katholischen Kirche Borna fand am 13. Oktober eine Fürbittandacht statt, bei der auch der Aufruf des Neuen Forums verlesen wurde.426 In der Görlitzer Evangelischen Frauenkirche trafen sich über Tausend Menschen zum Friedensgebet mit politischen Diskussionen.427 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Auch in Karl - Marx - Stadt trat am 13. Oktober die Bezirkseinsatzleitung zusammen.428 Hier standen daraufhin vom 13. bis zum 15. Oktober drei Einsatzzüge der 16. Volkspolizei - Bereitschaft429 sowie drei NVA - Hundertschaften in Bereitschaft.430 Vor den SED - Kreissekretären erklärte der Chef der Einsatzleitung, Siegfried Lorenz, die Stimmung der Bevölkerung habe sich bis in die Parteikollektive hinein rapide verschlechtert. Nun gelte es, „auch die kritischen Geister und all jene, die nicht an Gewalt interessiert sind“, in den Dialog einzubeziehen. Die SED habe „zur Zeit noch keine Rezepte“, die Probleme im Bezirk sofort spürbar zu lösen. Damit verließ Lorenz die offizielle Dialoglinie und erklärte, dass sich auch der Dialog mit Andersdenkenden im Interesse des Machterhalts nicht umgehen lasse.431 Er fuhr eine Doppelstrategie aus militärischer Sicherung und größerer Dialogbereitschaft, beides mit dem Ziel, die Initiative für die SED wiederzugewinnen. Am 13. Oktober fand in der Kirche Frankenberg ( Hainichen ) eine Veranstaltung mit der Gruppe „uferlos“ zu Problemen der Umwelt sowie zur politischen Lage statt, bei der auch das Neue Forum vorgestellt wurde.432 In Karl - Marx Stadt kam es zu einem ersten Gespräch zwischen Oberbürgermeister Eberhard 424 Chef der BDVP Dresden vom 13.10.1989 : Aufgabenstellung zur Verhinderung von Handlungen feindlich - negativer Kräfte ( ebd., Dresden ). 425 Stellvertretender Chef der BDVP Dresden an alle Dienststellen vom 13.10.1989 ( ebd.). 426 Vgl. Borna ( HAIT, StKa ). 427 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 17.10.1989. 428 Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden am 9.12.1996, Aussage des Zeugen Siegfried Lorenz, Mitschrift d. A., S. 33 (HAIT, Modrow - Prozess 1996). 429 MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 81). 430 Sekretär der BEL Karl - Marx - Stadt : Festlegungen der Beratung der BEL vom 13.10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 790–792. 431 SED - BL Karl - Marx - Stadt, Abt. Sicherheitsfragen : Situation nach dem 7.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, L 295, Bl. 1–10); Bericht des Parteisekretärs Peter Bombik über die Beratung Siegfried Lorenz mit den SED - Kreissekretären am 13.10.1989. In : Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 17.10.1989 ( ebd., AKG 435, Bl. 28–36, 53). Vgl. Horsch, Das kann, S. 13. 432 Vgl. KDfS Hainichen vom 16.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 105–111).

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Bild 25: Dialog jetzt !

Langer und 25 am Tag zuvor in der Johanniskirche gewählten Bürger - Vertretern, der „Gruppe der 25“. Am selben Tag demonstrierten in der Stadt mehrere Tausend Menschen.433 In der Johanniskirche fanden am Abend in zwei Durchgängen Podiumsgespräche unter dem Motto „Auferstanden aus Ruinen und wie nun weiter“ mit Superintendent Magirius statt. Wegen des Andranges fanden Parallelveranstaltungen in der Lutherkirche statt. Sie wurden per Lautsprecher nach draußen übertragen, wo sich ebenfalls Hunderte Personen aufhielten. In den Kirchen wurde über das Gespräch dem Oberbürgermeister informiert und es wurden folgende Forderungen verlesen : Freilassung aller Gefangenen vom 7./8. Oktober, richtige Darstellung der Ereignisse vor dem „Luxorpalast“ sowie Demonstrations - und Versammlungsfreiheit. Gesprochen wurde auch über das Tabuthema „Deutsche Annäherung – Hilfe von drüben“. Am Ende stand eine gemeinsame Erklärung : „Wir wollen nicht noch einmal stumm werden und wir werden Solidarität üben mit jenen, die bedroht sind und wir müssen auf unsere Menschenrechte achten.“434 Weitere Themen waren : Reisemöglichkeiten, Medienberichterstattung, Umwelt, Effektivität der Wirtschaft und Menschenrechte.

433 Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 58. 434 Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 ( HAIT, StKa ).

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Vorgestellt wurde auch die Erklärung des Neuen Forums.435 In Klingenthal kam es am 13. Oktober zu einer stillen Demonstration durch die Stadt. Die Polizei hatte die Straße gesperrt und leitete die Demonstration von etwa 500 Personen zur Kirchstraße. Die Kreisdienststelle des MfS wurde derweil von der Kampfgruppe gesichert. Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes lehnte jeden weiteren Einsatz anderer Kräfte ab, obwohl Kampfgruppen und die Feuerwehr mit Wasserwerfern bereitstanden. Der Rat des Kreises forderte die Pfarrer schließlich zur Öffnung der Kirche auf. An deren Portal stellten die Demonstranten brennende Kerzen ab. In der Kirche kam es zur spontanen Aussprache. Die Pfarrer informierten über Forderungen der Landeskirche gegenüber dem Staat. Nach der Demonstration wurden die Pfarrer Meinel und Neuhof sowie Superintendent Eichhorn zum Rat des Kreises bestellt, wo ihnen erklärt wurde, sie mögen die Leute friedlich halten, sonst könne man für nichts garantieren. Wenn der Befehl komme durchzugreifen, werde man dies auch tun. In der Folgzeit wurde das Pfarrhaus zum Stützpunkt, wo sich die Bürgerinitiative von Klingenthal traf und die weiteren Demonstrationen vorbereitete.436 Auch vor der Jacobi Kirche in Oelsnitz kam es am 13. Oktober zu einer „stummen Demonstration“ von ca. 60 meist Jugendlichen, die Kerzen auf die Freitreppe stellten.437 14. Oktober : Angesichts der Lage forderte die Mehrzahl der Volkskammerabgeordneten am 14. Oktober die sofortige Einberufung einer Volkskammersitzung, was jedoch vom Präsidenten der Volkskammer, Horst Sindermann, in Absprache mit Krenz abgelehnt wurde.438 Bezirk Leipzig : Ähnlich war die Einschätzung der SED - Leitung Leipzig, die Waffen und Munition aus GST - Waffenlagern auslagern ließ, um „zusätzliche Sicherheit bei feindlichen Angriffen“ zu erreichen.439 Die Leipziger Bezirkseinsatzleitung trat zusammen und beschloss Maßnahmen, um am 16. Oktober eine Demonstration in Leipzig zu verhindern. Dazu gehörten vor allem eine Ausweitung der Dialogpolitik und verstärkte Gespräche mit kirchlichen Amtspersonen. In Gesprächen Wötzels mit den Superintendenten Magirius und Richter wurde jedoch bereits deutlich, dass am 16. Oktober wieder viele Menschen zur Mon435 Vgl. MdI vom 1.11.1989 : Organisierte Veranstaltungen am 13./14.10.1989 in Karl Marx- Stadt, in der Johanniskirche / Lutherkirche und in Plauen ( BArch Berlin, DO 1, 52445); MdI : Lagefilm ( ebd., 52461, Bl. 89); KDfS Flöha vom 13.10.1989 : Ergänzungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2); ZK der SED, Abt. Parteiorgane, vom 16.10.1989 : Info ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 38). 436 Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution – Erinnerungen eines Klingenthalers ( Ev.Luth. Pfarramt St. Wolfgang in Schneeberg ); Aussage des Pfarrers Meinel am 17. 8.1998 ( ebd.); BVfS Karl - Marx - Stadt : Info über die Demonstration am 13.10.1989 in Klingenthal ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1759, Bl. 316–318); KDfS Klingenthal : Info über die 25. Kampfgruppenhundertschaft, die am 13.10.1989 zur Sicherung der KDfS eingesetzt wurde ( ebd. 1759, Bl. 283 f.). 437 KDfS Oelsnitz vom 13.10.1989 : „Stumme Demonstration“ am 13.10.1989 vor der Jacobi - Kirche in Oelsnitz / Vogtland ( ebd. 3078, 2, Bl. 18 f.). 438 Vgl. Neues Deutschland vom 27./28.1.1990. 439 BVfS Leipzig, XX vom 14.10.1989 : Bericht zur Erhöhung der staatlichen Sicherheit bei GST - Waffenkammern im Bezirk Leipzig ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1838, Bl. 1 f.).

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tagsdemonstration zu erwarten waren. Die Superintendenten schlugen stattdessen vor, dass Vertreter der Kirche und des Staates gemeinsam auf den zentralen Plätzen sprechen sollten, wobei die Vertreter der Partei „unbedingt etwas Substanzielles“ sagen müssten, da „sonst der Eindruck entsteht, dass die Massen nur beruhigt werden sollen“. Für die SED - Funktionäre sicher ungewohnt, sollten sie zuvor durch Psychologen und Soziologen beraten werden, damit sie „nicht durch unbedachte Bemerkungen die Lage verschärfen“.440 Im Bezirk Leipzig blieb es an diesem Tag ruhig. In Altenburg war ein Sternmarsch geplant,441 aus Geithain berichtete das MfS, dass sich der Pfarrer der ev. - luth. Gemeinde „entschieden“ gegen „Montagsfriedensgebete“ aussprach. Wer beten wolle, solle sonntags in den Gottesdienst kommen.442 Bezirk Dresden : Im Bezirk Dresden instruierte Modrow alle Partei - und Staatsfunktionäre am 14. Oktober, die Bezirks - und Kreiseinsatzleitungen müssten unbedingt die Lage im Griff behalten. Nach den bisherigen Demonstrationen sei „mit einem schweren Nachgang zu rechnen“, die Situation sei „nach wie vor noch nicht überschaubar“.443 Für Dresden berichtete die Volkspolizei an diesem Tag über einen geplanten Bittgottesdienst in der Herz - Jesu - Kirche mit anschließender Demonstration zum Fetscherplatz, wo Kerzen abgestellt werden sollten. Am 14. Oktober begann in der Trinitatiskirche Meißen - Zscheila ein zweitägiges Seminar zum Thema „Frieden mit der Schöpfung“. Ca. 200 Personen diskutierten über ökologische Themen. Bei einer Diskussionsrunde über das Neue Forum stellte Pfarrer Hanno Schmidt die Bürgerbewegung vor. Die Teilnehmer unterzeichneten zwei Petitionen an Berghofer und Modrow, u. a. wegen des Reinstsiliziumwerkes Dresden - Gittersee und einer Zulassung des Neuen Forums. Pfarrer Albrecht rief dazu auf, „sich zu sammeln und zu formieren, um ein geschlossenes Vorgehen zu gewährleisten“.444 Die SED organisierte unterdessen in den Wohnbezirken der Städte und in den Gemeinden der Kreise Einwohnerversammlungen, um die zentrale Dialogforderung planmäßig umzusetzen.445 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Plauen zog am 14. Oktober ein friedlicher Demonstrationszug von ca. 10 000 Personen vom Otto - Grotewohl - Platz in Richtung Leninplatz und zurück. Hier kannte man „die neue Linie der Sicherheitskräfte, nicht einzuschreiten“.446 Dennoch trugen die Demonstranten ihre Pla440 2. Sekretär der SED - Leipzig und Vorsitzender der BEL im Amt, Helmut Hackenberg, an Erich Honecker vom 15.10.1989 ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 92–94). 441 Ebd., SED - KL Altenburg, 1049, Bl. 106. 442 KDfS Geithain vom 14.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 31–34). 443 Anleitung Hans Modrows am 14.10.1989 aller 1. Kreissekretäre, der Stadtleitung, der Stadtbezirksleitungen, der Vorsitzenden der RdK ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10717, Bl. 1–7). 444 BVfS Dresden vom 16.10.1989 : 30. „Friedensseminar“ in der Trinitatiskirche MeißenZscheila am 14./15.10.1989 ( ebd., XX 9181, Bl. 185 f.). 445 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 14.10.1989. 446 KDfS Plauen vom 17.10.1989 : Stimmungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 2, Bl. 1 f.).

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kate ohne Stangen, „um den Sicherheitskräften keinen Vorwand zu liefern“.447 Es gab Plakate mit Forderungen wie „Für Zulassung Neues Forum und andere Reformgruppen“, „Demokratie – jetzt oder nie“, „Freiheit – Pressefreiheit – Meinungsfreiheit“, „Von der SU lernen, heißt siegen lernen !“, „Wir brauchen Reformen“, „Wir sind das Volk“, „SPD – Freiheit für oppositionelle Parteien“, „Gorbi, Gorbi“, „Wir bleiben hier“ und „Wir wollen Reformen“.448 In der Ev. Luth. Kirche St. - Johannis in Plauen fand ein Gottesdienst statt, bei dem Superintendent Küttler Meinungs - , Informations - , Reise - und Wahlfreiheit forderte.449 Auch in Lengenfeld ( Reichenbach ) gab es am 14. Oktober ein Friedensgebet und einen Bittgottesdienst. Ca. 70 Personen hielten sich mit Kerzen vor der Kirche auf.450 Der Pfarrer der ev. - luth. Kirche Sosa ( Aue ) meinte, Kirche und Staat müssten gemeinsam Lösungen finden. Der Landesbischof habe beim letzten Konvent erklärt, es sei nicht Ziel der Kirche, die DDR durch eine Wiedervereinigung „kapitalistisch einzubinden“. Er könne auch keine parlamentarische Demokratie befürworten, die eine Wahl der „Republikaner“ gestatte.451 15. Oktober : Am Sonntag, dem 15. Oktober gab es in Sachsen wenige Veranstaltungen, die auch durchweg „ohne Störungen“ verliefen.452 Bei einem Kreismännertreffen am 15.10.1989 in der evangelischen Kirche Daubitz ( Weißwasser ) warb Pfarrer Havenstein für das Neue Forum.453 Bei Gottesdiensten wurde ein Hirtenbrief Leichs verlesen. Darin warnte er die DDR - Führung davor, Kritiker weiterhin als Staatsfeinde zu behandeln und forderte ein Ende der Gewalt.454 Am selben Tag wurde auch ein Schreiben Hempels an die Gemeinden der Landeskirche Sachsens im Gottesdienst verlesen. Er forderte Gespräche zwischen Demonstranten und Staatsvertretern auch über Nachteile der DDR - Gesellschaft, eine offene Berichterstattung in den Medien und Gewaltfreiheit. Zugleich forderte die Kirche die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte.455 Kei-

447 Bericht Steffen Kretzschmars. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 132 f. 448 MdI vom 1.11.1989 : Veranstaltungen am 13./14.10.1989 in Karl - Marx - Stadt, in der Johanniskirche / Lutherkirche und in Plauen ( BArch Berlin, DO 1, 52445); MdI : Lagefilm ( ebd., 2.1, 52461, Bl. 93); BVfS Karl - Marx - Stadt : Info über die Demonstration am 14.10.1989 in Plauen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 670, 3, Bl. 54–57); ZK der SED, Abt. Parteiorgane, vom 16.10.1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 38). 449 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Gottesdienst in der ev. - luth. Kirche St. - Johannis in Plauen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1759, Bl. 218–220); KDfS Plauen vom 17.10.1989 : Ergänzung ( ebd., 2437, 2, Bl. 91–93). 450 KDfS Reichenbach vom 17.10.1989 : Info ( ebd., RB 130, Bl. 121). 451 KDfS Aue : Pfarrer der ev. - luth. Kirche Sosa vom 16.10.1989 ( ebd., AKG 1805, Bl. 55– 57). 452 BDVP Leipzig vom 15.10.1989 : Lage, Anlage 1 ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 1). 453 KDfS Weißwasser vom 16.10.1989 : Pfarrer Havenstein ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 577–579). Zur Entwicklung in Weißwasser vgl. Petrick / Weiß, Das Neue Forum, S. 133–141. 454 Vgl. Informationen des BMB 19 vom 20.10.1989, S. 24. 455 Wort des Landesbischofs Hempel an die Gemeinden der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens vom 14.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 4, Bl. 102–105).

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nerlei kritische Äußerungen kamen dagegen von kleineren Kirchen wie etwa von den Mormonen, die in Freiberg einen Tempel unterhielten. Hier galt für alle Missionare die Weisung, „sich von allen Ansammlungen zu distanzieren und sich herauszuhalten“.456 Auch Prediger der Siebenten - Tags - Adventisten distanzierten sich von Leichs Stellungnahme, von „Ausschreitungen“ und Forderungen nach Reformen.457 Die Ruhe an diesem Sonntag aber war wieder nur die Ruhe vor dem Sturm, denn allen Seiten war klar, dass es am bevorstehenden Montag zu größeren Demonstrationen kommen würde. 16. Oktober, Bezirk Leipzig : In allen drei Bezirken bereitete sich das Regime militärisch auf den 16. Oktober vor. In allen Volkspolizei - Einheiten bestand Alarmbereitschaft.458 Eine Führungsgruppe und drei Einsatzkompanien der 6. und 12. Volkspolizei - Bereitschaft standen mit Sonderausrüstung, „Erstausstattung Munition“, Gummiknüppeln, zwei Wasserwerfern und fünf Lkws W 50 mit Sperr - und Räumgittern in den Kasernen in Reserve.459 Außerdem wurden sechs Kompanien der Offiziershochschule der Volkspolizei Aschersleben, drei Kompanien der OHS - Bereitschaften Dresden und zwei Züge SchuPo der TraPoSchule Halle in Leipzig bzw. Dresden in Bereitschaft gehalten.460 Vom 14. bis 17. Oktober lagen zusätzlich zu 27 NVA - Hundertschaften drei weitere NVA Hundertschaften des Luftsturmregimentes 40 beim Artillerieregiment 3 in der Olbrichtstraße in Bereitschaft.461 Auch die NVA - Einheiten waren auf Anforderung von Streletz mit Sonderausrüstung ausgestattet. Zu ihrer Unterstützung stellte die Volkspolizei weitere 500 Gummiknüppel zur Verfügung.462 Zusätzlich wurden Spezialkräfte des MfS nach Leipzig verlegt, die „vorrangig für die Festnahme der Rädelsführer bzw. für den Einsatz zu besonderen Aufgaben vorbereitet“ wurden.463 Zwar bereitete sich das Regime auf militärische Auseinandersetzungen vor, es galt aber der Befehl Nr. 9, wonach ein direkter Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel nur dann erfolgen sollte, wenn Personen oder Objekte angegriffen bzw. andere schwere Gewalthandlungen inszeniert werden. So widerwillig Honecker den Befehl Nr. 9 unterzeichnet hatte, so sehr drängte er noch am Vorabend des 16. Oktober auf eine gewaltsame Auflösung der Demonstrationen464 und erwog erneut den Aufmarsch von Panzern. Für ihn lag 456 457 458 459 460 461 462 463

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KDfS Freiberg vom 13.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 51–53). KDfS Hainichen vom 12.10.1989 : Info ( ebd. 534, 1, Bl. 68–73). Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 93. MdI, Generalleutnant Grüning, Chef des Stabes, an Chef der BDVP Halle, Leipzig zur Kenntnis und Veranlassung vom 13.10.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52362). Vgl. MdI - Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 536 ( ebd., 52461). Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info ( BArch Berlin, VA - 1/37601, Bl. 273). Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 22; Ablaß, Zapfenstreich, S. 20. Vgl. MdI - Lagefilm von Oktober 1989, Nr. 490–494, 520 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). BDVP Leipzig, Stabschef : Aktennotiz zur Einweisung am 14.10.1989 beim Chef des Hauptstabes des NVR, Strelitz. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 698–700. „Ich will offen sagen : Hätten wir am 18. Oktober 1989 nicht die Wende an der Spitze vollzogen, die auf der Straße längst im Gange war, hätte es mit großer Wahrscheinlich-

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ein Waffeneinsatz zu diesem Zeitpunkt durchaus noch „im Bereich des Vorstellbaren“.465 Nur dadurch, dass sich der Apparat bereits auf Krenz und dessen neue Dialog - Linie umstellte, hatte Honeckers Gewaltkurs keine Chance mehr, und die drei militärischen Ministerien orientierten darauf, die Demonstrationen lediglich zu begleiten, solange sie friedlich blieben. Im MfS, wo die operative Leitung in den Händen von Mittig lag, orientierte Mielke, der inzwischen auf Krenz setzte, auf eine möglichst gewaltfreie Beherrschung der Situation. Auch hier durfte ein direkter Einsatz von Kräften und Mitteln nur erfolgen, wenn „Personen oder Objekte angegriffen bzw. andere schwere Gewalthandlungen inszeniert werden“.466 Auch innerhalb der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei galt die Direktive, „unter keinen Umständen“ von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.467 Für BDVP - Chef Straßenburg stand die gewaltsame Auflösung einer noch größeren Demonstration als am 9. Oktober nicht zur Debatte.468 Für ihn war mit dem Befehl Nr. 9 der Beschluss vom 12. für den 16. Oktober obsolet, nach den Montagsgebeten eine „erhöhte Präsenz der DVP“ zu zeigen und „schlagkräftige[ r ] Kräftegruppierungen in ostwärtiger Tiefe des Handlungsraumes“ bereitzustellen.469 Ein direkter Einsatz der Volkspolizei war daher auch hier nur vorgesehen, „wenn Personen oder Objekte angegriffen bzw. schwere Gewalthandlungen inszeniert“ würden.470 Ähnlich sah es bei der NVA aus, wo festgelegt wurde, die Sicherheitskräfte handlungsbereit zu halten, aber keine Waffen zum Einsatz zu bringen.471 Stattdessen versuchte man die Demonstration von vornherein klein zu halten. Die Bezirkseinsatzleitung beschloss „vielfältige Maßnahmen“, um „eine Demonstration in der Stadt am 16.10. 89 zu verhindern“. Dazu gehörte eine Ausweitung der Dialogpolitik, Verstärkung der Gespräche mit kirchlichen Amtspersonen und die Aktivierung der Parteibasis.472 Der „Gefahr“ einer Ausweitung der Demonstrationen auf weitere Teile der DDR sollten die Leiter der MfS - Dienststellen durch den „vorbeu-

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keit einen Bürgerkrieg gegeben. Du erinnerst Dich doch sicherlich des Telefongesprächs in Bezug auf Leipzig, das Du am 15. Oktober 1989 gegen 21.00 Uhr mit mir zu Hause geführt hast ? Ich habe die Worte noch heute im Ohr.“ Brief von Egon Krenz an Erich Honecker. Zit. in Der Spiegel vom 4. 2.1991. Schabowski, Der Absturz, S. 23. Erich Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 16.10.1989 ( BStU, HA VIII 755, Bl. 1 f.). Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 208. BDVP Leipzig, Stabschef : Aktennotiz zur Einweisung am 14.10.1989 beim Chef des Hauptstabes des NVR, Strelitz. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 698–700. Aussage Gerhard Straßenburgs. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 152. BDVP Leipzig vom 12.10.1989 : Lagebericht, Anlage 1 : Friedensgebet ( SächsStAL, BDVP, 1). Erich Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 16.10.1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 78 f.). Aussage Gerhard Straßenburgs. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 152. 2. Sekretär der SED - BL Leipzig und Vorsitzender der BEL im Amt, Helmut Hackenberg, an Erich Honecker vom 15.10.1989 ( ABL, H. XV SED, FDJ ).

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genden Einsatz geeigneter Kräfte und Mittel“ begegnen.473 So wurde die Anreise oppositioneller Personen nach Leipzig unterbunden.474 Honecker wies an, die Bildung eines einheitlichen Demonstrationszuges im Zentrum Leipzigs unbedingt zu verhindern475 und eventuelle Demonstrationen zu kanalisieren und abzudrängen.476 Das MfS drängte die Kirchenleitungen, dafür zu sorgen, dass kirchliche Veranstaltungen nicht in „öffentlichkeitswirksame provokativ demonstrative Handlungen“ umschlagen.477 In politisch angespannter Situation verfolgten Honecker, Krenz, Mielke, Streletz und Dickel die Ereignisse in Leipzig von Berlin aus gemeinsam am Bildschirm.478 Krenz hatte dies veranlasst, „damit niemand ausbrechen konnte aus der Kette und für sich alleine irgendwelche Befehle geben konnte“.479 Mehrfach mussten Dickel und Streletz beruhigend auf Honecker einwirken, der Vorschläge machte, die zu einer Eskalation geführt hätten. Nach Friedensgebeten in fünf Leipziger Kirchen versammelten sich nach 70 000 eine Woche zuvor nun etwa 120 000 Bürger zur Demonstration,480 obwohl Vertreter der SED, der Blockparteien und auch der Kirche die Bevölkerung über den Stadtfunk aufforderten, sich nicht zu beteiligen.481 Immer wieder skandierten sie „Gorbi, Gorbi !“, „Keine Gewalt !“ und forderten die Zulassung des Neuen Forums, Pressefreiheit und Reformen. Auf Transparenten standen Losungen wie „Jetzt oder nie : Freiheit und Demokratie“ oder „Reisefreiheit für alle“.482 Angehörige des MfS versuchten, den Demonstranten Plakate zu entreißen und sie so zu provozieren.483 Dennoch kam es zu keinen Zusammenstößen. Aus Sicht der Berliner Zentrale gab es nur eine kritische Situation, als sich Demonstranten anschickten, das Gebäude der Bezirksverwaltung des 473 Erich Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 16.10.1989 ( BStU, HA VIII 755, Bl. 1 f.). 474 Vgl. Minister des Innern und Chef der DVP, Friedrich Dickel, an Präsident der VP Berlin, Chefs der BDVP Halle, Karl - Marx - Stadt, Dresden, Gera, Magdeburg vom 14.10.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 475 Vgl. BDVP Leipzig, Stabschef : Aktennotiz zur Einweisung am 14.10.1989 beim Chef des Hauptstabes des NVR, Strelitz. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 698–700. 476 Inter view mit Manfred Hummitzsch im Juli 1990. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 218 f. 477 Erich Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 16.10.1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 78 f.). 478 Aussage Karl - Heinz Wagners. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 195. Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 153. 479 Aussage Egon Krenz. In : Und diese verdammte Ohnmacht, S. 173. 480 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 18.10.1989; Feydt / Heinze / Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, S. 131 f.; Bernhof, Leipziger Protokoll, S. 7–11. 481 Leipziger Volkszeitung vom 17.10.1989. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 121 f. So Pfarrer Gottfried Schleinitz. Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 154, Anm. 12. 482 Neues Forum Leipzig, S. 119. Zu den Sprechchören vgl. Leipziger Demontagebuch, S. 50. 483 Vgl. Bericht Wolfgang Hirsch. In : Neues Forum Leipzig, S. 115.

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Bild 26: Montagsdemonstration in Leipzig am 16.10.1989.

MfS Leipzig zu stürmen, was aber von anderen Demonstranten verhindert wurde. In dieser Situation wirkten Streletz und Dickel beruhigend auf Honecker ein, der „innerlich völlig durcheinander“ und unsicher war.484 Während der Demonstration kursierte ein Papier, in dem die Erklärung des Politbüros als unzureichend kritisiert wurde. Unter dem an „Bürger, Soldaten und Polizisten“ gerichteten Motto „Lasst euch nicht einschläfern“ wurden stattdessen demokratische Forderungen erhoben.485 Angesichts der Ansammlung von 120 000 protestbereiten Menschen wuchs innerhalb der SED die Unsicherheit. Viele Genossen waren „besorgt, wie es dazu kam, und stellen verstärkt die Frage nach den Ursachen“.486 „Unerklärbar“ erschien ihnen „der mengenmäßige Zuwachs von Demo zu Demo“.487 Dass die von ihnen „Sozialismus“ genannte SED - Diktatur die eigentliche Ursache war, erschloss sich vielen von ihnen weder zu dieser Zeit noch später. Die Gewaltlosigkeit wurde hingegen allgemein mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Nach der Demonstration riefen Eppelmann und Vertreter anderer Oppositionsgruppen zum Stopp der Demonstrationen auf, um die Stimmung zu beruhigen. Die rasante Mobilisierung bereitete auch hier eher Unbehagen, schien die Ent484 485 486 487

Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 154. Das geht alle an ( Zeitzeichen ), Leipzig vom 16.10.1989. In : Wir sind das Volk 1, S. 80. SED - SL Leipzig vom 16. und 17.10.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 885). BVfS Leipzig vom 18.–20.10.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839, Bl. 17–26).

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wicklung doch das Konzept eines friedlichen Wandels des Sozialismus durch Dialog in Frage zu stellen.488 Beim Neuen Forum Leipzig hielt man davon nichts. Als hier der Sprecher des Neuen Forums, Bernhard Becker, dazu aufrief, drei Wochen lang keine Demonstrationen mehr durchzuführen, wurde er von einer Koordinationsgruppe als „Kontaktperson“ abgewählt.489 Zwar konzentrierte sich die Aufmerksamkeit an diesem Tag DDR - weit auf Leipzig, aber auch andernorts gab es Proteste. In der Delitzscher Stadtkirche fand am 16. Oktober die erste von nun an mehreren Montagsandachten statt.490 Auch in Döbeln kamen ca. 600 Menschen zum zweiten Fürbittgottesdienst in die Kirche,491 und in Wurzen beteiligten sich nach dem zweiten Friedensgebet 300 Menschen an einer spontanen Demonstration.492 Bezirk Dresden : Am 16. Oktober fanden in der Maria - Martha - Kirche in Bautzen zwei Veranstaltungen mit jeweils ca. 1 200 bis 1 600 Personen statt. Es gab einen offenen Dialog über Themen wie Neues Forum, Grundrechte und politische Freiheiten.493 Während der Veranstaltung wurden Kontaktadressen des Neuen Forums in verschiedenen Orten bekannt gegeben. Bisher hatte sich die hiesige Kirche geweigert, das Neue Forum zu unterstützen. Man vereinbarte nun, die Entwicklung in Dresden und Leipzig weiter zu verfolgen, „um weitere Aktivitäten abzuleiten“.494 Damit war Bautzen „die letzte Stadt in der Lausitz,

Bild 27: Demonstranten in Leipzig. 488 489 490 491 492 493

Vgl. taz vom 18.10.1989. Vgl. Neues Forum Leipzig 2 vom 23.10.1989 ( ABL, H. XIX /1). Vgl. Wichtige Ereignisse im Zeitraum 1989/90 ( StV, Museum Schloss Delitzsch ). Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 132. Wesentliche Äußerungen beim Gemeindeabend am 16.10.1989 ( Ev. - Luth. Kirchenvorstand St. Petri Bautzen ). 494 SED - KL Bautzen vom 17.10.1989 : Gründung des Neuen Forums ( SächsHStA, SED BL Dresden, 13527).

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die sich der Bürgerrechtsbewegung auch nach außen hin anschloss“. In Zittau, Löbau und Görlitz hatte es derartige Versammlungen bereits gegeben.495 Auch in der Eibauer Kirche ( Löbau ) trafen sich an diesem Tag 1 500 Bürger zur Gesprächsrunde.496 Parallel zur Sammlung der Regimegegner unter den Dächern der Kirche organisierte die SED ihren Dialog. So besuchte z. B. am 16. Oktober die 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung Bischofswerda, Hannelore Strugalla, die Jugendbrigade „Roter Stern“ im Mähdrescher werk Bischofswerda / Singwitz. Während sie dort „Standpunkte zum weiteren Aufbau des Sozialismus“ erörtern wollte, beklagten einige Arbeiter die mangelhafte Teilelieferung und die schlechten Luftbedingungen in den Hallen.497 Die Aufmerksamkeit richtete sich an diesem Tag freilich sogar international auf Dresden, wo das 2. Rathausgespräch stattfand.498 Das Modell fand inzwischen überall Nachahmung, weswegen sein weiterer Verlauf interessierte. Die Präsenz der Volkspolizei war erhöht und der Hauptbahnhof besonders gesichert. Da die SED - Führung in Berlin drängte, alle Dialoge und Rathausgespräche dem Dialog - Konzept des Politbüros anzugleichen, ordnete Modrow an, dem Gespräch seinen regimefeindlicher Charakter zu nehmen. Er begrenzte Berghofers Handlungsspielraum nach dem Grundsatz : „Du redest mit Bürgern und nicht mit einer organisierten Opposition.“499 Ebenso verbindlich war die Vorgabe, das Zusammentreffen als Gespräch mit der Kirche zu deklarieren und den Gesprächskontakt auslaufen zu lassen. Es gehe darum, „keine Form legalisierter Opposition oder halblegaler Formen ständiger Gespräche zuzulassen“.500 Auch Hempel wurde von Modrow aufgefordert, die Gespräche zu beenden, was Ziemer jedoch ablehnte.501 Nach Einschätzung Böhms versuchten er und Steffen Heitmann, sich selbst „im Hintergrund haltend, aber inspirierend“, dem Dialog mit Berghofer einen „oppositionell - feindlichen Charakter“ zu geben und Forderungen „staatsfeindlichen Inhalts zu stellen“. Ziemer drängte auf die Bildung einer „echten Oppositionsstruktur“.502 Das 2. Rathausgespräch zeigte, was auf den gesamten, nun überall beginnenden Dialog zutraf : Die SED versuchte damit ihre Macht zu sichern, die Demonstranten wollten genau das Gegenteil. Beim Gespräch mit der Gruppe der 20 nannte Berghofer die Politbüroerklärung „das von der Bevölkerung erwartete Zeichen“ für eine „umfassende Volksaussprache“. Er versuchte, den bisher singulären Charakter der Dresdner Gesprächsrunde zu verwischen und die Gespräche in den allgemeinen Dialog einmünden zu lassen. Das hieß, das sozialistische System durfte nicht in Frage 495 496 497 498 499 500

Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 11). Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 20.10.1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 17.10.1989. Vgl. ausführlich Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 99–112. Interview mit Wolfgang Berghofer am 8. 9.1996. Einschätzung der Entwicklung vom 8.–11.10.1989 durch die SED - BL ( SächsHStA, SEDBL Dresden, 13218). 501 Vgl. Interview mit Christof Ziemer am 7. 7.1996. 502 BVfS Dresden, Böhme, an MfS, o. D. ( BStU, ZA, Neiber, 72, Bl. 63).

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Bild 28: Rathausgespräch des Dresdner Oberbürgermeisters, Wolfgang Berghofer, mit der Gruppe der 20 am 30.10.1989.

gestellt und oppositionelle Tätigkeit musste abgelehnt werden. Der vom Gespräch am 8. Oktober ausgehende Impuls eines offenen Dialogs sollte in die staatlich verordnete Dialogpolitik mit dem Ziel der Stabilisierung der SED - Herrschaft einmünden. Die Vertreter der Gruppe der 20 erklärten daraufhin, sie seien keine Opposition und strebten Veränderungen im Rahmen des Sozialismus an. Dieses Bekenntnis entsprach taktischem Kalkül. Tatsächlich zielten die Forderungen auf eine Demokratisierung der Gesellschaft. Revolutionäre Ziele verbargen sich hinter Forderungen nach einer Reform der Gesellschaft, war doch zu diesem Zeitpunkt nicht einmal klar, ob selbst eine Reform des Systems möglich sein würde. So wurden u. a. das Recht auf Meinungsäußerung sowie Versammlungs - und Demonstrationsfreiheit gefordert. Berghofer wies fast alle Forderungen zurück, lehnte eine Anerkennung der Gruppe ab und schloss die künftige Genehmigung von Demonstrationen aus. Entgegenkommen zeigte er nur in der Frage der politisch Inhaftierten. Angesichts der Haltung des Oberbürgermeisters drohte das Gespräch zu scheitern. „Für mich“, so Dieter Brandes von der Gruppe der 20, „war klar, wir sind von der Straße delegiert worden, wenn es nicht klappt, gehen wir wieder auf die Straße.“503 Ziemer sorgte jedoch durch Kompromisse dafür, das Gespräch fortzusetzen, sah er doch auch 503 Bericht Dieter Brandes über das zweite Rathausgespräch am 16.10.1989. In : Flach, Der Demokratisierungsprozeß, S. 45.

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die Zwänge, unter denen Berghofer handelte. Gleichzeitig versammelten sich auf Initiative des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke, der unter Führung Ziemers als Schaltzentrale des gesellschaftlichen Wandels in der Stadt wirkte, vor dem Rathaus zirka 10 000 Demonstranten, die Informationen über das Gespräch und eine öffentliche Diskussion über Reformen forderten. Ziel der Aktion war es, die Gruppe der 20 zu unterstützen. Kurz zuvor hatte in der Kreuzkirche ein Fürbittgebet mit ca. 1 500 Teilnehmern stattgefunden, wo Hempel zum „Gebet für die Verhandlungsführenden“ aufgerufen hatte. Die Demonstranten vor dem Rathaus klatschten nun rhythmisch und riefen : „Wir bleiben hier“, „Wir wollen Antworten“, „Wir sind das Volk“ und „Neues Forum wollen wir“. Ab und zu wurden Versteile der „Internationale“ gesungen. Ausschreitungen und Gewaltakte gab es nicht. Unter dem Druck der Ereignisse wandte sich Berghofer vom Balkon aus an die Demonstranten und kündigte eine Fortsetzung des Dialogs an. Ziemer rief anschließend zur friedlichen Beendigung der Demonstration auf und wies auf die Informationsveranstaltungen am nächsten Abend in den Dresdner Kirchen hin. Nachdem er erklärte, dass die Kirchen das letzte Mal zur Verfügung stünden, gab es tosenden Beifall. Die Demonstration löste sich danach auf. Die im Führungszirkel des Ökologischen Arbeitskreises konzipierte und von Berghofer kritisierte Doppelstrategie von Gespräch und Demonstration verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Situation führte dem Oberbürgermeister vor Augen, dass die Gruppe der 20 keinesfalls, wie von ihm behauptet, nur für sich selbst, sondern

Bild 29: Information über das 2. Rathausgespräch am 17.10.1989 in der Hofkirche Dresden.

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für einen erheblichen Teil der Dresdner Bevölkerung sprach. Daher zeigte er Kompromissbereitschaft und schlug die Bildung thematischer Arbeitsgruppen im Rahmen der Stadtverordnetenversammlung vor, in denen die Mitglieder der Gruppe der 20 mitwirken könnten. Außerdem räumte er ihnen die Möglichkeit ein, auf der nächsten Stadtverordnetenversammlung ihre Ziele und Absichten zu erläutern. Damit versuchte er, vorhandene Organisationsformen wie Nationale Front, Rat der Stadt und Stadtverordnetenversammlungen zu nutzen, um die Aktivitäten der Gruppe der 20 zu kanalisieren. Seine Vorschläge wurden als „Versuch, die Gruppe durch Integration zu neutralisieren“ zurückgewiesen.504 Stattdessen beschloss man, selbst Arbeitsgruppen zu bilden. Bezirk Karl - Marx - Stadt : Auch im Bezirk Karl - Marx - Stadt standen am 16. Oktober neben Volkspolizei, Kampfgruppen und MfS wieder mehrere Hundertschaften der NVA aus Frankenberg in Bereitschaft.505 In der Karl - Marx Städter Lutherkirche fand an diesem Tag ein Friedensgebet mit anschließendem Bürgermeistergespräch in einer Turnhalle statt.506 Bei Fürbittgottesdiensten in Glauchau und Meerane ging es um Umweltprobleme, den Wahlbetrug vom Mai, Änderungen in der Medienpolitik, Reisefreiheit und um das Neue Forum.507 Auch in Glauchau folgte ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Weitere Friedensund Fürbittgottesdienste gab es in Hainichen, Markneukirchen, Oelsnitz und Zwickau. Fast überall wurde angekündigt, nun regelmäßig zusammenzukommen.508 Proteste von Künstlern Auch die Proteste von Künstlern dauerten an. Am 10. Oktober wurde am Altenburger Theater die Resolution des Staatsschauspiels Dresden verlesen.509 Am 11. Oktober gab die Gruppe „Pankow“ aus Berlin ein Konzert an der TU Dresden und nutzte dies „zur staatsfeindlichen Hetze“. Beim nachfolgenden Forum im Jugendklub gab es „Aufrufe zur Beseitigung der Partei - und Staatsführung sowie der Sicherheitskräfte“, zur Bestrafung der Volkspolizei und zur Unterstützung neuer politischer Gruppen. In Riesa übte Dorit Gäbler mit Liedern und Gedichten Kritik an der SED - Politik.510 Bei einem Auftritt der Landesbühnen Sachsen in Neustadt ( Sebnitz ) forderten Schauspieler und Orchester am 504 505 506 507

Interview mit Friedrich Boltz. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 34. Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 274). Vgl. StV Glauchau : Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ). Vgl. MfS : Fürbittandachten ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1759); MdI : Lagefilm ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 150 f.). 508 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 1). 509 Vgl. SED - KL Altenburg vom 10.10.1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 72–74); SED - KL Altenburg vom 11.10.1989 ( ebd., 1147, Bl. 160). 510 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 43–49).

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12. Oktober einen pluralistischen Dialog.511 Am Landestheater Altenburg hing am 14. Oktober ein Aushang mit dem Text „Entscheidungsfreiheit, Wahlrecht, Dialogpolitik“. Am Ende der Aufführung wurden erneut Forderungen verlesen.512 Im Staatsschauspiel Dresden kam es Mitte Oktober zu einer „Verschärfung der politischen Lage“. Regisseur Wolfgang Engel versuchte eine systemkritische Gruppierung von Künstlern zu bilden. Parteiaustritte wurden mit Beifall quittiert und täglich wurde die Resolution des Staatsschauspiels unter starkem Beifall verlesen.513 Mitte Oktober forderten die Mitarbeiter des Staatlichen Lindenau - Museums in Altenburg eine Demokratisierung, realistische Medien und Reisefreiheit.514 Der Schauspieler Jörg Heinrich übte am Annaberger Eduardvon-Winterstein - Theater Kritik an der Mediendarstellung der Ausreise. Zur gleichen Zeit hingen am Plauener Theater und an den Städtischen Theatern Karl Marx - Stadt Protestresolutionen aus.515 Im Zwickauer Theater genehmigte der Direktor am 13. Oktober Aushänge des Neuen Forums.516 Nach Abschluss der „Faust“ - Aufführung im Zwickauer Theater wurden am 15. Oktober eine Resolution und Forderungen des Neuen Forums verlesen. Ziel einer anschließenden Diskussion war es, „noch mehr Personen zu noch mehr Handlungen aufzurufen“.517 Am 17. Oktober forderte der Vorstand des Schriftsteller verbandes Leipzig von der Staatsführung, den Veränderungsprozess zu beschleunigen.518 Kritik an „Wendehälsen“ Wurden Protesterklärungen von Künstlern von der protestierenden Bevölkerung begrüßt, weil sie zu den Ersten gehörten, die Änderungen forderten, so stießen Stellungnahmen systemnaher Intellektuellen - Verbände eher auf Ablehnung. Sie setzten fast alle erst nach der vom Politbüro ausgerufenen Dialogkampagne ein und unterstützten eher Krenz als die Forderungen der Demonstranten. Noch während der Politbürositzung bezeichnete das Präsidium des Schriftstellerverbandes am 11. Oktober in einer einstimmig angenommenen Erklärung plötzlich die „Ignoranz der Medien“ als „unerträglich“519 und forderte den Beginn eines gesellschaftlichen Dialogs auf der Grundlage der Errungenschaften des Sozialismus. Einen Tag später forderten die Mitarbeiter des Bertolt - Brecht - Archivs 511 Vgl. SED - KL Sebnitz vom 12.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/ 060, Bl. 1–5). 512 SED - KL Altenburg vom 15.10.1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 114). 513 BVfS Dresden vom 15.10.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 43–49). 514 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 19.10.1989. 515 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 4 f.). 516 Vgl. KDfS Zwickau vom 13.10.1989 : Lage ( ebd., AKG 3078, 2, Bl. 20). 517 BVfS Karl - Marx - Stadt von Oktober 1989 : Rapport ( ebd., XX 779, Bl. 19). 518 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 17.10.1989. 519 Der Morgen vom 16.10.1989.

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der Akademie der Künste freie Meinungs - , Versammlungs - und Organisationsfreiheit für all jene, die für Sozialismus und Eigenstaatlichkeit der DDR eintraten.520 Nach den Erklärungen der Schriftsteller veröffentlichten die DDR - Medien am 13. Oktober „wie auf Kommando“521 kritische Stellungnahmen, in denen die „sozialistische Intelligenz“ eine Erneuerung des Sozialismus verlangte und ihre bisherige Haltung selbstkritisch hinterfragte. Am 14. Oktober bekannten sich Mitarbeiter des Bereichs Fernsehdramatik zu ihrem verfehlten Verhalten. Es sei höchste Zeit, die Stimme zu erheben, wolle man nicht die „politische und menschliche Würde verlieren“.522 Das Präsidium des Verbandes Bildender Künstler erklärte am 19. Oktober, man sehe „allein im grundsätzlichen und kontroversen Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes eine Möglichkeit, sich durch schonungslose Analyse der Situation bewusst zu werden“ und bekundete sein Unverständnis darüber, „dass die Partei - und Staatsführung diese Probleme in den letzten Jahren nicht wahrnehmen wollte und öffentlich nicht darauf reagiert hat“.523 Auch das Präsidium des Verbandes der Journalisten forderte nun seine Mitglieder auf, überholte Denk - und Arbeitsschemata zu überwinden und sich „für das Werk der sozialistischen Erneuerung“ einzusetzen.524 Das Präsidium des Verbandes der Film - und Fernsehschaffenden erklärte, die Medien müssten Maßnahmen ergreifen, um das Misstrauen der Bevölkerung wettzumachen. Die Mitglieder sollten sich so am Dialog beteiligen, „als hinge die weitere Existenz des Sozialismus allein von ihrer Arbeit ab“.525 Etliche Mitglieder der Akademie der Künste wandten sich am 23. Oktober an den Präsidenten der Volkskammer, Horst Sindermann, und forderten die Einsetzung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Gewaltakte gegenüber der Bevölkerung. Analoge Erklärungen kamen vom Berliner Bezirksvorstand des Schriftsteller verbandes und dem Berliner Verband Bildender Künstler.526 Immer neue Organisationen und Institutionen meldeten sich mit Forderungen zur Verbesserung und Erhaltung des Sozialismus zu Wort, als ginge es darum, Planziffern zu überbieten. Am 31. Oktober forderten Mitglieder des Präsidiums des P. E. N. - Zentrums der DDR Reformen und eine Pluralisierung sozialistischer Meinungen und Organisationsformen.527 Das Kollegium der Rechtsanwälte veröffentlichte ein unter Federführung von Gregor Gysi erarbeitetes Positionspapier zur Erhöhung der Rechtssicherheit. Angesichts der Lage sei es unabdingbar, grundlegende Reformen einzuleiten. Ungenügend formu520 Erklärung der Mitarbeiter des Bertolt - Brecht - Archivs der Akademie der Künste der DDR : „An alle, die hier bleiben wollen.“ In : Wir sind das Volk 1, S. 68 f. 521 taz vom 14.10.1989. 522 Gemeinsame Erklärung der Gewerkschaftsgruppe der Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler des Bereichs Fernsehdramatik Berlin. In : Wir sind das Volk 1, S. 78 f. 523 Zit. in Informationen des BMB 21 vom 17.11.1989, S. 20. 524 Wir sind das Volk 2, S. 3 f. 525 Berliner Zeitung vom 20.10.1989. 526 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 15. 527 Erklärung von Mitgliedern des Präsidiums des P.E.N. - Zentrums der DDR vom 31.10. 1989. In : Berliner Zeitung vom 28./29.10.1989.

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lierte Bürgerrechte, mangelnde Unabhängigkeit der Richter und das Strafrecht müssten verändert werden. Dringlich sei auch die Erarbeitung neuer Gesetze zum Wahl - und Versammlungsrecht sowie ein neues Reisegesetz.528 Der VII. Philosophiekongress der DDR erklärte, die Führung habe sich „dem Volk und der Realität entfremdet“. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. In Zukunft dürfe die Philosophie keine „Magd der Politik“ mehr sein.529 In der Bevölkerung wurde der Gesinnungswandel der geistigen Stützen der Diktatur mit Ver wunderung zur Kenntnis genommen530 und kritisiert, „dass führende Genossen heute Positionen beziehen, die denen vor Wochen völlig entgegengesetzt sind und dass einige so tun, als ob sie bisher keine Verantwortung in Staat und Regierung gehabt haben“.531 Partei - und Staatsfunktionäre würden sich plötzlich für Forderungen einsetzten, die von den Arbeitern schon lange diskutiert wurden und suchten den Eindruck zu erwecken, als hätten sie schon lange dafür gekämpft. Sie hängten nun „ihren Mantel nach dem Wind“, um nicht auf Privilegien verzichten zu müssen.532 Der in die Bundesrepublik übergesiedelte Schriftsteller Rolf Schneider erklärte, für das Verhältnis von Geist und Macht auf deutschem Boden stehe die vom Präsidium des DDR - Schriftstellerverbandes einstimmig verabschiedete „Resolution, in welcher der DDR revolutionäre Reformen empfohlen werden, genau zu jenem Augenblick, da sich diese zu ereignen begannen“. Seit Oktober lebten plötzlich in der DDR „fast nur noch Opfer des Stalinismus oder langjährige Befürworter von politischen Reformen“. Die Bevölkerung bezeichnete sie schnell als „Wendehälse“ : „Dieser Angehörige einer zu den Spechten gezählten Vogelgattung, Iynx, auch Natterwendel, Otter windel, Halsdreher oder Drehhals, hat, laut Großem Brockhaus, seinen Namen ‚von den seltsamen Halsverrenkungen und Gebärden, die manchmal an Schlangenwindungen erinnern‘.“533 Reaktionen auf wachsende Forderungen nach deutscher Einheit Die Inszenierung einer Dialogkampagne über die weitere Ausgestaltung des Sozialismus in der DDR und die Zustimmungserklärungen klangen wie Beschwörungsformeln angesichts einer Tatsache, die erstmals deutlich die sowjetische Botschaft in Ost - Berlin am 13. Oktober formulierte : „In der DDR wächst das gesamtdeutsche Interesse.“ Die Lage, so einen Tag später in einer Beratung, 528 Vgl. Berliner Zeitung vom 27.10.1989. 529 Zit. in Informationen des BMB 21 vom 17.11.1989, S. 10 f. 530 Vgl. KDfS Freital vom 13.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 473–476). 531 ZK der SED, Abt. Parteiorgane vom 26.10.1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 18). 532 MfS, ZAIG vom 30.10.1989 : Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage ( ebd., ZAIG Z 4262, Bl. 6). 533 Rolf Schneider, Wann blühen die Steine ? In : FAZ - Magazin 517 vom 26.1.1990, S. 44.

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sei „beunruhigend und explosiv“.534 Auch in Bonn wurde man durch die Lage gezwungen, sich über wachsende Forderungen nach deutscher Einheit Gedanken zu machen, was sich ja auch in der Massenflucht ausdrückte. Während sich Bundeskanzler Kohl in seinen Erwartungen bestätigt sehen konnte, wurden solche Forderungen in der SPD weitgehend abgelehnt bzw. für unrealistisch gehalten. Hans - Jürgen Wischnewski erklärte am 13. Oktober, er meine nicht, „das Wichtigste ist die Wiedervereinigung“.535 Peter Glotz hielt die Wiedervereinigung für „mehr als unwahrscheinlich“, da die Reformbewegungen in der DDR ganz andere Ziele verfolgten.536 Nach dem Gesprächsprotokoll der SED - Führung hatte Brandt gegenüber Gorbatschow bei einem Besuch in Moskau am 17. Oktober erklärt, „für ihn wäre das Verschwinden der DDR eine eklatante Niederlage der Sozialdemokratie, denn sie betrachte die DDR als eine gewaltige Errungenschaft des Sozialismus“.537 Auch Walter Momper bekräftigte seine Ablehnung einer Wiedervereinigung. Man brauche „keinen neuen Nationalstaat der Deutschen im Herzen Europas“, sondern eine europäische Friedensordnung, in der friedensvertragliche Regelungen über Deutschland getroffen werden. In der DDR - Opposition spreche „kein Mensch“ von Wiedervereinigung. Dort strebe man einen „dritten Weg“ an und keine Kopie der Bundesrepublik.538 Er kennzeichnete „das Gerede von der Wiedervereinigung Deutschlands [...] als große Heuchelei, die jedoch in der BRD immer eine wesentliche Rolle spiele. An dieser von der CDU gelenkten Kampagne könne auch die SPD nicht vorbei.“539 Damit deutete er das Eintreten der SPD für die deutsche Einheit als unaufrichtiges Taktieren angesichts der Rechtslage. Der Bundesausschuss der Jusos forderte gar die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und einen Verzicht auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes.540 2.6

Krenz folgt Honecker als SED-Generalsekretär (17.10.)

Während nun der SED - gesteuerte Dialog über Modifizierungen des Sozialismus beginnen sollte, bereitete man an der SED - Spitze Honeckers Absetzung vor. Am 14. Oktober weihten Krenz und Schabowski FDGB - Chef Tisch in ihre Pläne ein.541 Auf verschiedenen Wegen wurde Gorbatschow unterrichtet.542 Am 534 535 536 537 538 539 540 541 542

Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1140. Bonner Express vom 13.10.1989. Zit. in Sächsische Zeitung vom 23.10.1989. Vgl. Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/1/707). Diese Wiedergabe scheint angesichts der kritischen Haltung Brandts gegenüber der SED tendenziös wiedergegeben. Zit. in FAZ vom 23.10.1989. MfS, XX /9 : Zusammenkunft der SPD - Politiker Walter Momper und Horst Ehmke mit oppositionellen Kräften der DDR am 29.10.1989 ( BStU, ZA, HA XX /9 55, Bl. 136). Vgl. Das Volk vom 26.10.1989; Klein, Es begann im Kaukasus, S. 170. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 260 f.; Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 143. Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1142; Interview mit Harry Tisch. In: Neues Deutschland vom 24. 5.1991.

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17. Oktober trat das Politbüro zusammen.543 Stoph plädierte als Erster für Honeckers Absetzung. Er stand ihm seit Längerem kritisch gegenüber.544 Honecker dachte jedoch nicht daran abzutreten, strebte er doch sogar seine Wiederwahl auf dem XII. Parteitag an.545 Stophs Antrag fand zunächst keine Mehrheit, nur fünf Mitglieder stimmten dafür546 und gingen das Risiko ein, im Falle eines Scheiterns „mit entschiedensten Maßnahmen“ rechnen zu müssen.547 Erst nachdem Mielke drohte, über Honecker „auszupacken“548 und so dem „Wankenden den letzten Stoß“ gab,549 willigte dieser ein. Hinter Mielke stand das MfS, ohne dessen Zustimmung die Absetzung nicht durchzuführen gewesen wäre.550 Nun beschloss das Politbüro, Honecker von der Funktion des Generalsekretärs zu entbinden sowie Mittag und Herrmann abzuberufen. Honecker sah in seinem Sturz das „Ergebnis eines großangelegten Manövers“ und langfristig angestrebter Veränderungen auf der europäischen und Weltbühne.551 Nach Aussagen Maximytschews wurde Honeckers Absetzung, im Gegensatz zu der Ulbrichts, jedoch „weder von uns betrieben noch inszeniert“.552 Allerdings versetzte die Absetzung die sowjetische Führung und das KGB „in einen Zustand der Euphorie“,553 hatte Honecker sich doch „für die Nummer 1 im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt gehalten“ und „nicht mehr real gesehen“, was vorgeht.554 Krolikowski meinte später ebenfalls, Honecker habe sich für „den größten lebenden Führer des internationalen Sozialismus“ gehalten und sei von „Größenwahn“ geprägt gewesen.555 Nun wurde für den nächsten Tag die 9. Tagung des ZK der SED einberufen. Zuvor wurden die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen und Sekretäre des ZK aufgefordert, dort keine Diskussion zu führen.556 Vor dem ZK erklärte Honecker seinen Rücktritt557 und schlug überraschend Krenz als Nachfolger vor. Dieser stimmte zu, wobei unklar blieb, ob beide dies abgesprochen hatten. 543 Protokoll der Sitzung des SED - Politbüros am 17.10.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3247). 544 Vgl. Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 ( ebd. 2/1/707). Vgl. Kusmin, Die Verschwörung, S. 287 f. 545 So Egon Krenz im Januar 1990. Zit. in Der Spiegel vom 14. 9.1992. 546 Günter Schabowski, Egon Krenz, Willi Stoph, Werner Jarowinsky und Siegfried Lorenz. 547 So Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 174. 548 Schabowski, Das Politbüro, S. 105 f. Vgl. Fricke, Honeckers Sturz, S. 7; von Lang, Erich Mielke, S. 171–180. 549 Fricke, Honeckers Sturz, S. 7. 550 So Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 68. 551 Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 21. 552 Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1142. 553 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9.1994. 554 Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 in Moskau ( SAPMO BArch, SED, IV 2/1/707). 555 Aussage Werner Krolikowskis. Zit. in Der Spiegel vom 3. 8.1992. 556 Vgl. Modrow, Aufstieg und Ende, S. 20. 557 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 18.10.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2353).

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Jedenfalls gelang es Honecker so, „als Fluch des Pharao sozusagen“,558 seinen Nachfolger selbst zu bestimmen und diesen so in der Bevölkerung als HoneckerKandidaten weiter zu diskreditieren. Die sowjetische Führung nahm keinen Einfluss auf die Festlegung des Honecker - Nachfolgers.559 Die 9. Tagung des ZK entband Honecker schließlich aus „gesundheitlichen Gründen“ von seiner Funktion als Generalsekretär. Er verlor seinen Sitz im Politbüro und seine Ämter als Vorsitzender des Staatsrates sowie des Nationalen Verteidigungsrates. Zum Nachfolger wurde „einmütig“ Krenz gewählt. Auch Mittag und Herrmann verloren ihre Ämter. In seiner Antrittsrede forderte Krenz, die „politische und ideologische Offensive wiederzuerlangen“. Man werde an der „Macht der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes unter Führung der Partei“ festhalten und „sie von den Kräften der Vergangenheit nicht antasten lassen“. Zum Dialogbedarf der Bevölkerung meinte er, es gebe „genügend demokratische Foren“, um sich zu äußern. Die Bundesrepublik forderte er auf, sich nicht länger einzumischen.560 Modrow fehlte an der Rede „ein neues, nun erforderliches Antreten und politisches Niveau für eine rasche Wende“. Er sprach von einer „schwachen Wirkung der 9. Tagung“. So könnten „keine Schritte von grundlegender Bedeutung entstehen“.561 Noch aber konnte er seine Vorstellungen nicht umsetzen, noch war die „KGB - Fraktion“ nicht am Zug.562 Unmittelbar nach der 9. Tagung des ZK beschloss auch der von Stoph geleitete Ministerrat, sein Ansehen durch sofortige und „für jedermann sichtbare Veränderungen“ vor allem in der Versorgung zu steigern.563 Unklar blieb, wie dies angesichts des Ende Oktober konstatierten Finanzkollapses finanziert werden sollte. Reaktionen an der SED - Basis und in der Bevölkerung Die Reaktionen an der SED - Basis waren geteilt und reichten von euphorisch bis ablehnend. So meinte z. B. die Sprecherin der FDJ in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung, sie stehe als SED - Mitglied hinter Krenz und sei stolz, dass die SED als „die führende Kraft“ zum Dialog aufrufe.564 Der Propagandist des Parteilehrjahres im VEB Mähdrescher werk Bischofswerda erklärte, mit der Rede von Krenz sei „eine Spannung der Ungewissheit von mir gewichen“. Seinen Einschätzungen könne man nur zustimmen.565 Auch viele Berichte von 558 559 560 561 562 563 564 565

So Schabowski, Das Politbüro, S. 108. Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 109 f. Neues Deutschland vom 19.10.1989. SED - BL Dresden, 1. Sekretär von Oktober 1989 : Lage und Ergebnisse ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218). Vgl. Günter Schabowski, Vor fünf Jahren barst die Mauer. In : FAZ vom 8.11.1994. Protokoll der Sitzung des Ministerrates der DDR am 19.10.1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2861). Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 17.10.1989. Zur Entwicklung der SED in Leipzig vgl. Liebold, Machtwechsel, S. 447–469. SED - KL Bischofswerda vom 22.10.1989 : Informationen ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552).

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SED- Kreisleitungen waren noch im bisherigen Jargon verfasst. Sie zitierten Stimmen wie „wir wollen eine sozialistische DDR unter Führung unserer Partei“. Die Brigaden „Sojus 5“ und „20. Jahrestag“ des VEB Handelstransport Dresden, Bereich Dippoldiswalde, erklärten sich spontan bereit, eine stabile Versorgung des Kreises zu gewährleisten.566 In Görlitz rief der 1. Sekretär zur Unterstützung von Krenz auf. „Wo ein Genosse ist, kämpft die Partei“, hieß es in altbekannter Manier.567 Günter Löff ler, 1. Sekretär im Kreis Zittau, forderte seine Partei auf, sich an die Spitze von Veränderungen zu stellen und dafür zu sorgen, dass „niemals und zu keiner Zeit“ der Sozialismus über Bord geworfen werde. Der Wert des Dialogs müsse sich in der Planerfüllung und der Planerarbeitung beweisen.568 In Großenhain gelang es Funktionären, „die Erkenntnis zu vertiefen, dass der Klassengegner nie aufgeben wird, die soz. DDR zu vernichten“, weshalb man „den Charakter unserer Partei als Kampfpartei weiter ausprägen“ müsse.569 So wundert es auch nicht, wenn Honecker für seine Tätigkeit gedankt wurde.570 Viele Genossen hätten, so die SED - Kreisleitung Bischofswerda, die Herausforderung begriffen, vor denen die SED stehe und „wären durch die in Aussicht gestellten Veränderungen im Alltagsleben optimistisch für die Zukunft gestimmt“.571 Nun erwartete man von der kommenden Tagung des ZK der SED entsprechende Lösungen.572 Freilich wurde die Euphorie bei weitem nicht von allen Mitgliedern und Funktionären geteilt, wie z. B. die Kreisleitungssitzung Annaberg am 19. Oktober zeigte. Der positiven Einschätzung durch den 1. Sekretär, Martin Hessmann, widersprachen gleich mehrere Funktionäre aus den Betrieben. Der APO - Sekretär des VEB EIA Annaberg entzog der Partei sein Vertrauen. Der Werkleiter des VEB Papierfabrik Elterlein erklärte, die Behauptung über eine breite Zustimmung zur Wahl von Krenz stimme nicht. Beschäftigte seines Betriebes wären strikt dagegen, weil Krenz die Niederschlagung der Proteste in Peking begrüßt habe und für das Vorgehen der Sicherheitskräfte verantwortlich sei.573 Tatsächlich war die Haltung an der gesamten Parteibasis uneinheitlich. Viele Mitglieder trauten sich gar nicht mehr, Positionen zu beziehen.574 Die Mehrzahl der Mitglieder verharrte in „Passivität bzw. Abwartepositionen“.575 Von einem Schub 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575

Vgl. SED - KL Dippoldiswalde vom 22.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 1–6). Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21./22.10.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 24.10.1989. SED - KL Großenhain vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). Vgl. SED - BL Leipzig vom 20.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 31– 34); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 21./22.10.1989. SED - KL Bischofswerda vom 22.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44); SED - KL Bischofswerda vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); SED - KL Bautzen vom 18.10.1989 : Stimmungsbild ( ebd., A 13551). Vgl. KDfS Annaberg vom 22.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 94– 97). Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 24.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44).

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an der SED - Basis konnte keine Rede sein, die zweifelnde Haltung war nicht überwunden, und die Zahl der Austritte nahm weiter zu.576 Vielerorts wurde die Wahl von Krenz mit Betroffenheit aufgenommen. In der Partei hatte sich längst Skepsis gegen die Führung breitgemacht, die ihre Unfähigkeit zur Genüge unter Beweis gestellt hatte. Man fragte, wie Kommunisten es zulassen konnten, dass ein „absoluter Personenkult“ um Honecker betrieben wurde und wer die Garantie gebe, „dass die derzeitige Entwicklung solche Fehleinschätzungen als Wiederholung nicht zulässt“.577 In einigen Kreisverbänden gab es eine „scharfe und unmissverständliche, auf entschiedene Veränderung drängende Diskussion“, die sich mit deutlicher Kritik an der Führung verband. Diese sei konzeptionslos und ignoriere die Lage. Es frage sich, ob man denn überhaupt Veränderungen wolle. Im Gegensatz zu 1953 und 1961, wo man „von der Partei in den Kampf geführt“ wurde, fühle man sich jetzt alleingelassen.578 Erklärungen kämen „viel zu spät“, der „materielle und ideologische Schaden“ sei erheblich.579 Die Äußerung von Krenz, man habe „die Lage nicht richtig eingeschätzt“, gelte nur für die Führung. An der Basis wären die Probleme schon lange Bestandteil der täglichen Arbeit in Betrieben, nur habe die Führung nicht auf Signale von der Basis reagiert.580 Nötig seien Sofortmaßnahmen : „Dem Gegner muss mit sichtbaren Ergebnissen für das Wohl der Bürger [...] seinen negativen Argumenten über unseren Staat entgegengewirkt“ werden.581 In Teilen der SED- Basis diskutierte man statt der Vorgaben von oben bereits die Thesen des Neuen Forums582 und erhob, wie z. B. bei einer Kreisparteiaktivtagung in Freital, ähnliche Forderungen.583 Anstatt solche Impulse aufzugreifen und einen inneren Reformprozess wie in Ungarn oder Polen einzuleiten, wurden entsprechende Tendenzen von anderen Funktionären und Teilen des MfS diskriminiert. „Das Schlimmste, was uns passieren kann“, so z. B. der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt, Schaufuß, sei, „dass ein Kämpfer mit in der Kreisleitung oder auch unserer Dienststelle“ sei, „der genauso denkt, wie die, die draußen angreifen und sich dann mit ihnen natürlich verbünden wird“.584 Bezogen auf Rolle und Haltung der SED waren die Forderungen der Basis spezifisch, nicht jedoch hinsichtlich allgemeiner Probleme in der DDR. Hier ver576 Vgl. SED - BL Dresden vom 18.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 175 und 179). KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 38–44). 577 KDfS Freital vom 23.10.1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 443– 446). 578 SED - BL Dresden vom 17.10.1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 181–183). 579 SED - KL Bischofswerda vom 18.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 580 SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44). 581 KDfS Freiberg vom 18.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 43–45). 582 Vgl. SED - KL Bautzen vom 18.10.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, A 13551). 583 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 21./22.10.1989. 584 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 42). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 18.

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lief die Trennlinie weniger zwischen SED - Mitgliedern und Parteilosen als zwischen den in MfS - Berichten als „Progressive“ bezeichneten und dem reaktionären Rest der Bevölkerung. Dabei waren „progressive“ Kräfte durchaus auch in Blockparteien oder Massenorganisationen zu finden. So würdigten „progressive“ Vertreter der „Arbeiterklasse“ die Verdienste Honeckers, vor allem seine sozialpolitischen Maßnahmen und seine „Verdienste bei der Erhaltung des Friedens“.585 Teile der Bevölkerung begrüßten auch die Rede von Krenz „als realistische Standortbeschreibung“ und die angekündigten Maßnahmen.586 Die Mehrheit aber war froh, dass überhaupt endlich Erklärungen abgegeben und Fehler eingestanden wurden.587 Verbreitet war auch die Meinung, man müsse Krenz eine Chance geben.588 Damit erschöpfte sich die Zustimmung bei der Mehrheit aber bereits. Gefragt wurde, warum man den kranken Honecker durch Krenz ersetze, von dem das Gerücht kursierte, er sei selbst schwerkrank und habe sich in den USA operieren lassen.589 Da ihm das nötige Charisma abgesprochen wurde,590 galt er vielerorts als Übergangslösung bis zum XII. Parteitag. Man fragte, warum man nicht gleich Modrow oder Lorenz zum Nachfolger bestimmt habe.591 Im VEB Plauener Gardine gab es sogar eine Unterschriftensammlung für Modrow.592 Kritisiert wurde die Rede von Krenz.593 Sie habe, so Arbeiter aus dem VEB Messgerätewerk Beierfeld ( Schwarzenberg ), „als Hauptpunkt den Alleinmachtanspruch der SED zum Inhalt gehabt“ und sich nicht mit der künftigen Rolle der Blockparteien und dem Zustandekommen einer Koalitionsregierung befasst.594 Verbreitet war die Kritik, sie habe sich vorrangig an SED - Mitglieder gewandt und komme zu spät.595 Vor allem aber herrschte „Skepsis vor, ob die angesprochene Wende in Wahrheit beabsichtigt“596 und Krenz überhaupt in der 585 KDfS Hainichen vom 19.10.1989 : Stimmung ( ebd. 534, 1, Bl. 50 f.). 586 KDfS Freiberg vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 533, 1, Bl. 39 f.); KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : zur Stimmung ( ebd., 2, Bl. 21–23); KDfS Freiberg vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd., 1, Bl. 41 f.). 587 Vgl. KDfS Flöha vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 79–83); KDfS Freiberg vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 533, 1, Bl. 41 f.). 588 Vgl. KDfS Aue vom 22.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 66–68). 589 Vgl. KDfS Aue vom 21.10.1989 : Bericht ( ebd., Bl. 69–71); KDfS Hainichen vom 19.10.1989 : Stimmung ( ebd., AKG 534, 1, Bl. 50 f.); KDfS Glauchau vom 21.10.1989: Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23); KDfS Freiberg vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd., 1, Bl. 41 f.); KDfS Zwickau vom 19.10.1989 : Info ( ebd. 681, Bl. 97–99). 590 Vgl. KDfS Aue vom 21.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 69–71). 591 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44); KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 38–44); KDfS Aue vom 21.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 69–71); KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23). 592 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 19.10.1989 : Info ( ebd. 2145, 1, Bl. 17). 593 Vgl. KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 38–44). 594 KDfS Schwarzenberg vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 26–31). 595 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44); KDfS Auerbach vom 20.10.1989 Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 38–44); KDfS Freiberg vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 533, 1, Bl. 39 f.). 596 SED - BL Leipzig vom 20.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 31–34).

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Lage sei, eine Wende in der Politik der SED herbeizuführen.597 Sie diene nur der Beruhigung der Bevölkerung598 und sei „alter Wein in neuen Schläuchen“.599 Es habe schon viele Erklärungen gegeben, verändert aber habe sich nie etwas.600 Das prinzipielle Misstrauen in die Führung übertrug sich auf Krenz, der als „alter Stalinist“601 oder „Neostalinist“602 zur bisherigen Führung gehörte.603 Als „Zögling“, „Ableger“ und engem Vertrauten Honeckers seien von ihm keine einschneidenden Änderungen zu erwarten.604 Typisch war aber auch die Meinung, die Kunden einer Konsumkaufhalle in Mittweida ( Hainichen) äußerten, dass „es egal ist, wer an der Spitze steht, Hauptsache, die Regale in den Geschäften füllen sich wieder“. So lautete die aufgrund der wirtschaftlichen und finanziellen Krise der DDR unerfüllbare Minimalforderung der Bevölkerung, es müssten hinsichtlich Versorgung und Reisemöglichkeiten binnen kürzester Zeit deutliche Verbesserungen zu spüren sein.605 Mitarbeiter des VEB Bergbauausrüstungen Aue sprachen nur aus, was alle dachten : „Es ist nichts da, und wo nichts ist, kann auch nichts herkommen.“606 Zusätzlich fielen Krenz aber nun auch seine gerade erst geäußerten Sympathieerklärungen für die „chinesische Lösung“ auf die Füße. Nun wurde er auch für das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten in der DDR mitverantwortlich gemacht.607 Arbeiter aus dem VEB Formenbau Schwarzenberg meinten, dass er einfach „weg müsse“.608 Mitarbeiter der Privatfirma „Fritsche – Lacke und Farben“ in Schneeberg ( Aue ) meinten, man müsse „solange demonstrieren, bis sich etwas ändert“,609 und auch in Kirchenkreisen hieß es, „mit Krenz werde alles 597 Vgl. KDfS Zwickau vom 19.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 97–99); KDfS Hainichen vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 534, 1, Bl. 44–48). 598 Vgl. KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23). 599 KDfS Zwickau vom 20.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 90–93). 600 SED - KL Bischofswerda vom 18.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 601 KDfS Hainichen vom 19.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 50 f.). 602 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19.10.1989 : Lage ( ebd. 1812, Bl. 90–92). 603 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); KDfS Freiberg vom 20.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 39 f.); KDfS Stollberg vom 18.10.1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1). 604 SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44). Vgl. KDfS Auerbach vom 20.10.1989 Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 38–44); KDfS Aue vom 22.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 66–68); KDfS Hohenstein- Ernstthal vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 53–55). 605 KDfS Hainichen vom 19.10.1989 : Stimmung ( ebd. 534, 1, Bl. 50 f.). Vgl. KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 534, Bd 2, Bl. 38–55); KDfS Flöha vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 79–83); KDfS Freiberg vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 533, 1, Bl. 41 f.); KDfS Stollberg vom 18.10.1989 ( ebd. 542, 1). 606 KDfS Aue vom 22.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 66–68). 607 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44); KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 21–23); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 19.10.1989 : Lage ( ebd. 1812, Bl. 90–92); KDfS Aue vom 21.10.1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 69–71). 608 KDfS Schwarzenberg vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 26–31). 609 KDfS Aue : Berichterstattung vom 21.10.1989 ( ebd. 531, 1, Bl. 69–71).

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schlimmer, die SED werde ihren Kurs unbeirrt fortsetzen. Der Druck von unten müsse größer werden.“610 In welche Richtung die gewünschten Änderungen gehen sollten, formulierte der Plauener Superintendent Küttler. Mit Krenz seien nicht die entscheidenden Weichenstellungen hin zu politischen Veränderungen vollzogen worden.611 Nun hofften viele darauf, dass die Volkskammer wenigstens den LDPD - Vorsitzenden Gerlach zum Staatsratsvorsitzenden wählen und so ein Signal zur Auf lösung der Einparteiendiktatur geben würde.612 Im Bundeskanzleramt hielt man es für geraten, mit einer Einschätzung abzuwarten. Krenz, so Kohl, werde daran gemessen, ob er Reformen einleite oder lediglich das Machtmonopol der SED verteidige. Die Bundesregierung stellte der DDR umfassende Wirtschafts - und Finanzhilfen bis hin zur Vergabe von Krediten in Aussicht, wenn es dort zu grundlegenden Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft komme.613 Gleichzeitig erklärte Genscher, die Bundesregierung wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen, sie wolle aber, „dass sich die Menschen in der DDR in die inneren Angelegenheiten des Staates, in dem sie leben, einmischen können“. Die Tatsache, dass die Deutschen in der DDR die „Freiheitsfrage“ stellten, ehre „die ganze unteilbare Nation“.614 Das waren Worte, die viele Menschen in der DDR gern hörten und die sie zu weiterem Handeln motivierten. 2.7

Neues Forum 17.–23. Oktober

Zentrales Thema der Auseinandersetzungen zwischen Volk und Führung blieb das programmatisch weiterhin unbestimmte Neue Forum. Mitte Oktober forderte die SED - Basis dazu eine zentrale Parteiinformation,615 teils um dessen Ziele zu „entlarven“, teils um sich offensiv mit ihm auseinanderzusetzen.616 Man fühlte sich in Bedrängnis, weil die von oben propagierte Staatsfeindlichkeit „überwiegend nicht akzeptiert“ und ein Dialog mit ihm verlangt wurde.617 Auch der Staatsapparat forderte „umgehend eine zentrale staatliche Entscheidung“,

610 KDfS Zwickau vom 19.10.1989 : Info ( ebd. 681, Bl. 97–99). 611 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Telefoninterview des WDR Köln am 19.10.1989 mit Superintendent Küttler ( ebd. 2437, 3, Bl. 92–97). 612 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44). 613 Vgl. Neue Zürcher Zeitung / Süddeutsche Zeitung vom 20.10.1989. 614 Inter view mit Hans - Dietrich Genscher. In : Die Zeit vom 20.10.1989. Vgl. Rede am 19.10.1989 in Frankfurt / Main. In : Genscher, Zukunftsverantwortung, S. 113. 615 SED - KL Bischofswerda vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551); KDfS Freiberg vom 17.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 46–48). Vgl. SED - BL Potsdam vom 17.10.1989 : Bericht ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, 432/433). 616 SED - KL Dippoldiswalde vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551, Bl. 1–5). 617 SED - BL Leipzig vom 17.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 52 f.).

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wie mit Aktivisten und Sympathisanten des Neuen Forums umzugehen sei.618 Hier nun sorgte Krenz nach seiner Ernennung zum Generalsekretär für Klarheit. Er ließ parteiintern ein Faltblatt über oppositionelle Gruppen verbreiten. Hier hieß es, das Neue Forum betreibe, von imperialistischen Kräften gelenkt, das „Geschäft der Feinde des Sozialismus“. Noch antisozialistischer und konterrevolutionärer seien allerdings die SDP und der DA. Es wurde zwischen „Gegnern des Sozialismus“ und „Irregeführten“ unterschieden, wobei Letztere „wieder auf den richtigen Weg“ gebracht werden sollten. Im Dialog dürfe der Sozialismus nicht zur Disposition stehen.619 Damit war klar, dass die Ablehnung offener Gewaltanwendung durch Krenz sich nicht mit einer Änderung des Feindbildes verband. Die „irregeführte“ demonstrierende Bevölkerung konnte man nicht generell als Gegner klassifizieren, wollte man sich nicht selbst desavouieren. In der SED und im Sicherheitsapparat wurde das Papier nun studiert.620 In der SED stieß die „nach alter Machart formulierte“ Information teils auf Kritik,621 teilweise wurde sie aber zwecks „Entlar vung antisozialistischer und konterrevolutionärer Kräfte“ auch begrüßt. So meinte die SED - Kreisleitung Dippoldiswalde, man hätte „dieses gute Material“ viel eher gebraucht, „um Ziele und Hintergründe der Feinde des Sozialismus offensiv zerschlagen zu können“.622 Nun, da das Neue Forum bereits über eine Massenbasis verfügte, blieben nur die altbewährten Mittel wie Unterwanderung und Zersetzung. Mielke wies am 21. Oktober an, möglichst viele IM sollten in den oppositionellen Gruppen „so Fuß fassen, dass wir die Kontrolle über sie behalten“. Wichtig seien IM, „die Einfluss auf die Richtung des Vorgehens solcher Gruppierungen ausüben“.623 In Karl - Marx - Stadt meinte der stellvertretende Stasichef Schaufuß, die Arbeit mit IM und anderen „guten Menschen“ sei gegenwärtig das A und O der Aufgaben des MfS. „Wenn wir den Monat verpassen, dann stehen wir drau-

618 RdB Karl - Marx - Stadt vom 17.10.1989 : Stimmung ( SächsStAC, 126409). 619 SED - Informationen 1989/7, Nr. 261 vom 18.10.1989. Abgedruckt in Frankfurter Rundschau vom 1.11.1989. 620 Vgl. VPKA Döbeln vom 18.–19.10.1989 : Lagefilm um 06.45 Uhr ( SächsStAL, VPKA Döbeln, 3722); VPKA Torgau vom 18.–19.10.1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Torgau, 7339). 621 SED-BL Potsdam vom 24.10.1989: Bericht (Brandenburg. LHA, Rep 530, Nr. 432/433). 622 SED - KL Dippoldiswalde vom 18.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551, Bl. 1–4). 623 Referat Mielkes zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED vom 21.10.1989. Zit. bei Wolle, Der Weg, S. 78. Vgl. Arbeitsbuch des Leiters der HA XVIII des MfS, S. 6 (BStU, ZA, XVIII 410, Bl. 2). Broder nennt die friedliche Revolution das „Opus magnum“ des MfS, das mit Personen wie Markus Wolf, de Maizière, Böhme, Schnur und anderen die Volksbewegung selbst geschaffen habe. Vgl. Henryk M. Broder, Eine schöne Revolution. In : Die Zeit vom 10.1.1992. Ähnlich Walter Bajohr, Der Stasi - Traum vom Experiment DDR. War die ‚friedliche Revolution‘ eine gewollte Inszenierung ? In: Rheinischer Merkur vom 17.1.1992. Diese Sichtweisen ignorieren Grundprozesse der friedlichen Revolution. Dagegen Stefan Wolle, Die Wende im Untergrund. War die Herbstrevolution 1989 vom MfS gesteuert ? In : FAZ vom 30.1.1992. Vgl. Wolle, Operativer Vorgang, S. 236.

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ßen.“624 In Dresden schlug Böhm Modrow vor, leitenden kirchlichen Amtspersonen klarzumachen, dass das Neue Forum illegal bleiben werde und die Kirche sich in Widerspruch zur Rechtsordnung der DDR begebe. In Betrieben und Einrichtungen sollte durch „Maßnahmen zur Einhaltung der Arbeitszeit und Disziplin“ die Arbeit des Neuen Forums und die Nutzung von Vervielfältigungstechnik behindert werden.625 Die Leipziger SED schlug vor, das Neue Forum „als Massenorganisation zuzulassen und in erster Linie Genossen als Mitglieder aufzunehmen, um hier den Einfluss der Partei zu sichern“.626 Auf jeden Fall wurde es überall in der DDR für ratsam gehalten, Sympathisanten und Aktivisten der regimefeindlichen Organisationen durch das MfS personell zu erfassen und ihre „Gesellschaftsgefährlichkeit“ zu beurteilen, um sie später inhaftieren zu können.627 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt wurden die ca. 5 600 Mitglieder des Neuen Forums auf Grundlage von Meldungen aus den Kreisen in einer eigens für sie angelegten Kartei erfasst.628 Auch in Dresden waren die Anstrengungen „darauf gerichtet, weitere Aktivisten im Bezirksmaßstab zu personifizieren“.629 Die so kriminalisierten und bedrohten Aktivisten des Neuen Forums setzten derweil den Ausbau ihrer Bürgerbewegung fort. In Leipzig wurden Mitglieder und Anhänger aufgefordert, in Eigeninitiative in Betrieben, Institutionen und Wohngebieten Basisgruppen zu bilden. Ein Programm gebe es noch nicht, die Diskussion in verschiedenen Arbeitsgruppen dauere noch an.630 In den Kreisen gingen die Gründungen von Gruppen und Kreisstrukturen weiter.631 Es gab

624 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 17–18, 25, 39 f.). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 20. 625 BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 80–91). 626 SED - BL Leipzig vom 20.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 31–34). 627 BVfS Potsdam vom 17.10.1989. In : Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst VI, S. 81. 628 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 23.10.1989 zur Auswertung der Dienstversammlung des Ministers vom 21.10.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 434, Bl. 7); KDfS Flöha vom 17.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 84–86). 629 BVfS Dresden vom 17.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 105– 111). 630 Vgl. Neues Forum Leipzig : Informationsblatt 1 vom 18.10.1989 ( ABL, H. XVII Neues Forum ); An alle Mitglieder und Freunde des Neuen Forums Leipzig ! vom 20.10.1989, gez. Sprechergruppe des Neuen Forums Leipzig. In : Neues Forum Leipzig 2 vom 23.10.1989; Thematische AG – Kontaktadressen. In : ebd. 631 Vgl. KDfS Sebnitz vom 25.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 103–105); KDfS Görlitz vom 25.10.1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( ebd., LBV 10996, Bl. 1–7); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 17.10.1989 : Statistische Angaben des Neuen Forums ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 833, Bl. 1 f.); KDfS Annaberg vom 24.10.1989: Neues Forum ( ebd., AKG 3078, 3, Bl. 85–88, vgl. ebd. 2143, 1, Bl. 131–133); Die Union, Ausgabe Meißen, vom 19.10.1989.

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zahlreiche Aufrufe und Petitionen,632 Unterschriftensammlungen633 sowie Losungen und Flugblätter.634 Das MfS konstatierte am 23. Oktober, dass die Basisgruppen ihre Strukturen flächendeckend gefestigt und eine Organisation aufgebaut hatten. Bedeutsamste Ausgangsbasis für ihr Wirken seien nach wie vor evangelische Kirchen.635 Dabei hing es, wie das Beispiel Annaberg zeigt, von einzelnen Personen oder Kirchenvorständen ab, ob sie die neuen politischen Kräfte unterstützten. So lehnte der katholische Pfarrer von Annaberg - Buchholz eine Unterstützung des Neuen Forums ab, solange dies nicht legal sei. Ein Mitglied des Kirchenvorstandes der katholischen Kirche unterstützte dagegen dessen Aufbau.636 Auch die ev. - luth. Kirchenleitung zeigte sich eher zögerlich, während der Pastor der ev. - meth. Kirche es unterstützte.637 Im Kreis Annaberg hatte das Gedankengut des Neuen Forums zu diesem Zeitpunkt längst „unter allen sozialen Schichten im Kreis Einzug gehalten“. Täglich wurden neue Initiatoren bekannt. Überall gab es Treffen. Der Aufruf des Neuen Forums breitete sich im Verantwortungsbereich „äußerst rasch“ aus.638 Auch an der Bergakademie Freiberg begeisterten sich immer mehr Studenten dafür.639 Im Bezirk Dresden sorgten vor allem Olaf Freund ( Dresden ), Alfred Hempel ( Großschönau ), Andreas Schönfelder ( Großhennersdorf ), Thomas Pilz ( Mittelher wigsdorf ), Otmar Nickel ( Dresden ), Hanno Schmidt ( Coswig ) und Catrin Ulbricht ( Dresden ) für eine rasche Verbreitung des Gründungsaufrufes. Die Bezirksver waltung des MfS meldete Modrow am 21. Oktober „eine flächendeckende Verbreitung und Propagierung dieses Aufrufes“, besonders über kirchliche Veranstaltungen. Oft sammelten „reaktionäre kirchliche Amtsträger“ Unterschriften. Allein Schmidt und Hempel sammelten mindestens je 1 000 bzw. 2 200 Unterschriften, insgesamt lagen im Bezirk mehr als 10 000 Unterschriften vor. Es gab 14 Kontaktadressen. Die Ausbreitung erfolgte so rasant, dass die Akteure davon selbst überrascht wurden. Die Ideen des Neuen Forums waren „unter weiten Kreisen der Bevölkerung des Bezirkes verbreitet“, und die Akti632 Vgl. KDfS Görlitz vom 25.10.1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10996, Bl. 1–7); Plate, Döbelner Herbst ’89. 633 Vgl. VPKA Döbeln vom 17.–18.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Döbeln, 3722); KDfS Zwickau vom 22.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 77–79); KDfS Schwarzenberg vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 26–31); KDfS Sebnitz vom 25.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 103–105). 634 Vgl. KDfS Stollberg vom 19. und 20.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45); KDfS Zwickau vom 22.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 77–79); KDfS Flöha vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 79–83); KDfS Brand - Erbisdorf vom 18. und 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 71–76 und 83–85). 635 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 471/89 vom 23.10.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 232. 636 KDfS Annaberg vom 19.10.1989 : Aktivitäten kirchlicher Kräfte zur Organisierung der Vereinigung „Neues Forum“ ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 219–221). 637 Vgl. KDfS Annaberg vom 23.10.1989 : Gottesdienst in Annaberg - Buchholz ( ebd. 3078, 3, Bl. 77 f.). 638 KDfS Annaberg vom 20.10.1989 : Bericht ( ebd. 1804, Bl. 60–68). 639 Vgl. KDfS Freiberg vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 533, 1, Bl. 39 f.).

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vitäten zur Propagierung dieses Gedankengutes nahmen weiter zu.640 Dazu dienten vor allem Informationsveranstaltungen in Kirchen, die vom MfS dokumentiert wurden : Am 17. Oktober in Löbau und Zittau auf mehreren Kirchenveranstaltungen,641 am 19. Oktober in Zittau in der Johanneskirche, in der Klosterkirche und in der Marienkirche, in Meißen in der Lutherkirche,642 in Zwickau im Haus der DSF,643 am 20. Oktober in der Frauenkirche Görlitz644 und in der Christuskirche Bischofswerda.645 Die Veranstaltungen am 19. Oktober in Zittau waren im Wesentlichen von der Zittauer Initiativgruppe organisiert, die sich vorgenommen hatte, den Aufbau des Neuen Forums in der Oberlausitz zu koordinieren. Alle Reden dieser für die Region Impulscharakter habenden Veranstaltung wurden im Nachfolgeblatt der „Lausitzbotin“ „ip“ abgedruckt und in der Region verteilt.646 DDR - weit nahmen vom 16. bis zum 22. Oktober etwa 100 000 Personen an Veranstaltungen in Kirchen teil, bei denen die Ziele der Bürgerbewegungen vorgestellt wurden, „verbunden mit immer massiver werdenden Angriffen gegen die Politik von Partei und Regierung“.647 Als neues Medium der Verbreitung nutzte das Neue Forum nun auch Zeitungen. Erstmals wurde am 17. Oktober in Leipzig ein Aufruf des Neuen Forums im CDU - Blatt „Die Union“ abgedruckt. Einen Tag später erschien hier die erste Nummer eines eigenen Informationsblattes des Neuen Forums.648 Am 23. Oktober gab Pfarrer Tschiche in Magdeburg erstmals eine Sonderausgabe der Zeitung „Neues Forum“ heraus und kündigte deren regelmäßiges Erscheinen an.649 Hinsichtlich seiner politischen Strategien war das Neue Forum heterogen. Der Initiator und Bezirksverantwortliche des Neuen Forums von Karl - Marx Stadt, Martin Böttger, sah im Dialogangebot der SED einen Versuch, kritische Potenziale zu zersplittern und forderte am 19. Oktober, den politischen Druck durch Demonstrationen zu verstärken.650 Der gesamte Apparat der SED müsse 640 BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 80–91). 641 Vgl. SED - BL Dresden vom 17.10.1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 181, 185). 642 Vgl. BVfS Dresden vom 17.10.1989 : Neues Forum ( ebd., XX 9195, Bl. 105–111); BVfS Dresden vom 21.10.1989 : Info ( ebd., Bl. 80–91); SED - KL Zittau : Veranstaltung der evangelischen Kirche am 19.10.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13527). 643 Vgl. KDfS Zwickau vom 20.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 90– 93); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 20.10.1989 : Zusammenkunft des Neuen Forums am 19.10.1989 im Haus der DSF Zwickau ( ebd. 2437, 3). 644 Vgl. KDfS Görlitz vom 25.10.1989 : Feindlich - negative Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10996, Bl. 1–7); Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 25.10.1989. 645 Vgl. Dr. Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda, 1227– 1997). 646 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 647 MfS, ZAIG, Nr. 471/89 vom 23.10.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 232. 648 Neues Forum Leipzig : Informationsblatt 1 vom 18.10.1989. Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 133 f. 649 BVfS Magdeburg vom 26.10.1989 : Neues Forum. In : Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang der Stasi, S. 270–281. 650 MfS, HA XX vom 28.10.1989 : Aktuelle Entwicklungen im Prozess der Formierung antisozialistischer Sammlungsbewegungen ( BStU, ZA, XX /9 126, Bl. 4 f.).

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verschwinden. Das Neue Forum müsse Veränderungen fordern, die an die Substanz des Staates gehen und den Machtwechsel verlangen. Die SED brauche eine Opposition. Die Blockparteien würden ihre Fahne nach dem Wind hängen. Es müsse eine wahre Mehrparteienregierung ohne Blockparteien geschaffen werden, um den politischen Betrug zu beenden und die Staatspolitik unter Kontrolle des Neuen Forums zu stellen. In Anlehnung an sozialdemokratische Positionen führte Böttger aus : „Wir wollen nicht den Sozialismus beseitigen, wir wollen eine Art demokratischen Sozialismus schaffen, analog wie in Schweden oder Österreich.“651 Auch in Annaberg - Buchholz forderte das Neue Forum Demonstrationen vor Ort nach dem Vorbild größerer Städte.652 Das Neue Forum Zwickau forderte eine demokratische Erneuerung der DDR mit Zielrichtung eines demokratischen Sozialismus.653 Bärbel Bohley verlangte die Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft,654 und Jens Reich entwickelte Vorstellungen, den Aktionsraum des NF durch „Infiltration“ des FDGB und durch Ausnutzung von CDU und LDPD zu erweitern.655 2.8

Friedensgebete, Demonstrationen, Dialoge, Rathausgespräche 17.–23. Oktober

Dialog unter Führung der SED Unterdessen weitete die SED ihre Dialogkampagne unter Ausschluss aller erklärten Gegner des Sozialismus aus. Hauptdirektive für den Dialog war, der Sozialismus unter Führung der SED stehe nicht zur Disposition. Die Straße sei nicht der geeignete Ort für den Dialog. Die Volkspolizei wurde instruiert, in der Lage „verschärfter Klassenkampfsituation“ müsse sich dieser „unter Führung der Partei und ohne Gefährdung der Arbeiter - und - Bauern - Macht“ vollziehen.656 Überall gingen Funktionäre der SED - Kreisleitungen und Räte der Kreise in Betriebe und Einrichtungen, um den Dialog „in ergebnisorientierter Richtung zu lenken“657 und klarzustellen, dass der Sozialismus nicht preisgegeben werde. Die Probleme müssten „durch Arbeit und nicht durch Diskussion“ gelöst werden.658 Allerdings machten sie ernüchternde Erfahrungen. Neben Gesprä651 Bericht IMS „Achim Oeser“ über Martin Böttger ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 187–195). 652 KDfS Annaberg vom 20.10.1989 : Bericht ( ebd. 1804, Bl. 60–68). 653 KDfS Plauen vom 14.11.1989 : Info ( ebd. 539, Bl. 38–44). 654 Interview mit Bärbel Bohley. In : UZ vom 23.10.1989. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 24.10.1989. 655 MfS, ZAIG, Nr. 471/89 vom 23.10.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 233. Vgl. MfS, HA XX vom 28.10.1989 : Aktuelle Entwicklungen im Prozess der Formierung antisozialistischer Sammlungsbewegungen ( BStU, ZA, XX /9 126, Bl. 4 f.). 656 BDVP Dresden, Politstellvertreter, an nachgeordnete Dienststellen vom 18.10.1989 (ABL, Dresden ). 657 SED - KL Großenhain vom 19.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 658 SED - KL Großenhain vom 17.10.1989 ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 18.10.1989.

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chen über Alltagsprobleme dominierten Forderungen, „die nichts mit dem Wollen an konstruktiver Veränderung der Lage unter Führung der SED zu tun“ hatten und bis zur Abschaffung der führenden Rolle der SED gingen.659 Gefordert wurden überall konkrete Änderungen, die Schaffung von Bedingungen für bessere Leistungen und eine neue Gesellschaftskonzeption.660 Der Dialog, so die Werktätigen, diene nur dem Hinhalten der Menschen, und in der DDR werde sich so nichts ändern. Schuld an der Lage sei die SED.661 So hatten viele Funktionäre und Betriebskader schon sehr bald keine Lust mehr, sich dem Dialog zu stellen.662 Die Diskussion nütze nichts, meinten viele, da die Voraussetzungen für wirkliche Veränderungen fehlten.663 Dabei fing der Dialog gerade erst an. Aber nicht nur die eigene Basis war skeptisch, vor allem ließen sich die Feinde der Diktatur auf diese Weise nicht davon abbringen, ihre eigenen Strategien umzusetzen. 17. Oktober: Am 17. Oktober registrierte die Bezirksverwaltung des MfS Dresden seitens der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens und der Katholischen Kirche des Bistums Dresden - Meißen „verstärkt Aktivitäten zur Diskriminierung der Maßnahmen der Schutz - und Sicherheitsorgane zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit“ in Form von Fürbittgottesdiensten und durch die Anfertigung von Gedächtnisprotokollen zeitweilig inhaftierter Personen sowie deren Sammlung im Stadtjugendpfarramt Dresden. Damit sollten Verstöße der Volkspolizei dokumentiert werden. Politisches Ziel war die Durchsetzung gewaltfreier Demonstrationen und die Schaffung einer legalen Opposition. Das MfS verwies gegenüber der Bezirkseinsatzleitung auf den am 15. Oktober verlesenen Brief Hempels, in dem er aufforderte, über „die gerichtlichen Verurteilungsweisen und über die Freilassung der Inhaftierten“ zu sprechen.664 Bezirk Dresden : In Dresden tagte am 17. Oktober die Bezirkseinsatzleitung, um sich auf die für den Abend erwartete Demonstration vor dem Rathaus vorzubereiten. Noch einmal wurde festgelegt, dass auch bei nicht genehmigten friedlichen Demonstrationen kein unmittelbares Einschreiten durch die Sicherheitsorgane gegen die Teilnehmer erfolgen sollte.665 Das MfS war vorbereitet, „Provokationen und Gewaltakte vorbeugend zu verhindern und den Schutz wichtiger strategischer Objekte zu gewährleisten“. Weiterhin galt „erhöhte Ein659 SED - KL Bischofswerda vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 660 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44). 661 Vgl. KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 21–23). 662 Vgl. KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 38–44). 663 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 17.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 664 BVfS Dresden vom 14.–16.10.1989 : Lage. Zuarbeit zur Beratung der BEL vom 17.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 116 f.). 665 Horst Böhm an Erich Mielke vom 18.10.1989. Zit. in Oberlandesgericht Dresden. 1. Strafsenat. Beschluss vom 25. 4.1996 in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 17 ( HAIT, Modrow - Prozess 1996). Vgl. Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 112–114.

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satzbereitschaft“ und es standen drei Kompanien der Offiziershochschule, zwei Kompanien der 8. Volkspolizei - Bereitschaft, vier Kompanien der 7. Panzerdivision der NVA und zwei Kompanien der Militärakademie in Bereitschaft. Es wurde befohlen, den Einsatz bewaffneter Kräfte „nur im dringendsten Notfall“ auf Weisung vorzunehmen.666 Am Abend versammelten sich in fünf völlig überfüllten Kirchen Dresdens etwa 20 000 Menschen. Ziemer kündigte an, künftig würden Volksaussprachen nicht mehr in Kirchen stattfinden. Boltz informierte über das unbefriedigende Rathausgespräch und wiederholte die Forderungen der Gruppe der 20. Es wurden Augenzeugenberichte in Haft misshandelter Personen verlesen. Nach den Veranstaltungen demonstrierten ca. 4 000 Personen mit brennenden Kerzen durch die Innenstadt.667 Nach dem Abend konstatierte Modrow, die DDR könne rasch in eine „absolut instabile Lage“ kommen. Die SED müsse deutlicher machen, dass sie bereit sei, Programm und Statut zu verändern und gravierende Personalveränderungen vorzunehmen. Die Lage der Partei sei kritischer als vermutet. Die „Bündnispartner“ spürten die Schwächen der SED und nutzten deren Vertrauensverlust bereits zur eigenen Profilierung. „Die feindlichen Kräfte“ verfügten weiterhin über einen großen Spielraum.668 Auch vom Westen aus werde versucht, eine oppositionelle Bewegung und eine Diskussion über die Grundlagen des DDR - Systems in Gang zu bringen. Man könne schnell in eine Lage geraten, „wo es um mehr, ja wo es um alles gehen kann“.669 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In der Bezirksstadt beriet am 17. Oktober die SED Bezirksleitung die Lage. Bei einer anschließenden Beratung des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS erklärte Gehlert, ein Schuss könne die DDR aus den Angeln heben, aber die Kartei einer MfS - Kreisdienststelle könne dies auf alle Fälle „mehr und schneller“. Hintergrund war, dass Angriffe von Demonstranten auf die Kreisdienststellen in Zwickau, Plauen und Klingenthal nicht mehr ausgeschlossen wurden. Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, Schaufuß, meinte, „durch das Vorgehen der Sicherheits - und Schutzorgane zu den Demonstrationen in Karl - Marx - Stadt und auch Plauen richtet sich der ganze Hass, die ganze Wut dieser Leute und überhaupt dieser ganzen Banditen, negativ - feindlicher Personen, besonders gegen uns“. Der Sozialismus sei „aufs Gröbste gefährdet“. Die Opposition sei zum geordneten Angriff übergegangen. Das Neue Forum werde von der Bevölkerung als eine Alternative zur SED angesehen. Die SED - Führung sei nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu fällen.670 Tatsächlich weiteten sich Friedensgebete als Sammelpunkte von Demonstrationen im Bezirk weiter aus. Erstmals gab es am 17. Oktober in Ober666 Vorschläge an den 1. Sekretär der SED - BL Hans Modrow ( ABL, BA, Dresden 4, Bl. 236). 667 MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 156–160). 668 SED - BL Dresden vom 18.10.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218). 669 Referat Hans Modrows in der 21. Sitzung der SED - BL am 19.10.1989 ( ebd., 13233). 670 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt 17.10.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 19 und 45). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 14, 17.

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lungwitz ( Hohenstein - Ernstthal ) in der Martinskirche ein Friedensgebet.671 In Zwickau berieten mehr als 400 Personen in der Friedensbibliothek der Versöhnungskirche über die weitere Arbeit des Neuen Forums. Eine Themengruppe befasste sich mit Schritten gegen die SED - Alleinherrschaft und für ein Mehrparteiensystem, eine zweite mit kommunalpolitischen Forderungen.672 Auf Veranlassung des Pfarrers fand im Rathaus von Markneukirchen ( Klingenthal ) ein Gespräch zwischen Bürgern, dem Superintendenten, dem Bürgermeister, dem Vorsitzenden des Rates des Kreises und Ratsmitgliedern statt.673 Die Funktionäre erreichten nicht, dass das Bürgerkomitee von der Organisierung weiterer Demonstrationen absah.674 Bezirk Leipzig : In der Messestadt suchte die SED - Bezirksleitung nach Wegen, um Demonstrationen zu unterbinden und erklärte, Probleme sollten nicht auf der Straße, sondern im Dialog geklärt werden. Ziel war es, den Dialog „in produktive Formen zu lenken“ und ihm einen „themenbezogenen Charakter“ zu geben.675 Hier sprachen Oberbürgermeister Bernd Seidel und weitere Ratsmitglieder mit Vertretern der Kirchen und Bürgerbewegungen. Damit folgte Seidel dem Dresdner Vorbild und durchbrach das Prinzip, sich nur mit Personen zu unterhalten, die den Sozialismus und die führende Rolle der SED nicht in Frage stellten. Strittige Themen waren die Zulassung politischer Parteien und Bewegungen sowie die offizielle Genehmigung der Montagsdemonstrationen. Er wandte sich gegen Demonstrationen und plädierte für die Fortsetzung des begonnenen Dialogs auf sozialistischer Grundlage. Die Vertreter der Kirchen forderten die Lösung anstehender Probleme und nicht deren Verlagerung von der Straße in Dialogforen.676 18. Oktober : Am 18. Oktober forderte der Freikirchenrat der Vereinigung Freikirchlicher Gemeinden öffentlich die Durchsetzung politischer Grundrechte.677 Im Sender Freies Berlin verlangte der katholische Bischof von Berlin, Georg Sterzinsky, freie Wahlen und unabhängige Parteien.678 Bei der Herbsttagung der Synode der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens am 20./21. Oktober 671 Vgl. Ereignisse der politischen Wende von 1989/90 in Oberlungwitz ( HAIT, Dok. Hoh-I 1). 672 Vgl. MdI : Lagefilm ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 184 f.); BVfS Karl - Marx - Stadt, Abt. VIII an LBV vom 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 2, Bl. 129–133); SEDKL Zwickau vom 18.10.1989 : Aktivitäten des Neuen Forums in der Friedensbibliothek ( ebd.). 673 Vgl. Der Anfang vom Ende ( PB Johannes Sembdner ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 17.10.1989. 674 Vgl. KDfS Klingenthal : Dialoggespräch am 18.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 9–12). 675 SED - BL Leipzig vom 17.10.1989 : Info, Entwurf ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 864, Bl. 52 f.). 676 SED - SL Leipzig vom 17.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 19 und 45, SED - SL Leipzig, 885); Leipziger Volkszeitung / Sächsisches Tageblatt vom 17.10.1989; Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 82. 677 Wort des Freikirchenrates der DDR vom 18.10.1989. In : Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 119 f. 678 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 9.

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erklärte Landesbischof Hempel, in der DDR habe sich „eine autoritäre Verfahrensweise gegenüber dem Bürger herausgebildet“. Das Grundproblem bestehe im Gegensatz zwischen Regierung und Volk. In der Diskussion zum Bericht des Landesbischofs wurde die führende Rolle der SED in Frage gestellt und eine Trennung von Partei und Staat gefordert.679 Bezirk Dresden : Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden gab am 18. Oktober an die Dienststellen die neue Order aus, beim Vorgehen zu berücksichtigen, dass nicht alle an Demonstrationen oder Kirchenveranstaltungen beteiligten Personen Feinde seien. Eine Konfrontation mit der Bevölkerung war nun nicht mehr Auftrag der Volkspolizei, „sondern mit und für den Bürger Recht und Gesetz durchzusetzen“.680 Die Lage in den Kreisen gab der SED weiterhin Anlass zur Beunruhigung. Sie war „kompliziert, widerspruchsvoll und angespannt“.681 In Glauchau sprachen der Vorsitzende des Rates des Kreises und andere Ratsmitglieder mit dem Superintendenten sowie Amtsträgern und Gemeindemitgliedern.682 In Markneukirchen ( Klingenthal ) gab es eine Demonstration von 2 000–3 000 Personen, viele trugen Kerzen. Auf Plakaten wurden Reisefreiheit, Reformen und „Taten statt leerer Worte“ gefordert. In der Kirche und über Lautsprecher auf dem Vorplatz informierten Superintendent Johne und Pfarrer Sembdner über das Gespräch zwischen Staatsfunktionären und Vertretern der Bürgerinitiative. Jeder Teilnehmer konnte seine Meinung über Mikrofon vortragen.683 Auch in der evangelischen Kirche Schöneck ( Klingenthal ) versammelten sich über 200 Personen mit brennenden Kerzen.684 Ein Fürbittgebet fand am gleichen Tag auch in der Kirche von Neuhausen ( Marienberg) statt. Die Teilnehmer machten Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung und des Umweltschutzes, forderten aber auch Änderungen des Wahlrechts sowie der Medienpolitik und beschlossen, als Zeichen des friedlichen Protestes Kerzen in die Fenster zu stellen.685 Auch in Werdau gab es am 18. Oktober ein Dialoggespräch zwischen Bürgern, Mitgliedern des Neuen Forums und Funktionären des Kreises Werdau.686 19. Oktober : Während am 19. Oktober in Ungarn die Einparteienherrschaft endgültig beseitigt und die Opposition legalisiert wurde, beschloss der DDR 679 Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 29). 680 Politstellvertreter der BDVP Dresden an nachgeordnete Dienststellen vom 18.10.1989 (ABL, Dresden ). 681 SED - KL Zittau vom 18.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 682 Vgl. KDfS Glauchau vom 18.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 3, Bl. 24 f.). 683 KDfS Klingenthal : Demonstrationen am 18.10.1989 in Markneukirchen und Schöneck ( ebd., Bl. 10–12 und Bl. 47–51); KDfS Klingenthal vom 22.10.1989 : IM - Bericht ( ebd. 2280, Bl. 107); Der Anfang vom Ende ( PB Johannes Sembdner ). 684 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 10). 685 Vgl. KDfS Marienberg : Fürbittgottesdienst in der ev. - luth. Kirche Neuhausen am 18.10.1989 ( ebd., AKG 2437, 3, Bl. 112–114, 118–120). 686 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt von Oktober 1989 : Rapport ( ebd., XX 779, Bl. 32).

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Ministerrat, sein Ansehen durch sofortige und „für jedermann sichtbare Veränderungen“ zu steigern. Durch umgehende Maßnahmen sollte die Versorgung der Bevölkerung verbessert werden. Die gesamten Beratungen des Ministerrates drehten sich im Oktober vor allem um das Problem einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Von grundlegenden Reformen der Wirtschaft und Gesellschaft war keine Rede,687 ebenso wenig wurde verraten, woher die SED - Führung das Geld für ihre Wohltaten nehmen wollte. Bezirk Dresden : In Kreischa ( Freital ) wurde der Vorsitzende des Rates des Kreises, Peter Jegodtka, am 19. Oktober bei einer Veranstaltung zum Thema „Ausreise oder Hierbleiben“ in der Kirche mit Fragen konfrontiert wie „Warum stellt sich die SED nicht einer Opposition und freien Wahlen ?“ oder „Warum wird das Neue Forum nicht zugelassen ?“.688 In Zittau fanden in drei Kirchen Fürbittgottesdienste unter dem Thema „Was hat der Christ mit dem Neuen Forum zu tun ?“ statt. Wegen des Andrangs von ca. 8 000 Personen wurden die Reden per Lautsprecher nach außen übertragen. Sprecher waren u. a. Andreas Schönfelder, Lothar Alisch und Alfred Hempel.689 Die „Sächsische Zeitung“ berichtete darüber.690 Nach MfS - Berichten meinte Alisch im Vorfeld, das Neue Forum spreche alle Klassen und Schichten des Volkes an, solle aber nicht die Nationale Front ersetzen. Er selbst sprach sich für Sozialismus in der DDR und gegen Verhältnisse wie in Ungarn oder Polen aus.691 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Dem Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl Marx - Stadt, Gehlert, erschienen Rathausgespräche mit Abordnungen unzufriedener Bürger als Kapitulation. Zur entsprechenden Bereitschaft des Oberbürgermeisters erklärte er, dieser habe vor Angst „in die Hosen geschissen“. Nun könne man „gleich die Waffen bei Dr. Langer abgeben“.692 In der Johanniskirche traf sich unterdessen am 19. Oktober eine Vorbereitungsgruppe für das Gespräch mit dem Oberbürgermeister.693 Im „Luxorpalast“ fand zur selben Zeit eine Initiativgruppenversammlung des Neuen Forums mit ca. 60 Personen statt.694 Der Organisator des Neuen Forums im Bezirk, Böttger, erklärte, man müsse verstärkt auf „politische, an die Substanz gehende Veränderungen drängen“. Ziel sei ein Machtwechsel.695 Durch Demonstrationen solle der politische 687 Protokoll der 122. Sitzung des Ministerrates der DDR am 19.10.1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2861). 688 SED - KL Freital vom 23.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, IV / E - 4./05.– 107). 689 SED - KL Zittau : Veranstaltung der evang. Kirche am 19.10.1989 ( ebd., 13527). Vgl. Liszka, Von der Nichtanpassung, S. 75 f.; Versuche, in der Wahrheit zu leben, S. 11. 690 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 21./22.10.1989. 691 BVfS Dresden vom 17.10.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 105– 111). 692 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 48, 51). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 16. 693 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 23). 694 Vgl. MfS, ZOS vom 21.–22.10.1989 : Bericht ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 305 f.). 695 Zit. in Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang der Stasi, S. 270–281.

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Druck verstärkt werden.696 Damit bestätigte er nochmals seine weit von der Linie der Berliner Initiativgruppe abweichenden Strategiekonzeptionen, die hier klar auf die Errichtung freiheitlich - demokratischer Verhältnisse orientierten. Beim Friedensgebet in der Johannis - Kirche in Plauen wurden vor 1 900 Teilnehmern die Forderungen des Neuen Forums verlesen.697 Eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung verabschiedete hier lange vor anderen „Volksvertretungen“ eine Erklärung, in der eine humanistische Ausgestaltung des Sozialismus gefordert wurde. Es wurde beschlossen, zeitweilige Arbeitsgruppen zu bilden, an denen sich Bürger beteiligen konnten.698 In Klingenthal wurde ein Demo - Rat gebildet, dessen Ziel die Sicherung der Friedlichkeit der Demonstrationen und die Vorbereitung von Kundgebungen in der Kirche war.699 In Weidensdorf ( Glauchau ) fand eine Einwohnerversammlung zu kommunalen Problemen statt. Die Anwesenden forderten im Beisein des Vorsitzenden des Rates des Kreises, solche Veranstaltungen regelmäßig durchzuführen.700 Bezirk Leipzig : Beim Auftreten des Leiters der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Bezirkes Leipzig vor der Ständigen Kommission gesellschaftlichen Arbeitsvermögens des Bezirkstages vertrat Prof. Körner ( CDU ) in der Diskussion die Auffassung, dass nach der begrüßenswerten Reaktion der Partei sich sofort auch Regierung und Volkskammer äußern müssten. Auch der Bezirkstag sei gefragt. Man werde vorschlagen, unverzüglich den Bezirkstag einzuberufen. Dort müsse jetzt auch über die Ausreisezahlen unseres Bezirkes gesprochen werden. Der Abgeordnete Drosd verlangte „chirurgische Eingriffe“ bezüglich der Rechtsstaatlichkeit, auch gerade was Handlungen der Sicherheitsorgane betreffe.701 Gemessen an dem, was auf den Straßen und in den Kirchen vor sich ging, ließen sich solche Kritiken getrost unter „Systemstabilisierung“ verbuchen. Bei einem Treffen des Kirchenkreises Delitzsch - Eilenburg zur Ökumenischen Versammlung in der Marienkirche Eilenburg zum Thema „Gerechtigkeit in der DDR“ wurden die „Nichtanerkennung der führenden Rolle der SED“ und politische Rechte gefordert. Das Neue Forum warb um Mitglieder.702 20. Oktober, Bezirk Dresden : In Dresden demonstrierten nach einem Gottesdienst in der Kreuzkirche am 20. Oktober ca. 20 000 Personen. Um die Kreuzkirche herum bildeten 2 000 Personen eine Lichterkette. Vor der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und dem Volkspolizeikreisamt wurden 696 MfS, HA XX, vom 28.10.1989 : Aktuelle Entwicklungen im Prozess der Formierung antisozialistischer Sammlungsbewegungen ( BStU, ZA, XX /9 126, Bl. 4 f.). 697 Vgl. MfS, ZOS vom 21.–22.10.1989 : Bericht ( ebd., VIII, AKG 1673, Bl. 319). 698 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 20.10.1989. 699 Vgl. Kunzmann, Nachwort mit Chronikfragment ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang in Schneeberg ). 700 KDfS Glauchau vom 21.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, Band 2, Bl. 21–23). 701 RdB Leipzig vom 20.10.1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, BT / RdB Leipzig, 22707). 702 KDfS Eilenburg : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 62–65); Ökumenischer Kreis St. Marien in Eilenburg am 19.10.1989 ( ebd., Bl. 152 f.)

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zahlreiche brennende Kerzen abgestellt. Es gab Sprechchöre und Pfuirufe.703 In der Christuskirche von Bischofswerda nahmen 400 Personen an einer Informationsveranstaltung über das Neue Forum teil.704 Es wurde der Wunsch geäußert, regelmäßig mit Entscheidungsträgern zu diskutieren, wozu sich der Vorsitzende des Rates des Kreises, Konrad Nücklich, bereit erklärte.705 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Karl - Marx - Stadt zog am 20. Oktober ein Demonstrationszug vom Karl - Marx - Monument mit Transparenten und Kerzen durch die Innenstadt. Aus dem Zug von zeitweilig 5 000 Personen706 gab es Sprechchöre wie „Schließt Euch uns an“, „Wir wollen Reformen“, „Lasst das Neue Forum zu“, „Jetzt oder nie !“, „Weg mit der Freien Presse“, „Neue Wahlen braucht das Land“, „Wir bleiben hier“ und „Demokratie jetzt oder nie“. Es wurde die „Internationale“ gesungen.707 In der Kirche von Kleinwaltersdorf ( Freiberg ) fand ein Fürbittgottesdienst mit ca. 300 Personen statt. Es gab Forderungen nach einem Ende der Führungsrolle der SED, nach der Zulassung des Neuen Forums und Proteste gegen den Militarismus in den Schulen.708 In Frankenberg ( Hainichen ) forderten ca. 3 000 Demonstranten Demokratie und freie Wahlen.709 In Neukirchen ( Karl - Marx - Stadt - Land ) trafen sich in der evangelischen Kirche ca. 700 Teilnehmer und informierten sich u. a. über die künftigen Friedensgebete in Karl - Marx - Stadt.710 In Plauen versammelten sich erneut etwa 15 000 Demonstranten.711 Damit wahrte die Vogtlandstadt ihren Ruf als wichtiges und richtungsweisendes Zentrum des revolutionären Geschehens. In Klingenthal ( Auerbach ) demonstrierten erneut ca. 2 000 Personen zur Friedefürstkirche. Die meisten Teilnehmer trugen brennende Kerzen. Es gab Sprechchöre wie „Wir sind das Volk“, „Freiheit“, „Freie Wahlen“ oder „Die Mauer muss weg“. Da die Kirche überfüllt war und sich ein Teil des Demonstrationszuges vor der Kirche versammelte, wurde die Diskussion trotz Verbots und Drohungen über Lautsprecher nach draußen übertragen. Die Reden waren aus Sicht der Volkspolizei „von äußerst aggressivem Inhalt“.712 Superintendent Karl-Heinz Eichhorn identifizierte sich „mit dem antisozialistischen Anliegen der Veranstal703 Vgl. BDVP Dresden vom 26.10.1989 : Lage von Oktober 1989 ( ABL, EA 891026_1); MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 172–175). 704 Vgl. BVfS Dresden : Sicherungseinsatz am 20.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 143, 146). 705 SED - KL Bischofswerda vom 22.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 28./29.10.1989; Große Kreisstadt Bischofswerda – das Tor zur Oberlausitz ( HAIT, StKa ). 706 Vgl. BPA / DDR - Spiegel vom 23.10.1989. In : Deutschland 1989, Band 13, S. 42. 707 MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 173–177); MfS, ZOS vom 20.– 21.10.1989 : Bericht ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 310 f.). 708 Vgl. KDfS Freiberg : Fürbittgottesdienst am 20.10.1989 in der Kirche Kleinwaltersdorf ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 2, Bl. 28–30). 709 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 23.11.1989. 710 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.10.1989 : Bericht ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 310 f.). 711 Vgl. BPA / DDR - Spiegel vom 23.10.1989. In : Deutschland 1989, Band 13, S. 42. 712 MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 173–177).

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tung und den konterrevolutionären Forderungen der Diskussionsredner“.713 Die Pfarrer Meinel und Neuhof „putschten“ die Teilnehmer auf. Sie „verhöhnten“ die staatlichen Organe und plädierten „unverblümt“ für das Neue Forum.714 Es gab Forderungen nach Zulassung oppositioneller Gruppen, nach freien Wahlen, der Lösung der Blockparteien aus der Umklammerung der SED, Reise - , Meinungs - und Pressefreiheit, nach Aufhebung des Führungsanspruches der SED und der Durchsetzung des Leistungsprinzips in der Politik. Die anwesenden Pfarrer betonten, die Kirche stehe jeden Freitag für Diskussionen zur Verfügung und riefen zur Fortsetzung der Demonstrationen auf. Auf ihre Initiative bildete sich eine Bürgerabordnung für Gespräche mit dem Partei - und Staatsapparat.715 Aus Sicht des Regimes waren die Demonstration und die Reden in der Kirche „offen konterrevolutionär und aufrührerisch“, die Sprechchöre „hasserfüllt demonstrativ - provokatorisch“.716 Nach einem Gottesdienst demonstrierten in Olbernhau ( Marienberg ) ca. 400 Personen und riefen „Reiht Euch ein !“, „Reformen, Reformen“, „Wir bleiben hier“ und „Freiheit“.717 In Schneeberg / Neustädtel ( Aue ) rief Pfarrer Hermsdorf zum Dialog auf sozialistischer Grundlage auf, wandte sich aber gegen den „absoluten Wahrheits - und Machtanspruch“ der SED und forderte eine umfassende Demokratisierung.718 In der ev. - luth. Gemeinde Schwarzenberg sprach sich Pfarrer Haustein für Fürbittgottesdienste nach dem Leipziger Vorbild aus. Der Kirchenvorstand lehnte dies geschlossen ab, weil man „nicht dem Staat in den Rücken“ fallen wolle.719 In der Kirche von Mosel ( Zwickau ) wurde das Neue Forum vorgestellt, über die Lage diskutiert und Kritik an Funktionären und der SED - Kreisleitung geübt.720 Bezirk Leipzig : Die SED - Bezirksleitung Leipzig leitete am 20. Oktober weitere Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Demonstrationen ein, u. a. sollte dies durch Gespräche mit Vertretern der Kirche erreicht werden.721 In der Alten-

713 KDfS Auerbach vom 23.10.1989 : Superintendent Eichhorn ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 72–75). 714 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 21.10.1989 : Weitere bekannt gewordene Verhaltensweisen von Teilnehmern der Demonstration am 20.10.1989 in Klingenthal ( ebd. 1759, Bl. 39 f.). 715 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 21.10.1989 : Weitere „Stumme Demonstration“ am 20.10.1989 in Klingenthal ( ebd., Bl. 44–46); Aussage Pfarrer Meinels am 17. 8.1998 (Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang in Schneeberg ). 716 KDfS Klingenthal vom 21.10.1989 : Ergänzung zur Demonstration in Klingenthal (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 69 f.). 717 KDfS Marienberg vom 20.10.1989 : Spitzenmeldung ( ebd. 2437, 3, Bl. 161 f.); MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 173–177); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 310 f.). 718 KDfS Aue : Info über Aufruf Pfarrer Hermsdorfs der ev. - luth. Kirche Schneeberg / Neustaedtel vom 20.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 31–35). 719 KDfS Schwarzenberg vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 26–31). 720 Vgl. KDfS Zwickau vom 21.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 81 f.). 721 SED - BL Leipzig vom 20.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 31–34).

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burger Brüderkirche fand am 20. Oktober eine „Fürbittandacht für unser Land“ mit ca. 1100 Teilnehmern statt.722 21. Oktober : Bei Mielke befasste sich an diesem Sonnabend eine Dienstbesprechung mit der 9. Tagung des ZK der SED, die in allen Dienststellen des MfS ausgewertet wurde. Hier wurde konstatiert : „Entwicklung hat uns überholt. Partei und Staat befinden sich in einer Krisensituation. Wir haben Wochen der politischen Offensive verloren. Es geht darum, die Macht zu behaupten und auszubauen. Der Soz. wird nicht aufgegeben !“ Angesichts der Lage wurde nun beschlossen, den Dialog auch mit „Andersdenkenden“ zu führen, „auch mit ‚Forum‘ - Leuten“. Dem Gegner sei es gelungen, große Teile der Bevölkerung für sich einzunehmen : „Die Leute gehen auf die Straße, was durch uns selbst verschuldet wurde.“ Gleichzeitig wurden die Kreisdienststellen des MfS angewiesen, die neuen Kräfte unter dem Gesichtspunkt „Wer tritt offen als Feind auf ?“ genau zu beobachten.723 Das MfS befahl am selben Tag für alle Objekte verstärkte Sicherung und eine „wirksame[ n ] Abwehr von Versuchen des gewaltsamen Eindringens“, jedoch grundsätzlich ohne Schusswaffen. Für unterschiedliche Gefährdungsgrade vor Dienstgebäuden wurden Textvorlagen verteilt. So hieß es bei einfachen Konflikten : „Sie werden gebeten, weiterzugehen. Ich appelliere an ihre Vernunft, bewahren sie den gewaltfreien Charakter ihrer Demonstration, distanzieren sie sich von den Provokateuren. Wenn sie die Absicht haben, mit uns zu sprechen, sind wir gesprächsbereit. Bilden sie eine Abordnung von (3–5) Personen, mit denen ein Gespräch stattfinden kann.“ Bei höherer Gefährdung : „Hier spricht der Objektkommandant. Ich appelliere an ihre Vernunft und Besonnenheit. Respektieren sie Leben und Gesundheit aller Beteiligten. Beenden sie ihre Gewaltanwendung. Ich fordere alle auf : Verlassen sie diesen Straßenabschnitt. Sie zwingen mich, zum Schutz dieses militärischen Objektes Maßnahmen der Gewaltanwendung zu befehlen.“724 Angesichts täglicher Demonstrationen auch vor MfS - Dienstobjekten befahl Mielke, da „wir aus den bekannten Gründen zurückhaltend darauf reagieren, nicht so zu antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen“, alle aktiv handelnden Personen „sorgfältig zu erfassen“ und die Listen „zugriffsbereit zu halten“. Auch wenn die „kurzfristige Realisierung von Zuführungen und Festnahmen“ nicht mehr auf der Agenda stand, so hegte wohl Mielke immer noch die Hoffnung, irgendwann losschlagen zu können.725 Weiterhin bekamen MfS - Mitarbeiter auch Befehle zur „Einsickerung“ in Demonstrationen, um diese im Sinne des MfS zu steuern.726 722 VPKA Altenburg vom 20.–21.10.1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Altenburg ); ebd., SED KL Altenburg, 1066, Bl. 135 f. 723 Zit. nach KDfS Eilenburg vom 22.10.1989 : Dienstbesprechung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 88, Bl. 29 f.). 724 MfS an Leiter BVfS vom 21.10.1989 : Aufgabenstellungen zur verstärkten Gewährleistung einer hohen Sicherheit an den Dienstobjekten ( ebd., KDfS Geithain 247, Bl. 55– 60). Anmerkung d. A. : Kleinschreibung der Anredepronomen im Original. 725 Vgl. www.BStU.de / mfs / isolierungslager / seiten / revolution.htm, Juli 2007. 726 Vgl. Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 275.

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Neben die ideologisch - doktrinären Dialogveranstaltungen im Stile früherer Massenmobilisierungen trat bald eine andere, offene Form des Dialogs, die sich weniger um die ideologischen Vorgaben der SED - Führung kümmerte und auch „Andersdenkende“ in den Dialog einbezog. Überall zitiertes Vorbild dafür war das Rathausgespräch in Dresden am 9. Oktober mit Vertretern der Gruppe der 20. Bezirke Dresden / Leipzig : Aus beiden Bezirken gab es an diesem Sonnabend kaum Meldungen. Lediglich in Langebrück ( Dresden - Land ) kam es zu einer Demonstration gegen den Bau eines Minol - Tanklagers.727 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Zentrum der Proteste war an diesem Tag Plauen. Hier demonstrierten nach Volkspolizei - Angaben ca. 25 000 Personen728 mit ca. 50 Transparenten. Der Oberbürgermeister sprach zu den Demonstranten, die vor dem Rathaus Kerzen anzündeten und die „Internationale“ sangen. Es gab Sprechchöre wie : „Stasi in die Produktion“ und „Wir sind das Volk“, „Egon mache etwas daraus“, „Arbeiten, arbeiten, arbeiten“, „Meinungsfreiheit“, „Reisefreiheit“ und zahlreiche Transparente wie „Wir wollen keine ‚Freie Presse‘, wir wollen eine ‚Wahre Presse‘“.729 Nachdem auch diese Demonstration friedlich verlaufen war, setzte sich bei den Teilnehmern der Eindruck durch : „Jetzt passiert nichts mehr.“730 Wie inzwischen üblich, berichtete auch die geschmähte Presse über die Demonstration.731 In der Kirche von Lengenfeld ( Reichenbach ) gab es zum zweiten Mal ein Friedensgebet.732 In Beierfeld ( Schwarzenberg ) informierten sich ca. 350 Personen bei einem Fürbittgottesdienst über die Ziele des Neuen Forums und von Demokratie Jetzt, forderten Demonstrationsund Versammlungsfreiheit sowie Streikrecht. Vor der Kirche wurden Kerzen abgestellt.733 In Zwickau rief die Vorbereitungsgruppe des Friedensgebetes zur Gewaltfreiheit auf. Bezogen auf das Verhältnis von Volk und Volkspolizei hieß es hier wie am 9. Oktober in Leipzig : „Wir sind ein Volk !“734 22. Oktober, Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am Sonntag, dem 22. Oktober wurde bei einem katholischen Gottesdienst in Annaberg - Buchholz ein Hirtenbrief von Bischof Reinelt mit Forderungen nach Reisefreiheit, Pluralismus, Meinungs - und 727 SED - BL Dresden vom 21.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 169); MfS, ZOS vom 21.–22.10.1989 : Bericht ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 305). 728 Von bis zu 50 000 Demonstranten spricht Steffen Kretzschmar in Lindner, Zum Herbst ’89, S. 133; Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 39; BStU, ASt. Chemnitz, XX 779, Bl. 26. 729 BVfS Karl - Marx - Stadt : Demonstration am 21.10.1989 in Plauen ( ebd., AKG 2143, 1, Bl. 141–147); MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 178, 180 f.); MfS, ZOS vom 21.–22.10.1989 : Bericht ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 305 f.). 730 Bericht Steffen Kretzschmars. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 133. 731 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 24.10.1989. 732 Vgl. Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfeld ( HAIT, StKa ). 733 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (ebd.); KDfS Schwarzenberg : Zusammenkunft oppositioneller Kräfte in der Kirche der ev. luth. Gemeinde Beierfeld am 21.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 48– 52). 734 Friedensbibliothek Zwickau. So vorher schon am 9.10.1989 in Leipzig.

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Medienfreiheit verlesen.735 Im katholischen Piusheim in Crimmitschau ( Werdau) informierten sich zwischen 200 und 500 Personen über das Neue Forum und diskutierten über Umweltprobleme, Wehrerziehung an den Schulen und die Gewaltanwendung bei Polizeieinsätzen.736 Bezirk Leipzig : Am 22. Oktober fand in der Stadtkirche Borna eine „Ökumenische Andacht für die Erneuerung der DDR“ statt. Es wurde beschlossen, sie nun regelmäßig durchzuführen.737 Vorbildfunktion erhielt eine Diskussion von ca. 500 Bürgern im Leipziger Gewandhaus; eine Praxis, die sich schnell auch in anderen Städten einbürgerte. Eingeladen hatten die „Leipziger Sechs“. Hier nun ging es um das gesamte Spektrum strittiger Fragen. Jeder konnte seine Meinung vortragen. Auch ohne explizite Forderung der SED - Führung sprach sich die Mehrzahl der Redner dafür aus, den Sozialismus in der DDR attraktiver zu gestalten, wobei kontroverse Auffassungen vertreten wurden. Es wurde beschlossen, die Veranstaltung jeden Sonntag als „Dialog am Karl - Marx - Platz“ zu wiederholen.738 Dominierten beim Leipziger Dialog noch die SED - Funktionäre, so bildete sich zum selben Zeitpunkt eine andere Art der Kommunikation der Bürger heraus, nämlich die Bürgerversammlung. Erstes bekanntes Beispiel ist Gohrisch in der Sächsischen Schweiz, wo offen „mit dem Bürgermeister abgerechnet“ wurde. Hier übernahm um den 20. Oktober herum eine kleine Gruppe, deren Arbeit auf allgemeiner Zustimmung durch die Bewohner basierte, die kommunalpolitische Verantwortung.739 23. Oktober : Seit dem 23. Oktober hieß die „Volksrepublik Ungarn“ wieder „Republik Ungarn“. Der Tag des Volksaufstandes am 23. Oktober 1956 wurde Staatsfeiertag. Zwischen den Kommunisten Ungarns und der DDR lagen Welten. In Ungarn lehnten es die meisten Mitglieder und Funktionäre inzwischen ab, sich als Kommunisten zu bezeichnen. In Berlin beauftragte das SED - Politbüro an diesem Tag die 1. Sekretäre der Bezirks - und Kreisleitungen im Sinne bisheriger Differenzierungspolitik im Umgang zwischen einfachen „Andersdenkenden“ und „Feinden des Sozialismus“ zu unterscheiden. Der Dialog dürfe nicht zur Anerkennung des Neuen Forums und anderer Sammlungsbewegungen führen. Demonstrationen im Freien wurden prinzipiell verboten. Bestätigt wurde jedoch die Linie äußerster Zurückhaltung in der Gewaltanwendung und bei Festnahmen.740 Zur selben Zeit forderte die Landessynode der Ev. - Luth. Landeskirche Sachsens einstimmig das Ende der SED - Alleinherrschaft, freie Wahlen, Parteienvielfalt, gesellschaft735 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 31). 736 Vgl. KDfS Werdau vom 26.10.1989 : Info ( ebd., AKG 3078, 3). 737 Vgl. HAIT, Borna. 738 Vgl. SED - BL Leipzig : Diskussion mit Bürgern der Stadt Leipzig am 22.10.1989 im Gewandhaus ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 45–51); Leipziger Volkszeitung vom 23.10.1989. 739 Vgl. Taffelt, Von der Kolonie, S. 41–45. 740 Vorschläge des SED - Politbüros für „Maßnahmen gegen antisozialistische Sammlungsbewegungen“ vom 23.10.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3250).

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lichen Dialog, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Hempel forderte von der Regierung eine öffentliche Entschuldigung für die zentral gesteuerten Brutalitäten der Sicherheitskräfte und wandte sich offen gegen den Führungsanspruch der SED.741 Nicht ohne Grund wurde in Annaberg - Buchholz die Kirche laut MfS von den meisten Jugendlichen „als die Kraft angesehen, die positive Veränderungen in der DDR bewirkt“.742 Bezirke Dresden / Cottbus : In Bautzen versammelten sich am 23. Oktober 500 Menschen vor der Maria - Martha - Kirche. In der Kirche stellten sich Bürgermeister Heinz Wagner und der Leiter der MfS - Kreisdienststelle, Jakowski, den Fragen. Wagner bot dem Neuen Forum Gespräche an.743 Im Haus der Jugend Dippoldiswalde diskutierten Kreisfunktionäre mit Jugendlichen über Umweltschutz, Reisefreiheit und die Übergriffe der Sicherheitskräfte.744 In Dresden kam es nach Fürbittgottesdiensten zu einer Demonstration von ca. 50 000 Menschen.745 In Aufrufen, die im gesamten Bezirk verbreitet wurden, hatte es geheißen : „Noch ist Zeit zu wählen, ob wir unsere Zukunft in Freiheit verbringen können oder weitere 40 Jahre unter brutaler Diktatur. Helft euch, helft uns, endlich die Freiheit zu erringen.“746 Modrow und Berghofer hielten auf dem Schlossplatz vor etwa 12 000 Personen Reden.747 In Freital sprach der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Klaus Jentzsch, mit Arbeitern des Edelstahlwerkes über Wege zur Verbesserung des Sozialismus.748 In der Klosterkirche Kamenz forderten ca. 350 Jugendliche die Freilassung aller Inhaftierten und die Zulassung des Neuen Forums.749 In der Kirche in Neusalza - Spremberg ( Löbau ) fand ein Friedensgebet statt, danach protestierten Demonstranten mit brennenden Kerzen vor dem Rathaus und sprachen mit dem Bürgermeister und dem Ortsparteisekretär. Diese schlugen vor, den Dialog im Kulturhaus fortzusetzen.750 In Hoyerswerda fand vom 23. bis 27. Oktober im Martin - Luther - King - Haus der evangelischen Kirchengemeinde Hoyerswerda - Neustadt eine Jugendwoche unter dem Thema „Ich hab einen Traum“ statt. Hier wurden Reisefreiheit, die Erhaltung der Umwelt, eine Legalisierung des Arbeitskreises für Umwelt und Frieden „Grubenkante“, demokratische Parteivielfalt, Wahlrecht und legale Arbeitsmöglichkeiten für das Neue Forum gefordert.751 741 Kundgebung der Ev. - Luth. Landessynode Sachsens am 23.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX, 9181, Bl. 136). 742 KDfS Annaberg vom 17.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 47–51). 743 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 744 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 25.10.1989. 745 Vgl. MfS, ZOS vom 23.–24.10.1989 : Bericht ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 296– 298). 746 BVfS Dresden vom 23.10.1989 : Tagesinformation ( ABL, Dresden ). 747 MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 190–192); BDVP Dresden vom 23.10.1989 : Lagebeurteilung ( ABL, Dresden ). 748 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 27.10.1989. 749 Vgl. BVfS Dresden vom 23.–24.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 131 f.). 750 BVfS Dresden vom 24.–25.10.1989 : Lage ( ebd., Bl. 90–96). 751 KDfS Hoyerswerda vom 26.10.1989 : Aktivitäten der evangelischen Neustadtgemeinde im Martin - Luther - King - Haus ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799,

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Bild 30: Demonstration in Löbau.

Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 23. Oktober gab es im Stadtzentrum von Aue eine Demonstration von ca. 1 500 meist Jugendlichen.752 Sie zogen von der Sankt Nikolaikirche mit brennenden Kerzen am Rat des Kreises und am Volkspolizeikreisamt vorbei zum Rathaus. An der MfS - Kreisdienststelle wurden Kerzen abgestellt. Es gab Sprechchöre. Die SED agierte arbeitsteilig. Während der Bürgermeister den Demonstranten anbot, am 25. Oktober einen Dialog zu führen,753 leitete die MfS - Kreisdienststelle „operative Maßnahmen zur Identifizierung der Rädelsführer und Initiatoren“ ein.754 In Olbernhau demonstrierten vor der Kirche ca. 250 Personen.755 Nach einem Friedensgebet in der Lutherkirche Glauchau gab es einen Schweigemarsch zum Marktplatz, wo der Bürgermeister sprach und anbot, im größten Saal der Stadt ein Dialogforum seitens der staatlichen Organe durchzuführen. In der Kirche hatte Pfarrer Mendt zuvor von einer Demonstration abgeraten.756 Bei einem Friedensgebet in der Kirche von

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Bl. 15–18). Zur Entwicklung in Hoyerswerda vgl. Petrick / Weiß, Das Neue Forum, S. 89–96. Vgl. MdI : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 190–192). Vgl. KDfS Aue : Demonstration in Aue am 23.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 2, Bl. 16–19); Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 24.10.1989. KDfS Aue : Demonstration in Aue am 23.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 2, Bl. 16–19). Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 23.10.1989 : Spitzenmeldung ( ebd., Bl. 14 f.). Vgl. KDfS Glauchau vom 23.10.1989 : Lutherkirche Glauchau ( ebd., Bl. 5–9); StV Glauchau : Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, Glauchau ).

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Hainichen fragten ca. 550 überwiegend Jugendliche nach den Übergriffen der Sicherheitskräfte und forderten Freiheit und Demokratie.757 Bei einem ökumenischen Fürbittgottesdienst für politisch Inhaftierte in der ev. - luth. Kirche St. Nikolai Markneukirchen ( Klingenthal ) verlas Dekan Müller einen Brief des Bischofs des Bistum Dresden - Meißen, in dem politische Grundrechte gefordert wurden. Pfarrer Sembdner forderte die Zulassung des Neuen Forums. Für den 25. Oktober wurde zur Demonstration aufgerufen. Sembdner kündigte unter Beifall an, dass künftig jeden Monat Fürbitte gehalten werde.758 In Olbernhau (Marienberg ) demonstrierten ca. 800 Personen von der Kirche zum Rathaus. Es gab Rufe wie : „Menschenrechte, Reformen, wir wollen Freiheit“.759 In Oelsnitz demonstrierten nach einem Friedensgebet in der St. - Jacob - Kirche ca. 500 bis 700 Personen und forderten, mit dem Bürgermeister zu sprechen. Vor dem Rathaus bot der Vorsitzende des Rates des Kreises, Helmut Lachmann, eine Dialogveranstaltung im Rat der Stadt an.760 In Mühltroff ( Schleiz ) bewegte sich nach einem Friedensgebet in der Kirche ein stiller Demonstrationszug zum Rathaus, wo Kerzen abgestellt wurden. Hier gründete sich ein „Christlicher Aktionskreis“, der weitere Aktivitäten organisierte.761 In Reichenbach forderten ca. 150 Demonstranten eine Bestrafung der Volkspolizei und protestierten gegen die SED. Anschließend gab es eine Dialogrunde mit dem Bürgermeister und Ratsmitgliedern,762 bei der die führende Rolle der SED in Frage gestellt wurde. Die Staatsorgane luden zum wöchentlichen Dialog in das Kreiskulturhaus „Wilhelm Pieck“ ein.763 In Zwickau demonstrierten nach einer Veranstaltung in der Lutherkirche ca. 1100 Personen durch die Innenstadt. Sie sangen die „Internationale“ und forderten die Wahl Manfred Gerlachs zum Staatsratsvorsitzenden.764 Auch Ende Oktober versuchte das MfS noch, Demonstrationen vorbeugend zu verhindern. So wurden im Vorfeld einer Veranstaltung in der Lutherkirche in Zwickau am 23. Oktober seitens der Kreisdienststelle und der Bezirksverwaltung des MfS „umfassende vorbeugende Maßnahmen zur Verhin757 Vgl. KDfS Hainichen vom 24.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, Bl. 144–149). 758 Vgl. KDfS Klingenthal vom 25.10.1989 : Fürbittgottesdienst am 23.10.1989 in der St. Nikolai - Kirche in Markneukirchen ( ebd. 3079, 3, Bl. 150–153); KDfS Klingenthal vom 24.10.1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 4–6). 759 Vgl. MfS, ZOS vom 23.–24.10.1989 : Bericht ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 296– 298); Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 31). 760 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 23.10.1989 : Lage ( ebd., Oe 97, Bl. 73); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 25.10.1989. 761 Vgl. Lagefilm ( BStU, ASt. Gera, AKG 3702, Bl. 301 und 404); Erinnern Sie sich ? In : Mühltroffer Stadtanzeiger von November 1995 ( HAIT, Plau - F 9). Der Ort kam erst 1992 wieder nach Sachsen. Vgl. Richter, Entscheidung für Sachsen, S. 113–135. 762 Vgl. KDfS Reichenbach vom 23.10.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 111 f.); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 25.10.1989. 763 Vgl. KDfS Reichenbach : Demonstration am 23.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 108–110). 764 Vgl. KDfS Zwickau vom 23.10.1989 : Berichte ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 1, Bl. 75–80; AKG 2280, Bl. 39–43; AKG 681, Bl. 70–72); Freie Presse, Ausgabe ZwickauStadt, vom 24.10.1989.

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derung möglicher demonstrativer Handlungen eingeleitet“. So entfernten „gesellschaftliche Kräfte“ Einladungszettel zu kirchlichen Veranstaltungen.765 Bezirk Leipzig : Am 23. Oktober fanden Friedensandachten bzw. Bittgottesdienste mit Vorstellung des Neuen Forums in Colditz ( Grimma ), Delitzsch, Döbeln, Oschatz, Torgau und Wurzen statt. Vereinzelt nahmen Vertreter des Staates daran teil, oft folgten Demonstrationen mit Kerzen.766 In Wurzen zogen die Demonstranten unter dem Motto „Der Dialog wird zur Phrase, drum geh’n wir weiter auf die Straße“ an den Häusern von Funktionären vorbei und zündeten Kerzen an.767 Die SED - Bezirksleitung Leipzig konstatierte, dass nun „auch in Kreisen die Friedensgebete organisiert werden“.768 Haupttreffpunkt aber blieb für viele Bürger auch anderer Bezirke die Montagsdemonstration in Leipzig, wo sich am 23. Oktober zwischen 150 000 und 300 000 Menschen zur

Bild 31: Montagsdemonstration in Leipzig am 23.10.1989. 765 KDfS Zwickau vom 20.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1, Bl. 97– 102). 766 Vgl. SED - BL Leipzig vom 24.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 864, Bl. 23); Montagsandachten ( StV / Museum Schloss Delitzsch ); KDfS Döbeln vom 25.10.1989 : Bericht des IMS „Wolfgang Blume“ ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 520, Bl. 33); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 26.10.1989. 767 Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 135 f. 768 SED - BL Leipzig vom 24.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 23).

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Bild 32: Kerzen an der „Runden Ecke“.

bislang größten Protestkundgebung in der Geschichte der DDR versammelten.769 Nach Friedensgebeten in sechs Leipziger Kirchen formierte sich ein Demonstrationszug auf dem Ring um das Stadtzentrum. Die Ideen der Bevölkerung drückten sich in einem Meer von Transparenten und Spruchbändern aus. Erstmals war der Ring vollständig von Demonstranten besetzt. Deutlich wurde Unmut über Krenz geäußert und es wurden freie Wahlen gefordert. An der „Runden Ecke“, dem Sitz der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig, stellten Demonstranten zahlreiche Kerzen ab. 769 Vgl. MfS, ZOS vom 23.–24.10.1989 : Bericht ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 296–298); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 187, 189, 191, 192). Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 42, und Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 154, sprechen von bis zu 300 000 Teilnehmern. ADN spricht von 150 000, Neues Forum Leipzig, S. 308, von 250 000 Personen. Nach MfS - Angaben waren es ca. 150 000 Personen. Vgl. Stasi intern, S. 327.

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Die SED - Bezirksleitung musste feststellen, dass der Dialog nicht zum Ende der Demonstrationen führte, sondern die Teilnehmerzahlen stark zunahmen. Man fragte sich, „wie den Demonstrationen und ihrer weiteren Ausuferung noch wirksam begegnet werden kann“.770 Unter den Volkspolizisten wuchsen die „Sorge um die politische Stabilität“ und die Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der bisherigen politischen Maßnahmen.771 Individuelle Proteste 17. – 23. Oktober Parallel zu öffentlichen Protestveranstaltungen gab es auch weiterhin eine Fülle individueller Protestaktionen, die vom MdI und MfS erfasst wurden. Auf einer Straße in Torgau war am 17. Oktober auf einer Fläche von 3 x 4 m mit Latex auf den Asphalt geschrieben : „40 Jahre DDR – Mauer und keine Freiheit – Honi nein“. In Großtreben ( Torgau ) wurden mehrere Fahnen abgerissen. Für Aufregung sorgte hier auch eine schwarz - rot - goldene Fahne ohne Emblem, bis sich herausstellte, dass es sich um ein älteres Exemplar handelte, bei dem nur eine Seite mit Emblem versehen war.772 Immer wieder einmal gingen bei staatlichen Stellen anonyme Schreiben mit Forderungen ein. So forderten Unbekannte vom Kreisbaudirektor Stollberg u. a. Pressefreiheit, freie Meinungsäußerung und freie Wahlen.773 Im Kreis Flöha erhielten die Massenorganisationen anonyme Postkarten mit Forderungen nach freien Wahlen, einer Umgestaltung der Wirtschaft, der Verbesserung der Versorgung, freier Meinungsäußerung und nach Pressefreiheit.774 Auch in kleineren Gemeinden wie in Hartenstein ( Zwickau ) hingen vereinzelt „Hetzplakate“.775 Im Schaukasten des Pfarramtes der ev. - luth. Pauluskirche Zwickau konnte man sich über die Gruppe der 20 und die Entwicklung in Dresden informieren.776 In Elterlein ( Annaberg ) hing ein Aushang mit dem Text : „Es sind die Zeiten, wo sich das Blatt wendet, es sind die Zeiten, wo die Gleichgültigkeit endet. Reisefreiheit, Pressefreiheit, Demokratie, freie Wahlen“.777 In Beierfeld ( Schwarzenberg ) registrierte das MfS am Lastwagen eines selbstständigen Kohlehändlers die Aufschrift „Let’s go West“.778 In Haselbach ( Altenburg ) wurde an ein Werksgebäude mit weißer Farbe „Neues Forum“, „Reisefreiheit“ und „Pressefreiheit“ geschrieben.779 In Gößnitz (Schmölln) 770 SED - BL Leipzig vom 23.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44). 771 BDVP Leipzig vom 22.10.1989 : Lage, Anlage 1 : Sofortmeldung vom 23.10.1989 (SächsStAL, BDVP, 1). 772 Vgl. VPKA Torgau vom 17.–18.10.1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Torgau, 7339, Bl. 409). 773 Vgl. KDfS Stollberg vom 24.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542). 774 Vgl. KDfS Flöha vom 19.10.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 79–83). 775 KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 114–118). 776 KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Info ( ebd. 2437, 2, Bl. 246–249). 777 KDfS Annaberg vom 24.10.1989 : Info ( ebd. 2143, 1, Bl. 131–133). 778 KDfS Schwarzenberg vom 19.10.1989 : Öffentlichkeitswirksame Handlungen oppositioneller Kräfte ( ebd. 1818, Bl. 28 f.). 779 VPKA Altenburg vom 19.–20.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Altenburg ).

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stand an einer Mauer „LDPD = Reform“.780 In Oppach ( Löbau ) fanden sich Zettel mit folgendem Text : „Achtung, wir sind am Wendepunkt. Schließt euch an, unsere Heimat braucht jeden Mann. Noch ist Zeit zu wählen, ob wir unsere Zukunft in Freiheit verbringen können oder weitere 40 Jahre unter brutaler Diktatur. Helft euch, helft uns, endlich die Freiheit zu erringen. Kommt alle zur Zusammenkunft am 23.10.1989, 20 Uhr nach Dresden zum Theaterplatz.“781 2.9

Flucht und Ausreise

Nach dem 40. Jahrestag dauerten auch die Proteste gegen die Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs in die ČSSR an.782 Vor allem angesichts der am 14. Oktober beginnenden Herbstferien war der Ärger groß, keine Ausflüge ins Nachbarland unternehmen zu können.783 Auch SED - Mitglieder reagierten ungehalten und drohten mit Parteiaustritt.784 Es gab Äußerungen wie „Gefängnis DDR“.785 Handwerker aus Zwickau verglichen die DDR mit „einem überhitzten Kessel“, bei dem nur die Frage sei, wann er platze, nachdem das letzte Ventil geschlossen worden sei.786 Mitte Oktober häuften sich Forderungen, den Reiseverkehr so zu gestalten, dass die, die in der DDR bleiben wollten, nicht benachteiligt würden. Hier richtete sich der Blick bereits auf die Reisesaison im Sommer 1990, für die rechtzeitig Buchungen getätigt werden mussten. Welcher Staat, so fragte man sich, könne es sich ökonomisch leisten, „die Grenzen ringsherum dicht zu machen ?“ Dies provoziere ja geradezu Probleme und Missstimmung.787 Die, die hätten gehen wollen, seien inzwischen doch ohnehin weg. Zum Dank würden die Bleibenden nun zusätzlich eingesperrt. Dadurch würden sich „die da oben“ „noch mehr Feinde machen“. Sogar SED - Mitglieder würden ihr Parteibuch hinschmeißen und selbst einen Ausreiseantrag stellen.788 Man verstand nicht, warum man die Menschen nicht fahren ließ, da die meisten doch wiederkämen.789 Anstatt für Entspannung zu sorgen, wurden die 780 VPKA Schmölln vom 17.–22.10.1989 : Rapport ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab ODH, 7150). 781 BDVP Dresden : Schlussfolgerungen aus der Beurteilung der Lage für den 23.10.1989 ( ABL, EA 891023_2). 782 Vgl. SED - BL Leipzig vom 12.10.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 95–98); KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 114–118); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12.10.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 72–77). 783 Vgl. KDfS Freiberg vom 13. und 16.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 49–53). 784 Vgl. KDfS Auerbach vom 10.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 68–73). 785 BVfS Dresden vom 10.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 85–89). 786 KDfS Zwickau vom 18.10.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 114–118). 787 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 17.10.1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 568–64). 788 KDfS Freiberg vom 18.10.1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 43–45). 789 Vgl. KDfS Auerbach vom 20.10.1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 38–44); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 20.10.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 53–55); KDfS Stollberg vom 20.10.1989 ( ebd. 542, 1).

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Sicherungsmaßnahmen an den Grenzen weiter verstärkt.790 Zusätzlich wurde damit begonnen, die Grenze zur ČSSR mit Stacheldraht abzusichern.791 Dennoch hielten die „Angriffe auf die Staatsgrenze“ an und es erfolgten weiterhin neue Festnahmen.792 Von Jahresbeginn bis Mitte Oktober 1989 waren allein aus dem Bezirk Dresden 3 313 Personen geflohen. Die Anzahl der Fluchten hatte seit dem Sommer sprunghaft zugenommen ( Juli 212; August 626; September 1328). Etwa 50 Prozent der Flüchtlinge war zwischen 18 und 25, ca. 30 Prozent zwischen 26 und 40 Jahre alt. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahre betrug ca. 12 Prozent. Viele kamen aus dem Gesundheitswesen, dem Handel und aus dem Bereich Erziehung.793 Zu den Flüchtenden kamen die Antragsteller auf ständige Ausreise. Im Bezirk Dresden gab es am 30. September insgesamt 7444 Anträge für 18 449 Personen. Die Zahlen stiegen ständig weiter. Am 9. Oktober stellten in Dresden 546 Personen einen Erstantrag,794 am 10. Oktober waren es 989 neue Anträge für 1777 Personen. Der Zusammenhang mit den Ereignissen lag auf der Hand. Die meisten Antragsteller kamen aus den Bereichen Industrie, Handel / Versorgung, Gesundheits - und Bauwesen.795 In Karl Marx - Stadt stellten vom 1. bis zum 12. Oktober 739 Personen einen Ausreiseantrag.796 Mit Beginn der Herbstferien erhöhte sich die Zahl der Flüchtlinge über die ungarisch - österreichische Grenze weiter, allein am 14./15. Oktober waren es ca. 3 000. In der bundesdeutschen Botschaft in Warschau hielten sich 1 300 Flüchtlinge auf. Eine erste Gruppe von ihnen bekam am 16. Oktober von der Botschaft der DDR in Warschau Dokumente zur Ausreise ausgehändigt und flog in die Bundesrepublik aus. Am folgenden Wochenende (21./22. Oktober ) kamen etwa 2 650 Flüchtlinge über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik. In der Warschauer Botschaft war die Zahl der Zufluchtsuchenden am Wochenende trotz der Ausreise per Flugzeug nach Düsseldorf wieder auf mehr als 1800 gestiegen. Die etwa 140 DDR - Bürger, die erneut in der Prager Botschaft Zuflucht gesucht hatten, konnten mit Papieren der DDR - Botschaft in die Bundesrepublik ausreisen. Im Bezirk Dresden registrierte die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei für den Zeitraum vom 2. bis 25. Oktober 1 289 Fluchtfälle unter Ausnutzung der Reisedokumente, davon allein 1 073 über Ungarn. An der Grenze des Bezirkes zur ČSSR wurden 450 Personen festge790 MfNV, Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes, Streletz, an MfS, Rümmler, vom 11.10.1989 ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 248 f.); Chronologie der Wende ( StV Bad Muskau / Stadt - und Parkmuseum ); BVfS Dresden vom 9.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 107–110). 791 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 18.10.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 792 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 9.10.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 132–135). 793 Vgl. BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 69–73). 794 Vgl. BVfS Dresden vom 9.10.1989 : Bericht ( ebd., 1. SdL 1, Bl. 107–110). 795 Vgl. BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 69–73). 796 Vgl. Lage der Abteilungen der Genehmigungsangelegenheiten der Räte der Stadtbezirke Karl - Marx - Stadt, Parteiinformation, S. 1 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 410). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 22.

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nommen, an der Grenze zur Volksrepublik Polen 165.797 Insgesamt kamen im Oktober 27 346 Flüchtlinge aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik. Die Folgen des Massenexodus’ wurden immer deutlicher. So konnte z. B. in der Medizinischen Akademie Dresden in den Kliniken für Orthopädie, Innere Medizin und Chirurgie die Akutversorgung erkrankter und verunfallter Personen nicht mehr durchgehend gesichert werden.798 Ähnlich sah es in anderen Bereichen aus. Als Gründe für Flucht und Ausreise wurden weiterhin Versorgungsprobleme, Gleichgültigkeit, Bürokratie, Verantwortungslosigkeit und Schlamperei in der Wirtschaft, Reisebeschränkungen und politische Unfreiheit genannt.799 Hinzu kamen Bezüge zur aktuellen Lage. Die meist jungen Menschen „brachten ihr Misstrauen gegenüber einer weiteren erfolgreichen Wirtschafts - und Sozialpolitik“ zum Ausdruck. Auch „das mangelnde Reagieren der Partei - und Staatsführung“ war ein Auslöser für Anträge.800 So hieß es z. B. : „In diesem Staat kann man sich nur noch der Gruppierung ‚Neues Forum‘ anschließen oder ausreisen, wir haben die zweite Variante gewählt.“ „In diesem Staat ändert sich sowieso nichts mehr, wir sehen hier keine Zukunft“ oder „Jetzt ist uns noch das Visum für Ungarn und die ČSSR entzogen worden, jetzt sind wir völlig eingesperrt“. Die Menschen, so die SED - Kreisleitung Großenhain, „lassen sich auf keinerlei Diskussionen mehr ein, lassen nur, je nach Temperament und Verhärtungsgrad, mehr oder weniger aggressiv eine Schimpfkanonade ‚über diesen Scheißstaat‘ ( wörtlich ) vom Stapel und fordern definitiv den Termin der Ausreise.“801 Angesichts der Auswahl zwischen einer zunehmenden Zahl an Demonstranten und wachsenden Fluchtzahlen veränderte sich die Haltung des Regimes unter Krenz schrittweise. Das zeigt eine Äußerung des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt vom 17. Oktober, als Gehlert wörtlich erklärte: „Rausschmeißen aus der DDR, was rauszuschmeißen geht, bevor sich noch mehr dieser Banditen überlegen, dass sie ihren Antrag auf Übersiedlung zurückziehen [...]. Und wenn wir in Plauen alle rausgeschmissen hätten, die wir rausschmeißen wollten, dann hätten wir mindestens 1 000 Demonstranten weniger.“802 Zunächst wurden die Reiseregelungen in die ČSSR wieder gelockert. Etwa ab dem 20. Oktober gab es für die Bewohner der Grenzkreise Sonderregelungen. Sie konnten ohne Angabe von Gründen oder eines Reiseziels ein Visum erhal797 Vgl. BDVP Dresden vom 26.10.1989 : Lage von Oktober 1989 ( ABL, EA 891026). 798 Vgl. BVfS Dresden vom 14.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 69–73). 799 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12.10.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 72–77); KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. und 11.10.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 132–135/1807, Bl. 138–141). 800 KDfS Freiberg vom 11.10.1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 56–59); RdK Pirna : Durchsetzung der Reiseverordnung vom 30.11.1988 und Entwicklung der Antragstellung auf ständige Ausreise vom 13.10.1989 ( ABL, EA, Dresden, 891013). 801 SED - KL Großenhain vom 12.10.1989 : Lage und Arbeit mit Antragstellern auf ständige Ausreise nach der BRD / WB ( SächsHStA, IV / E 4./07). 802 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt am 17.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 50). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 22.

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ten.803 Dadurch trat hier zwar eine „Entspannung in den Diskussionen“ ein,804 gleichzeitig aber stieg die Zahl der beantragten Reisen. In den Volkspolizeikreisämtern Bautzen und Pirna beantragten ganze Kollektive von Betrieben Visa.805 Dennoch blieben die Menschen unzufrieden, forderten eine dauerhafte Regelung des Reiseverkehrs und drohten mit weiteren Protesten.806 Vor allem aber gab es ab Mitte Oktober weiterhin eine „stark steigende Tendenz“ bei Anträgen auf Ausreisen aus der DDR.807 Nicht nur durch die wachsende Zahl der Demonstrationen stand das Regime unter Druck, auf Dauer konnte der Staat den Weggang vor allem junger, qualifizierter Menschen kaum verkraften. 2.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Nach den Ereignissen um den 40. Jahrestag blieb die Stimmung in der Bevölkerung angespannt und richtete sich gegen die SED - Führung. Die Demonstrationen fanden auch unter Bevölkerungsteilen Zustimmung, die sich nicht beteiligten. Man kann sagen, dass es die aktiven Teile der Bevölkerung waren, die aus Gründen rebellierten, die im Wesentlichen auch von einer schweigenden Mehrheit mitgetragen wurden. Nur aus den Reihen der sogenannten „Progressiven“ kamen immer wieder Aufforderungen, dem „Spuk“ ein Ende zu machen. Das Regime behielt die militärische Bereitschaft aufrecht, die Bezirkseinsatzleitungen tagten weiter. Von einem Ende möglicher gewaltsamer Eskalationen konnte ebenso wenig die Rede sein, wie von einem Abrücken der SED vom diktatorischen und ideologisch begründeten Alleinherrschaftsanspruch. Die Demonstranten blieben ihrerseits, insbesondere unter dem Einfluss der Kirche, aber auch aus Zweck - und Verhältnismäßigkeitserwägungen, bei friedlichen Formen des Protestes. Eine Gewalteskalation hätte nur dem hochgerüsteten SED Staat genützt. Auch an der SED - Basis nahm die Unzufriedenheit zu. Im Politbüro gelang es Krenz, gegen Honecker eine etwas moderatere Erklärung zur Lage durchzusetzen. Damit deutete sich hier eine Differenzierung an. Am 11. Oktober rief die SED - Führung zum Dialog über eine Erneuerung des Sozialismus unter Führung der SED auf. In einer parallelen Pressekampagne wurden die Demonstranten angegriffen. Die Bevölkerung reagierte zurückhaltend auf das Angebot, das zu offensichtlich der SED - Machtsicherung diente. Die Dialoge wurden von vielen als Manöver des Regimes angesehen, die Demonstrationen zu vereinzeln und 803 804 805 806

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 21./22.10.1989. KDfS Marienberg vom 23.10.1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538). Vgl. Nyffenegger an Modrow vom 23.10.1989 : Lage ( ABL, EA 891023). KDfS Freital vom 23.10.1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 443– 446). 807 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 23.10.1989 : Antragsgeschehen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 37); SED - KL Bischofswerda vom 24.10.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552).

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zu kanalisieren. Zwar beteiligten sich von nun an viele Menschen an staatlichen Dialogveranstaltungen, nutzten diese aber nicht nur für Kritik an den Lebensverhältnissen, sondern in zunehmendem Maße auch für politische Proteste gegen das Regime. Auch an der SED - Basis häuften sich Kritiken. Am 17. Oktober folgte Krenz Honecker im Amt des Generalsekretärs des ZK der SED. Er setzte von nun an auf eine Politik des Erhalts der SED - Alleinherrschaft durch die joviale Gewährung eines Dialogs des Partei - und Staatsapparates mit der Bevölkerung. Weit entfernt von demokratischen Positionen war man bereit, mit denen zu reden, die den diktatorischen Sozialismus unter Führung der SED nicht in Frage stellten. Eine Beruhigung der Lage trat dadurch nicht ein, weil weder Krenz noch dessen Programm einer leichten Modifizierung im Führungsstil Ausdruck eines tatsächlichen Willens zur Erneuerung waren. Stattdessen wurde die Kritik an seiner Person zum zusätzlich mobilisierenden Faktor der Proteste.

Diagramm 6: Parolen gegen Personen : Erich Honecker, Egon Krenz, Gregor Gysi und regionale Funktionäre.

Auch in den Betrieben wuchs die Unzufriedenheit, machte sich aber weniger hier als auf den Straßen Luft. Es war aber die Mehrheit der Werktätigen aus den VEB, die wegen des politischen Charakters ihrer Forderungen die Öffentlichkeit der Straße den geschlossenen Milieus von Betriebskantinen und Versammlungsräumen vorzog. Vereinzelt gab es Streikdrohungen und kurze Arbeitsniederlegungen, die aber im Vergleich zu den Demonstrationen kaum ins Gewicht fielen. Bedeutung erhielten die Streikdrohungen vor allem hinsichtlich des sich darin ausdrückenden vorhandenen Protestpotenzials. Auch die Forderungen von Künstlern nach einem echten Dialog behielten in dieser Phase der Entwicklung ihre Bedeutung.

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Unter den Blockparteien machte sich weiterhin allein die LDPD zum Fürsprecher einer weiter gehenden Reform der sozialistischen Diktatur. In den Kreisverbänden aller Blockparteien mehrten sich nun kritische Stimmen, die eine größere Rolle im Parteiensystem forderten. Bedeutung im revolutionären Geschehen hatten die Blockparteien aber nur insofern, als sich Mitglieder aller Parteien einschließlich der SED am Demonstrationsgeschehen beteiligten. Anders verhielt es sich mit dem Neuen Forum. Es gab eine Massenmobilisierung zu dessen Gunsten, und überall wurde seine Zulassung gefordert. Ange-

Diagramm 7: Hauptforderungen der Demonstranten.

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sichts des Zuspruchs entwickelte sich schnell eine Organisationsstruktur ( siehe Kap. II.2 Diagramm 4). Von zentraler Bedeutung für die Gesamtbewertung der friedlichen Revolution sind die Inhalte der Proteste und Forderungen der Demonstranten. Das Diagramm 7 zeigt den zeitlichen Verlauf der wichtigsten Postulate. Neben Protesten gegen SED und MfS waren die positiven Hauptforderungen im Oktober und Anfang November Demokratie und Freiheit.808 Forderungen nach einer Verbesserung der materiellen Lebenssituation wurden auf den Straßen fast nie vorgetragen. Zwar wünschte die Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, es war aber Konsens, dass es wenig Sinn hatte, dies auf den Straßen zu fordern. Das Kalkül war so, dass sich die Verhältnisse infolge der Beseitigung der SED - Herrschaft bessern würden. Die deutsche Einheit stand zunächst kaum auf der Agenda der Postulate, hätte dies doch die SED- These von den Feinden der sozialistischen DDR bestätigt und Anlass zum Eingreifen geben können. Auch im Westen war ständig die Rede davon, man solle mit derartigen Forderungen nicht alle Pferde scheu machen. Aber auch wenn die deutsche Einheit öffentlich noch kaum gefordert wurde, zeigten interne Umfragen, dass sie von einer Mehrheit der Bevölkerung bereits vor dem 9. Oktober gewünscht wurde. So hofften z. B. von allen Übersiedlern aus der DDR 83,9 Prozent Anfang Oktober auf einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.809

808 Oberreuter, Medien als Akteure, S. 374, spricht von „Freiheitsdemonstrationen“. 809 Vgl. Opp / Voß / Gern, Die volkseigene Revolution, S. 104 f.; Thompson, Die „Wende“, S. 21.

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3.

„Neues Forum zulassen !“ (24.–31.10.)

3.1

Krenz wird Staatsratsvorsitzender (24.10. )

Am 23. Oktober erläuterte Krenz den SED - Mitgliedern der Volkskammer, worum es ihm bei der „Wende“ ging : „Unsere führende Rolle müssen wir besser wahrnehmen, aber wir sind nicht bereit, sie abzugeben.“1 Am Abend des 23. Oktober plädierte Hager in den Medien dafür, Krenz nicht nur zum Staatsratsvorsitzenden, sondern auch zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates zu berufen, „um die Wende zu sichern“. Das Neue Forum forderte die Volkskammer dagegen auf, „aus der unwürdigen Rolle einer Zustimmungsmaschine herauszutreten“ und nicht für ihn zu stimmen.2 Damit griff man die Bevölkerungsmeinung auf, Gerlach statt Krenz zum Staatsratsvorsitzenden zu küren. Es gab entsprechende Unterschriftensammlungen.3 Am 24. Oktober wählte die Volkskammer Krenz jedoch mit je 26 Nein -Stimmen und Enthaltungen zum Vorsitzenden des Staatsrats und mit acht Gegenstimmen und 17 Enthaltungen zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats. Neun Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen kamen von der LDPD,4 wo man Gerlach favorisierte. Dieser war zuvor durch Krenz und Schabowski gedrängt worden, die Alleinherrschaft der SED nicht in Frage zu stellen. Die Politbürokader dachten nicht daran, die Macht zu teilen. Eine Ämterteilung hätte als Akt beginnender Gewaltenteilung gewertet werden können, so aber war klar, dass man nicht daran dachte, die führende Rolle aufzugeben.5 Krenz bekannte sich nach der Wahl zum Dialog auf Grundlage der führenden Rolle der SED.6 Die 1. Sekretäre der SED - Kreis - und Bezirksleitungen sollten dabei „gegnerischen Kräften keinen Spielraum“ geben.7 Damit verkörperte Krenz auch in den Augen der Sowjetführung Kontinuität und vertrat eine Linie, die ins Konzept passte. Man beschloss daher, ihn „mit allen Mitteln“ zu unterstützen.8 Zu Krenz’ ersten Amtshandlungen gehörte ein Treffen mit Leich. Das Treffen war am 10./11. Oktober vom Politbüro beschlossen worden, um der Kirche Sanktionen anzudrohen.9 Nun wollte man das Treffen anders verstanden wis1 2 3 4 5 6 7 8 9

Wiedergabe eines Tonbandmitschnittes. In : Die Welt vom 28. 11. 1989. Erklärungen des Neuen Forums am 24. 10. 1989. In : Wir sind das Volk 2 : Hoffnung ’89, S. 17–19. Vgl. SED - BL Leipzig vom 24. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 21–24). Interview mit Manfred Gerlach. In : Westfälische Rundschau vom 28. 10. 1989. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 288–290; ders., Das Politbüro, S. 122. Vgl. Neues Deutschland vom 25. 10. 1989. MfS, FS Mielke vom 25. 10. 1989 ( ABL, FVS Dresden o008, Teil 3). Vgl. Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 236. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1142 f.; Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 14. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 10./11. 10. 1989; Handschriftliche Aufzeichnungen Erich Honeckers in Vorbereitung der Politbürositzung ( SAPMOBArch, SED, J IV 2/2/2351).

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sen. Beide Seiten betonten, die DDR bewahren und ein neues Kapitel der Zusammenarbeit aufschlagen zu wollen.10 Ein Teil der Bevölkerung begrüßte die Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden.11 Die Mehrheit war jedoch gegen eine fortgesetzte Konzentration der drei höchsten Funktionen in einer Hand und meinte, es wäre glaubhafter gewesen, wenn die Funktion einem der Vorsitzenden der Blockparteien übertragen worden wäre.12 Auch Modrow und Schabowski waren im Gespräch und hatten großen Zuspruch, weil sie „klare Antworten“ gaben.13 Krenz sei keine gute Lösung, da er „ja selbst mitschuldig an der entstandenen Situation“ sei.14 Es sei unmöglich, mit alten Kadern eine neue Politik zu machen,15 daher rechnete ein großer Teil der Bevölkerung nun nicht mehr mit wesentlichen Änderungen seitens der SED.16 Krenz stand auch wegen seiner Haltung zur „chinesischen Lösung“ in der Kritik17 und wurde insgesamt als Politiker nicht richtig ernst genommen. Mediziner in Freiberg verglichen ihn mit Egon Olsen und seinem Spruch : „Ich habe einen Plan !“18 Verbreitet war die Meinung, die Situation werde weiter eskalieren.19 Wolfgang Templin erklärte, die SED versuche durch eine Änderung ihrer Taktik Zeit zu gewinnen. Wirkliche Reformen seien von Krenz nicht zu erwarten.20 Demokratie Jetzt verwies auf seine Verantwortung für die Übergriffe der Sicherheitsorgane um den 7. Oktober und seine Unterstützung der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking. Seine Wahl zeige, dass die „Unterordnung des Staates unter die Politbürokratie der Partei“ weitergehe.21 SDP - Vorstandsmitglied Reiche forderte, der Führungsanspruch der SED müsse fallen.22 SDP - Mitbegründer Thomas Krüger nannte Krenz einen „Glücksfall für die Opposition“. Kandidaten wie Modrow hätten „durch wirkliche Veränderun10 Vgl. Neues Deutschland vom 20. 10. 1989; Schnellinformation des Kirchenbundes vom 19. 10. 1989. In : Besier / Wolf, Pfarrer, Christen und Katholiken, Dok. 128, S. 618–621. 11 Vgl. KDfS Freiberg vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 31– 33); KDfS Auerbach vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 33–36); KDfS Freital vom 25. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 453–455). 12 Vgl. MfS, ZAIG vom 30. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 3 f.); FDGB vom 26. 10. 1989 : Stimmung und Meinungen nach der 10. Tagung der Volkskammer. In: Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 134–138; KDfS Hainichen vom 25. 10. 1989: Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 34–38); KDfS Freiberg vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 31–33); KDfS Auerbach vom 24. 10. 1989 : Stimmung (ebd. 530, Bl. 33–36); KDfS Freital vom 25. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 453–455). 13 KDfS Freiberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 19–21). 14 KDfS Reichenbach vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd. 541, 1, Bl. 21). 15 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 24. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 43–44). 16 Vgl. KDfS Freiberg vom 26. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 28–30). 17 Vgl. KDfS Hainichen vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 34–38); KDfS Freiberg vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 31–33). 18 KDfS Freiberg vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 25–27). 19 Vgl. KDfS Freiberg vom 19. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 533, 1, Bl. 41 f.). 20 Wolfgang Templin am 19. 10. 1989 im Deutschlandfunk. 21 Demokratie Jetzt 3 1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 20 f. 22 Interview mit Steffen Reiche. In : Kieler Nachrichten vom 25. 10. 1989.

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gen“ die erst im Aufbau befindliche Opposition „bald matt setzen“ können.23 Der CDU - Hauptvorstand begrüßte die Wahl. Wolfgang Heyl meinte, Krenz habe die Erneuerung herbeigeführt.24 Die sowjetische Botschaft zeigte sich offiziell „aufrichtig erfreut“. Damit sei „ein wichtiger Schritt zur Festigung des Sozialismus in der DDR“ getan worden.25 Tatsächlich sah der sowjetische Botschafter Kotschemassow Krenz nur als „Übergangsstufe zu einer ausgewogeneren Führung“.26 In Moskau war man über die Wahl nicht sehr glücklich.27 Gorbatschow verzichtete in seinem veröffentlichten Glückwunschtelegramm sogar auf die übliche Nennung angeblicher Vorzüge des Nachfolgers.28 Stattdessen wurde Modrow gelobt.29 Zunächst aber schien die von Krenz proklamierte Politik der Wende eine ausreichende Garantie für eine Stabilisierung der Situation zu sein.30 Bundeskanzler Kohl war voller Misstrauen gegenüber Krenz und lehnte nicht zuletzt deswegen ein sofortiges Treffen mit ihm ab. Im Bundeskanzleramt glaubte man nicht, dass er der geeignete Politiker sei, um die Probleme in der DDR zu lösen.31 Die „Neue Zürcher Zeitung“ wies auf seine bisherige Rolle als getreuer Diener Honeckers und „kaltschnäuziger Machtausübender“ hin. Gefragt sei „nicht gnädig gewährter Dialog, sondern demokratische Mitbestimmung von unten“.32 Dorothee Wilms hatte „in Richtung Reformen etwas mehr erwartet“.33 Nach Aussage Teltschiks hielt sich die Bundesregierung Krenz gegenüber zurück, da die sowjetische Führung signalisierte, er sei nur ein Übergangskandidat.34 Am 25. Oktober informierte Krenz Mischnick über den Beschluss des Politbüros, wonach demnächst jeder ohne Verwandtschaftsverhältnis reisen könne und das Recht erhalte, einen Reisepass zu erwerben bzw. ein Visum zu beantragen. Mischnick nannte die Beseitigung der Erfassungsstelle Salzgitter „ein Symbol für den guten Willen der BRD - Seite“. Er halte nichts von der Stelle. Ebenso setzte er sich für die Anerkennung der Elbmitte als innerdeutsche Grenze ein.35 Bei einem Telefonat am 26. Oktober bekundeten Kohl und Krenz ihr Interesse an der Fortführung der praktischen Zusammenarbeit. Rudolf Seiters wurde als Beauftragter der Bundesregierung für Gespräche benannt. 23 Interview mit Thomas Krüger. In : Der Stern vom 26. 10. 1989. 24 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 19. 25 Botschaft Wjatscheslaw Kotschemassows an Egon Krenz vom 20. 10. 1989 ( SAPMO BArch, SED, IV 2/2039/283). 26 Aussage Valentin Falin. Zit. in Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 56. 27 Vgl. Oldenburg, Sowjetische Deutschland - Politik, S. 71. 28 Prawda vom 19. 10. 1989. 29 Vgl. A. Kowragin, Dinamika peremen. In : Nowoe Wremja, (1989) 47, S. 5. 30 Vgl. Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 31 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 24. 32 Neue Zürcher Zeitung vom 21. 10. 1989. 33 Informationen des BMB 20 vom 3. 11. 1989, S. 11. 34 Vgl. Kroh, Wendemanöver, S. 227. 35 Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Wolfgang Mischnick am 25. 10. 1989 ( BStU, ZA, Sekretariat d. Ministers 664, Bl. 35).

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Krenz unterstrich seine Auffassung, wonach die DDR auch weiterhin ein sozialistischer Staat bleiben müsse und forderte Kohl zur Anerkennung der DDR Staatsbürgerschaft auf. Kohl erklärte, wichtig für die Bundesregierung seien die Regelung der Reisefreiheit, eine Amnestie für Republikflüchtlinge, die Beendigung der Verfolgung von Personen, die bei Demonstrationen und Ausschreitungen festgenommen wurden und eine positive Lösung der Frage der Botschaftsflüchtlinge.36 3.2

Ökonomisch - finanzieller Kollaps

Um die Auseinandersetzungen innerhalb der SED - Führung um den Kurs angesichts von Massenflucht und Demonstrationen bewerten zu können, ist ein Blick auf ihre finanziellen und ökonomischen Handlungsoptionen geboten. Als Krenz die Macht übernahm, lag die DDR wirtschaftlich und finanziell am Boden. Bereits seit 1983 war die Zahlungsunfähigkeit der DDR ständig in Sicht gewesen.37 Entsprechende Warnungen von Gerhard Schürer, Siegfried Wenzel und anderen Mitarbeitern des ZK - Apparates waren jedoch von Honecker und Mittag stets zurückgewiesen worden. Sie setzten auf Finanzhilfen aus dem Westen, wie den von Franz Joseph Strauß initiierten Milliardenkredit, der auf diesem Wege den Abbau der Selbstschussanlagen erreichte und finanzielle Abhängigkeiten schaffen wollte.38 Da Honecker und Mittag nicht bereit gewesen waren, die Politik der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ zu beenden, standen nun für die Subventionierung von Preisen und Tarifen des Grundbedarfs, des Wohnungsbaus und der Braunkohlenutzung keine adäquaten Einnahmen mehr zur Verfügung. Die durch die Subventionspolitik ohnehin reduzierten Investitionsmittel flossen verstärkt in vermeintlich zukunftsträchtige Industriezweige und die daran angeschlossenen Forschungen bzw. Spionageprogramme. Aber weder im Hard - noch im Software - Bereich hatte die DDR eine Chance, mit der rasanten Entwicklung auf diesen Gebieten Schritt zu halten.39 Andererseits kam es zu einer Vernachlässigung ganzer Zuliefererindustrien und der Konsumgüterindustrie. Die Folge waren ständige Preiserhöhungen durch Umwidmung von Produkten, die einer Inflationsrate von etwa 12 Prozent entsprachen40 und zur wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung führten. Im Jahr 1988 lag die Inlandsverschuldung bei rund 130 Mrd. Mark ( etwa 50 Prozent des erwirtschafteten Nationaleinkommens ) und die Nettoverschuldung bei westlichen Banken bei etwa 10 Mrd. US - Dollar. Es gelang der DDR nicht mehr, 36 Gespräch zwischen Egon Krenz und Helmut Kohl am 26. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2039/324). 37 Zur Wirtschaftssituation Ende der 1980er Jahre vgl. Becher, Das Ringen, S. 687–696. 38 Interview mit Alexander Schalck - Golodkowski. In : Die Welt vom 4. 4. 1990. 39 Vgl. Barkleit, Mikroelektronik in der DDR. 40 Vgl. Dietrich Staritz, Unstrittig ist die Wende, strittig, wohin sie führen soll. In : Frankfurter Rundschau vom 1. 12. 1989.

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die durch die Ausgabenpolitik im Sozialbereich entstandenen Finanzierungslücken zu schließen. Da Kooperationen im Technologiebereich mit den noch unterentwickelteren Ostblockpartnern nicht möglich waren, blieb die DDR - Führung weitgehend auf sich selbst gestellt und bewegte sich immer schneller auf einen Kollaps ihrer Staatsfinanzen zu. Auf der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 28. September 1989 wurden Hinweise einer von Schürer geleiteten Arbeitsgruppe zu „Mängeln bei der Durchführung des NSW - Exports“ ausgewertet.41 Zur Aufrechterhaltung ihrer Zahlungsfähigkeit war die DDR nach Analyse Schürers „weitestgehend von kapitalistischen Kreditgebern abhängig“. Die westlichen Banken seien jedoch „nicht bereit, diese Limite für die DDR wesentlich zu erhöhen“. Nach Schürers Kalkulation sollten sich die Exporte bis 1995 auf 24 Mrd. Valutamark verdoppeln, während die Importe gleichzeitig bei einem Volumen von 12,5 bis 12,8 Mrd. D - Mark eingefroren werden sollten. Selbst bei dieser Rechnung wäre die Verschuldung der DDR von 41,8 Mrd. Mark 1989 auf 52,6 Mrd. Mark 1995 gestiegen, da „aufgrund des hohen Standes der Verschuldung die Kosten und Zinsen für Kredite die geplanten hohen Exportüberschüsse noch übersteigen“, hieß es in dem Papier. Die Autoren warnten Mittag davor, die Berechnungen zu ignorieren : „Bei dem jetzt erreichten Niveau unserer Verschuldung würde eine Unterschreitung der geforderten Exportziele unweigerlich die Zahlungsunfähigkeit bedeuten.“ Zur Täuschung westlicher Geldgeber schlugen die Verfasser die „Beibehaltung relativ hoher Anlagen bei ausländischen Banken“ vor. Diese sollten dann „als Guthaben in Erscheinung treten, auch wenn es sich um Depositen und bereits mobilisierte, noch nicht eingesetzte Kredite handelt. Bei Wahrung der Geheimhaltung über den tatsächlichen Charakter dieser ‚Guthaben‘“ trügen diese „ganz wesentlich zum Ansehen der DDR als solider und zuverlässiger Kreditnehmer bei“. Die Geheimstudie schlussfolgerte : „Die bedingungslose Sicherung der Zahlungsfähigkeit der Republik ist die entscheidende Voraussetzung für die politische Stabilität der DDR und die weitere wirtschaftliche Entwicklung.“ Als Sofortmaßnahmen wurde die weitere „Reduzierung der gesellschaftlichen Konsumtion und, falls das nicht ausreicht, auch der individuellen Konsumtion“ gefordert.42 Völlig anders war das Bild, das der Ministerrat selbst zeichnete. In einer von Stoph unterzeichneten Analyse wurde zwar auf Mängel in einzelnen Bereichen der Wirtschaft hingewiesen, insgesamt aber hieß es, die Entwicklung der Volkswirtschaft sei „durch Dynamik, Stabilität, wachsende Effektivität und Qualität 41

Protokoll der Sitzung des Präsidiums des Ministerrates vom 28. 9. 1989, Top 2, Sitzungsmaterial PMR, Regierungskommission zur einheitlichen Steuerung von Export und Import vom 19. 9. 1989 ( BArch Berlin, C 20, I /4–6507, Bl. 112). 42 Abgedruckt in Bahrmann / Fritsch, Sumpf, S. 10 f. Autoren waren Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck - Golodkowski, Werner Polze und Herta König. Vgl. Inter view mit Alexander Schalck - Golodkowski. In : Seiffert / Treutwein, Die Schalck Papiere, S. 82; Christ / Neubauer, Kolonie, S. 61–63; Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 76 f.

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gekennzeichnet“. Der Gewinnplan sei „in allen Bereichen übererfüllt“.43 Bewusst wurde die Bevölkerung über die katastrophale Situation getäuscht, um weiterhin eigene Pfründe nutzen zu können. Wenn man hier zwar keine Zahlen kannte, spürte doch jeder die Finanz - und Wirtschaftskrise am eigenen Portemonnaie. So wurde sie zu einem der wesentlichen Auslöser der Proteste wie der Massenflucht. Unter den so veränderten Bedingungen informierte Schalck am 16. Oktober Mittag darüber, dass die DDR im laufenden Jahr zahlungsunfähig sei : „Seit 1982 wurden die [...] NSW - Exporte nicht erfüllt. Die jährliche Untererfüllung betrug zwischen 8,4 Prozent und 25 Prozent der beauf lagten Exporte.“ Für den Fall, dass dies 1989 ebenfalls eintreten sollte, träte auch die Zahlungsunfähigkeit „bereits 1989“ ein. Wenn es nicht gelinge, bis 1991 einen Exportüberschuss von mindestens 5 Mrd. D - Mark zu erzielen, dann sei „die Zahlungsfähigkeit unserer Republik im Jahre 1991 aus den von uns einschätzbaren Möglichkeiten unter keinen Umständen mehr zu sichern“.44 Am 24. Oktober legte Schürer seine Analyse der ökonomischen Situation dem Politbüro vor,45 das ihn mit weiteren Untersuchungen beauftragte.46 Am 27. Oktober legte die für Wirtschaftsfragen zuständige Hauptabteilung XVIII des MfS ein Gutachten vor, in dem vor der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit gewarnt wurde. Die Schulden beim „Klassenfeind“ waren demnach von 2 Mrd. DM im Jahre 1970 auf 49 Mrd. DM 1989 gestiegen. Die Stasi - Experten machten kaum Hoffnung, die Schulden durch effizienteres Wirtschaften ausgleichen zu können und sprachen von der Notwendigkeit einschneidender Kürzungen im Sozial - und Konsumtionsbereich.47 Nach Auskunft de Maizières legten an diesem Tag „die fünf Wirtschaftsweisen der DDR“ geheime Studien zur Wirtschaftssituation vor, die zur völligen Kreditunwürdigkeit bei westlichen Banken geführt hätten. Die Schulden der DDR betrugen demnach mehr als 500 Mrd. Mark, davon 167 gegenüber dem Westen. Die Ersparnisse der Bevölkerung „waren so viel wert wie das Papier, auf dem es gedruckt war“.48 Am 29. Oktober befasste sich das Politbüro erneut mit der Situation. Nach der Tagung erklärte Harry Tisch intern : „Wir sind wirtschaftlich am Ende. Wenn das unsere Menschen erfahren, dann weiß 43 Präsidium des Ministerrates der DDR vom 28. 9. 1989 : Beschluss zur volkswirtschaftlichen Analyse über die Entwicklung der Kosten bis 31. 8. 1989 mit Schlussfolgerungen zur weiteren Senkung des Aufwandes und zur Erreichung der geplanten Effektivitätsziele im Jahre 1989 ( ThHSTA, 42954). Vgl. Broschüre 40 Jahre DDR, S. 5–7. 44 Zit. bei Wolfgang Stock, Die DDR - Führung sah vor der Wende die Zahlungsunfähigkeit am Horizont. In : FAZ vom 16. 4. 1992. 45 Handschriftliche Aufzeichnung Werner Krolikowskis vom 16. 1. 1990. In : Przybylski, Tatort Politbüro, S. 329. Vgl. Hertle, Staatsbankrott, S. 1019. 46 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2354). 47 MfS, HA XVIII : GVS b /5–1155/89 vom 27. 10. 1989 : Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen. Abgedruckt in Fricke / Marquardt, DDR Staatssicherheit, S. 172–193. 48 Lothar de Maizière. Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 79. Wahrscheinlich ist ein Zusammenhang.

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ich nicht, was passiert.“49 Auch Schalck überreichte Krenz eine weitere Analyse, die das Politbüro am 31. Oktober behandelte. Die wesentlichsten Aussagen des Papiers waren : Der Verbrauch wuchs schneller als die eigenen Leistungen. Die Geldmenge war höher als der Warenfonds. Es gab einen Kaufkraftüberhang von 6 Mrd. Mark im Zeitraum 1986 bis 1989. Die Spareinlagen waren seit 1988 wegen der fehlenden Angebote von 136 auf 175 Mrd. Mark gestiegen. Dadurch war die Zinsverpflichtung des Staates auf fünf Mrd. Mark gestiegen. Die Verbindlichkeiten des Staatshaushaltes beliefen sich 1988 auf 123 Mrd. Mark. Da für 1989 eine zusätzliche Kreditaufnahme von 20 Mrd. Mark nötig war, stieg die Inlandsverschuldung 1989 auf etwa 140 Mrd. Mark, was zu einer weiteren Schwächung der DDR - Währung führte. Vor allem stellte jedoch die Auslandsverschuldung von 41,8 Mrd. Valutamark die Zahlungsfähigkeit der DDR ernsthaft in Frage. Schalck schlug daher „eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR und eine grundlegende Reform der Wirtschaft“ vor, ohne die die Zahlungsunfähigkeit „unvermeidbar“ wäre. Demnach sollten die zentrale Planung abgeschafft, Kombinate und VEB in die Eigenverantwortung entlassen und das Geld zum „Maßstab für die Leistung“ gemacht werden. Vorgesehen war eine „Reduzierung der Konsumtion um 25–30 %“. Neben der Zusammenarbeit mit der UdSSR sollte zudem eine „konstruktive Zusammenarbeit“ mit der Bundesrepublik, Frankreich, Österreich und Japan angestrebt werden. Für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit und als Grundlage der Änderung der Wirtschaftspolitik sei es zudem unerlässlich, „von der Regierung der BRD Finanzkredite in Höhe von zwei bis drei Mrd. Valutamark über die bisherigen Kreditlinien hinaus zu erhalten“.50 Wie bei den Analysen, die Schalck einen Monat später auch dem neuen Ministerpräsidenten Modrow vorlegte, liefen seine Vorschläge auf die Ausdehnung des Modells KoKo auf die gesamte DDR - Wirtschaft hinaus. KoKo hatte in der DDR einen ähnlichen Stellenwert gehabt wie die Freihandelszonen in der Volksrepublik China. Allerdings waren die marktwirtschaftlichen Strukturen nicht lokal zentriert. Der ökonomische Kollaps war die Ursache für die Absetzung Mittags, dem nun die Schuld an der Situation angelastet wurde. Statt des objektiven Systemversagens wurden seine subjektiven Fehler als Ursache des Debakels ausgegeben.51 Ähnlich wurden von nun an alle Defizite des realsozialistischen Systems zu persönlichen Fehlern führender Funktionäre stilisiert, um daraus eine Verbesserungsmöglichkeit des Sozialismus abzuleiten.

49 Zit. bei Eckelmann / Hertle / Weinert, FDGB - Intern, S. 144. 50 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989, Anlage 4 : Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2356). Vgl. Seiffert / Treutwein, Die Schalck - Papiere, S. 411–413. Abgedruckt in Das Parlament vom 23. 9. 1994. 51 Rühl, Zeitenwende, S. 323.

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Politbüro beschließt Reisefreiheit (27.10.)

Angesichts der Pleite des kommunistischen Regimes war es schon verwunderlich, dass es den Menschen weiterhin und zusätzlich zentrale Grundrechte verweigerte. Zum Zeitpunkt der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden wurden bei Dialogen und Demonstrationen nicht nur eine Verbesserung der materiellen Lage, sondern auch, und schon fast ultimativ, eine umgehende Reisefreiheit gefordert. Die Erwartungshaltung war nach Darstellung des Freiberger MfS „so groß, dass stündlich eine Entscheidung von kompetenter Stelle erwartet“ wurde.52 Das bereits avisierte Nachgeben des Regimes in dieser Frage wurde „als Ergebnis der ungesetzlichen Demonstrationen angesehen und daraus abgeleitet, mit diesem ‚Druckmittel‘ weitere Ergebnisse abzufordern“. Bei Westreisen wurde das Problem der Finanzierung mit Devisen durchaus gesehen, aber darauf ver wiesen, dass die vom Regime propagierten Exportüberschüsse im Westhandel dafür eingesetzt werden sollten. Diese waren freilich reine Fiktion. Die DDR konnte mit dem Exportüberschuss nicht einmal mehr die Zinsbelastung aus westlichen Krediten bedienen. Auch ohne Kenntnis dieses Umstandes war der Zorn groß genug. Auf Ablehnung stieß auch der Vorschlag der Rückkehrmöglichkeit ehemaliger DDR - Bewohner. Man befürchtete, „dass diese Leute bevorzugt mit Wohnraum u. ä. versorgt werden auf Kosten der Bürger, die treu zur DDR stehen“.53 Unter Druck geraten, ging Krenz zügig erste Schritte. Damit hoffte er, den innenpolitischen Druck zu verringern. Am 24. Oktober sprach sich das Politbüro für ein neues Reisegesetz aus.54 Die Staatsführung erteilte am 25. Oktober 150 DDR - Bewohnern in der bundesdeutschen Botschaft die Genehmigung zur Ausreise. Sie wurden mit Bussen direkt in die Bundesrepublik gefahren. Am 26. Oktober ordnete das MfS in Schreiben an die Bezirksverwaltungen des MfS an, über Anträge auf ständige Ausreise ab sofort „kurzfristig und großzügig zu entscheiden“ und im Zweifelsfall auf die Anwendung von Versagungsgründen zu verzichten. Analog wurden auch Anträge positiv entschieden, die bisher abgelehnt worden waren.55 Entsprechende Fernschreiben gingen vom MdI an die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei.56 Einen Tag später wurden die Anfang Oktober verfügten Einschränkungen der Reisefreiheit in die ČSSR wieder aufgehoben, eine generelle Öffnung der Grenzen und internationale Freizügigkeit jedoch zurückgewiesen. Mielke informierte die Dienststellen über die 52 KDfS Freiberg vom 24. und 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 31–36). 53 SED - BL Leipzig vom 23. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44). 54 MdI - Stab vom 25. 10. 1989 : Minister zur Lage und zu den Aufgaben ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 55 BVfS Magdeburg an Diensteinheiten vom 27. 10. 1989. In : Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang, S. 282 f. 56 MdI, Dickel, an RdB, Stellvertreter für Inneres, Magistrat von Berlin, Stellvertreter des OB für Inneres vom 27. 10. 1989 ( ThHSTA, RdB Erfurt, 936 685).

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Entscheidung und die Möglichkeit, einen Antrag auf ständige Ausreise zu stellen.57 Vor allem hinsichtlich der Reisen in die ČSSR stand das Regime unter Druck. In dieser Frage hatte besonders in den „Zentren der Arbeiterklasse“ die „Aggressivität der Bürger gegenüber den VP - Angehörigen wesentlich zugenommen“58 und es kam „Unruhe unter der Bevölkerung“ auf.59 Ebenfalls am 27. Oktober beschloss der Staatsrat eine Amnestie für alle DDR - Bewohner, die geflüchtet oder bei der Flucht gefasst worden waren. Bis Ende November sollten sie freigelassen werden.60 Das Neue Forum protestierte gegen die Amnestie, die keinen Freispruch bedeute, sondern „als Gnade“ gewährt werde. Stattdessen müssten Wiedergutmachung geleistet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.61 In der Bundesrepublik war man auf den Strom der Flüchtlinge und Übersiedler nicht vorbereitet. Mit den neuen Regelungen war mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Auf der Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten der Bundesländer in Düsseldorf am 26./27. Oktober stand der Flüchtlingsstrom im Zentrum der Verhandlungen. Allein im Oktober waren 27 346 Flüchtlinge aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik gekommen. Aus dem Bezirk Dresden wechselten von Januar bis Ende Oktober 20 660 Personen in die Bundesrepublik.62 Einige Länder schlugen daher vor, die Freizügigkeit der DDR - Deutschen vorübergehend einzuschränken. Ebenso herrschte Einigkeit darüber, die Flüchtlingsgesetzgebung dringend zu reformieren, um den Flüchtlingsstrom einzuschränken.63 Die sich darin ausdrückende egoistische Haltung einiger Westländer zeigte sich auch später bei den Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich und zum „Fonds deutsche Einheit“.64 Am 31. Oktober beschloss das Politbüro die Ausarbeitung eines Reisegesetzes. In einer Vorlage dazu hieß es : „Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Reisen ins Ausland ( ohne Vorliegen verwandtschaftlicher Verhältnisse und bisher geforderter Reisegründe ) und Rückkehr in die DDR. Wann, wohin und aus welchem Grund gereist wird, ist einzig die Entscheidung des jeweiligen Bürgers der DDR, übrigens auch, ob er die Reise mit dem eigenen Kraftfahrzeug antritt oder nicht.“ Notwendig seien aber weiterhin Pass und Visa, die aber jeder Bürger erhalten oder besitzen könne.65

57 MfS, Mielke, an Stellvertreter des Ministers, Leiter der Diensteinheiten vom 27. 10. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 75). 58 KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449). 59 KDfS Stollberg vom 27. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1). 60 Beschluss des Staatsrates der DDR über eine Amnestie vom 27. 10. 1989. In : Neues Deutschland vom 28. 10. 1989. 61 Initiativgruppe Neues Forum zur Amnestie vom 27. 10. 1989 ( ABL, H. XIX /1). 62 Vgl. Protokoll der 15. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 30. 10. 1989 ( SächsStAC, 127929). 63 Vgl. Momper, Grenzfall, S. 97 f. 64 Vgl. Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, S. 308–315. 65 Argumentation zum Entwurf des Reisegesetzes, beschlossen vom SED - Politbüro am 31. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3252).

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508 3.4

Aufstand gegen die Diktatur

Öffentliche Proteste Ende Oktober : Lasst das Neue Forum zu !

Parallel zur Reisegesetzgebung lockerte das Regime auch seine Dialogbestimmungen. Am 24. Oktober beauftragte das Politbüro die 1. Sekretäre der SED Bezirksleitungen, Gespräche auch mit Organisatoren des Neuen Forums zu führen sowie alle Bezirks - und Kreissekretäre zum Dialog zu veranlassen. An der Bewertung des Neuen Forums als feindlicher Gruppierung änderte sich nichts.66 Die SED - Führung wollte keine offenen Gespräche führen, diese sollten nur dazu dienen, nicht angemeldete Demonstrationen zu verhindern. Sie stellten auch „keine offizielle Anerkennung“ des Neuen Forums, auch nicht als Veranstalter von Demonstrationen, dar.67 Die Gespräche gehörten somit unter die Rubrik „taktisches Verhalten gegenüber dem Feind“. Das MfS erhielt den Auftrag, dessen Aktivitäten „unter Kontrolle zu bekommen“ und die offene Situation zum „Eindringen von Agenturen“ zu nutzen.68 Die Bezirks - und Kreisdienststellen listeten dazu alle entsprechenden IM auf.69 Flankiert wurde die sich an alten Handlungsmustern der SED - Diktatur orientierende Politik von Krenz durch Versuche des Ministerrates, mit Hilfe schneller Veränderungen bei der Versorgung und des neuen Reisegesetzes „Ruhe und Ordnung“ wieder herzustellen.70 Wie kritisch die Lage eingeschätzt wurde, zeigten die fortgesetzten Sitzungen von Bezirkseinsatzleitungen.71 Zur Umsetzung der Krenz’schen Politik empfing Schabowski am 26. Oktober in Berlin die Mitbegründer des Neuen Forums, Bohley, Reich und Pflugbeil.72 Während in Sachsen überall das Ende der SED Herrschaft und eine Bestrafung der Funktionäre gefordert wurden, erklärte Reich hier, das Neue Forum bekenne sich zur DDR - Verfassung und zur führenden Rolle der SED.73 Pflugbeil meinte, man müsse „mit den Genossen die Reform machen“, die sich ebenfalls um Veränderungen bemühten. Im Neuen Forum wolle man an „die sozialistischen Traditionen anknüpfen“. Die im Wes-

66 Vgl. MdI - Stab vom 25. 10. 1989 : Minister zur Lage und zu den Aufgaben ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 67 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24. 10. 1989, Anlage 1 : FS Krenz an die 1. Sekretäre der SED - BL und - KL ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2354; SächsHStA, SED - BL Dresden, 14101). 68 MfS vom 24. 10. 1989 : Protokoll der Lageberatung der Leiter HA XVIII ( BStU, XVIII 155, Bl. 116–118). 69 Vgl. KDfS Zittau vom 24. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, KD Zittau, 7009, 1, Bl. 71, 75, 273). 70 Protokoll der Sitzung des DDR - Ministerrates vom 2. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3 2862/1, Bl. 61–67). Vgl. RdB Cottbus vom 27. 10. 1989 : Protokoll der Sonderratssitzung ( Brandenburg. LHA, ASt. Cottbus, Rep. 801, B /5672). 71 Vgl. Böhm an Modrow vom 25. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 509–511. 72 Schabowski behauptete später, dies habe „eine de facto - Legalisierung“ bedeutet. Schabowski, Das Politbüro, S. 123. Genau das Gegenteil war intendiert. 73 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 30; Inter view mit Günter Schabowski. In : Wirtschaftswoche vom 3. 11. 1989.

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ten geführte Diskussion um deutsche Einheit sei „störend“ und „unfair“.74 Auch Bohley lehnte die führende Rolle der SED nicht grundsätzlich ab, diese müsse nur allen dienen und „sichtbar erlebbar“ sein.75 Das waren Äußerungen, mit denen das Regime gut leben konnte und die tendenziell auch den Sinn weiterer Demonstrationen in Frage stellten. Entsprechend kommentierte „Neues Deutschland“ zum Treffen, man brauche jetzt Dialog, „nicht Unruhe und Gebrüll“. Damit wurden die Demonstrationen als Willensäußerung der Bevölkerung zurückgewiesen und ein Konzept kreiert, in dem es um die Modalitäten der gemeinsamen Gestaltung eines reformierten Sozialismus durch SED und Neues Forum ging. Aus diesem Konzept entwickelte sich später das Modell des Runden Tisches.76 Mit der Realität in Sachsen hatten diese Vereinbarungen wenig zu tun. Sie stellten einen ersten Schritt der Entfremdung der Berliner Initiativgruppe Neues Forum von der Volksbewegung dar, die sich auch des Logos „Neues Forum“ bediente. Die Bevölkerung in Sachsen wollte mehrheitlich keinen reformierten Sozialismus mit SED und Neuem Forum an der Spitze, sondern freiheitliche Demokratie, soziale Marktwirtschaft und – immer offener formuliert – die deutsche Einheit. Hier deutete sich der Richtungskonflikt an, der Ende November ausbrach und den schließlich die Bevölkerung in ihrem Sinne entschied. Angesichts der Haltung führender Personen des Neuen Forums in Berlin gab es freilich auch andere Vorschläge für den Umgang. Auf einer Beratung von Krenz mit den 1. Sekretären der SED - Bezirksleitungen am 27. Oktober forderte Günther Jahn, das Neue Forum als Gesprächspartner anzuerkennen und in die Nationale Front einzubinden. So sei zu verhindern, dass es sich zur „selbstständigen Massenorganisation“ entwickle. Die SDP dürfe hingegen wegen ihres Zieles einer parlamentarischen Demokratie „auf keinen Fall zugelassen“ werden.77 Aber auch innerhalb der DDR - Führung des Neuen Forums gab es Kontroversen über den weiteren Weg. Das MfS registrierte eine Polarisierung. Es gab neben Bohley, Reich oder Pflugbeil auch Kräfte wie Tschiche, die meinten, das Neue Forum solle Demonstrationen organisieren. Es wurde auch diskutiert, dem Neuen Forum Wirkungsfelder innerhalb von CDU, LDPD sowie in den Gewerkschaften zu erschließen.78 Rolf Henrich nannte das Neue Forum eine Plattform unterhalb der Parteien, die den Menschen ermöglichen solle, sich politisch zu artikulieren. Statt eines umfassenden Programms plädierte er für einen themenorientierten Dialog mit dem Ziel einer reformierten sozialistischen 74 Sebstian Pflugbeil. In : Rein, Die Opposition, S. 22–26. 75 MfS, HA XX vom 28. 10. 1989 : Aktuelle Entwicklungen im Prozess der Formierung antisozialistischer Sammlungsbewegungen ( BStU, ZA, XX /9 126, Bl. 4). 76 Vgl. Gutzeit, Der Weg in die Opposition, S. 110. 77 Günther Jahn, Konzeption für mein Auftreten auf der Beratung des Generalsekretärs des ZK der SED mit den 1. Sekretären der SED - BL am 27. 10. 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, 4). 78 MfS, HA XX vom 28. 10. 1989 : Aktuelle Entwicklungen im Prozess der Formierung antisozialistischer Sammlungsbewegungen ( BStU, ZA, XX /9 126, Bl. 3 f.).

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DDR.79 Am 28. Oktober veröffentlichte das Neue Forum ein Papier „Argumente für den Dialog“, in dem es auf dem Höhepunkt der Forderungswelle nach Zulassung nochmals seine herausragende Rolle im anstehenden Reformdialog bekräftigte und die wichtigsten Themen in ihrer gesamtgesellschaftlichen Breite auf listete. Da dieser Reformkatalog mittelfristige und strategische Reformziele der Gesellschaftsentwicklung beinhaltete, folgte am 3. November ein von Andreas Schönfelder initiiertes Dialogpapier, das sich eher den unmittelbaren Problemen zuwandte und deutlich machte, dass der weiterhin ver weigerte, aber unmittelbar anstehende Dialog zwischen SED und Neuem Forum mindestens den offiziellen Verzicht der SED auf ihr Wahrheitsmonopol zur Voraussetzung habe. Außerdem wurden neben der Anerkennung des Neuen Forums und der Einstellung von Bespitzelung und Repression der Mitglieder auch eine flächendeckende Ausstattung mit Büroräumen, Kommunikationsmitteln etc. als unabdingbare Voraussetzungen genannt. Die Forderungen zielten auf die Schaffung eines angstfreien Klimas für den Dialog.80 Am 29. Oktober trafen sich Walter Momper und Horst Ehmke mit ca. 20 Vertretern der DDR - Opposition. Diese erklärten, sie wollten jede Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche vermeiden, „da sonst ein Machtvakuum entstehen könne und die weitere Entwicklung nicht mehr kontrollierbar sei. Die Opposition könnte zwar die SED aus ihrer Macht verdrängen, wäre jedoch zurzeit nicht in der Lage, die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Aus diesem Grunde würde gegenwärtig auch nicht die Führungsrolle der SED in Frage gestellt.“ Momper stimmte zu. Damit vertraten die anwesenden Führungspersonen der Opposition bereits zu diesem Zeitpunkt keine revolutionären Ziele mehr. Sie vertraten das Konzept einer gemeinsam mit der SED betriebenen Reform der Gesellschaft. Das MfS konstatierte nach dem Treffen, dass auf Grund der dort eingenommenen Haltung sich zahlreiche Personen wieder abwandten, die für eine Beseitigung der führenden Rolle der SED und eine freiheitliche Demokratie kämpften.81 Die weitere Entwicklung war von einer Durchdringung beider Konzepte geprägt. In Sachsen, das den weiteren Weg maßgeblich bestimmen sollte, hatte die Berliner Initiativgruppe des Neuen Forums wenig Anhänger. Bezirk Dresden : Ungeachtet dessen breitete sich das Neue Forum hier rasant aus. Allein am 23. und 24. Oktober registrierte das MfS im Bezirk Dresden 77 Unterschriftensammlungen. Der Aufruf des Neuen Forums wurde im Ev. Luth. Landeskirchenamt ebenso vervielfältigt wie im VEB Robotron - Elektronik

79 Vgl. Der Morgen vom 28. 10. 1989. 80 Neues Forum vom 28. 10. 1989 : Argumente für den Dialog ( UB Grohedo ); Andreas Schönfelder ( für die Initiativgruppe Neues Forum ) vom 3. 11. 1989 : Erste Ziele für den Dialog ( ebd.). 81 MfS, HA XX /9 : Info über eine Zusammenkunft der SPD - Politiker Walter Momper und Horst Ehmke mit oppositionellen Kräften der DDR am 29. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA XX /9 55, Bl. 134 f.).

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und zahlreichen anderen Betrieben und Einrichtungen.82 Er verbreitete sich vor allem auch in Betrieben wie ein Lauffeuer.83 Am 29. Oktober fand eine Beratung von Aktivisten des Neuen Forums zur weiteren Strukturierung statt. Es wurde beschlossen, künftig in den Territorien Basisgruppen und in Betrieben und Einrichtungen Arbeitsgruppen zu bilden, deren Sprecher sich nach Kreisen zusammenfinden sollten. Die Kreissprecher wiederum sollten gemeinsam die Arbeit im Bezirk koordinieren und die Verbindung zum DDR - Sprecherkreis halten.84 Ein Koordinierungsausschuss sollte sich aus Untergruppen zusammensetzen, die u. a. den Kontakt zum DA, zur SDP, zur Gruppe der 20 sowie nach Berlin und Leipzig halten sollten. Eine weitere Untergruppe war für die Verbindung zu den Kreisen zuständig, eine dritte für die materiell - technische Sicherstellung der Arbeit. Daneben gab es ein Redaktionsteam und eine Untergruppe zur Erarbeitung von Grundpositionen. Es wurden Anlaufpunkte und Basissprecher bestimmt, zu denen u. a. Renate Reinfried, Catrin Ulbricht, Olaf Freund, Jörg Wildoer, Arnold Vaatz und Barbara Blümel gehörten. In Kontaktbüros waren Listen für die Mitarbeit in 14 Themengruppen ausgelegt.85 Böhm meldete, die Aktivitäten seien flächendeckend, auch in den Betrieben.86 Während sich das Neue Forum von der Basis her organisierte, versuchte die SED die Entwicklung durch Dialoge zu bremsen. In mehr als 500 Foren diskutierten allein am 26. Oktober leitende Funktionäre mit mehr als 135 000 Personen.87 Allerdings konstatierte die SED - Bezirksleitung, die Atmosphäre sei gespannt. Es überwog „Kühle, Distanz und Misstrauen“, und es häuften sich „Angriffe auf die Partei und ihre führende Rolle“, besonders inszeniert vom Neuen Forum und der Kirche. Der Druck werde stärker, die SED aus den Betrieben zu verbannen. „Mit immer stärker werdenden Schuldzuweisungen an die Adresse der Parteikader, der Funktionäre des Staatsapparates und der Massenorganisationen wird ihre Glaubwürdigkeit bzw. Fähigkeit bestritten. Verschiedentliche Drohungen gegenüber Genossen und Funktionären verbreiten Verunsicherung und Angst.“88 Bei einer außerordentlichen Beratung des Bezirkstages erklärte Witteck, der „Arbeiter - und - Bauern - Staat“ sei „auf das Äußerste gefährdet“. „Nie und nimmer“ aber dürfe der Sozialismus zur Disposition stehen.89 Unterstützung erhielt er von CDU - Seite. Der stellvertretende Bezirksvorsitzende, Johannes Schramm, meinte, die CDU stehe zur Nationalen Front und zur sozialistischen Demokratie, werde allerdings in diesem Rahmen 82 Vgl. BVfS Dresden, Modrow vom 24. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 111–115). 83 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27./28.–29. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 24–27, 48, 52). 84 Vgl. BVfS Dresden vom 4. 11. 1989 : Info ( ebd. 9186, Bl. 64–68). 85 Vgl. BVfS Dresden, Abt. XX vom 29. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 9195, Bl. 5–9). 86 Vgl. BVfS Dresden, Ltr. : Aktennotiz vom 30. 10. 1989 : Anruf Minister ( ebd., LBV 10003, Bl. 18). 87 Vgl. SED - BL Dresden vom 26. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 143). 88 SED - BL Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 119–120). 89 Beschlussprotokoll der außerordentlichen Tagung des BT Dresden vom 26. 10. 1989 (SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46069, Bl. 2); Rede Günther Wittecks ( ebd. 47114/1, Bl. 6).

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ihre Selbstständigkeit entwickeln. Ähnlich sahen es die anderen Blockparteien. Auch sie unternahmen in Sachfragen Versuche, sich zu profilieren, ohne aber die Diktatur in Frage zu stellen.90 Politisch gab es in den Bezirken und Kreisen zwei konkurrierende Entwicklungen. Es gab kirchliche Veranstaltungen mit dem Neuen Forum, denen in der Regel friedliche Demonstrationen gegen das SED - Regime folgten. Staat und Partei organisierten ihrerseits Dialoge und Rathausgespräche mit Partei - und Staatsfunktionären. Der Staat suchte das Gespräch mit kirchlichen Amtsträgern und Vertretern des Neuen Forums, um sie zu motivieren, sich, statt Demonstrationen zu organisieren, lieber auf Dialogveranstaltungen über Modifizierungen des SED - Regimes einzulassen. Im Kreis Bautzen organisierte die SED - Kreisleitung am 24. Oktober 24 Foren. Der Ratsvorsitzende vereinbarte mit dem Neuen Forum einen Dialog.91 In Schirgiswalde organisierte der katholische Pfarrer ein Bürgerforum.92 In der Kirche von Gaußig protestierten einen Tag später 700 Personen gegen den „Schwarzen Kanal“, die Machtfülle von Krenz und die letzten Kommunalwahlen.93 Am 27. Oktober tagten die Bautzener Stadtverordneten und beschlossen Arbeitsgemeinschaften mit Bürgern zu kommunalen Themen. Man signalisierte Gesprächsbereitschaft mit dem Neuen Forum und der Kirche und öffnete sich bisherigen Tabuthemen wie z. B. der Einrichtung eines zivilen Wehrersatzdienstes. Selbst dem Wunsch nach einer unabhängigen Untersuchung „angeblicher Übergriffe durch die Staatssicherheitsorgane“ wurde nachgegeben.94 Die Konkurrenz aber war hart. Die SED - Kreisleitung konstatierte, dass sich inzwischen selbst immer mehr Genossen dem Neuen Forum zuwandten und offen dessen Ziele verkündeten. „Sehr kompliziert“ war die Arbeit in Betrieben und Einrichtungen. Zwar wurden in Aussicht gestellte Veränderungen wie die uneingeschränkte Reisefreiheit wohlwollend entgegengenommen, das Misstrauen aber blieb bestehen.95 Dennoch gingen die Bürgerforen wie in Wilthen und Bautzen weiter. Hier stellten sich am 28. Oktober der Vorsitzende des Rates des Kreises und der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Helmut Mieth, 1 200 Anwesenden. Verbunden mit heftigen Angriffen gegen Mieth wurde der „Wahrheits - und Machtanspruch“ der SED abgelehnt und grundlegende Veränderungen in Politik und Wirtschaft gefordert. Themen waren auch der marode Zustand der Altstadt, das „Gelbe Elend“ ( Strafvollzugsanstalt Bautzen I ) und der zivile Wehrersatzdienst. Ein Vertreter des Neuen Forums forderte eine unabhängige Unter90 Vgl. Außerordentliche Tagung des BT Dresden vom 26. 10. 1989 : Diskussionsbeiträge (ebd., 46069, Bl. 82–109). Vgl. Sächsische Neueste Nachrichten, Ausgabe Dresden, vom 27. 10. 1989; Sächsisches Tageblatt vom 27. 10. 1989. 91 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 24. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 92 Vgl. Stadt Schirgiswalde an Sächsische Staatskanzlei vom 23. 3. 1999 ( HAIT, Bau I1). 93 Vgl. KDfS Bautzen vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 100–102). 94 Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 14 f.) Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 28./29. 10. 1989. 95 SED - KL Bautzen vom 27. 10. 1989 : Bericht ( SächsHStA, IV / E - 4./01.–181).

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suchungskommission über die Verhaftungen und Misshandlungen in diesem Gefängnis. Spontan bildete sich nach dem Dresdner Vorbild ein Bürgerkomitee aus 26 Personen, das als Erstes die Absetzung Karl Eduard von Schnitzlers forderte.96 Am Abend fand das MfS in der Stadt diverse Plakate mit Aufschriften wie „Mehr Freiheit“ oder „Weg mit den Lügen – mehr Wahrheit“.97 Für den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung war dies zu viel. Er erschoss sich mit seiner Dienstwaffe.98 Unterdessen schimpfte die Bevölkerung Bautzens darüber, dass es am Wochenende wieder kein Bier und nur altbackenes Brot gab.99 In Sohland folgten am 30. Oktober 1 000 Einwohner einer Einladung in die ev. - luth. Kirche. Aus Zittau nahmen Vertreter des Neuen Forums teil, ebenso der Bürgermeister und der Parteisekretär. Christian Schramm, späterer Oberbürgermeister von Bautzen, eröffnete mit selbst vorgetragenen Liedern. Die Vertreter der Staatsmacht sahen sich vehementer Kritik ausgesetzt. Nach dem Abend bildete sich eine Ortsgruppe des Neuen Forums, die spätere Bürgerinitiative Sohland. In Bautzen beteiligten sich am 31. Oktober 1 500 Bürger am zweiten Bürgerforum. Dort sprachen sich einige Teilnehmer für die Wiedervereinigung aus. Einzelne Vertreter des Neuen Forums betonten, sie verstünden sich nicht als Opposition, sondern beachteten die Verfassung. Das löste keine Begeisterungsstürme aus. Es wurde kritisiert, das Neue Forum habe kein klares Konzept.100 Bischofswerda : In der Nikolaikirche Pulsnitz forderten am 24. Oktober 650 Einwohner die Zulassung des Neuen Forums und griffen die SED verbal an.101 Diese stellte in Bischofswerda, Pulsnitz, Burkau, Lichtenberg und Kleinröhrsdorf Bestrebungen fest, das Neue Forum zu installieren. Überall wurden nun Dialoge organisiert, im gesamten Kreis gab es am 26. Oktober 24 Einwohnerforen und Volksvertretersitzungen. Wie in Bautzen verliefen sie nicht im Sinne der Erfinder. Überall hieß es, SED und Staatsapparat hätten „das Vertrauen der Bürger verloren“. In Pulsnitz forderten junge Christen die SED auf, ihren Führungsanspruch abzugeben und das Neue Forum zuzulassen. Beim Bürgerforum in Bischofswerda kritisierten die Einwohner die mangelnde Stadtbeleuchtung, den stinkenden Mühlteich, das fehlende Warenangebot und die maroden Wohnhäuser. In Pulsnitz ging es bei einer Aussprache um die Trinkwasserversorgung, den Umweltschutz, fehlende Baumaßnahmen, die Versorgung und das Schulwesen. Am 30. Oktober fand in der ev. - luth. Kirche Neukirch 96 KDfS Bautzen vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 100–102); Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 15); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 31. 10. 1989. 97 BVfS Dresden vom 28.–29. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 24, 28). 98 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 16). 99 KDfS Bautzen vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 100–102). 100 Vgl. SED - BL Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( ebd. 7001, Bl. 125); BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 : Tagesinformation ( ebd. 7002, 1, Bl. 373–375); Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129); SED - KL Bautzen vom 2. 11. 1989 : Bericht ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 101 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 24. und 26. 10. 1989 : Info ( ebd., 13552); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 26. 10. 1989.

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eine Gesprächsrunde mit 1700 Personen statt. Gefordert wurde die Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes, ein Ende der Zwangsmitgliedschaft in Massenorganisationen, die Abschaffung von Delikat - , Exquisit - und Intershopläden, ein neues Wahlgesetz, die Trennung von Partei und Wirtschaft, die Durchsetzung des Leistungsprinzips, die Abschaffung von Privilegien, die Veröffentlichung des Programms des Neuen Forums, Medienfreiheit, offene Aussagen über die Zahl der Ausreisewilligen und die Umweltbelastung. Eine Bürgerinitiative sollte künftig als unabhängiger Mittler zwischen dem Rat der Gemeinde und den Bürgern in Arbeitsgruppen und als Kontrollorgan fungieren.102 Bei einer Sonderberatung der Abgeordneten, des Ortsausschusses der Nationalen Front und der Blockparteien in Demitz - Thumitz ging es um einen fehlenden Bäcker im Ort, die Öffnungszeiten von Verkaufsstellen und die instabile Stromversorgung, durch die Fernsehgeräte und Waschmaschinen kaputtgingen.103 Deutliche Kritik gab es hier wie überall im Kreis an der 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung, Hannelore Strugalla, der Privilegien und dogmatisches Verhalten vorgeworfen wurden. Man forderte ihre Absetzung sowie die anderer Ratsmitglieder und Abgeordneter aus Städten und Gemeinden.104 Dippoldiswalde : In Dippoldiswalde gab es „Schmierereien“ für freie Wahlen und gegen Krenz105 und am 25. Oktober eine Demonstration mit anschließender Kundgebung.106 Die SED organisierte ihrerseits Einwohnerversammlungen in zahlreichen Orten des Kreises.107 In Dippoldiswalde fand eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung mit Einwohnerbeteiligung statt. Der Bürgermeister listete alle ungelösten Probleme auf, der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Gerhard Barthel, verlangte, nicht alles in Frage zu stellen, was in den letzten 40 Jahren aufgebaut wurde. Superintendent Wolf Dähne verlangte freie Wahlen und die Überprüfung des Einsatzes der Sicherheitskräfte am 7. Oktober.108 In Reinhartsgrimma ging es bei einer Einwohnerversammlung ebenfalls um die schlechte Trinkwasserversorgung, Straßenbeleuchtung und den miserablen Straßenzustand.109 Eifrig beseitigte das MfS derweil Losungen für das Neue Forum.110 In der Stadt Dresden fand am 26. Oktober eine außerordentliche Tagung der Stadtverordnetenversammlung unter Beteiligung der Gruppe der 20 statt. Sie 102 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 26. und 30. 10. 1989 : Foren ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 1. 11. 1989. 103 Vgl. ebd., vom 31. 10. 1989. 104 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 30. 10. 1989 : Foren ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552); SED - BL Dresden vom 30. und 31. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 128). 105 BVfS Dresden vom 25.–26. 10. 1989 : Info ( ebd., XX 9181, Bl. 54, 56). 106 Vgl. Neues Forum – geplante / durchgeführte Aktivitäten, o. D. ( ebd., AKG 7002, 2, Bl. 1). 107 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 25. 10. 1989. 108 Vgl. ebd., vom 27. und 28./29. 10. 1989. 109 Vgl. ebd., vom 31. 10. 1989. 110 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 48, 50, 53).

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Bild 33: Referat Herbert Wagner ( Gruppe der 20 ) auf der außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung Dresden am 26.10.1989.

wurde von rund 60 Medienvertretern aus Ost und West direkt übertragen. Superintendent Ziemer überreichte 170 Erlebnisberichte von Demonstranten und forderte die Einsetzung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Übergriffe. Den Ständigen Kommissionen der Stadtverordnetenversammlung wurden auf Drängen der Gruppe der 20 zeitweilige Arbeitsgruppen unter Beteiligung interessierter Bürger zugeordnet.111 Bei einer anschließenden Kundgebung vor dem Hygienemuseum, der „Cockerwiese“,112 kamen 100 000 Menschen zusammen. Modrow sprach von einem „revolutionären Wandel“, Berghofer informierte über die Ergebnisse der Stadtratssitzung.113 Überall waren Volkspolizei - Kräfte in Zivil im Einsatz, Kompanien der Bereitschaftspolizei und Einsatzhundertschaften der NVA standen in Bereitschaft.114 In der Kirche Dresden - Bühlau stellte sich das Neue Forum auf einer offiziellen Gründungsveranstaltung vor.115 Am 27. Oktober demonstrier111 Vgl. Wagner, Gruppe der 20, S. 13; Sächsisches Tageblatt vom 27. 10. 1989. 112 Nach einem DDR - Konzert von Joe Cocker so benannt. 113 MfS, ZOS vom 24.–25. 10. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 290–292). Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 195 f., 203, 207); Frankfurter Rundschau vom 28. 10. 1989; Die Union vom 28./29. 10. 1989. 114 Vgl. BVfS Dresden : Absprache mit dem Chef der BDVP Dresden am 25. 10. 1989. In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 507 f.; MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 203, 207). 115 Vgl. Die Union vom 28./29. 10. 1989; Urich, Die Bürgerbewegung, S. 238.

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ten in Dresden erneut 12 000 Personen,116 am 30. Oktober, parallel zum 3. Rathausgespräch, noch einmal bis zu 20 000 Personen.117 Am 31. Oktober gab sich das Neue Forum in Dresden eine erste Struktur und bestimmte Basissprecher für die Dresdner Stadtbezirke sowie fünf Sprecher für den Koordinierungsausschuss. Anders als in Berlin legten die Dresdner Initiatoren den Schwerpunkt ihrer Arbeit mehr auf den Dialog als auf fertige Programme. Der Sprecher des Neuen Forums in Dresden, Arnold Vaatz, erklärte, nach vierzig Jahren politischer Wortlosigkeit bekenne es sich „zu der Bescheidenheit, politisches Hören, Reden, Denken und Handeln neu erlernen zu müssen“.118 Ein Kreis um Arnold Vaatz, Dieter Reinfried, Andreas Lämmel und Jörg Wildoer lenkte die Entwicklung des Neuen Forums von nun an in die Richtung fester, parteiähnlicher Strukturen, was nicht von allen Mitgliedern unterstützt wurde. Dennoch nutzte er seine Funktion als Pressesprecher, „um Fakten zu schaffen“.119 Dresden - Land : In Radebeul sorgte ein Aushang im Schaufenster der Ortseieraufkaufstelle für Aufregung unter den Funktionären. Darauf wurden politische Grundrechte sowie das Leistungsprinzip auch für Funktionäre gefordert und Karl - Eduard von Schnitzler sowie die Bevorzugung Berlins kritisiert. Der Zettel wurde unter Protesten der Bevölkerung am 24. Oktober entfernt.120 Nach einer Gemeindevertreterversammlung in Langebrück forderten 150 Bürger öffentlich die Darlegung der Ergebnisse der Beratung.121 In Radebeul fand das erste öffentliche Forum des Rates der Stadt mit Bürgermeister und SED - Ortsparteisekretär statt.122 In der Radebeuler Werkzeugfabrik sprach am 27. Oktober der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Dieter Breu, mit Arbeitern.123 Hier wie bei Dialogen in Radeberg wurde die SED scharf angegriffen.124 In Radebeul fand das MfS auf mehreren Straßen drei Meter lange Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums.125 Bei einer Versammlung in der Lutherkirche Radebeul - Ost am 30. Oktober gab es Pfui - Rufe und scharfe Angriffe gegen den Ortsparteisekretär und die Strafvollzugsschule des MdI in Radebeul. Bei allen Dialogveranstaltungen im Kreis registrierte die Bezirksverwaltung des MfS „ver116 Vgl. MfS, ZOS vom 27.–28. 10. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 275–277); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 212). 117 Vgl. MfS, ZOS vom 30.–31. 10. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 260–264); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 228 f.). 118 Die Union vom 2. 11. 1989. Vgl. BVfS Dresden vom 4. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 64–68). 119 Zit. bei Urich, Die Bürgerbewegung, S. 242. 120 Vgl. RdS Radebeul an RdB Dresden vom 24. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 415–420). 121 Vgl. SED - BL Dresden vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd. 7001, Bl. 154, 160). 122 Vgl. Sächsisches Tageblatt / Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 28./ 29. 10. 1989. 123 Vgl. ebd., vom 31. 10. 1989. 124 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 48, 50). 125 Vgl. BVfS Dresden vom 28.–29. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 24, 27).

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stärkte Angriffe gegen die Schutz - und Sicherheitsorgane“.126 Einen Tag später beschloss eine Einwohnerversammlung in Radebeul die Bildung zeitweiliger Arbeitsgruppen zur kommunalen Demokratie und Mitbestimmung, zu Stadtplanung, Handel und Versorgung sowie zu Ökonomie und Ökologie.127 Freital : In Freital deuteten sich am 24. Oktober bei einer Tagung des Kreistages erste Veränderungen an. Der Ratsvorsitzende, Peter Jegodtka, sprach von „tiefgreifenden Veränderungen“. Es gab Kontroversen über das Neue Forum,128 während im Jugendklub Tharandt zur gleichen Zeit Jugendliche weitere Mitglieder warben129 und auf einem Plakat an der Wilsdruffer Nikolaikirche zur Gründung aufgerufen wurde. Die MfS - Kreisdienststelle wollte daraufhin die Kreiseinsatzleitung einberufen lassen, um „Maßnahmen zur Verhinderung der Gründung“ sowie von Demonstrationen zu beschließen. Auch in der SED gab es Unzufriedenheit. SED - Mitglieder kritisierten, der Ratsvorsitzende habe ein Wohnhaus von einem Antragsteller auf ständige Ausreise in der Gemeinde Pesterwitz und für D-Mark einen Pkw über die Handelsfirma Genex erhalten.130 Die Diskussionen wurden von Tag zu Tag „aggressiver und heftiger“. Vor allem Arbeiter sahen die Schuld nicht mehr allein bei Funktionären in Berlin, sondern wollten Verantwortliche aller Ebenen bestrafen. Aus MfS - Sicht gab es „eine Hysterie“ gegen alle Verwaltungsbereiche, die Schutz - und Sicherheitsorgane sowie die hauptamtlichen Parteikader und es wurde „massiv gegen die führende Rolle der Partei diskutiert“.131 War es in dieser Situation Optimismus oder Resignation, wenn der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Klaus Jentzsch, meinte, der Glaube der Bürger an eine Wende hänge „davon ab, wie rasch sichtbare Veränderungen zu ihrem Wohle erreicht werden“? Die Aussichten, dies nach vierzig Jahren zu erreichen, waren schlecht. Warum, so fragten die Bürger, ist die Wärmeversorgung katastrophal, warum „sind so viele Gaststätten und Geschäfte geschlossen, warum ist alles so schmutzig ?“132 Am 30. Oktober wurde beim Volkspolizeikreisamt Freital eine Veranstaltung des Neuen Forums am 2. November in der HO - Gaststätte „Goldener Löwe“ Wilsdruff beantragt. Die Kreiseinsatzleitung legte fest, die Veranstaltung nicht zu genehmigen und 50 Mitglieder der SED zu delegieren.133 In Freital fand am 31. Oktober eine größere Kundgebung statt, und das MfS meldete, „dass in allen Beratungen und Versammlungen die Abschaffung der führenden Rolle der SED im Mittelpunkt der Diskussionen“ stand.134 126 127 128 129 130 131 132 133 134

BVfS Dresden vom 30. 10. 1989 : Tagesinformation ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 377 f.). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 1. 11. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 24. und 28./29. 10. 1989. Vgl. KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital 15053, Bl. 1–10). KDfS Freital vom 25. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., LBV 10917, Bl. 453–455). KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 447–449). Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 31. 10. 1989. Vgl. KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital 15053, Bl. 1–10). KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449).

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In der Stadt Görlitz135 gab es nach einer Beratung der Stadtverordneten im VEB Maschinenbau ein erstes Bürgerforum mit Oberbürgermeister Kurt Butziger, der scharf angegriffen wurde. Es ging um unzureichende Kfz - Reparaturmöglichkeiten, schlechte Backwarenversorgung, den verstärkten Einkaufstourismus tschechischer Nachbarn oder Bürokratie im Rathaus. Es gab Rücktrittsforderungen.136 Im Evangelischen Wichernhaus besprachen der weil die Führungskräfte des Neuen Forums ihr Vorgehen. In der Frauenkirchgemeinde richtete Pfarrer Albrecht Naumann aus Weißwasser einen Konsultationsstützpunkt ein, bei dem sich jeder über das Neue Forum informieren konnte.137 Am 27. Oktober folgte ein Diskussionsforum mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Günther Müller. Auch hier wurde die führende Rolle der SED in Frage gestellt und die Abschaffung des „Schwarzen Kanals“ sowie der Staatssicherheit gefordert. In einem Aufruf wurden Meinungs - und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Veränderungen in der Wirtschaft gefordert. In der Stadt gab es nach Friedensgebeten in der Frauen - und Lutherkirche mit 5 000 Teilnehmern Demonstrationen. Jugendliche stellten vor dem Rathaus Kerzen ab und riefen „Egon Krenz, wir sind die Konkurrenz“.138 Am nächsten Tag lud wieder der Rat der Stadt zu thematischen Gesprächen ins Kulturhaus „Karl Marx“.139 Politische Grundfragen standen hier nicht zur Diskussion. Am 30. Oktober sprach der Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres mit Vertretern des Neuen Forums. Zu diesem Zeitpunkt ließ sich ein Gespräch kaum noch verhindern, denn inzwischen nahm das Neue Forum in allen Betrieben und Einrichtungen des Kreises weiter an Stärke zu und strukturierte sich. Es gab ca. 50 Kontaktadressen, und auch immer mehr SED - Mitglieder unterstützten es. Der Direktor der Betriebsberufsschule des VEB Kraftwerke „Völkerfreundschaft“ Hagenwerder, Andreas Kalkbrenner ( SED ), bekannte sich offen zum Neuen Forum und erhielt die Unterstützung seiner Kollegen. Auf eigene Initiative setzte er den Staatsbürgerkundeunterricht ab.140 Am 30. Oktober forderten jugendliche Demonstranten in Görlitz die Ablösung des Oberbürgermeisters.141 Auch im umliegenden Kreis Görlitz häuften sich vor allem „in den Zentren der Arbeiterklasse“ Forderungen nach konkreten Veränderungen, insbesondere zur Verbesserung der Versorgung.142 In Ostritz fand auf dem Marktplatz eine

135 Vgl. zu Görlitz Baumann, Die Stadt Görlitz. 136 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 28./29. 10. 1989. Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 31. 10. 1989. 137 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 138 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 31. 10. 1989. Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 1. 11. 1989. 139 Vgl. ebd., vom 28./29. 10. 1989. 140 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 141 Vgl. SED - BL Dresden vom 30. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 128). 142 KDfS Görlitz vom 25. 10. 1989 : Aktivitäten ( ebd., LBV 10996, Bl. 1–7).

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Dialogveranstaltung statt, an der sich über 500 Bürger beteiligten. Man wechselte wegen des Andrangs in die katholische Kirche.143 Großenhain : Am 24. Oktober fand in Großenhain ein Informationsabend mit Pfarrern und dem Superintendenten statt, bei dem in Anwesenheit von CDU Funktionären die Inaktivität der CDU kritisiert und für das Neue Forum geworben wurde. In Ebersbach organisierten der Pfarrer und ein Arzt die Bildung einer Initiativgruppe des Neuen Forums. Das MfS schlug vor, durch den Rat der Gemeinde ein Bürgerform zu organisieren, „damit die Kräfte um [ Pfarrer ] Stempel in der Defensive bleiben“.144 In Großenhain fand am 26. Oktober in der Marienkirche ein Rockkonzert der Gruppe „Solaris“ mit 600 Teilnehmern statt. Zu Beginn wurde ein „Appell aus Leipzig“ verlesen, der zu Gewaltverzicht aufrief und man sprach über Reisefreiheit sowie Probleme in Betrieben. Danach demonstrierten 350 Menschen, meist Jugendliche, im Stadtzentrum, riefen Sprechchöre, stellten am Rathaus Kerzen ab und sangen „Dona nobis pacem“, „We Shall Overcome“ und die „Internationale“.145 Beim Rathausgespräch ging es um fehlende Radwege, die schlechte Bierqualität, nicht realisierte Baubilanzen, die unzureichende Stadtbuslinie, fehlende Freizeitmöglichkeiten, die Versorgungslage, die Schmutzigkeit der Stadt und die fehlende Unkrautbekämpfung am Radfahrweg.146 Auch bei einer Einwohnerversammlung in Walda - Kleinthiemig ging es um ähnliche Themen und die Reduzierung des Flugbetriebs der Sowjetarmee.147 In Ponickau versprachen die Abgeordneten eine bürgernahere Kommunalpolitik, dankten der Volkspolizei aber zugleich für ihren Einsatz am Dresdner Hauptbahnhof und plädierten dafür, Rückkehrer nicht wieder in die DDR aufzunehmen.148 Beim Bürgerforum am 30. Oktober in Ebersbach forderten die Gemeindevertreter mehr Demokratie, die Beseitigung der „Vormachtstellung der Stasi“, die Abschaffung der Kampfgruppen, einen kontrollierten Strafvollzug, gleichberechtigte Parteien, eine Volksabstimmung über die Führungsrolle der SED, die Absetzung führender Funktionäre und ein neues Wahlgesetz.149 Am nächsten Tag ging es beim Informationsabend des Neuen Forums in der Marienkirche Großenhain um die Konstituierung der Organisationsstruktur. Friedhofsverwalter Joe Balzer stellte das Neue Forum als basisdemokrati143 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 3. 11. 1989. 144 KDfS Großenhain vom 26. 10. 1989 : ev. - luth. Kirche ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11029, Bl. 1–3). 145 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27. 10. 1989 ( ebd., XX 9181, Bl. 48–52); BVfS Dresden : Massendialog am 26. 10. 1989 ( BStU, HA XX, ZMA 40239, Bl. 109); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 28. 10. 1989; Martin Schaarschmidt, Großenhain – (k)ein exterritoriales Gebiet der DDR. Versuch einer Bilanz der Wende 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). Vgl. Großenhain im Aufbruch, S. 29–32. 146 Vgl. Lösungssuche im Rathausgespräch vom 26. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 147 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 28./29. 10. 1989. 148 Vgl. ebd., vom 1. 11. 1989. 149 Gesprächsprotokoll des Bürgerforums vom 30. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 7. 11. 1989.

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sche Organisation „ohne Tabus“ und Parteigrenzen, als „zeitweilige Bürgerinitiative zur Mobilisierung, Aktivierung und Überwachung des Umdenkprozesses und der Umgestaltung“ vor. Ganz ohne Tabus war es aber doch nicht, denn Grundlage der Mitarbeit war „die Anerkennung des Sozialismus und das Ziel, hier zu bleiben und zu verändern“. Eine „automatische Akzeptanz“ der führenden Rolle der SED wurde aber ebenso abgelehnt wie eine Wiedervereinigung. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet und beschlossen, am 2. November zu demonstrieren. Eine vergleichbare Veranstaltung mit ca. 1 000 Personen fand zur selben Zeit im Hotel „Stadt Bautzen“ statt. Zuvor hatte es Unterstützungsaktionen im VEB Textima Großenhain, im VEB Textilveredlung Großenhain, im VEB Schmiede Großenhain, unter zahlreichen Medizinern und in einigen Gemeinden des Umlandes gegeben.150 Kamenz : Am 25. Oktober trafen sich Akteure des Neuen Forums samt Pfarrer mit dem Rat der Stadt Königsbrück und trugen Forderungen vor. Der Bürgermeister erkannte sie gemäß Vorgabe aus Berlin nur als „Gruppe interessierter Bürger“ an.151 Wie für Oberlichtenau152 wurden überall Tagungen der Gemeindeparlamente angekündigt, die den Charakter von Einwohnerversammlungen haben sollten.153 In Kamenz selbst fand am 28. Oktober ein erstes Dialoggespräch statt. Auch hier wurden politische Freiheiten und ein Ende des SED- Regimes samt MfS gefordert.154 Unterstrichen wurden diese Forderungen durch „Schmierereien gegen die DDR“ wie „Freiheit für alle“ und „Es lebe Ungarn“.155 Beim Bürgerforum im Kamenzer Rathaus mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises Kamenz, Ahrens, wurden die Bürger zu öffentlichen Sitzungen der Stadtverordneten in Gemeinden und Städten eingeladen.156 Beim Friedensgebet am 30. Oktober in der Kamenzer Hauptkirche forderte Pfarrer Kanig die Zulassung des Neuen Forums und in der ev. - luth. Kirche Königsbrück wurde eine neue Gruppe gebildet.157 Bei Dialogen in Kamenz waren Ratsmitglieder Zielscheibe scharfer Angriffe,158 und in Schwepnitz charakterisierte der Pfarrer die Lage bei einer Gemeindevertretersitzung als Aufschrei eines gequälten und entmündigten Volkes. Er übte scharfe Kritik an der Volksbildung, der füh150 Vgl. KDfS Großenhain vom 31. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11033, Bl. 1–4); BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 : Tagesinformation ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 370, 373). 151 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 4. 1. 1990. 152 Vgl. ebd., vom 2. 11. 1990. 153 Vgl. ebd., vom 25. und 27. 10. 1989. 154 Vgl. KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1–3); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 31. 10. 1989. 155 VPKA Kamenz vom 28. 10. 1989 : Monatslage von Oktober ( SächsHStA, Dresden I, 359). 156 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 26. 10. 1989. 157 Vgl. KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1–3); SED - KL Kamenz vom 26. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 158 Vgl. SED - BL Dresden vom 30. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 128).

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renden Rolle der SED und am MfS. Wegen der Lärmbelästigung durch die Sowjetarmee wurde eine Demonstration zum Truppenübungsplatz beschlossen.159 Löbau: Bei einer Veranstaltung im Kulturhaus Großhennersdorf am 26. Oktober verlas Andreas Schönfelder von der Umweltbibliothek eine Protestresolution gegen die Schutz - und Sicherheitskräfte und warb für das Neue Forum. Dem Gemeinderat wurde ein Forderungskatalog übergeben, in dem u. a. die Zulassung des Neuen Forums sowie die Untersuchung der Übergriffe am 7./8. Oktober verlangt wurden.160 Auch in der Kirche Berthelsdorf wurde das Neue Forum vorgestellt. In Strahwalde ging es bei einer Dialogveranstaltung um kommunale Probleme und um die Zulassung des Neuen Forums. In Herrnhut gab es eine Unterschriftensammlung für das Neue Forum. Überall gab es „massive Angriffe auf die führende Rolle der Partei und auf die Mitglieder des Politbüros“. Die SED sei konzeptionslos und habe ihren Führungsanspruch verwirkt. Es sei Zeit, das Neue Forum anzuerkennen. In der Spremberger Kirche fand am 24. Oktober ein erstes Friedensgebet mit 600 Teilnehmern statt. Der SED wurde vorgeworfen, das Wahlergebnis im Mai manipuliert zu haben und man forderte, freie Wahlen durchzuführen. Im Anschluss daran übergaben Pfarrer Frank del Chin und andere Aktive dem Rat der Stadt Neusalza - Spremberg einen Forderungskatalog, in dem u. a. das Recht auf freie Meinungsäußerung, freie Wahlen und ein Ende der SED - Vormachtstellung gefordert wurden.161 Bei Bürgerforen im Kreis Löbau ging es am 31. Oktober um Amtsmissbrauch und Privilegien des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Heinz Rietzschel. Es wurde in „sehr aggressiver Art“ gefordert, künftig Auslagen für Feierlichkeiten von der SED - Kreisleitung bezahlen zu lassen.162 Bei einer Einwohnerversammlung in Oberoderwitz wurde die Bautätigkeit des Direktors des VEB Kreisbau Löbau auf seinem Privatgrundstück kritisiert und dessen Rücktritt gefordert. Der SED wurde die Schuld an der schlechten Lage gegeben sowie die Abschaffung von Privilegien für Funktionäre und die Zulassung des Neuen Forums gefordert.163 In Bernstadt ging es bei der ersten großen Einwohnerversammlung um die wirtschaftliche Situation und Versorgungsfragen.164 Meißen : Am 24. Oktober gab es in Meißen eine Demonstration mit Forderungen nach Dialog und der Zulassung des Neuen Forums. An einem Bürgerforum beteiligten sich ca. 30 Personen.165 Auf dem Marktplatz folgte am 26. Oktober eine von Pfarrer Schmidt aus Coswig und dem Neuen Forum orga159 Vgl. KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., LBV 11063, Bl. 1–3). 160 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27. 10. 1989 : Info ( ebd., XX 9181, Bl. 48, 51). 161 Vgl. Frank del Chin, Erinnerungen an den Herbst 1989 in Neusalza - Spremberg. In : Geschichte und Geschichten aus Neusalza - Spremberg, S. 70–72; SED - KL Löbau vom 27. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 162 KDfS Löbau vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 410– 412). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 31. 10. 1989. 163 Vgl. KDfS Löbau vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 410–412). 164 Vgl. Chronologie der Wende Bernstadt – Landkreis Löbau / Zittau ( HAIT, StKa ). 165 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Meißen, vom 25. und 28. 10. 1989.

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nisierte Demonstration mit bis zu 8 000 Teilnehmern. Auf Transparenten wurden Grundrechte und die Zulassung des Neuen Forums gefordert. Pfarrer Wöllner bekannte sich zum Neuen Forum und griff unter starkem Beifall die führende Rolle der SED an. Seine Rede wurde von Sprechchören „Freiheit, Freiheit“ begleitet. Der SDP - Mitbegründer von Dresden, Gerhard Brenn, forderte Demokratie und freie Wahlen. Pfarrer Schmidt mahnte zur Friedlichkeit. Nach der Demonstration empfing der Bürgermeister eine Bürgerdelegation und bot an, am nächsten Tag an der Stadtverordnetenversammlung teilzunehmen.166 Hier nun hagelte es Kritik am schleppenden Bauwesen, der Wohnraumvergabe, chaotischen Verkehrsbedingungen und am mangelnden Umweltschutz.167 Bürgerforen gab es am 26. Oktober in Lommatzsch, Meißen und Niederau.168 Da zu einem Bürgerforum am 27. Oktober in der ev. - luth. Kirche von Nossen weder Bürgermeister noch Vertreter des Rates der Stadt erschienen, beschlossen die 1 200 Teilnehmer, sich am 30. Oktober vor dem Rathaus zu versammeln.169 In Meißen forderten am 31. Oktober erneut bis zu 8 000 Menschen die Zulassung des Neuen Forums und die Ablösung des Rates des Kreises. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Bernd Schmidt, und der Vorsitzende des Rates des Kreises, Krieg, wurden durch Buhrufe unterbrochen. Es wurde gerufen : „Wer hat diesen Mann gewählt ?“, „Demokratie, jetzt oder nie“ und „Stasi raus“.170 Niesky : Am 26. Oktober gab es in 15 Gemeinden des Kreises Niesky Bürgerforen und öffentliche Sitzungen der Volksvertretungen. Zwei Tage später fanden sich 200 Bürger im Kreisjugendklubhaus zum Nieskyer Rathausgespräch zusammen. Neben kommunalpolitischen Problemen ging es um den Vertrauensverlust der Funktionäre und die mangelnde Wahrnehmung von Bürgerinteressen durch territoriale Organe.171 Am 29. Oktober fand in Klitten nach dem Gottesdienst eine Demonstration statt.172 Die seit dem 16. Oktober in der ev. luth. Kirche Rothenburg montags stattfindenden Friedensgebete verzeichneten eine Steigerung der Teilnehmerzahl von anfangs ca. 50 auf 300 am 30. Oktober. Organisatoren waren Mitglieder des Neuen Forums aus Görlitz und Pfarrer Werner. Hier wurden Unterschriften für das Neue Forum gesammelt und die 166 Vgl. KDfS Meißen vom 26. 10. 1989 : Gespräch des Bürgermeisters der Stadt Meißen mit Vertretern der Kirche und des Neuen Forums ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 63–69); BVfS Dresden vom 24.–25. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 90–94); SED - BL Dresden vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 154, 159); Die Union, Ausgabe Meißen, vom 24. 10. 1989. 167 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 30. 10. 1989. 168 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Meißen, vom 26. und 28. 10. 1989. 169 Vgl. BVfS Dresden vom 29.–30. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 21– 23); Sächsische Zeitung, Ausgabe Meißen, vom 1. 11. 1989. 170 RdB Dresden : Monatsbericht von Oktober 1989 ( SächsHStA, BT / RdB, 46141, Bl. 195– 201); MfS, ZOS vom 31.10.–1. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 253–255); SED- BL Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 124– 125). 171 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 28./29. 10. 1989. 172 Vgl. VPKA Niesky vom 27. 10. 1989 : Lagefilm Rapport 64/89 ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990, Az. 1212).

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Teilnehmer aufgefordert, Kerzen in die Fenster zu stellen. Die MfS - Kreisdienststelle listete unterdessen weiterhin Unterschriftensammler, Inspiratoren und Sympathisanten des Neuen Forums mit Name, Anschrift und politischer Einschätzung173 für den Fall auf, dass der SED die Wende in ihrem Sinne gelingen würde. Pirna: In Pirna beschloss der Rat der Stadt am 25. Oktober, ein Treffen im Rathaus durchzuführen.174 Im Kreistag gab es erste kritische Töne. Der Ratsvorsitzende sprach von Problemen bei medizinischer Versorgung, Reparaturen und Dienstleistungen.175 Nach einer Kirchenveranstaltung forderten in Bad Schandau 1 000 Menschen Verbesserungen beim Umweltschutz und in der Versorgung.176 Bei einer Versammlung von ca. 2 000 Einwohnern in der Gaststätte „Tanne“ in Pirna mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Günter Hensel, gab es am 26. Oktober Angriffe auf die führende Rolle der SED und Forderungen nach einer Änderung des Wahlgesetzes und der Zulassung des Neuen Forums.177 Im „Deutschen Haus“ Königstein war der Grundtenor von „Resignation und Unzufriedenheit über die zahlreich vorhandenen Missstände“ bestimmt. Hoch her ging es bei einer „Polit - Disko“ im Jugendclub Pirna - Sonnenstein.178 Am 31. Oktober wurde in der EOS „Rainer Fetscher“ das Neue Forum vorgestellt.179 Riesa : Im Kreis Riesa wurden verstärkt Informationen des Neuen Forums und anderer Gruppierungen verbreitet. Die Bevölkerung forderte rasche Veränderungen und die „Durchsetzung des Leistungsprinzips“ in allen Bereichen der Gesellschaft. Die jetzt „kritisch auftretenden Funktionäre“ wurden kritisiert. Sie hätten jahrelang Schönfärbereien geduldet. Das Vertrauen sei weg.180 Am 30. Oktober beteiligten sich ca. 2 000 Menschen an einer Podiumsdiskussion in der Kirchgemeinde Riesa - West mit der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Bärbel Heym. Es gab Buhrufe und Pfiffe.181 Sebnitz: Am 25. Oktober fanden im Kreis öffentliche Volksvertretersitzungen und Einwohnerversammlungen meist über kommunale Probleme statt. Während der Rat des Kreises in gewohnter Weise nach oben log, bei keiner Veranstaltung hätten die Anwesenden „Zweifel am Weiterbestehen des Sozialismus

173 KDfS Niesky vom 1. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 353– 356). 174 Vgl. Protokoll der Sitzung des RdS Pirna, o. D. ( StA Pirna, Einladungen und Ratsprotokolle, Bl. 43 f.). 175 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 27. 10. 1989. 176 Vgl. BVfS Dresden vom 25.–26. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 54– 56); SED - BL Dresden vom 25. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 7001, Bl. 148, 153). 177 Vgl. BVfS Dresden vom 26.–27. 10. 1989 : Info ( ebd., XX 9181, Bl. 48, 50). 178 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 28./29. 10. 1989. 179 Vgl. ebd., vom 9. 11. 1989. 180 KDfS Riesa vom 27. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9196, Bl. 32– 38). 181 Vgl. Große Kreisstadt Riesa, Oberbürgermeister : Auf listung von Ereignissen, o. D. (HAIT, StKa ).

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in der DDR“ gehegt oder „vordergründig das Vertrauen in die Politik der SED in Frage gestellt“,182 meldete das MfS ehrlicher, Bürger würden „vorhandene Mängel aufgreifen, um in aggressiver Form die Politik von Partei und Staat anzugreifen“, was von der Mehrheit „zunehmend akzeptiert und unterstützt“ werde.183 Am 26. Oktober gab es Foren in Sebnitz, Neustadt, Stolpen, Hohenstein, Polenz und Lohmen mit insgesamt ca. 2 400 Teilnehmern. Auch sie verliefen, anders als vom Regime geplant, meist in „ernster und aggressiver Form“ und in „brechend vollen Sälen“. Es gab „feindliche, skandierende Ausbrüche im emotional aufgeheizten Klima“ gegen die führende Rolle der SED und die „Trennung von Partei und Volk“ sowie die Einheitslistenwahlen. Überall wurde die Legalisierung des Neuen Forums „drängend und zielgerichtet“ gefordert.184 Nach einem Bürgerforum in Sebnitz, bei dem Ralf Gründel die Kreisinitiative Neues Forum bekannt machte, stellten ca. 50 Mitglieder der Jungen Gemeinde auf dem Sebnitzer Marktplatz brennende Kerzen ab. Zu ihnen gesellten sich weitere Versammlungsteilnehmer, und es begann spontan die erste friedliche Demonstration in Sebnitz.185 Am 27. Oktober meldeten in Neustadt Ralf Gründel, Werner Schaffrath und Werner Reinold das Neue Forum beim Rat des Kreises an.186 Einen Tag darauf forderten in Sebnitz 200 Teilnehmer eines Schweigemarsches die Zulassung des Neuen Forums sowie Freiheit und sammelten Unterschriften. Auf dem August - Bebel - Platz stellten Demonstranten brennende Kerzen ab, auf einem Spruchband stand „Neues Forum“. Anschließend wurde die „Internationale“ gesungen.187 Gleichzeitig tauchten an verschiedenen Stellen des Kreises mit weißer Farbe über die gesamte Straßenbreite gesprühte Losungen wie „Neues Forum“, „Freiheit“, „Echte Reformen“ und „Stasi in die Volkswirtschaft“ auf.188 Zittau : Am 24. Oktober trafen sich im Lutherhaus Zittau Akteure des Neuen Forums, um sich weiter zu formieren. Pfarrer Alisch sprach von 40 000 Mitgliedern im Kreis. Sympathisanten sollten künftig jeden Donnerstagabend eine brennende Kerze ins Fenster stellen. Bis zum 10. November sollte ein Programm formuliert sein, um nicht unter dem Einfluss der SED zu zersplittern. Am nächsten Tag folgte in der Kirche Großschönau eine Veranstaltung mit 1 200 Personen unter Leitung von Pfarrer Hempel, am 26. Oktober in der Bergkirche Oybin. Interessierte konnten sich in Listen eintragen und erhielten Info - Blät182 RdK Sebnitz von Oktober 1989 : Öffentliche Volksvertretersitzungen ( KA Pirna, 172). 183 SED - KL Sebnitz vom 25. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–4). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 25. 10. 1989. 184 SED - KL Sebnitz vom 30. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 185 Vgl. Ekkehard Lehmann, Von der Arbeit des Neuen Forums in der Zeit der Wende 1989/1990. In : Neues Grenzblatt 12 vom 21. 6. 1991; BVfS Dresden vom 26.– 27. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 48–52). 186 Vgl. Das Wende - Jahr 1989 in Neustadt / Sachsen ( Stadt Neustadt in Sachsen, Heimatmuseum ). 187 Vgl. BVfS Dresden vom 28./29. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 24 f., 27–29); SED - KL Sebnitz vom 30. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 188 BVfS Dresden vom 28.–29. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 24–29).

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ter.189 In Zittau nahmen etwa 10 000 Menschen in drei Kirchen an Veranstaltungen des Neuen Forums teil. Die SED - Kreisleitung meldete Modrow, das Neue Forum habe inzwischen „wesentlichen Einfluss und Gehör unter der Bevölkerung bis hin zu Schülern erreicht“. Ältere Genossen forderten, dem Neuen Forum „keinen Spielraum“ zu geben.190 Am 26. Oktober beschloss eine außerordentliche Sitzung des Kreistages Zittau Interessenkreise zu bilden, an denen sich interessierte Bürger beteiligen konnten. Der 1. Stellvertreter des Ratsvorsitzenden forderte, „mit all den Menschen, die es ehrlich mit dem Sozialismus meinen“, ins Gespräch zu kommen. „Denen, die den Sozialismus in unserem Land beseitigen wollen, denen lassen wir keinen Raum.“191 Am selben Tag trat auch die Zittauer Stadtverordnetenversammlung zusammen. Der Bürgermeister lud zu einem Rathausgespräch ein. Auch hier wurden Arbeitsgruppen für interessierte Bürger gebildet. In Hainewald forderte der Bürgermeister bei einer öffentlichen Versammlung mehr kommunale Eigenverantwortlichkeit,192 in Dittelsdorf wurden eine Demokratisierung der „Volksvertretungen“ sowie Änderungen von Wahlgesetz und Verfassung gefordert.193 Am 30. Oktober fand

Bild 34: Demonstration in Zittau : Neues Forum zulassen. 189 Vgl. KDfS Zittau vom 26. 10. 1989 : Neues Forum ( ebd., Bl. 70–72); KDfS Zittau vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., KD Zittau, 7010, Bl. 183–187). 190 SED - KL Zittau vom 26. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 191 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 28./29. 10. 1989. 192 Vgl. ebd. vom 27. und 28./29. 10. 1989. 193 Protokoll der Einwohnerversammlung in Dittelsdorf vom 31. 10. 1989 ( HAIT, StKa ).

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in Zittau das 1. Rathausgespräch statt. Im Mittelpunkt der „heftigen, emotionsgeladenen Debatte“ standen kommunale Probleme. Pfarrer Lothar Alisch warb für das Neue Forum und nannte die Art und Weise des Dialogs beschämend.194 Die SED - Ortsleitung Zittau führte am nächsten Tag ein Forum im Klubhaus der Textilarbeiter durch.195 Mehr Interesse fand aber ein ökumenischer Gemeindeabend in der Johanniskirche mit Konsistorialratspräsident Manfred Stolpe. Nach dessen Ende demonstrierten 3 000 Personen mit Transparenten und Kerzen zum Gebäude der SED - Kreisleitung und forderten die Zulassung des Neuen Forums.196 Bezirk Cottbus, Hoyerswerda :197 Im Rat des Kreises forderten viele Mitarbeiter weitere Kaderveränderungen in der Regierung. Besonders FDGB - Chef Tisch hänge „seine Fahne nach dem Wind“. Diskussionen gab es hier wie unter der Bevölkerung über die Abschaffung von Privilegien einzelner Genossen und Funktionäre.198 Am 30. Oktober fand die erste Demonstration in Hoyerswerda statt. Ein Demonstrationszug von 12 000 Teilnehmern formierte sich nach einem Gottesdienst in der Luther - King - Kirche und marschierte zum Platz des 7. Oktober. Hier versammelten sich bis zu 4 000 Personen und riefen in Sprechchören „Wir wollen reden !“, „Wo ist die SED ?“ und „Bürgermeister !“. Die 1. Sekretäre der Industriekreisleitung Schwarze Pumpe und der Kreisleitung Hoyerswerda der SED, Erich Beck und Horst Franzkowiak, die Bürgermeisterin Christel Rudolf und der Vorsitzende des Rates des Kreises, Heinz Auerswald, stellten sich der Menge. Gefordert wurden die Zulassung des Neuen Forums, demokratische Wahlen, Änderungen in den gesellschaftlichen Strukturen und eine Trennung von Leitungsfunktionen und SED - Mitgliedschaft in den Betrieben.199 Am selben Tag fand auch in Wittichenau eine Demonstration mit 5 000 Teilnehmern statt. Auf einer anschließenden Veranstaltung wurde mit regionalen Funktionären abgerechnet.200 Weißwasser : Am 29. Oktober fand in Bad Muskau ein erstes Rathausgespräch mit der Bürgermeisterin, Vertretern der Ortsparteiorganisation der SED und dem Vorsitzenden des Stadtausschusses der Nationalen Front statt.201 Ein Dialog am 30. Oktober vor dem Kulturhaus der Glasarbeiter in Weißwasser wurde von der Mehrheit als nicht akzeptabel bezeichnet. Auf konkrete Fragen nach Fehlern habe man keine Antworten erhalten. Der Dialog, so die „Lausitzer Rundschau“, habe gezeigt, wie „die maßgeblichen Genossen noch am Alten hängen und dass man die gegenwärtige Situation in ihrem Wesen noch unter194 195 196 197 198

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 1. 11. 1989. Vgl. ebd., vom 27. 10. 1989. Vgl. ebd., vom 2. 11. 1989. Zu Hoyerswerda vgl. Kretschmer, Hoyerswerda. KDfS Hoyerswerda vom 27. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 9–13). 199 MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 228 f.); MfS, ZOS vom 30.– 31. 10. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 260–264). Vgl. Lausitzer Rundschau vom 1. 11. 1989. 200 Vgl. Krause, Wittichenau, S. 57 f. 201 Vgl. Chronologie der Wende ( StV Bad Muskau, Stadt - und Parkmuseum ).

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schätzt“. Am selben Tag fand in der ev. - luth. Kirche Weißwasser ein Gottesdienst mit meist jugendlichen Teilnehmern statt. Redner forderten „Weg mit der Bonzenwirtschaft“ und ein Ende der Führungsrolle der SED, geheime Wahlen und die Zulassung von Gruppen wie „Neues Forum“ und „Freie Demokratie“. Parallel zur Veranstaltung hielt Pfarrer Havenstein in der ev. - luth. Kirche Daubitz einen Friedensgottesdienst ab, an den sich ein 20 - minütiger Schweigemarsch mit etwa 600 Teilnehmern anschloss. In der Kirche wurde für das Neue Forum geworben und die Ablösung des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Klaus Frey, gefordert. Aus MfS - Sicht wurden bei beiden Veranstaltungen Thesen formuliert, „die in ihrer Gesamtheit auf die Beseitigung der führenden Rolle der Partei hinausliefen und sich gegen die Schutz - und Sicherheitsorgane richteten“.202 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 25. Oktober analysierte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Fichtner, die Lage. Die Kirche sei Inspirator und Organisator der Proteste. Statt zu beruhigen, riefen die Superintendenten zu Demonstrationen auf. Es gebe „eine gut organisierte Massenbewegung oder Bürgerinitiative, die die Sympathien vieler Tausender hinter sich hat und wo die Leute kommen, wenn das Neue Forum ruft“. Der bisherige Dialog reiche nicht mehr aus. Man müsse alle Räume und Säle öffnen, um „in die Offensive zu kommen“ und um die Opposition von den „Mitläufern“ trennen und wieder in das System einbinden zu können. Aber auch beim Dialog gehe es zunehmend um „politische Forderungen hinsichtlich unserer Gesellschaftskonzeption“, und es mehrten sich die Stimmen, die den Führungsanspruch der SED in Frage stellten. So sei die SED „einem ungeheuren Druck ausgesetzt“. Die „aufgeputschte Menge“ vor Rathäusern und Räten zerre an den Nerven. Viele Mitarbeiter hätten Angst und fragten, was werden solle.203 Am 26. Oktober empfing Fichtner die Bezirkssprechergruppe des Neuen Forums, unter ihnen Böttger und Weigel, und erklärte, dass „der Staat bereit“ sei, Dialog zu führen, nicht aber im Rahmen von Demonstrationen, sondern in geschlossenen Räumen. Die Oppositionellen lehnten es ab, Verantwortung für eventuelle Gewaltanwendungen zu übernehmen, erklärten, die führende Rolle der SED nicht zu akzeptieren und forderten die Zulassung des Neuen Forums. Sie kritisierten die Kommunalwahlen 1989 samt Fälschungen, forderten Reise - , Wahl - und Meinungsfreiheit sowie einen sozialen Friedensdienst. Der Sozialismus müsse sich weiterentwickeln, aber anders, als die SED dies wünsche. Allerdings akzeptierten sie die Verfassung, wobei diese so oder so interpretiert werden könne.204 Zwar meinte der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS einen Tag später, es gehe derzeit in der 202 KDfS Weißwasser vom 30. 10. 1989 : ev. - luth. Kirche Weißwasser und Daubitz ( BStU, Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 564–572). Vgl. Lausitzer Rundschau vom 3. 11. 1989. 203 Dienstberatung beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR am 25. 10. 1989, Redebeitrag Lothar Fichtners ( SächsStAC, 126323). 204 Gespräch Lothar Fichtners mit Bürgern des Bezirkes Karl - Marx - Stadt am 26. 10. 1989 ( ebd., 128706). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 75; Weigel, Man wandelt nur, was man annimmt, S. 163.

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DDR „um die Frage der Macht“,205 gleichzeitig hob Gehlert aber die Dienstbereitschaft auf und ordnete 50 Prozent Hausbereitschaft an. Bei Demonstrationen vor den Objekten des MfS waren die Fenster zu verdunkeln, alle Eingänge zu verschließen, alle hatten sich ins Gebäude zurückzuziehen und vorgegebene Texte zu verlesen. Nur Versuche, ins Gebäude einzudringen, sollten mit körperlicher Gewalt, in keinem Fall aber mit Schusswaffen verhindert werden.206 Diese Handlungsvariante trug „eindeutig defensiven Charakter“ und ließ „schon fast Festungsmentalität“ erkennen.207 Der Rat des Bezirkes beschloss eine allgemeine Mobilisierung von Funktionären zur Teilnahme an Dialogveranstaltungen und ließ prüfen, welche Mitarbeiter zur Arbeit in der Wirtschaft entlassen werden könnten.208 Ungerührt von den Dialogbemühungen des Regimes beschloss der Bezirkssprecherrat des Neuen Forums am 28. Oktober eine „Orientierung auf offensive Maßnahmen ( einschließlich Demonstrationen)“ und kündigte an, völlig entgegen der Orientierung des DDR - Sprecherrates um Bohley, jeden Montag vom Karl - Marx - Monument zum Rathaus zu demonstrieren.209 An dem Beschluss änderte auch das erste Gespräch der SEDBezirksleitung mit Vertretern des Neuen Forums und 1 000 Teilnehmern am 29. Oktober nichts.210 Am 30. Oktober leitete auch der Bezirkstag „eine Wende zu einer realitätsbezogenen Gesellschaftspolitik“ ein. Ratsvorsitzender Fichtner gab mit einem Aktionsprogramm die Linie vor, wonach angeblich „entsprechend dem Willen des Volkes“ eine Erneuerung „auf dem Fundament unserer sozialistischen Verfassung“ angestrebt werde. Beim „Streit über das Wohin und Wie“ gab es aus Sicht des Rates des Bezirkes „nur eine Einschränkung, nämlich die, dass der Sozialismus in der DDR nicht zur Disposition steht“. Es könne „nur ein Ziel geben“ : „Den Sozialismus in der DDR weiter auszubauen, die sozialistischen Ideale hochzuhalten und keine unserer gemeinsamen Errungenschaften preiszugeben.“211 Bei so viel Änderungsbereitschaft brauchten sich die Spitzenfunktionäre nicht zu wundern, dass Bürger weiterhin die SED und das MfS angriffen. Ende des Monats waren selbst für MfS - Mitarbeiter Losungen wie „Stasi in die Volkswirtschaft“ und „Stasi raus“ fast zur Gewohnheit geworden; sie waren auf jeder Demonstration zu hören. Wenn es wie vor der Kreisdienststelle Schwarzenberg „Reißt sie nieder“, „Brennt sie ab !“ oder in Plauen „StasiSchläger in den Knast“ hieß, zerrte das schon eher an deren Nerven. In Freiberg wurde schon sehr konkret gefordert, das Gebäude der MfS - Kreisdienst205 Beratung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt mit Abt. XV am 27. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 437, Bl. 2–3). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 27. 206 KDfS Brand - Erbisdorf von Oktober 1989 : Arbeitsbuch Holger Ottos ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 98, Bl. 1–42). 207 Horsch, Das kann, S. 17. 208 Beschlussprotokoll der 35. Sitzung des RdB Karl - Marx - Stadt vom 27. 10. 1989 ( SächsStAC, 127398). 209 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29. 10. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX - 850, Bl. 12). 210 Vgl. MdI vom 29. 10. 1989 : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 221). 211 Protokoll der 15. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 30. 10. 1989 ( SächsStAC, 127929). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 31. 10. 1989.

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stelle für die Erweiterung der Kinderklinik zu nutzen.212 Gleichzeitig schickten die Bürger stapelweise Unterschriftensammlungen an den Staat, in denen eine Zulassung des Neuen Forums gefordert wurde. Waren beim Rat des Bezirkes bis zum 11. Oktober 78 Schreiben eingegangen, so waren es in der Zeit vom 12. bis 31. Oktober 448.213 Annaberg : In Annaberg schätzten SED - Mitglieder die Lage realistisch, wenn auch kritisch ein, als sie monierten, es komme noch so weit, „dass diese Leute den Dialog mit der SED und nicht umgekehrt führen“.214 Auch hier wuchs die Zahl der Eingaben zur Zulassung des Neuen Forums rasant. Seit dem 24. Oktober kursierten auch in kleineren Orten wie Bärenstein oder Neudorf Listen für das Neue Forum. Die Aktivisten planten bereits für den 4. November ein Gründungstreffen für den Kreis in der Methodistenkirche Annaberg, bei dem man beraten wollte, wie man bei den nächsten Wahlen mit schlagkräftigen Strukturen gegen die SED antreten könne.215 Das MfS klagte, „Rädelsführer“ des Neuen Forums und andere „politisch - schwankende Personen“ entwickelten Aktivitäten, „um Spannungen und Unruhe zu erhalten“.216 Konsequent hielten SED und Staatsapparat am Dialog fest, auch wenn ihnen der Wind immer eisiger ins Gesicht blies. Beim Dialog im Jugendklubhaus „Karl Marx“ am 27. Oktober wurde „die gänzliche Abschaffung des MfS und der Einsatz der Mitarbeiter in der Produktion“ verlangt.217 Bei einer Bürgerversammlung im Kino Scheibenberg wurde die SED - Alleinherrschaft kritisiert und gefordert, das Wahlsystem zu ändern, den Kommunen mehr Eigenständigkeit zu geben sowie Handwerk und Handel zu fördern. Scheibenberg dürfe nicht weiter verfallen. Die Mülldeponie sei miserabel, es fehle eine Kläranlage und die Luft sei durch Braunkohle verschmutzt.218 Angesichts der Lage trat am 30. Oktober die Kreiseinsatzleitung zusammen,219 während man beim MfS meinte, eine erhöhte Einsatzbereitschaft sei nicht mehr erforderlich. Man würde wegen der Friedlichkeit der Proteste doch „bloß herumsitzen“.220 In Crottendorf demonstrierten an diesem Tag 100 Personen, meist Jugendliche, vor der ev. - luth. Kirche und riefen vor dem Rathaus Losungen.221 212 BVfS Karl - Marx - Stadt an Leiter der Diensteinheiten, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 44). Vgl. Horsch, Das kann, S. 28. 213 Vgl. Stellvertreter für Inneres an Vorsitzenden des RdB Karl - Marx - Stadt vom 31. 10. 1989 ( SächsStAC, 121512–121517). 214 KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 33– 37). 215 Vgl. KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd. 2143, 1, Bl. 131–133); KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Neues Forum ( ebd. 3078, 3, Bl. 85–88); KDfS Annaberg vom 25. 10. 1989 : Geplante Großveranstaltung Neues Forum ( ebd., Bl. 107–109). 216 KDfS Annaberg vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 26–29). 217 KDfS Annaberg vom 1. 11. 1989 : Dialoge ( ebd., Bl. 14–17). 218 Vgl. Gabriele und Karlheinz Schlenz, Wende in Scheibenberg ( HAIT, StKa ). 219 Vgl. KDfS Annaberg vom 27. 10. 1989 : Demonstrationen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 1, Bl. 115 f.). 220 KDfS Annaberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 20–25). 221 Vgl. KDfS Annaberg : Demonstration in Crottendorf am 30. 10. 1989 ( ebd. 2146, 2, Bl. 71).

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Am nächsten Tag nahmen 450 Personen an einem Dialog mit Abgeordneten und Mitgliedern der SED - Kreisleitung im Jugendklubhaus Annaberg teil. Neben kommunalen Problemen wie der radioaktiven Reststrahlung von Bergbauhalden im Stadtgebiet gab es „unsachliche und diskriminierende Äußerungen zur Arbeit der Staatssicherheit“ und gegen den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Martin Hessmann, und den Vorsitzenden des Rates des Kreises, Martin Jörgen. Der Bürgermeister erklärte, er werde sich nur dann mit Vertretern des Neuen Forums treffen, wenn „etwas für den Sozialismus herauskäme“.222 Aue : In Aue demonstrierten am 24. Oktober 1 500 Bürger. Auch in Zwönitz gingen die Einwohner mit Plakaten und Kerzen auf die Straße. In beiden Orten boten Bürgermeister und Ratsmitglieder den Dialog an.223 Unter den Demonstranten herrschte Einigkeit, das Angebot zwar anzunehmen, aber dennoch weiter zu demonstrieren.224 Beim Bürgerforum mit über 800 Teilnehmern und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises ging es zwar auch um kommunale Probleme wie Umweltschutz und Wohnungsprobleme, aber auch hier vertraten fast alle Teilnehmer eine „abwartende, teils negative Haltung zum Staat und zur SED“. Diskutiert wurde z. B. darüber, wie man am besten Funktionäre „absägen“ könne.225 Das MfS konstatierte zwei Grundtendenzen. Ein großer Teil der Bevölkerung meinte, Dialoge seien besser als Demonstrationen, andere, man müsse so lange demonstrieren, bis es Veränderungen gebe. „Sehr kritisch“ werde kommentiert, dass der 1. Sekretär bislang nur eine kleine Dialogrunde mit ausgesuchten Mitarbeitern eines VEB geführt habe. Bei manchen Funktionären gebe es, so das MfS, „sowohl Scheu als auch Unvermögen“ in Bezug auf Gespräche mit Werktätigen.226 Weniger Scheu zeigten 200 Jugendliche am nächsten Tag nach einem Rockkonzert in der ev. - luth. Kirche in Eibenstock bei einer Demonstration mit Kerzen und Sprechchören. Auch in Schönheide zogen 300 Jugendliche mit Kerzen und Sprechchören von der Kirche zum Rat der Gemeinde.227 In der Schuhfabrik von Zwönitz las derweil der Bürgermeister 300 Bürgern den Forderungskatalog eines „Forums 93“ vor.228 Am 30. Oktober demonstrierten in Aue bis zu 8 000 Personen. Auf dem Stellplatz hatten zunächst Mitglieder der SED- Kreisleitung Gespräche mit den Demonstranten aufgenommen. Vor dem Volkspolizeikreisamt, der MfS - Kreisdienststelle, der SED - Kreisleitung und dem Rat des Kreises erklangen Pfeifkonzerte und Buhrufe. An der Eingangstür der 222 KDfS Annaberg vom 1. 11. 1989 : Dialoge ( ebd. 529, 1, Bl. 14–17). 223 Vgl. KDfS Aue vom 24. 10. 1989 : Sofortmeldung ( ebd. 2143, 1, Bl. 39); Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 26. 10. 1989. 224 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). 225 KDfS Aue vom 26. 10. 1989 : Dialoge ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 109 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 27. 10. 1989. 226 KDfS Aue vom 27. 10. 1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 29 f.). 227 Vgl. KDfS Aue vom 28. 10. 1989 : Sofortmeldung ( ebd. 2146, 1, Bl. 45 und 180). 228 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 31. 10. 1989.

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SED- Kreisleitung wurden brennende Kerzen und die Losungen aufgestellt.229 Am folgenden Tag marschierten in Eibenstock 350 Personen nach einem Gottesdienst zum Wohnhaus des Bürgermeisters und riefen Parolen. In Lauter gingen 800 Einwohner auf die Straße. Auf einem Plakat wurde Reisefreiheit gefordert. Am Schluss der Demonstration gab es einen Dialog mit dem Bürgermeister.230 In Markneukirchen beteiligten sich 6 000 Personen an einer Demonstration. An einem Bürgerforum in Schneeberg nahmen 600 Einwohner teil.231 In Zwönitz gingen bis zu 1 000 Bürger auf die Straße. In Sprechchören forderten sie freie Wahlen und Reisefreiheit. Am Rathaus sprach man mit dem Bürgermeister und stellte Kerzen auf.232 Auerbach : In Auerbach fand am 27. Oktober die erste Demonstration statt. Wie andernorts schauten viele Einwohner zu. Bis zuletzt hatte die SED - Kreisleitung versucht, den Marsch zu verhindern. Viele Demonstranten, auch aus dem Umland, trugen Kerzen. Verkehrspolizisten sorgten für einen ungehinderten Verlauf. Es gab Sprechchöre und Spruchbänder. In der ersten Reihe marschierten Jugendliche mit dem Spruchband „Wir sind das Volk !“. Ein Sprecher schätzte, dass sich vor dem Institut für Lehrerfortbildung, wo sich der Bürgermeister dem Dialog stellte, 20 000 Menschen versammelt hatten. Hier sprachen auch Superintendent Karl - Heinz Eichhorn, der Vorsitzende des Rates des Kreises, Herrmann Heinke, Berthold Rink aus Treuen für das Neue Forum und der Vorsitzende des CDU - Kreisvorstandes, Wolfram Haller. Heinke gab das Versagen von Partei und Staatsapparat zu und bat um Vertrauen. Er erntete Pfiffe und Buhrufe. Den Staats - und Parteifunktionären wurde Arroganz, Hochmut, Machtmissbrauch, Amtsanmaßung und unlautere Aneignung von Eigentum vorgeworfen. Es wurde Wehrersatzdienst, die Abschaffung des Wehrkundeunterrichts, Parteienpluralismus, Presse - sowie Meinungsfreiheit gefordert und gefragt, wie die SED angesichts der Verhältnisse noch immer die Macht beanspruchen könne. Kommunale Probleme wurden kaum diskutiert. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Hans - Joachim Döhn, war nicht erschienen. Sein Rücktritt wurde verlangt und Krenz das Misstrauen ausgesprochen. Die Demonstranten verlangten die Zulassung des Neuen Forums. Der CDU - Kreisvorsitzen-

229 Vgl. Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue vom 18. 2. 1999 ( HAIT, StKa ); KDfS Aue : Demonstration in Aue am 30. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 87 f.); MfS, ZOS vom 30.–31. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 260); MdI: Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 225–227); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 1. 11. 1989. 230 Vgl. KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 146, 152). 231 Vgl. MfS, ZOS vom 31.10.–1. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 253–255); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 2. 11. 1989. 232 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ); KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 145).

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de bot dem Neuen Forum die Zusammenarbeit an.233 Auch in Treuen gab es an diesem Tag ein erstes Rathausgespräch.234 Brand - Erbisdorf : Am 25. Oktober beteiligten sich am Friedensgebet in der ev. - luth. Kirche Neuhausen auch Einwohner aus Sayda und forderten politische Freiheiten. Die Teilnehmer zogen anschließend mit Kerzen durch den Ort und sangen „Die Gedanken sind frei“. In Weigmannsdorf - Müdisdorf wurden Zettel mit der Forderung nach Zulassung des Neuen Forums, freien Wahlen und Meinungsfreiheit „festgestellt und entfernt“. Ähnlich erging es Handzetteln mit dem Gedicht von Ingo Barz „Die Gedanken sind frei“.235 In Cämmerswalde wurde darüber diskutiert, wann es messbare Veränderungen geben werde. Die Maßnahmen von Krenz seien nur „Zugeständnisse, um die führende Rolle der SED zu wahren“. Es wurde gefordert, dass sich auch der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Gerolf Müller, dem Dialog stellt und die Lokalseite der „Freien Presse“ objektiv berichtet.236 Der 1. Sekretär hatte sich zuvor mit einer Rede nur an Parteisekretäre gewandt und sie aufgefordert, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.237 In dem Ort demonstrierten am 28. Oktober 20 Jugendliche mit Kerzen und beschimpften das MfS.238 In Frauenstein gab es einen Schweigemarsch und von nun bis Anfang März 1990 jeweils sonntags abends Sprechchöre und Kundgebungen vor dem Rathaus, vor dem MdI - Ferienheim und vor Wohnungen von Parteifunktionären.239 Am 30. Oktober gab es in Neuhausen eine Demonstration, an der erneut Bürger aus Sayda teilnahmen.240 An einem Dialogforum in Brand - Erbisdorf sprachen am 31. Oktober etwa 500 Personen vor allem über kommunale Probleme. Gesprächsleiter war der Vorsitzende des Rates des Kreises, Horst Schmidt. Der Lehrer Volkmar Kircheis forderte freie Wahlen, ein Demonstrationsrecht und die Zulassung des Neuen Forums. Der Prediger der ev. - meth. Kirche, Dieter Rutkowski, sprach sich gegen die führende Rolle der SED aus. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung sah sich zu Zugeständnissen „bis weit über seine Zuständigkeit hinaus“ gezwungen, etwa Russisch Unterricht nur noch fakultativ anzubieten.241 Ein Teilnehmer nutzte die Gele-

233 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); KDfS Auerbach vom 1. 11. 1989: Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 14–18); MdI: Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 209–212). 234 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 24–31 und 165. 235 KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. und 27. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 43–48 und 2144, 1, Bl. 18–30). 236 KDfS Brand - Erbisdorf vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 2144, 1, Bl. 18–30). 237 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 27. 10. 1989. 238 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.–30. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 81–89). 239 Vgl. StV Frauenstein : Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 240 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf von Oktober 1989 : Arbeitsbuch Holger Ottos ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 98, Bl. 1–42). 241 KDfS Brand - Erbisdorf vom 31. 10. 1989 : Dialoge ( ebd., AKG 2146, 2, Bl. 67). KDfS Brand - Erbisdorf vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 35–39). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 2. 11. 1989.

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genheit, die Herrentoilette des Rathauses mit den Sprüchen „40 Jahre DDR – 40 Jahre KZ“ und „Krenz - Staat Terror“ zu versehen.242 Flöha : Nach Darstellung der MfS - Kreisdienststelle war der Kreis Flöha am 24. Oktober noch eine Insel der Systemtreuen. Hier bekundete die große Mehrheit Bereitschaft zur Planerfüllung und stand „Demonstrationen oder Ausschreitungen“ ablehnend gegenüber. Die Rede von Krenz fand breite Zustimmung. „Positiv eingestellte Personen“ bemängelten, dass in den DDR - Medien „nur noch Kritik geübt“ und das bisherige Positive nicht mehr gesehen werde. Demonstrationen wurden nicht gemeldet, es gab aber unter Angehörigen der Intelligenz und Medizinern ein sich formierendes Neues Forum. Schwerpunkte waren Eppendorf, Oederan und Flöha, wo eine sich bildende Gruppe vom MfS durch einen IM „unter Kontrolle gehalten“ wurde.243 Lange dauerte die Ruhe im Kreis nicht. Bereits am 26. Oktober musste ein Gesprächsabend im Gemeindehaus Flöha zum Thema „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ wegen des Andranges in die Georgenkirche verlegt werde. Hier kam es zur offenen Volksaussprache. Der Pfarrer von Schneeberg - Neustädtel rief zur Trennung von Staat und Parteien auf. Gefordert wurden demokratische Wahlen, Versammlungsfreiheit und die Förderung privater Initiativen.244 In Oederan demonstrierten am 27. Oktober 300 Personen.245 Für den 30. Oktober wurde vom Neuen Forum auf Flugblättern nach Flöha eingeladen. SED und MfS versuchten, die geplante Schweigedemonstration „vorbeugend zu verhindern“ und setzten stattdessen darauf, die Akteure im Dialog von ihrem revolutionären Tun abzubringen.246 Freiberg : Im Freiberger Rathaus sprachen am 25. Oktober Funktionäre, Pfarrer und Vertreter des Neuen Forums, das nach Meinung des späteren SPD - Landesvorsitzenden, Michael Lersow, „unterwandert und dominiert von Mitgliedern der SED“ war.247 Wohl deswegen erreichte die SED, dass es statt einer Demonstration zwei Veranstaltungen im Klubhaus der Bergakademie und in der Petrikirche gab, wo je 600, meist Jugendliche, mit dem 1. Sekretär der SED Kreisleitung, Klaus Schaal, dem Vorsitzende des Rates des Kreises, Vetter, und anderen Funktionären diskutierten. Nicht verhindern konnte das Neue Forum, dass es überall Angriffe auf die führende Rolle der SED gab und die Absetzung von Funktionären gefordert wurde.248 Das Neue Forum bezeichnete sich hier 242 KDfS Brand - Erbisdorf vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 35–39). 243 KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 73–77). 244 Vgl. KDfS Flöha vom 25., 26. und 27. 10. 1989 ( ebd. 3078, 3; AKG 2144, 1); BVfS KarlMarx - Stadt vom 28. 10. 1989 : Info ( ebd. 2280, Bl. 184–189). 245 Vgl. MfS, ZOS vom 27.–28. 10. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 276); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 209–212). 246 KDfS Flöha vom 26. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 71 f.). 247 Lersow, Von der Bürgerbewegung, S. 27–40. 248 Vgl. KDfS Freiberg vom 30. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 96 f.); KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. und 27. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., 532, 1, Bl. 43–48 und AKG 2144, 1, Bl. 18–30); Offener Brief Freiberger Bürger ( Neues Forum) an den RdK Freiberg vom 26. 10. 1989 ( SächsStAC, RdB, 121516); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 27. 10. 1989.

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nach Berliner Vorbild als „sozialistische Opposition zu eingefahrenen politischen Strukturen“ und stellte sich ausdrücklich auf den Boden der Verfassung.249 In der SED wurde unterdessen immer mehr ein Vertrauensbruch seitens der Bevölkerung konstatiert und gefragt, wie eine Person so viel Schaden anrichten konnte. Hier deutete sich bereits die spätere Entschuldungsstrategie an, statt der Diktatur und der sie tragenden SED einzelne Personen für die Krise verantwortlich zu machen. Nach Analyse des MfS spürten die Beschäftigten der Betriebe im Kreis keinen Wandel. Die Kreisseite der „Freien Presse“ berichte wie gehabt und Aktivitäten der Partei - und Staatsorgane seien nicht erkennbar. Das Vertrauen zur Partei - und Staatsführung sei untergraben. Die Richtungsänderung der Parteifunktionäre werde als „gewissenlos und konzeptionslos“ bezeichnet. Nach einer Stabilisierung werde ein erneuter Richtungswechsel der SED - Führung befürchtet und deswegen ein radikaler Personalwechsel gefordert. Der Führungsanspruch werde in Frage gestellt und zur Durchsetzung politischer Grundfreiheiten eine legale Opposition gefordert.250 Am 29. Oktober nahmen an einem Fürbittgottesdienst in der ev. - luth. Petrikirche Freiberg 1 500 Personen teil. Danach beteiligten sich 3 000 Personen an einem Schweigemarsch mit Kerzen.251 Auf der Tagung des Kreistages am 30. Oktober ging es u. a. um die Übergriffe der Sicherheitskräfte am 4. und 5. Oktober am Freiberger Bahnhof. Die CDU forderte einen demokratischen Neubeginn mit gleichberechtigten Gesprächen auch mit Vertretern der neuen Parteien. Schließlich wurde die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Arbeit des Rates sowie von Korruption und Amtsmissbrauch beschlossen.252 Glauchau : Am 25. Oktober beteiligten sich in der St. Martinskirche Meerane 1700 Menschen an einer Veranstaltung mit dem Neuen Forum. Danach marschierten 700 Personen zum Markt, wo ein Dialog mit dem Bürgermeister stattfand.253 Wie überall setzte das MfS alle erreichbaren IM und gesellschaftlichen Kräfte ein, um Teilnehmer zwecks späterer Verfolgung zu erfassen.254 Am 28. Oktober gab es ein „Gebet für unser Land“ in der St. Georgen Kirche in Glauchau.255 Nach einem Friedensgebet in dieser Kirche demonstrierten am 30. Oktober 3 000 Menschen mit Kerzen und Transparenten zum Markt. Pfarrer Mendt verlas einen Forderungskatalog. Anonyme Augenzeugenberichte über den Polizeieinsatz in Dresden wurden bekannt gemacht. Das Neue Forum stellte sich vor. Auch in Meerane demonstrierten nach einer Fürbitte in der St. Martins Kirche 1 500 Personen. In der Kirche wurde die Abschaffung der 249 Positionspapier und Antrag von Aufbruch ’89 – Neues Forum Freiberg, o. D. ( KA Freiberg, 444). Vgl. KDfS Freiberg vom 1. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 239 f.). 250 KDfS Freiberg vom 26. und 27. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 25–30). 251 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 3. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 29–34). 252 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 2. 12. 1989. 253 Vgl. KDfS Glauchau vom 26. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144). 254 Vgl. KDfS Glauchau vom 24. 10. 1989 : Geplante kirchliche Veranstaltungen in Meerane ( ebd. 2143, 1, Bl. 44 f.). 255 Vgl. StV Glauchau : Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ).

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SED und des „Schwarzen Kanals“, die Absetzung von Hager sowie die Wahl des Staatsratsvorsitzenden durch das Volk gefordert.256 Auf dem Marktplatz von Erlbach versammelten sich 700 Menschen und marschierten zur Kirche.257 In der St. Bartholomäuskirche Waldenburg demonstrierten 500 Personen. Etwa 50 von ihnen marschierten zum Rathaus, wo der Bürgermeister mit ihnen sprach. Hier wurden wie zuvor an der Kirche Kerzen abgestellt.258 Hainichen : Hier hatte die Bevölkerung nach dem gewaltsamen Vorgehen der Volkspolizei Anfang Oktober in der Kreisstadt den Eindruck, die Funktionäre würden jeden Dialog meiden. Auch hinsichtlich der Versorgung mache die Entwicklung „einen Bogen“ um den Kreis.259 Tatsächlich verlegten die Funktionäre ihre Pflichtdialoge lieber in ausgesuchte Betriebe. Auf einem Aushang im Krankenhaus Frankenberg hieß es : „Lasst Euch nicht mundtot machen ! Seid mit der derzeitigen Entwicklung nicht zufrieden ! Fordert sofortige Änderungen ! Soldaten, Bürger, Polizisten, seid bereit ! Kämpft für Eure Rechte !“260 Am 30. Oktober gab es in Frankenberg eine Gesprächsrunde mit dem Pfarrer, Vertretern des Neuen Forums und dem Bürgermeister.261 Hohenstein - Ernstthal : Überall in Städten und Gemeinden des Kreises gab es öffentliche Tagungen der Volksvertretungen.262 Bei einem Forum am 28. Oktober im Kreiskulturhaus von Hohenstein - Ernstthal nahmen auch der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Norbert Kertscher, und alle Kreisvorsitzenden der Blockparteien teil. Hier wurde mehr Eigenständigkeit der „befreundeten Parteien“ gefordert. Der 1. Sekretär sprach sich für Gespräche mit denen aus, die „auf dem Boden der Verfassung der DDR“ stehen.263 Bei einer Fürbittandacht am 29. Oktober in der St. Christophori Kirche Hohenstein - Ernstthal wurde ein Problemkatalog bekannt gegeben und von etwa 500 Teilnehmern bestätigt. Er wurde am nächsten Tag dem Bürgermeister und dem Rat des Kreises übergeben. Nach der Andacht demonstrierten 200 Personen in der Stadt.264 In Karl - Marx - Stadt beschloss die Stadtverordnetenversammlung am 25. Oktober den Dialog aufzunehmen. Ein SED - Abgeordneter schlug „Karl - Marx - Städter Freitagsgespräche“ sowie eine Vorberatung aller Beschlussvorlagen im Demokratischen Block vor.265 Bei einem Forum in der Johanniskirche stellte sich eine Bürgergruppe vor.266 Am 26. Oktober versammelten sich in und vor 256 Vgl. KDfS Glauchau vom 30. 10. 1989 : St. Georgenkirche Glauchau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 68 f.). 257 KDfS Glauchau : Demonstration in Erlbach am 30. 10. 1989 ( ebd., Bl. 70). 258 Vgl. KDfS Glauchau vom 1. 11. 1989 : St. Bartholomäuskirche Waldenburg ( ebd., Bl. 153). 259 KDfS Hainichen vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 34–38). 260 KDfS Hainichen vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 23–26). 261 Vgl. KDfS Hainichen vom 19. 10. 1989 : ev. - luth. Kirche Frankenberg ( ebd. 2144, 2). 262 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 27. 10. 1989. 263 Vgl. ebd., vom 31. 10. 1989. 264 Vgl. ebd., vom 2. 11. 1989. 265 Vgl. Sächsische Neueste Nachrichten, Ausgabe Dresden, vom 26. 10. 1989; Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 28./29. 10. 1989. 266 Vgl. ebd., vom 26. 10. 1989.

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der Lutherkirche zu einer Veranstaltung mit Gottfried Forck rund 3 000 Teilnehmer. Der Bischof forderte das Recht der Kirche zur Wahrnehmung eines politischen Mandats und rief dazu auf, Demonstrationen mit konkreten Zielstellungen zu verbinden. Über den Macht - und Wahrheitsanspruch der SED müsse das Volk entscheiden und die SED sich freien Wahlen stellen. Er forderte eine grundlegende Schulreform samt Entideologisierung und Friedenserziehung, einen sozialen Friedensdienst, eine Reduzierung und Reformierung des MfS sowie die Abschaffung der Kampfgruppen.267 Das Neue Forum gründete an diesem Tag Arbeitsgruppen u. a. zu den Themen Ökologie, Wahlen und Wahlrecht.268 Am 27. Oktober empfing Oberbürgermeister Eberhard Langer Vertreter verschiedener Bürgerinitiativen. In drei Kirchen wurde das Gespräch anschließend ausgewertet. In der Johanniskirche versammelten sich dazu 1400 Teilnehmer. Hier stellten sich auch die Vereinigte Linke, DJ, DA, SDP und Neues Forum vor. Vor der Kirche versammelten sich 5 000 Personen. Es gab „Sprechchöre mit negativem Inhalt“. In der St. Pauli - Kreuzkirche kritisierten ca. 1 200 Teilnehmer, dass der Oberbürgermeister die führende Rolle der SED betont habe. Superintendent Magirius forderte hier, Dialoge durch thematische Demonstrationen zu unterstützen, z. B. für ein neues Wahlgesetz. Danach gab es einen Schweigemarsch von 1 000 Teilnehmern zum Rathaus. In der Michaeliskirche forderten 1400 Teilnehmer, das MfS unter öffentliche Kontrolle zu stellen und geheime Wahlen durchzuführen. Die Blockparteien wurden aufgefordert, ihre Position zur SED zu überdenken. Auch hier stellten sich SDP, DA, Böhlener Plattform und DJ vor. Nach den Veranstaltungen demonstrierten in Karl - Marx - Stadt insgesamt etwa 10 000 Personen mit Losungen und Kerzen durch das Zentrum.269 Am 29. Oktober ging es beim Dialog um die Fragen : „Ist die SED noch eine Partei der Arbeiterklasse mit Massenbasis ?“ und „Ist der Führungsanspruch der SED gerechtfertigt ?“270 In Karl - Marx - Stadt demonstrierten am 30. Oktober auf Einladung des Neuen Forums 25 000 Personen von verschiedenen Kirchen zum Rathaus und führten zahlreiche Transparente mit sich. Bisher hatten die Demonstrationen in Karl - Marx - Stadt freitags stattgefunden. Sie wurden ab dem 30. Oktober auf den Montag verlegt, um die Sicherheitskräfte von Leipzig abzuziehen. Die Gruppe von 25 Bürgern sowie Sprecher der SDP bezeichneten freie Wahlen als einzige Lösung der Situation. Es werde keine Lösung geben, solange die SED bei ihrem Führungs - und Machtanspruch

267 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 27. 10. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 5); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 202, 204, 207); Vortrag Bischof Gottfried Forcks am 26. 10. 1989 in der Lutherkirche Karl - Marx - Stadt. In: Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 196–206. 268 Vgl. BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 6. 269 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 27. 10. 1989 : Rapport ( ebd., Bl. 10); MfS, ZOS vom 27.–28. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 276); Die Union, Ausgabe Karl Marx- Stadt, vom 1. 11. 1989; Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. 270 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.–30. 10. 1989 : Ereignisse ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 81–89).

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bleibe.271 Es handelte sich um die erste genehmigte Protestdemonstration im Herbst 1989.272 Karl - Marx - Stadt - Land : In Limbach - Oberfrohna demonstrierten mehrere Hundert Demonstranten am 25. Oktober für die Zulassung des Neuen Forums und freie Wahlen. Vor dem Rathaus diskutierten sie mit der Bürgermeisterin. Es folgte ein von der SED organisiertes Einwohnerforum, auf dem der Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen wurde. Erstmals berichtete die Lokalseite der „Freien Presse“ sachlich über oppositionelle Aktivitäten.273 Am nächsten Tag fand in Burgstädt die Gründung des Neuen Forums für den Kreis statt, am 1. November für die Stadt Limbach - Oberfrohna.274 Im VEB Aerosol - Automat sprach der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Thomas Dathe, am 31. Oktober mit Werktätigen über den Vertrauensverlust der SED, Wirtschaftsreform und Amtsmissbrauch. Thomas Dathe machte klar, dass der Sozialismus nicht zur Disposition stehe, allerdings müsse die SED ihren Führungsanspruch in freien Wahlen erkämpfen.275 Klingenthal : Im Rathaus der Kreisstadt diskutierten am 24. Oktober Mitglieder der SED - Kreisleitung, der Vorsitzende des Rates des Kreises, Heinz Gabler, und andere Funktionäre mit Bürgervertretern und Pfarrern.276 Diese forderten ein Ende des Machtmonopols der SED, die Beseitigung des Parteienblockes und erklärten, dass „die alte Macht zu Ende ist“.277 In Markneukirchen sprachen am 24. Oktober Funktionäre mit einer Sprechergruppe.278 Einen Tag später demonstrierten nach einem Fürbittgottesdienst in der ev. - luth. Kirche 6 000 Bürger. Erstmals wurden Transparente, Losungen und Kerzen mitgeführt. Pfarrer Sembdner und Bürgervertreter verlasen Forderungen.279 Nach der Demonstration beschloss die „Dialog - Sprechergruppe Markneukirchen“ statt des nächsten Dialogtermins lieber zu demonstrieren, da Dialoge doch nur eine „Verschleppungstaktik durch die staatlichen Organe“ darstellten.280 Überhaupt hatte die 271 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 30. 10. 1989 : Rapport ( ebd., XX 850, Bl. 13); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 225–227). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 83; Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127; Die Union vom 1. 11. 1989. 272 Vgl. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 241. 273 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 49). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 27. 10. 1989; Schnurrbusch, Herbst 1989, S. 38. 274 Vgl. ebd., S. 39 f. 275 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt Land, vom 2. 11. 1989. 276 Vgl. Frank Meinel, Protokoll des Gesprächs mit Mitgliedern der SED - KL am 24. 10. 1989 ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 26. 10. 1989. 277 Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution. Erinnerungen eines Klingenthalers ( Ev.Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 278 Vgl. KDfS Klingenthal vom 25. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 119). 279 Vgl. KDfS Klingenthal : Demonstrationen am 25. 10. 1989 in Markneukirchen und Schöneck ( ebd. 2144, 2, Bl. 98–101); KDfS Klingenthal vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 4–6); Der Anfang vom Ende ( PB Johannes Sembdner ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 27. 10. 1989. 280 KDfS Klingenthal vom 26. 10. 1989 : Beratung der Dialogsprechergruppe Markneukirchen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 22–24).

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Bevölkerung den Eindruck, Dialoge brächten nichts. Nötig seien „echte Sofortmaßnahmen“.281 In der Kirche von Schöneck versammelten sich am 25. Oktober 700 Menschen. Anschließend demonstrierten bis zu 2 500 Personen zum Rathaus und sprachen mit dem Bürgermeister.282 In Klingenthal gab es am 26. Oktober eine Veranstaltung mit 1 000 Teilnehmern in der Kirche. Anschließend zogen 3 000 Personen mit Transparenten und Plakaten am Volkspolizeikreisamt vorbei283 zur Dialogveranstaltung mit führenden Kreisfunktionären und Pfarrern. Der Staat drängte pflichtgemäß, dass künftig „Gespräche in größerer und kleinerer Form [...] Demonstrationen ersetzen sollen“.284 Statt zu parieren, demonstrierten am 27. Oktober in Klingenthal bis zu 5 000 Personen mit Transparenten wie „Freie Wahlen und freie Gewerkschaften“ am Volkspolizeikreisamt vorbei. Danach fanden ein Rockkonzert und Gespräche in der Kirche statt. Zu einem zeitgleichen Forum in der Schule erschienen nur 200 Personen. Das MfS meinte, der Dialog habe „sein Ziel vollkommen verfehlt“.285 Deutlich war die Zunahme an Aggressionen gegenüber SED und MfS zu spüren. So wurde der Trabant eines MfS - Mitarbeiters mit brauner Farbe übergossen; ein Klempnermeister weigerte sich, Reparaturarbeiten für MfS - Angehörige zu übernehmen. Auch Ehepartner und Kinder spürten zuweilen den Unmut der Bürger. Es blieb aber bei verbalen Angriffen.286 Wohl auch deshalb drängte der Bürgermeister bei einer Demoberatung mit Pfarrer Meinel und dem Chef des Volkspolizeikreisamtes auf eine Ausweitung der Dialoge in geschlossenen Räumen.287 Auch die Bürgerbewegung BIK befürwortete das. Später wurden daraus Gespräche am Runden Tisch.288 Auch in Markneukirchen plante eine Initiativgruppe des Neuen Forums, weitere Gruppen zu schaffen. Als Ziele wurden u. a. Reisefreiheit, freie Wahlen, Presse - und Medienfreiheit sowie Schul und Wirtschaftsreformen genannt.289 Beim Fürbittgottesdienst in der ev.- luth. Nikolaikirche Markneukirchen verlas man am 30. Oktober Briefe über polizeiliche Übergriffe, Verhaftungen und Verhörmethoden.290 In Erlbach demonstrierten an diesem Tag 600 Personen.291 Einen Tag später beteiligten sich in 281 282 283 284 285

286 287 288 289 290 291

KDfS Klingenthal vom 24. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 4–6). Vgl. BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 286. Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 209–212). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 26. 10. 1989. KDfS Klingenthal vom 27. 10. 1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 73–77). Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 209–212); Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution. Erinnerungen eines Klingenthalers ( Ev.Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). Info über Angriffe, Drohungen und Beleidigungen gegenüber Mitarbeitern des MfS seit dem 7. 10. 1989, Parteiinformation 683/89, S. 3 und 5, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 414). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 29. Vgl. Kunzmann, Nachwort mit Chronikfragment ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). Protokoll der Aussage Pfarrer Meinels im Pfarrhaus Schneeberg am 17. 8. 1998 ( ebd.). Vgl. KDfS Klingenthal vom 30. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 211–213). Vgl. Der Anfang vom Ende ( PB Johannes Sembdner ). Vgl. MfS, ZOS vom 30.–31. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 260).

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Markneukirchen erneut 6 000 Menschen an einer Demonstration.292 Bei einem Bürgerforum entschuldigte sich der Chef des Volkspolizeikreisamtes erstmals für Übergriffe seitens der Volkspolizei.293 Marienberg : Am 25. Oktober demonstrierten in Neuhausen nach einer Fürbittandacht 80 Personen mit Kerzen und sangen „We shall overcome“.294 Am 27. Oktober kam es nach einem Dialog in Olbernhau zu einer Demonstration von bis zu 5 000 Personen. Es gab zahlreiche Losungen und Sprechchöre für freie Wahlen, die Zulassung des Neuen Forums und Reformen. Demonstrationen gab es auch in Pockau, Zöblitz und Seiffen.295 Nach einem Fürbittgottesdienst in der St. Marienkirche demonstrierten am 28. Oktober in Marienberg über 500 Bürger und riefen „Wir bleiben hier !“, „Stasi in die Volkswirtschaft !“ und „Wir sind das Volk !“. An der SED - Kreisleitung wurden Kerzen abgestellt. Am selben Tag fand ein Forum mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Horst Carlowitz, und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Fritz Ullmann, statt. Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes kommentierte unter Buhrufen und Pfiffen das Verbot des Neues Forums, dessen Anhänger daraufhin die Veranstaltung verließen.296 Zu einer am selben Tag beantragten Veranstaltung des Neuen Forums mit Funktionären des Kreises wurden „ausgesuchte Agitatoren“ präpariert.297 Am 31. Oktober demonstrierten in Lauta 800 Personen.298 Oelsnitz : In der Kirche von Bad Elster forderten am 25. Oktober bis zu 800 Personen die Zulassung des Neuen Forums. Sie marschierten mit Kerzen und Losungen zum Kurheim „Haus am See“ des ZK der SED und riefen „Wir sind das Volk“ und „Das Heim gehört dem Volk“. Unmut erregte das gerade eingeweihte Sanatorium, weil gleichzeitig historische Bausubstanz verfiel.299 In Oelsnitz erklärte der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung beim Dialog, Ziel sei das „Wirken für die von der 9. Tagung des Zentralkomitees eingeleitete Wende“.300 Am nächsten Tag demonstrierten nach einem Friedensgebet in Adorf 500 Personen mit Transparenten wie „Geringe Löhne, keine Reise, hohe Preise – Lösung: Neues Forum“, „Oelsnitz erwache“ und „Haus am See dem Volke“. Einer Sprechergruppe der Demonstranten überreichte Funktionären einen Forderungskatalog. Auf der Agenda standen neben kommunalen Problemen auch 292 MfS, ZOS vom 31.10.–1. 11. 1989 ( ebd., HA VIII, AKG 1673, Bl. 253–255). 293 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 3. 11. 1989. 294 Vgl. KDfS Marienberg vom 25. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 122). 295 Vgl. KDfS Marienberg vom 27. 10. 1989 ( ebd. 2144, 1, Bl. 110, 114 und 2, Bl. 1.); Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 28. 10. 1989. 296 Vgl. KDfS Marienberg vom 29. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 175); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 28.–29. 10. 1989 : Info ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 74–80); Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 31. 10. 1989. 297 KDfS Marienberg vom 26. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 16). 298 Vgl. MfS, ZOS vom 31.10.–1. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 253–255). 299 Vgl. KDfS Oelsnitz : Demonstration am 25. 10. 1989 in Bad Elster ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 1); Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 (HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 26. 10. 1989. 300 KDfS Oelsnitz vom 25. 10. 1989 : Aktennotiz ( BStU, ASt. Chemnitz, Oe 97, Bl. 100).

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die Zulassung des Neuen Forums, demokratische Wahlen, die Ablösung von Hager und Schnitzler, eine Veränderung des Lohn - Preis - Gefüges und die Abschaffung von Privilegien.301 Auch in Schönberg demonstrierten am 28. Oktober nach einer Andacht 60 Personen zum FDGB - Gästehaus „Lug ins Land“ und forderten die Übergabe des Hauses an die Allgemeinheit.302 Nach einem Friedensgebet kam es am 30. Oktober in Oelsnitz zu einer Demonstration von 3 500 Bürgern. Vor dem Rathaus sprachen Vertreter des Neuen Forums sowie der Vorsitzende des Rates des Kreises, Helmut Lachmann. Am selben Tag fand ein großes Forum mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises statt.303 Am 31. Oktober marschierte in Bad Brambach ein Demonstrationszug zur Kaserne der Grenzbrigade. Zuvor hatte es Gespräche zwischen Demonstranten, Pfarrer und Bürgermeister gegeben. Die Demonstranten lehnten es hier ab, mit SED - Funktionären zu reden.304 In Oelsnitz übten Abgeordnete des Kreistages Kritik an mangelnder Aktivität von SED, FDGB sowie Staatsorganen und forderten die Beibehaltung der „Errungenschaften des Sozialismus“. Wie überall wurden Arbeitskreise für interessierte Bürger gebildet und vorgeschlagen, den „Dialog mit den Bürgern, die gegenwärtig ihren Willen in Demonstrationen zum Ausdruck bringen“, „in kleinen Gruppen“ weiterzuführen.305 Stadt Plauen : Im überfüllten Plenarsaal des Plauener Rathauses nahmen am 27. Oktober 600 Personen am Dialog teil.306 Am folgenden Tag demonstrierten in der Stadt in zwei aufeinanderfolgenden Zügen bis zu 30 000 Personen an der MfS - Kreisdienststelle, dem Wehrkreiskommando und der SED - Kreisleitung vorbei. Mitgeführt wurden 150 Transparente und Losungen. Allein vor der MfS Kreisdienststelle wurden 500 brennende Kerzen abgestellt und in Sprechchören gerufen : „Wir verdienen Euer Geld !“, „Stasi in die Volkswirtschaft“, „Stasi raus, arbeiten, arbeiten, arbeiten“ oder „Stasi - Schläger in den Knast“. Gefordert wurden auch Wiedervereinigung und Marktwirtschaft.307 Plauen : Am 26. Oktober einigte sich der Kreistag Plauen auf die Bildung zeitweiliger Kommissionen und öffentlicher Sprechstunden in bestimmten Gemeinden.308 Einige Gemeinden, die später zum Kreis wechselten, gehörten zu die301 Vgl. KDfS Oelsnitz : Demonstration in Stadt Adorf, o. D. ( ebd., AKG 3078, 3, Bl. 197 f.). Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 27. 10. 1989, spricht von Tausenden Demonstranten. 302 Vgl. MfS, ZOS vom 28.–29. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 272 f.). 303 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 539, Bl. 15–18). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 31. 10. 1989. 304 Vgl. KDfS Oelsnitz : Demonstration am 31. 10. 1989 in Bad Brambach ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 129). 305 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 1. und 2. 11. 1989. 306 KDfS Plauen vom 28. 10. 1989 : Rathausgespräch ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 1, Bl. 46 f.). 307 Vgl. KDfS Plauen vom 28. 10. 1989 : Demonstration ( ebd. 2146, 2, Bl. 163–168); BVfS Karl - Marx - Stadt : Demonstration am 28. 10. 1989 in Plauen ( ebd. 471, Bl. 262–266); Horsch, Das kann, S. 24. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 2. 11. 1989, spricht von 40 000 Teilnehmern. 308 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 28. 10. 1989.

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sem Zeitpunkt noch zum Bezirk Gera.309 In Elsterberg ( Greiz ) wurden Unterschriften für das Neue Forum gesammelt.310 Am 27. Oktober versammelten sich 600 Personen in der Pausaer Kirche ( Zeulenroda ).311 Am 30. Oktober forderte der Christliche Aktionskreis ( CAK ) Mühltroff ( Schleiz ) von der Stadtverordnetenversammlung eine Trennung von Partei - und Staatsämtern und politische Grundrechte.312 Aus dem Kreis Reichenbach berichtete das MfS, die ev. - luth. Kirche Reichenbach und Lengenfeld sowie die katholische Kirche Reichenbach bezögen „offene Positionen gegen den Staat“.313 In Reichenbach beteiligten sich am 25. Oktober nach einer Fürbittandacht in der Peter - Paul - Kirche 1 000 Menschen an einer Demonstration in Richtung Volkspolizeikreisamt und SED - Kreisleitung, wo Kerzen abgestellt wurden. In der Kirche war zuvor der offene Brief des Landesbischofs verlesen worden, in dem dieser „echte freie Wahlen“ sowie die Trennung von Regierung und Partei gefordert und das nichtlegitime „Monopol der SED“ angegriffen hatte.314 Am 28. Oktober fand in Lengenfeld nach einem Fürbittgottesdienst in der St. Aegidius - Kirche eine Demonstration von 1 000 Personen statt. Am Rathaus wurden brennende Kerzen abgestellt. Es gab Proteste gegen das MfS. Gefordert wurden u. a. freie Wahlen und „Schnitzler in die Muppet - Show“.315 Am 30. Oktober gab es nach einer Veranstaltung in der Kirche in Reichenbach eine Demonstration mit 1 000 Teilnehmern. An der Spitze des Demonstrationszuges wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Neues Forum“ getragen. Bei einem anschließenden Dialog mit dem Rat des Kreises ging es auch darum, dass das MfS von Bürgern, die Kerzen in die Fenster gestellt hatten, Listen gefertigt hatte.316 Es gab ein Gespräch zwischen der 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung, Christa Hermann, Vertretern der Blockparteien und des Rates des Kreises mit Sprechern des Neuen Forums.317 Beim Gesprächsforum am nächsten Tag im VEB Druckwerke Reichenbach gestand die 1. Sekretärin Fehler ein und versprach, sich für eine Untersuchungskommission zu den Ereignissen am 4. Oktober einzusetzen. Der Sprecher des Neuen Forums, Volker 309 Vgl. Richter, Entscheidung für Sachsen, S. 77–93. 310 Vgl. BVfS Gera vom 17.–29. 10. 1989 ( BStU, ASt. Gera, AKG 3702, Bl. 147). 311 Vgl. BVfS Gera : Aktivitäten kirchlicher und anderer Kräfte im Bezirk zur Schaffung einer breiten Basis für oppositionelle Bewegungen, o. D. ( ebd., PL 332/89, Bl. 1–6). 312 Christlicher Aktionskreis : Offener Brief an die Stadtverordneten und den RdS Mühltroff vom 30. 10. 1989 ( HAIT, Plau - G1). 313 KDfS Reichenbach vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 541, 1, Bl. 17–21). 314 KDfS Reichenbach vom 25. 10. 1989 : ev. - luth. Kirche Peter Paul in Reichenbach ( ebd. 2144, 2, Bl. 118 f.); KDfS Reichenbach, IM „Henry“ : Info zur Demonstration am 25. 10. 1989 ( ebd., RB 130, Bl. 96 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 27. 10. 1989. 315 KDfS Reichenbach : Demonstration in Lengenfeld am 28. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 78–81). Vgl. Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfeld ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 31. 10. 1989. 316 Vgl. KDfS Reichenbach : Demonstration in Reichenbach am 30. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 60 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 1. 11. 1989. 317 Vgl. ebd., vom 31. 10. 1989.

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Kreher, plädierte für einen „interessanteren Sozialismus“ und betonte, das Neue Forum bewege sich auf dem Boden der Verfassung.318 Nach einer Veranstaltung in der Kirche von Mylau mit 800 Personen demonstrierten 200 von ihnen durch den Ort. Der Bürgermeister war nicht bereit, sich dem Dialog zu stellen.319 Rochlitz : Am 27. Oktober fanden in den Städten Rochlitz, Geringswalde, Penig und Lunzenau Dialoge statt. Themen waren laut „Freier Presse“ Probleme beim Wohnungsbau, bei Handel und Versorgung sowie die Wartezeiten bei Reparaturen. In Penig wurden demokratische Wahlen, eine gerechtere Verteilung von Handelsware und die Zulassung des Neuen Forums gefordert. Es wurde Kritik an den hygienischen Zuständen der Poliklinik - Baracke, der Ignoranz gegenüber Umweltschutz, dem Abzug von Baukapazitäten nach Berlin geübt. Ähnliche Forderungen gab es beim Bürgerforum im Sitzungssaal des Rathauses Lunzenau. In Rochlitz wurden ein Mehrparteiensystem und ein ziviler Wehrersatzdienst gefordert.320 Am 31. Oktober demonstrierten in Geringswalde 500 Personen nach einer gemeinsamen Veranstaltung von Kirchenvorstand und einem „Diskussionskreis der Intelligenz“.321 In Penig hatte die Umweltgruppe der ev. - luth. Kirche eine Demonstration organisiert, an der sich 300 meist jüngere Personen beteiligten. Anschließend kam es zu Dialoggesprächen mit Vertretern der Stadt. Hauptkritikpunke waren Mängel im Gesundheitswesen und beim Umweltschutz. Seit diesem Tag fanden in Penig regelmäßig Dienstagdemonstrationen mit Kundgebungen statt. Gegen die Organisatoren leitete das MfS „Maßnahmen der pol. - operat. Kontrolle“ ein.322 Schwarzenberg : Bei einer Demonstration am 25. Oktober in Schwarzenberg schlugen Funktionäre einen Dialog vor.323 Aber auch hier wusste das MfS nicht viel Gutes von der Bevölkerung zu berichten. Diese meinte, Krenz sei krank und habe keine Ahnung von der Volkswirtschaft. Es gab Empörung über den Bau teurer Sportkomplexe, während zugleich das Geld für den Bau einer Kaufhalle im Neubaugebiet fehle. Die Funktionäre hätten keinen Kontakt zur Basis.324 Trotzdem beschloss die SED - Kreisleitung am 27. Oktober, in allen Städten und Gemeinden des Kreises Schwarzenberg zu Gesprächsrunden einzuladen.325 An einer Demonstration in Schwarzenberg am 30. Oktober beteiligten sich nach einem Aufruf des Neuen Forums bis zu 5 000 Personen. Es gab 318 KDfS Reichenbach vom 30. 10. 1989 : Veranstaltungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 102–104); ebd., RB 130, Bl. 125. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 2. 11. 1989. 319 IMK „Freundschaft“ zur Demonstration am 31. 10. 1989 in Mylau ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 33). 320 Vgl. Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in der Stadt Lunzenau ( Archiv Ortschronik Lunzenau ); Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 28. , 31.10. und 1. 11. 1989. 321 KDfS Rochlitz vom 27. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1817). 322 KDfS Rochlitz vom 31. 10. 1989 ( ebd. 3078, 3). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 2. 11. 1989. 323 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 26. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1, Bl. 15–17). 324 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 678, Bl. 34–40). 325 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 28. 10. 1989.

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Sprechchöre wie „Die Parteiführung soll sich sehen lassen“, „Horlbeck her – Bürgermeister her“ und zahlreiche Transparente. Vor der MfS - Kreisdienststelle wurden brennende Kerzen abgestellt, „Stasi raus“ gerufen und die „Internationale“ gesungen. Vor dem Haus der Einheit fand eine durch die Kirche organisierte Dialogzusammenkunft statt. Hauptthemen waren das MfS und die Zulassung des Neuen Forums.326 Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Heinz Horlbeck, und der Vorsitzende des Rates des Kreises, Werner Runge, trafen sich am 31. Oktober mit Dietmar Leiter und Rainer Brodrück vom Neuen Forum, wobei Horlbeck meinte, man solle das Neue Forum legalisieren, da man sich mit dessen Zielstellungen durchaus identifizieren könne.327 Am 26. Oktober tagte der Stollberger Kreistag. Der stellvertretende Ratsvorsitzende sah neue Initiativen zur Intensivierung der Landwirtschaft in Vorbereitung des XII. Parteitages der SED als wichtigste Aufgabe an, während der LDPDKreisvorsitzende die langatmigen Berichte und das Berauschen an Zahlen kritisierte.329 Am selben Tag gründete sich in Lichtenstein (Hohenstein-Ernstthal) eine Gruppe des Neuen Forums.330 Am 27. Oktober demonstrierten Einwohner von Dorfchemnitz und riefen vor der Wohnung der Bürgermeisterin „Wir wollen eine Wasserleitung“ und „Es geht auch ohne Kommunisten“.331 Das MfS musste registrieren, dass „das Austeilen von Schriftstücken des NF [...] ein kaum überschaubares Maß angenommen hat“332 und es Vertretern von Partei und Staat in den Städten des Kreises „nicht gelang, die führende Rolle der Partei zu dokumentieren“.333 Werdau : In Crimmitschau fanden sich Zettel mit der Aufforderung, die Anmeldung des Neuen Forums am 25. Oktober in Zwickau durch Teilnahme an einer Demonstration vor dem Rathaus zu unterstützen.328 In Werdau wurde am 27. Oktober auf Handzetteln zum Forum auf dem Markt aufgerufen. Die SEDKreisleitung ließ für den Fall einer Demonstration eine Lautsprecheranlage installieren und stellte Räumlichkeiten im Rathaus bereit.334 Dem Aufruf folgten 300 Personen. Sie riefen in Sprechchören „Das Volk sind wir“, „Freie Wahlen“ und „Schnitzler geh in die Muppetshow“. Auf Plakaten wurden freie Wahlen gefordert.335 326 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 30. 10. 1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 225–227); Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 31. 10. 1989. 327 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 1. 11. 1989. 328 Vgl. KDfS Werdau vom 25. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144). 329 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 27. 10. 1989. 330 Vgl. KDfS Stollberg vom 26. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 147). 331 VPKA Stollberg vom 27. 10. 1989 : Sofortmeldung ( ebd., St. 45). 332 KDfS Stollberg vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd., AKG 678). 333 KDfS Stollberg vom 27. 10. 1989 : Einwohnerforen ( ebd. 2145, 1). 334 KDfS Werdau vom 27. 10. 1989 : Info ( ebd. 2144, 1). 335 KDfS Werdau vom 27. 10. 1989 ( ebd. 2146, 2, Bl. 208); KDfS Werdau, o. D. ( ebd. 2144, 1, Bl. 119–121); BDVP Karl - Marx - Stadt an MdI, o. D. ( ebd., Bl. 117 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 31. 10. 1989.

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Zschopau : In Zschopau beschloss der Rat des Kreises am 26. Oktober den Beginn des Dialogs der Ratsmitglieder in ihren jeweiligen Arbeitsbereichen mit allen Bürgern, unabhängig von Weltanschauung und Konfession.336 Die meisten Dialoge fanden hier in den Betrieben statt. Im „Klub der Werktätigen“ Thum wurden am 28. Oktober die Privilegien von Parteifunktionären kritisiert und eine Halbierung des Personalbestandes des MfS gefordert.337 Am Abend des 29. Oktober gab es in Zschopau einen Schweigemarsch von 30 Jugendlichen. Sie trugen Kerzen und riefen Parolen wie „Wir sind das Volk“, „Schließt Euch uns an“ und „Stasi in die Produktion, nur für Arbeit gibt es Lohn“.338 In Gelenau fand am 30. Oktober ein Dialog mit der Bürgermeisterin statt, der als „Gegenmaßnahme zu den Friedensgebeten“ empfunden wurde. Dennoch nutzten die Bürger ihn, um ihre Vorstellungen zu formulieren.339 Am gleichen Tag demonstrierten in Ehrenfriedersdorf 250 Menschen für demokratische Veränderungen und diskutierten mit dem Bürgermeister.340 Am 31. Oktober demonstrierten in Zschopau 2 000 Menschen. Auf Handzetteln war zur Teilnahme mit Kerzen aufgerufen worden. Ausgangspunkt war die Martin - Andersen - Nexö Oberschule, wo eine Woche zuvor eine alte Trauerweide trotz massiver Widerstände der Bürger gefällt worden war. Von hier marschierten die Demonstranten zur SED - Kreisleitung und forderten freie Wahlen, Demokratisierung und die Zulassung des Neuen Forums.341 In Krumhermersdorf gab es ein Gesprächsforum mit 200 Bürgern, bei dem auch Vertreter des Neuen Forums im Präsidium saßen.342 Der Leiter der MfS - Kreisdienststelle wies Ende Oktober darauf hin, dass die Dialoggespräche im Kreis „letzten Endes von den oppositionellen Kräften bestimmt“ würden.343 Stadt Zwickau : In Zwickau hatten am 24. Oktober mehrere Hundert Personen in der Friedensbibliothek beschlossen, am nächsten Tag die Zulassung des Neuen Forums offiziell zu beantragen und dem Oberbürgermeister einen Forderungskatalog zu übergeben.344 Überall hatte das Neue Forum einen Aufruf zur Demonstration am 25. Oktober verteilt. Auf dem Hauptmarkt versammel336 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 27. 10. 1989. 337 Vgl. KDfS Zschopau vom 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 152). 338 PB Matthias Zwarg ( HAIT, StKa ); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.–30. 10. 1989 : Ereignisse ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 81–89); KDfS Zschopau vom 29. 10. 1989 : Protestaktion im Stadtgebiet Zschopau ( ebd., AKG 2146, 2, Bl. 136). 339 Gemeindeverwaltung Gelenau : Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 340 Vgl. KDfS Zschopau vom 30. 10. 1989 : Demonstration in Ehrenfriedersdorf ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 77 f.); PB Matthias Zwarg ( HAIT, StKa ). 341 KDfS Zschopau vom 31. 10. 1989 : Demonstration in Ehrenfriedersdorf ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 127 f.); PB Matthias Zwarg ( HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 2. 11. 1989. 342 Niederschrift vom Dialogabend am 31. 10. 1989 im Kulturhaus Krumhermersdorf (HAIT, StKa, PB Matthias Zwarg ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 3. 11. 1989. 343 KDfS Zschopau vom 31. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 127 f.). 344 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, Abt. VIII an Leiter vom 24. 10. 1989 : Friedensbibliothek Zwickau ( ebd. 2144, 2, Bl. 83–86); Themen für ein Gespräch mit dem OB Zwickau vom 21. 10. 1989 ( Friedensbibliothek Zwickau ).

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ten sich bis zu 5 500 Menschen. Die SED hatte „Progressive“ aktiviert, die auf Plakaten für Krenz warben. Agitatoren mit fertigen Redetexten wurden ausgepfiffen. Ein Redner des Neuen Forums gab bekannt, der Antrag auf Zulassung sei abgegeben worden. Zur Sicherung des Rathauses wurden Kampfgruppen eingesetzt. Danach demonstrierten Tausende mit Kerzen und Losungen durch die Stadt.345 Die MfS - Kreisdienststelle kritisierte in Zwickau die aus ihrer Sicht inzwischen unsinnige Trennung in genehmigte und ungenehmigte Demonstrationen. Da die Demonstrationen durchweg ruhig verliefen, sollte man sie einfach „laufen lassen“.346 Am nächsten Tag fand ein Bürgerforum mit dem Oberbürgermeister, dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Zwickau - Land, Wolfgang Trommer, sowie den Kreisvorsitzenden von CDU und LDPD im Clubhaus des RAW statt. Hier wurde kritisiert, dass der Staat Dialoge auf Termine lege, an denen Friedensgebete stattfänden. Gefordert wurden die Zulassung des Neuen Forums und eine Wiederholung der gefälschten Kommunalwahlen vom Mai.347 Nach einem Friedensgebet in der ev. - luth. Pauluskirche marschierten am 30. Oktober 10 000 Personen von der Kirche in Zwickau - Marienthal zum Hauptmarkt, forderten den Rücktritt von Oberbürgermeister Heinrich Fischer und führten zahlreiche Transparente mit. Gefordert wurden freie Wahlen, die Zulassung des Neuen Forums, Demokratie und Wiedervereinigung.348 In der Zwickauer Friedensbibliothek bildeten am nächsten Tag „Personen des konziliaren Prozesses“ und des Neuen Forums Arbeitsgruppen und bereiteten ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister vor.349 Im Kreis gab es zu diesem Zeitpunkt „bereits eine gewisse strukturelle Formierung“ des Neuen Forums zwischen Zwickau - Stadt und - Land.350 Zwickau - Land : Am 26. Oktober sprach der Vorsitzende des Rates des Kreises Zwickau mit Superintendent Günther Mieth und weiteren Pfarrern des Landkreises über Wehrersatzdienst und die aktuelle Entwicklung.351 Im Kulturhaus von Kirchberg diskutierten am 28. Oktober 220 Teilnehmer mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Wolfgang Trommer, und Vertretern des Staatsapparates sowie der Blockparteien. Gefordert wurden u. a. eine freie Marktwirtschaft, die Förderung des privaten Handwerks und die Abschaffung von Privilegien für Funktionäre.352 Nach einem Gottesdienst in Kirchberg 345 Vgl. KDfS Zwickau vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 51– 54); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 199–202). 346 KDfS Zwickau vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 51–54). 347 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 27. 10. 1989 : Rapport ( ebd., XX 850, Bl. 10); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 27. 10. 1989; Die Union, Ausgabe Karl - Marx Stadt, vom 28./29. 10. 1989. 348 Vgl. KDfS Zwickau vom 2. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 30. 10. 1989 : Info ( ebd. 2146, 2, Bl. 94); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 31. 10. 1989. 349 KDfS Zwickau vom 1. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1). 350 KDfS Marienberg vom 1. 11. 1989 : IM - Info Neues Forum Zwickau ( ebd. 2145, 1). 351 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 28. 10. 1989. 352 Vgl. KDfS Zwickau, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 181–183); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 31. 10. 1989.

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demonstrierten 400 Personen durch die Stadt. Sie forderten die Zulassung des Neuen Forums und freie Wahlen. An der Spitze des Zuges marschierten Jugendliche und riefen „Neues Forum“, „Freie Wahlen“, „Auf die Straße, schließt Euch an“, „Wir sind das Volk“, „Schnitzler weg“ sowie „Stasi in die Produktion“ und sangen die „Internationale“.353 Auch in Hartenstein demonstrierten Jugendliche mit Kerzen und riefen „Neues Forum“.354 Bezirk Leipzig : Nachdem die Stadt Leipzig wesentlichen Impulscharakter gehabt hatte, breiteten sich die Friedensgebete nun auch auf die Kreise aus. Hier standen die Legalisierung des Neuen Forums und der Brief der Landessynode im Mittelpunkt.355 Das Regime versuchte durch Gespräche mit Vertretern der Kirche und von Basisgruppen „gezielt die Demonstrationen an den Montagabenden zurückzudrängen und schrittweise zu unterbinden“. In der Bevölkerung gab es eine große Erwartungshaltung auf spürbare Veränderungen sowie massive Kritik an Harry Tisch und Kurt Hager. Beide hätten am starrsinnigsten die alte Linie vertreten und täten jetzt so, als wäre das nicht so gewesen. Die Stimmung war „sehr emotionsgeladen“, und Angriffe auf die führende Rolle der SED nahmen zu. Forderungen nach personellen Veränderungen erstreckten sich jetzt auch auf Bezirks - und Kreisebene. Die regionale Funktionäre, so hieß es, würden versuchen, „ihre Haut zu retten und ihre Privilegien nicht einzubüßen“. Die Forderungen nach sofortiger Abschaffung von Privilegien für Partei und Staatsfunktionäre nahmen zu. Weiterhin verlangt wurden freie und geheime Wahlen, die Überprüfung der Wahlergebnisse vom 7. Mai und ein Wettstreit der Parteien.356 Immer häufiger wurde die Dialogpolitik der SED in Frage gestellt. In Leipzig meinten Schriftsteller Ende Oktober, der Dialog diene nur dazu, von wirklichen Veränderungen abzulenken. Es sei nötig, bis dahin zu demonstrieren.357 Auch die 1. Sekretäre der Kreisleitungen meinten, durch die Dialoge habe der Druck feindlicher Auffassungen eher noch zugenommen. Die dort vorgebrachten Vorschläge und Forderungen seien in „Masse und Vielfalt nicht mehr erfass - und überschaubar“. Es bestehe die Gefahr, „dass der Dialog in Richtung Anarchie ausufert“ und es nicht gelingt, eine „Vorwärtsdiskussion“ zu erreichen.358 Altenburg : Am 24. Oktober fand in der katholischen Kirche Rositz ein Umweltforum mit Vertretern des Staates statt. In Altenburg demonstrierten am 25. Oktober nach Fürbittgottesdiensten in der Brüder - und Bartholomäuskirche mit 1 300 Beteiligten 2 000 Personen am Volkspolizeikreisamt, der MfS - Kreis353 Vgl. KDfS Zwickau vom 29. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 140 f.); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.–30. 10. 1989 : Info ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 81–89). 354 Vgl. KDfS Zwickau vom 29. 10. 1989 : Sofortmeldung ( ebd., AKG 2146, 2, Bl. 184). 355 Vgl. SED - BL Leipzig vom 24. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 21–24). 356 SED - BL Leipzig vom 25. und 30. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( ebd., Bl. 18–20; 200, Bl. 54–58). 357 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 33. 358 SED - BL Leipzig vom 31. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 2 f.).

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dienststelle und am Rat des Kreises vorbei zum Rathaus und stellten Kerzen ab. In der Kirche wurde die Bestrafung von Funktionären verlangt und erklärt, man werde demonstrieren oder auch streiken, bis sich etwas ändere. Die Teilnehmer forderten, dass der 1. Sekretär, Wolfgang Nebe, und die Mitglieder der SED Kreisleitung beim Dialog „Rede und Antwort stehen“. Verstärkt wurden Unterschriften für das Neue Forum gesammelt. In Langenleuba - Niederhain hing am Kirchentor ein Problemkatalog des Neuen Forums. Im VEB Elektrowärme Altenburg hing an der Wandzeitung ein Aushang des Neuen Forums.359 Bei einem Dialog mit dem Bürgermeister am 29. Oktober, der wegen des Andrangs von 700 Teilnehmern vor das Rathaus verlegt wurde, gab es massive Angriffe gegen die führende Rolle der SED und Forderungen nach Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung und des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Harry Franz. Beide wurden ausgepfiffen. Vertreter des Neuen Forums bekannten sich zu einem reformierten Sozialismus.360 Am 31. Oktober fanden in Altenburg drei Foren mit über 1 000 Teilnehmern und Mitgliedern der SED - Kreisleitung und des Rates des Kreises statt. Selbst von Funktionären gab es „zahlreiche sehr aggressive Angriffe auf die führende Rolle der SED“. Auch hier bemühte sich die SED - Kreisleitung, „den Dialog in kleineren Gruppen und themenbezogen zu gestalten“.361 Borna : Am 27. Oktober riefen Einwohner von Kitzscher zur Einwohnerversammlung auf, um über kommunale Probleme wie das Erscheinungsbild der Stadt, die Versorgungslage und kulturelle Angebote zu sprechen. Man wolle, so hieß es, nicht länger auf Anordnungen „von oben“ warten, sondern die Interessen der Stadt selbst wahrnehmen.362 Die erste Demonstration in Borna gab es am 29. Oktober im Anschluss an ein Friedensgebet in der ev. - luth. Stadtkirche. 130 Menschen gingen mit Kerzen durch die Innenstadt. Zuvor hatten sich die Bornaer regelmäßig in großer Anzahl an Demonstrationen in Leipzig beteiligt.363 Am selben Tag fand ein Rathausgespräch mit dem Bürgermeister und der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Brigitte Beyer, statt.364 Delitzsch : Am 25. Oktober fand ein Dialog mit dem 1. Sekretär der SED Kreisleitung, Gerhard Kießling, und dem Ratsvorsitzenden, Lothar Elze, mit 200 Bürgern in der POS Delitzsch statt. Hier wurde Kritik an der führenden Rolle der SED geübt. Am selben Tag gab es ein Rathaus - Streitgespräch zur Wohnungspolitik mit dem Bürgermeister und dem Ratsmitglied für Wohnungspoli359 SED - KL Altenburg vom 27. 10. 1989 ( ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 182–185, 209); SED - KL Altenburg vom 26.10. und 1. 11. 1989 : Lage ( ebd., 1049, Bl. 110 f.; 1066, Bl. 200–205); VPKA Schmölln vom 25.–26. 10. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab ODH, 7149); Sächsisches Tageblatt vom 27. 10. 1989. 360 Vgl. SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54– 58). 361 SED - KL Altenburg vom 1. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 155, 200–205). 362 Eingabe vom 27. 10. 1989 : Schnellstmögliche Einberufung einer Einwohner versammlung ( HAIT, StKa ). 363 Vgl. Beantwortung der Fragen ( PB Hartmut Rüffert ). 364 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 31. 10. 1989.

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tik.365 Im Kreistag wurde beraten, künftig Problemdiskussionen mit Bürgern und Abgeordneten durchzuführen, da selbst bei Abgeordneten „große Bereitschaft zum Mitdenken vorhanden“ sei.366 Die nun regelmäßigen Rathausgespräche fanden aber kaum Resonanz in der Bevölkerung, da die Glaubwürdigkeit der Funktionäre fehlte.367 Beim Forum im Rathaus Delitzsch am 28. Oktober mit 80 Teilnehmern, dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, dem Bürgermeister, dem Superintendenten sowie dem Vorsitzenden der CDU, Czupalla, bekannte sich dieser „vorbehaltlos zur Führungsrolle der SED und unterstrich seine persönliche Mitverantwortung für die derzeitige Lage“.368 Am 30. Oktober demonstrierten in Delitzsch nach einem Fürbittgottesdienst 200 Personen von der Kirche zur SED - Kreisleitung. Unter den Demonstranten waren viele Schüler und zwei Lehrer. Sie riefen Parolen wie: „SED – das tut weh !“ Der 1. Sekretär stellte sich der Diskussion und lud die Bürger zur Teilnahme an Dialogen im Rathaussaal ein.369 Im Kreis Döbeln blieb es bis zum 25. Oktober ruhig. Zahlreiche Bürger des Kreises beteiligten sich an den Demonstrationen in Leipzig. Auf einem Bauernforum in Großweitzschen fragten DBD - Funktionäre : „Geht bei den dauernden Demonstrationen nicht viel Zeit verloren, die für den Aufbau des Sozialismus sinnvoller verwandt werden könnte ?“370 Einen Tag später konstituierte sich das Neue Forum auf Kreisebene als „basisdemokratische Dialogplattform“ und bekundete die Absicht, am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken. Man sprach sich gegen den Führungsanspruch der SED und für politischen Wettbewerb aus.371 Am Sonntagmorgen des 28. Oktober kamen 600 Besucher zum Dialog des Bürgermeisters, einem Sekretär der SED - Kreisleitung und einem Mitglied des Rates des Kreises. Hier wurde der Aufruf des Neuen Forums verlesen und Kritik an der SED geübt.372 Pfarrer Hecker erklärte, offensichtlich sollten Christen „als gleichberechtigte Teilnehmer dieses Dialoges ausgegrenzt werden“, denn jeder wisse, dass am Sonntagvormittag Gottesdienst gefeiert werde. Entweder solle das Gespräch unter Ausschluss der Kirche geführt oder diese zugunsten des Rathauses entleert werden. Er habe deshalb „erhebliche Zweifel an der Aufrichtigkeit“ der Funktionäre.373 Nach dem Dialog demonstrierten in 365 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 28./29. 10. 1989. 366 Tätigkeitsbericht des RdK zur 3. Tagung des KT Delitzsch am 25. 10. 1989 ( KA Delitzsch, 1699). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 27. 10. 1989. 367 Wichtige Ereignisse im Zeitraum 1989/90 ( StV Delitzsch, Museum Schloss Delitzsch ). 368 SED - KL Delitzsch vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 154 f.). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 31. 10. 1989. 369 Vgl. SED - KL Delitzsch vom 31. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, IV 4/04/58); VPKA Delitzsch vom 30.–31. 10. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Delitzsch, 3487); Montagsandachten ( StV Delitzsch, Museum Schloss Delitzsch ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 1. 11. 1989. 370 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 28./29. 10. 1989. 371 Neues Forum Kreis Döbeln vom 26. 10. 1989 : Arbeitserklärung ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 520, Bl. 45 f.). 372 Vgl. KDfS Döbeln vom 28. 10. 1989 : Einwohnerforum ( ebd., Bl. 78); Plate, Döbelner Herbst ’89; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 31. 10. 1989. 373 Pfarrer Frieder Hecker, Gespräche am Sonntagmorgen vom 28. 10. 1989 ( HAIT, StKa).

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Döbeln 200 Personen mit Transparenten und Kerzen.374 Am 29. Oktober folgten Aussprachen in der Kirche und im Rathaus von Waldheim sowie in den Kirchen von Hartha, Döbeln und Leisnig. Überall gab es Angriffe auf die führende Rolle der SED. In Leisnig demonstrierten 70 Personen. Auf einem Transparent war zu lesen : „Nach 40 Jahren kam ans Licht, Sozialismus läuft so nicht“ und „Egon, wir wollen Taten sehen, sonst gehen wir auch“.375 In der Döbelner Nikolaikirche diskutierten am 30. Oktober 1 500 Besucher mit Vertretern des Rates der Stadt und des Kreises über Bildungsprobleme, Wohnraumvergabe, Umweltsituation.376 Beim Bürgergespräch im Döbelner Rathaussaal lud Pfarrer Frieder Hecker aus Roßwein am nächsten Tag zum Friedensgebet ein und kritisierte die „Wahlen“. Man dürfe es nicht hinnehmen, dass „die SED ein Viertel der Sitze als Privateigentum“ betrachte und der Wähler daran nichts ändern könne. Angesichts der ökonomischen Schwäche des Sozialismus und der katastrophalen Bausituation sei die Wiedervereinigung „unsere einzige Chance“. Man sollte sie anstreben, „solange die drüben noch nicht wissen, wie es wirklich bei uns aussieht und uns noch wollen“.377 Eilenburg : Auch auf das Demonstrationsgeschehen im Kreis Eilenburg wirkte sich die Nähe Leipzigs aus. Viele Bürger beteiligten sich an den dortigen Protesten. Am 25. Oktober wurde in der Eilenburger Nikolaikirche das Neue Forum vor 800 Teilnehmern vorgestellt.378 Am 27. Oktober diskutierte der Ökumenische Kreis Eilenburg über das Neue Forum und forderte, die SED als führende Kraft samt Kampfgruppen abzuschaffen.379 Beim Dialog am 31. Oktober in Eilenburg stellten sich die 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung, U. Kremkow, der Bürgermeister und Ratsmitglieder den 500 Bürgern. Die Zeitung konstatierte einen starken Zwiespalt zwischen Funktionären und Bürgern.380 Geithain : In Bad Lausick demonstrierten nach einem Friedensgebet 300 Personen mit Kerzen, Transparenten und Rufen wie „Wir sind das Volk“ und „Freie Wahlen“. Parallel dazu fand eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung statt, bei der Demonstranten Forderungen vortrugen und gegen die SED protestierten. Die Volkspolizei schnitt die Redebeiträge mit, notierte Autokennzeichen und verstärkte die Streifentätigkeit, nachdem Zettel vom Neuen Forum gefunden worden waren.381 Nach einer Versammlung in der Geithainer Nikolaikirche am 30. Oktober fand die erste Montagsdemonstration mit Kerzen statt. 374 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 215 f., 219). 375 VPKA Döbeln vom 29.–30. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Döbeln, 3722); Handschriftliche Notizen, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 68, Bl. 1 f.). 376 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 1. 11. 1989. 377 Pfarrer Frieder Hecker, Gespräche am Sonntagmorgen vom 31. 10. 1989 ( HAIT, StKa). 378 Vgl. Peter Burck an OB Wacker Eilenburg vom 15. 2. 1999 ( HAIT, Eilenburg A5.2). 379 Vgl. Ökumenischer Kreis St. Marien Eilenburg vom 27. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 21/2, Bl. 157). 380 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 1. 11. 1989. 381 Vgl. VPKA Geithain vom 25. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain 4458, Bl. 539); KDfS Geithain vom 26. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 82/1, Bl. 1–4).

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Der Bürgermeister und der Pfarrer bewegten sich an der Spitze des Demonstrationszuges.382 Am nächsten Tag fanden in Geithain und Bad Lausick Friedensgebete und Demonstrationen mit 1 000 Personen statt. Es gab Rufe wie „SED und FDJ treiben uns in den Bankrott“, „Egon reißt die Mauer ab, denn die Steine, die sind knapp“, „Die Karre steckt tief im Dreck, die alten Kutscher müssen weg“. In Kohren - Sahlis demonstrierten 100 Personen mit Kerzen und Plakaten vor dem Rathaus.383 Grimma : In Grimma fand am 25. Oktober eine Dialogrunde des Rates des Kreises mit Jugendlichen statt. Am nächsten Tag lud der Ratsvorsitzende, Gerhard Lewandowski, die Vorsitzenden der ständigen Kommissionen des Kreistages zu einer Problemdiskussion zur Verbesserung der Tätigkeit der Volksvertretungen ein.384 Am 30. Oktober fanden sich nach Versammlungen im Rathaus und in der Kirche 5 000 Bürger auf dem Grimmaer Marktplatz ein. Der Bürgermeister und der Vorsitzende des Rates des Kreises stellten sich den Fragen. Mitunter gab es tumultartige Unruhe. Der Bürgermeister erklärte sich zum Dialog mit dem Neuen Forum bereit.385 Stadt Leipzig : Bei Dialogen und Demonstrationen in der Innenstadt, an denen sich zahlreiche Bürger umliegender Kreise beteiligten, machten immer mehr Bürger ihrem Unmut Luft. Die Forderungen wurden zunehmend aggressiver und es häuften sich Angriffe auf die führende Rolle der SED.386 Es zeugte von der Unfähigkeit der Funktionäre, sich nach 40 Jahren Selbstherrlichkeit auf die veränderte Lage einzustellen, dass auch hier Veränderungen im bisherigen Stil realisiert werden sollten. So planten der Leipziger Oberbürgermeister mit den Vorsitzenden ständiger Kommissionen als Antwort auf die Entwicklung, künftig Änderungen des Planes nicht mehr vorbei an den Stadtverordneten zu realisieren.387 Das Neue Forum Leipzig entwickelte indessen seine Organisation und rief auf, neben allgemeinen auch thematische sowie Gruppen in Betrieben und Bildungseinrichtungen zu bilden. Ein politisches Gesamtkonzept wollte man noch nicht erstellen, „weil wir zuerst die Zusammenarbeit aller Gruppen anstreben, die sich für eine demokratische Umgestaltung einsetzen“.388 Am 28. Oktober beteiligten sich 3 000 Menschen am Forum „Sozialistische Demokratie – aber wie“ im Gewandhaus. Auch hier stand die Kritik am Führungsanspruch der 382 Vgl. Chronologie der Wende. Aus Sicht des Geithainer Ortsvereins der SPD ( HAIT, StKa). 383 Vgl. KDfS Geithain vom 1. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 21, Bl. 4–14); VPKA Geithain vom 31.10.–1. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain 4458, Bl. 551). 384 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 27. und 28./29. 10. 1989. 385 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 1. 11. 1989. 386 Vgl. SED - BL Leipzig vom 24. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 21– 24). 387 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 24. 10. 1989. 388 An alle Mitglieder und Freunde des Neuen Forums, Leipzig vom 29. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 139, Bl. 2). Vgl. BVfS Leipzig, XX vom 27. 10. 1989 : Neues Forum ( ABL, H. VIII ).

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SED im Zentrum der Diskussion.389 Bei einer öffentlichen Stadtverordnetenversammlung mit 600 Abgeordneten und Bürgern ging es um kommunale Probleme wie die Entwicklung des Bauwesens durch die Rückführung von Kapazitäten aus Berlin, die angespannte Situation im Gesundheitswesen, den bürokratischen Umgang mit Bürgern, die Bildung von Fraktionen und die Reduzierung des Verwaltungsapparates. Abgeordnete der LDPD hinterfragten den Führungsanspruch der SED. Oberbürgermeister Seidel forderte eine prinzipiell veränderte Arbeitsweise, freie Meinungsäußerungen, eine Einbeziehung der Abgeordneten und Bürger aller politischen Richtungen in die Entscheidungsfindung und ein Ende der Bevormundung durch übergeordnete staatliche Organe.390 Am 29. Oktober sprachen Tausende Bürger bei diversen Foren zu den unterschiedlichsten Themen. Im Neuen Gewandhaus ging es mit Masur und Pommert und bis zu 3 000 Gästen um „Sozialistische Demokratie – aber wie“. Hier wurde die SED - Taktik kritisiert, zwar den Dialog zu suchen, aber das Neue Forum weiterhin zu kriminalisieren.391 In der Karl - Marx - Universität wurde das Spannungsfeld von „Ökonomie und Ökologie“ diskutiert. 800 Teilnehmer nahmen am Disput im Neuen Rathaus mit dem Oberbürgermeister teil. Im Konzertfoyer des Opernhauses ging es um Kultur und Kunst. Überall gab es neben Bekundungen für einen erneuerten Sozialismus auch „kontroverse Auffassungen zur künftigen Gesellschaftsstruktur“. So oder so aber wurde die führende Rolle der SED in Frage gestellt.392 Am 30. Oktober beteiligten sich nach Friedensgebeten in sieben Kirchen am Abend mehr als 300 000 Menschen an einer Demonstration.393 Zahlreiche Teilnehmer kamen aus anderen Bezirken. Wieder war das Meer der Transparente unüberschaubar. Sprecher verlangten u. a. „Reformer an die Macht“ und die Zulassung des Neuen Forums. Zum ersten Mal tauchten Losungen mit den Texten auf : „Wir stellen die Machtfrage !“, „Kein Dialog mit Parteibonzen, weg mit der ganzen Bande !“ oder „Volksentscheid und Machtkonzentration sofort !“. Verschiedene Sprechchöre und Transparente forderten die Öffnung der Grenze und die Zulassung des Neuen Forums. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach einem Ende des Machtmonopols der SED. Immer wieder wurde gefordert, die für die Krise Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Teil der Demonstranten rief unter den Fenstern des Stadthauses : „Seidel, mach das Fenster auf !“ Erstmalig tauchte auf Plakaten die Losung „Deutschland einig Vaterland“ auf. „Aktive Störhandlungen“, so die Volkspoli389 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 30. 10. 1989. 390 Vgl. SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54–58); Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 83. 391 Vgl. Neues Forum Leipzig, S. 161–163. 392 Vgl. SED - SL Leipzig vom 27.–30. 10. 1989 : Lageinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 1–9); SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Info ( ebd., SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54–58). 393 Vgl. Sächsisches Tageblatt / Mitteldeutsche Neueste Nachrichten vom 31. 10. 1989; Neues Forum Leipzig, S. 170–172; Leipziger Demontagebuch, S. 73–88.

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Bild 35: Montagsdemonstration in Leipzig am 30.10.1989.

Bild 36: Forderung nach freien Wahlen in Leipzig.

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zei, gab es nicht, allerdings wurden „schärfere Forderungen erhoben“ und das Verhalten war „herausfordernder, frecher und provozierender“ als zuvor.394 Erstmals kam es am Dittrichring zu einem Stau vor der Bezirksverwaltung des MfS von ca. 4 000 Personen. Die Ordner hatten Schwierigkeiten, die Teilnehmer von einer Stürmung abzuhalten. Demonstranten bildeten eine symbolische Sperrkette. Zum ersten Mal sprach an diesem Montag ein Vertreter der Oppositionsgruppen ( Jochen Läßig, NF ) vom Dach eines Kiosks der Verkehrsbetriebe und forderte unter großem Beifall der Demonstranten ein Ende der Alleinherrschaft der SED, freie Wahlen und Parteienvielfalt. Oberbürgermeister Seidel stellte sich auf dem Karl - Marx - Platz der Diskussion. Erstmals berichtete die „Aktuelle Kamera“ live von der Kundgebung. Während der Demonstration wurde eine Hundertschaft der NVA in der SED - Bezirksparteischule Richterstraße zum Schutz des Senders Leipzig in Bereitschaft gehalten.395 Die SED - Bezirksleitung kommentierte : „Aus der heutigen Sicht ist eine Zuspitzung bei weiteren Demonstrationen anzunehmen.“396 Das Neue Forum Leipzig erklärte am selben Tag, es verstehe sich nicht als Opposition zum Sozialismus, vielmehr gehe es um eine breite öffentliche Diskussion des Begriffes „Sozialismus“. Man solle den Kanal II des DDR - Fernsehens für eine „umfassende Sozialismusdebatte“ zur Verfügung stellen.397 Am 31. Oktober folgte eine Veranstaltung mit Vertretern des Neuen Forums und dem Oberbürgermeister. Erneut forderten die Teilnehmer ein Ende des Machtmonopols der SED.398 Oschatz : Am 30. Oktober fand in der Kirche von Oschatz ein Friedensgebet mit 800 Personen statt.399 Superintendent Martin Kupke hatte einen Forderungskatalog erstellt, der auslag. Zu Grundfragen sollte ein Volksentscheid durchgeführt werden. Nötig seien eine parlamentarische Demokratie, ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen, Wirtschaftsreformen, Rechtssicherheit, eine parlamentarische Kontrolle aller Machtinstrumente, Medienfreiheit, Demonstrationsrecht, Reisefreiheit sowie eine Reform des Schul - und Hochschulwesens.400 Diese Forderungen liefen auf eine völlige Beseitigung des Regimes hinaus. Nach dem Friedensgebet fand die erste „nicht genehmigte Demonstration“ in Oschatz

394 BDVP Leipzig vom 30. 10. 1989 : Ergänzungsmeldung ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840). 395 Vgl. RdB Leipzig von Oktober 1989 : Monatsbericht ( ebd., RdB / BT, 38208); SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( BStU, ZA, Sekretariat d. Min. 664, Bl. 1–3); Rede des Neuen Forums am 30. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 140, Bl. 1); MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 273); Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 206; Mädler, Ein Herbst, den keiner vergißt, S. 168–177; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 31. 10. 1989. 396 SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 4–6). 397 Vier Überlegungen zur Zeit. In : Neues Forum Leipzig 3 vom 30. 10. 1989. 398 Vgl. BVfS Leipzig vom 2. 11. 1989 : Information. In : Stasi intern, S. 267. 399 Vgl. Protokoll des Friedensgebetes vom 30. 10. 1989 in der Oschatzer St. Aegidienkirche ( PB Martin Kupke ). 400 Reformen, Oschatz vom 30. 10. 1989, gez. Martin Kupke ( ebd.).

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statt.401 Rund 400 Jugendliche Personen bewegten sich durch die Innenstadt.402 In Sprechchören wurde „Neues Forum, jetzt oder nie“, „Wir sind das Volk“, „Stasi in die Produktion“, „Stasi in die Kohle“ und „Jetzt oder nie“ gerufen. Am nächsten Tag folgte ein Bürgerforum, bei dem es neben kommunalen Forderungen auch grundsätzliche Kritik am System gab. Der Rat des Kreises wies am selben Tag mit Empörung Forderungen nach „sogenannten freien Wahlen“ zurück.403 Schmölln : Im thüringischen Schmölln kam es vom 27. bis 29. Oktober nach kirchlichen Veranstaltungen zu drei Demonstrationen mit etwa 1100 meist jugendlichen Teilnehmern, viele davon aus den Bezirken Karl - Marx - Stadt und Gera. Am 28. Oktober gab es „in Form von Sprechchören Angriffe gegen die Schutz - und Sicherheitsorgane“.404 Am 29. Oktober demonstrierten ca. 60 Personen mit Kerzen und Fackeln durch Gößnitz.405 Wurzen : Am 28. Oktober fand im Rat des Kreises ein Dialog von Partei - , Gewerkschafts - und Staatsfunktionären mit der Bevölkerung statt. „Beide Seiten prallen erstmals feindlich aufeinander.“ Es ging um Wahlfälschung, Korruption und Inkompetenz der Funktionäre. Einige Funktionäre wurden „hart attackiert“.406 Ende Oktober wurde in Wurzen eine vom Pfarrer geleitete „Initiativgruppe Demo“ gebildet, die eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Volkspolizei einging und die Demonstrationen bzw. Kundgebungen auf dem Marktplatz organisierte.407 Was hat der Dialog gebracht ? : Ende Oktober wurde der Dialog auf Seiten des Regimes wie der protestierenden Bevölkerung resümiert. Für die SED war der Saldo ungünstig. In der zweiten Oktoberhälfte hatte die Schärfe der Diskussionen auf den Dialogveranstaltungen beständig zugenommen. Diese wurden immer mehr zu öffentlichen Foren der Anklage gegen die Politik der SED. Es hieß, sie arbeite konzeptionslos und habe „ihren Führungsanspruch verwirkt“. Es sei an der Zeit, der „Forderung des Volkes“ nach Zulassung des Neuen Forums stattzugegeben. Mit dem Vorwurf des Wahlbetruges im Mai 1989 wurden freie Wahlen und ein Ende der Führungsrolle der SED gefordert. Verstärkt wurde die Absetzung von Funktionären und Amtsträgern auf allen Ebenen verlangt, denen Machtmissbrauch und Unfähigkeit zur politischen Führung vorgeworfen wurde.408 Auf Demonstrationen und bei anderen Versammlungen gab es offene und direkte Äußerungen gegen Mitglieder der SED - und Staatsführung, gegen örtliche und betriebliche Partei - , Staats - und FDGB - Funktionäre 401 VPKA Oschatz vom 27. 11. 1989 : Abschlussmeldung zum FS 234 vom 30. 10. 1989. Demonstration nach dem Friedensgebet am 30. 10. 1989 ( SächsStAL, VPKA Oschatz, 4761). 402 Vgl. VPKA Oschatz, ODH, Raportbericht 46/89 vom 27.10.–2. 11. 1989 ( ebd. 4760). 403 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 60–66. 404 SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54–58). 405 Vgl. SED - KL Schmölln vom 30. 10. 1989 : Lage ( ebd., 889, Bl. 87). 406 Vgl. Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989 ( HAIT, StKa ). 407 Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 143. 408 SED - BL Dresden vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, AR, 13118).

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sowie scharfe Angriffe gegen die „Schutz - und Sicherheitsorgane“.409 Besondere Verärgerung löste es aus, wenn sich Partei - und Staatsfunktionäre „plötzlich für Forderungen einsetzten, die von den Arbeitern schon lange diskutiert wurden und gleichzeitig so taten, als hätten sie schon immer für die Wahrheit gekämpft“. Daher „verlangten breite Bevölkerungskreise Kaderveränderungen auf allen Ebenen“.410 Der Leipziger Ratsvorsitzende konstatierte, dass die „sogenannten Dialoge“ zu „keinerlei Beruhigung der Situation“ geführt hätten. Ganz im Gegenteil schlage den dort beteiligten Funktionären „eine Welle von Hass und Zorn entgegen“. Würde auf gestellte Forderungen eingegangen, würden „sofort neue gestellt, die am Ende politischen Charakter haben“.411 Die Erwartung der SED - Führung, durch eine Massenmobilisierung zum Dialog die diktatorische Alleinherrschaft retten zu können, erwies sich als vollkommene Verkennung der Lage. Seit Jahrzehnten hatte die SED in ihrem totalitären Anspruch und ihrer Überheblichkeit den Auffassungen „Andersdenkender“ gegenüber jede Diskussion unterdrückt. Jetzt konnte sie nicht als Sieger aus einem gesamtgesellschaftlichen Dialog hervorgehen. Die SED steckte in einem Dilemma, mit dem ihr politisches Ende bereits eingeleitet war. Sie konnte tun, was sie wollte, 40 Jahre Diktatur ließen sich nicht mit ein paar Gesprächen beiseitewischen. Ende Oktober kündete der Dialog überdeutlich von der Konzeptionslosigkeit der SED angesichts einer gesellschaftlichen Kultur, die zunehmend vom Diskurs geprägt wurde. Seitens der Bevölkerung wurde der Dialog auch nicht als von der SED erbrachte Leistung angesehen, vielmehr hieß es, das kommunistische Regime sei durch den „Druck von unten“, von Massenflucht und Demonstrationen, zum Dialog gezwungen worden. Es sei notwendig, diesen Druck weiter zu verstärken, um die einmalige Chance auf tiefgreifende Veränderungen zu nutzen. Die SED - Führung gebe weiterhin nur Absichtserklärungen ab und mache Versprechungen.412 Die Strategie der SED lief, so Steffen Reiche, darauf hinaus, „einiges zu erneuern, um möglichst viel vom Alten erhalten zu können“.413 So war dem Dialog Krenz’scher Machart nicht der Erfolg einer Rettung des Regimes gegönnt. Bald hieß es im Volksmund : „Ulbricht log, Honecker log, Krenz log, Dia - log !“414 Die Tatsache, dass der Dialog nur einen Versuch der Machtsicherung darstellte, machten Aktivitäten für den Fall deutlich, dass es der SED gelingen sollte, das Ruder wieder herumzureißen. Noch Ende Oktober mussten alle Dienststellen des MfS Listen über „Rädelsführer, Inspiratoren und Organisatoren“ führen und die Belegung von Isolierungslagern vorbereiten.415 Auch zu diesem Zeitpunkt also wurde an Isolierungslagern festgehalten. So teilte die MfS - Kreis409 RdB Dresden von Oktober 1989 : Monatsbericht ( ebd., BT / RdB Dresden, 46141, Bl. 195–201). 410 MfS vom 30. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 6). 411 RdB Leipzig von Oktober 1989 : Monatsbericht ( SächsStAL, RdB / BT, 38208). 412 MfS, ZAIG vom 30. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 11). 413 Interview mit Steffen Reiche. In : Der Spiegel vom 30. 10. 1990. 414 Zit. bei Maaz, Der Gefühlsstau, S. 148. 415 Der Morgen vom 24. 7. 1990. Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst I, S. 84.

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dienststelle Grimmen am 30. Oktober mit, dass sie das „Trainingszentrum Sportschießen der SG Dynamo Grimmen“ als „zeitweiligen Isolierungsstützpunkt“ bestimmt habe. Als Bewaffnung wurden MP, Pistole und Kampfsatzmunition bestimmt. Die Kreisdienststelle hatte 102 Personen namentlich erfasst, die im Spannungsfall zu internieren waren. Auch die Kriterien hatten sich nicht geändert : Genannt wurden u. a. der „Verdacht der negativen Gruppenbildung“, „feindlich - negative Einstellung“, „aktiv in der Jungen Gemeinde“, „negative Verhaltensweisen im Zusammenwirken mit Zionskirche“ oder „negative politische Einstellung, möchte in BRD sein“.416 Nicht nur hier erstellte das MfS bis ins Detail geplante Projekte von Isolierungslagern.417 SED - interne Diskussionen über Zulassung des Neuen Forums Während das MfS noch immer darauf orientierte, die Aktivisten des Neuen Forums und anderer Oppositionsgruppen in Lager zu sperren, nahmen in der SED Diskussionen zu, ob die bisherige Haltung angesichts der Tatsache, dass Massenbasis und Akzeptanz des Neuen Forums weiter zunahmen,418 noch aktuell sei.419 In Leipzig gab es selbst zwischen der SED - Bezirksleitung und dem Rat des Bezirkes darüber Meinungsverschiedenheiten. Wötzel sprach sich gegen eine Zulassung aus : „Lassen wir sie jetzt zu, legalisieren wir die Opposition, verbieten wir sie jetzt, organisieren wir uns eine Niederlage auf der Straße. Deshalb : Zeit gewinnen und alles tun, damit sich das Kräfteverhältnis ändert und wir die Bedingungen für ihr Wirken möglichst ungünstig gestalten.“ Für den Fall, dass eine Zulassung nicht verhindert werden könnte, sollte festgelegt werden, dass sich das Neue Forum nicht in Betrieben ansiedeln dürfe und dass „nichtintegrierbare Gruppen“ mit zugelassen werden, um es durch Auseinandersetzungen mit ihnen zu schwächen. Außerdem sei der Prozess der Zulassung durch „langwierige juristische Verhandlungen“ „maximal zu verschleppen“ und ihre basisdemokratische Struktur gegen sie auszunutzen, indem jede basisdemokratische Gruppe die Zulassung beantragen könne. Dadurch käme es zu Spannungen mit den Sprecherräten. Aber auch er konzedierte, dass sich das Leipziger Neue Forum zu Antifaschismus und Sozialismus bekenne, die DDR bejahe und sich von der BRD abgrenze. Man erkenne auch die führende Rolle der Partei an, fordere aber, sie im Wettstreit mit anderen Parteien durchzusetzen.420 Eine ähnliche Strategie favorisierte auch der Leiter der Dresdner 416 So Werner Kalinka, Noch im Oktober 1989 plante die Stasi Lager für Regimegegner. In: Die Welt vom 26. 4. 1990. 417 Joachim Gauck im Abschlussbericht der Volkskammer zur Auf lösung der Staatssicherheit am 28. 9. 1990. In : Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst III, S. 89. 418 SED - BL Leipzig vom 31. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 2 f.). 419 Vgl. SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( ebd., SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54–58). 420 SED - BL, Roland Wötzel, an Wolfgang Herger : Neues Forum - Zulassung ( ca. Ende Oktober 1989). In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 715–719.

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Bezirksver waltung des MfS, Böhm. Auf die Frage Mielkes, was er von einer Legalisierung des Neuen Forums halte, sprach er sich dagegen aus, „denn daraus würden wir nie wieder herauskommen. Ich bin für Fortführung der Linie – mit diesen Kräften politisch arbeiten und sie hinhalten !“421 Anders war die Haltung Reitmanns vom Rat des Bezirkes Leipzig. Er wies Dickel auf die Massenbasis und friedfertige Haltung des Neuen Forums hin. Mitglieder hätten sich in Medien, Gesprächen mit Mitgliedern des ZK und Dialogen als „ernsthafte und profilierte Gesprächspartner für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen“ erwiesen. Immer mehr leitende Kader meinten, es sei falsch, das Neue Forum pauschal abzuwerten. Selbst der Direktor des Bezirksgerichtes Leipzig habe gefordert, neue politische Strukturen zur Belebung der Gesellschaft zuzulassen. Vertreter des Neuen Forums würden sich dazu bekennen, „auf der Grundlage der Verfassung der DDR wirken zu wollen“. Man „halte es unter diesen Umständen für dringend geboten, die Entscheidung zur Anmeldung des ‚Neuen Forums‘ zu ändern“.422 Im MfS war man trotz der verbalen Bekenntnisse vorsichtig. In Potsdam meinte man z. B., die vom Neuen Forum geäußerte Treue zur Verfassung, zur führenden Rolle der SED und zum Sozialismus sei „ausschließlich taktischen Zwecken untergeordnet“. Auf diese Weise wolle man die Massenbasis auch unter den Teilen der Bevölkerung, die nicht auf die „Errungenschaften der sozialistischen Entwicklung“ verzichten wollten, erweitern .423 Auch der stellvertretende Innenminister, Wagner, meinte, man dürfe den Gegner nicht unterschätzen, der mit seinen „scheinheiligen Reformvorschlägen“ den Sozialismus untergraben wolle. Der „Klassengegner“ setze aus Gründen der Effizienz auf „gewaltfreie Demonstrationen und andere staatsfeindliche Aktivitäten“ zwecks „Liquidierung des Sozialismus“.424 Modrow wies darauf hin, dass es eine sich rasch und stark entfaltende innere Opposition gebe und Verbote bisher ohne Wirkung geblieben seien. In der gegebenen politischen Situation sei die SED gezwungen, alle Handlungen zu tolerieren. Auch wenn man Isolierung und Beschränkung befürworte, zeigten sich in der Praxis doch wachsender Einfluss und Formierung in organisierten Formen. Darauf müsse man Antworten finden.425 In diesem Sinne machten SED - Gesellschaftswissenschaftler Ende Oktober den Vorschlag, das Neue Forum und zugleich andere Gruppen zuzulassen, „damit sie sich gegenseitig schwächen, ihre Kräfte spalten“. Es sei nötig, ihren Status niedrig zu halten, sie als Bewe-

421 BVfS Dresden, Leiter, vom 30. 10. 1989 : Aktennotiz über den Anruf des Ministers (BStU, ASt. Dresden, LBV 10003, Bl. 18). 422 RdB Leipzig, Stellvertreter für Inneres, vom 31. 10. 1989 ( SächsStAL, BT / RdB Leipzig, 22714). 423 Zit. bei Meinel / Wernicke ( Hg.), Mit tschekistischem Gruß, S. 196 f. 424 MdI: Ausführungen des Stellvertreters des Ministers für die Arbeitstagung am 31.10./ 1. 11. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52352). 425 SED - BL Dresden von Oktober 1989 : Lage und Ergebnisse ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13218).

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gung, aber nicht als Partei zu genehmigen und zugleich zu „unterwandern“.426 Am 31. Oktober einigte sich das Politbüro auf „Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung antisozialistischer Sammlungsbewegungen“. Sie wurden allen 1. Sekretären der Bezirks - und Kreisleitungen übermittelt.427 Das Innenministerium gab bekannt, dass der Antrag des Neuen Forums auf Zulassung geprüft werde. Damit versuchte das Regime, Zeit zu gewinnen. 3.5

Auseinandersetzungen um Übergriffe der Volkspolizei

Den Auseinandersetzungen um Übergriffe der Volkspolizei kam im Verlauf der Revolution eine wichtige Mobilisierungsfunktion zu.428 Nach den Ereignissen des 7. und 8. Oktober kam es in der gesamten DDR zu zahlreichen Eingaben, Anzeigen und Beschwerden wegen der Festnahmen und der Behandlung durch die Ordnungskräfte in den Zuführungspunkten.429 Es kam zu einer regelrechten Kampagne, in der am Beispiel des Umgangs mit Protestierenden der Unrechtscharakter des Regimes exemplarisch vorgeführt und zugleich Geschlossenheit und Solidarität der Gegner des Regimes geschaffen wurden. Eine wichtige koordinierende Rolle spielte auch hierbei die Kirche. Zunächst stand noch kurz die Frage der Zugeführten im Zentrum dieser Debatten, danach das Verhalten der Sicherheitskräfte bei den Einsätzen gegen die demonstrierende Bevölkerung. Hinsichtlich der Zuführungen gab das Regime schnell nach. Nachdem Landesbischof Hempel am 10. Oktober von den Räten der sächsischen Bezirke die sofortige Freilassung aller bei Demonstrationen inhaftierten Personen gefordert hatte,430 waren bis zum 12. Oktober fast alle um den Jahrestag Verhafteten wieder auf freiem Fuß.431 Nach Angaben des Generalstaatsanwalts waren noch elf Personen wegen Gewalt, Plünderei und Brandstiftung in U - Haft.432 Unter Volkspolizei - Angehörigen gab es wenig Verständnis dafür, dass man die 426 Zit. bei SED - BL Leipzig, Roland Wötzel, an Wolfgang Herger : Neues Forum - Zulassung ( ca. Ende Oktober 1989). In : Sächsischer Landtag. 1. WP. Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 715–719. 427 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2356). 428 Zur Volkspolizei in Dresden 1989/90 vgl. Lehmann, Die Volkspolizei, S. 55–98. 429 Übersicht über die im MdI eingegangenen Eingaben im Zusammenhang mit dem Einschreiten der Sicherheitsorgane bei ungenehmigten Demonstrationen bei den Oktoberereignissen 1989, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 54025, EA 400); Stand der Bearbeitung von Eingaben, Beschwerden und Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der DVP im Zusammenhang mit den Demonstrationen der Bevölkerung, o. D. ( ebd.). 430 Landesbischof Johannes Hempel / Präsident i. V. Schlichter an die Vorsitzenden der RdB Dresden, Karl - Marx - Stadt und Leipzig vom 10. 10. 1989 ( SLUB, Flugblätter der Wendezeit ). 431 Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 12). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 13. 432 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 14./15. 10. 1989.

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„Randalierer“ wieder frei lässt.433 Nach dem 13. Oktober wurden keine Ermittlungsverfahren mehr eingeleitet.434 Ob die offiziellen Angaben stimmen, bedarf einer genaueren Untersuchung. Über den Strafvollzugsbereich der Untersuchungshaftanstalt Zwickau meldete die dortige MfS - Kreisdienststelle jedenfalls noch am 19. Oktober, dass „der hohe Anfall von Einlieferungen seit dem 4.10. 89 kaum noch zu bewältigen“ sei.435 Nun konzentrierten sich die Proteste auf die Übergriffe von Volkspolizei und MfS gegenüber Demonstranten und Zugeführten. Bedeutung erlangte die Kampagne nicht nur durch Proteste von Bürgerrechtlern und Oppositionellen, sondern vor allem dadurch, dass das Thema auch in der Bevölkerung diskutiert wurde. Hier war die Meinung verbreitet, „dass das gewaltsame Vorgehen der Polizei auch Gegenreaktionen bei den Demonstranten provoziert“ habe.436 Was bei den nun folgenden Auseinandersetzungen nicht reflektiert werden konnte, waren die Hintergründe für das harte Durchgreifen des Regimes. Die Tatsache, dass Honecker „erhöhte Einsatzbereitschaft“ im Sinne von Punkt 4 des Statuts der Einsatzleitungen ausgerufen hatte,437 blieb, weil streng geheim, verborgen. Aber auch so reagierte die Bevölkerung zum großen Teil mit Entsetzen und Ablehnung, zum Teil aber auch mit Zustimmung. Im Kreis Hainichen, wo die Volkspolizei am 7. Oktober besonders brutal gegen Jugendliche vorgegangen war, trat die FDJ - Sekretärin eines Betriebes mit der Begründung aus der FDJ aus, sie verstehe nicht, wie eine gewaltlose Demonstration, wo die „Internationale“ gesungen und Losungen wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gerufen wurden, von der Polizei „auseinandergeknüppelt“ werden konnte. Auch Ärzte in Hainichen und Frankenberg sowie Pfarrer protestierten gegen das Vorgehen der Volkspolizei.438 Im gesamten Kreis dominierte die Ablehnung des Einsatzes. Man zog „Parallelen zur Zeit des Faschismus“ und äußerte „Erschütterung“ über die enorme Brutalität der Polizei gegen „friedliche Demonstranten“. Dieser Meinung schlossen sich sogar solche „progressiven Kräfte“ an, deren Kinder an der „Zusammenrottung“ beteiligt waren. Die eingesetzten Kräfte der Kampfgruppen wurden als „Arbeiterverräter“ bezeichnet.439 Aber auch in anderen Kreisen wurden „die Schutz und Sicherheitsorgane“ von der Bevölkerung „diffamiert“440 und ihr Vorgehen mit dem Vorgehen der Polizei in Chile verglichen.441 Der stellvertretende Leiter 433 KDfS Annaberg vom 17. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 47– 51). 434 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl - Marx - Stadt vom 17. 10. 1989 ( ebd. 435, Bl. 24, 102–109). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 21. 435 KDfS Zwickau vom 19. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 94–96). 436 KDfS Glauchau vom 11. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 37–39). 437 Vgl. dazu Kap. II.3.1. 438 KDfS Hainichen vom 11. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 74–79). 439 KDfS Hainichen vom 12. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 68–73). 440 KDfS Brand - Erbisdorf vom 13. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 104–114). 441 KDfS Glauchau vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 31–34).

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der Bezirksver waltung des MfS Karl - Marx - Stadt, Schaufuß, konstatierte am 17. Oktober, durch das Vorgehen der Sicherheits - und Schutzorgane bei den Demonstrationen richte sich „der ganze Hass, die ganze Wut dieser Leute und überhaupt dieser ganzen Banditen, negativ - feindlichen Personen, besonders gegen uns“.442 Von der Partei - und Staatsführung wurde das militante Durchgreifen dagegen unterstützt. Am 10./11. Oktober dankte der Minister des Innern den eingesetzten Volkspolizei - Angehörigen. Mit revolutionärer Wachsamkeit hätten sie ihre Aufgaben erfüllt. Die „erwiesene Treue und Ergebenheit der Angehörigen der Organe des Ministeriums des Innern zum Arbeiter - und - Bauern - Staat“, so der Minister, sollten auch künftig für die „Ausprägung der Siegeszuversicht und unserer Entschlossenheit“ genutzt werden, um das System „unter allen Bedingungen“ zu schützen“.443 Unter Volkspolizei - Angehörigen waren die Meinungen geteilt. Nach offizieller Einschätzung dominierte zunächst die Haltung, auch weiterhin „mit aller Entschiedenheit durchzugreifen“. Es wurde aber auch gefragt, ob nicht „nur eine politische Lösung zum Erfolg“ führe.444 Auch bei der Bereitschaftspolizei wollte man wissen, wie es denn nun weitergehe. Hier war man großteils, einschließlich der Offiziere, „von der großen Zahl der Demonstranten tief beeindruckt und stellte nach der Zurückhaltung der Einsatzkräfte die Frage, ob wir trotz des vermiedenen Blutbades das Heft des Handelns und die Initiative noch in der Hand halten“.445 Nachdem die Freilassung fast aller Inhaftierten erreicht war, konzentrierte sich die Kirche nun auch angesichts der allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung und in den Bürgerrechtsgruppen auf die Auseinandersetzung mit den Übergriffen. Grundlage dafür waren Hunderte von Betroffenen, die sich an kirchliche Dienststellen und Einzelpersonen um Rat wandten, wie sie mit ihren belastenden Erlebnissen umgehen könnten. Ihnen wurde geraten, Eingaben an staatliche Stellen zu schreiben. Gleichzeitig beauftragte das Landeskirchenamt das Stadtjugendpfarramt, Erlebnisberichte zu sammeln.446 Hier wurden nun bis zum Frühjahr 1990 rund 350 Gedächtnisprotokolle zusammengetragen.447 Die Übergriffe boten einen weiteren Anlass, sich offensiv mit dem restriktiven Charakter des totalitären Regimes auseinanderzusetzen. Am 15. Oktober forderte die sächsische Kirche in einer Kanzelabkündigung die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission über das Vor442 Zit. bei Horsch, Das kann, S. 17. 443 Minister und Chef der DVP an Chefs der BDVP, Leiter der Dienststellen vom 11. 10. 1989 : Dank an Bezirke ( ABL, EA 891011_1). Vgl. Protokoll der Beratung des Chefs der BDVP Karl - Marx - Stadt mit den Dienststellen am 10. 10. 1989 ( SächsStAC, BDVP, 497). 444 SED - BL Leipzig vom 10. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 81 f.). 445 SED - BL Leipzig vom 12. 10. 1989 : Reaktionen, Lage ( ebd., Bl. 95–98). 446 Vgl. Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( PB Reinhard Müller, Weißwasser / PB Superintendent Wolfgang Scheibner, UB Grohedo ). 447 Vgl. Bahr, Sieben Tage im Oktober, S. 61–63, 68–74, 77–88; Die Union vom 28./ 29. 10. 1989; Schnauze !, S. 158–248. Zu den Sorgen der Angehörigen vgl. 1. Interview mit Frank Richter am 18. 8.1994; Sächsische Zeitung vom 3. 10. 1994; Ziemer, Wachen und Beten, S. 105.

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gehen der Sicherheitskräfte.448 In einer Erklärung forderten auch die drei Dresdner Kirchenbezirke im Einvernehmen mit Landesbischof und Landeskirchenamt eine solche Kommission, deren Ziel die Bestrafung der Verantwortlichen, eine Entschädigung der Betroffenen und eine Überarbeitung des Strafgesetzbuches sei.449 Modrow wies daraufhin Böhm an, die Übergriffe durch Nyffenegger untersuchen zu lassen. Böhm erklärte daraufhin, die Demonstrationen seien nicht so friedlich gewesen, wie es jetzt Kirchenleute und Teilnehmer darstellten. Auch wenn die Sprechchöre „richtiger weise“ zum Teil „gewaltloser Widerstand“ gewesen seien, so hätten sie doch „eindeutig einen Charakter“ gehabt, „der aufwiegelte“ und „im Kern darauf gerichtet“ war, „erheblichen Druck auf Partei und Staat auszuüben“.450 Ähnlich reagierte man auch im MdI. Am 18. Oktober ordnete Dickel zwar an, sämtliche Eingaben zu überprüfen,451 zugleich erklärte der Leiter der politischen Verwaltung des MdI aber, das Verhalten der Volkspolizei finde „die volle Billigung unserer Partei - und Staatsführung“. Das Eingreifen sei „notwendig und richtig“ gewesen. Den Vorwurf einer „Knüppelpolizei“ oder einer „Polizei à la Bonn“ ( der man selbst wenig später angehörte ) wurde entschieden zurückgewiesen. Immerhin aber wurde angewiesen, künftig zu berücksichtigen, „dass nicht alle an Demonstrationen, Kirchenveranstaltungen u. a. beteiligten Bürger Feinde sind“, sondern auch „Kräfte, denen der Sozialismus am Herzen liegt“. Aufgabe der Volkspolizei sei es, dass sich der vom Politbüro in Gang gesetzte Dialog „unter Führung der Partei und ohne Gefährdung der Arbeiter - und - Bauern - Macht vollzieht“.452 Diese Vorgabe wurde nun durch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei kolportiert. In Dresden hieß es, die „gezeigten Leistungen“ der Volkspolizei hätten „die volle Billigung unserer Partei - und Staatsführung“. Jeder Angehörige könne „stolz darauf sein, richtig gehandelt zu haben“. Es gehöre nun einmal zu den „Methoden des Klassenfeindes zu versuchen, Grundüberzeugungen zu zersetzen, unsere Handlungen in das Licht von Gesetzlosigkeit zu stellen“. Ein solcher Versuch sei „in Zeiten verschärfter Klassenkampfsituation“ nicht ungewöhnlich.453 Einen Tag später erklärte auch Generalstaatsanwalt Günter Wendland, die Gewalt sei nicht von der Volkspolizei ausgegangen, sondern hätte sich gegen diese gerichtet. Trotzdem wurde die Untersuchung der Übergriffe beschlos448 Johannes Hempel, Kanzelabkündigung vom 15. 10. 1989 ( SLUB, Flugblätter der Wendezeit ). An alle Pfarrämter der drei Dresdner Kirchenbezirke vom 15. 10. 1989, gez. für die Dresdner Kirchenbezirke : Bergmann, Scheibner, Ziemer, Heitmann und für das Landeskirchenamt : i. V. Schlichter, Präsident ( ebd.). 449 Sonderbericht des Landeskirchenamtes über die Situation im Gebiet unserer Landeskirche in den letzten Wochen, o. D. ( PB Reinhard Müller, Weißwasser / PB Superintendent Wolfgang Scheibner, UB Grohedo ). 450 BVfS Dresden vom 14. 10. 1989 : Ereignisse vom 3.–8. 10. 1989 ( ABL, EA 891014_1). 451 Dickel an Generalleutnant Nedwig vom 18. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023, EA 400). 452 Stellvertreter des Ministers für Inneres und Leiter der politischen Verwaltung des MdI. Zit. in BDVP Suhl an Dienstellen und BVfS vom 18. 10. 1989 ( ThSTAM, BDVP 630). 453 Politstellvertreter des Chefs der BDVP Dresden an Dienststellen vom 18. 10. 1989 ( ABL, Dresden ).

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sen.454 Wolfgang Herger meinte, Gewalt sei nur angewandt worden, wenn zuvor die Demonstranten Gewalt angewandt hätten. Er räumte aber ein, dass es zu „Befugnisüberschreitungen“ und „nicht rechtmäßigen Handlungen“ gegenüber Zugeführten gekommen sei.455 Das Neue Forum forderte die Volkskammerabgeordneten am 24. Oktober auf, einen Untersuchungsausschuss über die Übergriffe der Sicherheitskräfte Anfang Oktober einzusetzen.456 Am selben Tag wurde im MdI eine Arbeitsgruppe zur Prüfung von Anzeigen, Eingaben und Beschwerden gegen Volkspolizei - Angehörige gebildet.457 Angesichts der Vor würfe wies das Politbüro am 24. Oktober die SED - Bezirksleitungen an, den Kampfgruppen und allen Schutz - und Sicherheitskräften Rückhalt zu geben.458 Hier war der Frust groß. Volkspolizei - Angehörige erklärten, sie hätten nur auf Weisung gehandelt. Es könne nicht sein, dass man selbst am Pranger stehe und gleichzeitig Randalierer freigelassen würden.459 Zum Teil gab es, wie in Hainichen, massive Proteste gegen die Freilassung festgenommener Jugendlicher.460 Im Volkspolizeikreisamt Reichenbach war man verärgert, dass sich die SED nicht hinter die Volkspolizei stelle und fragte „In welchem Auftrag handeln die Sicherheitskräfte eigentlich, dass jetzt die Partei gegenüber der Kirche und oppositionellen Gruppen den lieben Onkel spielt ?“ und gleichzeitig Volkspolizei- Angehörige bestrafen lasse. Wenn die SED sich nicht hinter die Volkspolizei stelle, sei man nicht mehr bereit, „Menschenansammlungen auseinanderzutreiben“.461 In Flöha verlangten Volkspolizei - Angehörige, dass auch von den Übergriffen auf sie berichtet werde. Derzeit werde die Schuld allein bei ihnen gesucht. Hier wurde auch die Befürchtung geäußert, dass bald „das Positive aus der Vergangenheit nicht mehr zählt“.462 Auch im Volkspolizei - Revier Aue verstanden die Angehörigen nicht, warum sie nun für ihren Einsatz bestraft werden sollten.463 In Oschatz versicherte man sich bei einer Stabsbesprechung, als „Kommunist in Uniform“ fest hinter der SED zu stehen. Die Volkspolizei sei Teil der SED. Auch weiterhin sei der „Schutz der Arbeiter - und Bauern - Macht“ Voraussetzung der Arbeit.464 Unterstützung erhielten die Volkspolizisten von 454 Vgl. Neues Deutschland vom 19. 10. 1989. 455 Zit. bei Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 19. 456 Erklärungen des Neuen Forums am 24. 10. 1989 zu Privilegien, zur Volkskammersitzung und zur Medienreform. In : Wir sind das Volk 2, S. 17–19. 457 Vgl. Dickel an Chefs der BDVP 1–16 vom 24. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023, EA 400). 458 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24. 10. 1989, Anlage 1 : FS an alle 1. Sekretäre der SED - BL und - KL ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2354). 459 Vgl. KDfS Annaberg vom 22. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2280, Bl. 94– 97). 460 Vgl. KDfS Hainichen vom 23. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 39–41). 461 KDfS Reichenbach, IM - Bericht vom 24. 10. 1989 : VPKA Reichenbach hinsichtlich der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft gegen die Sicherheitskräfte bei angeblich brutalem Polizeieinsatz ( ebd. 541, 1, Bl. 10 f.). 462 KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 73–77). 463 Vgl. KDfS Aue vom 24. 10. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 49–53). 464 VPKA Oschatz, Protokoll der Stabsdienstbesprechung vom 20. 10. 1989 ( SächsStAL, VPKA Oschatz, 4806). Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 53.

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„progressiven Bürgern“, die fragten, „wie lange wir uns noch von Provokateuren erpressen lassen“.465 Hier gab es Unverständnis darüber, dass sich die Volkspolizei - Angehörigen, die für die SED „unter Einsatz ihrer Gesundheit und teilweise auch ihres Lebens Ruhe und Ordnung wieder herstellten“ jetzt von „negativen Kräften“ angezettelte Untersuchungen über sich ergehen lassen müssten.466 Angehörige des Volkspolizeikreisamtes Hohenstein - Ernstthal werteten die Reaktion der Staatsanwaltschaft „als Misstrauensantrag gegenüber den Schutz - und Sicherheitsorganen“. Die SED dürfe sich deswegen nicht wundern, wenn es künftig Vorbehalte gegen derartige Einsätze gebe.467 Massive Proteste kamen aus der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden. Hier reagierten der Stellvertreter des Chefs und Stabschef, Oberst Grellert, sowie der Stellvertreter Operativ, Oberst Lissel, „äußerst erbost“ auf ein Inter view des Bezirksstaatsanwaltes, Lindner, bei dem er in der „Sächsischen Zeitung“ vom 20./21. Oktober eine Untersuchung der Übergriffe forderte. Major Herold ( Abt. Finanzen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei ) meinte, „statt uns den Rücken zu stärken, Verstöße aufzudecken, wird eine allgemeine Gegenhaltung zur VP geradezu provoziert, als wenn der Bezirksstaatsanwalt nichts damit zu tun hätte“. Oberstleutnant Fuchs ( Abt. Organisation der BDVP ) meinte : „Das nächste Mal lassen wir sie randalieren; mal sehen, was die Herren der Staatsanwaltschaft dann machen.“ Hauptmann Wotocek ( Abt. SV ) erklärte : „Keine Linie mehr, allen werden die Knie weich, jeder will sich sauber waschen.“ Andere meinten, dass jetzt die Volkspolizei - Angehörigen die „Dummen“ seien, obwohl sie nur den Willen der SED umgesetzt hätten. Hauptmann Krug von der 8. Volkspolizei - Bereitschaft erklärte, jetzt werde „ein Schuldiger gesucht“, den man „der Kirche zum Fraß“ vorwerfen könne. Der Sekretär der Parteigrundorganisation der 8. Volkspolizei - Bereitschaft, Major Petzold, reichte seine Versetzung in die Reserve ein und erklärte : „Dafür, dass ich als Offizier und die anderen Angehörigen konsequent den uns gestellten Klassenauftrag und damit auch den Fahneneid erfüllten, müssen wir uns, ohne dass staatlicherseits konsequent dagegen eingeschritten wird, in der Öffentlichkeit als Schlägerpolizei hinstellen lassen.“ Ähnlich waren die Reaktionen in der StVE Bautzen I. Deren Leiter Sternberg bestritt, dass es Übergriffe überhaupt gegeben habe. Er könne es nicht fassen, „dass derartige Verleumdungen zugelassen werden und sich niemand schützend vor die VP stellt“. Schüler der Fachschule des MdI für den Strafvollzug in Radebeul, die sich durch besondere Brutalität hervorgetan hatten, fragten, „warum die Einweisung der Kräfte so erfolgte“, wenn man dies jetzt kritisiere. Inzwischen lagen auch die Ergebnisse der von Nyffenegger geleiteten Untersuchungen vor. Danach kam es „in Einzelfällen zu Überspitzungen bei der Anwendung volkspolizeilicher Hilfsmittel, wie z. B. Schlagstock“. Ausgelöst wurde dies demnach, weil sie während der Einsätze am Dresdner Haupt465 SED - BL Leipzig vom 25. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 18–20). 466 KDfS Hainichen vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 34– 38). 467 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 40–42).

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bahnhof erlebten, „wie brutal und rücksichtslos die Demonstranten gegen VP Angehörige losgingen“. Die Prügelnden hätten gesagt bekommen, es handele sich bei den Zugeführten um den „harten Kern“, um Stein - und Brandflaschenwerfer. Einige Volkspolizei - Angehörige waren „infolge eines 36-stündigen Dienstes nervlich überlastet“.468 Am 26. Oktober wies Dickel in Abstimmung mit dem Generalstaatsanwalt an, DDR - weit alle Beschwerden zu prüfen und auf Proteste „offensiv zu reagieren“,469 was nun in allen betroffenen Kreisen zu entsprechenden Aktivitäten der Kreisstaatsanwälte und damit verbunden Auseinandersetzungen führte.470 Auslöser waren oft öffentlich in Kirchen vorgetragene Berichte Betroffener,471 die Übergriffe der Sicherheitskräfte waren aber, wie z. B. in Freiberg, auch Themen bei Sitzungen von Kreistagen.472 Aus Sicht des MfS versuchten kirchliche Kräfte so, „die angefachte Hysterie gegen die Schutz - und Sicherheitsorgane sowie die führenden Genossen der SED weiter anzuheizen“.473 In der Tat war der Ärger der Volkspolizei berechtigt, hatten sie doch nur die Anweisungen des SED - Regimes ausgeführt. Durch die öffentlich und inzwischen auch in Presse und Medien ausgetragenen Debatten über die Übergriffe um den Jahrestag lenkte die SED nun einen Teil des Volkszorns auf die Volkspolizei und andere Sicherheitskräfte. Ende Oktober wurden „Uniformträger der Schutz - und Sicherheitsorgane“ in der Öffentlichkeit beschimpft.474 So wurde an den Briefkasten eines Offizier der 8. Volkspolizei - Bereitschaft in Dresden „Bullenschwein“ geschrieben. Einem anderen wurde eine tote Ratte auf das Fensterbrett gelegt. Viele Volkspolizei Angehörige waren wegen der feindseligen Haltung der Bevölkerung und der Ankündigung strafprozessualer Maßnahmen „stark besorgt und verunsichert“. Immer mehr äußerten den Wunsch, in Zivil zum Dienst erscheinen zu dürfen.475 Parallel zu Parteiaustritten bemühten sich etliche Volkspolizei - Angehörige, ihren 468 BVfS Dresden, VII vom 25. 10. 1989 : Aufgabenerfüllung der VP - Angehörigen im ZZP der 8. VPB und der StVE I Bautzen ( ABL, EA 891025_4). Vgl. BDVP Dresden vom 26. 10. 1989 : Lage im Monat Oktober 1989 ( ebd. 891026_1). 469 Dickel an Chefs der BDVP 1–16 vom 26. 10. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 54023, EA 400). 470 Vgl. KDfS Reichenbach : Gespräch des Vorsitzenden des RdK und des Amtsleiters des VPKA mit Superintendent Küttler am 25. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 2, Bl. 116 f.); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 28. 10. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 28./29. 10. 1989. 471 Vgl. MFS, ZOS vom 31.10.–1. 11. 1989 : Bericht ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 253– 255); KDfS Glauchau vom 30. 10. 1989 : Veranstaltungen der St. Georgenkirche Glauchau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 68 f.). 472 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 2. 12. 1989. 473 KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449). 474 MfS, DB Ltr. der AGL vom 23. 10. 1989. In : Stasi intern, S. 340. Vgl. Klemens ( Hg.), Geheime Verschlusssache, S. 213; Mielke an Leiter der BVfS vom 31. 10. 1989 ( ABL, FVS Dresden o008, 3). 475 MfS vom 30. 10. 1989 : Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 13 f.); BVfS Dresden, VII vom 25. 10. 1989 : Aufgabenerfüllung der VP - Angehörigen im ZZP der 8. VPB und der StVE I Bautzen ( ABL, EA 891025_4).

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Dienst zu quittieren. Allgemein wurde eine Zunahme von „Erscheinungen wie unklare Haltungen, Schwankungen und kapitulantenhaftes Verhalten“ registriert.476 Intern dauerten die Proteste unter Volkspolizei - Angehörigen dagegen an, ihnen nun den Schwarzen Peter zuzuschieben. Für viele war es unverständlich, dass sie sich nun plötzlich „für ihre Standhaftigkeit entschuldigen“ sollten.477 Sie hatten keine Lust, die Rolle als „Prügelknaben“ zu übernehmen.478 Hinter den Kampagnen, die nun auch in den DDR - Medien liefen, sahen sie Vertreter der Kirche, „die erst für eine solche Eskalation gesorgt hätten“.479 Innerhalb weniger Wochen hatten sich die Bewertungsmaßstäbe verschoben. Hatten prügelnde Polizisten noch Anfang Oktober nur den politischen Willen des totalitären SED - Regimes umgesetzt, so setzte sich die SED unter Krenz im Laufe des Oktober von der Gewaltpolitik Honeckers ab. Unter dem Druck öffentlicher Proteste distanzierte man sich von den Übergriffen und hielt es für die geeignete Strategie, die Volkspolizei - Angehörigen als Bauernopfer anzubieten. Diese verstanden die Welt nicht mehr, waren sie doch noch kurz zuvor für ihre Brutalität als besonders wachsame Verteidiger der Klasseninteressen gelobt worden. Diese Umorientierung sorgte für Verwirrung und Verärgerung. Seitens der Führung versuchte man die Stimmung in der Volkspolizei durch eine Doppelstrategie zu beruhigen. Öffentlich zeigte man sich bereit, Übergriffe untersuchen zu lassen. So beschloss der Staatsrat am 28. Oktober sogar eine Amnestie u. a. für alle, die bei einer Demonstration für Demokratie „Straftaten gegen die staatliche oder öffentliche Ordnung“ begangen hatten.480 Intern wies Krenz die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen jedoch an, den Schutz - und Sicherheitsorganen „für die öffentliche Ordnung und Sicherheit Dank und Anerkennung unserer Partei“ auszusprechen. Ihr „insgesamt besonnenes Verhalten“ habe dazu beigetragen, größere Schäden für den Sozialismus abzuwenden. Dies deutlich zu sagen, sei wichtig, denn „darauf müssen wir uns auch künftig verlassen können“.481 Auch der stellvertretende Innenminister, Wagner, dankte allen dem MdI unterstehenden Einheiten für ihr „mutiges, entschlossenes und diszipliniertes Handeln“. Auch künftig dürfe „der Gegner“ nicht unterschätzt werden, der mit seinen „scheinheiligen Reformvorschlägen“ den Sozialismus untergraben wolle. Nach den um den 40. Jahrestag „provozierten Ausschreitungen gegen die Schutz - und Sicherheitsorgane“ setze der „Klassengegner“ nun auf „gewaltfreie Demonstrationen und andere staatsfeindliche Aktivitäten“. Darauf müsse man sich jetzt einstellen.482 476 BDVP Parteiinformation 34/89, o. D. ( SächsStAL, BDVP, 1). 477 KDfS Brand - Erbisdorf vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 1, Bl. 18–30). 478 KDfS Zwickau vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd. 2146, 1, Bl. 23–27). 479 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 29. 10. 1989 : Lage ( ebd. 1812, Bl. 45–48). 480 Beschluss des Staatsrates der DDR über eine Amnestie vom 27. 10. 1989. In : Neues Deutschland vom 28. 10. 1989. 481 Leiter der BVfS Karl - Marx - Stadt an Leiter der DE vom 30. 10. 1989, Anlage, S. 2 ( BStU, ASt. Chemnitz, Mappe Herbst 1989). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 25. 482 MdI : Ausführungen des Stellvertreter des Ministers für die Arbeitstagung am 31.10./ 1. 11. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52352).

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Proteste in den Betrieben – Kritik am FDGB

Besonderes Augenmerk richtete das Regime auf die VEB, die Zentren der „herrschenden Arbeiterklasse“. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Rolf Opitz, betonte, alle Anstrengungen müssten „auf die Wirksamkeit in den Betrieben gerichtet sein“, weil „der Hauptpartner des Dialogs die Arbeiterklasse“ sei. Durch den Dialog müsse man die dortige Lage in den Griff bekommen, „mit dem Ziel, Fehlerdiskussionen nicht zuzulassen“.483 Auch in Dresden waren alle „Anstrengungen unter Führung der Bezirksleitung“ der SED darauf ausgerichtet, „alles zu tun, um zu verhindern, dass die feindlich - negativen Kräfte Einfluss auf und unter der Arbeiterklasse erhalten“. Vor allem in den Betrieben wurde um eine „stabile politische Situation“ gekämpft.484 Oft hatten die Funktionäre aber keine Lust mehr, sich den Fragen und Vorwürfen der frustrierten Arbeiter zu stellen. Sie blieben lieber in ihren Büros, wussten sie doch, dass die Arbeiter nicht über die Zukunft des Sozialismus diskutieren, sondern mit ihnen abrechnen wollten. So fielen die von oben angeordneten Dialoge oft aus. Arbeiter des Kreisbetriebs für Landtechnik Brand - Erbisdorf protestierten daher, ihnen werde der Dialog verweigert.485 Auch im VEB Dampfkesselbau sowie im Karosseriewerk Meerane forderten die Arbeiter, dass sich die Funktionäre endlich dem Gespräch stellen.486 Im VEB Karosseriewerk Meerane, wo es ebenfalls noch keinen Dialog gegeben hatte, hieß es, „die leitenden Kader fürchten wohl das Arbeiter wort, das die Wahrheit zum Inhalt hat“. Ähnlich sah es im VEB TW Palla und beim Kraftverkehr Glauchau aus.487 Im VEB Barkas Frankenberg meinten die Arbeiter zwar, der Dialog diene ohnehin nur der Beruhigung, bestanden aber trotzdem darauf, über betriebliche Probleme zu reden.488 Aus dem Kreis Glauchau hieß es, dass die Arbeiterklasse in den Betrieben nicht begreife, warum es bisher keinen ausreichenden Dialog gebe.489 Im WtB Pirna herrschte ebenfalls „Funkstille“. Weder wurde mit den Kollegen am Arbeitsplatz gesprochen, noch gingen von der staatlichen oder Gewerkschaftsseite Impulse aus.490 Im VEB Baumwollspinnerei Mittweida hing ein großes Schild „Wir fordern Dialog“. Auf einer schließlich erzwungenen Betriebsversammlung wurde scharfe Kritik an den Funktionären und leitenden Kadern geübt. So wurde 483 Festlegungsprotokoll der Dienstberatung des Vorsitzenden des RdB Leipzig mit den Mitgliedern des RdB, OB Stadt Leipzig und dem Vorsitzenden des RdK vom 27. 10. 1989 (SächsStAL, 18655). 484 BVfS Dresden vom 3.–8. 10. 1989 : Lage ( ABL, Dresden ). Da Dialoge oft in Betrieben durchgeführt wurden und sich deren Mitarbeiter an Demonstrationen und Dialogen außerhalb der Betriebe beteiligten, ist eine genaue Trennung weder möglich noch geboten. 485 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 18. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 83–85). 486 Vgl. KDfS Glauchau vom 21. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23). 487 KDfS Glauchau vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 18–20). 488 Vgl. KDfS Hainichen vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 23–26). 489 Vgl. KDfS Glauchau vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 18–20). 490 Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 31. 10. 1989.

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gefragt, wie lange die SED noch die Vormundschaft über die Gewerkschaft ausüben wolle und gefordert, die SED aus dem Betrieb zu entfernen.491 Die zu erwartende Abrechnung war natürlich auch der Grund, warum sich viele Funktionäre dem Gespräch verweigerten. Andere waren einfach ignorant oder glaubten, wie bisher mit Drohungen der Lage Herr zu werden. Im VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf z. B. ließ die Betriebs - , Partei - und FDGB Leitung lapidar über einen Aushang mitteilen, es gehe jetzt darum, „mehr zu arbeiten und als Antwort zur gegenwärtigen Lage und Situation noch bessere Arbeitsergebnisse zu erbringen“.492 Der SED - Sekretär des VEB Fleisch - und Wurstwaren Annaberg erklärte protestierenden Mitarbeitern : „Wenn ihr keine Einsicht zeigt, rufe ich an und lasse euch mit der ‚Acht‘ abholen.“493 Schnell hatte sich herumgesprochen, dass nach Dialogen, bei denen Funktionäre und Leitungskader ihnen gestellte Fragen unzureichend beantworteten, Proteste und Parteiaustritte die Folge waren.494 Verärgerung gab es auch, wenn sich Partei und Staatsfunktionäre plötzlich für Forderungen einsetzten, die von den Arbeitern schon lange erhoben worden waren und wenn die Funktionäre nun so taten, als hätten sie schon immer dafür gekämpft. Von ihnen hieß es, „sie hängten ihren Mantel nach dem Wind, um nicht auf Privilegien verzichten zu müssen“. Überall wurden deshalb Kaderveränderungen auf allen Ebenen als Prüfstein für die Glaubwürdigkeit der SED - Wende gefordert.495 Im VEB Betonwerk Gersdorf ( Hohenstein - Ernstthal ) mochte niemand mehr die ideologischen Plattitüden des Parteisekretärs anhören, dessen Sohn aus der DDR geflüchtet war.496 Immer wieder ging es aber auch um Privilegien der Funktionäre. Im VEB Strickwaren Oberlungwitz ( Hohenstein - Ernstthal ) kritisierten die Beschäftigten, dass der Direktor und andere Leitungskader Erzeugnisse privat billig verkauften oder verschenkten.497 Im VEB BKW „Glückauf“ Tagebau Bärwalde ( Hoyerswerda ) wurden Unterschiede zwischen Leitungskadern und „einfachen“ Arbeitern kritisiert. Dies reiche vom „individuellen Transport bis hin zu persönlichen Privilegien“.498 Im VEB Vorrichtungsbau Hohenstein - Ernstthal stand „Schlamperei und fehlende Sachkenntnis“ der staatliche Leiter in der Kritik.499 Im VEB Möbelstoff - und Plüschwerke Hohenstein - Ernstthal wurden eine Bestrafung und 491 KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 7–11). 492 KDfS Brand - Erbisdorf vom 18. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 83–85). 493 KDfS Annaberg vom 26. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 30–32). 494 KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449). 495 MfS vom 30. 10. 1989 : Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 6). 496 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 16. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 65–67). 497 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 23. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 45–47). 498 KDfS Hoyerswerda vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BV Cottbus, AKG 1799, Bl. 9–13). 499 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 21. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 48–52).

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Absetzung unfähiger Funktionäre verlangt : „Dialog ja, aber nicht mit solchen Personen und Funktionären, die über die Jahre alle ernst gemeinten Hinweise und Kritiken, Mängel und Missstände ignorierten.“ Hier wurde ein Ende der Privilegien und der Arbeit hauptamtlicher Funktionäre gefordert.500 Angesichts der harschen Vorwürfe schickte die Partei lieber Kreisfunktionäre in die Betriebe, weil diese die Verantwortung besser abschieben konnten.501 Einen Dialog, so wie ihn sich das Regime eigentlich wünschte, beschrieb die „SZ“ am 26. Oktober. Dabei spielte es für die Zeitung keine Rolle, dass er frei erfunden war. Demnach wandten sich die Freitaler Edelstahlwerker kollektiv an alle Werktätigen der DDR und stellten ihre Erfahrungen zur Diskussion, „wie sie mit besseren Leistungen den Sozialismus attraktiver machen wollen“. In den Partei - und Arbeitskollektiven habe man die „Verantwortung der Arbeiterklasse für die lebendige Ausgestaltung des Sozialismus und des Veränderungsprozesses geklärt“ und festgestellt, „dass nur durch ein Wachstum der eigenen Arbeitsleistungen“ etc. Fortschritte zu erreichen seien. Forderungen nach höherem Lohn und niedrigen Preisen könnten nur realisiert werden, „wenn vorher mehr und effektiver produziert wird“. In diesem Sinne gehe es um die „eigene Verantwortung für die Ausgestaltung des Sozialismus“.502 Ähnliche Initiativen, etwa aus dem VEB Elektroinstallation Annaberg,503 denen allzu deutlich die Handschrift eifriger Funktionäre anzumerken war, griffen freilich angesichts der verbreiten Überzeugung nicht, die Missstände seien nicht auf unzureichende Arbeitsleistungen, sondern auf Systemdefizite des Sozialismus zurückzuführen. Und auch aus Freital, dem „Zentrum der Arbeiterklasse“, kamen längst andere Signale, die zeigten, dass es gerade die Stahlwerker waren, die das Regime mit am deutlichsten kritisierten. So entsprach denn der nach wie vor verlogenen Berichterstattung eine andere Wirklichkeit bei den Dialogen. Ehrlicher war hier das MfS, das von aufgeheizten Atmosphären wie z. B. im VEB Panther Schuhfabrik Ehrenfriedersdorf ( Zschopau ) berichtete.504 Die Fragestellungen waren, wie z. B. im VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf, „hart, zum Teil provokatorisch“. Ausführlich ist eine Dialogveranstaltung im VEB Leuchten Leuchtstoff lampenwerk Narva Brand - Erbisdorf beschrieben. Hier hieß es, die SED sterbe gerade ab. Der BGL - Vorsitzende komme „nur zum Saufen in das Glaswerk“, der Direktor sage „nicht mal Guten Morgen zu den Arbeitern. Die Funktionäre hätten alle Waffen. Man wolle keine Vorträge der Funktionäre mehr anhören, sondern lieber Satellitenfernsehen empfangen. Die Parteileitung 500 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 23. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 45–47). 501 Vgl. SED - KL Schmölln vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 87); KDfS Hainichen vom 19. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, Band 2, Bl. 27 f.); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 21./22. 10. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 27. 10. 1989; Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 28. 10. 1989; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 31. 10. 1989. 502 SED - BL Dresden vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, AKG 7001, Bl. 148–150). 503 Vgl. KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 85–88). 504 Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 31. 10. 1989.

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sei unfähig, eine BGL gebe es nicht wirklich, und die staatliche Leitung sei arrogant. Kampfgruppen und Funktionärsprivilegien gehörten abgeschafft, Kampfgruppen knüppelten Arbeiter ohnehin nur nieder. Schnitzler, „dieses Schwein“, müsse abgesetzt werden. „Warum“, so die Arbeiter, „haben sie nur die großen Autos? Warum können sie überall hinfahren? Warum haben sie eigene IntershopLäden ?“ Warum gebe es nur dann ordentliches Fleisch in der Kaufhalle, wenn Funktionärsdelegationen erscheinen ? Warum machen die Funktionäre um die Arbeiter „einen Bogen“ ? Warum müssten immer 60 Prozent aller Ausgezeichneten SED - Mitglieder sein ?505 Beim Dialog mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Marienberg, Horst Carlowitz, im VEB Glaswerk Olbernhau ging es „bis hin zu persönlichen Angriffen und Beleidigungen“, was „vom überwiegenden Teil der Anwesenden mit starkem Beifall bedacht“ wurde. Besonderen Zuspruch fanden Angriffe gegen die Volkspolizei und das MfS.506 Ähnlich sah es im VEB Elektroinstallation Deutschneudorf aus.507 Die SED - Kreisleitung Altenburg stellte resigniert fest, die entstandene Lage werde hauptsächlich der Partei angelastet, wobei die Diskussionen „oft der Sachlichkeit entbehren“ sowie „aggressiv und unduldsam geführt“ würden.508 Es spricht für die Ignoranz der Machthaber, wenn die SED - Kreisleitung hier behauptete, viele Kollegen würden zwar Veränderungen in kürzester Zeit fordern, ohne aber „selbst im eigenen Betrieb ihnen bekannte Missstände“ zu klären.509 Tatsächlich hatten Beschäftigte überall in den Betrieben immer wieder auf Probleme und Missstände hingewiesen, wegen des Wirtschaftssystems aber hatte sich dennoch kaum etwas geändert.510 Der Haltung des Regimes war es zu verdanken, dass es einen enormen Erwartungsstau in Bezug auf Lösungen betrieblicher Probleme gab. Die Meinung von Meistern und Brigadieren im VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg, dass die DDR „keine Reformen benötigt“,511 dürfte wohl die absolute Ausnahme gewesen sein. Generell war in den Betrieben die Meinung vorherrschend, dass Veränderungen ohne Änderungen in der Wirtschaftsweise keine Chancen haben würden.512 Hier reichten die Vorstellungen von einer Reform der Planwirtschaft bis zur Einführung einer freien Marktwirtschaft.513 Sehr verbreitet 505 KDfS Brand - Erbisdorf vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 1, Bl. 18–30). 506 KDfS Marienberg vom 25. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 159 f.). 507 KDfS Marienberg vom 6. 11. 1989 : Info ( ebd., Bl. 123 f.). 508 SED - KL Altenburg vom 25. 10. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 173– 178). 509 SED - KL Altenburg vom 25. 10. 1989 ( ebd., Bl. 173–178). 510 Vgl. KDfS Hainichen vom 23. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 39–41); KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( ebd., Bl. 7–11). 511 KDfS Schwarzenberg vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 542, 1, Bl. 32–41). 512 Vgl. KDfS Glauchau vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 31–34). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 31. 10. 1989. 513 Vgl. Gesprächsprotokoll des Bürgerforums vom 30. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ); KDfS Brand - Erbisdorf vom 20. 10. 1989: Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 71–76); SED - SL Leipzig vom 26. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 885).

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war die Forderung nach Einführung eines Leistungsprinzips im Lohnsystem, womit sich bei den Arbeitern die Hoffnung verband, die Funktionäre würden weniger Lohn, sie selbst aber mehr verdienen.514 Ebenso wurde immer wieder eine Stärkung der Kommunen gegenüber den Betrieben und umgekehrt mehr Eigenverantwortung der Betriebe gegenüber Kombinaten, wirtschaftsleitenden Organen und den Kreisleitungen der SED gefordert515 sowie ein Ende der Praxis verlangt, Wirtschaftskapazitäten nach Berlin abzuziehen.516 In Berlin ließ es sich auf Kosten der Bezirke treff lich über Modifizierungen des Sozialismus streiten, in Sachsen hatte man dafür wenig Verständnis. Viele Vorschläge bei den Dialogveranstaltungen betrafen die konkreten Produktionsabläufe in den jeweiligen Betrieben. Es ging um Fragen der Materialzulieferung, fehlende Ersatzteile, das Schichtsystem, die Kontinuität und Qualität der Produktion, eine sortimentsund bedarfsgerechte Produktion, um Probleme innerbetrieblicher Organisation, durch die Stillstandszeiten entstanden, um veraltete Maschinenparks, um Arbeitsmoral und die Ausnutzung der Arbeitszeit.517 Immer wieder thematisiert wurden Plan - und Zahlenmanipulationen.518 In diesem Zusammenhang stand die Subvention von Lebensmitteln in der Kritik, deren Abbau überall gefordert wurde.519 Weitere Themen waren der Handel und die Exportrentabilität von DDR - Produkten.520 Vor allem Arbeiter forderten, die DDR solle sich von „Westgeld“ unabhängig machen, Westexporte einschränken, und stattdessen die Ver-

514 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 24. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 43–44); KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( ebd. 534, 1, Bl. 7–11); KDfS Schwarzenberg vom 23. 10. 1989 : VEB Formenbau Schwarzenberg ( ebd. 1818, Bl. 12 f.); KDfS Auerbach vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 19–21); KDfS Freiberg vom 24. und 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 31–36); KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447–449); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 31. 10. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 17. 10. 1989. 515 Vgl. Gesprächsprotokoll des Bürgerforums vom 30. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ); KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447–449). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 26. 10. 1989. 516 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44); KDfS Freiberg vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 31– 33). 517 Vgl. KDfS Stollberg vom 25. 10. 1989 : LPG Jahsdorf ( ebd. 534, St. 45); KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( ebd. 534, 1, Bl. 7–11); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 17. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 56–64); KDfS Schwarzenberg vom 23. 10. 1989 : VEB Formenbau Schwarzenberg ( ebd. 1818, Bl. 12 f.); SED- BL Leipzig vom 23. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 27. 10. 1989. 518 Vgl. SED - BL Leipzig vom 24. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 21– 24); KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 73–77). 519 Vgl. KDfS Glauchau vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 534 und 533, 2, Bl. 31–34); KDfS Brand - Erbisdorf vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 1, Bl. 71–76). 520 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 31. 10. 1989.

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sorgung der Bevölkerung spürbar verbessern.521 Das Gefühl der „herrschenden Klasse“, gegenüber den Funktionären benachteiligt zu sein, war allerorts spürbar. Zu Feiern würden nur „Bonzen“ eingeladen,522 an den Arbeits - und Hygienebedingungen sowie niveauvollen Ferienplätzen werde überall gespart.523 Ein zentraler Kritikpunkt war die ausufernde Bürokratie. Sie sollte zugunsten des produktiven Bereichs reduziert und die Funktionäre in die Produktion geschickt werden.524 Für Ärger sorgten die Privilegien der „Bonzen“ aller Ebenen. Die Kritik galt hier z. B. dem „Verschleudern von Devisen für den Kauf von Pkw westlicher Produktion“, dem Bau und der Ausstattung von Wohn - und Ferienhäusern in landschaftlich attraktiven Gegenden für Funktionäre und die damit verbundene Sperrung dieser Gebiete für die Bevölkerung, Einkaufsmöglichkeiten in Sonderverkaufsstellen, die Übertragung von Privilegien auf Kinder und Enkel, personengebundene Jagdgebiete und Sonderobjekte sowie die kostenlose Versorgung von Familienangehörigen von Nomenklaturkadern in Gästehäusern an Wochenenden und Feiertagen.525 Nicht nur deswegen wurde überall eine Reduzierung oder Abschaffung der Funktionäre in der Wirtschaft verlangt. Dies ging einher mit der Forderung, die SED aus den Betrieben zu entfernen und die Führung in die Hand von Fachkräften zu legen.526 Mit der Dominanz der SED in den Betrieben standen zugleich die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ zur Disposition, für die maximal eine Eingliederung in die betriebliche Feuerwehr befürwortet wurde.527 521 Vgl. KDfS Glauchau vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 31–34); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 23. 10. 1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 45– 47). 522 KDfS Hainichen vom 23. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 39–41). 523 Vgl. KDfS Hainichen vom 17. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 59–61); KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( ebd., Bl. 7–11); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 31. 10. 1989. 524 Vgl. KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 73–77); KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447–449); SED - SL Leipzig vom 27.–30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 1–9); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 31. 10. 1989; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 28. 10. 1989. 525 Vgl. MfS, ZAIG vom 30. 10. 1989 : Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 9 f.); KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 73–77); BVfS Dresden vom 30. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 372). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 26. 10. 1989. 526 Vgl. SED - SL Leipzig vom 26. 10. 1989 : Info ( SächsStAL, SED - SL Leipzig, 885); BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 371); Gesprächsprotokoll des Bürgerforums vom 30. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ); KDfS Brand - Erbisdorf vom 26. 10. 1989 : Stimmung (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 43–48); KDfS Freiberg vom 24. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 34–36). 527 Vgl. KDfS Hainichen vom 2. 11. 1989 : Wir fordern Dialog – VEB Baumwollspinnerei Mittweida ( ebd. 534, 1, Bl. 7–11); KDfS Freiberg vom 24. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 34–36); BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 371); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 31. 10. 1989.

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Unterstrichen wurden die Forderungen in verschiedenen Betrieben durch Losungen. So hing am Zaun des VEB BMK Leipzig BT Süd in Lucka ( Altenburg ) ein Laken mit der Aufschrift „40 Jahre Lügen und Selbstbereicherung die sind keine Stimme“.528 An der Wandzeitung des VEB Narva Brand - Erbisdorf hingen Zettel mit Forderungen wie „Kampfgruppen weg“, „Harry Tisch weg“ und „Schnitzler das Schwein weg“.529 Im VEB Behälter - und Maschinenbau Mittweida hing ein Flugblatt am Schwarzen Brett, auf dem es u. a. hieß : „Wir wollen Wahrheit – keine Taktik, freie Wahlen – jetzt, Zulassung neuer politischer Gruppen und Parteien. Wir brauchen Rechtssicherheit, keine Staatssicherheit. Bürger, Soldaten, Polizisten, gemeinsam sind wir stark !“ An anderer Stelle des Betriebes stand ein Schild mit der Aufschrift „Reisefreiheit“ und „Freie Wahlen“.530 Überall in den Betrieben traten inzwischen Vertreter des Neuen Forums auf, gab es Unterschriftensammlungen oder Initiativen zur Bildung von Betriebsgruppen, wurde der Aufruf verbreitet oder durch Losungen für das Neue Forum geworben. Das Neue Forum hatte in den Betrieben in Sachsen einen sehr starken Rückhalt. Von sozialistischen Erneuerungen war kaum die Rede. FDGB : Verbunden mit den wachsenden Protesten in den Betrieben wuchs die Kritik am FDGB und schlug sich in immer zahlreicher werdenden Austritten selbst ganzer Kollektive nieder.531 FDGB - Vorsitzender Harry Tisch meinte am 13. Oktober, jetzt gelte es, „in einem vertrauensvollen, überlegten, vernünftigen Dialog mit allen Werktätigen die vorhandenen Probleme zu erörtern“.532 Die Werktätigen aber wollten nicht mehr mit Tisch dialogisieren, sondern forderten stattdessen seinen Rücktritt.533 Es gab Meinungen wie : „Wenn Harry Tisch bleibt, treten wir aus.“534 Der Bundesvorstand sei „nicht in der Lage, die Interessen der Arbeiter zu vertreten“.535 Tisch habe „maßgeblichen Anteil an der fehlenden Interessenvertretung der Arbeiterklasse“ und stelle sich jetzt so dar, als sei er schon immer ein Gewerkschaftserneuerer gewesen.536 Er spreche, so 528 VPKA Altenburg vom 29.–30. 10. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Altenburg ). 529 KDfS Brand - Erbisdorf vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2144, 1, Bl. 18–30). 530 KDfS Hainichen vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 534, 1, Bl. 44–48). 531 Vgl. SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47); BVfS Dresden vom 14. 10. 1989 : Info ( ebd., Stellv. Operativ 15, Bl. 37–42); KDfS Freital vom 23. und 27. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., LBV 10917, Bl. 443–449); KDfS Glauchau vom 11. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 37–39); KDfS Flöha vom 24. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 73–77). 532 Tribüne vom 13. 10. 1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik 1, S. 114. 533 Vgl. KDfS Freiberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 19– 21); FDGB vom 26. 10. 1989 : Stimmung und Meinungen der Mitglieder nach der 10. Tagung der Volkskammer der DDR. In : Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 134– 138. 534 SED - KL Delitzsch vom 31. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). 535 KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449). 536 SED - BL Leipzig vom 24. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 21–24); SED- KL Altenburg vom 25. 10. 1989 ( ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 173–178);

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hieß es, „mit gespaltener Zunge“, lasse sich sein Mittagessen aus West - Berlin bringen, seine Familie mache Urlaub in Dänemark.537 Die Kritik schlug sich in Protestschreiben an den FDGB - Bundesvorstand nieder, in denen die FDGB Basis auch selbst Änderungen vorschlug.538 Für die SED besonders bedenklich war der Vorwurf, der FDGB sei der verlängerte Arm der SED.539 Bei einer Beratung ehrenamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre in Zittau am 26. Oktober meinten BGL - Vorsitzende, die Gewerkschaft sollte wieder „zu ihrer eigentlichen Funktion zurückkehren“. Sie sei nicht frei.540 In einem offenen Brief aus Zschopau hieß es, der FDGB sei in seiner jetzigen Organisations - und Abhängigkeitsstruktur nicht in der Lage, seine Verantwortung als Interessenvertreter der Werktätigen wahrzunehmen. Bis in die Kreisvorstände wurde die Frage der Trennung von SED und FDGB stark diskutiert.541 Eine Folge der Krise des FDGB waren Forderungen nach Bildung einer neuen Gewerkschaft.542 Am 17. Oktober traten Mitarbeiter des Geräte - und Reglerwerkes „Wilhelm Pieck“ in Teltow aus dem FDGB aus, gründeten die unabhängige Betriebsgruppe „Reform“ und riefen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften auf.543 Was die „Partei der Arbeiterklasse“ von unabhängigen Interessenvertretungen der Arbeitenden hielt, formulierte Günther Jahn, 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Potsdam, am 27. Oktober bei einer Besprechung mit Krenz : Alle Ansätze zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften „müssen im Ansatz liquidiert werden“.544 Tatsächlich war die Lage aber bereits eine andere, und die eigentliche Abrechnung mit dem FDGB stand noch bevor. Ab Ende Oktober gerieten auch die Pri-

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KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449). KDfS Auerbach vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 19– 21). BVfS Dresden vom 14. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, Stellv. Operativ 15, Bl. 37– 42); KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., LBV 10917, Bl. 447–449). KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 447–449); PB Matthias Zwarg (HAIT, StKa ); KDfS Auerbach vom 30. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 19–21); KDfS Riesa vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, XX 9196, Bl. 32–38); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 28. 10. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 26. 10. 1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 27. 10. 1989. Vgl. KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447–449); SED - KL Delitzsch vom 31. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447– 449); KDfS Zwickau vom 25. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 51– 54). Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Unabhängige Betriebsgewerkschaft „Reform“, VEB GRW Teltow vom 17. 10. 1989. In : SED - BL Potsdam vom 20. 10. 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 432/433). Vgl. Interview mit Ralf Börger. In : Der Spiegel vom 30. 10. 1989. Günther Jahn, Konzeption für mein Auftreten auf der Beratung des Generalsekretärs des ZK der SED mit den 1. Sekretären der SED - BL am 27. 10. 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 4).

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vilegien der „Gewerkschafts“ - Funktionäre ins Visier der Protestierenden. Am 31. Oktober berichtete die „Berliner Zeitung“ über den Bau eines Einfamilienhauses des Vorsitzenden des Zentralvorstandes der IG Metall, Gerhard Nennstiel : „Zwei Etagen mit reichlich 200 m2 Wohnfläche, zehn Räume, Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die Fenster sind BRD - Import, ein zweistöckiger Wintergarten ist im Entstehen.“ Die Baukapazität wurde aus der FDJ - Initiative Berlin abgezogen. Diese erste Veröffentlichung über Amts - und Machtmissbrauch löste unter der Bevölkerung Empörung und Unruhe aus und führte bereits am 1. November zum Rücktritt Nennstiels. Vor allem aber geriet Tisch in die Kritik. Auf einer Sitzung des Präsidiums des FDGB stellte er Ende Oktober die Vertrauensfrage. Fast alle Präsidiumsmitglieder sprachen ihm das Vertrauen aus. Auch das Politbüro stellte sich hinter Tisch.545 Der Bundesvorstand gab bekannt, dass über eine grundsätzliche Wende in der Arbeit des FDGB nachgedacht werde und betonte die Anerkennung der führenden Rolle der SED.546 Die Tagung hatte eine Welle der Empörung zur Folge. Zahlreiche Mitglieder verlangten den sofortigen Rücktritt Tischs und eine Fortsetzung der Bundesvorstandssitzung.547 Deren Vertagung und die Tatsache, dass Tisch nicht zurückgetreten war, leistete „dem zunehmenden Vertrauensschwund der Gewerkschaft unter den Werktätigen Vorschub“. In verschiedenen Betrieben wurden nun Streikdrohungen laut. Im FDGB setzte eine Austrittswelle ein. Die SED stellte fest : „Mit dieser falschen Entscheidung hat der Bundesvorstand dem Klassengegner Zeit eingeräumt, die Gewerkschaften zu spalten.“548 3.7

Situation an Schulen und Hochschulen sowie in der FDJ im Oktober

Schulen : Jugendliche und junge Erwachse spielten beim Aufstand gegen das Regime die entscheidende Rolle. Sie waren angesichts der internationalen Entwicklung nicht mehr bereit, in einer kommunistischen Diktatur zu leben. Weder reizte die Aussicht, in vielleicht 40 oder 50 Jahren das erste Mal nach Westdeutschland, Österreich oder Spanien fahren zu können, noch 15 Jahre auf einen Trabant zu warten. Jugendliche waren es vor allem, die sich an den Demonstrationen beteiligten, junge Familien stellten aber auch den wesentlichen Anteil der Flüchtlinge und „Ausreiser“. Für das Regime bedeutete es eine zweite Niederlage, dass neben der „Arbeiterklasse“ vor allem große Teile der umworbenen Jugend nichts von den Segnungen der Diktatur wissen wollten. 545 Eckelmann / Hertle / Weinert, FDGB - Intern, S. 142 f. 546 Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 21–23; Tribüne vom 31. 10. 1989. Vgl. Pester / Prang, Der Umbruch, S. 207. 547 Vgl. Tribüne vom 1. 11. 1989; Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 23; Kallabis, Ade, DDR!, S. 26; Eckelmann / Hertle / Weinert, FDGB - Intern, S. 146 f.; Simon, Tisch - Zeiten, S. 140. 548 SED - BL Potsdam vom 1. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 432/433).

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Neben Flucht und Demonstrationen spitzte sich die Situation auch an den Polytechnischen ( POS ) und Erweiterten Oberschulen ( EOS ) sowie berufsbildenden Schulen im Verlauf des Oktober sukzessive zu.549 Bereits Anfang Oktober, also noch vor den großen Demonstrationen, wurde angesichts der Tatsache, dass etwa die Hälfte aller Schüler des Kreises Freital offen die Massenflucht begrüßten, seitens des MfS „eine sofortige Verbesserung der politisch - ideologischen Arbeit im Bereich der Lehrer und Erzieher“ gefordert.550 Schüler der POS in Oederan ( Flöha ) sangen in der Turnhalle gar Teile des Deutschlandliedes.551 Deutlich anders war die Haltung vieler Lehrer im Kreis Annaberg. Hier lehnten viele „sozialistische Pädagogen“ die Massenflucht ab und warfen Honecker „Schwäche und Nachgiebigkeit“ vor. Die „Assis und Arbeitsscheuen“ in den Botschaften, so meinten sie, „hätte man ruhig weiter in ihrem Schlamm warten lassen sollen“. „Zeigen wir nicht mehr Härte“, so hieß es, „werden wir uns immer wieder solche Probleme schaffen.“552 In Freital befürwortete das Pädagogenkollektiv der EOS „Hermann Matern“ das „Einschreiten der Sicherheitskräfte“ gegen die Demonstranten am Dresdner Hauptbahnhof.553 Da es überall solche Äußerungen gab, riefen vereinzelt Pfarrer die Lehrer zur Mäßigung auf. Pfarrer Reime aus Rabenau empfahl dem Direktor der dortigen Heinz - Steyer - Oberschule, Türke, sich „vorsichtiger zu äußern“. Der Kreisschulrat veranlasste daraufhin, den Pfarrer zu disziplinieren.554 Realsozialistischen Fanatikern standen freilich gemäßigte und systemkritische Pädagogen gegenüber. In Riesa meldete der Kreisschulrat dem MfS, dass der Lehrer Toralf Kosc an der Max - HölzOberschule Röderau, sich zum Neuen Forum bekenne und leitete ein Disziplinarverfahren ein.555 Im Kreis Annaberg meinten viele Lehrer, man dürfe Ursachen für die Massenflucht nicht nur im Westen suchen.556 In Dresden nahm die Zahl der Pädagogen, die gegenüber Schülern erklärten, dass es ihnen egal sei, ob Schüler an den Demonstrationen teilnahmen oder Veranstaltungen in kirchlichen Räumen besuchten, an den POS der Stadt schnell zu.557 Ab dem 9. Oktober nahm die Zahl gemeldeter „Provokationen“ von Schülern zu. Hauptthemen waren die Flucht, das Neue Forum und die Gewaltanwendung bei Demonstrationen. In Geithain fragten Schüler der EOS und der 549 Einen Eindruck vom Umbruch des Bildungssystems vermittelt Legall, Demokratie lehren, S. 139–151. 550 KDfS Freital vom 3. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 528–531). 551 KDfS Freital vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 447–449). KDfS Flöha vom 12. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 97–100). Es ist unklar, welche Teile. 552 KDfS Annaberg vom 3. 10. 1989 : Lage ( ebd. 529, 1, Bl. 84–90). 553 Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 10. 10. 1989. 554 KDfS Freital vom 7. 10. 1989 : Reaktionen und kirchliche Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 456–458); Stab der Zivilverteidigung im Bezirk Dresden vom 5.– 6. 10. 1989 : Info zu den gemeldeten Provokationen ( ebd., 1. SdL 1, Bl. 19). 555 Vgl. SED - KL Riesa vom 6. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 556 Vgl. KDfS Annaberg vom 8. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 120–124). 557 Vgl. BVfS Dresden vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, BV, 1. SdL 1, Bl. 107–110).

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POS „Juri Gagarin“, was am Neuen Forum staatsfeindlich sei.558 Im Kreis Flöha begrüßten Schüler der 9. und 10. Klassen sowie Lehrlinge das Neue Forum. Bei Disko-Veranstaltungen wurde „Forum“ und „Deutschland“ gerufen. Immer wieder wurde kritisiert, dass in der DDR nichts los sei und es zu wenig Freizeitmöglichkeiten gebe. Auch hier wurden Versorgungsprobleme, Wartezeiten für Pkw - Bestellungen und die fehlende Reisefreiheit diskutiert, die es so in der Bundesrepublik nicht gebe.559 Schüler der POS in Bobenneukirchen ( Oelsnitz ) äußerten im Wehrkundeunterricht der 9. Klasse, „was das für Schutzorgane wären, die auf das Volk einschlagen“. Laut MfS - Bericht war in dieser Klasse nach dem 9. Oktober kein normaler Unterricht mehr möglich. Es gab Zwischenrufe wie : „Wir wollen Bananen und Reisefreiheit.“ Im Wehrkundeunterricht an der POS in Adorf beantworteten die Schüler die Fragen der Lehrer demonstrativ nicht mehr. Eine Lehrerin der EOS Oelsnitz erklärte öffentlich, sie wisse auch nicht mehr so genau, warum sie eigentlich in der SED sei.560 An der EOS „Karl Marx“ Altenburg sprachen sich Schüler der Klassen 11 und 12 im Staatsbürgerkundeunterricht für das Neue Forum aus, meinten, man dürfe nicht alle Demonstrierenden als Kriminelle oder Asoziale bezeichnen und kritisierten die „Brutalität unserer Polizei in Dresden“. Da es weder Presse - noch Redefreiheit gebe, sei es „kein Wunder, dass Leute auf die Straße gehen“.561 Mit Bedauern musste die SED - Kreisleitung hier konstatieren, „dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen Probleme hat, die entstandene Lage richtig zu beurteilen und einen klaren Standpunkt zu beziehen“.562 In der EOS Görlitz verbreiteten Schüler der Klasse 11 den Aufruf des Neuen Forums und verlasen ihn gar im Staatsbürgerkundeunterricht. Die zuständige Lehrerin begrüßte dies und meinte, sie könne nicht verstehen, warum man so etwas verbiete.563 Lehrer der POS Panschwitz - Kuckau ( Kamenz ) nannten die Regierung „vernagelt“ und die Grenzschließung zur ČSSR einen Skandal. Damit würde das ganze Volk als unzuverlässig eingeschätzt.564 Auch im Kreis Bischofswerda wurden vor allem im Staatsbürgerkundeunterricht Fragen zur Entwicklung diskutiert. Hier meinten die meisten Pädagogen, man müsse neu über die Entwicklung des Sozialismus nachdenken, die SED müsse ihrer „führenden Rolle besser gerecht werden“.565 Auch im Kreis Glauchau gab es unter den Pädagogen „große Verunsicherungen im Auftreten gegenüber den Schülern“. In Meerane traten die Mitglieder der Parteileitung der Clara - Zetkin - Oberschule geschlossen aus der 558 Vgl. KDfS Geithain vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 50–53). 559 Vgl. KDfS Flöha vom 10. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 101–105). 560 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 10. 10. 1989 : Lage ( ebd. 2145, 1, Bl. 30–32). 561 RdK Altenburg vom 10. 10. 1989 : Stimmungen ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1147, Bl. 98). 562 SED - KL Altenburg vom 10. 10. 1989 : Lage an der EOS „Karl Marx“ ( ebd., Bl. 59 f.). 563 Vgl. KDfS Görlitz vom 12. 10. 1989 : Feindliche Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10989, Bl. 1–6). 564 BVfS Dresden vom 11. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., XX 9181, Bl. 226–228). 565 SED - KL Bischofswerda vom 12. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550).

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SED aus. Einzelne Lehrer waren so verunsichert, dass sie sich weigerten, mit den Schülern zu sprechen.566 Auch im Kreis Flöha wurden Austritte aus der SED gemeldet.567 Mit dem Beginn der offiziellen Dialogpolitik änderte sich die Lage an den Schulen etwas. Bei den Lehrern wuchs die Bereitschaft zur Diskussion, gegen Schüler wurden nun kaum noch Disziplinarstrafen verhängt. Im Kreis Brand Erbisdorf diskutierten Pädagogen verschiedener Schulen nun offen über das Neue Forum und setzten sich für Veränderungen ein. Mehrheitlich wurden jedoch weiterhin Demonstrationen verurteilt.568 Schüler der Fichte - Oberschule Mittweida ( Hainichen ) diskutierten mit Lehrern über Gründe der Fluchtwelle und die Rolle der FDJ. Die Schülern forderten bessere Informationen über die Missstände in der DDR und „nicht nur ‚Jubelgeschrei‘ am laufenden Band“. Sie wollten sich mit unterschiedlichen Auffassungen auseinandersetzen.569 Zwickauer Lehrer schätzten die westliche Haltung der Schüler als besorgniserregend ein. Sie seien vom Westfernsehen geprägt und die Eltern würden sich nicht mehr mit den feindlichen Argumenten auseinandersetzen. In der Staatsbürgerkundestunde einer 9. Klasse zum Thema „40 Jahre DDR – worauf kann man stolz sein, was gefällt mir nicht“, erklärten die Schüler, man dürfe seine Meinung nicht frei sagen, das Neue Forum sei verboten, es gebe keine Demokratie, friedliche Demonstranten würden niedergeknüppelt.570 In einer Erklärung der Schülerschaft der Radebeuler EOS „Juri Gagarin“ war die Rede davon, den Sozialismus zwar nicht abzuschaffen, ihn aber gemeinsam friedlich zu verändern. Nötig seien Reisemöglichkeiten, Umweltschutz und eine neue Wirtschaftsstrategie.571 In Flöha beklagten Lehrer, wegen fehlender Informationen auf Fragen der Schüler nach dem Neuen Forum keine Antwort geben zu können.572 Immer drängender stellte sich Mitte Oktober für viele SED - Lehrer und Bildungsfunktionäre die Frage nach ihrem politischen Grundverständnis. Die Krise der SED traf sie gleichermaßen. Anders als andere Funktionäre mussten sie ständig Rede und Antwort stehen. Im Kreis Geithain fragten die Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises besorgt : „Was wird aus der DDR ? Jahrelang haben wir als Pädagogen die Linie der Partei vertreten und die Jugend danach erzogen. Diese Generation hat alle Vorzüge unseres Staates genossen, und nun wird man durch sie vor den Kopf gestoßen. Entweder haben wir etwas falsch gemacht oder das Richtige nicht richtig.“573 Die Jugendlichen jedenfalls glaubten ihren Lehrern kaum noch und orientierten sich fast ausschließlich an west566 KDfS Glauchau vom 11. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 37–39). 567 Vgl. KDfS Flöha vom 12. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 97–100). 568 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 14. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 108–110). 569 KDfS Hainichen vom 13. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 62–67). 570 KDfS Zwickau vom 13. 10. 1989 : Lage ( ebd. 3078, 2, Bl. 137–142). 571 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 14./15. 10. 1989. 572 Vgl. KDfS Flöha vom 14. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 87–90). 573 KDfS Geithain vom 17. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 146, Bl. 23–26).

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lichen Medien. Im Kreis Flöha forderten immer mehr Jugendliche „Neues Forum“, Reformen und ein vereintes Deutschland. Bedenklich fand das MfS hier, dass es „keine Reaktionen positiver Jugendlicher“ gab, derartigen Erscheinungen entgegenzutreten. Begrüßt wurde allgemein der neue offene Berichtsstil der FDJ - Zeitung „Junge Welt“.574 Während der Herbstferien nutzten etliche Lehrer Weiterbildungslehrgänge zur Diskussion über die neue Situation. Sie zeigten sich zum großen Teil verunsichert, ob sie den nach den Ferien zu erwartenden Fragen der Schüler ausreichend und überzeugend Antwort geben könnten. Unsicherheit gab es besonders zum Inhalt des Staatsbürgerkunde - und Geschichtsunterrichts, zur Wehrerziehung, zur Rolle der FDJ und zur Zusammenarbeit mit den Eltern.575 In vielen Schulen wurden nun in Anlehnung an die Dialogveranstaltungen öffentliche Foren mit den Schülern durchgeführt, bei denen sich Partei - und Staatsfunktionäre in Szene setzten, aber teilweise, wie z. B. in der EOS „Ernst Schneller“ in Frankenberg ( Hainichen ), dem Pfarrer trotz Einladung durch die Schüler die Teilnahme verwehrten. Angesichts der politischen Einseitigkeit verließen hier, was noch wenige Tage zuvor undenkbar gewesen wäre, zahlreiche Schüler vorzeitig die Veranstaltung.576 In Hoyerswerda kritisierten Lehrer im Zusammenhang mit der Massenflucht vor allem Jugendlicher das Bildungssystem, in dem das Leistungsprinzip nicht gefördert worden sei.577 Ende Oktober beteiligten sich auch Elternvertreter immer stärker an den Diskussionen. Bei Elternbeiratswahlen in der 15. POS Görlitz forderten vor allem christliche Elternvertreter eine Entideologisierung der Schule und die Abschaffung des Wehrkundeunterrichts. Pädagogen der 18. POS verlangten vom Stadtschulrat die Einführung von Englisch als Hauptfach. Einige Lehrer der EOS Görlitz zweifelten offen die Führungsrolle der SED an. Werber für militärische Berufe berichteten von plötzlichem akutem Desinteresse.578 Beim Bürgerforum in Großenhain wurde eine Entmilitarisierung und Entideologisierung des Bildungswesens ebenso gefordert wie „weg vom Funktionärsdeutsch“, der „Abbau von Feindbildern, die brutales Denken und Handeln möglich machen“ und Umwelterziehung statt Wehrerziehung. Die Schule dürfe keinen Druck mehr zur Teilnahme an der Jugendweihe ausüben, Konfirmanden dürften nicht länger benachteiligt werden. Die Mitgliedschaft in FDJ und Pionierorganisation müsse freiwillig sein.579 In der Betriebsberufsschule des VEB Wäscheunion Mittweida ( Hainichen ) forderten Lehrlinge 574 KDfS Flöha vom 17. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 84– 86). 575 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23. 10. 1989 : Lage im Bezirk ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44). 576 Vgl. KDfS Hainichen vom 30. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 21 f.). 577 Vgl. KDfS Hoyerswerda vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1799, Bl. 9–13). 578 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 579 Gesprächsprotokoll des Bürgerforums vom 30. 10. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ).

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die Trennung der politischen und wirtschaftlichen Führung in Staat und Wirtschaft.580 An Leipziger Schulen wurde eine neue inhaltliche Gestaltung des Faches Staatsbürgerkunde gefordert. Fremdsprachen sollten fakultativ sein und Wehrkunde sollte als Unterrichtsfach verschwinden.581 Hoch - und Fachschulen : Ein einheitliches Bild von der Stimmung unter Studenten zu zeichnen ist kaum möglich. Die folgenden Beispiele zeigen aber, dass deren Lage ähnlich differenziert war wie in der Gesamtbevölkerung. Studenten technischer Richtungen zeigten sich systemkritischer als Studenten ideologisch ausgerichteter Studiengänge. Insgesamt aber fand das Neue Forum, so Böhm an Modrow, besonders auch unter Studenten breite Resonanz.582 An der Ingenieurhochschule Mittweida ( Hainichen ) meinten einige Studenten Anfang Oktober, es gebe keine Meinungsfreiheit, und das Mehrparteiensystem sei nur zum Schein da. „Alles würde von der SED diktiert, eigene Meinungen der Parteien seien nicht zugelassen.“ Hier wurden „Fragen der inneren Entwicklung des Sozialismus kontrovers diskutiert“ und die Informationspolitik kritisiert, die Erscheinungen wie Bürokratismus und Gleichgültigkeit verschweige. In der Partei - und Staatsführung sei die Jugend kaum präsent. Ansonsten glichen die Kritiken denen der Gesamtbevölkerung.583 In Leipzig nahm ein hoher Anteil von Studenten der Karl - Marx - Universität ( KMU ) und anderer Hoch - und Fachschulen, insbesondere des Bereichs Medizin der KMU ( ca. 50 Prozent der Studenten ), an der Demonstration am 9. Oktober teil.584 In Dresden stand die Mehrheit der Studenten den Forderungen des Neuen Forums aufgeschlossen gegenüber.585 An der Ingenieurhochschule Mittweida wurde nach dem 9. Oktober kontrovers über den Führungsanspruch der SED, die Demonstrationen und das Neue Forum diskutiert. Einzelne Studenten sprachen von „sozialistischem Faschismus“ und vom Erbe des Stalinismus. Nur mit dem Neuen Forum sei ein Neuanfang möglich. Hier kursierte der Gründungsaufruf zur Bildung der SDP.586 Am 7. Oktober rissen dort einige Studenten eine rote Fahne herunter und hängten sie auf der Toilette auf. „Keiner“, so das MfS, „verwahrte sich dagegen.“ Stattdessen mehrten sich öffentliche Bekundungen, mit 580 Vgl. KDfS Hainichen vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 16–19). 581 Vgl. SED - SL Leipzig vom 27.–30. 10. 1989 : Lageinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 1–9). 582 BVfS Dresden an Modrow vom 17. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, BV, XX 9195, Bl. 105–111). 583 Vgl. KDfS Hainichen vom 3. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 112–116). 584 Vgl. BVfS Leipzig vom 10. 10. 1989 : Demonstration am 9. 10. 1989 ( ABL, FVS Dresden). Anders ein zuständiger Offizier, der meint, während der Demonstrationen habe es an der KMU kaum relevante Aktivitäten und in oppositionellen Kreisen „kaum einen Studenten oder Wissenschaftler“ gegeben. Interview mit MfS - Abwehroffizier im Hochschulwesen. In : Riecker / Schwarz / Schneider, Stasi intim, S. 239 f. 585 Vgl. BVfS Dresden vom 9. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 107–110). 586 KDfS Hainichen vom 10. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 80– 88).

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dem „System“ nicht einverstanden zu sein.587 Bei einer FDJ - Delegiertenkonferenz der Sektion Maschinenbauelemente der TU Karl - Marx - Stadt wurde „durch Diskussionsredner, die überwiegend Mitglieder der SED sind, [...] das Gedankengut des ‚Neuen Forums‘ verbreitet und Angriffe auf die führende Rolle der SED geführt“. Die Veranstaltung wurde abgebrochen.588 Anders als bei den Studenten der Ingenieur wissenschaften war die Situation an der Fachschule für Staatswissenschaften in Frankenberg ( Hainichen ). Zwar gab es unter den zumeist der SED angehörenden Studenten beim Umtausch der Parteidokumente wiederholt Kritik an der Informationspolitik, kaum aber am System selbst.589 Ambivalent war auch die Stimmung unter Studenten und Lehrern der Fachschule für Verkehrswesen Altenburg. Hier zitierte das MfS Stimmen wie : „Hoffentlich kommt es nicht zu einer Opposition in der DDR. Das zu verhindern muss unsere Aufgabe sein.“590 Andere Studenten fragten dagegen, warum es keine Wahlen unter UNO - Aufsicht gebe und der Staat gewaltsam gegen Demonstranten vorgehe.591 Ähnlich war die Lage unter Studentinnen der Pädagogischen Fachschule ( PSFK ) Waldenburg ( Glauchau ), die zwar fast durchweg die Medienpolitik kritisierten, aber zum Teil den Gewalteinsatz gegen Demonstranten begrüßten. Einige planten, in einer Petition an den FDJ - Zentralrat die Abschaffung der Pflicht des Tragens von FDJ - Hemden bei Veranstaltungen zu fordern und ihre Kritik an der Politik von Partei - und Staatsführung zu formulieren, andere planten eine Diskussionsrunde mit dem Pfarrer.592 An der TU Dresden forderten am 11. Oktober Studenten die „Beseitigung der Partei - und Staatsführung und der Sicherheitsorgane, Bestrafung der Schutzorgane“ und Unterstützung aller demokratischen Plattformen, besonders des Neuen Forums.593 An der KMU Leipzig stellten sich die Führungsgremien Ende Oktober bereits auf die sich verändernde Lage ein. Bei einer Beratung des Rektors mit den Sektionsdirektoren ging es um „sinnvolle Veränderungen“ wie eine stärkere Einbindung der Kirche, Personalveränderungen „an oberster Stelle“, Kritik an der SED - Kreisleitung der Universität und eine stärkere Beachtung des Neuen Forums als Plattform für Veränderungen.594 Hier gab es vor allem in den Sektionen Theologie, Philosophie, Psychologie und im Bereich Medizin seit Mitte Oktober deutliche Bestrebungen, sich organisatorisch von der FDJ zu lösen und eigene Studentenvertretungen zu bilden. Gespräche von SED, FDJ und Uni - Lei587 KDfS Hainichen vom 11. 10. 1989 : Reaktion ( ebd., Bl. 74–79). 588 Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 18). 589 Vgl. KDfS Hainichen vom 12. 10. 1989 : Lage ( ebd., AKG 534, 1, Bl. 68–73). 590 SED - KL Altenburg vom 15. 10. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 114). 591 Vgl. SED - KL Altenburg vom 10. 10. 1989 : Bericht ( ebd., 1147, Bl. 75). 592 Vgl. KDfS Glauchau vom 17. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 31–34). 593 BVfS Dresden vom 17. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 105– 111). 594 BVfS Leipzig vom 25. und 26. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Leipzig, XX 839, Bl. 28–31, 37 f.).

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tung, dies zu verhindern, blieben erfolglos.595 Bei einer Versammlung der Vertreter der Studenten am 31. Oktober wurde hier die Wahl eines unabhängigen Studentenrates beschlossen.596 Er sollte als Gegenpol zur FDJ wirken und verstand sich als unpolitische, soziale Interessenvertretung der Studenten im Wettbewerb mit der FDJ.597 Unter Studenten der Ingenieurhochschule Mittweida (Hainichen ), vor allem unter den Mitgliedern der evangelischen und katholischen Studentengemeinden, kursierten Ende Oktober Schriften oppositioneller Gruppen wie des Neuen Forums.598 Hier meinten viele, „man dürfe sich jetzt nicht mit kleinen Schritten zufrieden geben, große Schritte wären gefragt“.599 Es wurde offen über das Neue Forum diskutiert und die Zulassung einer Studentenzeitung sowie Gespräche mit der Hochschulleitung gefordert.600 FDJ : Anfang Oktober kam auch in die FDJ Bewegung. Am 9. Oktober schrieben FDJ - Chef Eberhard Aurich, der Vorsitzende der Pionierorganisation, Wilfried Poßner, und der Abteilungsleiter Jugend im ZK der SED, Gerd Schulz, nach Abstimmung mit Krenz an Honecker. Sie baten um die Diskussion einer Vorlage mit dem Titel „Einschätzung der politischen Lage unter der Jugend – Schlussfolgerungen für die weitere Vorbereitung des XII. Parteitages der SED und des XIII. Parlaments der FDJ“ im Politbüro.601 Die Verfasser konstatierten einen „rapiden Vertrauensschwund“ der Jugend zur Partei - und Staatsführung und kritisierten den Umgang mit dem Problem der Massenausreise. Die Vorlage wurde auf der gleichen Sitzung des Politbüros behandelt wie die Vorlage von Krenz. Honecker forderte daraufhin die Absetzung von Gerd Schulz als angeblichem Hauptverantwortlichen, Krenz zog nach heftigen Vorwürfen Honeckers die Vorlage zurück. Im Bezirk Dresden wurde nach den Unruhen um den Jahrestag ein Interview mit dem 1. Sekretär der FDJ - Bezirksleitung, Frank Türkowsky, veröffentlicht, das als Grundlage für Diskussionen in den Kreisverbänden und Grundorganisationen diente. Hier wurde die Massenflucht gerade von Jugendlichen ebenso thematisiert wie Versäumnisse bei der Jugendarbeit und die Übergriffe am Dresdner Hauptbahnhof. In nachfolgenden Pressemeldungen, bei „Tagen der Jugendbrigaden“ und in vergleichbaren Veranstaltungen ging es darum, den Jugendverband durch Modifizierungen zu stabilisieren, ohne an der Vorherrschaft der SED Zweifel aufkommen zu lassen.602 Erklärtes Ziel war es, so z. B. 595 Vgl. SED - BL Leipzig vom 23. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36– 44). 596 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 31. 10. 1989. 597 Vgl. SED - BL Leipzig vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 54– 58). 598 Vgl. KDfS Hainichen vom 23. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 39–41). 599 KDfS Hainichen vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 34–38). 600 Vgl. KDfS Hainichen vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 23–26). 601 Zit. bei Stephan, Die Führung der FDJ, S. 322. 602 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 12. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 12. 10. 1989; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 14. 10. 1989.

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bei einer gemeinsamen Sekretariatssitzung der SED - und FDJ -Kreisleitung Geithain, noch mehr Jugendliche „für ein bewusstes und aktives Wirken im sozialistischen Jugendverband“ zu gewinnen.603 Tatsächlich war der Trend gegenläufig. Wie im Fall von FDGB und SED häuften sich auch die Austritte aus der FDJ, teils mit der Begründung, „später wegen der Mitgliedschaft zu diesen Organisationen nicht zur Verantwortung gezogen“ werden zu wollen.604 Bei vielen blieb es nicht beim Austritt, sie verließen, wie die „Arbeiterjugendsekretärin“ der FDJ - Kreisleitung Bischofswerda, „Genossin Grit Rasche“, das sinkende SED - Schiff DDR für immer.605 Im VEB Wärmegerätewerk Cossebaude musste eine Jugendbrigade aufgelöst werden, weil die meisten Mitglieder in die Bundesrepublik geflohen waren.606 So unter Druck geraten, machten sich nun die FDJ - Funktionäre zunehmend Gedanken über die Zukunft des Zwangsjugendverbandes. In Bautzen fand am 18. Oktober im Jugendclub „TREND 80“ ein Dialog mit Jugendlichen statt, zu dem neben kommunistischen Funktionären erstmals auch Superintendent Wolfgang Leßmann eingeladen war. Der 1. Sekretär der FDJ - Kreisleitung gestand ein, man müsse sich „tiefgründig Gedanken darüber machen, wie sich unser Jugendverband entwickeln soll“.607 In Zeitungen erschienen Berichte, in denen es um eine „neuartige Herangehensweise bei FDJ - Wahlen“ ging. Erstmals, so ein Bericht aus Zittau, hätten Jugendliche ihre FDJ - Leitungen frei gewählt.608 Geleitet wurde die Pressekampagne von der FDJ - Bezirksleitung und dem Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, Johannes Schulz.609 Bei einem Treffen mit Jugendredakteuren im Haus der Presse in Dresden ging es um die Abschaffung des Formalismus bei den FDJ - Wahlen und eine kritischere und wahrheitsgemäßere Berichterstattung.610 Überall riefen nun die 1. Sekretäre der FDJ - Kreisleitungen die Jugendlichen zum Dialog und zur Mitarbeit bei der Neugestaltung der FDJ auf.611 Ende Oktober ging es bei Treffen der FDJ - Leitungen schon darum, sich dem allgemeinen Trend zur Bildung eigener FDJ - Fraktionen in regionalen und kommunalen „Volksvertretungen“ anzuschließen. Die FDJ kümmerte sich plötzlich um bisher vernachlässigte Jugendinteressen und -probleme. In Görlitz startete die FDJ - Kreisleitung Aktionen wie „Um - und Ausgebaut“ und „Leerem Wohnraum auf der Spur“. Man erklärte ausdrücklich, mehr für die Jugend tun und sich besser als deren Interessenvertreter vermarkten zu wollen.612 603 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 18. 10. 1989. 604 KDfS Glauchau vom 11. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 37–39). Vgl. KDfS Annaberg vom 16. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 52–54). 605 SED - KL Bischofswerda vom 6. 10. 1989 : Info laut Anforderung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 606 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 26. 10. 1989. 607 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 20. und 27. 10. 1989. 608 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 19. 10. 1989. 609 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 26. 10. 1989. 610 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 26. 10. 1989. 611 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 26. 10. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 26. 10. 1989. 612 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 3. 11. 1989.

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Am 29. Oktober kündigte die FDJ - Leitung in Berlin einen Wandel ihrer Politik an. Der Vorsitzende der FDJ - Fraktion der Volkskammer Hans - Joachim Willerding richtete im Fernsehen heftige Attacken gegen die Regierung und stellte ihre Legitimität in Frage.613 Dennoch stellte die FDJ „selbstredend“ auch weiterhin die Führungsrolle der SED nicht in Frage, deren Beschlüsse auch zukünftig Ausgangspunkt eigener Beschlüsse sein sollten.614 3.8

Proteste von Künstlern und im Kulturbund

Die Proteste von Künstlern nahmen im Oktober weiter zu. Das Neue Forum, so Böhm an Modrow, finde im Bezirk Dresden „besonders unter Kunst - und Kulturschaffenden und der studentischen Jugend breite Resonanz“. Überall würden nach kulturellen Veranstaltungen eigenständige Resolutionen verlesen und in „Schweigeminuten“ der „Opfer des Polizeieinsatzes“ gedacht.615 Auch im Bezirk Leipzig war die Resolution vom 18. September „Ausgangspunkt weitergehender Erklärungen“.616 Dabei reichten die vorgetragenen Forderungen von Modifizierungen der SED - Diktatur bis zur offenen Ablehnung des realen Sozialismus. Im Staatsschauspiel Dresden bemühte sich Regisseur Engel intensiv darum, eine systemkritische Gruppierung zu formieren. Täglich wurde hier die Resolution der Dresdner Schauspieler nach der Vorstellung unter starkem Beifall verlesen. Die SED - Grundorganisation des Schriftstellerverbandes des Bezirkes Dresden forderte die Einberufung einer Parteikonferenz. Der Vorsitzende des Verbandes Bildender Künstler im Bezirk Dresden, Bock, schloss sich dieser Forderung an. Auch der Vorstand des Schriftstellerverbandes des Bezirkes Leipzig forderte von der Führung, den Veränderungsprozess zu beschleunigen. Etliche Unterhaltungskünstler verlasen bei ihren Auftritten Resolutionen, so Dorit Gäbler in Riesa, der Liedermacher Hans - Eckhard Wenzel in Niesky sowie die Rockgruppe „Pankow“ an der TU Dresden, die hier sogar „staatsfeindliche Forderungen“ vortrug.617 Am Eduard - von - Winterstein - Theater Annaberg verlas der Schauspieler Jörg Heinrich am 17. Oktober unter allgemeiner Zustimmung einen offenen Brief an den Minister für Kultur, in dem er sich zwar für Sozialismus und die führende Rolle der SED aussprach, aber die bisherige „vordergründige Agitation“ ablehnte.618 Die FDJ - Leitung der Fachschule für angewandte Kunst 613 Vgl. Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 60. 614 Junge Welt vom 31. 10. 1989. 615 BVfS Dresden vom 17. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 105– 111). 616 BVfS Dresden vom 21. 10. 1989 : Info ( ebd., Bl. 80–91). 617 BVfS Dresden vom 14.–16. 10. 1989 : Lage auf dem Gebiet politischer Untergrundtätigkeit. Zuarbeit zur Beratung der BEL am 17. 10. 1989 ( ebd., Bl. 116 f.); Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 17. 10. 1989. 618 KDfS Annaberg vom 18. 10. 1989 : Dialog ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 2, Bl. 220– 224).

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Schneeberg ( Aue ) forderte in einer Resolution, auch die neuen Gruppen in den Dialog einzubeziehen. Von den Studenten wurde „der absolute Wahrheitsanspruch der Staats - und Parteiführung in Frage gestellt“.619 Bei einer Veranstaltung in der Stadthalle Görlitz am 20. Oktober „trat die Schauspielerin Annekathrin Bürger mit Äußerungen gegen die Partei und den Staat negativ in Erscheinung“, indem sie u. a. die Freilassung politischer Gefangener forderte. Bei den Teilnehmern der Veranstaltung stieß sie damit freilich laut IM - Bericht auf wenig Gegenliebe.620 Ende Oktober wurden die Forderungen der Künstler resoluter. Im Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt forderte Schauspieler Hasko Weber am 23. Oktober öffentlich die Freilassung Inhaftierter, eine Kontrolle des MfS, die Abschaffung paramilitärischer Einheiten und die Bildung autonomer Gewerkschaften. Beim Foyergespräch am nächsten Tag wurde ein Forderungskatalog der Beschäftigten verlesen, in dem die Auf lösung der Nationalen Front, die Abschaffung der Kampfgruppen, demokratische Wahlen und eine Kontrolle des MfS gefordert wurden.621 Nach einer Forderung der Mitarbeiter des Stadttheaters Freiberg vom 9. Oktober an den Zentralvorstand der Gewerkschaft Kunst fand am 25. Oktober eine Zusammenkunft der BGL - Vorsitzenden aller Theater der DDR statt. Hier wurde ein 11- Punkte - Programm verlesen, das als politisches Aktionsprogramm aller Theater einstimmig angenommen wurde.622 Am Kreistheater Annaberg wurde am 25. Oktober per Aushang die Auf lösung der BPO der SED gefordert, am nächsten Tag ging es bei Aushängen um Wahlmanipulationen, Massenflucht, Bespitzelung, Bevormundung durch die SED und Reisebeschränkungen.623 Eine Versammlung des Görlitzer Musiktheaters forderte u. a. politische Grundrechte und eine Demokratisierung, eine Änderung der Wirtschaftsweise und einen allgemeinen Ver waltungsabbau.624 In Schwarzenberg kritisierte Liedermacher Karl - Heinz Bomberg die Verhältnisse in der DDR.625 Im Karl - Marx - Städter Schauspielhaus wurden am 29. Oktober Aufrufe des Neuen Forums sowie des Städtischen und des Puppentheaters verlesen. Gefordert wurden u. a. die Auf lösung der Kampfgruppen, eine Offenlegung von Stärke und Aufgaben des MfS, eine Änderung des Wahlgesetzes sowie eine Justizreform.626 Bei einem Forum der Künstler der Zwickauer Bühnen mit führen619 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 1. 11. 1989 : Resolution der Studenten der Fachschule für Angewandte Kunst in Schneeberg ( ebd. 1759, Bl. 127–130). 620 KDfS Görlitz vom 25. 10. 1989 : Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10996, Bl. 1– 7). 621 Vgl. Ereignisse im Herbst 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 29 und 49). 622 Vgl. ebd., XX 779, Bl. 30. 623 Vgl. KDfS Annaberg vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 529, 1, Bl. 26–29). 624 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 27. 10. 1989. 625 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 23. 10. 1989 : Aktivitäten negativer Personen in der Galerie „S“ ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 14 f.). 626 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt von Oktober 1989 : Rapport ( ebd., XX 779, Bl. 33); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.–30. 10. 1989: Ereignisse ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 81–89).

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den Funktionären des Kreises und der Stadt wurden mehr Offenheit in den Medien, Mitspracherecht und Reisefreiheit verlangt.627 Auch die Mitarbeiter des Stadttheaters Döbeln traten Ende Oktober mit Forderungen an die Öffentlichkeit.628 Äußerungen des Kabaretts „Lachkartenstanzer“ aus Leipzig am 31. Oktober im Klubhaus „Erzhammer“ Annaberg gegen Partei und Regierung wurden hier mit Beifall aufgenommen. Im Programm hieß es z. B., Feuerlöscher seien außen rot und innen hohl. Ein Tapetenwechsel reiche nicht aus, man müsse auch Dielen und Dach auswechseln.629 Im Kreis Flöha meinten „politisch positiv eingestellte Personen“, man lasse den Künstlern „viel zu viel Spielraum bezüglich ihrer Meinungsäußerungen in den Medien“, was zur „Anheizung der Situation“ beirage.630 Kulturbund : Am 8. Oktober hieß es in einer Willenserklärung von 26 Arbeitsgemeinschaften des Kulturbundes, dass die SED - Führung „Engagement und Sorgen um unser Dasein und das unserer Kinder bagatellisiert oder gar kriminalisiert“. Sie forderten durchschaubare Wahlen, einen offenen Dialog und drückten ihren Willen aus, den Kulturbund zu einer „Plattform der gesellschaftlichen Erneuerung“631 werden zu lassen. Ein der SED angehörendes Mitglied des Bundesvorstandes nannte die Demokratie der DDR „nicht funktionsfähig“. Die SED lasse keine Aussprache zu, und die Prinzipien der Bündnispolitik fänden nur ungenügend Anwendung.632 Nach der Willenserklärung der Arbeitsgemeinschaften verabschiedete das Präsidium am nächsten Tag ein Kommuniqué, das wesentliche Forderungen wieder zurücknahm und stärker auf der Linie der SED lag. Zwar wurden die Sorgen der Basis geteilt, die Massenflucht junger Menschen bedauert und ein Dialog gefordert, zugleich aber die „penetranten Aufforderungen zu Reformen, die uns Gegner des Sozialismus Tag für Tag überreichen“, entschieden zurückgewiesen. Jede Alternative zum diktatorischen Sozialismus unter Führung der SED wurde abgelehnt.633 Trotz dieser Intervention waren die Mitglieder des Kulturbundes im Vergleich aller Massenorganisationen am kritischsten. Dies deckte sich mit der Haltung der Künstler. Im SEDMfS - Jargon hieß dies, der Kulturbund werde bereits seit Längerem durch „feindlich - negative Kräfte“ benutzt, um Veränderungen durchzusetzen.634 Wahrscheinlich waren mit diesen „negativen Feinden“ Vertreter der DDR - Stadtökologiegruppen der „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ innerhalb des Kulturbundes gemeint, die sich bereits im April 1989 in einem Potsdamer Kultur627 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 26. 10. 1989. 628 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 9. 11. 1989. Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 629 Vgl. KDfS Annaberg vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 13–15). 630 KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 60–64). 631 Willenserklärung. In : Wir sind das Volk 1, S. 55 f. 632 ZK der SED vom 9. 10. 1989 : Info der SED - BL über Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 69). 633 Zit. in Wir sind das Volk 1, S. 59 f. 634 Zit. in Meinel / Wernicke ( Hg.), Mit tschekistischem Gruß, S. 100 f.; BVfS Potsdam vom 9. 10. 1989 : Verlauf der DDR - offenen Veranstaltung der AG „Umweltschutz und Stadtgestaltung“ ( ARGUS ) am 7./8. 10. 1989 in Potsdam. In : ebd., S. 152 f.

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haus getroffen hatten, um ihre landesweite Vernetzung in Gang zu setzen. Die Leitung des Kulturbundes hatte vergeblich versucht, das Treffen zu verhindern. Die SED - Führung hatte damit ursprünglich staatsloyalen Umweltschützern eine Organisationsmöglichkeit schaffen wollen, um kritische Töne und Gruppen einzubinden. In diesen Freiraum waren jedoch bald kritische Intellektuelle vorgestoßen. Beginnend mit einer aktiven Umweltgruppe im Kulturbund von Berlin Köpenick waren in der gesamten DDR Stadtökologiegruppen entstanden, die den „Zügelungsversuchen von Seiten staatsfrommer Leiter des Kulturbundes“ elastischen Widerstand entgegensetzten.635 Diese Aktivitäten stellten den einzigen Versuch einer Basisarbeit von Parteioppositionellen und unabhängigen Intellektuellen dar. Aus den Stadtökologiegruppen ging später die Grüne Liga hervor. So gab es z. B. in der zweiten Oktoberhälfte seitens der Ortsgruppe BrandErbisdorf der Gesellschaft für Natur und Umwelt Bestrebungen, die „Mitarbeit im Kulturbund der DDR zu missbrauchen, um Einfluss im Sinne der Ökologiegruppe ‚Grüne Brücke‘ Freiberg“ auszuüben.636 3.9

Die Massenmedien im Oktober637

Im Vorfeld des Jahrestages hatte sich weder an der Berichterstattung noch an der diesbezüglichen Kritik in der Bevölkerung etwas geändert. Lediglich das Zentralorgan der LDPD, „Der Morgen“, wies vereinzelt auf kritische Stellungnahmen Gerlachs hin. Am 4. Oktober erschien in der Leipziger Ausgabe des CDU - Blattes „Die Union“ ein Artikel von Edgar Hasse, in dem er meinte, die CDU könne als Vertreter im Mehrparteiensystem nicht schweigen. Nötig sei ein gesamtgesellschaftlicher Dialog. Die CDU müsse Raum für einen kulturvollen Streit über die gesellschaftliche Entwicklung bieten. Notwendig sei ein gelassenes Tolerieren der Meinung Andersdenkender. Noch waren dies Ausnahmen. Die Bevölkerung bis weit in SED - Kreise hinein machte hinsichtlich der Informationsdefizite weiter Druck. In Äußerungen der Leitungen der Kulturhäuser in Hohenstein - Ernstthal, Gersdorf und Lichtenstein hieß es z. B. : „Wann setzt man offen und ehrlich das Volk davon in Kenntnis, mit welchen Problemen wir zu kämpfen haben ?“ Wann werde realistisch über Massenflucht und Wirtschaftsprobleme berichtet ?638 In Dresden nutzte Modrow die Unzufriedenheit, um gegenüber dem ZK der SED darauf hinzuweisen, dass „alle Kreis - und Stadtbezirksleitungen aufmerksam“ machen, „dass massiver und kritischer zu unseren Medien Stellung“ genommen und der Vorwurf erhoben werde, „dass nur 635 Rüddenklau, Störenfried, S. 281. 636 KDfS Brand - Erbisdorf vom 20. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 71–76). 637 Zur Medienentwicklung im Herbst 1989 vgl. Oliver, ADN im Herbst 1989, S. 380–392; Holzweißig, Die Medien, S. 1012–1024. 638 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 94–98).

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Siege verkauft“ würden.639 Pfarrer kritisierten, die SED - Führung zwinge die Bevölkerung geradezu, sich von Westmedien informieren zu lassen. Vereinzelt gab es immer wieder einmal indirekte Hinweise auf kritische Diskussion. So hieß es am 4. Oktober in der Oelsnitzer Ausgabe der „Freien Presse“ : „So manch einer wirft Partei und Staatsorganen in der DDR immer wieder mangelnde Dialogfähigkeit vor, eine Behauptung, die derzeit besonders hoch im Kurs steht. Jedem, der solche Thesen aufstellt, würde ich vorschlagen, einmal an einem der Einwohnerforen teilzunehmen.“640 Permanent in der Kritik waren die westlichen Medien, die so weit als möglich an der Arbeit gehindert wurden. In Dresden wurden am 6. Oktober zwei CBS - News - Journalisten festgenommen und des Bezirks verwiesen. Ein Team des Bayrischen Fernsehens stand unter Kontrolle des MfS.641 Im Sinne der herrschenden Doktrin, wonach die Krise in der DDR vom Westen geschürt werde, verbreitete auch das Innenministerium, die „rowdyhaften Handlungen und Ausschreitungen“ feindlich - negativer Kräfte seien „durch westliche Medien inspiriert und durch Vertreter dieser Medien inszeniert“.642 Akzeptanz fand diese Sichtweise nicht. Vor allem die Dresdner SED - Bezirksleitung wies immer wieder darauf hin, dass sich Kritiken an der „Aktuellen Kamera“ häuften.643 Unter der Bevölkerung fand die „Medienpolitik in der DDR keine Zustimmung“.644 Hier verließ man sich fast ausschließlich auf die westliche Berichterstattung.645 Mit Bedauern stellte z. B. das MfS in Freital fest, dass „in allen Betrieben und Einrichtungen sowie unter der Bevölkerung [...] die Aktivitäten und Ziele der imperialistischen Massenmedien nicht erkannt“ würden. Es werde „nur die positive Seite dieser Gesellschaftsordnung“ gesehen und deren Informationen würden „als Wahrheiten akzeptiert“.646 Tatsächlich boten bundesdeutsches Radio und Fernsehen Bürgergruppen ein Medium und wirkten als „Kommunikations - und Argumentationshilfe“. Indem sie die Flucht - und Demonstrationsbilder zeigten, verstärkten sie diese Prozesse. An der Mauer fragten sie z. B. am Abend des 9. November, wo denn die Menschen blieben, wenig später waren sie da. Funk und Fernsehen waren also nicht nur Medium, sondern auch Akteure des Umbruchs. Die Westmedien haben die revolutionäre Situation natürlich nicht geschaffen, aber unterstützt, geschützt und beschleunigt. Sie trugen zum Angstabbau bei und vermittelten die Erfahrung eines kollektiven Oppositionsbewusstseins : „Die Dissidenten erfuhren und sahen nun, dass sie nicht allein und nicht nur wenige waren.“ Es gab eine „intensive Wechselwirkung zwischen Ereignissen und elektronischer Vermittlung, in 639 SED - BL Dresden vom 5. 10. 1989 : Lage ( ABL, EA 891005_3). 640 Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 4. 10. 1989. 641 Vgl. BVfS Dresden vom 7. 10. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 55–60). 642 MdI an Chefs der BDVP vom 8. 10. 1989 ( ABL, Dresden ). 643 SED - BL Dresden vom 7. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, 1. SdL 1, Bl. 41–47). 644 KDfS Zittau vom 6. 10. 1989 : Lage ( ebd., KDfS Zittau 7010, Bl. 144–146). 645 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 83–85). 646 KDfS Freital vom 10. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 459– 461).

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der die Vermittlung ihrerseits neue Fakten schuf, indem sie die Revolutionäre ermutigte und das alte System samt seinen Anhängern lähmte“. Die Westmedien konnten diese Rolle nur spielen, weil sie schon seit Jahrzehnten als Ersatz der ideologisierten DDR - Medien Informationsbörse und Forum gewesen waren.647 Mit den Machtauseinandersetzungen an der SED - Spitze und der Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober zum Beginn der Dialogpolitik zeichneten sich auch in der DDR - Medienberichterstattung Veränderungen ab. Bereits am Morgen des 10. Oktober erschien im Dresdner CDU - Blatt „Die Union“ unter dem Titel „Es ist möglich, miteinander zu reden“ ein Artikel von Uta Dittmann, in dem die Journalistin offen über die Ereignisse der letzten Tage berichtete. Das LDPD - Blatt „Der Morgen“ druckte am selben Tag ganzseitig Forderungen der LDPD - Basis nach Reformen ab.648 Am 11. Oktober folgte in „Die Union“ ein Beitrag Dittmanns über die Informationsveranstaltungen in den Kirchen. Nun setzte sich auch das CDU - Zentralorgan „Neue Zeit“ über die bisherigen Regeln der Berichterstattung hinweg, verkürzte eine ADN - Meldung über die Unruhen am 10. Oktober und setzte den eigenen Bericht im Konjunktiv fort.649 Auch die „Junge Welt“ berichtete nun relativ kritisch über die Entwicklung.650 In Leipzig fand Mitte Oktober eine öffentliche Diskussion über die Mediensituation statt, an der u. a. Vertreter der SED - Bezirksleitung, der Kirche und des Neuen Forums teilnahmen.651 Schon die geringen „sich abzeichnenden Änderungen“ stießen in der Bevölkerung auf Zustimmung.652 Von nun an setzte sich „Glasnost“ mehr und mehr durch. Am 17. Oktober wurde erstmals ein Aufruf des Neuen Forums im CDU - Blatt „Die Union“ in Leipzig abgedruckt. Noch war dies reichlich willkürlich, und die wichtigsten Akteure des Neuen Forums stützten sich weiterhin auf die Informationsverbreitung durch westliche Massenmedien.653 Im DDR - Fernsehen fand am 19. Oktober erstmals eine Live - Sendung mit Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten im Dialog mit Bürgern unter dem Titel „Donnerstags - Gespräch“ statt. Die SED - Führung erlaubte, dass die sowjetische Monatsschrift „Sputnik“, die im November 1988 verboten worden war, wieder vertrieben wurde.654 Unmittelbar darauf meldete das MfS positive Reaktionen der Bevölkerung, die „erstmals sofort und noch vor den BRD Medien informiert worden wären“.655 Jetzt wandte sich auch das Neue Forum, 647 648 649 650 651 652 653 654 655

Oberreuter, Medien als Akteure, S. 371–375. Vgl. Marcowitz, Der schwierige Weg, S. 14. Vgl. Holzweissig, DDR - Presse im Aufbruch, S. 226. Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 13. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 70 f.). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 16. 10. 1989. KDfS Flöha vom 14. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 87– 90); KDfS Hainichen vom 16. 10. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 105–111); KDfS Klingenthal vom 17. 10. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 13 f.). Vgl. BVfS Dresden vom 21. 10. 1989 : Weitere Formierung oppositioneller Sammlungsbewegungen im Bezirk bis 19. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 80–91). Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 20. KDfS Hainichen vom 19. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 50 f.).

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wie z. B. in Zwickau, an die Presse und forderte, Informationen über das Neue Forum abzudrucken.656 Nun begannen vor allem Lokalredaktionen mit dem Abdruck kritischer Leserbriefe. So erschien z. B. in der Zittauer Ausgabe der „Sächsischen Zeitung“ am 22./23. Oktober ein „Brief an den Kreisredakteur“, der sich mit der einseitigen Berichterstattung auseinandersetzte. Hier hieß es : „Obwohl vieles darauf hindeutet, dass sich in unserer Republik ein lange fälliger Wandel vollzieht, muss ich feststellen, dass besonders auf der Lokalseite des Kreises Zittau noch immer die alte Masche der Lippenbekenntnisse gefragt ist.“ Künftig müsse das „seit Langem verlorene Vertrauen der Leser durch konsequente, schonungslose Offenheit allmählich zurückgewonnen“ werden.657 Vergleichbare Prozesse der schrittweisen Änderung liefen nun peu à peu in allen Regionalausgaben ab. Die Bevölkerung freute es, und die Zeitungen fanden wieder mehr Leser. Gleiches galt für das Fernsehen, wo es sich plötzlich wieder lohnte, die „Aktuelle Kamera“ zu verfolgen. An einer vom DDR - Fernsehen übertragenen Podiumsdiskussion zum Thema „DDR – wie ich sie träume“ konnten am 24. Oktober neben Stefan Heym, Christoph Hein, Gisela Steineckert und Markus Wolf mit Bärbel Bohley und Jens Reich erstmals auch Vertreter des Neuen Forums teilnehmen.658 Nun kamen plötzlich eigene aktuell - politische Sendungen stärker ins Gespräch als die der Westmedien. In der Kritik blieben weiterhin Sendungen wie „Der Schwarze Kanal“.659 Unter der Bevölkerung, so das Zwickauer MfS, gebe es einen „regelrechten Hunger“ nach Informationen.660 DDR - Zeitungen würden regelrecht verschlungen, und auch unter Jugendlichen gebe es „ein nie da gewesenes Interesse an Presse und Fernsehen“. Zugunsten der „Aktuellen Kamera“ werde sogar auf Spielfilme verzichtet,661 ihr wurde bald der Vorzug vor dem Westfernsehen gegeben.662 Dennoch lagen die Medien noch auf SED - Linie. Wirklich abweichende politische Meinungen waren weiterhin fast nicht vertreten. Auch von einer objektiven Berichterstattung konnte keine Rede sein. Ende Oktober nahm daher der öffentliche Druck auf die Medien weiter zu. Bei Demonstrationen und in Resolutionen wurde gefordert, andere politische Kräfte zu Wort kommen zu lassen und die Vorherrschaft der SED zu brechen. In die Fernseh - und Radioanstalten sowie Zeitungsredaktionen kam Anfang November Bewegung. Wie überall in der Gesellschaft standen sich auch hier Hardliner, Reformer und Vertreter journalistischer Freiheit gegenüber. Die Folge waren heftige Diskussionen über die Haltung der Medien. Ende Oktober forderte der Verband der Journalisten von 656 657 658 659

Neues Forum Zwickau an Freie Presse vom 21. 10. 1989 ( ebd. 2437, 3, Bl. 165–166a ). Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 21./22. 10. 1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 20. Vgl. SED - BL Leipzig vom 23. und 24. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 200, Bl. 36–44; 864, Bl. 21–24); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 23. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 45–47); KDfS Glauchau vom 21. 10. 1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 21–23). 660 KDfS Zwickau vom 25. 10. 1989 : Lage ( ebd. 681, Bl. 51–54). 661 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 27. 10. 1989 : Lage ( ebd. 540, 1, Bl. 10–12). 662 Vgl. KDfS Freiberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 19–21).

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Stoph eine verfassungsmäßig gesicherte Pressefreiheit.663 Gleichzeitig wurde ein 11- Punkte - Programm des Verbandes der Film - und Fernsehschaffenden veröffentlicht, in dem unabhängige Medien gefordert wurden. Am Abend des 29. Oktober kündigte der Chefredakteur der „Aktuellen Kamera“ an, künftig „schnelle und wahrheitsgetreue Informationen“ zu bieten. Ein erstes Resultat war die Absetzung des „Schwarzen Kanals“ von und mit Karl - Eduard von Schnitzler, der die Demonstranten noch kurz zuvor als „Schreihälse ohne Kopf“ bezeichnet hatte.664 Die Leitung des „Neuen Deutschland“ entschuldigte sich am 3. November für die Veröffentlichung über einen angeblichen Menschenraub in der Ausgabe vom 21. September. Am 5. November wurde in der „Aktuellen Kamera“ eine Erklärung der SED - Kreisleitung des Fernsehens verlesen, in der es hieß : „Unsere Mitverantwortung an der entstandenen Krisensituation in der DDR konstatieren wir mit großer Betroffenheit. Wir haben es zugelassen, dass unser Medium durch dirigistische Eingriffe missbraucht wurde.“665 Erstmals erlaubte der Beginn von Glasnost auch, dass über die katastrophalen Auswirkungen der SED - Politik auf die Umwelt gesprochen wurde. Auf fast jeder öffentlichen Veranstaltung ging es inzwischen um die gravierenden ökologischen Probleme. Die extreme Umweltbelastung und die Verschleierung von Daten lösten vor allem in den Industriegebieten Proteste aus. In Karl - Marx - Stadt musste auf Drängen der Bevölkerung zugesichert werden, alle Umweltdaten freizugeben. „Der Morgen“ berichtete erstmals, dass 1987 Emissionen von fast fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxyd und fast einer Million Tonnen Stickoxiden gemessen worden waren. Am 2. November begann die gesamte Presse der DDR mit der Veröffentlichung von Umweltdaten. 3.10 Oppositionelle Gruppen im Oktober Demokratischer Aufbruch ( DA ) Am 29. Oktober fanden sich in Berlin etwa 200 Teilnehmer zur konstituierenden Versammlung des Demokratischen Aufbruchs ein, um die Anfang Oktober durch Sicherheitskräfte unterbundene förmliche Gründung nachzuholen.666 Der DA hatte zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben etwa 6 000 Mitglieder. Zum Vorsitzenden wurde der Rostocker Rechtsanwalt und IM des MfS Wolfgang Schnur gewählt, der das MfS direkt über alle Schritte informierte und Instruktionen erhielt.667 Pressesprecher wurde Pfarrer Rainer Eppelmann. Dritter prominenter Vertreter war Pfarrer Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg. Es wurde ein Statut verabschiedet, in dem es hieß, der DA vereine Menschen 663 664 665 666

Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 27. 10. 1989; Wir sind das Volk 2, S. 30 f. Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 270. Zit. in Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 44. Vgl. Presseerklärung des DA, o. D. ( MDA, Demokratischer Aufbruch ); Schorlemmer, Worte, S. 209. 667 Aussage Wolfgang Schnur. In : Der Stern vom 5. 4. 1990.

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„sozialistischer, sozialdemokratischer, religiöser, liberaler und ökologischer Prägung“.668 Der DA sprach sich für eine gesellschaftliche Kontrolle des Staates, die Förderung privater Klein - und Mittelbetriebe, die Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien, den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, den Schutz sozial Schwacher und ein „aktives Aufeinanderzugehen der beiden deutschen Staaten“ aus. Allerdings plädierte Eppelmann für die Beibehaltung der Zweistaatlichkeit und eine sozialistische DDR mit Dominanz des Staatseigentums.669 Darüber hinaus verlangte der DA eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und die Ver wirklichung der Menschenrechte.670 Bereits bei dem Treffen zeichnete sich eine Mehrheit dafür ab, den DA in eine Partei umzuwandeln. Von 161 Stimmberechtigten votierten 140 dafür. Zudem wurde deutlich, dass „die Mehrheit der Delegierten im Gegensatz zu den Initiatoren keine Linkspartei wollte“.671 Das MfS konstatierte, der DA verstehe sich als Sammelvereinigung mit parteiorientiertem Profil und sei gegenüber dem Neuen Forum klarer orientiert und straffer organisiert. Allerdings befürworte er eine Zusammenarbeit mit dem Neuen Forum. Probleme gebe es allerdings wegen persönlicher Differenzen zwischen Bohley und Eppelmann. Ein IM schätzte ein, dass ein Teil der Teilnehmer das Neue Forum als „Falle der SED“ betrachte. So meinte Schorlemmer, das Neue Forum werde von der SED umarmt und medienwirksam ins Bild gebracht, weil keine Struktur zu erkennen sei und es „ohne Aktionen agiert“. Demgegenüber strebe der DA eine „Brechung des Machtmonopols der SED“ an.672 Sachsen : Anders als das Neue Forum breitete sich der DA in Sachsen nur langsam aus. In Dresden lagen die Wurzeln des DA in der „Initiativgruppe demokratische Erneuerung“ ( IdeE ) und im Johannstädter Friedenskreis. Johannes Pohl war Leiter des Johannstädter Friedenskreises und hielt engen Kontakt zum Mitinitiator Jürgen Bönninger. Am 13. Oktober lud der DA zur ersten Vollversammlung in die Augustinerkirche ein. Am 23. Oktober stellte er sich beim Friedenskreis Dresden - Johannstadt vor. Am 25. Oktober konstituierte sich der Dresdner DA in der Auferstehungskirche.673 Drei Tage nach der offiziellen Gründung stellte die Dresdner Gruppe von Demokratie Jetzt den Antrag auf Fusion mit dem DA.674 Im Kreiskrankenhaus Riesa kursierten Abschriften über Inhalt und Ziele des DA.675 Aus dem Bezirk Karl - Marx - Stadt nahmen neun Personen an der Gründung des DA Ende Oktober in Berlin teil. Für den Bezirk 668 Statut vom 29. 10. 1989. In : Rein, Die Opposition, S. 38–43. 669 Interview mit Rainer Eppelmann. In : Junge Welt vom 9./10. 12. 1989. 670 Flugblatt für die Demokratie ( Erschienen zum Gründungstreffen des DA am 30. 10. 1989). In : Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 178 f. 671 Schorlemmer, Worte, S. 313. 672 BVfS Leipzig vom 1. 11. 1989 : Konstituierung des DA am 29. 10. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, XX, Bl. 50). 673 BVfS Dresden vom 24.–25. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 90, 94 f.). Vgl. Der Demokratische Aufbruch, S. 42. 674 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 264 f. 675 Vgl. KDfS Riesa vom 27. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, XX 9196, Bl. 32–38).

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wurde ein Kontaktbüro bei Jürgen Eschrich eingerichtet, geplant war ein weiteres in Markneukirchen.676 Im Bezirk Leipzig traf sich seit Anfang Oktober eine Basisgruppe des DA im Pfarrhaus Leipzig - Stötteritz. Sie bekannte sich zum Neuen Forum, grenzte sich von der SDP ab und unterhielt Verbindungen zu den Grünen. Ihr Ziel war es, bei kommenden freien Wahlen mit dem Neuen Forum als Wahlplattform gegen die SED anzutreten.677 Im Oktober konstituierte sich ein Bezirksverband, der sich mit dem Gedanken trug, sich nicht zentral integrieren zu lassen, sondern eigene Wege zu gehen. Der „Leipziger Weg“ bestand darin, anders als in Berlin mit anderen Basisgruppen wie Demokratie Jetzt, der Böhlener Plattform, dem Neuen Forum und dem Netzwerk Arche zu kooperieren.678 Demokratie Jetzt ( DJ ) Ähnlich wie beim DA hinterließ Demokratie Jetzt in Sachsen in den Akten kaum Spuren. Führende Aktivisten wie Ludwig Mehlhorn gaben hin und wieder Stellungnahmen ab. So hieß es am 16. Oktober, die Wiedervereinigungsdiskussion in der Bundesrepublik schade der Demokratisierungsbewegung in der DDR. Man sollte den Begriff für eine längere Zeit beiseitelassen und „stattdessen von Selbstbestimmung reden“. Sachlichen und zeitlichen Vorrang habe die Demokratisierung in der DDR. Damit wurde eine deutsche Einheit nicht ausgeschlossen, sie sollte sich aber im Rahmen eines gesamteuropäischen Prozesses vollziehen.679 Diese Auffassung entsprach etwa der der wichtigsten Bonner Parteien. Entsprechend konzentrierten sich Erklärungen auf den Demokratisierungsprozess in der DDR.680 Im Oktober kursierte in der Brüderunität Niesky der DJ Aufruf „Zur Einmischung in eigener Sache“. Unter der Losung „Bürgerbewegung, Demokratie jetzt“ wurde zum Sammeln und Handeln gegen das Regime aufgerufen.681 Am 27. Oktober forderte Demokratie Jetzt bei einem Forum in der Berliner Gethsemanekirche einen Volksentscheid darüber, ob die SED sich überhaupt auf einen Auftrag der Bevölkerung stützten könne. Der Sozialismus brauche lebendige Demokratie. Nötig sei eine „demokratische Willensbildung ohne festgeschriebene Führungsrolle der SED“.682 Für die Vorbereitung und Durchführung eines entsprechenden Volksentscheids wurde die Bildung eines 676 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 31. 10. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 14). 677 Vgl. BVfS Leipzig vom 14. 10. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1714, Bl. 7–9). 678 Vgl. BVfS Leipzig vom 1. 11. 1989 : Konstituierung des DA am 29. 10. 1989 ( ebd., XX 1838, Bl. 50). 679 Rein, Die Opposition, S. 82. 680 Demokratie Jetzt von Oktober 1989 : Was können wir tun ? Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR ( Friedensbibliothek Zwickau ). 681 Vgl. SED - BL Dresden vom 10. 10. 1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13550). 682 Zit. in Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 28 f.

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Runden Tisches empfohlen, der die Arbeit an einer neuen Verfassung beginnen und anregen sollte. Geplant war „eine Art außerordentlicher Senat, der alle noch vorhandenen Autoritäten zu dem Zweck verbündet, dem Staat erst wieder zu handlungsfähigen Organen zu verhelfen“.683 Initiative für Frieden und Menschenrechte ( IFM ) Am 28. Oktober konstituierte sich die bereits Ende 1985 in Berlin gegründete Initiative für Frieden und Menschenrechte ( IFM ) zur landesweiten Bürgerbewegung. Es wurden fünf Regionalgruppen und 15 thematische Projektgruppen geschaffen, Kontaktadressen und Sprecher benannt684 und ein „Selbstverständnis der IFM“ verabschiedet. Darin wurde Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Durchsetzung der ungeteilten Menschenrechte gefordert. Der Begriff Sozialismus kam in der Erklärung nicht vor. Vielmehr wurde erklärt, man wolle die Kräfte unterstützen, die gegen den Führungsanspruch der SED seien.685 Seit ihrer Gründung bestand die etwa 20 Personen umfassende Gruppe etwa zur Hälfte aus IM des MfS.686 Auch die IFM trat in den sächsischen Bezirken kaum in Erscheinung. Allerdings unterhielten einige Mitglieder der Gruppe „Wolfspelz“ Kontakte zu ihr. Anett Kalex nahm am 28. Oktober an der Berliner Neukonstituierung teil und wurde als Kontaktperson der Projektgruppe „Bildung und Kinder“ gewählt. Karsten Heim leitete die Projektgruppe „Menschenrechte in Israel“. Martin Fischer wurde als Kontaktperson der IFM für die Regionalgruppe Dresden benannt.687 Vereinigte Linke ( VL ) In einer Erklärung forderten Teilnehmer des Böhlener Treffens der Initiative „Für eine Vereinigte Linke“ am 12. Oktober den Rücktritt der Regierung und die Bildung einer neuen Führung aus reformwilligen Kräften. Forderungen der Akteure waren eine Demokratisierung der Presse, die Zulassung oppositioneller Gruppen, sofern sie für demokratischen Sozialismus eintraten, öffentliche gesellschaftliche Diskussionen, die Veröffentlichung von Daten aus Wirtschaft und Gesellschaft, die Bildung einer sozialistischen Reformregierung „auf dem

683 Ullmann, Der gemeinsame Boden, S. 85. 684 Erstes DDR - weites Treffen der IFM, o. D. ( ABL, H. XIX /2); Struktur / Sprecher der IFM (Gerd Poppe, Werner Fischer und Thomas Rudolph )/ Kontaktadressen. In : Dokumentation zur Entwicklung der neuen Parteien, S. 153 f. 685 Selbstverständnis der IFM vom 28. 10. 1989. In : ebd., S. 152 f. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 248. 686 Vgl. Walter Süß, Die Stasi war allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. In : Das Parlament vom 24. 1. 1992. 687 Vgl. BVfS Dresden vom 29. 10. 1989 : IFM ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 3 f.).

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Boden des Antistalinismus und Antikapitalismus“ sowie die Anerkennung der Zweistaatlichkeit bei gleichzeitigem Ausbau der Beziehungen zur Bundesrepublik.688 Zu ihren Begründern gehörten u. a. Mitarbeiter der Ost-Berliner Umweltbibliothek, der Vereinigung „Kirche von unten“ und des Friedrichsfelder Friedenskreises. Das Neue Forum Leipzig distanzierte sich am 13. Oktober von der Erklärung des Böhlener Treffens. Die dort gestellten „illusionären Bedingungen“ an die SED - Führung seien „gefährlich, ja reinweg staatsfeindlich“. Eine solche „radikale“ Richtung sei für das Neue Forum unannehmbar. Ihm gehe es um eine Diskussion des Sozialismus und um Mitwirkung in der Gesellschaft.689 In Dresden konstituierte sich die VL am 12. November, unmittelbar vor einem ersten zentralen Arbeitstreffen der VL in Berlin. Die Reformvorschläge basierten auf links - sozialistischen Ansätzen. Protagonisten der VL in Dresden stammten aus dem Künstlermilieu der Dresdner Neustadt. Die Verquickung von autonomen Aussteigern, Künstlern aus der Neustadt und Intellektuellen war kennzeichnend für die hiesige Vereinigte Linke. Schwerpunkt der politischen Arbeit war der Widerstand gegen die Vereinigung beider deutscher Staaten. Programmatisch ähnelte sie den Grünen nach deren Gründung in der Bundesrepublik.690 Regionale Gruppen und Bürgerinitiativen Im Oktober wurden in Sachsen nahezu alle regionalen Aktivitäten, die zu Gruppenbildungen hätten führen können, vom Neuen Forum absorbiert. Die Vorteile des überregionalen Charakters schienen auf der Hand zu liegen. Allerdings blieb ein Teil möglicher basisdemokratischer Aktivitäten dadurch auf der Strecke. Die Auseinandersetzungen über den Charakter des Neuen Forums und dessen programmatische Ausrichtung wurden auch in den regionalen Gruppen ausgetragen. Viele nutzten aber nur den Namen und kümmerten sich wenig um programmatische Vorgaben aus Berlin. Neben dem Neuen Forum blieben die vielerorts bestehenden, fast immer kirchlichen Arbeitsgruppen zu den Fragen des konziliaren Prozesses weiter aktiv. Im Herbst bildeten sich weitere Gruppen, die sich vor allem mit Fragen des Friedens, der Gerechtigkeit und des Umweltschutzes befassten. In der evangelischen Gemeinde Nauwalde ( Riesa ) bildete sich am 13. Oktober eine Gruppe, die sich mit Fragen der Demokratisierung beschäftigte.691 Aus dem Kirchgemeindehaus Annaberg meldete das MfS am 9. Oktober die erste Zusammenkunft des Arbeitskreises „Wertewandel - Lebensweise“ der Ökogruppe „Grü688 Erklärung der Teilnehmer des Böhlener Treffens vom 12. 10. 1989 ( ABL, H. XVII Neues Forum ). 689 Neues Forum Leipzig vom 13. 10. 1989 : Betreffs der Erklärung vom 12. 10. 1989 der Unterzeichner des Böhlener Treffens ( ebd.). 690 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 356–364. 691 Vgl. Der BfVS Dresden wurden weitere Hinweise zu Aktivitäten feindlich - negativer Personen bekannt, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 156).

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nes Kreuz“ Annaberg. Themen der Gruppe waren die Friedensdekade, Friedenserziehung, Volksbildung, Gerechtigkeit, konkrete Solidarität und die Vorbereitung freier Wahlen 1990.692 In der St. - Nikolai - Kirche Aue traf sich im Oktober die „Gruppe Kreis“ unter Leitung des Pfarrers u. a. zum Thema „Traue nicht jedem, sonst kannst Du eingesperrt sein“.693 Im Pfarrhaus Burkersdorf ( Brand - Erbisdorf ) traf sich weiterhin der Arbeitskreis „Frieden und Umwelt“.694 In Oederan ( Flöha ) war ein „Öko - Kreis“ aktiv.695 In Laubusch ( Hoyerswerda ) bildete sich im Herbst eine Umweltgruppe, die sich mit ökologischen Probleme im Territorium beschäftigte.696 In Dresden war weiterhin das „Autonome Forum“ aktiv, das schon im Sommer das Protesttrommeln für China in der Kreuzkirche Dresden organisiert hatte. Seine Mitglieder hatten zur Demonstration am 8. Oktober aufgerufen. Es war nicht mit dem Neuen Forum identisch und bestand ausschließlich aus Punkern.697 Über Dresden hinaus entfaltete die am 8. Oktober gebildete Dresdner Gruppe der 20 Wirkung. Das Konzept, eine Vertretergruppe der demonstrierenden Bevölkerung für Gespräche mit dem Staat zu bilden, fand einige Nachahmer. Aber auch darüber hinaus wurde die Entwicklung in Dresden in anderen Regionen genau verfolgt. Am 18. Oktober wurde im Schaukasten des Pfarramtes der ev. - luth. Pauluskirche Zwickau über die Entwicklung in Dresden und die Gruppe der 20 informiert.698 Im VEB Edelstahlwerk Freital wurde im Rahmen der Eine - Mark - Aktion der Gruppe der 20 Geld gesammelt.699 Auch in anderen Kreisen gab es Einzahlungen auf das Postscheckkonto der Gruppe.700 In der Kirche in Oelsa ( Freital ) wurde mit Videofilmen über die Ereignisse in Dresden und die Gruppe der 20 informiert und ebenfalls Geld für die Eine Mark - Aktion gesammelt.701 In Meißen arbeitete die illegale Gruppe „Gerechtigkeit – Umwelt – Frieden“, gegen die das MfS im Oktober „Maßnahmen zur Isolierung des aktiven Kerns“ vorbereitete.702 Bürger aus Bernsbach, Beierfeld, Schönheide, Zwönitz und anderen Orten der Kreise Aue und Schwarzenberg 692 KDfS Annaberg vom 11. 10. 1989 : AK „Wertewandel - Lebensweise“ ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 1, Bl. 84–88). 693 KDfS Aue vom 11. 10. 1989 : Zusammenkunft der „Gruppe Kreis“ ( ebd. 1805, Bl. 73 f.). 694 KDfS Brand - Erbisdorf : Treffen des AK „Frieden / Umwelt“ am 17. 10. 1989 (ebd. 3078, 2, Bl. 223 f.). 695 KDfS Flöha vom 14. 10. 1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 87–90). 696 Vgl. Gemeinde Laubusch von November 1989, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 697 Vgl. BVfS vom 7. 10. 1989 : Tagesbericht zur Aktion „Jubiläum 40“ ( ABL, Dresden ). 698 Vgl. KDfS Zwickau vom 18. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2437, 2, Bl. 246–249). 699 Vgl. KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital 15053, Bl. 1–10). 700 KDfS Brand - Erbisdorf vom 31. 10. 1989 : Einzahlung kleinerer Geldsummen zugunsten des Neuen Forums und der Gruppe der 20 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 187); KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 6–8). 701 Vgl. KDfS Freital vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 447–449). 702 SED - KL Meißen vom 9. 10. 1989 ( ABL, Dresden ).

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bildeten im Oktober das „Forum 93“, das mit Forderungen nach einer freiheitlichen Demokratie an die Öffentlichkeit trat, die bis 1993 erkämpft werden sollten.703 Im Glaswerk Olbernhau ( Marienberg ) gab es am 20. Oktober eine Unterschriftensammlung zur „Grünländer Initiative“. Ihr Ziel war das Ende der SED - Herrschaft und die Beseitigung des Sozialismus. Schon zuvor hatte es in Zöblitz eine Unterschriftensammlung gegeben.704 In Plauen trat Mitte Oktober eine „Freie Sozialistische Partei Deutschlands“ mit einem Programm an die Öffentlichkeit. Darin hieß es, alle Macht gehe vom Volke aus und dürfe niemals gegen das Volk gerichtet sein. Grundprinzip der Macht sei der demokratische Zentralismus. Alle Machtinstrumente müssten in freien und geheimen Wahlen gewählt werden. In der Wirtschaft werde keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geduldet. Allerdings müsse die Wirtschaft dennoch leistungsorientiert arbeiten und dürfe private Initiativen nicht unterdrücken. Private Betriebe seien im Rahmen des Bürgerwillens möglich.705 Am 3. Oktober forderten Mitglieder eines unabhängigen Jugendbundes „FDM“ (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte ) des Kreises Stollberg schriftlich von der SED - Kreisleitung, den Jahrestag abzusagen und stattdessen die vorhandenen Probleme zu lösen. Als Ziele wurden Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und der Sturz der Diktatur der SED im Sinne eines „wahren Sozialismus“ genannt.706 Daneben entstanden regionale Initiativen, Räte oder Komitees, deren Ziel die Organisierung und Absicherung von Demonstrationen sowie Kundgebungen oder die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen des Staates gegen Demonstranten war. In Klingenthal bildete sich am 19. Oktober ein Demo - Rat, dessen Ziel die Sicherung der Friedlichkeit der Demonstrationen und die Vorbereitung der Kundgebungen in der Kirche war.707 Im Kreis Auerbach wurde am 30. Oktober offiziell die „Bürgerinitiative im Kreis Auerbach“ ( BIKA ) ins Leben gerufen. Sie bestand aus Mitgliedern von Bürgerrechtsgruppen aus Treuen, Auerbach und Ellefeld sowie weiteren Personen. Die BIKA verfügte über einen Sprecherrat, eine Vollversammlung mit Vertretern der Basisgruppen in Rodewisch, Ellefeld, Bergen, Wildenau, Reumtengrün und Dorfstadt sowie über mehrere Facharbeiterkreise.708 Parallel dazu bildete sich in Kottengrün eine Bürgerinitiative ( BIKO ) als kontrollierendes Organ der Gemeindevertretung.709 In 703 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 31. 10. 1989. 704 Vgl. KDfS Marienberg vom 20. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2143, 1, Bl. 129 f.). 705 Programm der Freien Sozialistischen Partei Deutschlands vom 13. 10. 1989 ( SächsStAC, 121517); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 1. 11. 1989 : Verbreitung des Programms der „Freien Sozialistischen Partei Deutschlands“ in der ev. - luth. St. - Johanniskirche Plauen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 471, Bl. 157–162). 706 KDfS Stollberg vom 5. 10. 1989 : Androhung von Demonstrativhandlung ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 36 f.). 707 Vgl. Kunzmann, Nachwort mit Chronikfragment ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 708 Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 709 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 155.

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Freiberg befasste sich eine Bürgerinitiative „Rechtsstaatlichkeit“ mit den Vorkommnissen am 4./5. Oktober am Bahnhof.710 In Markneukirchen ( Klingenthal) wurde am 11. Oktober zur Bildung einer Bürgervertretung aufgerufen, die mit den Staatsvertretern verhandeln sollte. Am 17. Oktober trug sie Vertretern des Rates des Kreises und der Stadt politische Forderungen vor. Offiziell konstituierte sie sich am 27. Oktober. Sie lehnte sich inhaltlich an das Neue Forum an, kümmerte sich um Inhaftierte, übernahm die Verantwortung für alle Demonstrationen, Gespräche mit staatlichen Stellen und später die Besetzung der Runden Tische in Stadt und Kreis sowie der Kommission „Amtsmissbrauch“.711 In Mühltroff ( Schleiz ) bildete sich am 23. Oktober ein „Christlicher Aktionskreis“ ( CAK ), der von nun an die Friedensgebete organisierte.712 In Wittichenau ( Hoyerswerda ) wurde am 29. Oktober eine Bürgerinitiative gebildet.713 3.11 Blockparteien und Nationale Front Ende Oktober Ende Oktober änderte sich die Lage für die Blockparteien auch ohne ihr eigenes Zutun. Während die Dialogveranstaltungen immer mehr zu Tribunalen der Anklage gegen die SED wurden, mehrten sich die Stimmen, die meinten, die Blockparteien würden dort besser abschneiden als die SED.714 Anders als bei Veranstaltungen des Blocks wurde bei Dialogen und Veranstaltungen in Kirchen verstärkt die Eigenständigkeit der Blockparteien gefordert und betont.715 In den Blockparteien mehrten sich Forderungen nach einer Änderung des Wahlgesetzes, nach freien Wahlen und „voller Gleichberechtigung der befreundeten Parteien“.716 Das führte unter SED - Mitgliedern gelegentlich zu Ärger darüber, dass die Blockparteien plötzlich „so auftrumpfen“.717 Das galt freilich nur bedingt für deren Vorsitzende. Bei einem Treffen mit Krenz am 27. Oktober musste dieser sich wegen seines Kurses gegenüber Götting, Homann und Maleuda geradezu verteidigen. Maleuda bat ihn inständig, die führende Rolle der SED zu erhalten. Nur Gerlach meinte, in Zukunft werde das Parteiensystem in der DDR anders aussehen als bisher und sprach von einer Revolution.718 So oder so sahen sich 710 Bürgerinitiative „Rechtsstaatlichkeit“ zu Vorkommnissen vom 4./5. 10. 1989 ( StA Freiberg ). 711 Vgl. Der Anfang vom Ende/Markneukirchen. Die „Wende“ und die Zeit danach 1989– 1998 ( PB Johannes Sembdner); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 13. 1. 1990; Bürgermeister der Stadt Markneukirchen zur Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 712 „Erinnern Sie sich ?“ In : Mühltroffer Stadtanzeiger von November 1995 ( HAIT, Plau F 9); Ev. - Luth. Pfarramt ( Johannes Gebhardt ) vom 13. 3. 1999, Anlage 1 ( HAIT, Plau G1). 713 Krause, Wittichenau, S. 57. 714 Vgl. KDfS Aue vom 26. 10. 1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 36 f.). 715 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 31. 10. 1989. 716 MfS vom 30. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 4). 717 KDfS Annaberg vom 27. 10. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 26–29). 718 Vgl. Marcowitz, Der schwierige Weg, S. 17.

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die Blockparteien einer veränderten Situation gegenüber, die sie selbst nicht herbeigeführt hatten. Die Rede war nun immer mehr davon, dass die SED ihre führende Rolle erkämpfen und das Wahlsystem geändert werden müsse.719 Auf Foren wurden Blockfunktionäre mit ihrem „Recht auf programmatische Äußerungen“ konfrontiert,720 wozu sie oft gar nicht in der Lage waren. Nicht alle wollten ihre nachgeordnete Rolle aufgeben und sich neu profilieren. Zwar gab es viele Mitglieder und Funktionäre, die die Demokratisierung herbeisehnten und unterstützen, es gab aber auch eine sehr große Gruppe, die ideologisch dachte und sich weiterhin für einen „Sozialismus“ einsetzte, bei dem nicht zwischen Diktatur und Demokratie unterschieden wurde. Auch funktionierten die Parteiapparate der Blockparteien – bis auf Ausnahmen – nicht wie Parteien, die ihre Chance zu eigenständigem Handeln und zur Profilierung gekommen sahen, sondern als Teile eines Blocks. Viele Funktionäre sträubten sich, Gesamtverantwortung zu übernehmen und wollten lieber unter einer starken Obrigkeit weiter für ihre „Abteilung“ zuständig bleiben. Daher war oft die Kritik zu hören, die SED führe und der Zusammenhalt im Block sei unzureichend. Die Forderungen, sich zu Parteien eines parlamentarisch - demokratischen Systems zu wandeln, kamen von einzelnen Mitgliedern und Funktionären, wurden aber vor allem auch von außen an die Blockparteien herangetragen. Während die Bevölkerung die SED mit Forderungen nach einem Ende ihrer Alleinherrschaft konfrontierte, sah sie in den Blockparteien den Nukleus eines künftigen Parteiensystems. Nichts machte den Wandel deutlicher als die Tatsache, dass die Abteilung „Befreundete Parteien“ im ZK der SED, die für die Über wachung und Finanzierung der Blockparteien zuständig war, ihre Tätigkeit und Kontakte zu den Blockparteien Ende Oktober einstellte.721 LDPD : Ende Oktober setzte die LDPD - Führung ihren Kurs fort, die LDPD als eigenständigere Blockpartei unter Führung der SED zu profilieren. In den Kreisen entwickelte sie nun entsprechende Initiativen, wobei hier meist der Schwerpunkt auf die Eigenständigkeit und weniger auf die führende Rolle der SED gelegt wurde. Aus Annaberg - Buchholz berichtete das MfS über „umfangreiche Aktivitäten“ von LDPD und CDU, um „vor allen Dingen gegenüber der SED eine eigenständigere Politik durchzuführen“. Der alleinige Führungsanspruch sei nicht gerechtfertigt.722 Bei einer Veranstaltung in Hartmannsgrün (Auerbach ) erklärte der Ortsvorsitzende von Treuen, Sternkopf, die LDPD werde künftig ihre Positionen deutlicher vertreten.723 Am 30. Oktober forderte der Kreissekretär der LDPD Bischofswerda, Oswald, „Schluss zu machen mit dem organisierten verantwortungslosen Führungsanspruch durch die SED“. Er verlangte eine Trennung von Politik und Wirtschaft, eine Abkehr vom Nomenkla719 720 721 722

Vgl. SED - BL Dresden vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, AR, 13118). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 1. 11. 1989. Lapp, Ehemalige DDR - Blockparteien, S. 64. KDfS Annaberg vom 26. 10. 1989 : Blockparteien ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 41 f.). 723 Vgl. KDfS Auerbach vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 530, Bl. 14–18).

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tursystem und eine Demokratisierung des politischen Systems. Das Neue Forum sollte in den Block einbezogen werden.724 Gerlach widersprach der oft in den Kreisen eingenommenen Haltung. In der „Jungen Welt“ erklärte er am 31. Oktober, die Bündnispolitik mit der SED müsse beibehalten werden, weil sonst die „Arbeiterklasse ihre weltgeschichtliche Mission – die Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien – nicht erfüllen“ könne. Von diesem möglichst breiten Bündnis müssten auch weiterhin die Kräfte ausgeschlossen bleiben, die „nicht auf dem Boden der Verfassung“ stünden. Das beziehe sich auf jene Kräfte, die die führende Rolle der SED in Frage stellten.725 Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann Gerlach seine Vorreiterrolle zu verlieren, begannen einzelne Kreisvorstände weitergehende Forderungen zu erheben. In Karl - MarxStadt konstatierte das MfS Ende Oktober Meinungen, wonach der Bezirksvorstand durch die Basis abgewählt werden müsse, wenn er weiter die führende Rolle der SED anerkenne.726 Wie in der CDU gingen die Meinungen aber auch in den sächsischen Kreisen auseinander. Im Kreis Annaberg waren laut MfS verschiedene Auffassungen erkennbar. Ein Teil der Mitglieder unterstützte die führende Rolle der SED bei mehr Mitspracherecht der LDPD, andere waren gegen die Machtkonzentration in den Händen der SED.727 Ein deutliches Zeichen setzte Ende Oktober der LDPD - Kreisverband Plauen und trat als erster LDPD - Verband aus der Nationalen Front aus.728 Hier hatte Kreisvorsitzender Bernd Gallon schon am 16. Oktober Gorbatschow so zitiert : „Wer die Zeit verpasst, den bestraft die Geschichte.“729 CDU : In der CDU kam es unter dem Druck der Basis730 am 25. Oktober, einen Tag nach der Wahl von Krenz durch die Volkskammer, auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft Kirchenfragen beim Hauptvorstand der CDU zur Auseinandersetzung über den Kurs. Götting hatte zuvor den Entwurf eines Positionspapiers verschickt.731 Wie er forderte auch sein Stellvertreter, Wolfgang Heyl, die führende Rolle der SED weiterhin anzuerkennen, gleichzeitig aber das Profil der Blockpartei zu modifizieren.732 Zu diesem Zeitpunkt wurde die CDU bereits auf Kundgebungen und in Dialogen mit der Aufforderung konfrontiert, sich stärker gegen die SED zu profilieren. Wie in Großenhain wurde ihre Inak-

724 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 30. 10. 1989 : Foren ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 725 Interview mit Manfred Gerlach. In : Junge Welt vom 31. 10. 1989. Vgl. Der Morgen vom 1. 11. 1989. 726 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 31. 10. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 14). 727 Vgl. KDfS Annaberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd., AKG 529, 1, Bl. 20–25). 728 Vgl. Marcowitz, Der schwierige Weg, S. 17. 729 KDfS Plauen vom 19. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 1, Bl. 259–261). 730 Sekretariat des HV der CDU vom 25. 10. 1989 : Vorschläge aus Briefen von Unionsfreunden und Ortsgruppen sowie Informationsberichten von Vorständen der CDU (2. Teil ) ( ACDP, VII - 0101–3529). 731 Gerald Götting an alle Mitglieder des HV vom 25. 10. 1989 ( ebd., VII - 011–3518). 732 Vgl. Neue Zeit vom 27. 10. 1989.

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tivität kritisiert.733 Die sächsischen CDU - Bezirksvorstände vertraten nun mehr oder weniger die Linie des Hauptvorstandes. Bei einer Beratung aller CDU Kreissekretäre im CDU - Bezirksvorstand Karl - Marx - Stadt erklärte Reichenbach, die CDU bleibe beim demokratischen Zentralismus. Eine an der Basis geforderte weitere Besetzung von Minister - und Staatssekretärsstellen sei nicht realisierbar, dazu fehlte der CDU das Potenzial. Ein neues Wahlverfahren sei nicht notwendig, da es ein funktionierendes gebe. Reichenbach wies die Kreissekretäre ein, „dass sich die Diskussion nicht gegen die staatlichen Verhältnisse in der DDR richtet und darauf geachtet wird, dass die Bündnispolitik auf dem bewährten Kurs weitergeführt wird“.734 In den Kreisen war man jedoch kaum noch bereit, diesen prodiktatorischen Kurs mitzutragen. Aus dem CDU - Kreisverband Schwarzenberg wurde gemeldet, viele Mitglieder meinten, Basis und Überbau hätten sich getrennt, die CDU sei „quer gespalten“. Es gebe den Ruf nach einem Wechsel in der Führung, nach einem außerordentlichen Parteitag und einem neuen Parteiprogramm. Im Kreisvorstand und in Ortsparteigruppen wurden bereits eigene neue Parteiprogramme entwickelt und diskutiert. So gab es u. a. folgende Willenserklärung : „Unsere Partei ist eine Partei des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus.“ Man trete ein für friedliche Demonstrationen, Reisefreiheit und ein allgemeines Mehrheits - Wahlsystem, damit „Wahlen wieder Wahlen werden“. Im Kreisverband gab es Unterschriftensammlungen für einen außerordentlichen Parteitag, und es wurde ein Forderungsprogramm formuliert, in dem die Einführung der Marktwirtschaft verlangt wurde.735 Auch im Kreis Annaberg gab es in der CDU Aktivitäten, „gegenüber der SED eine eigenständigere Politik durchzuführen, mit gleichzeitigem Hinweis, dass der alleinige Führungsanspruch in der sozialistischen Gesellschaft der DDR nicht gerechtfertigt ist“. Im Kreisvorstand wurde ein Aufruf an die Mitglieder verlesen, wonach es auf dem Sonderparteitag darum gehe, „gegenüber der SED eigenständiger aufzutreten und als gleichberechtigte Partei in der Gesellschaft mitzuwirken“.736 Joachim Dirschka, Leipziger Mitglied des Hauptvorstandes, meinte, die CDU sollte ihre Eigenständigkeit ausbauen, „ohne dabei die Grundlagen einer offensiven Bündnispolitik zu untergraben“. Die Probleme seien nur durch ein starkes Bündnis zu bewältigen, in dem die einzelnen Parteien jedoch einen gleichberechtigten Status haben müssten.737 Die Mitglieder des CDU Kreisvorstandes Löbau forderten, die CDU müsse sich endlich vom Führungsanspruch der SED distanzieren und einen eigenen Beitrag zur Entwicklung der

733 Vgl. KDfS Großenhain vom 26. 10. 1989 : Aktivitäten der ev. - luth. Kirche Kreis Großenhain ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11029, Bl. 1–3). 734 KDfS Schwarzenberg, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 542, 1). 735 KDfS Schwarzenberg vom 26. 10. 1989 : CDU ( ebd., Sb 53, Bl. 18–20). 736 KDfS Annaberg vom 26. 10. 1989 : Blockparteien ( ebd., AKG 1804, Bl. 41 f.). 737 Sekretariat des HV der CDU vom 25. 10. 1989 : Vorschläge aus Briefen von Unionsfreunden und Ortsgruppen sowie Informationsberichten von Vorständen der CDU (ACDP, VII - 010–3529).

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DDR leisten.738 Am 26. Oktober erklärte der Sprecher der CDU - Fraktion in der Dresdner Stadtverordnetenversammlung, Harald Tausch - Marton, den Auszug der CDU aus dem Block. Der Stadtverband Dresden wolle als eigenständige, unabhängige Partei und nicht innerhalb eines Parteienblocks weiterarbeiten.739 Einen Monat, bevor der CDU - Hauptvorstand den Zentralen Block verließ, ging man in Dresden – wie die LDPD in Plauen – bereits diesen Weg. Unterschiedliche Haltungen gab es zum Neuen Forum. Während z. B. im Kreis Annaberg der CDU - Kreistagsabgeordnete Wolfgang Riether seine Bereitschaft erklärte, Mitglied des Neuen Forums zu werden und die führende Rolle der SED ablehnte,740 forderte der CDU - Kreisvorstand Eilenburg dazu auf, nicht dem Neuen Forum beizutreten oder dessen Erklärung zu unterschreiben.741 Bei einer Parteitagung der CDU mit Künstlern und Kulturschaffenden am 27. Oktober in der Zentralen Bildungsstätte in Burgscheidungen prallten die unterschiedlichen Richtungen innerhalb der Partei aufeinander.742 Auslöser war eine Rede des Schriftstellers Uwe Grüning „über die Abschaffung der Wirklichkeit“, bei der er die SED - Führung offen angriff.743 Es folgte eine offene Abrechnung mit der Politik Göttings und die Forderung nach seinem Rücktritt. Am selben Tag druckte die gesamte Unionspresse den „Brief aus Weimar“ ab. Einen Tag später veröffentlichte die „Neue Zeit“ den Diskussionsentwurf eines Positionspapiers des Präsidiums des Hauptvorstandes, in dem nun in acht Punkten u. a. freie Wahlen, eine am Markt orientierte Wirtschaft, ein grundlegend verändertes öffentliches Leben, das sich „durch lebendige Demokratie, strikte Rechtsstaatlichkeit und realistische Medien politisch auszeichnet“ sowie eine „neue Qualität innerparteilicher Demokratie“ postuliert wurden. Betont wurde jedoch erneut, dass die CDU eine eigenständige Partei in der DDR und für den Sozialismus sei und bleibe. Das Präsidium des Hauptvorstandes berief kurzfristig den 17. Parteitag ein.744 Dass die SED - treue Haltung sich nicht auf den Hauptvorstand konzentrierte, zeigten Erklärungen wie die des CDU - Kreisvorsitzenden von Delitzsch, Michael Czupalla, der noch am am 28. Oktober „eine positive Bewertung der Zusammenarbeit mit der SED“ gab. Er „bekannte sich vorbehaltlos zur Führungsrolle der SED und unterstrich seine persönliche Mit-

738 Vgl. KDfS Löbau vom 25. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 106– 108). 739 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 28./29. 10. 1989; Interview mit Horst Korbella. In : Kaulfuß / Schulz, Dresdner Lebensläufe, S. 114. 740 Vgl. KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 3, Bl. 85–88). 741 Vgl. KDfS Eilenburg : Informationsbericht, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg, 85, Bl. 31). 742 Vgl. Schmidt, Transformation einer Volkspartei, S. 44. 743 Grüning, Weltfremdheit und Wirklichkeitsnähe, S. 40, bezeichnete die Veranstaltung später als „Aufbruch einer Partei aus ihrer nicht selbstverschuldeten, wohl aber geduldeten Unmündigkeit“ und als „Sternstunde der CDU, vielleicht ihre bedeutsamste“. 744 Neue Zeit vom 28. 10. 1989.

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verantwortung für die derzeitige Lage“.745 „Als CDU - Mitglied“, so zitierte ihn die „Leipziger Volkszeitung“, „fühle ich mich für das, was heute hier kritisiert wird, mitverantwortlich. Vieles wird sich in unserer Partei ändern, aber wir werden keine Opposition zum Sozialismus darstellen.“746 Auch der CDU - Kreisvorsitzende von Bischofswerda, Vogel, meinte, keiner könne mit dem Finger auf andere zeigen und eine Schuldzuweisung aussprechen. Die Verantwortung sei unteilbar. Allerdings müsse die SED als führende Kraft im Staat ihre Rolle gründlich durchdenken.747 In einer Resolution bekannte sich der CDU - Kreisvorstand Geithain am 27. Oktober zur Demokratisierung des Sozialismus und erklärte, darin eine wichtige Rolle spielen zu wollen.748 Bei der Tagung des Kreistages Freiberg am 30. Oktober forderte die CDU einen demokratischen Neubeginn mit gleichberechtigten Gesprächen am Runden Tisch sowie eine Einladung von Vertretern der neuen Parteien zu Kreistagssitzungen.749 Während die Haltung der Kreisvorstände ambivalent blieb, wuchs die Unzufriedenheit an der Basis weiter. Hier wartete man auf die Ablösung Göttings oder, wie in Bad Elster, des gesamten Hauptvorstandes.750 NDPD : Von der NDPD - Parteileitung kamen Ende Oktober keine neuen Impulse. Die NDPD - Basis differenzierte sich. Bei einer Versammlung der NDPD Ortsgruppe Adorf am 27. Oktober wurden der Rücktritt des NDPD - Vorsitzenden und des Bezirksvorsitzenden sowie Verfassungsänderungen zur Einführung eines Mehrparteienwahlsystems gefordert.751 Im Kreis Aue stellte die Ortsgruppe Stützengrün die führende Rolle der SED direkt in Frage.752 Im Kreis Karl Marx - Stadt meinte die NDPD verklausuliert, das Bündnis der befreundeten Parteien müsse auf ein neues, zukunftsorientiertes Niveau gehoben werden. Dazu gehöre zukünftig vor allem ein gleichberechtigtes Miteinander,753 also kein Führungsanspruch der SED. Bei einer Versammlung der NDPD am 31. Oktober in Annaberg - Buchholz ging es um die Beseitigung der führenden Rolle der SED, die Änderung des Parteistatuts der NDPD und um politische Grundrechte. Es wurde vorgeschlagen, sich ein völlig neues Programm zu geben.754 Im Kreisvorstand Zwickau der NDPD hatte man ein ganz eigenes Demokratieverständnis. Hier meinte man Ende Oktober, es gebe in der Nationalen Front genügend Kräf745 SED - KL Delitzsch vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 154 f.). 746 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 31. 10. 1989. Er ist bis heute als Landrat tätig. 747 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 30. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 748 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 27. 10. 1989. 749 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 2. 12. 1989. 750 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 31. 10. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 14); KDfS Oelsnitz vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd., AKG 540, 1, Bl. 8). 751 Vgl. KDfS Oelsnitz, o. D. ( ebd. 2146, 2, Bl. 99 f.). 752 Vgl. KDfS Aue vom 30. 10. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 24–28). 753 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 28. 10. 1989. 754 Vgl. KDfS Annaberg vom 4. 11. 1989 : Dialogveranstaltungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 4–7).

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te und keinen Bedarf an neuen. Man sollte den vorhandenen Parteien mehr Eigenständigkeit einräumen und so eine „echte sozialistische Demokratie“ durchsetzen.755 Die bisherigen Parteien sollten demnach darüber entscheiden, ob sie für eine Demokratie ausreichten, eine Haltung, die sich später auch an vielen Runden Tischen wiederfand. DBD : Vereinzelt wurde Ende Oktober durch DBD - Funktionäre angeregt, das Wahlgesetz zu überdenken.756 Zu diesem Zeitpunkt nahmen auch die Forderungen nach mehr Eigenständigkeit im Rahmen des bestehenden Systems zu. Die meisten DBD - Funktionäre setzten zwar weiterhin auf „Miteinander“ mit der SED, dies aber „bei gleichzeitig besserer Profilierung der DBD“. Hinsichtlich der eigenen Profilierung billigten sie die „Abwartetaktik“ ihres Parteivorstandes jedoch nicht.757 Man war verärgert, weil die SED „das absolute Machtmonopol“ behalten wollte und forderte mehr Eigenständigkeit und Mitspracherechte. Gegenwärtig fühle man sich als „Wasserträger“.758 Ansonsten aber blieb alles beim Alten. So plädierten DBD - Abgeordnete auch Ende Oktober für eine „erfolgreiche Erfüllung der Planaufgaben“ und sprachen sich gegen Demonstrationen aus.759 3.12 Krise der SED Ende Oktober Die Stimmung innerhalb der SED verschlechterte sich in der zweiten Oktoberhälfte rapide. Noch mit der Wahl von Krenz sahen „real denkende Bürger“ den Beginn einer „Entspannung der Lage“ für die SED,760 und die Arbeit der Kreisleitungen war auf die „Geschlossenheit der Partei“, die „Standhaftigkeit der Genossen“ und die „Ausprägung der Überzeugung der Sieghaftigkeit des Sozialismus“ ausgerichtet. Noch setzte man wie die Kreisleitung Dippoldiswalde auf Kontinuität im Sinne von Krenz und lehnte es ab, „Modrow zum Hilfsmessias“ aufzubauen.761 Der von der 9. Tagung ausgehende Impuls, „gemeinsam mit allen progressiven Kräften“ wieder in die Offensive zu gelangen, wurde jedoch von der Stimmung in der SED ad absurdum geführt. Selbst SED - Mitgliederversammlungen zeigten, „dass das Vertrauensverhältnis zur Partei und deren Führungsanspruch nicht mehr vorhanden bzw. gestört“ war. Es gebe für ein neues Antreten der SED „zu viel Skepsis und Zweifel“. Die Einheit und Geschlossen755 KDfS Zwickau vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd. 2146, 1, Bl. 27). 756 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 30. 10. 1989 : Foren ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 757 KDfS Löbau vom 25. 10. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 106–108). Vgl. SED - KL Zittau vom 18. 10. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 758 KDfS Oelsnitz vom 27. 10. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 1, Bl. 10–12). 759 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 2. 12. 1989. 760 KDfS Annaberg vom 24. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 33– 37). 761 SED - KL Dippoldiswalde vom 25. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552, Bl. 1–6).

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heit der Kommunisten war nicht mehr gewährleistet.762 Das lag vor allem daran, dass in vielen Grundorganisationen das Vertrauen in die Parteiführung „stark erschüttert“ war und sich viele Mitglieder und Funktionäre nicht mehr in der Lage sahen, politisch offensiv aufzutreten.763 Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Opitz, meinte, das Auftreten führender Funktionäre des Politbüros und des Ministerrates erwecke den Eindruck, dass dort „anarchische Zustände“ herrschten, wodurch er die Gefahr sah, dass die Haltung derer da oben „zu einem Chaos führt“.764 Dabei stand die Führung oft nicht wegen mangelnder Demokratiefähigkeit in der Kritik, sondern weil sie „gegen Lenin’sche Leitungsprinzipien verstoßen“ habe.765 Aber nicht nur die Berliner Politbürokraten standen in der Kritik, sondern zunehmend auch regionale Funktionäre. Wie ihre Anführer standen sie vor dem Dilemma, entweder die bisherigen Verhältnisse zu verteidigen und damit als unverbesserlich zu gelten, oder aber sich auf die Entwicklung einzustellen und dann als „Nachbeter“ der Wende nicht akzeptiert zu werden.766 So häuften sich auch parteiintern Forderungen nach personellen Änderungen in den Kreisen und Kommunen.767 Im VEB Robotron Hoyerswerda hieß es unter Mitgliedern, die Kreisleitung stelle sich nicht dem Dialog, weil der 1. Sekretär und andere leitende Mitarbeiter dazu „nicht fähig wären“. Im dortigen Rat des Kreises war man überzeugt, „dass die Genossen der SED / KL den Anforderungen nicht gewachsen sind“.768 Deutlich kristallisierte sich dabei die Tendenz heraus, die Verantwortung für die Lage „nach oben“ zu delegieren und geflissentlich zu übersehen, dass man als SED - Mitglied das Regime selbst mehr oder weniger mitgetragen hatte. Wie in den Blockparteien und in der gesamten Bevölkerung kamen durch die Befreiung der Kommunikation auch längerfristige Grundüberzeugungen zum Tragen und führten zur weiteren Ausdifferenzierung der Meinungen und Interessen. Ende Oktober war die SED innerlich zerrissen wie nie zuvor. Viele Mitglieder schlossen sich den reformsozialistischen Forderungen des Neuen Forums an, orthodoxe Kommunisten wurden auf öffentlichen Foren von den eigenen Genossen angegriffen. Teile der Partei, vor allem im intellektuellen und künstlerischen Bereich, hatten bereits „parteiliche Positionen völlig verlassen“.769 Unterstützt wurden solche Tendenzen durch persönliche Anfeindungen gegen Funktionäre und sich weiterhin überzeugt gebende Mitglieder.770 762 SED - KL Bautzen vom 31. 10. 1989 : Info ( ebd.). 763 ZK der SED vom 27. 10. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 12). Vgl. SED - KL Kamenz vom 30. 10. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 764 RdB Leipzig von Oktober 1989 : Monatsbericht ( SächsStAL, 38208). 765 KDfS Reichenbach vom 24.10.1989: Lage (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 541, 1, Bl. 17–21). 766 SED - KL Sebnitz vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 767 Vgl. SED - SL Leipzig vom 27.–30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 1– 9); SED - KL Altenburg vom 27. 10. 1989 ( ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 183 f.); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 27. 10. 1989. 768 KDfS Hoyerswerda vom 27. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BV Cottbus, AKG 1799, Bl. 9–13). 769 SED - BL Potsdam vom 30. 10. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 432/433). 770 SED - KL Kamenz vom 30. 10. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552).

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So erhielt z. B. der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Stollberg, Werner Kunz, einen Brief, in dem es hieß : „Sie sind Hitler und Stalin in einer Person, solche müssen weg.“771 Solche Drohungen verbreiteten Verunsicherung und Angst.772 Die Mitglieder würden „immer unsicherer“, so hieß es z. B. aus Sebnitz, „weil sie keinerlei Programme und Zielrichtungen erkennen“.773 Von „progressiven Kräften“ werde daher die Entwicklung mit Besorgnis verfolgt.774 Die Lage sei „unerklärlich und deprimierend“.775 Im Bezirk Leipzig schätzten die 1. Sekretäre der Kreisleitungen übereinstimmend ein, dass „in den Parteikollektiven zum Teil Verwirrung über die Lage herrscht, die Kommunisten viele gegenwärtige Geschehnisse nicht einordnen können und der aktive Kern sich weiter verringert“. Es wachse die Sorge um die DDR und die SED und es herrsche das Gefühl vor, „dass uns der Gegner mit seinen endlosen Forderungen immer weiter vor sich her treibt“.776 Aber auch bei jenen, die den Veränderungsprozess begrüßten, war angesichts der wachsenden Zahl an Konzepten und Vorschlägen Unsicherheit darüber verbreitet, „was dem Sozialismus dienlich oder schädlich ist, wo Freund und wo Feind steht“.777 So blieb es nicht bei einer rasanten Zunahme an Austritten.778 Bislang privilegierte und laut eigener Ideologie „immer Recht“ habende Funktionäre sahen sich plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die ihr engstirniges und oft eigennütziges Lebenskonzept zum Einsturz brachte. So kam es zu einigen Selbstmorden von Kreissekretären. In Sachsen erschoss sich am 30. Oktober der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Bautzen, Helmut Mieth.779 Nach den Selbstmorden einiger Kreisfunktionäre entwaffnete die SED - Führung diese und die Sektorenleiter im ZK der SED.780 Es gab aber nicht nur Resignation, ein Teil der Mitglieder und Funktionäre zeigte sich kämpferisch. Im Kreis Annaberg verurteilten SED - Mitglieder, dass „feindliche Kataloge veröffentlicht werden, in denen die Partei als führende Kraft diskriminiert wird“. Damit öffne man „dem Feind Tür und Tor“.781 Auch die SED - Bezirksleitung Leipzig versuchte, ihre Kreissekretäre moralisch wieder aufzurichten und zitierte Stimmen von der Basis, wonach man die Lage wieder in die Hand bekomme. Man sei „tief betroffen“, weil in der DDR „doch was erreicht worden“ sei. Was man in 40 Jahren geschaffen habe, „lassen wir uns 771 KDfS Stollberg vom 26. 10. 1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45). 772 Vgl. SED - BL Dresden vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 119 f.). 773 SED - KL Sebnitz vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13552). 774 KDfS Annaberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 20–25). 775 KDfS Reichenbach vom 24. 10. 1989 : Lage ( ebd. 541, 1, Bl. 17–21). 776 SED - BL Leipzig vom 31. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 2 f.). 777 SED - BL Dresden vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 119 f.). 778 Vgl. BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 ( ebd., XX 9181, Bl. 19, 29); Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). 779 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 10. 11. 1989. Weitere Suizide : 1. Sekretär der SED - KL Perleberg, Gerhard Uhl; 1. Sekretär der SED - KL Köthen, Herbert Heber. Vgl. Welt am Sonntag vom 12. 11. 1989. 780 Vgl. Die Welt vom 17. 11. 1989. 781 KDfS Annaberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 20–25).

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nicht nehmen“. Die jetzt am lautesten Änderungen forderten, würden dies zum großen Teil nur tun, um persönliche Interessen durchzusetzen.782 Große Hoffnungen setzte man in der SED auf die kommende 10. Tagung des ZK der SED. Sie bringe, so SED - Funktionäre aus Freiberg, „möglicherweise eine Vorentscheidung“, ob die Bevölkerung der SED wieder mehr Vertrauen schenke, „oder dieses völlig verspielt wird“.783 Dem diente auch das unter Leitung von Siegfried Lorenz erarbeitete Aktionsprogramm der SED, welches das SED - Politbüro am 31. Oktober behandelte.784 Dabei ging es u. a. um die „Bestimmung der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse in einer sich erneuernden Gesellschaft auf dem Wege zu einem besseren Sozialismus“, den „Ausbau des sozialistischen Rechtsstaates“, den Entwurf eines Reisegesetzes und Maßnahmen zur Stabilisierung der ökonomischen Situation.785 Am 25. Oktober forderte auch der von Gregor Gysi geleitete Rat der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte, der Sozialismus dürfe als „einzige Alternative zum Kapitalismus“ nicht zur Disposition stehen. Es könne „nur um mehr Sozialismus gehen“. Zur Situation im Rechtswesen wurde erklärt, es hätte nur „in Einzelfällen Verletzungen der Unabhängigkeit der Richter“ und damit Urteile gegeben, die dem Ansehen der Rechtspflege schadeten.786 Was die Funktionäre zu diesem Zeitpunkt nicht erkannten, formulierte Jahre später der damalige 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt, Siegfried Lorenz : „Alle Versuche, ‚realsozialistische‘ Strukturen zu erneuern und darin den Ausweg aus der tiefgehenden und alle Lebensbereiche erfassende Krise zu finden, erwiesen sich im Herbst 1989 sehr schnell als Illusion. Die Zeit war längst über uns hinweggegangen. Alle Maßnahmen, die sich Erneuerung nannten, blieben im Grunde halbherzig und peinliches Stückwerk.“787 Treffen zwischen Krenz und Gorbatschow Unmittelbar nachdem das Politbüro sich am 31. Oktober noch einmal mit dem Finanzkollaps der DDR befasst und die Ausarbeitung eines Reisegesetzes beschlossen hatte, reiste Krenz nach Moskau. Zuvor forderte er Modrow auf, in der Parteiführung mitzuarbeiten, wohl, um bei Gorbatschow zu punkten. Modrow schlug vor, die Funktion eines Sekretärs für Landwirtschaft zu übernehmen.788 Kurz vor dem Treffen hatten die Außenminister der Teilnehmerstaa782 SED - KL Delitzsch vom 30. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 154 f.). 783 KDfS Freiberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 19–21). 784 Vgl. Werner Hübner. In : Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 43–45. 785 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2356). Vgl. Neues Deutschland vom 1. 11. 1989. 786 Erklärung des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR vom 25. 10. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB Karl - Marx - Stadt, 126403). 787 Lorenz, Die Faust leider nur in der Tasche, S. 154. 788 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 21.

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ten des Warschauer Paktes getagt.789 Schewardnadse betonte hier, dass die Einheit des Warschauer Paktes künftig als „ein reales Gleichgewicht der nationalen und Sicherheitsinteressen der Teilnehmerstaaten“ verstanden werden müsse.790 Er sprach ebenfalls von einer „sorgfältig durchdachten Politik der Aushöhlung der DDR und der ‚radikalen‘ Lösung ‚der deutschen Frage‘“, meinte aber, es gebe auch realistische Kräfte in der Bundesrepublik, mit denen man die Zusammenarbeit ausbauen solle.791 In einer am 27. Oktober veröffentlichten Erklärung wurden alle Bestrebungen zur Wieder vereinigung als „Revanchismus“ gebrandmarkt.792 Beim Gespräch in Moskau bezeichnete Krenz die ökonomische Situation als schlecht und erklärte, wenn er die Wahrheit über die Volkswirtschaftslage vor dem ZK der SED darlege, „könne dies einen Schock mit schlimmen Folgen auslösen“. Die jährlichen Zinszahlungen von 4,5 Mrd. US - Dollar vertilgten 62 Prozent des gesamten Exporterlöses. Die Zahlungsbilanz sei in der DDR unbekannt und bedeute, dass das Lebensniveau um etwa dreißig Prozent gesenkt werden müsse. Gorbatschow zeigte sich über die Zahlen erstaunt. In Bezug auf die deutsch - deutschen Beziehungen forderte Krenz von Gorbatschow, die UdSSR müsse ihre „Vaterschaft“ über die DDR anerkennen.793 Beide waren sich einig, dass es nötig sei, auf der nächsten Plenarsitzung des ZK die Fehler Honeckers bekannt zu machen.794 Krenz erklärte, sein Ziel sei es, den „Gleichklang der Herzen“ mit der UdSSR wiederherzustellen. Gorbatschow nannte die DDR den engsten Freund und Verbündeten der UdSSR. Man müsse verhindern, dass ein Knäuel von Problemen entstehe, das nicht mehr entwirrt werden könne. Er sei sich mit Thatcher, Mitterrand und Andreotti einig, dass die deutsche Frage äußerst explosiv sei. Man komme aber nicht umhin, zwischen beiden Staaten mehr Kontakte zuzulassen. Diese müsse man kontrollieren und steuern. Es wäre „sehr schädlich“, die Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu verringern oder gar abzubrechen. Auch die UdSSR sei bestrebt, die Bundesrepublik enger an sich zu binden. Gorbatschow empfahl Krenz, mit den neuen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, um zu verhindern, dass diese „auf die andere Seite der Barrikade geraten“.795 Nach Darstellung von Krenz erklärte Gorbatschow, die UdSSR stehe „zu ihrer Vaterschaft“ und werde eine Wieder789 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989, Anlage Nr. 9 : Bericht der 19. Tagung des Komitees der Außenminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages am 26. und 27. 10. 1989 in Warschau ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2356). 790 Zit. in Beschluss des Ministerrates der DDR 113/5/89 vom 2. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3 2863). 791 Rede E. A. Schewardnadses auf der Tagung des Komitees der Außenminister der Warschauer Vertragsstaaten, Warschau vom 26. 10. 1989 ( ebd., Bl. 59–88). 792 Erklärung der Staaten des Warschauer Vertrages. In : Izvestija vom 27. 10. 1989. 793 Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1. 11. 1989 in Moskau ( SAPMO BArch, SED, IV 2/1/707). 794 Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1143. 795 Gespräch Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1. 11. 1989 in Moskau ( SAPMO BArch, SED, IV 2/1/707).

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vereinigung nicht zulassen. Kein ernsthafter Politiker in der Welt könne sich ein vereintes Deutschland vorstellen. Sie seien für die „Bewahrung der Realitäten der Nachkriegszeit, einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten“.796 Krenz betonte nach seiner Rückkehr, die Einheit Deutschlands stehe „nicht auf der Tagesordnung“. Die europäische Stabilität sei „viel, viel wichtiger, als über die unreale Forderung nach einer Wiedervereinigung nachzudenken“. Die SED habe „die Wende eingeleitet“ und er werde alles tun, die führende Rolle durchzusetzen.797 Im ZK der SED kursierte nach der Reise das Gerücht, Gorbatschow habe erklärt, „jetzt von der führenden Rolle der Partei zu sprechen, sei ein Verbrechen. Die Führung müsse zurücktreten. Achtzig Prozent des Parteiapparates müssten weg.“798 Auch wenn das Gerücht keinen realen Hintergrund hatte, kennzeichnete es doch die Stimmung im Parteiapparat. Bei Gorbatschow verstärkte die Schilderung von Krenz die Befürchtung, die DDR könne zu einem nicht mehr finanzierbaren Klotz am Bein der Sowjetunion werden.799 Zur Auswertung des Krenz - Besuches bei einer Sitzung des Politbüros der KPdSU am 3. November stand als Bilanz nur der Satz im Protokoll : „Die DDR lebt zu einem Drittel über ihre Verhältnisse.“800 Trotz der Erkenntnis über den unaufhaltbaren Niedergang der DDR entwickelte die sowjetische Führung jedoch keine tragbare Strategie, wie langfristig damit umzugehen sei bzw. mit der man dem Westen gegenüber hätte auftreten können.801 3.13 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Am 24. Oktober übernahm Egon Krenz auch noch die Funktionen des Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates. Diese Machtballung in seinen Händen führte zu neuen Protesten. In der Bevölkerung hatte man auf ein Signal der Machtteilung gehofft. Obwohl Stellungnahmen für oder gegen Politiker die Ausnahme waren, stieß insbesondere Krenz auf eine Mauer der Anlehnung. Die Kampagne diente eher der Mobilisierung bei den Demonstrationen, als dass sie sich gegen ihn als Person richtete. Der frühere FDJ - Chef galt als eher harmlos. Gleichzeitig gab es zahlreiche Losungen und Sprechchöre gegen regionale Funktionäre der Kreis - und Kommunalebene, was zeigte, dass die Abrechnung mit dem Regime nun auch die regionale Ebene erreichte ( siehe Kap. III.1, Diagramm 5, S. 397). Eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung der Bevölkerung spielte der Kampf um die Zulassung des Neuen Forums. Wie die spätere Entwicklung zeigte, ging es dabei weniger darum, einer Gruppierung zum Durchbruch zu verhelfen, von 796 Zit. bei Krenz, Anmerkungen, S. 367. Vgl. Aussage Egon Krenz. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 157. 797 Egon Krenz auf einer Pressekonferenz in Moskau. Zit. in Das Volk vom 2. 11. 1989. 798 Wolf, In eigenem Auftrag, S. 220. 799 Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 83–85. 800 Zit. in ebd., S. 87. 801 Vgl. ebd., S. 89.

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der man ohnehin nicht recht wusste, welche Ziele sie vertrat. Vor allem ging es darum, das Prinzip zu durchbrechen, dass allein die SED darüber zu entscheiden hatte, welche Gruppierung erlaubt sei und welche nicht. Es ging mithin um die Durchsetzung der Organisationsfreiheit. „Neues Forum“ war über den ja auch vorhandenen Wunsch nach Bildung eines Gesprächsforums hinaus Symbol für freie Organisationen schlechthin. Es erhielt seine Bedeutung, weil alle dies wollten, oder, um es mit Wittgenstein zu sagen, „wenn alles sich so verhält, als hätte ein Zeichen Bedeutung, dann hat es auch Bedeutung“.802 ( siehe Kap. II.2, Diagramm 4, S. 237). Interessanterweise wurde die Forderung nach Zulassung Ende Oktober schon sehr gelassen vorgetragen. Zu diesem Zeitpunkt begann sich bereits die Einsicht durchzusetzen, dass man vielleicht gar nicht mehr auf eine Erlaubnis der SED angewiesen sei. Die Verhältnisse waren in Bewegung geraten, sodass abzusehen war, dass sich die Dinge bald auch anders regeln würden. Die SDP hatte von Anfang an auf eine Zulassung durch die SED verzichtet, da es aus ihrer Sicht keinen Sinn ergab, wenn eine Partei eine andere zulässt. Das war Ausdruck einer Fundamentalopposition gegen die demokratiefeindlichen Grundbefindlichkeiten der SED und ihres diktatorischen Regimes. Für die weitere Entwicklung war es bedeutsam, dass Ende Oktober Zahlen über die finanzielle Situation bekannt wurden. Danach stand die DDR vor dem ökonomisch - finanziellen Kollaps und war selbst unter Einsatz sämtlicher Exporterlöse nicht einmal mehr in der Lage, ihren Zinsverbindlichkeiten gegenüber dem westlichen Ausland nachzukommen. Nicht nur wegen maroder Wirtschaftsverhältnisse bestand demnach nicht nur keine Möglichkeit, den Forderungen der Bevölkerung nach einer Verbesserung der Lebenslage zu entsprechen. Vielmehr stand fest, dass gravierende Einschnitte in die sozialen Grundsicherungen unvermeidbar waren. Zum Glück für die Führung war das Ausmaß der Überschuldung in der Bevölkerung nicht bekannt und wird bis heute bei Ostalgie Veranstaltungen nur äußerst ungern thematisiert. Das bankrotte Regime entschloss sich in dieser Situation dazu, eine baldige Reisefreiheit anzukündigen, um den Druck der Proteste zu verringern. Gleichzeitig wurden die Regeln für Dialoge gelockert. Auch wenn das Neue Forum weiterhin als Feind galt, wurde die Einbeziehung von Vertretern in Dialoge gestattet. Währenddessen entwickelte sich dessen Organisationsstruktur schnell weiter, um der plötzlichen Rolle gerecht zu werden, die aus seiner symbolischen Bedeutung erwuchs. Die Staatsorgane aller Ebenen hatten nun dafür zu sorgen, dass flächendeckend Dialoge angeboten wurden. Freilich entwickelten sich diese ebenfalls immer mehr zu Protestveranstaltungen, bei denen die SED offen angegriffen wurde. Dies galt nicht nur für kirchliche Dialoge, sondern, wie SED und MfS registrieren mussten, auch für staatlich organisierte. Das SED - Konzept ging nicht auf, die Initiative durch Dialoge wieder an sich zu ziehen. Das galt insbesondere auch für VEB, wo Gesprächsrunden regelmäßig zur Abrechnung mit der Politik, den Wirtschaftsfunktionären vor Ort, der Situa802 Wittgenstein, Tractatus logico - philosophicus, S. 23.

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tion in den Betrieben und der Rolle des FDGB genutzt wurden. Ende Oktober gab es praktisch keine Dialoge mehr, die nicht auch unter der Rubrik „Proteste“ subsumiert werden konnten. Beide Kur ven könnten also durchaus kumuliert werden. Dennoch ist eine Unterscheidung sinnvoll, zeugt sie doch zum einen vom Willen des Staates und nichtstaatlicher Organisatoren der Dialoge ( z. B. Kirche ), den Demonstrationen Veranstaltungen entgegenzusetzen, bei denen miteinander geredet wurde. Bei der Kirche folgte dies dem Verständnis, der SED die eigene Meinung in friedlicher, verbaler Form vorzutragen. Zu diesem Zeitpunkt war ja noch nicht klar,

Diagramm 8: Protest- und Dialogveranstaltungen.

dass auch die Demonstrationen als Hauptform der Proteste ( wiederum durch intensives Zutun der Kirche ) durchweg friedlich bleiben würden. Zum anderen wird durch die Teilung in zwei Kategorien der Versuch des SED - Staates deutlich, die Demonstrationen durch Dialoge in kleineren Räumen und zu „Sachthemen“ zu vereinzeln und damit zu entschärfen. Bis zum 8. Oktober gab es nur nichtstaatliche ( kirchliche ) Dialogveranstaltungen. Erste staatliche Dialogveranstaltung war das Dresdner Rathausgespräch am Morgen des 9. Oktober. Die Dialoge brachten keine Beruhigung der Lage, vielmehr stieg die Zahl der Demonstrationen weiter stark an. Aus Sicht der Bevölkerung galt es, die Chance zu nutzen, den einmal begonnenen Veränderungsprozess fortzusetzen, wobei dieser gemeinsame Wille zugleich die unterschiedlich beantwortete Frage nach den Zielen aufwarf. Die Antworten schlugen sich in unterschiedlichen Konzepten des Vorgehens nieder. Während Kirche und Neues Forum in Sachsen zur Fortsetzung der Demonstrationen aufriefen, versuchte das Neue Forum in Berlin, sie zu bremsen. Eine mobilisierende Funktion hatten zu diesem Zeitpunkt

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die von den Kirchen organisierten Auseinandersetzungen mit Übergriffen der Volkspolizei und anderer Sicherheitskräfte während der Proteste Anfang Oktober sowie Veranstaltungen zur Solidarisierung mit politischen Gefangenen. Angesichts des hohen Anteils Jugendlicher und junger Erwachsener unter den „Ausreisern“ und Demonstranten war es kaum verwunderlich, dass es auch an Schulen und Hochschulen ( insbesondere in technischen Fächern ) zu Protesten kam. Hier wurden vor allem die Abschaffung der ideologischen Ausrichtung auf den Marxismus - Leninismus und die Zulassung des Neuen Forums gefordert. Ebenso nahmen Ende Oktober die Proteste von Künstlern weiter zu. An der Basis der SED gab es verstärkt Forderungen, das Neue Forum unter der Voraussetzung eines sozialistischen Bekenntnisses zu legalisieren. Ende Oktober zeichneten sich erste Liberalisierungstendenzen in Presse und Medien ab. Weiterhin aber blieben westliche Rundfunk - und Fernsehanstalten Hauptinformationsquellen. Neben Demonstrationen und Dialogen in öffentlichen Räumen gab es ein paralleles Geschehen in den Betrieben. Hier fanden ebenfalls Protestkundgebungen statt, und es gab Aushänge für das Neue Forum. Auch kam ein Teil der wichtigsten Akteure auf den Straßen von hier. Ein Teil der Proteste richtete sich gegen Funktionäre, Parteiapparate und Betriebsleitungen in den Betrieben, die sich nach außen meist so verhielten, als gebe es keine einschneidenden Veränderungen, hinter verschlossenen Türen aber bereits ab November auf Marktstrukturen umorientierten und Kontakte zu Westfirmen aufnahmen. Gehrke und Hürtgen meinen, „dass mehr Menschen in den Betrieben im Herbst 1989 den ‚aufrechten Gang‘ geübt haben als es aktive Mitstreiter in den neuen Bürgerbewegungen und Parteien gab“. Zwar gingen die Ereignisse auf den Straßen denen in den Betrieben voraus, die Unzufriedenheit hatte sich aber vor allem auch hier angestaut. Dass der Aufstand der Bürger vor allem öffentlich stattfand, hing mit den Zielen der Revolution zusammen. Veränderungen der Wirtschaft oder der sozialen Bedingungen war nicht vorrangig, sondern die Beseitigung der Diktatur. Dazu aber trafen sich auf den Straßen Veränderungswillige aus allen Teilen der Gesellschaft, allen voran allerdings die Werktätigen.803 Auch wenn die breite Volksbewegung ab Oktober zum entscheidenden Faktor wurde, im Oktober und Anfang November befand sie sich rein äußerlich mit den Bürgerbewegungen und Intellektuellen „für eine historische Zehntelsekunde im Einklang“.804 „Für eine Sekunde“, so auch Jens Reich, bestand Einigkeit in den Zielen, danach sagte das Volk : „Jetzt haben wir genug von den Schwätzern. Wir wollen jetzt Macher haben.“805 Die Übereinstimmung resultierte kaum aus politisch - programmatischen Gemeinsamkeiten, sondern aus der Allgemeinheit der vorgetragenen Forderungen nach Dialog und Reformen. Wie sich später zeigte, verbargen sich dahinter bei einem großen Teil der Demonstranten, aber in Sachsen auch bei vielen Vertretern der Bürgerbewegungen, revolutionäre, systemstürzende Ziele, während vor allem die Berliner Szene der Bür803 Gehrke / Hürtgen ( Hg.), Der betriebliche Aufbruch, S. 26 f. Vgl. ebd., S. 17. 804 Geisel, Auf der Suche, S. 79. 805 Zit. bei Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 235.

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gerbewegungen und Intellektuellen sich eine Reformierung des sozialistischen Regimes wünschte, also keine revolutionären Postulate vertrat. Beide Tendenzen oszillierten zunächst und waren nicht klar zu trennen. Eine Ursache für die vorübergehende, mehr äußerliche Gemeinsamkeit lag in der prinzipiellen Ablehnung jeglicher Veränderungen durch die Führungsriege um Honecker begründet. Wegen ihr konnten auch Reformen nur durch eine Revolte auf den Weg gebracht werden. Hinzu kam, dass viele, die eigentlich die Beseitigung des SEDRegimes wünschten, zunächst ebenfalls nur eine gesellschaftliche Öffnung im Sinne sowjetischer Reformpolitik forderten, war doch insbesondere angesichts der sowjetischen Haltung, aber auch wegen aller damit zusammenhängenden internationalen Implikationen der deutschen Frage nicht klar, ob und in welchem Maße Veränderungen überhaupt möglich sein würden. Die Reformforderungen klangen ab, sobald das erkämpfte Maß an Artikulationsfreiheit es gestattete, deutlicher zu artikulieren, was man wirklich wollte. Insofern waren die beiden Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums und nach Reformen Ersatzforderungen unter den Bedingungen der Kriminalisierung tatsächlicher politischer Ziele. Die bundesdeutschen Medien informierten zwar über revolutionäre Einzelereignisse objektiv, bezüglich der Richtung der Gesamtentwicklung transportierten sie jedoch mehrheitlich ein tendenziöses Bild. Danach strebten Intellektuelle und Bevölkerung gemeinsam nach einer neuen, emanzipatorisch - sozialistischen Gesellschaft, von der auch der Westen wesentliche Anstöße zu erwarten hätte.806 Wie sich bald zeigte, entsprach das mehr dem Wunschdenken vieler in den Institutionen angelangter Alt - 68er als der Rea-

Diagramm 9: Parolen für Reformen in der DDR und für deutsche Einheit ( prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche – Trend ). 806 Vgl. Engler, Stellungen, S. 51.

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lität. Tatsächlich war der „Aktionsverbund einer Minderheit von DDR - Erneuerern und einer Mehrheit von DDR - Überwindern“ historisch von kurzer Dauer. Er verknüpfte zeitweilig ein „Macht - und ein Systemzerstörungspotenzial“. Vor allem wegen dieser unterschiedlichen Ziele muss im weiteren Verlauf zwischen Bürgerrechtsbewegungen und der breiten Volksbewegung getrennt werden.807 Aber auch an dieser Stelle sei nochmals wiederholt, dass der Unterschied in Sachsen weniger gravierend war als z. B. in Berlin. In Leipzig oder Dresden vertraten viele Wortführer neuer Gruppierungen deutlich systemstürzende Ziele. Die Anzahl der Demonstrationen erreichte Ende Oktober und Anfang November ihren Höhepunkt ( siehe Kap. III.1, Diagramm 5, S. 397). Nun gingen Forderungen nach Reformen und Zulassung des Neuen Forums bereits sehr stark zurück. An ihre Stelle traten Angriffe auf die SED und ihren Repressionsapparat MfS. Das eigentliche Ziel trat deutlich hervor : die Beseitigung der Diktatur und ihres schlagkräftigsten Instruments, des MfS. Die meisten Demonstrationen hatten sich bislang spontan oder durch Flüsterpropaganda gebildet. Eine wachsende Rolle bei der Organisierung spielten im Laufe des Oktobers jedoch das Neue Forum oder Bürgerkomitees in Kooperation mit Kirchenvertretern. Ab Anfang November gab es immer häufiger Sicherheitsabsprachen mit staatlichen Stellen wie der Volkspolizei, die vereinzelt schon „Sicherheitspartnerschaften“ hießen. Es wäre jedoch falsch, die Demonstrationen als Folge der Organisierung durch Aktivisten zu bezeichnen. Die Abläufe des Oktobers zeigen, dass sie sich großteils spontan ergaben. Es war nur dem Interesse an einer Vermeidung gewaltsamer Übergriffe geschuldet, dass sich Aktive fanden, die den Protesten eine kontrollierbare Form gaben.

Diagramm 10: Parolen gegen MfS / AfNS / DDR - Verfassungsschutz. 807 Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 335.

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Grund dafür war der Wille, Gewalt zu vermeiden, um dem Staat keinen Anlass zur Gegengewalt zu geben. Ein Kennzeichen der Demonstrationen war ihre Permanenz und zeitliche Fixierung auf bestimmte Tage, meist montags, wie das Beispiel des Bezirkes Leipzig am deutlichsten zeigt.808 Bei Kundgebungen, die fast allen Demonstrationen vor - oder nachgeordnet waren, kündigten Sprecher von Bürgerkomitees oder des Neuen Forums oft schon Ort und Termin der nächsten Demonstrationen an. Ebenso wirksam waren generelle Festlegungen von Ort und Zeit, die weitere Ankündigungen

Diagramm 11: Aufforderungen zum Handeln, für und gegen Gewalt ( prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche ).

überflüssig machten. Die daraus resultierenden immer ähnlichen Demonstrationen in den Kreisen nach den Eruptionen Anfang Oktober erinnern fast an technische Abläufe. Die Spontaneität wurde, typisch deutsch, organisiert. Man wusste, man muss das Feuer am Brennen halten, wenn man das Eisen schmieden wollte. Zwahr spricht vom „Aktionsverbund des Forderns, Beharrens und Durchsetzens, des eigenständigen Urteilens und Beurteilens auf der Straße, in der Familie, im Freundeskreis, unter Gleichgesinnten, auch in der Brigade und in anderen Arbeitskollektiven wie vor dem Bildschirm“, ohne den der Erfolg der Revolution nicht vorstellbar gewesen sei. Bis in den Wahlkampf hinein war das Bewusstsein vorhanden, es gelte, die Demonstrationen fortzusetzen, um die historische Chance zu nutzen, sich von der Diktatur zu befreien.809 Die Permanenz des Demonstrationsgeschehens trug wesentlich dazu bei, das Regime in einem zähen Ringen endlich doch von den Schalthebeln der Macht zu entfer808 Zu den anderen beiden Bezirken vgl. Heidenreich / Richter, Parolen und Ereignisse. 809 Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 232.

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Diagramm 12: Mobilisierung in den Bezirksstädten ( tagesgenau ).

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nen. Gleichzeitig wurde der internationalen Öffentlichkeit, die das Geschehen in Deutschland akribisch beobachtete, der sehr bestimmte Wille vorgeführt, systemstürzende Veränderungen zu erreichen. Es war vor allem die demonstrierende Bevölkerung, die durch ihre Tatkraft und Entschlossenheit für die Fortsetzung des revolutionären Prozesses über mehrere Hürden hinweg sorgte. Dabei war es zusätzlich entscheidend, dass es unter der Bevölkerung eine starke politische Mobilisierung gab.810 Parallel zum Höhepunkt der Protestbewegung auf den Straßen setzte sich Ende Oktober DDR - weit die Formierung neuer politischer Gruppierungen fort. Sie fanden aber wie der Demokratische Aufbruch, Demokratie Jetzt, die Initiative für Frieden und Menschenrechte oder die Vereinigte Linke in Sachsen kaum Verbreitung. Sonstige Gruppenbildungen wurden meist vom Neuen Forum absorbiert, das sich als Sammelbewegung und Form der Selbstorganisation der protestierenden Bevölkerung in Sachsen rasch ausbreitete. Inhaltlich waren die Gruppen des Neuen Forums heterogen, hier aber fast durchweg gegen die SED und das MfS gerichtet. Von den Blockparteien gingen zu diesem Zeitpunkt keine wesentlichen Impulse aus. Sie waren von inneren Auseinandersetzungen über ihren künftigen Kurs geprägt. Langsam dämmerte es Mitgliedern und Funktionären, dass man in einer künftig veränderten Situation eine größere Rolle würden spielen können oder müssen. Vereinfacht gesagt standen sich in der Regel regimetreue Führungen und aufbruchsbereite Mitglieder gegenüber. Die Haltung des mittleren Funktionärsapparates war gespalten. Nur in der LDPD dominierte nach wie vor die Führung unter Manfred Gerlach, die den Reformprozess in Richtung eines demokratischen Sozialismus unter SED - Führung fortsetzen wollte. An der SED - Basis spitzte sich die Krise der Partei Ende Oktober zu. Die Mitglieder waren verunsichert und desorientiert. Nach Jahrzehnten privilegierter Positionen geriet die heile Welt der Diktatur ins Wanken. Bisherige Mitläufer verließen scharenweise die „Avantgarde des Proletariats“. Bei Debatten über den künftigen Kurs standen sich Anhänger einer Demokratisierung des Sozialismus und die eines harten Kurses der notfalls gewaltsamen Beibehaltung der SED - Alleinherrschaft gegenüber. Freiheitlich - demokratische Positionen wurden hier kaum vertreten. Die neue Krenz - Führung richtete ihre Politik nach dem Sturz Honeckers nun wieder an der sowjetischen Politik aus. In Moskau informierte Krenz Gorbatschow Ende Oktober über den ökonomisch - finanziellen Kollaps der DDR und erbat politische und ökonomische Unterstützung. Gorbatschow bekräftigte den Kurs der Zweistaatlichkeit und forderte Krenz zu weitreichenden Reformen auf. Gleichzeitig forderte er ein Mehr an Gemeinsamkeit zwischen beiden deutschen Staaten. Auf klare strategische Vorgaben, wie mit dem bislang wichtigsten Vasallenstaat künftig umzugehen sei, wartete Krenz vergeblich.

810 Vgl. Gabriel, Politische Orientierungen, S. 279 f.

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4.

Schluss mit der Führungsrolle der SED ! (1.–9.11.)

4.1

Massenexodus über die ČSSR nach Bayern (1.–5.11.)

Zurück aus Moskau bemühte sich Krenz, die Situation durch Zugeständnisse zu entspannen und zugleich den Erhalt des Regimes zu sichern. Am 1. November ordnete Innenminister Dickel in seinem Auftrag an, den pass - und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der ČSSR wieder aufzunehmen und die Sicherung der Grenze einzustellen. Unmittelbar darauf rollte die Fluchtwelle wieder an. Bis zum Nachmittag stieg die Zahl der Flüchtlinge in der bundesdeutschen Prager Botschaft auf über 300 an, am nächsten Tag waren es bereits wieder 1 300. Am 2. November beschloss der Ministerrat in Vorbereitung des neuen Reisegesetzes eine einmalige jährliche Auszahlung in Höhe von 15,– DM für DDR - Bürger. Die Minister des Innern und für Staatssicherheit wurden beauftragt, „Maßnahmen zur großzügigen und kurzfristigen Entscheidung für ständige Ausreisen einzuleiten“. In der Prager Botschaft stieg die Zahl der Flüchtlinge am 3. November auf mehr als 4 500. Die Regierung der ČSSR forderte die DDR- Regierung auf, das Besetzungsproblem zu beenden. Das Politbüro stimmte dem Vorschlag zu, die Ostdeutschen ab dem 3. November direkt aus der ČSSR nach Bayern ausreisen zu lassen. Daraufhin wurde Kohl darüber informiert, dass am 4. November voraussichtlich bis zu 8 000 DDR - Deutsche aus Prag kommend in die Bundesrepublik einreisen würden. Es gebe einen „unaufhaltbaren“ Strom von DDR - Bewohnern nach Prag, die dort direkt in Züge Richtung Bundesrepublik umstiegen.1 Die Meldungen über die freie Ausreise über die ČSSR hatten Signalwirkung. Bis zum 5. November reisten rund 13 000 DDR- Bewohner aus. Am 5. November stauten sich an den tschechisch bayerischen Grenzübergängen die Fahrzeuge aus der DDR auf jeweils mehreren Kilometern. Flüchtlinge berichteten, sie seien überstürzt aufgebrochen, nachdem der Rundfunk am Samstagmorgen berichtet hatte, die Grenze zwischen der ČSSR und der Bundesrepublik sei geöffnet worden. In der Bundesrepublik wurden noch am Wochenende Aufnahmelager in Kasernen und Turnhallen eingerichtet. Im Bundesinnenministerium regelte ein Koordinierungsstab die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer. Tatsächlich war seit der Öffnung der tschechisch - bayerischen Grenze die Grenze für Ausreisewillige auf. Von einem freien Reiseverkehr konnte aber noch keine Rede sein. Wer die DDR verließ, konnte nicht einfach wieder einreisen. Parallel zur Liberalisierung des Grenzregimes verbot Krenz die Anwendung der Schusswaffe bei Demonstrationen. Erlaubt wurde der aktive Einsatz polizeilicher Mittel und Kräfte nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten gegenüber Sicherheitskräften oder Objekten.2 Gleichzeitig traf er Festlegungen, um die SED wieder in die „politisch - ideologische Offensive“ zu führen. Dazu gehör1 2

Vgl. MfS, HA III vom 3./4. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA III, 858, Bl. 42). Befehl 10/89 des Vorsitzenden des NVR vom 1. 11. 1989 ( BArch Berlin, MZA, AZN 30922, Bl. 1–3).

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Aufstand gegen die Diktatur

te es weiterhin, „sozialismusfeindlichen“ Auffassungen bei Dialogen entgegenzuwirken.3 Mit Blick auf das bevorstehende Wochenende befahl Krenz am 3. November erhöhte Einsatzbereitschaft aller Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen.4 Der Inhalt des Befehls, so Edmund Geppert später, dokumentierte die „völlige Fehleinschätzung der Lage durch die damalige Führung, ihre Konzeptionslosigkeit und ihr Unvermögen, die Widersprüche und Probleme zu lösen“. Durch die Einsatzleitungen sollten Aktivitäten ergriffen werden, die vorwiegend Sache von Staatsorganen, Parteien und Organisationen waren.5 Weiterhin galten die Befehle vom 1. November, wonach nur bei Gewaltanwendung gegen Demonstranten vorgegangen werden durfte.6 Am Abend informierte Krenz im Fernsehen über Grundzüge des Aktionsprogramms der SED, das die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes, die Reformierung des politischen Systems, Ver waltungsreformen, die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes, zeitliche Begrenzungen von Wahlfunktionen, eine Wirtschaftsreform, eine Demokratisierung der Kaderpolitik und Änderungen in der Bildungspolitik umfasste. Die SED - Alleinherrschaft und die sozialistische Diktatur wurden nicht angetastet. Die Mitglieder des Politbüros Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann hätten, so hieß es, gebeten, sie von ihren Funktionen zu entbinden. Die SED habe die politische Wende eingeleitet, und die Bevölkerung strebe eine Verbesserung des Sozialismus an.7 Seine Behauptung, die SED habe die Wende herbeigeführt, erntete nicht nur in der Bevölkerung heftigen Widerspruch.8 Angesichts der zögerlichen Änderungen arbeitete Markus Wolf mit „fast konspirativen Aktionen“ auf den Rücktritt des Politbüros und der meisten Abteilungsleiter des ZK hin,9 um selbst die Führung zu übernehmen. Dazu sollte auch sein Auftritt am darauf folgenden Tag in Berlin dienen.10

3 4

Erläuterung der Befehle des NVR, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52461). Befehl 11/89 des Vorsitzenden des NVR vom 3. 11. 1989 ( BArch Berlin, MZA, AZN 30922, Bl. 1–4). Vgl. Erläuterungen der Befehle des NVR, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 5 Interview mit Edmund Geppert. In : Dichtung und Wahrheit über die Einsatzleitungen, S. 11. 6 Vgl. BEL Frankfurt / Oder, der Vorsitzende, gez. Christa Zellmer, 1. Sekretär der BL / SED und BEL : Befehl 2/89 des Vorsitzenden der BEL Frankfurt / Oder über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung im Bezirk vom 3. 11. 1989 ( Brandenburg. LHA, Rep. 601, 49817). 7 Neues Deutschland vom 4./5. 11. 1989. 8 Vgl. SED - BL Potsdam vom 6. 11. 1989 : Bericht ( Brandenburg. LHA, Rep. 432/433). 9 Wolf, In eigenem Auftrag, S. 220. 10 So Nooke, Die Friedliche Revolution, S. 187.

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4.2

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Berlin, Alexanderplatz (4.11.)

Der 4. November stand unter dem Einfluss der lange angekündigten und von der Volkspolizei am 26. Oktober unter Auf lagen genehmigten Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz. Von den „Vertrauensleuten der Berliner Kunstund Kulturschaffenden“ als offiziellen Organisatoren wurde verlangt, dass die Veranstaltung im Einklang mit der Politik der Erneuerung des Sozialismus durch Krenz stehen müsse.11 Am Morgen erschien im „Neuen Deutschland“ der Beitrag eines der Theorektiker der SED. Rolf Reißig forderte eine neue Form des Sozialismus, die Elemente des Interessenausgleichs und der Konsenssuche enthalte. Grundlage bleibe die führende Rolle der SED, allerdings sollte die Nationale Front die neuen Gruppierungen aufnehmen und so für einen „sozialistischen Meinungspluralismus“ sorgen. Es dürfe künftig keinen von oben nach unten administrierten Sozialismus geben.12 Mit der Volkspolizei wurde eine „Sicherheitspartnerschaft“ vereinbart. 600 Künstler mit grün - gelber Schärpe und der Aufschrift „Keine Gewalt“ sorgten für Ordnung. In Presseaufrufen riefen kommunistische Funktionäre dazu auf, am 4. November „für eine DDR als sozialistischem Rechtsstaat“ zu demonstrieren.13 Die West - Berliner „tageszeitung“ sprach schon am 3. November davon, die SED wolle sich durch die Demonstration an die Spitze der Demokratiebewegung stellen.14 Auch die eigentlichen Organisatoren protestierten gegen die SED - Versuche, die Demonstration umzufunktionieren.15 Angesichts der erwarteten Menschenmassen waren die militärischen Kräfte in höchster Alarmbereitschaft. Das MfS musste verhindern, dass Demonstranten ins Grenzgebiet eindrangen.16 Es kursierten Gerüchte, wonach zum Sturm auf die Mauer aufgerufen werden sollte.17 Daher wurde der Grenzbereich weitläufig abgesperrt und gesichert. Allerdings galt der Befehl, selbst beim Eindringen in das Grenzgebiet keine Schußwaffen einzusetzen.18 Auch der Senat und die Westalliierten in West - Berlin hatte alle Vorbereitungen für eine eventuelle Grenzöffnung oder - stürmung getroffen.19 Man rechnete mit bis zu 500 000 Teilnehmern.20 Die Bezirkseinsatzleitungen hatten

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. FS MfS Nr. 21 mit Ausnahme der BV Leipzig, alle Kreisdienststellen ( außer Stadt und Land ), Leiter, vom 1. 11. 1989 ( ABL, FVS Dresden, o0006 Leipzig ). Neues Deutschland vom 4./5. 11. 1989. Junge Welt vom 2. 11. 1989. Petra Bornhöft, SED will führende Rolle auf der Straße. In : taz vom 3. 11. 1989. Vgl. taz vom 4. 11. 1989. MfS: Arbeitsbuch des Leiters der HA XX, Kienberg, o. D. ( BStU, HA XX 987, Bl. 127). HA XXII, Lagezentrum, vom 3. 11. 1989 : Mündliche Info zu geplanten Aktivitäten am 4. 11. 1989 an der Staatsgrenze ( BStU, ZA, HA XXII, 531, Bl. 18); HA III vom 4. 11. 1989 : Lage am 3./4. 11. 1989 ( ebd., HA III, 858, Bl. 33). Vgl. taz vom 6. 11. 1989. Vgl. Befehle 10 und 11/89 des Vorsitzenden des NVR vom 1. und 3. 11. 1989 ( BArch Berlin, MZA, VA 1/39592, Bl. 269–276). Vgl. Momper, Grenzfall, S. 110. Vgl. MfS, HA VIII : Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Abteilungen / AG vom 2. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 327–334).

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dafür zu sorgen, dass möglichst wenige Teilnehmer nach Berlin fuhren.21 In der Nacht zum 4. November wurden 14 NVA - Hundertschaften nach Berlin verlegt.22 Hinzu kamen Einsatzkompanien der BePo aus den Bezirken.23 Die SEDFührung war am 4. November in Alarmstimmung. Im Präsidium der Volkspolizei hatte die SED eine „Führungsstelle“ eingerichtet, von wo aus Krenz, Keßler, Mielke, Stoph, Dickel und Herger die Demonstration verfolgten.24 Die Volkspolizei hatte die Auf lage, selbst keinen Anlass für Gewalttätigkeiten durch Demonstranten zu geben wie Anfang Oktober. Sie hatte alle bedeutsamen Objekte insbesondere der Partei - und Staatsführung zu sichern. Zuführungen sollten vermieden werden.25 Die Tribüne auf dem Alexanderplatz wurde von Hunderten Grenzsoldaten in Zivil umringt.26 MfS - Mitarbeiter nahmen ohne Waffe und Ausweis am Demonstrationszug teil.27 Wohl deshalb kursierten Gerüchte, das MfS plane Provokationen.28 Seit dem frühen Morgen füllte sich die Innenstadt mit Menschen. Der Verkehr ruhte. Die Schauspieler mit ihren Schärpen wurden als Ordner allgemein akzeptiert. Uniformierte waren kaum zu sehen. Fünf Stunden zogen Hunderttausende am Staatsrat und der Volkskammer vorbei zur Schlusskundgebung auf dem Alexanderplatz. Zur Schlusskundgebung versammelten sich bis zu einer Million Menschen. Die SED versuchte massiv, Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Schon am 31. Oktober hatte das Politbüro „Einflussmöglichkeiten“ besprochen und die Berliner Parteiorganisation angewiesen, „sich unmittelbar in den Demonstrationszug einzureihen, ohne dabei Ansatzpunkte für eine mögliche Deutung als ‚Gegendemonstration‘ zu geben“. Losungen sollten „Zustimmung zur Wende und der Erneuerung des Sozialismus in der DDR betont zum Ausdruck“ bringen.29 Die SED nahm „in Kollektiven“ teil. Ca. 15 000 Mitglieder traten mit eigenen Losungen auf.30 Neben dem Podium standen SED - Mit-

21 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2356). 22 Vgl. MfNV, Untersuchungsausschuss : Info, o. D. ( BArch Berlin, MZA, VA - 01/37601, Bl. 274); Erklärung des Ministers für Nationale Verteidigung vom 6. 2. 1990 ( BArch Berlin, MZA, VA - 01/37619, Bl. 103); Ablaß, Zapfenstreich, S. 20 f. 23 Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Wagner, an Chef der BDVP Neubrandenburg, Präsident der VP Berlin zur Kenntnis und Veranlassung vom 2. 11. 1989 : Einsatz von Einheiten 256/89 ( BArch Berlin, DO 1, 52362). 24 Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 3. 11. 1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2357). 25 Vgl. MdI vom 2. 11. 1989 : Protokoll der Beratung der Kommission für Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 26 Vgl. Schorlemmer, Worte, S. 292. 27 Vgl. MfS, HA VIII vom 2. 11. 1989 : Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Abteilungen / AG ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 327–334). 28 Vgl. MfS, HA III vom 3./4. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA III, 858, Bl. 31). 29 Info für das SED - Politbüro über Stand und Vorbereitung der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3252). 30 MfS : Arbeitsbuch des Leiters der HA XX, Kienberg, o. D. ( BStU, ZA, HA XX, 987, Bl. 127).

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glieder, die die Redner mit Zwischenrufen störten.31 Neben vielen SED - Transparenten mit Forderungen im Sinne von Krenz, die zeigten, dass die Einflussnahme der SED - Führung „subtil, aber doch merklich spürbar“ war,32 gab es Spruchbänder und Plakate mit entgegengesetzten Forderungen wie freie Wahlen und ein Ende des SED - Machtmonopols.33 Insgesamt gab die Palette an Willenskundgebungen kein einheitliches Bild. Auf ein und derselben Demonstration traten Forderungen unterschiedlicher, teils entgegengesetzter politischer Richtungen auf. Damit wurde eine Polarisierung auf den Demonstrationen eingeleitet, in der sich bereits deren Ende und die Überleitung in Formen parlamentarischen Wahlkampfs abzeichneten. Bei der abschließenden Kundgebung auf dem Alexanderplatz sprachen im Wesentlichen Intellektuelle, von denen die meisten „den Bezug zur Realität längst verloren“ hatten. Umgekehrt wurde Wolf Biermann, der an der Veranstaltung teilnehmen wollte, am Grenzübergang Friedrichstraße zurückgewiesen. Mit Hilfe des Regimes kamen vor allem Personen zu Wort, die für „eine gewendete, demokratischere, aber dennoch sozialistische DDR“ eintraten. Das MfS nahm Einfluss auf die Rednerliste und bestimmte u. a. Manfred Gerlach, Gregor Gysi, Markus Wolf und Günter Schabowski.34 Hinzu kamen Stefan Heym, Christa Wolf, Christoph Hein, Vertreter der Kirche sowie oppositioneller Gruppen wie Jens Reich ( Neues Forum ) und Friedrich Schorlemmer ( DA ). Die Intellektuellen versuchten, sich als neue Führungselite zu präsentieren und die Meinungsführerschaft zu gewinnen. Sie versuchten, „auf den fahrenden Zug aufzuspringen und nach vorn auf die Lokomotive zu gelangen“, um ihre sozialistische Utopie zu retten. Aber was sie sagten, war für die Entwicklung bereits „ganz unerheblich“.35 Die Rede von Markus Wolf, den Mielke zur Teilnahme aufgefordert hatte,36 zeigte, dass er „dem System nach wie vor verbunden und verpflichtet war, aber die Machtausübung lockern und entspannen“ wollte.37 Seine Forderung, die Mitarbeiter des MfS nicht zu „Prügelknaben der Nation“ zu machen, löste ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert und Sprechchöre wie „Aufhören !“ und „Aufhängen !“ aus.38 Nach Meinung Nookes versuchte er mit einer Gruppe von SED - Reformern, die Führung der DDR zu übernehmen. Text und Konzeption seiner Rede seien „die einer Antrittsrede des neuen, führenden Reformers der SED“ gewesen, „der sich an die Spitze der Bewegung stellen wollte“.39 Widerspruch erntete auch die anmaßende Äußerung des sonst positiv auf31 32 33 34 35 36 37

Vgl. Reich, Rückkehr nach Europa, S. 197. Torsten W. Krauel. In : Rheinischer Merkur vom 10. 11. 1989. Eine Auswahl bei Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 77 f. Kroh, Wendemanöver, S. 227–229. Jürgen Engert, Mit Hammer und Stichel. In : Sachsen - Spiegel vom 9. 11. 1990. Aussage Markus Wolf. In : Der Spiegel vom 7. 11. 1994, S. 40. Wolfgang Leonhard, Sein Lebensweg blieb für mich im dunkeln. Mein erstes Wiedersehen mit Markus Wolf. In : FAZ vom 16. 11. 1991. 38 Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 223. 39 Nooke, Die Friedliche Revolution, S. 187. Vgl. Lindner, Die demokratische Revolution, S. 97.

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genommenen LDPD - Vorsitzenden Gerlach, die LDPD habe die Tür zur Erneuerung aufgestoßen. Bereits am Vorabend hatte Krenz für die SED reklamiert, die Wende herbeigeführt zu haben. Christa Wolf betonte, dass die revolutionäre Bewegung auch die Sprache befreit habe. Stefan Heym erklärte, das Volk habe sich versammelt, um Freiheit, Demokratie und Sozialismus zu fordern. Die von ihm postulierte „Herzensverbindung“ zwischen Intellektuellen und Demonstranten war eher Wunsch als Realität.40 Christoph Hein, der zwar neben einer demokratischen Gesellschaft auf gesetzlicher Grundlage auch einen „Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht“, forderte,41 erkannte klarsichtiger als Heym, dass tatsächlich am 4. November ein bis dahin noch erhaltener Konsens von Intellektuellen und Volk zerbrach.42 Das lag daran, dass von den Intellektuellen nur ihre je eigenen Konzepte, nicht aber die Forderungen der Bevölkerung vorgetragen wurden.43 Diese kam, im Gegensatz zu vergleichbaren Situationen wie z. B. in Dresden am 8. Oktober, gar nicht erst zu Wort. Die Potsdamer SED - Führung stellte fest : „Arbeiter bemerkten, dass fast alle Redner in Berlin vom Volk gesprochen haben, Arbeiter selbst aber nicht zu Wort kamen.“44 Nicht nur hier gab es Unwillen darüber, dass fast ausschließlich Intellektuelle redeten.45 Im Kreis Auerbach fanden die Intellektuellen vom 4. November wenig Zustimmung. Viele meinten, dort wären vor allem diejenigen aufgetreten, die bisher Privilegierte des Regimes gewesen seien. Im VEB Falgard Falkenstein meinten die Beschäftigen : „In Berlin traten nur Leute auf, denen es in unserem Staat bestimmt gut geht.“ „Wo“, so fragte man, „bleibt das wirkliche Volk ?“46 Auch im Kreis Brand - Erbisdorf wurde die Kundgebung am 4. November „von breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt“. Warum, so wurde gefragt, trat kein Arbeiter ans Mikrofon ? Gerade die dort aufgetretenen Künstler seien bislang bevorzugt gewesen. Sie bräuchten nicht über Privilegien zu reden.47 Selbst Bohley gab später zu, dass trotz 26 Rednern Arbeiter „überhaupt nicht zu Wort“ kamen.48 So war denn auch das eigentliche Ereignis des Tages der Aufmarsch der Massen samt ihren auf Transparenten und Plakaten vorgetragenen Forderungen. Nicht die Kundgebung linker Intellektueller, sondern die Demonstration wurde denn z. B. in Zwickau als „eindeutige Kampfansage gegen die SED“ und ihre führende Rolle gewertet.49 Freya Klier kritisierte am Abend die Politik von Krenz als Versuch, die Entwicklung im Sinne der SED zu kanalisieren. Seine Angebote seien, da sie das Machtmonopol der SED nicht in Frage stellten, völ40 41 42 43 44 45 46

Stefan Heym, Seelenschmerzen. In : Freitag vom 13. 12. 1991. Abgedruckt in Heym, Einmischung, S. 257 f. Interview mit Christoph Hein. In : Junge Welt vom 12. 12. 1989. So auch Joachim Fest, Schweigende Wortführer. In : FAZ vom 30. 12. 1989. SED - BL Potsdam vom 5. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 432/433). Vgl. ZK, Abt. Parteiorgane vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 5). KDfS Auerbach vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 110–112). 47 KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 19–23). 48 Bärbel Bohley. In : Der Spiegel vom 7. 11. 1995, S. 40. 49 KDfS Zwickau vom 5. 11. 1989 : Lage ( ebd. 1823, 1).

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lig unzureichend.50 Auch die bundesdeutschen Parteien wiederholten ihre Empfehlung an die SED, das Machtmonopol aufzugeben und den Weg zur Demokratie einzuschlagen.51 Umgekehrt kritisierte Krenz nach der Demonstration, dass es bei den Demonstrationen „auch falsche Töne“ gegeben habe, die sich „gegen die führende Rolle unserer Partei, die sozialistische Staatsmacht und die Sicherheitsorgane“ richteten.52 Die Berliner Kundgebung habe in der SED „Betroffenheit und viele Fragen“ hinterlassen, zumal die führende Rolle der SED in Frage gestellt worden sei.53 Tatsächlich gab es „zwischen Straße und Rednerpodest eine tiefe Kluft“ zwischen denen, die freie Wahlen forderten, und denen, die auf die Erhaltung der DDR festgelegt waren.54 Die Rolle der Demonstration und der Kundgebung am 4. November in Berlin ist bis heute umstritten. Die von Intellektuellen organisierte Demonstration war nach Jarausch und Gransow „dramatischer Höhepunkt der Volksbewegung“. Mehr als eine halbe Million Menschen habe mit witzigen Spruchbändern und freimütigen Reden den Aufbau eines wirklich demokratischen Sozialismus gefordert.55 Das stimme so nicht, meint Zwahr, vielmehr sei auf den folgenden Demonstrationen DDR - weit und mit Entschlossenheit der Systemwechsel gefordert worden. Es seien Zweifel am Rang der vom MfS mitgesteuerten Alexanderplatzdemonstration angebracht. Sie dürfe schon aufgrund der von Hahn und Pucher mitgeteilten Hintergründe56 nicht so einseitig beurteilt werden.57 Sicher aber lässt sich sagen, dass die Demonstration wie die Kundgebung zur Polarisierung der Proteste beitrug. Hatte das Demonstrationsgeschehen in Berlin damit seinen Zenit bereits erreicht, gingen die Proteste z. B. in Sachsen unvermindert weiter. 4.3

Proteste bei Demonstrationen und Dialogen (1.–6.11.)

Dafür sorgten Akteure wie Ehrhart Neubert, der erklärte, die Demonstrationen müssten daher solange weitergehen, bis die Demokratisierung greifbare und unumkehrbare Ergebnisse gebracht habe.58 Auch das Dresdner Dialog - Modell, das Anfang Oktober ein Fortschritt gewesen war, wurde nun von der SED landesweit genutzt, um die Proteste zu vereinzeln und die Protestierenden durch Einbindung in die vorhandenen Strukturen zu neutralisieren. Anfang November 50 Freya Klier am 4. 11. 1989 um 12.00 Uhr im NDR 2. 51 Vgl. FAZ vom 6. 11. 1989. 52 Egon Krenz an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros und Leiter der Abteilungen des Zentralkomitees, o. D. ( MfS, ZAIG 7388, Bl. 8). 53 Egon Krenz an 1. Sekretäre der SED - BL und - KL, Brünner, Politverwaltung der NVA, 1. Sekretär der KL des MfS, 1. Sekretär der KL des MdI vom 4. 11. 1989. In : Klemens ( Hg.), Geheime Verschlußsache, S. 216 f. 54 Zwahr, Die Revolution in der DDR im Demonstrationsvergleich, S. 346. 55 Gransow / Jarausch ( Hg.), Die deutsche Vereinigung, S. 82. 56 Hahn / Pucher ( Hg.), 4. November ’89, S. 217–219. 57 Zwahr, Die Revolution in der DDR im Demonstrationsvergleich, S. 337. 58 Vgl. Rein, Die Opposition, S. 57.

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erklärte Ludwig Mehlhorn von Demokratie Jetzt daher, eine solche Lösung sei auf Dauer nicht tragbar : „Wir müssen zu einem Modell kommen, das oppositionellen Vertretern ermöglicht, mit einem Mandat in diesem Dialog aufzutreten und nicht als Individuen, die schnell vereinnahmt werden können.“59 Uwe Grüning polemisierte, die Regierung Krenz sei bereit, die Wirklichkeit zu tolerieren, wenn diese sich an Vorgaben halte, die ihr das Politbüro vorschreibe. Er „sehe nicht, dass sich Entscheidendes in unserem Land geändert hat : die Vokabeln in den Reden sind die gleichen geblieben. Die Dialoge sind nur Gnadenerweise. Wir brauchen nicht in erster Linie den guten Willen eines Generalsekretärs, wir brauchen eine Struktur, die Willkür ausschließt.“ Wenn die Demonstrationen aufhörten, beginne die Abschaffung der Wirklichkeit erneut.60 Angesichts der Haltung der Krenz - Führung kam es Anfang November zu einer bisher nicht erreichten Massenmobilisierung. In der ersten November woche beteiligten sich DDR - weit über 1,35 Millionen Menschen an Demonstrationen und Kundgebungen Städten und Gemeinden. Überall gab es massive Kritiken und Forderungen nach der Absetzung von Vorsitzenden der Räte der Kreise und SED - Kreissekretären.61 Viele Gemeinden organisierten eigene Kundgebungen, um mit örtlichen SED - Größen abzurechnen. Überall war das Bild von Kerzen geprägt, die vor SED - Leitungen oder vor Dienststellen des MfS abgestellt wurden. In den Kreisstädten führten fast alle Demonstrationen an den Kreisdienststellen des MfS vorbei. Einzelne Teilnehmer riefen zum Sturm der Objekte auf.62 In einigen Orten bildeten sich Initiativen mit dem Ziel, IM des MfS zu enttarnen.63 Die Stimmung der Bevölkerung war durch „außerordentliche Gereiztheit“ bestimmt. Immer mehr Menschen traten „äußerst feindselig und hasserfüllt“ gegen die SED und konkrete Funktionäre auf. Die Anzahl der Austritte nahm schnell zu.64 Politbüromitglied Werner Krolikowski erklärte, die „inneren wie äußeren Feinde richten ihren Hauptschlag gegen die führende Rolle der SED, weil unsere Partei der Garant unserer Arbeiter - und Bauern Macht und für die Erneuerung des Sozialismus ist“.65 Auf Befehl von Krenz musste das MfS ab dem 5. November täglich über „sicherheitspolitisch bedeutsame Aspekte im Zusammenhang mit Demonstrationen und anderen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen“ und die „inhaltliche Stoßrichtung“ des Wirkens „feindlich - negativer Kräfte“ berichten.66 Bezirk Dresden: Die Tendenz wachsender Aggressivität und verstärkter Angriffe gegen „Schutz - und Sicherheitsorgane“ setzte sich auch im Bezirk Dres59 60 61 62 63 64 65 66

Interview mit Ludwig Mehlhorn. In : taz vom 2. 11. 1989. Uwe Grüning im November 1989 ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). RdB Erfurt vom 7. 11. 1989 : Lage in den Kreisen ( ThHSTA, RdB Erfurt, 40 431). 1. Lagebericht vom 5. 11. 1989 ( BStU, ZA, ZAIG 8266, Bl. 1–4). Zit. bei Süß, Entmachtung, S. 3; MfS, ZAIG, Nr. 496 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 250 f. MfS, XXII, ZOS vom 10.–11. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 40). ZK, Abt. Parteiorgane vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 3). Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 73. MfS, Stellvertreter des Ministers, Mittig, an alle BVfS vom 4. 11. 1989, Anlage ( BStU, ZA, ZAIG 7599, Bl. 5–7).

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den fort, wobei die Bildung unabhängiger Untersuchungskommissionen, die Nennung von Namen und strenge Bestrafung aller Befehlshaber gefordert wurde.67 Am 1. November unterbreitete der Rat des Bezirkes Dresden dem Ministerrat Vorschläge zur Veränderung der staatlichen Leitungstätigkeit im Wirtschaftsprozess,68 die auf eine Reduzierung der zentralen Leitung des Wirtschafts - und Planungsprozesses und eine Stärkung der regionalen und kommunalen Verantwortlichkeit im Rahmen einer sozialistischen Planwirtschaftsweise hinausliefen. Hier drückten sich Vorstellungen Modrows aus, die er später als Ministerpräsident umzusetzen versuchte. Das Sekretariat der SED - Bezirksleitung beschloss am 3. November, den Dialog fortzusetzen und „die führende Rolle der Partei in der sozialistischen Gesellschaft weiter überzeugend darzulegen“.69 Am 4. November konstatierte der Ratsvorsitzende Witteck, die Staatsmacht sei „von Stunde zu Stunde zunehmend in ihrer Existenz gefährdet“. „Konterrevolutionäre Kräfte“ würden sich formieren. Alle Veranstaltungen seien „Tribünen eines massiven Angriffs auf die Partei der Arbeiterklasse und ihre führende Rolle“. Gegenüber Funktionären ergieße sich eine „Flut von Verdächtigungen und Verleumdungen“ bis hin zum Rufmord.70 Am 4. November trat in Dresden die von Krenz aktivierte Bezirkseinsatzleitung zusammen. Die sieben Teilnehmer berieten die angespannte Lage und Gegenmaßnahmen. Nach TOP 8 waren unter Verantwortung des Chefs des Wehrbezirkskommandos „alle Voraussetzungen für das Zusammenwirken zwischen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und den Dienststellen der NVA unter allen Lagebedingungen zu sichern“ und nach TOP 10 „alle Bedingungen und Voraussetzungen für die durchgehende Arbeit der BEL zu schaffen“.71 Modrow setzte zudem den Befehl von Krenz vom Vortag um und befahl den Kreiseinsatzleitungen auf Grundlage des Statuts der Einsatzleitungen erhöhte Führungsbereitschaft, was laut Statut nur im Fall innerer Unruhen erfolgen konnte, die die Existenz des Staates gefährdeten.72 Allerdings sollte das Regime nicht mehr gewaltsam gesichert werden, wie noch um den 40. Jahrestag, sondern dadurch, dass die SED in die politische Offensive gehen sollte. Sozialismusfeindlichen Auffassungen müsse „entschieden entgegengewirkt“ werden. Die Anwendung der Schusswaffe bei Demonstrationen blieb verboten.73 67 Vgl. MfS, XX vom 1. 11. 1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 371). 68 Vorschläge des RdB Dresden an den Ministerrat der DDR zur Veränderung der staatlichen Leitungstätigkeit vom 1. 11. 1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 47114/3, Bl. 110–114). 69 Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED - BL Dresden vom 3. 11. 1989 ( ABL, EA 891103_1). 70 Vorsitzender RdB Dresden vom 4. 11. 1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46141, Bl. 22–24). 71 Zit. in Oberlandesgericht Dresden. 1. Strafsenat. Beschluss vom 25. 4. 1996 in der Strafsache gegen Dr. Hans Modrow, S. 18–20 ( HAIT, Modrow - Prozess ). 72 Vgl. dazu Kap. II.1.3. 73 BEL Dresden, gez. Hans Modrow, vom 4. 11. 1989 : Befehl 10/89 ( ABL, EA 891104_1). Vgl. Prozess gegen Hans Modrow wegen Meineids vor der 4. Strafkammer des Land-

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Bautzen : Im Kreis Bautzen zeigte der Dialog Anfang November vor allem, dass selbst „ein Großteil der Genossen“ die führende Rolle der SED in Frage stellte.74 Am 1. November beriet der Kreistag, wie die Abgeordneten „ihrer Verantwortung für eine wirkliche Wende gerecht werden“ und wie interessierte Bürger in die Arbeit der Kommissionen einbezogen werden könnten.75 Für die Vertreter des Neuen Forums bedeutete das Angebot des Staates, sich an seiner Arbeit zu beteiligen, eine Herausforderung. Einerseits wollte man „den nach allen Seiten offenen Dialog, andererseits stand man den alten Strukturen sehr ablehnend gegenüber“. Nach heftigen internen Debatten einigte man sich darauf, sich zwar an Arbeitsgruppen der „Volksvertretungen“ zu beteiligen, aber gleichzeitig die politischen Grundforderungen mit Hilfe von Demonstrationen weiter vorzutragen.76 Dieses Vorgehen, das die Intentionen des Regimes aushebelte, die Protestierenden durch Einbindung in vorhandene Strukturen zu neutralisieren, war symptomatisch für die Haltung des Neuen Forums auch in anderen Kreisen. Im Deutsch - Sorbischen Volkstheater in Bautzen fand am 5. November ein Bürgerforum mit über 500 Beteiligten und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Lothar Müller, über Wohnungsprobleme statt, bei dem eine Resolution des Bautzner Bürgerforums gegen den SED - Führungsanspruch und mit der Forderung nach Rücktritt der Regierung verlesen wurde.77 Die Stadtverordnetenversammlung diskutierte am 6. November öffentlich über Probleme des Bauwesens und den geplanten Abriss von Teilen der Altstadt.78 In der Presse wurden Listen von Dialogen in allen Wohnbezirken bekannt gegeben. Am 6. November beriet die Stadtverordnetenversammlung Bautzen über kommunale Probleme, am Nachmittag beteiligten sich 5 500 Menschen an einer Demonstration. Auf Transparenten wurden u. a. freie Wahlen, die Trennung von SED und Staat sowie Rechtssicherheit statt Staatssicherheit gefordert.79 Bischofswerda : Auch im Kreis Bischofswerda wurde bei Dialogveranstaltungen Anfang November die führende Rolle der SED überall in Frage gestellt.80 Eine Dialogveranstaltung am 1. November im Kulturhaus von Pulsnitz wurde wegen des Andrangs in die ev. - luth. Nikolaikirche verlegt. Die 1 200 Anwesenden forderten u. a. eine Verbesserung der Versorgung – nicht einmal Pulsnitzer Pfefferkuchen gab es in Pulsnitz –, eine Überarbeitung der Lehrpläne, Meinungs-

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gerichts Dresden am 4. 12. 1996, Vorhaltung durch Richter Kutyrba, Mitschrift d. A., S. 20 ( HAIT, Modrow - Prozess ). SED - KL Bautzen vom 2. 11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 3. 11. 1989. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). Vgl. KDfS Bautzen vom 5. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 223); BVfS Dresden vom 5. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd., Bl. 217); BVfS Dresden vom 5.–6. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 19–21). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 8. 11. 1989. Vgl. SED - BL Dresden vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 87); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 18, 111–129); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 8. 11. 1989. Vgl. SED - KL Bautzen vom 2. 11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553).

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freiheit, keinen Zwang zur FDJ - , Pionierorganisations - oder Parteizugehörigkeit bzw. zum Wehrdienst, Reisefreiheit, Umweltschutz, Verbesserungen im Gesundheitswesen und bei der Trinkwasserversorgung sowie die Verstärkung des Leistungsprinzips. Großen Raum nahm die Diskussion um den von der NVA kahlgeschlagenen Eierberg ein. Vertreter der LDPD betonten, ihre Partei sei aus dem Schatten der SED herausgetreten. Am 2. November tagte der Kreistag. Ratsvorsitzender Nücklich forderte Veränderungen des sozialistischen Systems und gab Kaderveränderungen bekannt. Im Kreistag sollte es künftig möglich sein, mit Ja oder Nein zu stimmen bzw. sich der Stimme zu enthalten.81 Am 2. November diskutierten im Kreiskulturhaus Bischofswerda etwa 1 500 Personen mit der Ratsvorsitzenden, Hannelore Strugalla, den Vorsitzenden der Parteien und Vertretern des Neuen Forums. Die LDPD bot dem Neuen Forum ihre Zusammenarbeit an. Die Redner waren sich einig, dass der absolute Machtanspruch der SED beendet werden müsse und eine Trennung von SED und Wirtschaft notwendig sei. Handwerker forderten die Errichtung kleiner Betriebe für das Territorium. Es gab viele Anfragen zum Umweltschutz, zur Versorgung, zur Ausreise und zu den Übergriffen der Sicherheitskräfte am 8. Oktober.82 Bei einer Einwohnerversammlung in Großröhrsdorf wurde am 2. November eine „Grundsatzkommission“ gebildet, die mehr Mitspracherecht in kommunalen Angelegenheiten forderte.83 In der Kirche von Lichtenberg gab es bei einem Bürgerforum mit Staatsvertretern am 3. November Proteste gegen den Machtanspruch der SED und die manipulierten Wahlergebnisse. Ein Vertreter der CDUOrtsgruppe verlangte die Auflösung des Demokratischen Blocks und der Nationalen Front sowie freie Wahlen.84 Die SED - Kreisleitung konstatierte am 5. November, allerorts gebe es „Unmut, Unverständnis und Misstrauen gegenüber der SED“. Überall würden die Abschaffung des Wehrunterrichts und des Wehrdienstes, der Kampfgruppen und des MfS, des Zwangs zur Mitgliedschaft in der SED und in Massenorganisationen, Meinungsfreiheit ohne Nachteile und „ohne in Angst leben zu müssen“, die Zulassung des Neuen Forums, freies Reisen, der Schutz der Umwelt und die Beseitigung der Dominanz der marxistischleninistischen Weltanschauung verlangt. Von der Bevölkerung, aber „auch von vielen Genossen“ werde gefordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Insgesamt bestehe ein „starkes Misstrauen und wenig Glauben daran, dass die SED die Fähigkeit und Möglichkeit besitzt, eine ernstzunehmende Wende zu erreichen“.85 So gingen auch die Proteste im Kreis weiter. Am 6. November fand in der ev. - luth. Kirche von Lichtenberg ein Forum statt, bei dem erneut 81 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 3. und 4./5. 11. 1989. 82 Vgl. Dr. Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda, 1227– 1997); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 4./5. 11. 1989. 83 Vgl. Stadt Großröhrsdorf an Sächsische Staatskanzlei vom 29. 3. 1999 ( HAIT, StKa ). 84 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 3. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 282– 288). 85 SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553).

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vor allem gegen die führende Rolle der SED und die fehlende Reisefreiheit protestiert und die Auflösung des MfS und der Kampfgruppen gefordert wurde.86 Dippoldiswalde : Die SED - Kreisleitung Dippoldiswalde, die sich bereits mehrfach gegen Reformen ausgesprochen hatte, beschloss am 1. November, „neue Formen für einen besseren Sozialismus zu erschließen“. Um „allen demagogischen und antisozialistischen Kräften den Boden zu entziehen“ wurde hier „unter Führung des Sekretariats der KL der SED“ der Dialog „deshalb vor allem mit vielen kleinen Veranstaltungen“ geführt. Deutlicher konnte man das Ziel der vielen kleinen Dialoge kaum formulieren. Durch diese Zersplitterung sei es gelungen, „konstruktive Standpunkte herauszufördern und vereinzelt auch Initiativen zu entwickeln“. So habe sich der VEB Sägewerk Bärenstein verpflichtet, als Folge des Dialogs Rundholz zu Schnittholz aufzuarbeiten.87 Zynischer konnte wohl kaum ausgedrückt werden, was man vom Kampf der Bürger für ein freieres und besseres Leben hielt. Gemäß dieser Vorgabe fand am 2. November im Kreiskulturhaus Dippoldiswalde ein Rathausgespräch zur Stadtentwicklung und zu Ordnung und Sicherheit statt. Immerhin konnte nicht länger verhindert werden, dass ein Vertreter des Neuen Forums die Basisgruppe Dippoldiswalde vorstellte.88 Bei einer Einwohnerversammlung im Kulturhaus des VEB Uhrenwerk Glashütte äußerten die Bürger vor allem ihr Misstrauen gegenüber Bürgermeister Erich Liebscher und übten „harte Kritik“ an der Volksbildung, der Tätigkeit des örtlichen Rates und dessen Finanz - und Wohnungspolitik.89 Stadt Dresden : In Dresden gingen am 3. November 3 500, am 4. und 5. November je 15 000 und am 6. November trotz strömenden Regens bis zu 100 000 Menschen auf die Straße.90 An der Spitze des Demonstrationsblockes marschierten Mitglieder der Gruppe der 20 gemeinsam mit Modrow und Berghofer.91 Auf Plakaten und Transparenten waren Losungen wie „Wir sind das Volk“, „8–9–10, SED muß gehen“, „Für unsere Kinder keine Feindbilder“, „Stasi in die Volkswirtschaft“, „Wir sind nicht Der Doofe Rest“, „Rechtssicherheit statt Staatssicherheit“ und „Egon, Du bist nicht unser Mann – freie Wahlen. Wir erkennen Dich nicht an“ zu lesen.92 Die Tatsache, dass Modrow und Berghofer an der Spitze eines Demonstrationszuges mit derartigen Losungen marschierten, trug ihnen Kritik von der SED - Führung ein. Bei der abschließen86 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 29, 33, 36 f.); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). 87 SED - KL Dippoldiswalde vom 2. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553, Bl. 1–6). 88 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 4./5. 11. 1989. 89 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 9. 11. 1989. 90 Vgl. MfS, ZOS vom 5.–6. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–103; 1673, Bl. 227–231). Laut FAZ vom 8. 11. 1989 waren es am 6. 11. 1989 mehrere Hunderttausend Menschen. Die Angaben schwanken. Laut MfS nahmen 50–60 000 Personen teil. Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 45–47). Flach, Der Demokratisierungsprozeß, S. 63 f., spricht hingegen von 100 000 Personen. 91 Vgl. Bericht von IM - VL „Bernhardt“ über die Demonstration am 6. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, 8767/90, I, Bl. 151). 92 SED - BL Dresden vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 86).

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den Kundgebung auf dem Messegelände sprachen Vertreter des Neuen Forums, der Gruppe der 20, der SED und von Blockparteien. Da die Kundgebung durch Sicherheitskräfte massiv gestört wurde, bestätigten sich vorhandene Ressentiments und Befürchtungen, bei der Teilnahme offizieller Vertreter handele es sich lediglich um ein Manöver mit dem Ziel, die Entwicklung zu manipulieren und zu bremsen. Da Böhm befürchtete, ein harter Kern von Demonstrationen könnte zur Bezirksverwaltung des MfS marschieren, war das MfS während der Demonstration präsent. SED - Aktivisten und von der Stadt gestellte Ordner sorgten dafür, dass sich die Gruppen bestellter Störer in der Menge verteilen und die Redner der Opposition ausbuhen konnten. Nach der Kundgebung am 6. November zog die Gruppe der 20 Konsequenzen aus der Haltung staatlicher Stellen und organisierte die Demonstrationen fortan ohne die Stadt.93 Dresden - Land : Anfang November verkaufte eine Drogerie in Radebeul ein „Demoset“, bestehend aus zwei Kerzen und einer Schachtel Streichhölzer, die mit einer Schleife samt Aufdruck „Demoset“ versehen waren.94 Eine Einwohnerversammlung in Radebeul beschloss die Bildung zeitweiliger Arbeitsgruppen u. a. zu Fragen kommunaler Demokratie und Mitbestimmung.95 Ansonsten beteiligte sich die Bevölkerung an den Demonstrationen in Dresden.

Bild 37: Montagsdemonstration in Dresden am 6.11.1989. 93 Vgl. Richter / Sobeslawsky, Die Gruppe der 20, S. 167–169. 94 BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 265–268. 95 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 1. 11. 1989.

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Freital : Während der Rat des Kreises Freital mit den APO - Sekretären der Betriebe den bisherigen Arbeitsplan des Rates außer Kraft setzte,96 demonstrierten am 1. November in Freital 2 000 Personen zum Rathaus. Sie führten Transparente mit und riefen Losungen. Ein Teil der Teilnehmer trug Kerzen, von denen einige vor dem Volkspolizeikreisamt und der SED - Kreisleitung abgestellt wurden. Vor der SED - Kreisleitung war ein Plakat mit dem Text: „Egal, was ihr versprecht, nie wird es gelingen, dass Ihr Traum und Wahrheit brecht“ zu sehen. An einem Dialog vor dem Rathaus mit dem Bürgermeister nahmen 1 000 Personen teil.97 Danach fand ein Rathausgespräch mit 25 Bürgern statt, von denen sich ein Teil als Bürgerkomitee oder auch „Gruppe der 20“ konstituierte.98 Der Rat der Stadt stimmte der Bildung von Arbeitsgruppen zu.99 Am 2. November fand in Wilsdruff eine öffentliche Versammlung des Neuen Forums statt, an der auch Kreisfunktionäre teilnahmen. Es gab Forderungen nach Demokratisierung, Aufklärung von Amtsmissbrauch und Korruption, Abschaffung des Führungsanspruchs der SED, Zulassung von oppositionellen Gruppen und Parteien, freien Wahlen und Rechtsstaatlichkeit. Wegen des Andrangs wurden die Redebeiträge auf den Markt übertragen. Es bildeten sich verschiedene Arbeitsgruppen.100 Am 6. November fand eine zweite Besprechung von Funktionären der Stadt und der Freitaler „Gruppe der 20“ statt, die sich zur „Gruppe der 25“ erweiterte. Ihr Sprecher wurde Jörg Emmrich, an den Beratungen nahm wie in Dresden ein Pfarrer ( Reime ) teil.101 Angesichts der Forderungen im Kreis, wie auch der, die am 4. November in Berlin erhoben wurden, äußerten Parteisekretäre des Kreises „Besorgnis über die weitere Entwicklung“. Enttäuscht waren sie von den Künstlern, die die Entwicklung „selbst mitgestaltet“ hätten und sie nun in Misskredit brächten.102 Umgekehrt war ein großer Teil der Bevölkerung mit Blick auf die Demonstration in Freital am 1. November enttäuscht über das Auftreten der Funktionäre, lehnte sie als Dialogpartner ab und forderte den Rücktritt der Führungsspitze des Kreises.103 Auf Einladung von Pfarrer Reime informierte am 6. November das Koordinierungsmitglied des Neuen Forums im Bezirk, Heinemann, in der ev. - luth. Kirche über die Bürgerbewegung. Er rief zur Mitarbeit auf und bat, durch Unterschrift die Legalisierung zu unterstützen. Das Neue Forum erkenne die führende Rolle der SED an, allerdings müssten künf96 Beschlussprotokoll der Sondersitzung des RdK Freital vom 1. 11. 1989 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA). 97 Vgl. Böhm an Mielke vom 1. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 13–15); MfS, ZOS vom 1.–2. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 189–192). 98 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 2. und 3. 11. 1989. 99 Vgl. KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital, 53, Bl. 1–10). 100 Vgl. SED - KL Freital vom 6. 11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 8. 11. 1989. 101 Liste der Namen der Gruppe der 25 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 8. 11. 1989. 102 SED - KL Freital vom 6. 11. 1989 : Stimmung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 103 Vgl. KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 411– 414).

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tig die anderen Parteien „mit der SED gleichberechtigt arbeiten“. Es verstehe sich als Gegengewicht zur Nationalen Front. Am selben Tag kam es zu einer spontanen Demonstration in Rabenau, an der sich zahlreiche Kirchenbesucher beteiligten. Es gab Rufe wie „Wir sind das Volk“, „Freie Wahlen 90“, „Keine Gewalt“ und „Schließt Euch an, wir brauchen jeden Mann“. Zum Abschluss sangen die Teilnehmer auf dem Markt die Lieder „Dona nobis pacem“ und „We shall overcome“.104 Stadt und Kreis Görlitz : Am 1. November ging es beim Dialog in Görlitz um Fragen des Bauwesens. Gefordert wurde u. a., alte Bausubstanz zu erhalten und nicht durch Plattenbauten zu ersetzen. Außerdem wurde der Rücktritt des Oberbürgermeisters verlangt und die führende Rolle der SED angezweifelt. Am nächsten Tag folgte ein Dialog zur Versorgung, bei dem die SED für Missstände verantwortlich gemacht und ihre führende Rolle in Frage gestellt wurde.105 In Reichenbach fand eine öffentliche Stadtverordnetenversammlung zu kommunalen Problemen statt, bei der zur Gründung einer Ortsgruppe des Neuen Forums aufgerufen und die Bestrafung der Verantwortlichen der Übergriffe am 7. und 8. Oktober verlangt wurde. Auch in Deutsch - Paulsdorf tagte die örtliche „Volksvertretung“ öffentlich. Der Rat der Stadt Görlitz beschloss am nächsten Tag die Bildung zeitweiliger Arbeitsgruppen, in denen Bürger mitarbeiten konnten.106 In Görlitz gab es am 3. November in vier Kirchen ökumenische Veranstaltungen. In allen Kirchen wurde zu gewaltfreien Demonstrationen aufgerufen. Nach einem Schweigemarsch forderten ca. 5 000 Personen vor dem Rathaus in Sprechchören und auf Plakaten u. a. „Neues Forum“, „Ablösung des Oberbürgermeisters“, „Freie Wahlen“ und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Vor dem Rathaus wurden brennende Kerzen abgestellt. Nach einem Aufruf des am 26. Oktober gegründeten Neuen Forums von Görlitz, jeden Donnerstagabend eine brennende Kerze in ein Fenster zu stellen, brannten am 2. November mehrere Tausend Kerzen im gesamten Stadtgebiet.107 Am 3. November fand in der katholischen Kirche von Ostritz eine Einwohnerversammlung statt und es bildete sich eine Initiativgruppe Ostritzer Bürger. Neben kommunalen Problemen ging es um die Trennung von Staat und Partei, freie Wahlen, Wehrersatzdienst und Umweltschutz. Die Teilnehmer forderten den Rücktritt des Rates der Stadt und des Kreises.108 Bei einem Dialog des Rates der Stadt ging es am 6. November um Mängel in der Gesundheitspolitik.109 Die KDfS Görlitz fasste als wich104 Revolutionäre Ereignisse auch in Rabenau. In : Ortsblatt Rabenau und der Ortsteile Karsdorf, Lübau, Obernaundorf, Oelsa, Spechtritz. Amtliches Mitteilungsblatt Nr. 11 vom 15. 11. 1994. 105 Vgl. KDfS Görlitz vom 8. 11. 1989 : Neues Forum / Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11000, Bl. 1–7); Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 3. 11. 1989. 106 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 2., 4./5. und 7. 11. 1989. 107 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16); BVfS Dresden vom 3.–4. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9195, Bl. 61–63). „Die Union“ sprach von ca. 8 000 Teilnehmern. Vgl. Ausgabe Görlitz vom 8. 11. 1989. 108 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 10. 11. 1989. Vgl. Vallentin, Aus dem kirchlichen Familienkreis, S. 22 f. 109 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 8. 11. 1989.

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tigste Themen in der Bevölkerung Kritik an der Machtkonzentration von Krenz, Kritik am fortgesetzten Führungsanspruch der SED, Forderungen nach Personalveränderungen auf allen Ebenen von Partei und Staat sowie Versorgungsprobleme zusammen.110 Großenhain : Am 2. November tagte der Kreistag. Ratsvorsitzender Werner Loipolt kündigte Veränderungen in der Arbeit der „Staatsmacht“ an. Künftig sollten Diskussionen möglich sein und mit den Bürgern diskutiert werden. Viele Abgeordnete plädierten „für eine generelle Wende“, aber ohne Abkehr vom Sozialismus.111 Während die SED - Kreisleitung die Dialogdiskussionen auf Themen wie Stadtentwicklung, Jugendarbeit, Volksbildung, Umweltfragen sowie Handel und Versorgung konzentrieren wollte,112 stellten etwa 1 000 Demonstranten am 2. November in Großenhain politische Forderungen, die an die Substanz des Regimes gingen. Auch hier wurden vor dem Rathaus Kerzen abgestellt und am Balkon wurde ein Transparent befestigt. Die Demonstration war vom Neuen Forum organisiert worden. Transparente und Losungen richteten sich vor allem gegen SED und MfS.113 Bei einem Bürgerforum in Lampertswalde ging es an diesem Tag um Glaubensfreiheit an Schulen, Wehrunterricht, Wehrersatzdienst, die Haltung der „Wendehälse“, Wahlfälschungen sowie um kommunale und ökologische Probleme.114 Ein Thema war das Militärobjekt im Raschütz. Hier wurde eine Unterschriftensammlung mit dem Ziel begonnen, Baumaßnahmen zu beenden und die Materialien für zivile Zwecke zu nutzen.115 In Großenhain gab es am 4. November an verschiedenen Stellen Bürgerforen, die die SED- Strategie verdeutlichten, die Proteste zu splitten. So ging es im Kreiskulturhaus um die Entwicklung des Kreises, im Rathaus um Stadtentwicklung, im „Haus der Pioniere“ um Volksbildung und im Clubkino um Handel und Dienstleistungen. Die Veranstaltung über Volksbildung wurde zudem so gelegt, dass kein Schüler oder Lehrer sich daran beteiligen konnte, um – so die Meinung von Pädagogen – „keine unliebsamen oder konkreten Fragen beantworten zu müssen“.116 Kamenz : Beim Bürgerforum in Königsbrück am 1. November übergab das Neue Forum dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Ahrens, einen „Offenen 110 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum / Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 111 Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 3. 11. 1989. 112 Vgl. SED - KL Großenhain vom 2. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 113 Vgl. BVfS Dresden vom 2. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 8–9); BVfS Dresden vom 2. 11. 1989 ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 424); Scholz, Ereignisse in der Stadt Großenhain im Jahr der Wende 1989 ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2. und 4./5. 11. 1989. 114 Vgl. ebd., vom 4./5. 11. 1989. 115 Vgl. ebd., vom 23. 11. 1989. 116 KDfS Großenhain vom 4. 11. 1989 : Bürgerforen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 277 f.). Vgl. KDfS Großenhain vom 4. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., Bl. 247); BVfS Dresden vom 4.–5. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9195, Bl. 54, 59); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 7. 11. 1989.

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Brief“ mit Forderungen.117 In Kamenz gab es eine öffentliche Sitzung der Stadtverordnetenversammlung. Wegen des Andranges wurden die Beiträge per Lautsprecher nach außen übertragen. In gereizter Atmosphäre stellte der Bürgermeister die Vertrauensfrage. Die Erklärung des Vorsitzenden des Rates des Kreises, „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, löste Tumulte aus und führte zum Ende der Sitzung. Die MfS - Kreisdienststelle kritisierte die unzureichende Einflussnahme der SED und „bewusster gesellschaftlicher Kräfte“.118 Bei einer öffentlichen Gemeindesitzung in Schwepnitz charakterisierte der Pfarrer die Lage als „Aufschrei eines gequälten und entmündigten Volkes“ und übte Kritik an der Volksbildung. Es gab „scharfe Angriffe gegen das MfS“, und es wurde gefordert, gegen Schießübungen auf dem Truppenübungsplatz zu demonstrieren. Beim Dialog in Gersdorf - Möhrsdorf stellten alle Redner offen die führende Rolle der SED in Frage und forderten die Beseitigung von Volkspolizei und MfS sowie die Zulassung des Neuen Forums. Die anwesenden Funktionäre waren laut MfS - Bericht „nicht in der Lage, die Diskussion zu beherrschen“, während Pfarrer Wendelin „frenetisch gefeiert“ wurde.119 Beim Bürgerforum in Kamenz am 2. November wurde eine Resolution von Ärzten des Kreises verlesen. Es gab vereinzelt Angriffe auf das MfS.120 In der Zeitung wurde zu immer neuen Dialogen eingeladen,121 auch wenn klar war, dass die SED damit kaum noch punkten konnte. Beim Bürgerforum am 4. November in Kamenz griffen „hauptamtliche kirchliche Kräfte“ das MfS an und forderten die Offenlegung der Zahl der Mitarbeiter. „Besonders aggressiv“ waren nach Einschätzung des MfS bei allen Veranstaltungen Handwerker und Gewerbetreibende.122 Am selben Tag erklärte sich der Rat der Stadt Kamenz bereit, mit dem Neuen Forum zu sprechen,123 und es gab eine Demonstration entlang des Truppenübungsplatzes.124 Während eines Friedensgebetes am 6. November in Kamenz mit 1 200 Teilnehmern wurden die Aufdeckung des Wahlbetrugs vom Mai, Kaderveränderungen bis zur untersten Ebene und ideologiefreie Schulen gefordert. Die DDR wurde mit dem Apartheidsystem verglichen. Anschließend demonstrierten ca. 600 Personen durch die Stadt.125 Beim Friedensgebet in der ev. - luth. Kirche Königsbrück gab es ähnliche Meinungsäußerungen. Bei einer anschließenden Demonstration forderten ca. 600 Teilnehmer in Sprechchören

117 Vgl. SED - BL Dresden, Hausmitteilung von der Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, an Modrow, vom 6. 11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13527). 118 Chronik der Ereignisse 1989/1990 in Königsbrück ( StA Königsbrück ). 119 KDfS Kamenz vom 1. 11. 1989 : Reaktionen auf den Dialog ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 249). 120 Vgl. BVfS Dresden vom 4.–5. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9195, Bl. 54–56). 121 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 2. und 3. 11. 1989. 122 Vgl. KDfS Kamenz vom 4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 224 f.). 123 Vgl. Chronik der Ereignisse 1989/1990 in Königsbrück ( StA Königsbrück ). 124 Vgl. KDfS Kamenz vom 4. 11. 1989 : Geplante Aktivitäten ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 246). 125 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74).

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die Absetzung von Krenz, freie Wahlen und die Abschaffung des MfS.126 Staatliche Veranstaltungen wie das „Zweite Kamenzer Bürgerforum“ hatten weniger Zulauf. Aber auch hier dominierten Forderungen nach einem Ende der SED Herrschaft. Vertreter aller Blockparteien stellten neue Programme vor.127 Löbau : Bürgerforen am 1. November in Neugersdorf, Eibau und Oppach sowie vom MfS bespitzelte Gespräche machten auch im Kreis Löbau „deutlich, dass sich die politische Lage enorm verschärft hat“. Es gab Kritik am von der SED verschuldeten Stillstand und an vorenthaltener Reisefreiheit.128 Bei einer Einwohnerversammlung in Ebersbach forderte Pfarrer Mehlhose Reformen in Wirtschaft und Politik sowie die Zulassung des Neuen Forums. Der Machtanspruch der SED und das bisherige Wahlsystem wurden angegriffen und kommunale Probleme debattiert. In Oberoderwitz ging es in Anwesenheit des Vorsitzenden des Rates der Kreises, Günter Hanisch, neben kommunalen Angelegenheiten um die Rolle der Blockparteien, Versorgungsprobleme, den Empfang westlicher Fernsehsender, Geschichtsbewältigung, eine Abschaffung von Privilegien und den Abbau hauptamtlicher Funktionärstätigkeit.129 Am 5. November versammelten sich in der ev. - luth. Kirche von Ebersbach 400 Personen,130 am 6. November gab es bei und nach Foren in den Kirchen von Eibau Angriffe gegen den Führungsanspruch der SED, den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Heinz Rietzschel, die vorenthaltene Reisefreiheit, das MfS und die Kampfgruppen.131 Mit Wirkung vom 6. November legte der Bürgermeister von Neusalza - Spremberg seine Funktion nieder.132 Meißen : Am 1. November demonstrierten rund 10 000 Meißner für politische Änderungen, die Zulassung des Neuen Forums und mehr Umweltschutz.133 Bürgerforen gab es am 2. November in der St. Martinskirche Weinböhla134 und am 3. November in Coswig. Hier protestierten Mitglieder einer Bürgerinitiative gegen die gefälschten Kommunalwahlergebnisse und forderten die Zulassung des Neuen Forums.135 Zum Bürgerforum der Stadt Coswig am 4. November erschienen 2 500 Teilnehmer, weswegen zwei Veranstaltungen in der Peter Pauls - Kirche stattfanden. Vor allem Vertreter des „Bürgerforums Coswig“ stellten die Berechtigung des Rates der Stadt in Frage und forderten die Zulassung

126 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 29, 32); BVfS Dresden vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd. AKG 7001, Bl. 87). 127 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 7. 11. 1989. 128 SED - KL Löbau vom 2. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 129 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 1. 11. 1989. 130 Vgl. KDfS Löbau vom 5. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 226). 131 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9186, Bl. 29, 33); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). 132 Vgl. KDfS Löbau an BV Dresden vom 8. 11. 1989 : Reaktion der Bevölkerung ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 1–4). 133 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 2. 11. 1989. 134 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 2. 11. 1989. 135 Vgl. ebd., vom 3./4. 11. 1989.

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des Neuen Forums. Einzelne Funktionäre wurden ausgepfiffen. Es gab Angriffe auf die SED.136 Niesky : Bei einer Zusammenkunft des Neuen Forums am 1. November in der Kirche der Brüdergemeinde Niesky wurde die führende Rolle der SED in Frage gestellt und die Entfernung der Partei aus der Wirtschaft gefordert.137 Bei mehreren Dialogen am 2. November überwogen nach MfS - Meinung „provozierende Fragestellungen“. Die führende Rolle der SED wurde „offen negiert“, der Partei das Misstrauen ausgesprochen.138 Ähnlich sah es auch bei weiteren Dialogen aus.139 Bei Gottesdiensten und Foren in Kirchen von Rothenburg am 6. November gab es ebenfalls Angriffe gegen die führende Rolle der SED, Kritik an fehlender Reisefreiheit und Forderungen nach Reduzierung des MfS und der Auflösung der Kampfgruppen.140 Pirna : Beim Rathaustreff in Pirna ging es am 2. November vor allem um kommunale Belange wie z. B. den Zustand der Altstadt. Bürgermeister Thilo Riedel verteidigte die gefälschten Kommunalwahlen vom Mai.141 Bei einer Frage - Antwort - Stunde mit Kreistagsabgeordneten stand die künftige Arbeit des Kreistages zur Debatte. So sollten künftig den Abgeordneten alle Beschlussvorlagen schriftlich vorab zur Verfügung gestellt werden, ein Novum in der „sozialistischen Demokratie“. Ebenso spektakulär für sozialistische Verhältnisse war die Ankündigung, künftig Umweltdaten zu veröffentlichen.142 In der Hospitalkirche Pirna nahmen an einem „Gebet für dieses Land“ ca. 250 Personen teil und informierten sich über das Neue Forum.143 Am 3. November beteiligten sich 700 Personen an einer von Pfarrer Eike Stemmler organisierten Veranstaltung in der ev.luth. Kirche von Königstein. Gefordert wurden ein besserer Umweltschutz, ein Mehrparteiensystem, die Abschaffung der führenden Rolle der SED, eine sofortige Verbesserung der Versorgung in der Stadt und die Absetzung des Bürgermeisters sowie anderer Funktionäre. Anschließend formierten sich ca. 50 Personen zu einem Schweigemarsch, der sich nach Abstellen von Kerzen am Rathaus

136 Vgl. KDfS Meißen vom 4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 275 f.); BVfS Dresden : Zeitraum vom 4.–5. 11. 1989 ( ebd., XX 9195, Bl. 54, 57); Sächsisches Tageblatt vom 10. 11. 1989. 137 Vgl. KDfS Nieky vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 350–352); SED - KL Niesky vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 138 SED - KL Niesky vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( ebd.). 139 Vgl. VPKA Niesky : Rapportberichte 35–73/89, o. D. ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990, Stab, DDH; Az. 1212). 140 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 49); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). 141 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 2. und 3. 11. 1989. 142 Vgl. ebd., vom 4./5. 11. 1989. 143 Vgl. KDfS Pirna vom 2. 11. 1989 : Veranstaltung in der Hospitalkirche Pirna ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 323); BVfS Dresden vom 3.–4. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9195, Bl. 61, 64 f.).

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auflöste.144 Beim Bürgerforum in Dohna am 4. November diskutierte der 1. Sekretär der Kreisleitung Pirna über Umwelt- und Kommunalprobleme. Es gab Forderungen nach Absetzung des Sekretärs der SED - Ortsparteiorganisation.145 Riesa : Nach einem Friedensgottesdienstes am 2. November in der Trinitatiskirche Riesa formierte sich Demonstrationszug mit 3 000 Teilnehmern durch die Stadt. Es gab Sprechchöre wie „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“, „SED, das tut weh“, „Stasi in die Volkswirtschaft“, „Stasi raus“ sowie „Egon gib Devisen frei“.146 Jugenddiakon Andreas Näther organisierte am 6. November ein weiteres Friedensgebet in der Klosterkirche Riesa und rief dazu auf, sich gemeinsam am Dialog im Club der Jugend und Sportler zu beteiligen.147 Bei diesem Forum mit führenden Funktionären des Kreises richteten sich denn auch fast alle Beiträge der 1 500 Teilnehmer gegen die führende Rolle der SED, den 1. Sekretär der Kreisleitung, E. Richter, sowie den Vorsitzenden des FDGB Kreisvorstandes.148 Auch in kleineren Städten wie in Strehla gab es angesichts der allgegenwärtigen Demonstrationen Planungen für eigene Aktivitäten.149 Am 6. November beschloss der Rat des Kreises Maßnahmen zur Verbesserung der staatlichen Leitungstätigkeit als „Beitrag zur Gestaltung der Wende für einen starken Sozialismus in unserer DDR“.150 Sebnitz : Am 2. November demonstrierten in Sebnitz 1 500 vorwiegend Jugendliche mit Kerzen durch das Stadtzentrum. Es gab Sprechchöre wie „Neues Forum – wir sind das Volk“ und ein Plakat mit dem Text „Nie wieder Lügen!“. Vor der Kreisleitung der SED sprachen der 1. Sekretär der Kreisleitung, Helmut Geyer, der Vorsitzende des Rates des Kreises, Klaus Brettschneider, und der Bürgermeister. Im Mittelpunkt standen Angriffe auf die Führungsrolle der SED und die Wirtschaftspolitik. Funktionäre und Vertreter des Neuen Forums vereinbarten, gemeinsam Lösungswege zu beraten und dazu ein „Zusammenwirken auf einheitlicher Plattform zu schaffen“. Die Vertreter des Neuen Forums bekannten sich hier zum Sozialismus in der DDR, verlangten aber die Anerkennung des Neuen Forums.151 Am 3. November fand in der ev. - luth. Kirche Sebnitz eine ökumenische Gebetsstunde statt. Im Anschluss demonstrierten ca. 144 Vgl. KDfS Pirna vom 3. 11. 1989 : Info Königstein ( ebd., AKG 7002, 2, Bl. 131 f.); BVfS Dresden vom 3.–4. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 1, 3–5); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 3. 11. 1989. 145 Vgl. KDfS Pirna vom 4. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 246); KDfS Pirna : geplante Demonstration in Dohna am 4. 11. 1989 ( ebd., Bl. 425); BVfS Dresden vom 4.–5. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9195, Bl. 54, 57). 146 Vgl. BVfS Dresden vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 7001, Bl. 101). 147 Vgl. BVfS Dresden vom 5. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd. 7002, 1, Bl. 218); Große Kreisstadt Riesa : Flugblatt mit Einladung vom 2. 11. 1989/ Auf listung von Ereignissen (HAIT, StKa). 148 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 29, 33); SED - BL Dresden vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 7001, Bl. 87). 149 Vgl. KDfS Riesa vom 5. 11. 1989 : Lage ( ebd. 7002, 1, Bl. 222 f.). 150 Beschluss des RdK Riesa vom 6. 11. 1998 ( PB Andreas Näther ). 151 SED - KL Sebnitz vom 3. 11. 1989 : Demonstration und Kundgebung am 2. 11. 1989 (SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060); BVfS Dresden vom 2. 11. 1989 : Info (BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 8–9).

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2 000 Personen mit einem Schweigemarsch. Organisator war Michael Hirsch vom Neuen Forum. Er forderte die Teilnehmer vor Beginn zur Einhaltung der Disziplin auf und verwies darauf, dass Provokateure durch eigene Ordnungskräfte der Volkspolizei übergeben würden. Viele Teilnehmer trugen brennende Kerzen, Spruchbänder und Plakate. An der MfS - Kreisdienststelle riefen Teilnehmer „Stasi in die Volkswirtschaft“. Bei einer anschließenden Kundgebung kamen über 20 Sprecher zu Wort, darunter der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, der Ratsvorsitzende und der Bürgermeister. Die meisten Redner richteten Angriffe gegen die führende Rolle der SED und zum Teil gegen anwesende Funktionäre. Gefordert wurden ein neues Wahlgesetz und die Bestrafung von Funktionären. Die SED - Kreisleitung konstatierte, dass das Auftreten der „befreundeten Parteien“ immer selbstbewusster werde und diese „im Gegensatz zur SED“ von den Bürgern begrüßt würden. Funktionären der SED falle es schwer, das politische Klima zu bestimmen. Bisherige Leistungen würden kaum akzeptiert, „der Vergleich zur Konsumgesellschaft in der BRD dominiert als Maßstab aller Dinge“.152 Auch andere Versammlungen im Kreis zeigten, dass die Angriffe auf die Führungsrolle der SED immer massiver wurden und den „Zuspruch der Werktätigen“ fanden.153 Zittau : In vielen Gemeinden des Kreises wurden Anfang November regelmäßige Dialogveranstaltungen unter Einbeziehung der Parteien und Massenorganisationen begonnen. Der Rat des Kreises plante die Bildung von „Interessenkreisen zur Lösung kommunalpolitischer Probleme“.154 Am 2. November fand in Seifhennersdorf eine Einwohnerversammlung statt, in der die Bürger Rechenschaft von den Funktionären verlangten.155 Am 4. November kam es in Zittau zum Rathausgespräch zwischen dem Bürgermeister, Ratsmitgliedern und 32 Vertretern des Neuen Forums einschließlich Pfarrer Lothar Alisch. Auf dem Markt warteten 3 000 Interessierte auf das Ergebnis und forderten die Zulassung des Neuen Forums, freie Wahlen, einen zivilen Wehrersatzdienst und das Ende des SED - Machtmonopols. Alisch und der Bürgermeister äußerten die Hoffnung auf einen gemeinsamen Neuanfang. Danach formierte sich ein Demonstrationszug mit Spruchbändern und Pappschildern durch Zittau.156

152 SED - KL Sebnitz vom 5. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060). Vgl. KDfS Sebnitz : Demonstration am 3. 11. 1989 in Sebnitz ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 320 f.); KDfS Sebnitz : Demonstration am 4. 11. 1989 in Sebnitz ( ebd., Bl. 270–272); KDfS Sebnitz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., Bl. 329 f.). 153 SED - KL Sebnitz vom 7. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060). 154 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 1. 11. 1989. 155 Vgl. ebd., vom 8. 11. 1989. 156 Vgl. KDfS Zittau vom 4. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 247); BVfS Dresden : Zeitraum vom 4.–5. 11. 1989 ( ebd., XX 9195, Bl. 54, 59); SEDKL Zittau vom 4. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553); Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. 11. 1989.

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Bild 38: Demonstration in Zittau.

In Zittau folgten am 5. November Bürgerforen zu kommunalwirtschaftlichen Problemen, bei denen nun immer wieder der Führungsanspruch der SED abgelehnt wurde.157 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : In Bernsdorf demonstrierten am 5. November 1 200 Personen mit Transparenten wie „Stasi raus – in die Produktion“, „Fernseher aus – kommt raus“.158 Weißwasser : Auch im Kreis Weißwasser gingen die Räte an die Bildung von Arbeitsgruppen. Die Bürger wurden durch die Presse aufgefordert, sich in Listen einzutragen. Der Zulauf war allerdings mäßig.159 Am 4. November fand in Bad Muskau eine vom Neuen Forum organisierte Demonstration mit ca. 120 Teilnehmern und eine anschließende Bürgeraussprache im Deli - Theater mit ca. 500 Personen statt. Themen waren die Machtfrage, Privilegien, freie Gewerkschaften und Wahlen, die Zulassung des Neuen Forums und das MfS.160 Am 6. November folgte in der ev. - luth. Kirche von Weißwasser ein Friedensgebet. Hier stellten sich neue Gruppierungen wie das Neue Forum und die SDP vor. Die SED - Kreisleitung hatte eine Teilnahme verweigert, was zu Kritik führte. Das MfS schätzte ein, dass die Veranstaltung „aufgrund des Fehlens progres157 Vgl. KDfS Zittau vom 5. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 188 und 227); BVfS Dresden vom 5. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd., Bl. 217). 158 MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 79). 159 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 3. 11. 1989. 160 Vgl. Chronologie der Wende ( StV Bad Muskau, Stadt - und Parkmuseum ); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 97.

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siver Dialogpartner nur einseitig gegen die bestehende Führungsrolle der Partei und gegen die Regierung angelegt war“.161 Danach kam es zu einer Demonstration durch die Stadt. Das Neue Forum stellte Ordner mit weißen Armbinden. Der Demonstrationszug wurde mit dem Transparent „Reformer an die Macht“ angeführt.162 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Die Situation war Anfang November auch im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom zunehmenden Druck der Straße gekennzeichnet. Während die Forderungen der Demonstrierenden immer grundsätzlicher wurden, beschloss der Bezirkstag am 3. November ein Aktionsprogramm des Rates des Bezirkes mit Sofortmaßnahmen, die sich lediglich auf Modifizierungen der staatlichen Arbeit beschränkten. Danach hatten die Mitglieder der Räte aller Ebenen in Beratungen der Ständigen Kommissionen aufzutreten und öffentlich Rechenschaft abzulegen. Eine Arbeitsgruppe des Rates des Bezirkes sollte Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretung und ihrer Organe ( sprich Räte ) unterbreiten.163 Auf die Mobilisierung der Bevölkerung hatte dies keinen Einfluss. Neben Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums sowie Reise - und Versammlungsfreiheit kam es bei Demonstrationen zu teils hasserfüllten Äußerungen gegen SED und MfS. Die Forderung nach Streichung des Führungsanspruchs der SED aus der Verfassung wurde immer deutlicher formuliert. Auch bei Dialogveranstaltungen kam es zu teilweise massiven Angriffen auf das MfS. Auf Demonstrationen gab es Sprechchöre wie „Stasi raus“, „Faules Pack“, „Lumpenpack“, „Stasi in die Produktion“ oder „Schluss mit der Bespitzelung“.164 Höhepunkt der Protestbewegung im Bezirk war der 6. November. In zahlreichen Städten und Gemeinden wurde demonstriert. In den kleinen Städten des Vogtlandes waren mehr als ein Drittel der Einwohner auf der Straße.165 Annaberg : Im Eduard - von - Winterstein - Theater Annaberg gab es bei einem Forum führender Funktionäre mit Künstlern heftige „Angriffe auf die führende Rolle der Partei“ und das MfS.166 Angesichts der angespannten Lage trat am 2. November die Kreiseinsatzleitung Annaberg zusammen167 und befahl u. a., die Kampfgruppen in Alarmbereitschaft zu versetzen. Beim Bürgerforum am 3. November in Geyer löste dies scharfe Proteste aus. Es gab Angriffe auf die führende Rolle der SED und Forderungen nach freien Wahlen.168 Während die Bevölkerung das Ende des SED - Regimes forderte, wurden auf Anweisung der 161 KDfS Weißwasser : Veranstaltung der Evangelischen Kirche in Weißwasser am 6. 11. 1989 ( BStU, Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 556–563). 162 Neues Forum – Protokoll zur Sitzung vom 5. 11. 1989 in Rietzschen ( UB Grohedo; PB Pfarrer Reinhard Müller, Weißwasser ). 163 Beschluss des RdB Karl - Marx - Stadt vom 3. 11. 1989 ( SächsStAC, 127398). 164 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 7. 11. 1989 : Zunehmende Angriffe auf das MfS ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 471, Bl. 86 f.). 165 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Bedeutsame Ereignisse von Oktober – Dezember 1989 (ebd., L 296); Horsch, Das kann, S. 19. 166 KDfS Annaberg vom 4. 11. 1989 : Dialoge ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 4–7). 167 Vgl. KDfS Annaberg vom 1. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 2146, 1, Bl. 94 f.). 168 Vgl. KDfS Annaberg vom 4. 11. 1989 : Dialoge im Kreis Annaberg ( ebd. 1804, Bl. 4–7).

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Partei - und Staatsführung auch im Kreis und in den Kommunen Beschlüsse zur Erhöhung der Wirksamkeit der ständigen Kommissionen der Volksvertretungen u. a. durch Einbeziehung interessierter Bürger gefasst.169 Am 4. November versammelten sich in und vor der ev. - meth. Kirche in Annaberg ca. 6 000 Personen. Die Veranstaltung mit Vorstellung des Neuen Forums wurde über Lautsprecher nach außen übertragen. Es gab Angriffe gegen die führende Rolle der SED und das MfS sowie Forderungen nach politischen Grundfreiheiten. Danach zog ein Demonstrationszug in drei Marschsäulen durch die Stadt, teilweise vorbei an der MfS - Kreisdienststelle. An der Demonstration beteiligten sich auch viele Bewohner aus dem Umland, so aus Königswalde und Schlettau.170 Die Demonstranten führten Plakate und Transparente mit und stellten vor der SED - Kreisleitung, der MfS - Kreisdienststelle, dem Volkspolizeikreisamt und dem Rathaus Kerzen auf. Am Tor der MfS-Kreisdienststelle wurde ein Stoffband mit der Aufschrift „Gegen Lüge und Angst“ befestigt. Die Demonstranten riefen „Stasi raus“, „Lumpenpack“, „Faule Schweine“ und „Stasi in die Volkswirtschaft!“.171 Aus Sicht des MfS „bildeten sich unter dem feindlich - negativen Kern von ca. 400 Personen Sprechchöre, die in ihrer aufgeputschten Art hysterisch schrieen : ‚SED – das tut weh‘, ‚Wir brauchen keine faulen Schweine‘, ‚Schließt euch an, Stasi raus‘.“ Vor der Wohnung des Stellvertreters des Bürgermeisters für Inneres wurde „Kommunistenschwein !“ gerufen.172 Vor dem Rathaus von Oberwiesenthal versammelten sich am 5. November etliche Bewohner. Zwei Plakate mit den Texten: „Wir leben doch nicht hinter dem Berg“ und „Dialog, wann auch in Oberwiesenthal ?“ sowie eine Kerze „wurden von gesellschaftlichen Kräften entfernt“.173 In Bärenstein demonstrierten am 6. November rund 300 Einwohner und riefen Losungen gegen das MfS und für freie Wahlen.174 In Crottendorf führten Schüler der POS eine spontane Demonstration durch.175 Im Schnitzerheim Scheibenberg trafen sich Anhänger des Neuen Forums und formulierten Forderungen nach freien Wahlen, Reisefreiheit und Offenlegung der Wirtschaftsdaten.176 Beim Dialog in der Festhalle von Annaberg unter Teilnahme des 1. Sekretärs der SED- Kreisleitung, Martin Hessmann, gab es u. a. Proteste gegen die MfS-Kreisdienststelle sowie Forderungen nach Reisefreiheit und besserer Versorgung.177 169 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 3. 11. 1989. 170 Vgl. Die Zeit der Wende in Königswalde ( HAIT, StKa ); Greifenhagen ( Bürgermeister ), Wende in Schlettau ( HAIT, StKa ). 171 KDfS Annaberg vom 4. 11. 1989 : Bittgottesdienst in der ev. - meth. Kirche Annaberg (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 8–12); KDfS Annaberg vom 25. 10. 1989 : Neues Forum ( ebd., 529, 1, Bl. 38–40); Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 7. 11. 1989. 172 KDfS Annaberg vom 6. 11. 1989 : Reaktionen der Bevölkerung und weitere Einzelheiten zur Veranstaltung der ev. - meth. Kirche Annaberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 8–10). 173 KDfS Karl - Marx - Stadt : nicht genehmigte Demonstration am 5. 11. 1989 ( ebd., Bl. 11). 174 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). 175 Vgl. Jörg Lötzsch / Andreas Demmler, Chronik der Wende in Crottendorf ( HAIT, StKa). 176 Vgl. Gabriele und Karlheinz Schlenz, Wende in Scheibenberg ( ebd.). 177 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 7. 11. 1989 : Zunehmende Angriffe auf das MfS ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 471, Bl. 86 f.); Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 8. 11. 1989.

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Aue : Während sich verschiedene Abgeordnete des Kreistages Aue Anfang November über die Anweisung des Rates des Kreises aufregten, monatliche Berichte über geführte Dialoge abzuliefern, häuften sich Anfang November Forderungen der Beschäftigten von Großbetrieben, führende Funktionäre der SEDKreisleitung sollten zurücktreten. Werktätige des VEB Bergsicherung Schneeberg meinten, man dürfe die Demonstrationen erst einstellen, wenn sichtbare Veränderungen eingetreten seien und verantwortliche Funktionäre aller Ebenen abgelöst worden wären. In teils „aggressiv geführten Diskussionen“ forderten Arbeiter des VEB Halbzeugwerk Auerhammer ein Ende aller Vorteile von Funktionären, die Auflösung von Ferienheimen der Staats - und Parteiführung, die Beseitigung von Schiebereien und Korruptionen sowie die Durchsetzung des Leistungsprinzips in der Volkswirtschaft.178 Immer mehr geriet das MfS in die Kritik. Arbeiter des VEB Blema / Aweba forderten die Trennung von SED und Wirtschaft, die Absetzung von Funktionären und freie Wahlen.179 In Schneeberg demonstrierten am 1. November 6 000 Personen durch die Innenstadt. Es gab Buhrufe und Sprechchöre gegen den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Hans Grimmer.180 Auch bei der Wismut wurde „Antipathie zur Arbeit des MfS“ geäußert. Im Untertagebereich gab es Proteste gegen den Missbrauch von Funktionen und Korruption. Die SED habe bei den Werktätigen und einem Teil ihrer Mitglieder „das Vertrauen total verloren“. Es gab Forderungen nach einer Überprüfung des Finanzgebarens der SED.181 In Lößnitz, einem Zentrum der sächsischen Leichtindustrie, gab es am 2. November bei einem Bürgerforum der Nationalen Front Forderungen nach baldigen freien Wahlen, der Gleichstellung aller Parteien, einer Reduzierung der Verwaltung und mehr kommunaler Selbstverantwortung. Dem MfS fiel auf, dass „Bürger anderer Parteien und Christen das Sagen hatten“. Ansonsten beteiligten sich Lößnitzer Bürger an den Demonstrationen im nahegelegenen Aue.182 Am 4. November demonstrierten in Schönheide 200 Personen.183 In Aue nahmen 400 Personen an einem Bürgerforum zu kommunalpolitischen Fragen teil, bei dem der 1. Sekretär der SEDKreisleitung Zugeständnisse an das Neue Forum und die Blockparteien machte.184 Am 6. November fand in Aue eine Demonstration statt. Im Vorfeld berieten Vertreter der SED - Kreisleitung, des Volkspolizeikreisamtes, des Neuen Forums und Superintendent Gilbert den Verlauf im Sinne einer „Sicherheits-

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KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 9–12). Vgl. KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 531, 1, Bl. 21–23). Vgl. MfS, ZOS vom 1.–2. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 189–192). KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Berichterstattung über den Bereich Wismut ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 9–12). 182 KDfS Aue vom 3. 11. 1989 : Berichterstattung ( ebd., Bl. 6–8). Vgl. G. Troll, Chronologie der Wende der Stadt Lößnitz ( HAIT, StKa ). 183 Vgl. MfS, ZOS vom 4.–5. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 96–103). 184 Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 7. 11. 1989.

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partnerschaft“. Das MfS war nicht beteiligt.185 Nach einem Fürbittgottesdienst in der Auer Friedenskirche mit dem Superintendenten zum Thema „Die Macht“186 demonstrierten etwa 20 000 meist jugendliche Demonstranten aus dem gesamten Kreis bei strömenden Regen durch Aue. Zu Beginn wurden Ansteckkarten mit der Bitte „Keine Gewalt“ verteilt. Die Demonstranten führten Kerzen sowie Transparente und Losungen mit Forderungen nach freien Wahlen, dem Rücktritt der Regierung, deutscher Einheit und dem Ende der Führungsrolle der SED mit sich. Sprechchöre riefen : „Wir sind das Volk“ und „Demokratie – jetzt oder nie“. Im Stadtgarten ergriffen 15 Redner das Wort. Dietmar Queck, Kreisvorsitzender der CDU, bekannte sich zu Fehlern seiner Partei und forderte mehr Selbstständigkeit. Beim Auftritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung kam es zu tumultartigen Protestrufen und Forderungen „Abtreten, abtreten !“.187 Auerbach : Auch im Kreis Auerbach war das „Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Partei [...] stark gestört“. Beschäftigte eines Betriebes des VEB Erzgebirgische Kofferfabrik Thalheim (Stollberg) meinten, die Aktivitäten von Krenz dienten nur der „Beruhigung der Massen“. Man müsse bis zur Zulassung eines Mehrparteiensystems demonstrieren. Im VEB Falgard Falkenstein wurden unter Beifall die Bilder Honeckers und Stophs abgenommen. Die Beschäftigten forderten freie Wahlen, Reisemöglichkeiten und die Auflösung des MfS.188 In Reumtengrün demonstrierten am 2. November anlässlich einer öffentlichen Gemeindevertretersitzung ca. 200 Menschen und riefen „Wir sind das Volk“, „Freie Wahlen“ und „Stasi in die Volkswirtschaft“. Bei der Versammlung wurden ein Ende der führenden Rolle der SED, die Zulassung unabhängiger Gruppen und freie Wahlen gefordert.189 Am 3. November demonstrierten in Auerbach ca. 9 000 Bürger. Sie trugen Transparente und riefen Sprechchöre gegen die SED und für deutsche Einheit. Vor der SED - Kreisleitung und dem Rathaus skandierte die Menge : „Arbeiten, arbeiten, arbeiten“. Viele Bürger trugen Kerzen, die zum Teil vor der SED - Kreisleitung und der MfS - Kreisdienststelle abgestellt wurden. Auf dem Friedensplatz folgte eine Kundgebung. Hier rief Berthold Rink vom Neuen Forum zu Ruhe und Besonnenheit auf. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Hans - Joachim Döhn, wurde bereits nach wenigen Sätzen unterbrochen. LDPD - Kreisvorsitzender Wolfgang Doss forderte die Eigenständigkeit der Parteien und schlug vor, dass Markus Wolf und Wolfgang Herger die Führung in der DDR übernehmen sollten. Bei den meisten Redebeiträgen dominierte die Forderung nach einem Ende des SED - Regimes und dem Rücktritt der 185 Vgl. KDfS Aue vom 6. 11. 1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 172 f.). 186 Vgl. KDfS Aue vom 7. 11. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 531, 1, Bl. 3–5). 187 KDfS Aue : Demonstration und Fürbittgottesdienst am 6. 11. 1989 ( ebd. 2147, 2, Bl. 137 f.); Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 8. 11. 1989. 188 KDfS Auerbach vom 1. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 530, Bl. 10–13). 189 Karl Rink, Ortsgeschichte Reumtengrün ( HAIT, StKa, Bl. 755 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 7. 11. 1989.

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Regierung.190 Am 5. November demonstrierten in Treuen etwa 2 500 Menschen für freie Wahlen, gegen die SED und Krenz.191 Einen Tag später gingen in Auerbach erneut 5 000 Menschen auf die Straße.192 Brand - Erbisdorf : Beim Einwohnerforum in Cämmerswalde am 1. November forderten mehrere Bürger ein Ende der SED - Herrschaft und die Abschaffung von Privilegien sowie der Volkspolizei. Der Vorsitzende der CDU - Ortsgruppe verlangte, die SED aus den Betrieben zu entfernen.193 Ähnlich war die Stimmung beim Einwohnerforum der Gemeinde Lichtenberg.194 In der Kirche von Neuhausen ( Marienberg ) wurde das Neue Forum vorgestellt. Anschließend zogen etwa 300 Personen durch den Ort, darunter etwa 50 aus Sayda.195 An einem Einwohnerforum in Mulda beteiligten sich ca. 250 Bürger. Der 2. Sekretär der SED - Kreisleitung und der Bürgermeister wurden ausgepfiffen. Im Raum hingen zwei Losungen : „Freie Wahlen“ und „Demokratie jetzt oder nie“. Es gab Angriffe auf das MfS, die Kampfgruppen und die Volkspolizei. Bei der Sitzung des Kreistages gab es aus den Reihen der LDPD Stimmen gegen den Führungsanspruch der SED. Gefordert wurde der Rücktritt des Direktors des VEB Kreisbau wegen Nutzung seiner Funktion für persönliche Vorteile. Am 2. November fand in der Turnhalle von Friedebach eine „demonstrationsähnliche Zusammenkunft“ mit 130 Einwohnern des Ortes statt, die zuvor vor dem Rat der Gemeinde riefen : „Wir wollen eine Kaufhalle und freie Wahlen“.196 Am 3. November wurde in der ev. - meth. Kreuzkirche Brand - Erbisdorf das örtliche Neue Forum gegründet. Es erschienen 20 Personen.197 Trotz der kleinen Zahl beschloss das MfS das „Eindringen“ von IM.198 Im Kulturhaus Burkersdorf nahm der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Gerolf Müller, an einem Einwohnerforum teil. Es wurden freie Wahlen gefordert und kommunale Probleme diskutiert.199 Am 5. November demonstrierten ca. 50 Personen durch Frauenstein, stellten Kerzen vor dem Rathaus ab und riefen Losungen für Demokratie, deutsche Einheit und gegen die SED.200 Bei einem Einwohnerforum in Lichtenberg am 6. November 190 Vgl. KDfS Auerbach : nicht genehmigte Demonstration am 3. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 37–41); Karl Rink, Ortsgeschichte Reumtengrün ( HAIT, StKa, Bl. 758); Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 3. und 4.11.1989. 191 KDfS Auerbach : Demonstration in Treuen am 5. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 204); KDfS Auerbach vom 6. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., 530, Bl. 4–9). 192 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Bedeutsame Ereignisse von Oktober – Dezember 1989 (ebd., L 296). 193 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 2145, 2, Bl. 168– 172). 194 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 31. 10. 1989 : Dialoggespräche ( ebd. 2146, 2, Bl. 67). 195 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 1. 11. 1989 : Info von IMB „Gitte Sander“ ( ebd. 532, 1, Bl. 16 f.); KDfS Brand - Erbisdorf vom 3. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 29–34). 196 KDfS Brand - Erbisdorf vom 3. 11. 1989 : Stimmung ( ebd.). 197 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 19–23). 198 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( ebd., BE 98, Bl. 1–42). 199 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 4. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 532, 1, Bl. 24–28). 200 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 5. 11. 1989 : Info ( ebd., Bl. 18).

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wurden die Abschaffung der SED und des MfS sowie die „Angliederung der DDR an die BRD“ gefordert.201 Flöha : Die Haltung der Bevölkerung im Kreis Flöha war Anfang November durch „zunehmende Unzufriedenheit und Gereiztheit“ gekennzeichnet. Die Bereitschaft, sich an Demonstrationen zu beteiligen, nahm zu. SED - Mitglieder waren verunsichert, passiv und resigniert. Immer häufiger fand die Volkspolizei Aushänge des Neuen Forums an öffentlichen Anschlagtafeln.202 Am 3. November fanden im Kreis ein Forum mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Wolfgang Aug, eine Demonstration in Oederan mit 2 000 Personen und ein Schweigemarsch mit Kerzen in der Gemeinde Niederwiesa mit bis zu 400 Teilnehmern statt. In Oederan gab es Rufe gegen das MfS sowie Forderungen nach Absetzung der Kreisfunktionäre. Auf Transparenten stand „Neues Forum“.203 Am 6. November waren beim 2. Gesprächsabend des Neuen Forums Georgenkirche und Gemeindehaus überfüllt. Rund 1 000 Menschen verfolgten bei strömendem Regen vor der Kirche die Übertragung durch Lautsprecher. Neben den Superintendenten nahmen auch Kreisfunktionäre teil. Es gab Proteste gegen die Führungsrolle der SED und Kreisfunktionäre, Forderungen nach Neuwahlen, Zivildienst und Umweltschutz, Abschaffung von MfS und Kampfgruppen sowie „erhebliche Kritiken“ am Zustand des Gesundheitswesens, wo es nicht einmal „primitivste Dinge“ gebe. Das Neue Forum rief zur Demonstration am 10. November und zur „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Volkspolizei auf.204 Freiberg : Beim Mittwochsgespräch am 1. November in Freiberg mit 500 Bürgern ging es um die Rolle des Neuen Forums und den Führungsanspruch der SED.205 In der Petrikirche sammelten sich ca. 1 000 Personen, um mit Kreisfunktionären zu sprechen. Wegen des Andranges fand eine parallele Veranstaltung im Hörsaal der Bergakademie statt. Superintendent Schlemmer verlas einen 6- Punkte - Katalog mit Forderungen nach einer Trennung von SED und Staat, politischen Grundrechten, Umweltschutz, besserer Versorgung und dem Recht auf einen zivilen Wehrersatzdienst. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Klaus Schaal, und der anwesende Kreisschulrat wurden zum Rücktritt aufgefordert. SED und MfS sahen sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Für den 4. November wurde zur Demonstration aufgerufen.206 Schnell fanden sich auch in mehreren Betrieben Zettel mit Aufrufen, sich an der Demonstration zu beteiligen.207 Das MfS konstatierte, es gebe im Kreis „ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber 201 KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 11–15). 202 Vgl. KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 60–64). 203 Vgl. KDfS Flöha vom 4. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 65 f.); Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 7. 11. 1989. 204 KDfS Flöha vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 51–54). 205 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 3. 11. 1989. 206 Vgl. KDfS Freiberg vom 1. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 14 f.); Wilhelm Schlemmer an Staatskanzlei vom 7. 7. 1999 ( HAIT, StKa ). 207 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 4. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 24–28).

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der SED und ihrer Führung“. Die Bevölkerung wünsche freie Wahlen und unabhängige Parteien und sehe die SED - Alleinherrschaft als nicht akzeptabel an. Vielmehr werde eine Bestrafung von korrupten Funktionären verlangt.208 Nach einer Willenskundgebung des Neuen Forums vor dem Rathaus formierte sich am 4. November in Freiberg, parallel zur Großkundgebung in Berlin, ein Demonstrationszug von ca. 5 000 Teilnehmern, der an der SED - Kreisleitung, dem Volkspolizeikreisamt und der MfS - Kreisdienststelle vorbeimarschierte. In Sprechchören wurden u. a. eine Trennung von Staat und SED, die Zulassung des Neuen Forums und die Abschaffung des MfS gefordert.209 Am 5. November gingen in Freiberg nach Fürbittgottesdiensten in der Petri - und in der Jacobikirche noch einmal 2 000 Menschen auf die Straße und stellten vor der MfS Kreisdienststelle Kerzen ab.210 Glauchau : An einer Dialogveranstaltung auf dem Glauchauer Markt nahmen am 2. November 2 500 Personen teil. Hier sprachen Vertreter der Stadt, des Rates und der Parteien. Bürger trugen öffentlich ihre Anliegen vor, Vertreter des Neuen Forums Punkte eines Themenkataloges. Danach bewegte sich ein Demonstrationszug mit Kerzen durch die Stadt.211 In Meerane nahmen 1 000 Personen an einer Kundgebung teil. Auch hier ging es vor allem um kommunale Probleme.212 Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung und andere Funktionäre führten Gespräche in Betrieben.213 Am 6. November nahmen in Glauchau erneut 2 500 Personen an einer Demonstration durch die Innenstadt teil. Sie trugen Kerzen sowie Plakate und riefen Sprechchöre gegen das MfS. In Meerane demonstrierten 2 000 Menschen, in Waldenburg versammelten sich 400 Personen auf dem Marktplatz, stellten brennende Kerzen ab und riefen in Sprechchören verschiedene Losungen.214 Hainichen : Am 1. November gab es eine Großveranstaltung im Mittweidaer Volkshaus mit Bürgermeister, Stadträten und Vertretern der Parteien. Themen waren die Wohnraumvergabe, mangelhafte Versorgung und der bauliche Zustand des Krankenhauses.215 Am 2. November wurde ein Dialog mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Helmut Wohltat, dem Ratsvorsitzenden des Kreises, Christian Reinhold, und dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes aus 208 Vgl. KDfS Freiberg vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 9–11). 209 KDfS Freiberg : Demonstration des „Neuen Forums“ am 4. 11. 1989 in Freiberg ( ebd. 2145, 1, Bl. 19–21); MfS, ZOS vom 4.–5. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 96–103); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 7. 11. 1989. 210 Vgl. MfS, ZOS vom 5.–6. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 76–92). 211 Vgl. KDfS Glauchau vom 3. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2). Angaben der StV Glauchau : 7 000 Personen. Vgl. Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ). 212 Vgl. BStU, ZA, HA XXII, 531, Bl. 14 f. 213 Vgl. KDfS Glauchau vom 1. 11. 1989 : Geplante Foren ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 153). 214 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 : Lagebericht ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 215 Vgl. Gisela Dietz, Ereignisse der Wendezeit in Mittweida und im ehemaligen Kreis Hainichen ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 3. 11. 1989.

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Platzgründen vom Kulturhaus in die ev. - luth. Trinitatiskirche von Hainichen verlegt, die mit 2 000 Personen voll besetzt war. Es gab Angriffe gegen die führende Rolle der SED und die Privilegien der Funktionäre sowie Forderungen nach freien Wahlen. Ein Thema waren die gewaltsamen Übergriffe der Volkspolizei gegen Jugendliche am 7. Oktober. Der 1. Sekretär wurde verbal angegriffen. Beim folgenden Demonstrationszug sorgten Ordner für Gewaltlosigkeit, da der Zug auch an Häusern der Volkspolizei - Angehörigen vorbeiging, die Jugendliche zusammengeschlagen hatten. Ein öffentliches Forum fand an diesem Tag auch in Frankenberg statt.216 Der Rat der Stadt Mittweida beschloss am 3. November die Bildung von Arbeitsgruppen zu kommunalen Themen, an denen interessierte Bürger mitwirken konnten.217 Am 6. November demonstrierten erneut Hunderte Bürger in Hainichen und Mittweida für freie Wahlen und gegen den SED - Führungsanspruch.218 Hohenstein - Ernstthal : Am 1. November nahmen 60 Personen an einem Schweigemarsch durch Hohenstein - Ernstthal teil.219 Am 4. November beteiligten sich etwa 1 000 bis 2 000 Menschen an einer von der Bürgerinitiative „Suchet der Stadt Bestes“ organisierten Demonstration in Lichtenstein.220 Am nächsten Tag demonstrierten in Bernsdorf 1 200 Personen. In Hohenstein Ernstthal fand nach einem Fürbittgottesdienst in der ev. - luth. St. - Christopheri Kirche ein Schweigemarsch mit 1 200 Beteiligten statt. Vor dem Rathaus wurden Kerzen und Plakate abgestellt.221 An einem Forum im VEB Nickelhütte St. Egidien am 6. November beteiligten sich zwar der CDU - Ortsgruppenvorsitzende und der Pfarrer, aber kein Vertreter der SED - Kreisleitung. Der Pfarrer trug Forderungen vor, die Zustimmung fanden.222 Nach einem Fürbittgottesdienst in der St. - Martins - Kirche Meerane (Glauchau ) mit 1 500 Teilnehmern, darunter vielen aus dem Kreis Hohenstein-Ernstthal, formierte sich ein Demonstrationszug. Teilnehmer forderten freie Wahlen, die Beseitigung der Mauer sowie des MfS. Auf dem Markt wurden ca. 500 brennende Kerzen abgestellt. Beim Fürbittgottesdienst in der St. - Georgen - Kirche Glauchau mit ca. 2 500 Teilnehmern forderte Pfarrer Mendt den Rücktritt der Regierung und die Abschaffung des MfS. Danach demonstrierten 2 500 Personen in Richtung der MfS 216 Vgl. KDfS Hainichen vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 16–19). 217 Vgl. RdS Mittweida, Bürgermeister : Rätedienstbesprechung am 7. 11. 1989 ( StA Mittweida ). 218 Vgl. KDfS Hainichen vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 12– 14); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 8. 11. 1989. 219 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal: Sofortmeldung, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1). 220 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 4. 11. 1989 : Lage ( ebd., HE 67, 2, Bl. 163 f.); Chronologie der Wende in der Stadt Lichtenstein ( HAIT, StKa ). MfS, ZOS vom 4.– 5. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 96–103). 221 Vgl. ebd., HA XXII, 531, Bl. 49. 222 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 9–11).

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Kreisdienststelle, zum Rat des Kreises, zur SED - Kreisleitung und zum Volkspolizeikreisamt. An einem Fürbittgottesdienst in der St. Bartholomäuskirche in Waldenburg nahmen 500 Personen teil. Auch hier gab es eine Demonstration von ca. 400 Personen, die auf dem Marktplatz brennende Kerzen abstellten und in Sprechchören gegen SED und MfS protestierten.223 Klingenthal : In Klingenthal demonstrierten am 3. November 8 000 Menschen durch die Stadt.224 In Schöneck folgte am 6. November eine Demonstration von 2 500 Menschen gegen die SED.225 Karl - Marx - Stadt : Beim Rathausgespräch des Oberbürgermeisters mit 25 Bürgervertretern sicherte dieser die Einrichtung eines Kontaktbüros zu, schlug die Bildung von Arbeitsgruppen vor und lud zur Stadtverordnetenversammlung am 23. November mit Rederecht ein.226 In mehreren Kirchen der Stadt beteiligten sich Hunderte an Veranstaltungen thematischer Arbeitsgruppen über die Zukunft des Landes.227 An einer folgenden Demonstration nahmen zwischen 20 000228 und 50 000 Personen teil.229 Auf einer Kundgebung legte der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Lorenz, ein Schuldbekenntnis im Namen der SED ab. Am 5. November folgte ein Bürgerforum mit 2 000 Teilnehmern. Sie forderten freie Wahlen, die Zulassung des Neuen Forums und den Rücktritt der Regierung.230 Am 6. November gingen in Karl - Marx - Stadt etwa 100 000 Menschen auf die Straße. Am Karl - Marx - Monument fand eine Kundgebung statt. Lorenz, der bei einer Rede ausgepfiffen wurde, erklärte, der Aufbruch sei den Kundgebungen zu verdanken.231 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 1. November gingen in Limbach - Oberfrohna nach einem Friedensgottesdienst in der Lutherkirche 8 000 Menschen auf die Straße. Bei einer anschließenden Kundgebung im Rathaushof mit Vertretern der neugegründeten Bürgerinitiative Limbach - Oberfrohna, dem Neuen Forum, dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Thomas Dathe, und der Bürgermeisterin wurden die Funktionäre ausgepfiffen.232 Bei der Kreistagssitzung am 6. November

223 Vgl. KDfS Glauchau : Kirchliche Veranstaltungen am 6. 11. 1989 ( ebd. 2147, 2, Bl. 118– 120). 224 Vgl. MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231). 225 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Bedeutsame Ereignisse von Oktober – Dezember 1989 (BStU, ASt. Chemnitz, L 296). 226 Vgl. ebd., XX 852, Bl. 3; Sächsische Neueste Nachrichten vom 6. 11. 1989; Die Union vom 7. 11. 1989. 227 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX vom 3. 11. 1989 : IM - Berichte ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 16). 228 MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231). 229 Vgl. Die Union vom 8. 11. 1989. 230 Vgl. BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 17; Sächsisches Tageblatt vom 6. 11. 1989. 231 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52444); BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 18; Horsch, Das kann, S. 28; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 89. 232 Vgl. MfS, ZOS vom 1.–2. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 189–192); Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 3. 11. 1989.

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gab es Forderungen nach dem Rücktritt des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Elmar Hofmann.233 Klingenthal : Auch im Kreis Klingenthal war in großen Teilen der Bevölkerung Anfang November der Wille vorhanden, die Demonstrationen bis zu wirklichen Veränderungen fortzusetzen.234 Am 1. November demonstrierten in Markneukirchen bei Dauerregen 6 000 Personen. Es wurden Losungen wie „Reformen“, „Freiheit“ und „Stasi in die Volkswirtschaft“ gerufen. Bei einer anschließenden Versammlung in der ev. - luth. Kirche St. Nicolai sprachen der Bürgermeister, Vertreter einer Bürgerinitiative und eines Bürgerkomitees Markneukirchen. Letzteres beschloss für den Fall, dass die SED bei ihrer 10. ZK Tagung nicht auf den Führungsanspruch verzichte, Streiks einzuleiten, um so den Sturz der Partei zu erzwingen. Beginnen sollten sie im VEB MUSIMA und in der PGH Elektro Markneukirchen. In Schöneck gingen rund 1 000 Personen nach einer Veranstaltung in der Kirche auf die Straße und stellten Kerzen vor dem Rathaus ab.235 Am 3. November demonstrierten in Klingenthal bis zu 8 000 Menschen. Brennende Kerzen, Transparente, wie „Freie Wahlen, jetzt“ oder „Alle Macht in einer Hand ist nicht gut für unser Land“, und immer wieder Sprechchöre wie „Wir sind das Volk“ prägten die Stimmung. Bei einer Kundgebung auf dem Platz der Einheit ging es ebenfalls um freie Wahlen und Parteien sowie den Schutz der natürlichen Umwelt. Pfarrer Frank Meinel stellte das Programm der Bürgerinitiative Klingenthal vor, in dem politische Grundrechte eingefordert wurden. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Günther Straube, und der Ratsvorsitzende, Heinz Gabler, wurden mehrfach durch Pfiffe unterbrochen.236 Am 6. November demonstrierten in Erlbach 500 Menschen mit einem Schweigemarsch zu einer kirchlichen Veranstaltung, bei der ein Ende der führenden Rolle der SED gefordert wurde.237 Marienberg : Bei einer Kreistagsitzung am 1. November erklärte der Vorsitzende des Rates des Kreises, Fritz Ullmann, der Sozialismus stehe nicht zur Disposition. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Horst Carlowitz, betonte, man lasse sich von Demagogen „nicht in den Dreck treten, was in 40 Jahren geschaffen wurde“. Die führende Rolle der SED sei auch weiterhin notwendig.238 In Neuhausen fand an diesem Tag nach dem Friedensgebet ein Dialogforum 233 Vgl. ebd., vom 7. 11. 1989. 234 Vgl. KDfS Klingenthal vom 1. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1, Bl. 96–98). 235 Vgl. KDfS Klingenthal vom 1. 11. 1989 : Informationsbericht zu den Demonstrationen am 1. 11. 1989 in Markneukirchen und Schöneck ( ebd. 3078, 3, Bl. 234–238); Der Anfang vom Ende ( PB Johannes Sembdner ); MfS, ZOS vom 1.–2. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 189–192); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 3. 11. 1989. 236 Vgl. KDfS Klingenthal vom 3. 11. 1989 : Demonstration in Klingenthal ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 18–25); MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231); Kunzmann, Nachwort ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg, PB Pfarrer Meinel ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 7. 11. 1989. 237 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). 238 Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 3. 11. 1989.

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statt.239 Vor der Kirche demonstrierten 100 Personen, meist Jugendliche.240 In Lengefeld gingen 400 Menschen, darunter viele Jüngere, mit Losungen für Demokratie und das Neue Forum auf die Straße.241 Auf der Stadtverordnetenversammlung Olbernhau schlug der Bürgermeister am 3. November Sprechstunden der ständigen Kommissionen für interessierte Bürger und die genaue Organisierung von Dialog - Veranstaltungen vor.242 Ohne solche staatlichen Vorgaben demonstrierten am 3. November in Olbernhau etwa 10 000 Menschen für freie Wahlen und die Zulassung des Neuen Forums. Hier hieß es : „Solange nicht das Volk regiert, wird weiter demonstriert“.243 In Seiffen fand ein Dialog in der Kirche statt.244 Nach einem Treffen des Neuen Forums in Marienberg am 3. November mit Forderungen nach vorgezogenen freien Wahlen245 gingen hier einen Tag später etwa 1 000 Bürger auf die Straße.246 In Pockau formierte sich am 6. November vor der Kirche ein Demonstrationszug mit 300 Bürgern. Es gab Parolen gegen Krenz und die SED.247 Oelsnitz : Am 2. November demonstrierten in Bad Elster rund 1 000 Menschen. Funktionäre des Kreises und der Stadt stellten sich den Fragen der Bevölkerung, der Bürgermeister sprach mit Vertretern einer Bürgerinitiative. Anschließend zogen 200 Personen zum Erholungsheim des ZK der SED „Haus am See“ sowie zum MfS - Heim „Glück auf“. In Adorf demonstrierten nach einer kirchlichen Veranstaltung mit dem Neuen Forum 800 Personen.248 Am 4. November gab es nach einer Dialogveranstaltung in Bad Brambach ein Treffen der hiesigen „Gruppe der 20“ mit Bürgern, Bürgermeister und Ortsparteisekretär. Das MfS merkte an, die SED habe sich „die Initiative aus der Hand nehmen lassen“.249 Am 6. November demonstrierten in Oelsnitz ca. 6 500 bis 7 000 Personen mit Sprechchören und Plakaten. Auf dem zentralen Ernst - Thälmann - Platz fand ein Dialoggespräch unter Teilnahme des 1. Sekretärs der SED- Kreisleitung, 239 Vgl. KDfS Marienberg vom 4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 136). 240 Vgl. KDfS Marienberg vom 1. 11. 1989 : Info ( ebd., Bl. 54). 241 Vgl. KDfS Marienberg vom 2. 11. 1989 : Info ( ebd., Bl. 191); MfS, XXII vom 2.– 3. 11. 1989 : Rapport ( BStU, HA XXII, 531, Bl. 14 f.). 242 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 7. 11. 1989. 243 KDfS Marienberg vom 3. 11. 1989 : Demonstration in Olbernhau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 35); MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 4. 11. 1989. 244 Vgl. KDfS Marienberg vom 6. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 538, Bl. 123 f.); Kurort Seiffen an Staatskanzlei vom 7. 4. 1999 ( HAIT, StKa ). 245 Vgl. KDfS Marienberg vom 4. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 51). 246 Vgl. MfS, ZOS vom 4.–5. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 96–103). Laut Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 7. 11. 1989 waren es 6 000. 247 Vgl. KDfS Marienberg vom 6. 11. 1989 : Demonstration in Pockau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 139); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 : Lagebericht ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 248 Vgl. Bürgermeister Bad Elster an Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 ( HAIT, StKa ); MfS, ZOS vom 2.–3. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 184–188). 249 KDfS Oelsnitz : Lage, o. D. ( BStU, AKG 540, 1).

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Alfred Hoffmann, statt.250 Die allgemeine Stimmung im Kreis, so das MfS, sei von der Ablehnung der führenden Rolle der SED bestimmt gewesen.251 Stadt und Kreis Plauen : Im Vogtland blieb Plauen das Zentrum des Demonstrationsgeschehens. Bewohner umliegender Gemeinden beteiligten sich daran.252 Am 3. November fand in der ev. - meth. Erlöserkirche Plauen ein Dialoggespräch des Oberbürgermeisters mit 400 Teilnehmern statt.253 An einer Demonstration am 4. November in Plauen beteiligten sich 30 000 Teilnehmer. Der Zug marschierte u. a. an der MfS - Kreisdienststelle und der SED - Kreisleitung vorbei. Es gab Sprechchöre gegen SED und MfS. Bei einer Kundgebung vor dem Rathaus wurden der Rücktritt der Regierung, die Auflösung der SED, der FDJ und des FDGB in den Betrieben gefordert.254 Die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“ forderte, künftig jeden Sonnabend für demokratische Grundrechte zu demonstrieren.255 Auch in Gemeinden, die erst später wieder zum Kreis Plauen gehörten,256 gab es Proteste. Bei einem Fürbittgottesdienst am 2. November in der Dreieinigkeitskirche Zeulenroda forderte Pfarrer Zaumseil aus Pausa ein Ende der SED - Herrschaft und die Beseitigung des MfS.257 Am gleichen Tag forderten 400 Teilnehmer eines Bürgerforums in Mühltroff ein Ende der SED - Herrschaft, freie Wahlen und eine Aufwertung der Rolle der bisherigen Blockparteien. Am 3. November verteilte das Neue Forum in Elsterberg Handzettel in Briefkästen, auf denen zu einer Demonstration für wirtschaftliche und politische Reformen, für Demokratie und Menschenrechte am 4. November in Greiz aufgerufen wurde.258 Auch Ende November und Anfang Dezember kam es in Elsterberg nach Fürbittandachten in der Stadtkirche zu Demonstrationen .259 Reichenbach : Am 1. November demonstrierten in Reichenbach nach einem Gottesdienst etwa 4 000 Personen. Vor dem Volkspolizeikreisamt wurden Kerzen abgestellt und an der SED - Kreisleitung Fackeln entzündet. Es gab Rufe wie

250 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Ereignisse von Oktober – Dezember 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, L 296); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 : Lage ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 251 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 160– 162). 252 Vgl. KDfS Plauen vom 4. 11. 1989 : Freizeitbereich ( ebd. 2145, 1, Bl. 86). 253 KDfS Plauen vom 3. 11. 1989 : Dialoggespräch am 3. 11. 1989 ( ebd., Bl. 75–80). 254 Vgl. KDfS Plauen vom 4. 11. 1989 : Demonstration am 4. 11. 1989 ( ebd., Bl. 15–18, 24 f.); BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 171 f. 255 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4. 11. 1989 : Info über eine in Plauen verbreitete Erklärung einer „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“ ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 471, Bl. 118–120). 256 Zu den Gründen vgl. Richter, Entscheidung für Sachsen, S. 77–93 und 113–135. 257 Vgl. Lagefilm, o. D. ( BStU, ASt. Gera, AKG 3703, Bl. 185). 258 Vgl. BVfS Gera vom 3.–6. 11. 1989 : Lagefilm vom Bezirk Gera ( ebd., Bl. 101 und 181). 259 Vgl. Bericht des AfNS, o. D. ( ebd., AKG PI 390/89, Bl. 2); BAfNS Gera vom 2. 12. 1989: Info (ebd. PI 0, Bl. 2).

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„Stasi in der Volkswirtschaft“ und „SED am Ende“.260 In Lengenfeld gab es die erste Dialog - Veranstaltung, am 4. November folgte hier im Anschluss an einen Gottesdienst eine Demonstration von 3 000 Personen.261 Hier gab es Erklärungen wie : „Die gleichen SED - Fratzen wie in Plauen, es hat sich nichts geändert“, „40 Jahre SED - Zeit ist zu Ende, ihr habt verspielt, bewährt euch als Blockpartei“ oder „Mit Krenz gibt es keine Wende, es ist die alte Garde, es müssen alle weg“. Dem Neuen Forum wurden „wegen labiler Verhaltensweise gegenüber der SED“ Vorwürfe gemacht.262 Bei einer Kreistagssitzung am 2. November äußerte der Vorsitzende des Rates des Kreises, Klaus Seifert, die Besorgnis, „uns könne in diesen Tagen verloren gehen, was zu unseren Werten in der Republik gehört, nämlich Rechtssicherheit, Geborgenheit, Ordnung und persönliche Sicherheit“.263 In Reichenbach verzichtete das Neue Forum am 6. November auf die Durchführung einer Demonstration. Stattdessen fand auf Einladung des Rates des Kreises ein weiteres Forum statt. Hier gab es Vorwürfe an die Volkspolizei und den Bürgermeister sowie Proteste gegen die Wahlfälschung vom Mai und Funktionärsprivilegien. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Klaus Seifert, wurde zum Rücktritt aufgefordert.264 Rochlitz : In der Kirche von Geringswalde fand am 1. November eine Informationsveranstaltung „zu Problemen des Dialogs“ mit 600 Teilnehmern statt. Es ging um Kommunalpolitik, Reisefreiheit, das Neue Forum und den Führungsanspruch der SED.265 In Lunzenau trafen sich zahlreiche Bürger erstmalig in der Kirche, „um sich mit den Anzeichen des Wechsels vertraut zu machen“ und um darüber zu diskutieren, „was in der Stadt nunmehr zu tun sei“. Am 3. November folgte ein Forum im Kulturhaus mit 200 bis 250 Teilnehmern. Gesprächspartner waren der Vorsitzende des Rates des Kreises, Lutz Richter, und sein Stellvertreter.266 Schwarzenberg : Auch im Kreis Schwarzenberg gab es Anfang November allerorts Dialogrunden, bei denen der Rücktritt von Funktionären, ein Ende der SED- Alleinherrschaft und des MfS und die Anerkennung der Opposition gefor260 Vgl. KDfS Reichenbach : Demonstration in Reichenbach am 1. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 20 f.); KDfS Reichenbach : IM - Bericht über Friedensgebet und Demonstration, o. D. ( ebd., Bl. 27); KDfS Reichenbach : Ergänzungsbericht über die Demonstration am 1. 11. 1989 in Reichenbach ( ebd., Bl. 17–19, 24–26); BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 189–190; Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 3. 11. 1989. 261 Vgl. KDfS Reichenbach vom 4. 11. 1989 : nicht genehmigte Demonstration in Lengenfeld ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 58); MfS, ZOS vom 4.–5. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 96–103); Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfeld ( HAIT, StKa ). 262 KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 231, Bl. 3–9). 263 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 4. 11. 1989. 264 Vgl. KDfS Reichenbach vom 6. 11. 1989 : Veranstaltungsmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 171); KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd., RB 231, Bl. 3– 9). 265 Vgl. KDfS Rochlitz vom 1. 11. 1989 ( ebd., AKG 2146, 1); KDfS Rochlitz vom 2. 11. 1989 ( ebd. 2145, 2). 266 Vgl. Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in der Stadt Lunzenau ( Archiv Ortschronik Lunzenau ).

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dert wurden.267 Bei einer Kundgebung auf dem Platz der Befreiung in Schwarzenberg am 1. November mit etwa 8 000 Teilnehmern wurde die Rede des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Heinz Horlbeck, und anderer Funktionäre ständig durch Sprechchöre gestört. Neben demokratischen Grundforderungen ging es um Baumaterial, das Funktionäre für Privatbauten verbraucht hatten, um Ungerechtigkeiten bei der Wohnungsvergabe, um die Verteilung der Gemüseproduktion im Kreis und den Bau eines NVA - Ferienheimes.268 Beim Dialog in Markersbach mit etwa 300 Teilnehmern wurden eine Ende der Bevormundung der Bürger, die Anerkennung des Neuen Forums, die Abschaffung eines Erholungsheimes der SED - Bezirksleitung und ein Ende der kommunistischen Indoktrinierung an den Schulen gefordert. Ähnliche Diskussionen gab es in Beierfeld, Johanngeorgenstadt und an der Leninoberschule Schwarzenberg.269 In Beierfeld versammelten sich Tausende Bürger auf dem Platz der Befreiung zum Dialog mit dem 1. Sekretär der Kreisleitung, dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Werner Runge, weiteren Funktionären und Sprechern des Neuen Forums. Die Reden der Funktionäre wurden mit Pfiffen und Sprechchören wie „Horlbeck weg“ quittiert.270 In Johanngeorgenstadt zog am 3. November ein Demonstrationszug von 600 Menschen zum Haus des Parteisekretärs und zum Genesungsheim des MfS. Es gab Sprechchöre wie „Neues Forum“, „Wir sind das Volk“ und am MfS - Heim „Stasi raus“.271 In Schwarzenberg nahmen am 6. November an einer Kundgebung auf dem Platz der Befreiung mit Vertretern des Neuen Forums 8 000 Personen teil. Es gab Forderungen nach freien Wahlen, dem Rücktritt der Regierung und Zweifel an der „Wendepolitik“ von Krenz. Der Vorsitzende des Rates des Kreises gab den Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung bekannt. Anschließend formierte sich ein Demonstrationszug mit ca. 5 000 Teilnehmern. Auf Plakaten wurden freie Wahlen, der Rücktritt der Regierung und „Kein Artenschutz für Wendehälse“ gefordert. Die MfS - Kreisdienststelle registrierte, dass das Auftreten der Demonstranten vor dem Gebäude „von weitaus größerer Heftigkeit gegenüber dem MfS im Vergleich zur vorherigen Demonstration“ geprägt gewesen sei. Danach marschierte der Zug zur SED Kreisleitung.272 267 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 12. 11. 1989 : Öffentliche Diskussionsrunden und Wahlkreisberatungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 2. 11. 1989. 268 Vgl. KDfS Schwarzenberg : Kundgebung am 1. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 1); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 3. 11. 1989. 269 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 12. 11. 1989 : Öffentliche Diskussionsrunden und Wahlkreisberatungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678). 270 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg, Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (HAIT, StKa ). 271 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 3. 11. 1989 : Demonstration in Johanngeorgenstadt (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, Bl. 27 f.). MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231). 272 KDfS Schwarzenberg vom 6. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, Bl. 122–126). Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58– 74); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 : Lagebericht ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 7. 11. 1989.

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Stollberg : Im Kreis Stollberg hatte die Bevölkerung laut MfS „Zweifel, dass die Regierung die Lage wieder in den Griff bekommt“. Die Glaubwürdigkeit der SED habe „in einem sehr hohen Maße Verlust erlitten“. SED - Mitglieder machten inzwischen „alle Funktionäre, beginnend auf kreislicher Ebene, für alles und jedes verantwortlich“.273 Am 4. November beteiligten sich an einem Friedensmarsch in Stollberg bis zu 8 000 Personen.274 Sie trugen Parolen wie „Stasi in die Produktion“, „Wir sind das Volk“ sowie „Egon reiß die Mauer ab“ und marschierten an der SED - Kreisleitung und der MfS - Kreisdienststelle vorbei. Dort gab es Sprechchöre gegen SED und MfS. Im Anschluss fand eine Veranstaltung in der ev. - luth. Kirche St. Jacobi statt, deren Reden auf den Platz vor der Kirche übertragen wurden. Hier konstituierte sich eine Initiativgruppe des Neuen Forums für den Kreis Stollberg. Superintendent Martin Kreher informierte über den Selbstmord des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung Bautzen, was „teilweise mit Beifall quittiert“ wurde.275 Beim anschließenden Dialog auf dem Marktplatz gab es „massive Forderungen nach der Ablösung der führenden Rolle der SED“.276 Das MfS konstatierte, die Forderungen des Neuen Forums würden zum großen Teil in der Bevölkerung anerkannt. Die Zahl der Austritte aus der SED stieg an.277 Werdau : Wie in den meisten Kreisen fand am 2. November auch in Werdau eine Kreistagssitzung mit Absichtserklärungen, Schuldbekenntnissen und Vorschlägen zur Mitarbeit der Bürger in Kommissionen statt.278 Nach einem Friedensgebet in der Werdauer Marienkirche marschierten am 3. November ca. 1 000 Teilnehmer durch die Stadt zur katholischen Kirche.279 Am nächsten Tag demonstrierten nach einem Friedensgebet in der Crimmitschauer Johanniskirche ca. 5 000 Menschen durch die Stadt. Es gab Sprechchöre gegen SED und MfS. Hauptforderungen waren die Zulassung des Neues Forums und freie Wahlen. Am selben Tag fanden hier ein Umweltforum und eine Gesprächsrunde auf Einladung des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Gerd Hoffmann, und des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Rolf - Werner Sünderhauf, mit Bürgern statt. Dabei wurde der Antrag der Crimmitschauer Gruppe des Neuen Forums auf Zulassung vorgetragen und über kommunale Probleme gesprochen.280 Bei einem Dialog zur Volksbildung in Werdau gab es Forderungen nach der Entfernung der SED und der Massenorganisationen aus den Schulen, eine ideologie273 KDfS Stollberg vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678, Bl. 71 f.). 274 Laut Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 7. 11. 1989 waren es 10 000 Teilnehmer. 275 KDfS Stollberg vom 4. 11. 1989 : Sofortmeldung, 1. Ergänzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 27 f. und 30 f.). Vgl. KDfS Stollberg vom 7. 11. 1989 : Demonstration, Gottesdienst in der Jacobikirche und Dialoggespräch am 4. 11. 1989 ( ebd., 678, Bl. 13– 18). 276 KDfS Stollberg vom 5. 11. 1989 : Sofortmeldung, 2. Ergänzung ( ebd., St. 45, Bl. 23 f.). 277 Vgl. KDfS Stollberg vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 678, Bl. 61–63). 278 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 4. 11. 1989. 279 Vgl. Raum für Güte, S. 14; KDfS Werdau vom 3. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2); MfS, ZOS vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, HA VIII, AKG 1673, Bl. 227–231). 280 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 7. 11. 1989.

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freie Erziehung und die Abschaffung des Wehrkundeunterrichtes. Die MfS Kreisdienststelle Werdau berichtete, bei den letzten Dialogen habe es „ein sehr aggressives und negativ - feindliches Auftreten“ gegeben. Im Mittelpunkt hätten Angriffe auf die führende Rolle der SED und deren Funktionäre sowie Forderungen nach Abschaffung des MfS und der Kampfgruppen gestanden.281 Zschopau : Am 6. November demonstrierten in Zschopau etwa 700 Menschen von der Kirche zu einer Dialogveranstaltung in der Stadt. Es gab Sprechchöre und Plakate wurden getragen. Auch in Ehrenfriedersdorf demonstrierten etwa 4 000 Bürger nach einem Friedensgebet in der St. Niklaskirche mit Kerzen durch den Ort. Anschließend fand ein Forum mit Kommunalpolitikern statt, bei dem der Reisegesetzentwurf abgelehnt wurde. Es wurde die Meinung vertreten, dass die Bürger wieder den Status eines „Bittgesuchers“ erhalten. Auch im Wismut - Bergarbeitersanatorium der Gemeinde Warmbad wurde bei einem Forum die Abschaffung der Funktionärsprivilegien gefordert.282 Stadt Zwickau : Am 1. November wurden im Jugendklubhaus Kirchberg beim Bürgerforum die Abschaffung der Kampfgruppen sowie von Privilegien gefordert und die Unbeweglichkeit der Staatsführung kritisiert. Beim Forum im Klubhaus des VEB Sachsenring mit 800 Teilnehmern ging es am 2. November um Stadtentwicklung und Umweltschutz, aber auch um politische Veränderungen.283 Am 4. November fand im benachbarten Lichtenstein ( Hohenstein-Ernstthal ) eine Demonstration mit ca. 1 000 Teilnehmern statt. Organisator war eine am Vortag gegründete Bürgerinitiative „Suchet der Stadt Bestes“, die den Ablauf am Vormittag mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung besprochen hatte.284 Nach Friedensgebeten in vier Kirchen Zwickaus folgte am 6. November eine Kundgebung mit bis zu 14 000 Teilnehmern auf dem Hauptmarkt. Mehrere Redner trugen Angriffe gegen die führende Rolle der Partei vor. Die Reden von Funktionären wurden massiv gestört. Auch hier vereinbarten Vertreter des Staates und der Kirche sowie des Neuen Forums präventive Maßnahmen gegen Gewalt. Es wurde bekannt gegeben, dass das Neue Forum Räume zur Verfügung gestellt bekommt.285 Zwickau - Land : Die Bevölkerung des Kreises Zwickau - Land beteiligte sich im Wesentlichen an den Ereignissen in Zwickau. Dennoch gab es auch im Kreis Veranstaltungen. So trafen sich beim Bürgerforum des Neuen Forums am 1. November im Kirchberger Jugendklub fünf Vertreter des Neuen Forums 281 KDfS Werdau vom 6. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 5–8). 282 KDfS Zschopau vom 6. 11. 1989 : Info ( ebd. 2147, 2, Bl. 136). Vgl. KDfS Zschopau vom 6. 11. 1989 : Ergänzung ( ebd., Bl. 95 f.); KDfS Zschopau vom 7. 11. 1989 : Info ( ebd., 679, 2, Bl. 201–204); MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); Sachsen 1989 ( HAIT, StKa, PB Matthias Zwarg ). 283 Vgl. KDfS Zwickau vom 3. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 681, Bl. 12–14); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 3. und 4. 11. 1989. 284 Vgl. KDfS Hohenstein vom 4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 1, Bl. 23). 285 Vgl. KDfS Zwickau vom 7. 11. 1989 : Info ( ebd. 2147, 2); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 471, 557, Bl. 88–90); BDVP Karl - Marx - Stadt vom 6. 11. 1989 : Lagebericht ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 7. 11. 1989.

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sowie Kreissekretäre von NDPD und SED. Dem Neuen Forum wurden hier vom Rat der Stadt Kirchberg Räume im Jugendklub in Aussicht gestellt.286 Bezirk Leipzig : Am 1. November schrieb der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Opitz, an Stoph, die „sogenannten Dialoge“ würden „keinerlei Beruhigung der Situation oder der Lage herbeiführen. Sie bewirken das Gegenteil.“ Den Funktionären schlage dort „eine Welle von Hass und Zorn entgegen“. Wenn Forderungen erfüllt seien, würden sofort neue gestellt, die immer stärker politischen Charakter hätten.287 Als wollte es diese Einschätzung bestätigen, nannte das Leipziger Neue Forum am selben Tag als Voraussetzungen für die Fortsetzung des Dialogs seine Legalisierung, freie Medien und die Freilassung aller politischen Gefangenen.288 In den ersten Novembertagen spitzte sich die Lage weiter zu. Die SED - Bezirksleitung meldete dem ZK, die Anfeindungen gegen Funktionäre wegen „angeblicher Privilegien und fehlender Vertrauensbasis“ würden schärfer. Sie richteten sich vor allem gegen 1. Sekretäre von Kreisleitungen. Einzelne Funktionäre seien bereits abgesetzt. Die Zahl der Rücktritte in Partei - und Staatsorganen nehme zu.289 Das Kalkül der SED - Führung, die Lage durch Dialoge wieder in den Griff zu bekommen, ging nicht auf, und es stellte sich aus ihrer Sicht die Frage, wie es weitergehen sollte. Das Regime handelte aus der Defensive und rechnete immer noch mit einer Gewalteskalation seitens der Demonstranten. Immer häufiger führten Demonstrationen bis vor die Gebäude der SED - Kreisleitungen und der Kreisdienststellen des MfS. Die SED - Bezirksleitung konstatierte am 6. November, der Druck hab sich „sichtbar erhöht“. Gleichzeitig gab es „wachsende Bedenken, ob unsere Sicherheitsorgane bei einer möglichen Eskalation in der Lage und noch bereit sind, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten“.290 Allein an diesem Tag gab es zehn unangemeldete Demonstrationen, allein in Leipzig gingen 300 000 Menschen auf die Straße. Bei den Angehörigen der Volkspolizei gab es Besorgnis, da die Demonstrationen immer mehr eskalierten und Sprechchöre und Losungen aggressiver wurden.291 Das Regime schloss gewaltsame Übergriffe nicht mehr aus. Bereits bis Anfang November waren die GST - Waffen gesichert worden. Allein in der Bezirkswaffenkammer lagerten 2 600 Kleinkaliber - Maschinenpistolen. Das MfS erklärte dem GST - Bezirksvorsitzenden, dass „in der gegenwärtigen Klassenkampfsituation die Sicherung dieses Bereiches Priorität“ habe.292 Am 6. November wies der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS die Kreisdienststellen des MfS an, chemische Mittel gegen Demonstranten einzusetzen, „wenn 286 Ebd., vom 9. 11. 1989. 287 RdB Leipzig vom 1. 11. 1989 : Monatsbericht von Oktober 1989 ( SächsStAL, BT / RdB, 38208). 288 Erklärung, gez. Petra Lux, Sprechergruppe Neues Forum vom 1. 11. 1989 ( ABL, H. XIX/1). 289 SED - BL Leipzig vom 6. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 131). 290 Ebd., Bl. 137. 291 Vgl. BDVP Leipzig vom 6. 11.1989 : Sorfortmeldung über verwendete Transparente (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840, II ). 292 BVfS Leipzig, XX vom 2. 11.1989 : Gesprächsbericht ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1838, Bl. 3–5).

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die Bestimmungen zur Anwendung der Schusswaffe gemäß Schusswaffengebrauchsordnung zutreffen und durch ihren Einsatz als Alternative zur Schusswaffenanwendung eine adäquate Wirkung erzielt wird“. Als eine solche Situation galten „Angriffe gegen die sozialistische Staats - und Gesellschaftsordnung“.293 Altenburg : Die Einschätzungen des Partei - und Staatsapparates auf Bezirksebene stützten sich auf Analysen aus den Kreisen. Am 1. November berichtete die SED - Kreisleitung Altenburg, es gebe keine Beruhigung der Lage, diese habe sich vielmehr weiter zugespitzt. Die Forderungen nach sofortigen Veränderungen würden aggressiver und fordernder.294 In einem Schreiben rief das Neue Forum dazu auf, die Dialogbereitschaft der Partei und des Staates nicht zu akzeptieren, weil es nur ein Ventil für angestauten Ärger darstelle. Es gehe nur darum, dass eine Schicht von Privilegierten ihre Macht nicht verliere und es sei deswegen notwendig, bis zur Erreichung politischer Grundrechte weiterzudemonstrieren.295 Selbst in kleinen Gemeinden kam es bereits vereinzelt zu Protesten. In Zipsendorf demonstrierten nach einem Gottesdienst ca. 70 Personen zum Rathaus der Stadt Meuselwitz, wo sie mit dem „Ratskollektiv“ diskutierten.296 Nach Fürbittgottesdiensten in drei Kirchen von Altenburg demonstrierten am 3. November rund 6 000 Teilnehmer an der MfS - Kreisdienststelle, dem Rat des Kreises und der SED - Kreisleitung vorbei. Vor der Kreisleitung wurden Kerzen und Transparente abgestellt. Die Forderungen richteten sich gegen die SED und zielten auf freie Wahlen und besseren Umweltschutz.297 Am nächsten Tag gingen in Altenburg erneut ca. 12 000 Menschen auf die Straße. Auf Anweisung der Bezirkseinsatzleitung Leipzig trat am Nachmittag die Kreiseinsatzleitung zusammen und beschloss erhöhte Führungsbereitschaft in den Militärorganen.298 Die Demonstranten zogen mit aggressiven Losungen und Forderungen, aber gewaltlos, wieder vor die Gebäude der SED - Kreisleitung, des Rates des Kreises und der MfS - Kreisdienststelle. Es gab erneut Forderungen nach einem Ende der SED - Herrschaft.299 Forderungen wurden am gleichen Tag auch auf Dialogveranstaltungen in Altenburg, Meuselwitz und im Nachbarkreis Schmölln erhoben. Es wurde der Rücktritt der SED - Kreisfunktionäre gefordert und vor-

293 BVfS Leipzig, Leiter, vom 6. 11. 1989 : Konzeption für die Anwendung spezieller chemischer Einsatzmittel gemäß der Ordnung 12/89 des Ministers ( ebd., KDfS Döbeln 112, Bl. 2–4). Abgedruckt in Stasi intern, S. 342. 294 Vgl. SED - KL Altenburg vom 1. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1006, Bl. 155). 295 Vgl. ebd., Bl. 216–217. 296 Vgl. ebd., Bl. 207–209. 297 Vgl. SED - KL Altenburg vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd., 886, Bl. 13 f.); MfS, ZOS vom 3.– 4. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1673, Bl. 229). 298 Vgl. SED - KL Altenburg vom 4. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 17 f.). 299 Vgl. VPKA Altenburg vom 4.–5. 11. 1989 : Rapport ( ebd., VPKA Altenburg ); SED - BL Leipzig vom 5. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED - BL Leipzig, 823, Bl. 129); SED - KL Altenburg vom 4. 11. 1989 ( ebd., 886, Bl. 17 f.); Sächsisches Tageblatt vom 6. 11. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 7. 11. 1989.

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geschlagen, die Gebäude der SED - Kreisleitung als Altersheim zu nutzen.300 Auch in den folgenden Tagen gab es überall in Betrieben, Genossenschaften, Einrichtungen, Schulen und Wohnbezirken Diskussionsrunden, bei denen „in verstärktem Maße die führende Rolle der Partei diskutiert und auch in Frage gestellt“ wurde. Bei den Arbeitern festige sich die Meinung, Dialog sei gut, aber jetzt sei es langsam an der Zeit, tatsächlich etwas zu ändern.301 Borna : Im Bornaer Stadtkulturhaus diskutierten am 2. November der Bürgermeister und der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Saarfried Thiele, mit Vertretern des Neuen Forums. Hartmut Rüffert gab die Gründung des Neuen Forums Borna bekannt.302 Hier wie beim Dialog in Böhlen sowie in weiteren Diskussionen in Betrieben und Einrichtungen gab es „offene Angriffe gegen die Partei und Funktionäre der SED und der Gewerkschaft“ sowie Forderungen nach einem Ende des MfS. Es setze sich die Auffassung durch, „mit den Rücktritten führender Genossen ändert sich nichts, es muss von oben bis unten mit dem eisernen Besen gekehrt werden“.303 Beim Dialog am 4. November in Kitzscher wurde der Rücktritt der Bürgermeisterin gefordert. Die Stadtverordneten würden von der SED bevormundet. Pfarrer Gruender forderte, die SED müsse ihre führende Rolle abgeben, sie habe abgewirtschaftet und solle von der Bildfläche verschwinden. In Borna gab es am 5. November zwei Demonstrationen. Eine erste bildete sich mit ungefähr 200 Teilnehmern in der Mittagszeit, eine zweite mit bis zu 300 Teilnehmern fand am Abend nach dem Friedensgebet in der Stadtkirche statt. Sie führte an den Objekten des Rates des Kreises und des Volkspolizeikreisamtes vorbei und endete vor dem Rathaus. Vor den Objekten wurden brennende Kerzen abgestellt. Die SED - Kreisleitung meldete nach Leipzig : „In Sprechchören wurde demagogisch zum Ausdruck gebracht : ‚Wir sind das Volk‘“ und „Der Dreck muss weg“,304 was in der umweltbelasteten Region doppeldeutig war. Delitzsch : In Delitzsch kam es beim Forum Kommunalpolitik am 1. November mit dem Bürgermeister sowie Mitgliedern der SED - Kreisleitung und des Rates des Kreises zu kritischen Diskussionen.305 Rückendeckung erhielt das Regime im Kreis von der CDU - und DBD - Kreisleitung. Beim Dialog mit Vertretern der Parteien im Karl - Marx - Haus am 4. November plädierte der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Gerhard Kießling, für die Erneuerung des Sozialismus. Die Kreisvorsitzenden der CDU, Michael Czupalla, und der DBD, Helmut Pfordte, erklärten „ganz eindeutig : Aus der Größe der Arbeiterklasse erwachse die Führungsrolle.“306 Trotz solcher Diktatur - Zustimmung subalterner Block300 301 302 303 304

Vgl. SED - KL Altenburg vom 4. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 17 f.). SED - KL Altenburg vom 6. 11. 1989 ( ebd., Bl. 22–25). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 4./5. 11. 1989. SED - KL Borna vom 3. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED-BL Leipzig, 886, Bl. 104–106). SED - KL Borna vom 5. 11. 1989 : Lageeinschätzung ( ebd., Bl. 108). Vgl. MfS, ZOS vom 5.–6. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 76–92); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 7. 11. 1989. 305 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 3. 11. 1989. 306 Ebd., vom 8. 11. 1989.

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funktionäre war den SED - Funktionären nicht wohl. So erklärte ein WPO - Sekretär, „dass es ihm außerordentlich schwer fällt, die ganze jetzige Situation zu begreifen. Die gestrige Demonstration in Berlin hat ihn tief erschüttert. Für ihn war das Konterrevolution in Aktion.“307 Aber nicht nur in Berlin marschierte die Konterrevolution. In Delitzsch demonstrierten am 6. November nach einem Friedensgebet in der Stadtkirche ca. 1 000 Personen zur SED - Kreisleitung und zur MfS - Kreisdienststelle. Sie riefen Sprechchöre gegen den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung und gegen das MfS.308 Döbeln : Beim Forum im Döbelner Stadttheater mit Künstlern am 1. November prognostizierte Jochen Hampel, Mitarbeiter des ZK, die SED werde die Führungsrolle zurückgewinnen.309 Unklar ist, ob er meinte, die Lage damit zu beruhigen. Am 6. November demonstrierten jedenfalls in Döbeln nach einem Fürbittgottesdienst für Demokratisierung 1 500 bis 2 000 Bürger durch die Stadt. Es gab Sprechchöre gegen das MfS. Beim Dialog am Rathaus erhielt Bürgermeister Götz Schröder als einziger Unterstützung durch die Bevölkerung. In Leisnig demonstrierten 200 Personen durch die Innenstadt zum Rathaus, wo Kerzen und Plakate abgestellt wurden. Es gab Losungen gegen die Kampfgruppen, gegen Wehrerziehung und GST - Lager.310 Bei einer Einwohnerversammlung in Gersdorf am 6. November mit etwa 300 Teilnehmern wurden erstmals im Ort deutlich und lautstark der Führungsanspruch der SED in Frage gestellt und freie Wahlen gefordert.311 Eilenburg : Der Kreistag Eilenburg beschloss am 1. November Mandatsabberufungen und die weitere „Erhöhung von Ordnung und Sicherheit und der sozialist. Gesetzlichkeit“. Die 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung betonte, sie werde „persönlich dafür eintreten“, dass das Erreichte „durch keinen herabgemindert“ werde. Die Vorsitzende des Rates des Kreises, Anita Donath, forderte die Beibehaltung der Prinzipien des demokratischen Zentralismus.312 Im Kreis Eilenburg dominierten Anfang November Dialogveranstaltungen, so am 1. November im Stadtteil Eilenburger Berg, im Wohnbezirk 18 ( Wedelwitz ), im Kurort Bad Düben und im VEB ECW. Hier bezweifelten viele Beschäftigte in Anwesenheit der 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung, U. Kremkow, und der Vorsitzenden des Rates des Kreises die Berechtigung der Führungsrolle der SED und verlangten ein neues Wahlsystem. Am 2. November beteiligten sich etwa 200 Personen in der Eilenburger Marienkirche an einem Gebet zur Erneuerung 307 SED - KL Delitzsch vom 5. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). 308 Vgl. SED - KL Delitzsch vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd., 886, Bl. 171 f.); MfS, ZOS vom 6.– 7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); ebd., HA XXII, 531, Bl. 30 f. 309 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 3. 11. 1989. 310 Vgl. VPKA Döbeln vom 6.–7. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Döbeln, 3722); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 8. 11. 1989. 311 Vgl. Gemeindeverwaltung Gersdorf an Staatskanzlei vom 25. 3. 1999 ( HAIT, Döbeln B2). 312 Beschlussprotokoll der Tagung des Kreistages Eilenburg vom 1. 11. 1989 ( KA Delitzsch, ASt. Eilenburg, RdK Eilenburg 676, Büro des Rates; 1681, Beschlüsse 1– 40; 1682, Referate und Diskussionsbeiträge ).

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der Gesellschaft.313 Am 5. November fand im Jugendclubhaus Eilenburg eine große Dialogveranstaltung mit der SED - Kreisleitung statt, bei der erneut der Führungsanspruch der SED in Frage gestellt sowie über Maßnamen zur Verringerung der Ausreisewilligen aus dem Kreis nachgedacht wurde.314 Geithain : Etwa 1 500 Bürger nutzten das Friedensgebet zur 450. Wiederkehr der Einführung der Reformation in der Geithainer Nikolaikirche, um den Dialog fortzusetzen.315 Danach formierten sich die Teilnehmer zu einem Demonstrationszug und forderten u. a. freie Wahlen, Presse - und Meinungsfreiheit sowie bessere Arbeits - und Lebensbedingungen.316 Im Haus Altenburg fand ein Dialog u. a. über Versorgungsprobleme statt.317 Bei einer Gemeindevertretersitzung in Hopfgarten am 2. November wurde ein offener Brief mit Forderungen an den Ratsvorsitzenden formuliert.318 An einer öffentlichen Frohburger Stadtverordnetenversammlung nahmen verschiedene Kreisfunktionäre teil. Mit der Losung „Überall Dialog – und Kohren ?“ forderten etwa 100 Demonstranten vom Kohrener Bürgermeister, endlich mit den Bürgern über die Klärung kommunalpolitischer Probleme zu sprechen.319 Vertreter der SED - Kreisleitung, des Rates des Kreises und der „Schutz - und Sicherheitsorgane“ stellten sich am 5. November im Geithainer Stadion den Fragen der Bürger. Die Atmosphäre war gespannt. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Rolf Müller, wurde durch Pfiffe und Rufe unterbrochen, und man forderte seinen Rücktritt. Der SED wurde die Verantwortung für die Lage gegeben. Auch der Leiter der MfS - Kreisdienststelle nahm teil.320 Grimma : Am 1. November diskutierten im Jugendklub Naunhof 300 meist junge Leute über kommunale und politische Themen.321 Am 6. November demonstrierten nach einem Friedensgebet in der Frauenkirche von Grimma 1 500 Personen zum Markt und forderten das Abtreten der „Bonzen“.322 Beim Markt - Disput zum Thema Handel und Versorgung wurde der Rücktritt des 2. Sekretärs der SED - Kreisleitung bekannt. Die Teilnehmer forderten ein neues Wahlgesetz, die Ablösung der Funktionäre und die Reduzierung des Parteiapparates.323 Kaum Teilnehmer fand eine Bürgeraussprache mit der kompletten 313 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 2., 3., 4./5. und 9. 11. 1989. 314 Vgl. KDfS Eilenburg vom 5. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 85, Bl. 41); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 7. 11. 1989. 315 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 2. und 4./5. 11. 1989. 316 Vgl. ebd., vom 2. 11. 1989. 317 Vgl. Chronologie der Wende – Aus der Sicht des Geithainer Ortsvereins der SPD (HAIT, StKa ). 318 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 15. 11. 1989. 319 Ebd., vom 2. 11. 1989. 320 Vgl. KDfS Geithain vom 17. 11. 1989 : Bericht über das Auftreten des Leiters der KDfS beim Forum am 5. 11. 1989 im Geithainer Stadion ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 82/1, Bl. 31–33); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 7. 11. 1989. 321 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 4./5. 11. 1989. 322 BStU, ZA, HA XXII, 531, Bl. 30 f. 323 Vgl. SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 133; MfS, ZOV vom 6.–7. 11. 1989 ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 8. 11. 1989.

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Politprominenz des Kreises. Auch hier wurden Neuwahlen ohne Wahlbetrug, Neuregulierungen in der Wohnungspolitik und eine Reduzierung der Mietpreise für private Grundstückseigentümer sowie eine bessere und schnellere Bearbeitung von Eingaben durch den Rat gefordert. Es gab Vorwürfe wegen Machtmissbrauchs und Korruption.324 In Colditz zogen am gleichen Tag nach einer Veranstaltung in der Stadtkirche ca. 1 000 Personen mit brennenden Kerzen und Transparenten gegen die SED durch den Ort.325 Am Gespräch in der Kirche beteiligten sich der Bürgermeister und der Sekretär der SED - Kreisleitung, Martin Harnack, Ratsmitglieder sowie Leiter von Betrieben und Einrichtungen. Themen waren die Entwicklung der Stadt, die katastrophalen Bauzustände vieler Häuser, die Umweltbelastung durch ansässige Betriebe, die miserablen Gesundheitseinrichtungen und politische Probleme wie die „Schuldfrage der SED“ oder die Zulassung des Neuen Forums.326 Stadt Leipzig : Vor dem Leipziger Gewandhaus wurde Anfang November die „Masur’sche Litfaßsäule“ aufgestellt. Ein Versuch von SED - Funktionären, die Säule zu entfernen, wurde verhindert.327 Am 1. November sicherte der Leipziger Oberbürgermeister, Bernd Seidel, Vertretern des Neuen Forums zu, sich für

Bild 39: Kerzen vor der „Runden Ecke“, der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig. 324 325 326 327

Vgl. ebd., vom 7. 11. 1989. Vgl. MfS, ZOV vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 8. 11. 1989. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 4./5. 11. 1989; Leipziger Volkszeitung vom 4./5. 11. 1989; Neues Forum Leipzig, S. 198.

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Bild 40: Schärpe „Ohne Gewalt“ bei einer Demonstration in Leipzig.

dessen Zulassung einzusetzen,328 einen Tag später trat er bereits zurück. Sein Nachfolger wurde der bisherige Stellvertreter und Vorsitzende der Stadt-Plankommission, Günter Hädrich.329 Am 6. November, dem Tag der Veröffentlichung des Reisegesetzes, demonstrierten trotz Kälte und Dauerregens nach Andachten in mehreren Kirchen bis zu 400 000 Menschen auf dem Ring.330 Zur Vorbereitung der Sicherungsmaßnahmen war dazu am 31. Oktober erneut die Bezirkseinsatzleitung zusammengekommen.331 Die Demonstranten forderten freies Reisen ohne Einschränkungen, ein Ende des Führungsanspruchs der SED und freie Wahlen. Immer wieder erklang der Ruf „Wir sind das Volk“. Zwischen Oper und Gewandhaus ergriffen Vertreter aller Bevölkerungsschichten das Wort. Die Stimmung war durch den Entwurf des Reisegesetzes und die Unwilligkeit der Führung zu tatsächlichen Änderungen aggressiver geworden. Der neue 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Roland Wötzel, und der Oberbürgermeister kamen kaum mehr zu Wort. „Zu spät, zu spät“ skandierten Hunderttausende. Die „Internationale“ wurde nun nicht mehr gesungen, stattdessen richteten sich Transparente deutlich gegen die SED und die Mauer. Die Stimmung war aggressiver. Mitglieder des Neuen Forums mussten eine Menschenkette um das Gebäude des MfS bilden, um es vor Übergriffen zu schützen.332 328 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 3. 11. 1989. 329 Vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 86; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 4. 11. 1989. 330 Vgl. den Zeitzeugenbericht von Zwahr, Zeitzeugenschaft, S. 141–151. 331 Vgl. SED - BL Leipzig vom 31. 10. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 864, Bl. 2 f.). 332 Vgl. MfS, ZOV vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); BVfS Leipzig : Montagsandacht am 6. 11. 1989 in der Michaeliskirche ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1235); Mädler, Ein Herbst, den keiner vergißt, S. 168–177; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 7. 11. 1989.

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Volkspolizei - Angehörige äußerten Besorgnis, da bei den Demonstrationen „Unsachlichkeit und Aggressivität“ zunähmen.333 Unter SED - Mitgliedern herrschte „Angst über die Zunahme der Aggressivität“ und den „konterrevolutionären Charakter der Losungen“. Ein großer Teil der Demonstranten sei bestrebt, die Lage eskalieren zu lassen.334 Für Hartmut Zwahr war das Neue an dieser Demonstration zwei Tage nach der Alexanderplatz - Demonstration „die Entschlossenheit, vom selbstbestimmten Fordern zur Aktion überzugehen“ und selbst mit der Auf lösung des MfS zu beginnen. Anders als in Berlin habe sich hier mit Sprechchören der „Straße“ der Machtwechsel angekündigt. Mit Slogans wie „Jagen wir die SED endlich davon !“ „begann offensives Handeln aus dem Demonstrationsgeschehen selbst herauszuwachsen“. Die Demonstranten begriffen sich als die „Akteure einer Staatsdemontage“. Veränderungen in Stimmung und Haltung waren die Folge. In Leipzig verdeutlichte sich, anders als in Berlin, „das Prinzip der Volkssouveränität, nicht behindert durch eine Inszenierung“ wie am 4. November in Berlin.335 Oschatz : In Oschatz fand am 6. November in der St. Aegidienkirche ein Friedensgebet mit Podiumsdiskussion statt, an dem sich die führenden Vertreter des Staatsapparates auf Kreisebene beteiligten.336 Zirka 4 000 Oschatzer drängten in die Kirche, die nur die Hälfte von ihnen fasste. Superintendent Kupke forderte erneut freie Wahlen und ein Ende der Führungsrolle der SED. Anschließend demonstrierten 3 500 bis 4 000 Teilnehmer durch die Innenstadt.337 Sie trugen Plakate oder riefen Losungen wie „Wir sind das Volk“, „Neues Forum“, „Freie Wahlen“ oder „SED muss weg“. An den Zaun des Gebäudes der MfS - Kreisdienststelle wurde als Aufforderung zu produktiver Arbeit Arbeitskleidung gehängt. Demonstranten stellten brennende Kerzen auf.338 Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Karl - Heinz Buschmann, hatte es abgelehnt, sich den Fragen der Bewohner zu stellen. Er bevorzugte den Dialog vor ausgesuchtem Publikum und traf sich am selben Tag mit Mitgliedern des „Klubs der Intelligenz“. Aber auch dort sah er sich massiver Kritik ausgesetzt.339 Schmölln : Während eines Dialogs am 1. November in Schmölln lud das Neue Forum zu einer Veranstaltung in die Stadtkirche am 10. November ein, um sich vorzustellen. Geplant wurde eine gemeinsame Beratung des CDU - Kreisvorstan333 BDVP Leipzig vom 6. 11. 1989 : Meldung über verwendete Transparente ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840, II ). 334 SED - SL Leipzig vom 7. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd., SED Leipzig, 890, Bl. 40– 43). 335 Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 347. 336 Podiumsgespräch am 6. 11. 1989 in St. Aegidien ( PB, Martin Kupke ). Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 69–78. 337 Nach MfS - Angaben handelte es sich um 4 000 Teilnehmer. Zentraler Operativstab : Bericht zur sicherheitspolitischen Lage in der Hauptstadt Berlin und den Bezirken der DDR im Zeitraum vom 6. 11. –7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74). Das VPKA Oschatz meldete 3 500 Teilnehmer. VPKA Oschatz : Demonstration am 6. 11. 1989 ( SächsStAL, VPKA Oschatz, 4761). 338 Vgl. BStU, ZA, HA XXII, 531, Bl. 030–031. 339 Vgl. SED - KL Oschatz vom 7. 11. 1989 ( SächsStAL, SED, IV F - 4/10/086).

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Bild 41: Friedensgebet und Podiumsgespräch mit Superintendent Martin Kupke am 6.11.1989 in der Oschatzer St. Aegidienkirche.

des und des Neuen Forums.340 In Gößnitz fand ein Rathausgespräch statt.341 Bei einem weiteren Forum in Schmölln mit 500 Teilnehmern verteilten Vertreter von CDU, LDPD und NDPP programmatische Schriften, in denen sie sich u. a. für die Zulassung von Parteien und eine neue Wirtschaftskonzeptionen aussprachen. Es gab scharfe Angriffe gegen die SED, Forderungen nach Änderungen an der Führungsspitze des Kreises und des Wahlgesetzes sowie Forderungen nach Abschaffung der Kampfgruppen. Ähnlich lief ein Dialog in Gößnitz ab. Die SED - Kreisleitung beschloss, künftig „derartige Foren im kleineren Kreis“ durchzuführen, um die Teilnehmer besser vereinzeln zu können.342 Auch am 3. November gab es auf einem Forum in Schmölln wieder Kritiken „in sehr aggressiver und gehässiger Form“ und „immer wieder Angriffe auf die SED“. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Herbert Kliem, wurde wegen persönlicher Privilegien zum Rücktritt aufgefordert.343 Bei einem Forum am nächsten Tag wurden erneut die Führungsrolle der SED bestritten, der Rücktritt von Kreisfunktionären verlangt und die Blockparteien aufgefordert, sich stärker zu positionieren. In der Gemeinde Lumpzig fand eine Demonstration zum Haus 340 341 342 343

Vgl. SED - KL Schmölln vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED Leipzig, 889, Bl. 94 f.). Vgl. SED - KL Schmölln vom 1. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 89 f.). Vgl. SED - KL Schmölln vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 91–93). Vgl. SED - KL Schmölln vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 94 f.).

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des LPG - Vorsitzenden und Bezirkstagsabgeordneten statt. Angesichts der gespannten Lage tagte an diesem Tag die Kreiseinsatzleitung und stellte erhöhte Führungsbereitschaft her. Am 5. November demonstrierten nach einem Gottesdienst in der Stadtkirche von Gößnitz bis zu 800 Personen zum Wohnhaus des Ortsparteisekretärs und zum Rathaus. Sprechchöre forderten ein Ende der SED- Herrschaft und die Auflösung des MfS. Auf dem Freiheitsplatz wurden Hunderte Kerzen aufgestellt.344 Torgau : In Torgau demonstrierten am 5. November nach einem „Gebet zur Erneuerung“ in der Stadtkirche 2 000 Personen. Vor dem Volkspolizeikreisamt und dem Rathaus wurden Kerzen aufgestellt.345 Auch hier wurden die Angriffe gegen den 1. Sekretär der Kreisleitung und die Sicherheitsorgane schärfer und es gab Zweifel, ob diese bei einer weiteren Eskalation „in der Lage und noch bereit“ seien, die Sicherheit zu gewährleisten.346 Wurzen : Im Kreis Wurzen befahl der Leiter des Volkspolizeikreisamtes am 1. November eine „Erhöhung der Wirksamkeit der Bekämpfung und Zurückdrängung der Straftaten des Missbrauchs von Waffen und Sprengmitteln“.347 Die Angst vor gewaltsamen Übergriffen war jedoch weitgehend unbegründet. Auch in Wurzen demonstrierten am 6. November nach einem Friedensgebet im ev. - luth. Dom und in der katholischen Kirche 2 000 Personen friedlich durch die Stadt. Vor der MfS - Kreisdienststelle wurden Kerzen, Plakate und Transparente abgestellt und Sprechchöre gegen das MfS gerufen.348 Einzelaktionen und Gewaltandrohungen Wie ner vös die Staatsmacht war, zeigte eine Meldung vom 1. November über angebliche Schüsse aus automatischen Waffen an der Eisenbahnüberführung Zwickau / Pölau. MfS und Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei rückten aus und ließen die Strecke zeitweilig sperren. Tatsächlich war eine Hochspannungsleitung defekt, wodurch es zu Überspannung mit Blitzschlag kam.349 Zwar gab es hin und wieder Gewaltandrohungen, tatsächlich aber wurden die Veränderungen auf andere Weise durchgesetzt, nämlich friedlich. Dennoch zeigen einzelne Beispiele, welche Gewaltpotenziale durch die von Kirchen und dem Neuen Forum durchgesetzte Friedlichkeit unterdrückt wurden. Der SED - Parteisekretär der POS Seiffen ( Marienberg ) erhielt einen anonymen Drohbrief, in 344 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4. und 5. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 96–101); VPKA Schmölln vom 31.10.–5. 11. 1989 : Rapport ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab ODH, 7150). 345 Vgl. VPKA Torgau vom 3.–6. 11. 1989 : Rapport ( ebd., VPKA Torgau, 7339). 346 Ebd., SED - BL Leipzig, 823, Bl. 131 und 137. 347 VPKA Wurzen vom 1. 11. 1989 ( ebd., VPKA Wurzen, 7401). 348 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 58–74); ebd., HA XXII, 531, Bl. 30 f. 349 Vgl. MdI : Lagefilm über überregionale Einsätze, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 238).

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dem er als „SED - Schwein“ bezeichnet und davor gewarnt wurde, abends das Haus zu verlassen.350 Mehrfach wurden in anonymen Anrufen Gewaltandrohungen ausgesprochen. Im November erhielten ein Mitarbeiter und der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Bischofswerda, Strugalla, mehrfach anonyme Anrufe mit Morddrohungen.351 Ende Oktober wurde einem Zivilbeschäftigten der NVA in Görlitz telefonisch im Namen des Neuen Forums gedroht : „Euch werden wir ausrotten.“352 Dem Agitpropsekretär der SED - Kreisleitung wurde telefonisch gedroht, man werde mit ihm noch abrechnen.353 Die kommunistische Leiterin des Kindergartens Frauenstein ( Brand - Erbisdorf ) erfuhr am Telefon, der Baum sei schon ausgesucht, an dem sie hängen werde.354 Ein besonders eifriges SED - Mitglied des VEB Narva Brand - Erbisdorf wurde telefonisch als „Kommunistenschwein“ beschimpft.355 Dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Geithain für Land - und Nahrungsgüterwirtschaft wurde am Telefon erklärt, für ihn liege der Strick schon bereit, an dem er hängen werde. Nach MfS - Einschätzung ging es hier um alte Rechnungen, die noch mit der zwangsweisen LPG - Gründung zusammenhingen, bei der Bauern durch die Kommunisten enteignet, eingesperrt und drangsaliert worden waren.356 Gewaltandrohungen gab es trotz Mahnungen durch die Kirche und das Neue Forum auch immer wieder einmal bei Demonstrationen und Versammlungen. In Schönheide ( Aue ) notierte das MfS vor dem Rathaus die Losung „SED – hängt sie auf.“357 Bei der Demonstration am 7. November in Oelsnitz gab es nach MfS Berichten Rufe wie „Rote müssen weg“ sowie „erschießen und aufhängen“.358 Beschäftigte des Technikstützpunktes Lichtenberg der LPG „Burgberg“ Burkersdorf ( Brand - Erbisdorf ) erklärten, man müsse die Spitzel des MfS herausfinden und lynchen.359 In der LPG „Frieden“ in Bockendorf ( Hainichen ) gab es Forderungen, alle „Kommunistenschweine“ aufzuhängen.360 Bei einer Versammlung der LPG Pflanzenproduktion Langenchursdorf ( Hohenstein - Ernstthal ) wurde ein DBD - Abgeordneter von einem Kollegen bedroht, man werde jetzt mit ihm

350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360

KDfS Marienberg vom 9. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 122). Vgl. BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 23 und 29. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum / Stimmung ( ebd., LBV 10999, Bl. 1–16). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 11–15). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 4 f.). KAfNS Brand - Erbisdorf vom 22. 11. 1989 : Verbreitung der Gerüchte ( ebd. 2148, 2, Bl. 5–9). Vgl. KDfS Geithain vom 14. 11. 1989 : Maßnahmen zur Aufklärung des anonymen Anrufers am 3. 11. 1989 beim RdK Geithain ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain, 82/05, Bl. 7 f.). BStU, ZA, HA XXII, 1721, Bl. 171 f. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 86–88). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf : Einwohnerforum in Frauenstein am 9. 11. 1989 ( ebd., Bl. 129 f.). BStU, ZA, HA XXII, 531, Bl. 186–187.

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abrechnen.361 Im Kreis Plauen erhielt das MfS unbestätigte Informationen, wonach mit Brandstiftungen gegen die Kreisdienststelle des MfS, die SED - Kreisleitung und das Wehrkreiskommando zu rechnen sei.362 In Oelsnitz riefen bei einer Demonstration am 13. November Teilnehmer vor dem Gebäude der MfSKreisdienststelle u. a. „Haut’se, haut’se, auf die Schnauze“.363 In Stollberg fand am 4. November die Nachricht von Superintendent Kreher unter einigen Teilnehmern Beifall, dass der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Bautzen Selbstmord begangen habe.364 In Zschopau meinte der Leiter des Wehrkreiskommandos, es würde wohl „nicht mehr lange dauern, bis evtl. die Waffen sprechen“. Eine Zuspitzung der Lage sei unvermeidlich.365 Auch unter Vertretern neuer Gruppierungen und der Kirchen gab es Befürchtungen, der Erneuerungsprozess könne außer Kontrolle geraten und Gewalt und Anarchie Einzug halten.366 Das Neue Forum kritisierte die Übergriffe und Drohungen gegenüber Mitarbeitern des MfS und der Volkspolizei. Nachdem z. B. Volkspolizei - Angehörige im Namen des Neuen Forums Morddrohungen erhalten hatten, distanzierte sich der Sprecherrat des Neuen Forums im Bezirk Karl - Marx - Stadt sofort und ausdrücklich davon und erklärte : „Wir werden es nicht dulden, dass Angehörige der Staats - , der Schutz - und Sicherheitsorgane und deren Familien in anonymen Briefen und anderer Form bedroht werden. Besonders gilt das für jene Fälle, in denen der Name ‚Neues Forum‘ missbraucht wurde und wird.“367 Der Wille, Gewalt zu verhindern, war auch ein wesentliches Motiv für die Bereitschaft, mit Vertretern des Staates in einer „Sicherheitspartnerschaft“ zusammenzuarbeiten. 4.4

Lage an der SED - Basis und Rücktritte regionaler Funktionäre

Unter SED - Mitgliedern wuchs die Sorge um ihre persönliche Zukunft. Die Situation war von einer fortgesetzten Ausdifferenzierung der bisher nach außen monolithischen Staatspartei gekennzeichnet. Mitläufer verließen die Partei in Scharen. Viele ideologisch überzeugte Mitglieder konnten dagegen gar nicht verstehen und waren empört, dass die SED bei Dialogen „unberechtigter weise offen angegriffen und beschmutzt“ werde.368 Oft wurden SED - Mitglieder, wie in Marienberg, „zum Teil kollektiv beschimpft“.369 Besonders ältere Parteimit361 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 9–11). 362 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( ebd. 2147, 1, Bl. 86– 88). 363 KDfS Oelsnitz vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 65 f.). 364 Vgl. KDfS Stollberg vom 4. 11. 1989 : Sofortmeldung, 1. Ergänzung ( ebd. 2145, 1, Bl. 30 f.). 365 KDfS Zschopau vom 7. 11. 1998 : Info ( ebd. 679, 2, Bl. 201–204). 366 Vgl. KDfS Stollberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 678, Bl. 61–63). 367 Freiheit vom 10. 11. 1989. 368 SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 369 KDfS Marienberg vom 6. 11. 1989 : Demonstration in Pockau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 139).

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glieder fragten „Haben wir 40 Jahre alles falsch gemacht ?“ oder „Müssen wir uns als Genossen so mit Dreck bewerfen lassen ?“.370 Viele von ihnen fühlten sich „noch sehr mit dem Genossen Honecker verbunden“.371 „Schlimmer könnte es nicht werden.“372 Verbitterung machte sich breit. Die bislang Privilegierten fühlten sich zurückgesetzt und sahen sich selbst innerhalb der Familien kritischen Fragen ausgesetzt.373 Viele Ältere meinten, „dass die führende Rolle der SED verloren gegangen sei und die Lage nicht mehr beherrschbar wird“.374 Unter Mitgliedern verstärkten sich daher „Unsicherheit bis hin zu Angst“.375 Viele zogen sich in die Passivität zurück376 und verschwiegen ihre linksextreme Überzeugung.377 Vor allem Funktionäre verstanden die Welt nicht mehr : „Viele ältere, auch leitende Genossen“, so die SED - Kreisleitung Schmölln, „kommen nicht so schnell mit der Entwicklung zurecht. Was sie vor vier Wochen noch vertreten haben, wäre heute falsch. Das Umdenken fällt ihnen schwer.“378 Ihnen fiele es, so die SED - Kreisleitung Bischofswerda, schwer, „nun eine absolute Wende in der politischen Arbeit durchzusetzen und bestimmte Dinge zu negieren, die ihnen gelehrt worden sind“.379 Die Sekretärin der Grundorganisation des Rates des Kreises Aue erklärte, „sie sehe zur Zeit überhaupt nicht klar“ und „wisse nicht, was sie machen solle“.380 Allerorten wurde bemängelt, dass die Führung kein Konzept vorgebe, nach dem die SED handeln könne.381 So fühlten sich viele Mitglieder von der Führung alleingelassen, einige regelrecht „verheizt“.382 SED - Mitglieder im VEB Halbzeugwerk Auerhammer meinten, die Parteiführer ließen „die Kleinen“ im Stich und profilierten sich als „die größten Reformer“.383 In dieser Situation äußerten viele Verärgerung über die bekannt werdenden Privilegien führender Funktionäre,384 obwohl dies immer bekannt gewesen war. Die Forderungen nach dem Rücktritt führender Genossen nahmen zu.385 Selbst Mitglieder der SED, so das MfS in Stollberg, machten pauschal „alle Funktionäre, beginnend auf kreislicher Ebene, für alles und jedes ver370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385

SED - KL Schmölln vom 5. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 100 f.). SED - SBL Leipzig - Südost vom 8. 11. 1989 : Info ( ebd., 891, Bl. 1–4). BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 22, 72, 74, 75, 76, 77, 134–136. Vgl. KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Bereich Wismut ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 9–12). KDfS Plauen vom 7. 11. 1989 : Stimmungen ( ebd. 539, Bl. 50–56). Vgl. KDfS Löbau vom 8. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 1–4). KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 231, Bl. 3–9). Vgl. SED - KL Borna vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 114 f.). Vgl. SED - KL Altenburg vom 1. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 200– 205). Vgl. SED - KL Großenhain vom 2. 11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). SED - KL Schmölln vom 1. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 89 f.). SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 21–23). Vgl. ZK, Abt. Parteiorgane vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 4). SED - KL Schmölln vom 2. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 91–93). KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 13–16). SED - KL Borna vom 7. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 112 f.). Vgl. SED - SBL Leipzig - Südost vom 8. 11. 1989 : Info ( ebd., 891, Bl. 1–4).

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antwortlich“.386 Auch die Kritik an Krenz wuchs kontinuierlich an.387 Von einer „ideologischen Einheit und Geschlossenheit“ an der Parteibasis konnte keine Rede mehr sein. „Die Kampfkraft der Parteikollektive“ nahm ständig ab,388 unter Funktionären und Mitgliedern machten sich „Resignation und Mutlosigkeit“ breit. Viele glaubten nicht an eine Veränderung der Lage im Sinne der SED und waren daher nicht bereit, einen neuen Kurs mitzugehen. Forderungen nach Rücktritten von Funktionären häuften sich,389 die Zahl der Austritte wuchs weiter. Im Bezirk Dresden hatten seit Anfang September 5 452 Mitglieder und Kandidaten (2,8 %) ihren Austritt erklärt. Schwerpunkte waren Sebnitz (6,8 %) und der Stadtbezirk Dresden - Nord (5,1 %). Hatte die Funktionsübernahme von Krenz den Trend kurz umkehren können, zeichnete sich Ende Oktober erneut ein sprunghafter Anstieg der Austritte ab,390 in deren Folge Grundorganisationen aufgelöst wurden.391 Allein in den Stahlwerken Riesa und Gröditz traten bis Anfang November fast 600 Mitglieder aus.392 In den Betrieben häuften sich auch die Forderungen, hauptamtliche Parteisekretäre aus den Betrieben zu verbannen.393 Teilweise forderten Mitglieder, wie in Leipzig, die Auf lösung der Apparate der Stadt - und Stadtbezirksleitungen.394 Parallel zu den Rücktritten auf Führungsebene begann Anfang November eine Rücktrittswelle von SED - Funktionären auf Bezirks - und Kreisebene. Am 5. November trat der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Leipzig, Horst Schumann, zurück. Sein Nachfolger wurde Roland Wötzel. Bereits am 2. November trat der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Altenburg, Wolfgang Nebe, zurück. Sein Nachfolger wurde Peter Krause.395 Ungeachtet dessen wurde hier wie in den Kreisen Borna, Döbeln und Schmölln der Rücktritt der gesamten Sekretariate gefordert.396 In Oschatz wurden am 9. November der 1. Sekretär der SEDKreisleitung, Karl - Heinz Buschmann, und der Vorsitzende des FDGB - Kreisvorstandes, Finke, von ihren Funktionen entbunden.397 In Bautzen wurde am 3. November der bisherige 2. Sekretär der SED - Kreisleitung Großenhain, HansJürgen Steindl, 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Bautzen. Sein Vorgänger Helmut Mieth hatte kurz zuvor Selbstmord begangen.398 In Bischofswerda baten am 8. November die Sekretärin der SED - Kreisleitung, Ramona Harnisch, der 386 KDfS Stollberg vom 1. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678, Bl. 71 f.). 387 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 388 SED - KL Borna vom 3. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 104–106). 389 Vgl. SED - KL Borna vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 112 f.). 390 Vgl. SED - BL Dresden vom 2. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 97 f.). 391 Vgl. SED - KL Altenburg vom 6. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 22–25). 392 Vgl. SED - BL Dresden vom 9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 51). 393 Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139). 394 Vgl. SED - SL Leipzig vom 7. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd., 890, Bl. 40–43). 395 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 4./5. 11. 1989. 396 Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139). 397 Vgl. SED - BL Leipzig vom 10. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 148). 398 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED - BL Dresden vom 3. 11. 1989 ( ABL, EA 891103_1).

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Vorsitzende des FDGB - Kreisvorstandes sowie der Vorsitzende der Kreisplankommission um Entbindung.399 In Riesa traten am selben Tag der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Riesa, E. Richter, die Bürgermeisterin von Riesa und der Vorsitzende des FDGB - Kreisvorstandes zurück.400 Im Kreis Brand - Erbisdorf häuften sich die Forderungen nach Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung.401 In Oelsnitz, wo sich fast alle Sekretäre krank gemeldet hatten,402 wurde am 9. November der 1. Sekretär der Kreisleitung, Alfred Hoffmann, entbunden und statt seiner Eberhard Babig gewählt.403 Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Helmut Lachmann, trug sich ebenfalls mit Rücktrittsgedanken, auch der FDGB - Kreisvorsitzende trat zurück.404 Trotzdem wurde auch der Rücktritt des 2. Sekretärs und des Sekretärs für Agitation und Propaganda gefordert.405 Am 9. November trat der Vorsitzende des Rates des Kreises Grimma, Gerhard Lewandowski, zurück.406 Am 4. November entband die SED - Kreisleitung Schwarzenberg Heinz Horlbeck vom Amt des 1. Sekretärs und wählte Artur Petzoldt zum Nachfolger. Am nächsten Tag trat der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Hainichen zurück.407 Auch in Oelsnitz befasste sich der 1. Sekretär mit Rücktrittsgedanken.408 Nicht immer vollzogen sich die Rücktritte spektakulär. Etliche, auch hauptamtliche Parteisekretäre, legten einfach ihre „Wahlfunktionen“ nieder, was aus Sicht der Bezirksleitung ein Hinweis auf „tiefe ideologische Erschütterungen in den Reihen der Partei“ war.409 Immer mehr Funktionäre in den Betrieben und Einrichtungen nutzten die allseits geforderten Kaderveränderungen, um sich der Verantwortung zu entziehen.410 Aber auch die Funktionäre, die nun in die leitenden Funktionen nachrückten, hatten es schwer. Überall wurde der Wille der Kommunisten, demokratische Veränderungen einzuleiten, bezweifelt.411 Dennoch gab es genügend Funktionäre, die nicht ans Aufgeben dachten. Allen voran stand in Sachsen Hans Modrow, der am 3. November ein Positions399 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 9. 11. 1989. 400 Vgl. KDfS Riesa vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 161). 401 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 11–15). 402 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( ebd. 2147, 1, Bl. 86– 88). 403 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37– 39); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 9. 11. 1989. 404 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 86–88). 405 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 155 f.). 406 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 11./12. 11. 1989. 407 Vgl. KDfS Hainichen vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 12– 14); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 7. 11. 1989. 408 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 6. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 180 f.). 409 SED - BL Dresden vom 2. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 97 f.). 410 Vgl. SED - KL Schmölln vom 2. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 91– 93). 411 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 18 f.).

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papier vorlegte, in dem er sich gegen Privilegien und für eine stärkere Beachtung von Leistungsprinzipien aussprach. Um zu „wahrer sozialistischer Demokratie“ zu gelangen, brauche das Land „eine neue Führung, die die tiefgreifende Erneuerung des Sozialismus will und auch zielstrebig leiten kann“.412 Damit bezog er „moderat, aber für Eingeweihte unmissverständlich“413 gegen Krenz Position. Alle zentralen Medien, die sich noch kurz zuvor zur objektiven Berichterstattung verpflichtet hatten, verschwiegen das Papier. Dafür gab es am 9. November vor der SED - Bezirksleitung Dresden eine Kundgebung von SED - Mitgliedern, bei der „Modrow an die Spitze“ und ein außerordentlicher Parteitag gefordert wurden.414 Auch aus den Kreisen des Bezirkes kamen Reformvorschläge. Die Kreisleitung Sebnitz zeigte sich überzeugt, dass es ohne Reformen nicht gelingen werde, die Mitglieder für eine breite Offensive zu gewinnen.415 Hier forderte man von Krenz, „in die Offensive zu gehen und das Aktionsprogramm der Partei zur Diskussion zu stellen, um in diesen Stunden der Entscheidung über die Existenz des Sozialismus in der DDR mit unserem Gesellschaftskonzept vom Sozialismus weiteren Autoritäts - und Vertrauensverlust gegenüber der SED aufzuhalten“. Mit ähnlichem Ansinnen wandte sich auch die Kreisleitung Löbau an Krenz.416 Auch in anderen Kreisverbänden wollte man sich nicht der Resignation hingeben und dachte darüber nach, wie die Partei wieder in die ideologische Offensive gebracht werden könne.417 Die SED - Kreisleitung Meißen wandte sich mit einem Katalog von Erneuerungsforderungen an die Mitglieder.418 Die SED - Kreisleitung Oelsnitz ließ an der F 92 in Richtung Grenze Plakate anbringen, auf denen stand : „Bleibt hier – wir brauchen euch“ und „Bleibt hier – Taten sind gefragt“.419 4.5

Entwurf eines Reisegesetzes vom 6. November unter Fortdauer der Massenflucht

Um die revolutionäre Situation zu entspannen, ließ das Politbüro am 6. November einen Gesetzentwurf „über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik in das Ausland“ veröffentlichen. Das Gesetz sah ein auf 30 Tage im Jahr befristetes Ausreisevisum vor, über das von der Volkspolizei innerhalb von 30 Tagen entschieden werden sollte. Das war aber nicht das, was die Men412 413 414 415 416 417 418 419

Zit. in Das Volk vom 7. 11. 1989. Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 74 f. MfS, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, HA VIII, AKG 1672, Bl. 25). Vgl. SED - KL Sebnitz vom 1. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/60, Bl. 1–3). SED - BL Dresden vom 2. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 95 f., 101). Vgl. RdB Leipzig vom 3. 11. 1989 : Standpunkt der Leitung der SED - GO ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1456, Bl. 22); KDfS Auerbach vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 110–112). Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 8. 11. 1990. KDfS Oelsnitz vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37–39).

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schen erwarteten. Statt Druck wegzunehmen, heizte die Vorlage die Stimmung daher weiter an420 und stieß in der Bevölkerung auf breite Ablehnung.421 Viele sahen wenige Änderungen zur Reiseverordnung vom 30.11.1988. Bemängelt wurde vor allem die unzureichende Ausstattung mit Devisen. Wieder könnten nur die fahren, die privilegiert seien oder Westverwandtschaft hätten. Die Bearbeitungszeit von 30 Tagen sei ein „Lacher“,422 ebenso die Begrenzung der Reisezeit. Erneut würden den Bürgern ohne Not Zwänge auferlegt. Die SED könne sich nicht von Einschränkungen und Bevormundungen lösen. Stark unter Kritik stand die Bestimmung, wonach Reisen durch Pass - und Meldestellen versagt werden konnten. Im „Gummi - Gesetz“423 gebe es viele Kann - Bestimmungen und Verklausulierungen, die subjektive Auslegungen ermöglichten. Selbst VPKA Mitarbeiter meinten, der Entwurf lasse an Eindeutigkeit zu wünschen übrig. Zudem müsse „ein unvertretbarer bürokratischer Prüfungsaufwand getrieben werden“, den „sowieso niemand beherrsche“.424 Von „Amtsschimmel“425 war die Rede, vom bürokratischen Stil, und, so Mitarbeiter des Volkspolizeikreisamtes Hohenstein - Ernstthal, von „Dilettantismus“.426 Für die SED war die Reaktion auf ihr ignorantes Vorgehen in der für sie ohnehin kritischen Situation verheerend, da sich die Menschen unmündig, bevormundet und weiterhin kontrolliert vorkamen. Von einer „Frechheit“427 war die Rede und vom Zweifel am Willen zu einer wirklichen Wende. Die SED, so Arbeiter, solle „ihren Hut nehmen und gehen“. Mit dem Entwurf sei „das Vertrauen erneut gesunken“.428 Der Entwurf zeuge von politischer Verantwortungslosigkeit.429 VP - Angehörige im Volkspolizeikreisamt Annaberg meinten, vor vier Wochen wäre der Entwurf als Geschenk empfunden worden, heute sei er ein „Beweis für die Unmündigkeit der Bürger“.430 Offenbar habe die Führung den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen. Es gebe nur eine vernünftige Lösung, so Arbeiter in Borna, nämlich „gleich die normalen Grenzen zur BRD aufmachen, damit sparen wir noch Benzin“.431 Das Neue Forum forderte, jedem 420 Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1145. 421 Vgl. KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 411– 414); RdB Karl - Marx - Stadt vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAC, 126409); KDfS Brand Erbisdorf vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 23–26); KDfS Freiberg vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 4 f.); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 4. und 6.11.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 18 f., 22–24); SED - KL Borna vom 7. und 8. 11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 112–115); SED - SL Leipzig vom 7. 11.1989 : Tagesinformation ( ebd., 890, Bl. 40–43). 422 KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 6–8). 423 KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 11–15). 424 KDfS Stollberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 678, Bl. 61–63). 425 KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 6–8). 426 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9. 11. 1989 : Reaktionen ( ebd. 534, 2, Bl. 7 f.). 427 KDfS Plauen vom 7. 11. 1989 : Stimmungen ( ebd. 539, Bl. 50–56). 428 SED - KL Altenburg vom 6. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 22–25). 429 Vgl. KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 6– 8). 430 KDfS Annaberg vom 6. 11. 1989 : Reaktionen ( ebd. 529, 1, Bl. 8–10). 431 SED - KL Borna vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 114 f.).

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Bürger einen Reisepass für alle Staaten der Welt zu geben, der erlaube, die Grenze jederzeit zu überschreiten. So dauerte auch der Flüchtlingsstrom an. Über den oberfränkischen Grenzübergang Schirnding verließen am 6. November stündlich bis zu 300, am nächsten Tag noch bis zu 70 DDR - Bewohner die ČSSR in Richtung Bayern. Vom 4. bis zum 6. November reisten 23 200 Personen in die Bundesrepublik aus. Die Bundesregierung bekräftigte am 6. November, jeder Deutsche aus der DDR habe Anspruch, aufgenommen zu werden. Allein am Nachmittag des 7. November trafen in Bayern etwa 5 000 neue Flüchtlinge ein. Am 7. November befasste sich das Politbüro mit den ablehnenden Reaktionen auf das Reisegesetz. Es folgte dem Vorschlag von Außenminister Fischer, den Teil des Reisegesetzes zur ständigen Ausreise durch eine Durchführungsbestimmung sofort in Kraft zu setzen, die nicht erst von der Volkskammer bestätigt werden musste.432 Die ablehnende Reaktion auf das Reisegesetz wirkte, so Schabowski, auf die Mitglieder des Politbüros wie ein Schock. Deshalb beauftragten sie den gerade abgesetzten Stoph, diesen Bestandteil des Reisegesetzes zur ständigen Ausreise unverzüglich per Verordnung in Kraft zu setzen. Ziel war es, so das Problem des Ausreisestromes über die ČSSR unter Kontrolle zu bekommen. Das war der Führung wichtig, forderte doch die tschechoslowakische Führung ultimativ eine Lösung und drohte, die Grenze zur DDR zu sperren. Das Politbüro ließ bei der sowjetischen Führung anfragen, ob es Einwände dagegen gebe, Ausreisewillige direkt über die innerdeutsche Grenze in die Bundesrepublik zu entlassen. Schewardnadse ließ daraufhin wissen, das Grenzregime sei eine innere Angelegenheit der DDR.433 Gorbatschow empfahl Krenz generell, die Grenzen zu öffnen, so könne er „Dampf ablassen“ und „eine Explosion verhindern“.434 Trotz der Absicht, Ausreisewillige direkt in die Bundesrepublik zu entlassen, dauerte der Exodus über die ČSSR auch am 9. November an. Die Transitstrecke F 92 war völlig überlastet. Stündlich passierten hier etwa 200 Pkw, etliche mit Federbetten oder Kühlschränken auf dem Dach, die Grenzübergangsstelle Schönberg nach Böhmen. Hinzu kamen pro Tag etwa 4 000 Personen, die mit Zügen ausreisten. In den Grenzkreisen wurden bereits massiv Forderungen nach Aufhebung der Sperrzone und der Beseitigung der Sperranlagen erhoben.435

432 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 7. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3255). 433 Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1146 f.; Aussage Valentin Falin. In: FAZ vom 30. 7. 1993. 434 Zit. bei Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 176 f. 435 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 86–88); RdB Karl - Marx - Stadt vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAC, 126409).

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Rücktritt der Regierung am 7. November

Seit Ende Oktober dachte man in der SED - Führung schon über einen Rücktritt der Regierung nach, um so die SED - Herrschaft selbst zu retten. Am 30. Oktober verlangte Kulturminister Hans - Joachim Hoffmann den Rücktritt der Regierung und schlug vor, Bauminister Wolfgang Junker zum Nachfolger Stophs und Markus Wolf zum neuen Minister für Staatssicherheit zu machen.436 LDPD Chef Gerlach forderte am 1. November eine neue Politik mit neuen Leuten. An einer neuen Regierung müsse die LDPD stärker als bisher beteiligt werden.437 Das Sekretariat des Zentralvorstandes beauftragte am nächsten Tag die LDPDVolkskammerfraktion, eine sofortige Sitzung der Volkskammer einzuberufen und den Rücktritt der Regierung Stoph und des Volkskammerpräsidenten Sindermann zu beantragen. Gerlach wurde als Präsident der Volkskammer vorgeschlagen. Die Meldung wurde am Abend als Spitzenmeldung in der „Aktuellen Kamera“ verlesen.438 Am selben Tag wurde Margot Honecker von ihrer Funktion als Volksbildungsministerin entbunden.439 Der LDPD - Vorschlag, Gerlach zum Präsidenten der Volkskammer zu küren, wurde in der Bevölkerung überwiegend skeptisch beurteilt. Hier hatten sich die Forderungen schon so weit radikalisiert, dass seine reformerische Rolle kaum mehr ins Gewicht fiel. Eher spielte es inzwischen eine Rolle, dass er bisher zur Führung gehört „und trotzdem nichts verändert“ hatte. Daher wurde ihm „die Fähigkeit abgesprochen, dies heute nun tun zu können“. Man wünschte inzwischen an der Führung „neue, flexibel reagierende Leute, die auch in der Lage sind, ihre Funktion voll auszufüllen“.440 Diese Haltung der Bevölkerung zeigt übrigens auch, dass bei vielen die Reformforderungen des Oktober nur revolutionäre Postulate kaschiert hatten. Am 3. November verlangte auch die CDU - Fraktion die sofortige Einberufung der Volkskammer und forderte die Regierung auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Ein neues Wahlgesetz müsse ausgearbeitet werden und neue Kommunalwahlen müssten stattfinden. Auch die Bundesregierung sah den Zeitpunkt als geeignet an, ihren Druck auf Krenz zu erhöhen. Am 6. November verlangte Schäuble gegenüber Schalck, Krenz müsse auf der 10. Tagung des ZK der SED die Glaubwürdigkeit des Kurses der Wende und Erneuerung sowie der angekündigten Reformen deutlich machen und glaubwürdige, neue Personen in die Verantwortung nehmen. Anderenfalls wäre der Bundeskanzler nicht in der Lage, vor dem Bundestag finanzielle Hilfen zu begründen. Geld gebe es nur, wenn oppositionelle Gruppen und demnächst freie Wahlen zugelassen würden. Unter diesen Bedingungen halte 436 437 438 439

Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 217. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 3. 11. 1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 310 f. Beschluss des Ministerrates der DDR vom 2. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3 2865, Bl. 244 f.). Vgl. Margot Honecker an Willi Stoph vom 20. 10. 1989 ( ebd., Bl. 250). 440 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 20 f.).

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der Kanzler „vieles für machbar und alles für denkbar“.441 Letzteres bestätigten Entwicklungen in der Bundesregierung, wo man Überlegungen über wirtschaftliche und finanzielle Konsequenzen im Falle einer Demokratisierung der DDR anstellte.442 Am 7. November sprach der Verfassungs - und Rechtsausschuss der Volkskammer dem Präsidium seine Missbilligung dafür aus, das Begehren einer ausreichenden Anzahl von Abgeordneten nach einer Dringlichkeitstagung zur Lage im Land zu ignorieren und forderte erneut eine sofortige Einberufung der Volkskammer.443 Am Abend des 7. November trat der Ministerrat der DDR überraschend zurück. Vom Rücktritt betroffen waren der Vorsitzende Willi Stoph, seine beiden ersten Stellvertreter Günther Kleiber und Alfred Neumann, acht weitere Stellvertreter sowie 32 Mitglieder des Ministerrats.444 Allerdings blieb die Regierung bis zur Wahl einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt. Dass die SED damit nicht, wie erhofft, aus der Schusslinie kam, zeigte die Erklärung von Demokratie Jetzt : jeder wisse, „dass die eigentliche Regierung der DDR nicht der Ministerrat war, sondern das Politbüro und das ZK - Sekretariat“. Der einzige Ausweg aus der Krise sei „der Rücktritt der SED von ihrem Führungsanspruch“. Demokratie Jetzt forderte den Rücktritt von Krenz, eine Änderung des Artikels 1 der Verfassung und freie Wahlen445 und damit revolutionäre Veränderungen. 4.7

Ausweitung der Demonstrationen (7.– 9.11.)

Der Rücktritt der Regierung wurde von der Bevölkerung stürmisch begrüßt.446 In der MfS - Führung konstatierte man eine „sichtbare Destabilisierung der Lage“ und Resignation in der Partei.447 Die MfS - Dienststellen bereiteten sich auf Übergriffe vor. Mielke befahl die Bereitstellung chemischer Kampfstoffe für den Fall der Stürmung von Objekten.448 Allerdings sorgten Vertreter des Neuen Forums und kirchliche Kräfte weiterhin dafür, dass Gewaltaktionen verhindert 441 Aussage Alexander Schalck - Goldokowski. In : tango 40 vom 29. 9. 1994. Vgl. Alexander Schalck - Golodkowski an Egon Krenz vom 7. 11. 1989. In : Przybylski, Tatort Politbüro 2, S. 394 f. 442 Vgl. Haller, Das Wort „Anschluss“ war tabu, S. 149 f. 443 Vgl. FAZ vom 8. 11. 1989. 444 Protokoll der Sitzung des Ministerrates der DDR vom 7. 11. 1989 : Beschluss 114/1/89 ( BArch Berlin, C 20 I /3 2866, Bl. 1–11). 445 Erklärung von „Demokratie Jetzt“ zum Rücktritt des Ministerrates und des Politbüros, gez. : Hans Jürgen Fischbeck, Ulrike Poppe, Konrad Weiß, o. D. ( MDA Wende, Bürgerinitiative, Parteien. Roland Jahn - Archiv ). 446 Vgl. MfS, ZOS vom 7.–8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 52). 447 Vgl. MfS: Arbeitsbuch des Leiters der HA XX, Kienberg, o. D. ( BStU, HA XX 987, Bl. 127). 448 Vgl. VVS gra 28–257/89 vom 8. 11. 1989 in Jürgen Fuchs, Landschaften der Lüge (III). In : Der Spiegel vom 2. 12. 1991, S. 95; BVfS Leipzig, der Leiter, vom 6. 11. 1989. In : Stasi intern, S. 342.

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wurden. Sie stellten eigene Ordner, brachen eskalierende Veranstaltungen ab oder bildeten Sperrketten vor Einrichtungen des MfS.449 Damit sorgten sie für den weiteren erfolgreichen Fortgang der friedlichen Revolution. Freilich bedeutete Friedlichkeit keine Bescheidenheit hinsichtlich inhaltlicher Postulate. Seit Anfang November wurde der Führungsanspruch der SED von kirchlichen Amtsträgern weitgehend in Frage gestellt.450 SED - loyale Geistliche, wie der Bischof der Evangelischen Landeskirche Greifswald und IM des MfS, Horst Gienke, mussten zurücktreten. So erklärten etwa einige ev. - meth. Pastoren im Kreis Annaberg gegenüber dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Martin Jörgen, „dass die führende Rolle der SED nicht gerechtfertigt ist. Das Volk hätte vor 40 Jahren nicht hinter der SED gestanden und heute gleich gar nicht.“451 Hier wie andernorts unterstützten zahlreiche, aber bei weitem nicht alle Pfarrer das Neue Forum und riefen zu Gewaltlosigkeit auf.452 In dem Maße, wie es zur Wiederbelebung unabhängiger gesellschaftlicher Aktivitäten kam, zog sich die Kirche aber im Laufe des Novembers wieder schrittweise auf „ihre eigenen Dinge“ wie „Glauben, Religionsprobleme“ zurück. Freilich hing es nach wie vor vor allem von den einzelnen Pfarrern ab, wie weit sie sich politisch engagier-

Diagramm 13: Forderungen nach Reformen und nach deutscher Einheit (prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche). 449 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 250 f. 450 Vgl. RdB Erfurt vom 8. 11. 1989 : Tendenzen in der kirchenpolitischen Entwicklung im Territorium ( ThHSTA, RdB Erfurt, 41 673). 451 KDfS Annaberg vom 1. 11. 1989 : Gruppengespräch mit Pastoren der ev. - meth. Kirche des Kreises Annaberg beim Vorsitzenden des RdK ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 18 f.). 452 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 45–48).

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ten.453 Generell aber trieben, neben der andauernden Massenflucht, vor allem die demonstrierenden Massen die revolutionäre Entwicklung voran. Sie setzten das Regime unter Druck und bewirkten alle wesentlichen Veränderungen. Zugleich markierte die Zeit um den 7. November herum eine Wende in den inhaltlichen Forderungen der Demonstranten. Ab nun verzichtete man auf die meist nur vorgeschobenen Forderungen nach Reformen und verlangte direkt ein Ende der Diktatur, Freiheit und Demokratie sowie immer deutlicher auch ein Ende der DDR durch die Wiedervereinigung Deutschlands. Bezirk Dresden : Die Dresdner SED - Leitung meldete einen weiter wachsenden „Vertrauensverlust zwischen Volk und Partei“. Die Angriffe verschärften sich. Verstärkt würden ein Ende der Führungsrolle der SED und ein Herauslösen von SED und FDJ aus Betrieben und Einrichtungen gefordert. Beleidigungen und Anfeindungen von SED - Mitgliedern hätten „im unerträglichen Maß“ zugenommen, die Angst vor tätlichen Übergriffen wachse.454 Forderungen zur Durchführung freier Wahlen würden überall aggressiver gestellt.455 Dialoge und vergleichbare Veranstaltungen verliefen sehr kontrovers und seien oft durch aggressives Verhalten der Gesprächspartner geprägt.456 Bischofswerda : In den Kreisen gingen zwar die Dialogveranstaltungen weiter, sie dienten aber fast durchweg der Infragestellung des Regimes. Am 7. November fand in Bischofswerda ein zweites Rathausgespräch vor allem zu Fragen der Versorgung statt.457 Neben einem Dialog im VEB Bürochemie Pulsnitz am 7. November458 bestimmte im Kreis Bischofswerda vor allem ein Bürgerforum in der ev. - luth. Kirche von Neukirch am 8. November das Geschehen. Zirka 1 000 Menschen formulierten hier eine Willensbekundung an den Staatsrat, in der u. a. die Beseitigung des Führungsanspruchs der SED, freie Wahlen, die Entfernung der SED aus Betrieben, Institutionen, Verwaltungen und eine Abschaffung der bewaffneten Organe sowie eine Reduzierung des MfS auf Aufgaben der äußeren Sicherheit des Staates gefordert wurden. Beifall erhielt der Vorschlag, Modrow zum Ministerpräsidenten zu ernennen.459 Dippoldiswalde : Am 7. November sprachen der 1. Sekretär, Gerhard Barthel, und weitere Funktionäre der besonders reformfeindlichen SED - Kreisleitung Dippoldiswalde mit Vertretern des Neuen Forums über dessen Zulassung. Das Neue Forum forderte dabei zum Entsetzen der kommunistischen Funktionäre das Ende der SED - Alleinherrschaft, freie Wahlen, Pressefreiheit, eine Umwandlung des MfS, eine soziale Marktwirtschaft und die Offenlegung der Umwelt453 KDfS Reichenbach vom 1. 11. 1989 : Pfarrkonvent des Sup. - Bereiches Plauen in Jocketa mit dem Vertreter des Neuen Forums ( ebd., RB 130, Bl. 31 f.). 454 SED - BL Dresden vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 68). 455 Vgl. SED - BL Dresden vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 58–61). 456 Vgl. SED - BL Dresden vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 52, 54 f.). 457 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 10. 11. 1989. 458 Vgl. ebd., vom 9. 11. 1989. 459 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 137 und 170 f.); BVfS Dresden vom 8.–9. 11. 1989 : Ereignisse ( ebd., XX 9186, Bl. 43 f.); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 39; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 10. 11. 1989.

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daten.460 In Glashütte verlangten Bürger an diesem Tag auf einer Einwohnerversammlung „in sehr scharfer Form“ den Rücktritt des Bürgermeisters und der Stadtverordnetenversammlung sowie ein Ende der SED - Herrschaft und des MfS.461 Ähnlich war die Lage überall im Kreis, so am 8. November in Lauenstein.462 Die SED - Kreisleitung meldete nach Dresden, die Angriffe auf die führende Rolle der SED nähmen ständig an Schärfe und Umfang zu und seien vor allem gegen führende Funktionäre des Kreises und Mitarbeiter der MfS - Kreisdienststelle gerichtet. Schwerpunkt der Angriffe sei der VEB Gießerei und Maschinenbau „F. Kunert“ in Schmiedeberg. Vertreter des Neuen Forums seien meist die Initiatoren von Forderungen nach „Abschaffung der gesetzlich verankerten führenden Rolle der SED“ und nach freien Wahlen.463 Im Neuen Forum machte man sich unterdessen bereits Gedanken über die Zeit nach der SED. Bei einem Gesprächsabend am 9. November ging es um die kulturelle Entwicklung im Kreis. Durch eine Reduzierung der Ratsbereiche sollten freie Räume für Kulturveranstaltungen geschaffen werden.464 Stadt Dresden : Am 9. November bekundeten in Dresden 1 200 Personen, vorrangig SED - Mitglieder, vor der SED - Bezirksleitung ihre Unterstützung Modrows.465 Dresden - Land : Bei einer außerordentlichen Sitzung des Rates des Kreises Dresden - Land am 7. November erklärten 30 Abgeordnete des Kreistages aus SED, DBD und NDPD, mit der Politik der SED nicht mehr einverstanden zu sein. Die Abgeordneten dürften künftig nicht mehr von der SED geleitet werden. Eine Gruppe von Bürgermeistern des Schönfelder Hochlandes, meist mit CDU - Mandat, forderten den Rücktritt des Vorsitzenden des Rates des Kreises, G. Teuber, sowie mehrerer Stellvertreter.466 Am selben Tag ging es auch in Radebeul beim 3. Forum um ein gleichberechtigtes Mehrparteiensystem, eine Änderung des Reisegesetzes und um Fragen von Handel und Versorgung.467 Am 8. November fand in Wallroda eine Einwohnerversammlung mit Bürgermeister und Pfarrer statt,468 am 9. November folgte ein Forum im VEB Robotron - Elektronik Radeberg.469 460 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 8. und 9. 11. 1989. 461 BDVP Dresden vom 8. 11. 1989 : Lagebericht ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 172). 462 Vgl. KDfS Dippoldiswalde vom 8. 11. 1989 : Info ( ebd., Bl. 137). 463 SED - KL Dippoldiswalde Kreis vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553, Bl. 1–4). 464 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 11./12. 11. 1989. 465 MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21– 32). 466 Vgl. BVfS Dresden : Außerordentliche Sitzung des RdK Dresden - Land am 7. 11. 1989 (BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 164). 467 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 8. 10. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 8. 11. 1989. 468 Vgl. KDfS Dresden - Land vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 137). 469 Vgl. KDfS Dresden - Land vom 9. 11. 1989 : Ergänzung zur Lage ( ebd., Bl. 105).

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Freital : Am Abend des 8. November zog in Freital ein Demonstrationszug von bis zu 2 000 meist Jugendlichen durch die Stadt zum Platz des Friedens. Es wurden Losungen mitgeführt. In Sprechchören wurde der Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung und des Bürgermeisters gefordert. An einer abschließenden, vom Rat der Stadt organisierten Kundgebung nahmen bis zu 8 000 Personen teil. Neben Funktionären traten auch Vertreter der „Gruppe der 25“ „mit übelster Hetze gegen die SED“470 auf. Die meisten Redebeiträge richteten sich gegen SED und MfS. Die Reden der Funktionäre wurden durch Proteste unterbrochen. Nach der Kundgebung wurden vor dem Volkspolizeikreisamt und der MfS - Kreisdienststelle Kerzen abgestellt. Zur gleichen Zeit fand in Possendorf eine Demonstration von ca. 300 Personen statt. Hier wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Alle Macht dem Volke – aber nicht der SED“ mitgeführt.471 Görlitz : Bei einer Aussprache über kommunale und ökologische Probleme in Dittersbach beteiligten sich am 7. November 115 Personen.472 In Görlitz fand ein Dialogforum zu den Themen Handel, Versorgung und Dienstleistungen mit 1 000 Bürgern statt.473 Großenhain : Vom 8. bis 10. November fanden Bürgerforen in Großenhain, Rödern, Kalkreuth, Bieberach und Ponickau statt.474 Am 9. November demonstrierten in Großenhain 2 500 Personen. Es gab Sprechchöre gegen SED und MfS sowie Forderungen nach Reisefreiheit und Wiedervereinigung. Vor der SED - Kreisleitung wurden Kerzen abgestellt und ein Nebelreizkörper auf das Gelände geworfen. Die zunächst beabsichtigte Marschrichtung zum sowjetischen Flugplatz wurde von der Volkspolizei verhindert. Bei einer anschließenden Kundgebung wurde der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung ausgepfiffen und die Aufklärung von Korruption und Amtsmissbrauch gefordert. Noch während der Demonstration verkündeten die Medien den Fall der Berliner Mauer, woraufhin sich unmittelbar vor dem Volkspolizeikreisamt lange Schlangen bildeten, um sich ein Visum in den Personalausweis eintragen zu lassen.475 Kamenz: Am „Zweiten Kamenzer Bürgerforum“ mit Ratsmitgliedern der Stadt nahmen am 7. November nur noch wenige Personen teil.476 Einen Tag später protestierten in Neukirch etwa 900 Personen.477 In Königsbrück nahmen am 9. November 1000 Bürger an einem Forum teil. Gefordert wurde hier der Rücktritt des stellvertretenden Bürgermeisters und der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Ahrens, die Beseitigung eines Lagers der Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR und die Auflösung der Kampfgruppen. Es gab Proteste gegen das MfS.478 470 KDfS Freital vom 8. 11. 1989 ( ebd., Bl. 157 f.). 471 BDVP Dresden vom 8. 11. 1989 : Lagebericht ( ebd., Bl. 172); BVfS Dresden vom 8.– 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9186, Bl. 43–44). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 10. 11. 1989. 472 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 14. 11. 1989. 473 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 7. 11. 1989. 474 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 8. 11. 1989. 475 Vgl. ebd., vom 11./12. 11. 1989. 476 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 7. 11. 1989. 477 Vgl. MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46). 478 Vgl. SED - BL Dresden vom 9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 56).

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Löbau : Bei einer Einwohnerversammlung am 7. November in Löbau gab es Proteste gegen die SED und Diskussionen über kommunale Probleme.479 Am 8. November zogen 200 Personen protestierend von Ober - nach Niedercunnersdorf. Die Demonstranten trugen Plakate mit Forderungen nach Freiheit und der Lösung kommunaler Probleme.480 Am nächsten Tag fand in Cunewalde eine Bürgerversammlung statt.481 Meißen : In Meißen demonstrierten am 7. November 5 000 Personen. Auf Transparenten wurden ein Ende der SED - Alleinherrschaft, die Auflösung des MfS, der Rücktritt der Regierung, Reisefreiheit und die Zulassung des Neuen Forums gefordert. Auf einer anschließenden Kundgebung sprachen u. a. der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Bernd Schmidt, der Bürgermeister und der LDPD - Bezirksvorsitzende Joachim von Jagow. Während der Demonstration wurde durch eine „Regionale Vereinigung Neues Forum Meißen“ ein Sicherungssystem wirksam, um IM des MfS zu personifizieren. Es bestand in der Überwachung von Telefonzellen an der Demonstrationsstrecke und in deren Tiefe sowie der gedeckten Beobachtung der MfS - Kreisdienststelle.482 Niesky : Laut Stimmungsbericht war die Bevölkerung des Kreises hochgradig unzufrieden. Es gab Forderungen nach einem Ende der SED - Herrschaft, Zweifel am Erneuerungswillen und Kritik am MfS.483 Die Stimmung schlug sich auf Veranstaltungen wie der öffentlichen Volksvertretersitzung am 8. November in Niesky nieder, wo es Angriffe auf die SED - Kreisleitung und Proteste gegen Privilegien des MfS und von Funktionären gab. Auch der CDU - Kreissekretär forderte die Beseitigung der führenden Rolle der SED und freie Wahlen.484 Nach einem Gespräch des Bürgermeisters von Niesky mit Vertretern des Neuen Forums am 9. November gaben beide Seiten vor dem Rathaus Erklärungen ab. Der Bürgermeister legte ein Zehn - Punkte - Programm vor. Von den 1 500 Teilnehmern der Kundgebung, die in Rufen ein Ende von SED und MfS forderten, zogen ca. 300 meist Jugendliche in einem Schweigemarsch durch die Stadt, vorbei an der MfS - Kreisdienststelle und der SED - Kreisleitung. Vor der Wohnung des 1. Sekretärs gab es Rücktrittsforderungen.485 Das MfS meldete, auf allen Veranstaltungen am 9. November habe es „im Zusammenhang mit kommunal 479 Vgl. KDfS Löbau vom 8. 11. 1989 : Reaktionen ( ebd., LBV 10923, Bl. 1–4). 480 Vgl. KDfS Löbau vom 8. 11. 1989 : Info ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 166 f.); BDVP Dresden vom 8. 10. 1989 : Lagebericht ( ebd., Bl. 172). 481 Vgl. Niederschrift des Anrufs Cunewalde vom 11. 3. 1999, StV, Pfarrer Groß ( HAIT, StKa ). 482 SED - BL Dresden vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 73 f.); BVfS Dresden vom 7.–8. 11. 1989 : Lage ( ebd., XX 9186, Bl. 39–42); MfS, ZOS vom 7.–8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 49–56). Die Union, Ausgabe Meißen, vom 8. 11. 1989. 483 Vgl. KDfS Niesky vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 142–144). 484 Vgl. KDfS Niesky vom 8. 11. 1989 ( ebd., Bl. 137); BVfS Dresden, XX vom 8. 11. 1989 (ebd., Bl. 113–116). 485 Vgl. SED - KL Niesky vom 10. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553); SED - BL vom 9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 56); BVfS Dres-

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politischen Fragen heftige Angriffe gegenüber dem Partei - und Staatsapparat“ gegeben. Die führende Rolle der SED werde angezweifelt und die Absetzung von Funktionären verlangt. Forderungen beträfen freie Wahlen, eine Verbesserung der Versorgung ( Ende der Delikat - und Exquisitläden, hochwertige Konsumgüter auf Teilzahlung, billigere Strumpfhosen, Verkürzung der Wartezeiten bei Pkw, bessere Versorgung der Landgemeinden ), die Wahl zwischen Jugendweihe oder Konfirmation, die Abschaffung der Subventionen bei Grundnahrungsmitteln sowie der Vergünstigung für Berliner, den Bau von Feierabendheimen statt Ferienheimen für Privilegierte, eine Reduzierung der Parteiliteratur, Westfernsehen für alle und die Auflösung der SED - Grundorganisationen in den Betrieben. Solche Forderungen würden „mit starkem Beifall bedacht“.486 „Bewährte Genossen“ kritisierten die Zurückhaltung der SED - Kreisleitung. Es sei „höchste Zeit, in die Offensive zu gehen“. Wolle man warten, bis auch im Kreis „die Massen auf die Straße gehen ?“ Man werde „uns die Macht nehmen, [...] wenn wir anderen den Boden überlassen“.487 Pirna : Im Kreiskulturhaus von Pirna begrüßten am 7. November 500 Teilnehmer eines Forums den Regierungsrücktritt.488 In der Hospitalkirche stellte sich das Neue Forum vor.489 In der Klosterkirche nahmen an einem „Gebet für unser Land“ 1 000 Personen teil.490 In Dohna versammelten sich Hunderte auf dem Markt zu einem Forum über kommunale Probleme und Umweltschutz.491 An einem Forum in Heidenau nahmen 600 Personen teil. Hier wurden der Rat des Kreises und der Stadt zum Rücktritt aufgefordert sowie die Schließung des Supercordbetriebes im VEB Kunstseidenwerk Heidenau und des Werkes II Heidenau des VEB Zellstoffwerk Pirna verlangt.492 Sebnitz : Am 9. November demonstrierten in Sebnitz bis zu 5 000 meist jugendliche Personen durch den Stadtkern und am Rat des Kreises vorbei. Hier riefen sie in Sprechchören gegen Krenz und die SED. Auf zahlreichen Plakaten und Transparenten wurden freie Wahlen und Reisefreiheit gefordert. Anschließend fand eine vom Neuen Forum organisierte Kundgebung statt, bei der der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Helmut Geyer, durch Pfiffe und Rufe unterbrochen wurde. Die meisten Sprecher forderten ein Ende der SED - Herrschaft. Es gab heftige Angriffe auf das MfS. Ein Vertreter der CDU nannte die Führungsrolle der SED notwendig, woraufhin es Proteste hagelte. Vertreter des

486 487 488 489 490 491 492

den, XX vom 8. 11. 1989 ( ebd., 7002, 1, Bl. 113–116); VPKA Niesky : Rapport 35– 73/89, o. D. ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990; Abt. Stab, Referat / Sachgebiet DDH, Az. 1212); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 10., 11./12. und 14. 11. 1989. SED - BL Dresden vom 10. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). KDfS Niesky vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 142– 144). Vgl. BVfS Dresden vom 7.–8. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 39–42). Vgl. ebd., AKG 7002, 1. Vgl. BVfS Dresden vom 9.–10. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 46–48); SED - BL Dresden vom 10. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 7001, Bl. 39, 45). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 7. 11. 1989. Vgl. SED - BL Dresden vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 39, 45); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 14. 11. 1989.

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Neuen Forums riefen für den nächsten Tag zum Schweigemarsch in Neustadt auf und kündigten für den 16. November in Sebnitz die nächste Demonstration an.493 Am Abend zogen 80 Teilnehmer in einem Schweigemarsch von der evangelischen zur katholischen Kirche vorbei an der MfS - Kreisdienststelle. In Neustadt demonstrierten im Anschluss an einen Gottesdienst 250 Personen durch die Stadt. Es gab Sprechchöre gegen das MfS.494 Zittau : Nach Veranstaltungen in drei Zittauer Kirchen demonstrierten am 8. November auf Einladung des Neuen Forums etwa 9 000 Menschen. Vor öffentlichen Einrichtungen, Dienststellen des MfS, der Volkspolizei und der SED - Kreisleitung wurden Kerzen aufgestellt. Losungen und Transparente wandten sich gegen SED und MfS und forderten Demokratie.495 In den Kirchen waren Gedächtnisprotokolle zu Übergriffen der Sicherheitskräfte verlesen worden. In Protestresolutionen wurden die Untersuchung der Übergriffe und eine Bestrafung der Schuldigen gefordert. Dadurch wurde nach Meinung der SED Kreisleitung „der Hass breiter Bevölkerungsschichten gegenüber den Sicherheitsorganen weiter genährt“. Aber auch unter SED - Mitgliedern gebe es dazu Betroffenheit.496 Wohl typisch deutsch waren Leserbriefe, in denen die Demonstranten aufgefordert wurden, „die durch die aufgestellten Kerzen entstandenen Verunreinigungen auf Wegen und Mauern doch bitte zu beseitigen“. Immerhin gingen sie doch auch „für Sauberkeit“ auf die Straße.497 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : Nach einer Demonstration in Hoyerswerda am 7. November gab es ein Dialoggespräch auf dem Platz der Roten Armee. Plakate und Sprechchöre richteten sich gegen die führende Rolle der SED und die „Schutz - und Sicherheitsorgane“.498 In der ev. - luth. Kirche von Laubusch fanden in der ersten Novemberhälfte Gesprächs - und Diskussionsveranstaltungen statt, zu denen neben der Bevölkerung auch Betriebsleiter, Schulleiter und andere Staatsfunktionäre eingeladen wurden.499 Weißwasser : In Weißwasser versammelten sich am 7. November Tausende Bürger auf Einladung des Neuen Forums in und an der ev. - luth. Kirche. Die Teilnehmer forderten freie Wahlen, die Reduzierung des MfS und die Beseitigung von Privilegien für Funktionäre. Die führende Rolle der SED wurde in Frage gestellt. Anschließend demonstrierte ein langer Zug mit brennenden Kerzen, Transparenten und Sprechchören friedlich durch die Stadt.500 Am 8. Novem493 Vgl. KDfS Sebnitz : Demonstration des Neuen Forums am 9.11.1989 in Sebnitz ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 98–101); SED - KL Sebnitz vom 10. 11. 1989 : Lage (SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060). 494 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 10.–11. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 51 f.). 495 Vgl. ebd., AKG 7002, 1, Bl. 22, 72–77, 134–136; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 11./12. 11. 1989. 496 SED - KL Zittau vom 11. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 497 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 11./12. 10. 1989. 498 Vgl. BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 59. 499 Vgl. Chronologie der Wende – Zuarbeit der Gemeinde Laubusch ( HAIT, StKa ). 500 Vgl. BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 59; Lausitzer Rundschau vom 8. 11. 1989.

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ber tagten die neuen, für Bürger zugänglichen Arbeitsgruppen des Rates der Stadt, zu denen der Zulauf allerdings eher spärlich war.501 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Die SED - Bezirksleitung beriet am 7. November über die Fortsetzung des Dialogs. Dieser sollte noch stärker an die Ständigen Kommissionen der Volksvertretungen aller Ebenen gekoppelt werden und deren Vorsitzende als Leiter der Aussprachen in Erscheinung treten. Damit sollte signalisiert werden, dass „die SED gleichberechtigt, wie alle anderen befreundeten Parteien, an dieser Diskussion teilnimmt“. Vertreter des Neuen Forums sollten künftig zielgerichtet eingeladen und die Bürgerbewegung offiziell anerkannt werden.502 Das bedeute eine Fortführung der Strategie, den Protesten der Bevölkerung durch Einbindung in Strukturen des bisherigen Regimes die Dynamik zu nehmen. Dem MfS kamen in diesem Zusammenhang kaum Aufgaben zu. Warten war angesagt, was unter etlichen Mitarbeitern die Frage aufwarf, wie lange man noch warten müsse, „ehe man gegen sozialismus - feindliche Elemente vorgeht“. Man sei jedenfalls „bereit, alles zur Sicherung des Sozialismus in der DDR, unter Beachtung der eingeschlagenen Wende, zu unternehmen“.503 Während man hier also Bereitschaft signalisierte, auch gegen das Neue Forum „alles“ zu tun, kritisierte das Neue Forum Übergriffe und Drohungen gegenüber Mitarbeitern des MfS und der Volkspolizei. Nachdem z. B. VP - Angehörige, angeblich im Namen des Neuen Forums, Morddrohungen erhalten hatten, distanzierte sich der Sprecherrat des Neuen Forums im Bezirk Karl - Marx - Stadt ausdrücklich.504 Annaberg : Aus dem Kreis meldete das MfS am 7. November negative Reaktionen auf den Entwurf des Reisegesetzes. Als befremdlich würden die Beschränkungen über die Reisedauer und das umständliche Antrags - und Genehmigungsverfahren bezeichnet.505 In Oberwiesenthal und Crottendorf forderten die Einwohner, die MfS - Ferien - und Kurheime der Allgemeinheit zugänglich zu machen.506 Beim Bürgerforum am 9. November in Schlettau wurde Kritik an den Machtverhältnissen und sozialistischer Misswirtschaft geübt.507 Ähnlich sah es beim ersten Einwohnerforum in Königswalde aus, als die Medien plötzlich die Meldung über die Öffnung der Mauer brachten.508 501 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 10. und 11.11. 1989. 502 RdB Karl - Marx - Stadt, 1. Stellvertreter für Inneres an Vorsitzenden, Fichtner, vom 7. 11. 1989 über ein Gespräch in der SED - BL ( SächsStAC, BR / RdB, 128707). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 98). 503 Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989, Anlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 34–36). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 38. 504 Vgl. Wir sind das Volk 2, S. 84. 505 Vgl. KDfS Annaberg vom 7. 11. 1989 : Reaktionen zur Veröffentlichung des Reisegesetzes ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 76 f.). 506 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989, Anlage ( ebd. 438, Bl. 27); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 11. und 17. 11. 1989 ( ebd., Mappe Herbst 1989). 507 Vgl. Greifenhagen ( Bürgermeister ), Wende in Schlettau ( HAIT, StKa ). 508 Vgl. Die Zeit der Wende in Königswalde ( ebd.).

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Aue : Im Kreis Aue wurden nach MfS - Einschätzung bei Dialogveranstaltungen Anfang November „der SED und damit den anwesenden Funktionären die Schuld für die entstandene Krise“ gegeben. Die Diskussionen waren emotional und teilweise aggressiv. Sie waren auch aus Sicht der Bürger „Tribunale der Anklage gegen die SED“. Viele Mitglieder und etliche Funktionäre der Blockparteien machten sich zu Anklägern gegen die SED - Politik. Hauptforderungen waren freie Wahlen, ein Ende der Führung durch die SED, tiefgreifende Wirtschaftsreformen und eine kommunale Neuordnung.509 In Zwönitz gingen am 7. November 1 000 bis 2 000 meist Jugendliche auf die Straße. Zur Organisierung der Demonstration praktizierte die Volkspolizei mit den Veranstaltern „eine sogenannte Sicherheitspartnerschaft“.510 Hauptforderung war der Rücktritt von Krenz. „SED – das tut weh“ hallte es durch die Straßen. Vor dem Rathaus wurden Kerzen abgestellt und Sprechchöre gegen das MfS gerufen. Am 9. November luden die Stadtverordneten von Zwönitz die Einwohner zur Aussprache ein. Der Saal fasste die Teilnehmer nicht, Lautsprecher übertrugen die Reden nach außen. Im Zentrum standen Forderungen nach dem Ende der SEDFührungsrolle. Der SED - Sekretär erklärte, man habe die führende Rolle verloren „und das tut weh“. Deswegen forderte er „die Bestrafung der Genossen, die uns in diese Situation gebracht haben“. Bedauern also über die Demokratisierung und nicht etwa Freude kam hier zum Ausdruck. Ein Vertreter des Neuen Forums forderte die Ausarbeitung eines „Sofortprogramms zur Rettung unseres Landes“, freie Wahlen und die Auflösung der Kampfgruppen. Kurz vor Schluss wurde der Mauerfall bekannt gegeben. Jubel brach aus.511 Am selben Tag trat der Kreistag Aue zusammen. Die LDPD forderte den Rat auf, die Vertrauensfrage zu stellen, was dieser ablehnte. Es wurde beschlossen, dass die Ständigen Kommissionen öffentlich tagen und Ergebnisse von Bürgerforen und anderen Arbeitsgruppen einbeziehen sollten. Künftig, so der Tenor der Diskussion, dürfe keine Partei in Volksvertretungen mehr eine führende Rolle ausüben.512 Auerbach : Am 9. November schätzte der Vorsitzende des Rates des Kreises Auerbach ein, dass angesichts der „Erscheinungen der Auflösung der SED“ die staatlichen Organe kaum noch in der Lage seien, kommunale Aufgaben zu erfüllen. Es sei „nahezu unmöglich, konstruktiv mit den Volksvertretungen und den Räten zu arbeiten“. Deren Mitarbeiter begännen angesichts der Lage zu schwanken und drohten, den Staatsapparat zu verlassen.513 Beim 1. Rathausgespräch von Repräsentanten der SED, Blockparteien, des Rates des Kreises und der Nationalen Front mit Sprechern der Ende Oktober gegründeten Bürgerinitiative des Kreises Auerbach ( BIKA ) am 9. November versuchten die Vertreter des Regimes, die neuen Kräfte ins alte System zu locken. Besser als Demonstratio509 KDfS Aue vom 7. 11. 1989 : Berichterstattung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 3–5). 510 KDfS Aue vom 8. 11. 1989 : genehmigte Demonstration ( ebd. 2147, 2, Bl. 33 f.). 511 MfS, ZOS vom 7.–8. 11. 1989 Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 49–56). Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). 512 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 10. 11. 1989. 513 RdB Karl - Marx - Stadt vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAC, BT / RdB, 126409).

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nen ( zum Sturz des Regimes ) wäre es, wenn die Bürgerinitiative an konkreten Veränderungen des bisherigen Regimes mitarbeiten würde.514 Brand - Erbisdorf : Am 7. November fand in der ev. - luth. Kirche Brand - Erbisdorf ein Fürbittgottesdienst statt. 400 Personen diskutierten mit der Bürgermeisterin, stellten „provokatorische Anfragen zu Baukapazitäten“ und kritisierten das Gesundheitswesen. Es gab Forderungen nach Räumen für das Neue Forum. Bei Bekanntgabe des Rücktritts der Regierung gab es starken Beifall. Forderungen nach Auflösung des MfS und des „braunen Gesindels“ der Kampfgruppen ernteten ebenfalls Beifall. Es wurde eine Erklärung des CDU - Kreisvorstandes verlesen, in dem ein Ende der Führungsrolle der SED gefordert wurde.515 Auch bei einem Einwohnerforum in Sayda unter Teilnahme des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Horst Schmidt, gab es Forderungen nach Abschaffung des MfS und dem Ende der führenden Rolle der SED.516 In Clausnitz kam es nach einem Einwohnerforum zu einer Demonstration von ca. 400 Personen. Sie trugen brennende Kerzen und Fackeln, forderten die Absetzung des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, ein Ende der SED - Herrschaft und die Abschaffung des MfS. Auch in Dorfchemnitz gab es nach dem Aushang eines Aufrufs, der von Kirchenvertretern und Kreisfunktionären unterzeichnet war und um Bewahrung der Ruhe bat,517 Meinungsäußerungen gegen Funktionäre des Kreises.518 Ebenso sah es beim Einwohnerforum in Cämmerswalde aus. Die Kreisfunktionäre hätten in der Vergangenheit „Andersdenkende“ unterdrückt, weshalb der Aufruf eine Farce sei.519 Auch in Friedebach, Lichtenberg und Mulda gab es Angriffe auf SED und MfS.520 In Frauenstein beteiligten sich am 9. November 400–600 Personen an einem Forum mit Vertretern des Rates des Kreises und der Stadt. Auch hier gab es Proteste gegen die SED und das MfS. Man brauche, so hieß es unter starkem Beifall, „kein Organ, welches das Volk kontrolliert“. Die Spitzel müssten enttarnt werden.521 Flöha : Das MfS berichtete am 7. November, die ablehnende Haltung zur SED werde immer stärker, und die Bereitschaft zu Demonstrationen wachse. „Positiv eingestellte Personen“ bezweifelten, „dass die SED die verloren gegangene Macht wieder erringen werde“. Führende Funktionäre des Kreises und Angehörige der Volkspolizei glaubten, „dass keinerlei Konzept zur Führung der Massen vorliege“, was unter SED - Mitgliedern zu Passivität führe und die Situation weiter anheize. Von der Partei - und Staatsführung unter Krenz werde der Ernst 514 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 9. 11. 1989. 515 KDfS Brand - Erbisdorf : Fürbittgottesdienst am 7. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 19 f.). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 15– 18); KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 2147, 1, Bl. 175). 516 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 1807, Bl. 15–18). 517 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 7. 11. 1989. 518 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 7. und 8. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 15–18, 23–26). 519 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 1, Bl. 6 f.). 520 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd. 2147, 1, Bl. 175). 521 StV Frauenstein, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ).

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der Lage „offensichtlich nicht erkannt“.522 Nun wurde die MfS - Einschätzung von Tag zu Tag düsterer. Die SED werde überall offensiv angegriffen, die Partei habe das Vertrauen der Bevölkerung verloren, wer die SED verteidige, werde „nicht mehr anerkannt“. Auch zahlreiche Volkspolizei - Angehörige machten die SED - Führung samt ihrem Entwurf eines Reisegesetzes für die Lage „voll verantwortlich“. Verbunden damit wurde ein „massenhafter Austritt aus der Volkspolizei“ angekündigt, wenn nicht auch die Polizisten künftig in den Westen fahren dürften. Demonstrationen gab es im Kreis noch nicht, allerdings fand die Volkspolizei in Augustusburg Handzettel des Neuen Forums, auf denen zu einer Veranstaltung in der Stadtkirche eingeladen wurde. In Oederan wurde per „Flüsterpropaganda“ zur Demonstration am 10. November aufgerufen.523 Freiberg : Im Kreis Freiberg konstatierte das MfS einen „Vertrauensbruch der Führung der SED zum Volk“; eine Formulierung, die an Brechts Interpretation des 17. Juni 1953 erinnerte.524 Gemeint war es wohl umgekehrt. Es gab am 7. November verstärkt Forderungen nach einem Rücktritt des Politbüros und der Regierung sowie nach Zulassung des Neuen Forums.525 Am 8. November demonstrierten in Freiberg etwa 8 000 Menschen gegen die SED.526 Das MfS meinte, das Volk glaube nicht an die „Wende“, und der Führungsanspruch der SED „sei außerdem dahin“.527 Glauchau : In Glauchau trat am 9. November der Kreistag zusammen, um über die Lage zu beraten. Im Kreis fanden verschiedene Foren statt, auf denen die Bevölkerung gegen die SED - Politik protestierte.528 Hainichen : Am 9. November besuchten etwa 3 500 Personen eine Veranstaltung in der ev. - luth. Stadtkirche Mittweida. Vertreter des Neuen Forums und des DA stellten sich vor. Die Nachricht von der Maueröffnung in Berlin löste sowohl Jubel als auch Proteste aus.529 Nach der Veranstaltung zog ein Demonstrationszug von ca. 800 Personen an der Ortsleitung der SED, der Volkspolizei und am Rathaus vorbei, wo jeweils brennende Kerzen abgestellt wurden.530 Hohenstein - Ernstthal : Am 7. November fand in Oberlungwitz ein Forum mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Norbert Kertscher, statt.531 Hier wie bei 522 KDfS Flöha vom 7. 11. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 56). 523 KDfS Flöha vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 51–54). 524 Bertolt Brecht, Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes ? In : Die Lösung ( Gedicht, Buckower Elegien ). 525 Vgl. KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 6– 8). 526 Vgl. MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46). 527 KDfS Freiberg vom 8. 11. 1989 : Lageeinschätzung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 4 f.). 528 Vgl. StV Glauchau, Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ). 529 Christoph Körner, Pfarrer in Mittweida, Erinnerungen an die Zeit der Runden Tische im Kreis Hainichen und in der DDR ( PB Christoph Körner ); Gisela Dietz, Ereignisse der Wendezeit in Mittweida und im ehemaligen Kreis Hainichen ( ebd.). 530 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21–32). 531 Vgl. Ereignisse der politischen Wende in Oberlungwitz ( HAIT, Hoh I 4).

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vergleichbaren Dialogforen hatte das MfS den Eindruck, die dort auftretenden Funktionäre seien „nicht sachkundig“ sowie „unfähig und nicht flexibel genug“, auf „provozierende Fragen zu reagieren“.532 In der Bevölkerung gebe es mit Blick auf das Politbüro Zweifel, ob „mit diesem Apparat die Wende vollzogen werden“ könne. Die SED habe „ihren Machtanspruch verspielt“. Jetzt gelte es, dafür zu sorgen, „dass nie wieder eine Partei ( auch keine Blockpartei ) solche Machtbefugnisse erhält“. Daher werde generell eine umfassende Demokratisierung verlangt. Endgültig Schluss müsse auch mit der Behauptung sein, die SED habe die Wende herbeigeführt. Es sei das Volk gewesen.533 Karl - Marx - Stadt - Land : Am 8. November demonstrierten in Limbach - Oberfrohna 16 000 Personen für freie Wahlen und freies Reisen. An einer Kundgebung beteiligten sich ca. 20 000 Personen.534 In Röhrsdorf gingen am 9. November 500 Menschen auf die Straße.535 Klingenthal : Am 8. November wurde in der Bezirksverwaltung des MfS darüber informiert, dass eine Demonstration in Klingenthal die dortige MfS - Kreisdienststelle zum Ziel gehabt habe.536 In Markneukirchen demonstrierten an diesem Tag 6 000 Personen. Es wurden Plakate mit Losungen wie „Wasserleitung statt Kreisleitung“ und „Volksentscheid statt Fluchtentscheid“ gerufen. Danach begaben sich die Demonstranten in die Kirche. Hier griffen die meisten Redner die führende Rolle der SED an. Nach einer Kirchenveranstaltung demonstrierten in Schöneck rund 1 000 Personen. Beim Einwohnerforum in Tannenbergsthal stellten die Bürger an diesem Tag die Einheitslistenwahlen in Frage und forderten ein neues Wahlgesetz.537 Bei einer Kreistagssitzung wurde am 8. November ein Antrag auf Auflösung bei sieben Gegenstimmen und sechs Enthaltungen abgelehnt. Die meisten Abgeordneten sprachen dem Rat des Kreises das Vertrauen aus. Beschlossen wurde die Bildung einer Untersuchungskommission zur Aufklärung von Amtsmissbrauch. Ein Vorschlag der CDU, Fraktionen zu bilden, wurde an den Demokratischen Block weitergereicht.538 Marienberg : Die Stadtverordnetenversammlung Marienberg beschloss am 9. November u. a. die Bildung einer Untersuchungskommission für Pflichtverletzungen der Partei - und Staatsorgane sowie Gespräche des Rates der Stadt mit dem Neuen Forum zwecks Beteiligung an der Kommissionsarbeit.539 Der Rat 532 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 9–11). 533 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9. 11. 1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 7 f.). 534 Vgl. MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46); Schnurrbusch, Herbst 1989, S. 44. 535 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21–32). 536 Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 3–5). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 35. 537 Vgl. Info zu den Demonstrationen in Markneukirchen und Schöneck, o. D. ( HAIT, Mark- F7); MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38– 46); Einwohnerforum der Gemeinde Tannenbergsthal, o. D. ( HAIT, StKa ). 538 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 11. 11. 1989. 539 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 14. 11. 1989.

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des Kreises stellte ein Arbeitspapier vor, in dem die führende Rolle der SED als „nicht mehr praktikabel“ bezeichnet und die Mitwirkung von Mitgliedern des Neuen Forums, eine Kreisreform sowie freie Kommunalwahlen, Meinungs - und Weltanschauungspluralismus im Schulsystem sowie die Veröffentlichung von Umweltdaten gefordert wurden. In Lengefeld demonstrierten am 9. November 3 000 Personen.540 Oelsnitz : Der Unmut gegen die SED, so das MfS am 7. November, werde immer größer. „Von unserer Partei“ ginge „keinerlei Initiative“ aus. Im Kreis merke „man nichts mehr von der SED“. Von der Kreisstadt bis nach Schönberg befinde sich „die Initiative in den Händen verschiedener Gruppierungen und der Kirche“.541 Bei einer Demonstration in Oelsnitz gab es nach Darstellung des MfS an diesem Tag sogar Gewaltandrohungen wie : „Rote müssen weg“ – „erschießen und aufhängen“. Das MfS erhielt Informationen, wonach mit Brandstiftungen gegen Kreisdienststellen und Wehrkreiskommandos zu rechnen sei.542 Am 8. November wandte sich der Vorsitzende des Rates des Kreises, Helmut Lachmann, in einem Schreiben an die Bürger und sprach sich gegen Demonstrationen wie in Oelsnitz aus. Das Neue Forum teilte mit, die führenden Funktionäre von Partei und Stadt seien nicht länger bereit, sich im Rahmen öffentlicher Foren der Diskussion zu stellen.543 Am 9. November gab es in Oelsnitz zwei Demonstrationen mit Forderungen nach Bestrafung von Funktionären. Am selben Tag demonstrierten nach einer Kirchenveranstaltung in Adorf 2 500 Menschen gegen die Führungsrolle der SED.544 In Bad Elster gingen 250 Personen auf die Straße. Sie stellten am Genesungsheim des MfS „Glück auf“ und am ZKHeim „Haus am See“ Kerzen ab.545 In Olbernhau demonstrierten 2 000 Menschen. Gleichzeitig rief das Neue Forum zur Demonstration in Marienberg auf. Hier sprachen Vertreter von Blockparteien und des Neuen Forums über die SED, die als unglaubwürdig eingeschätzt und deren Entmachtung gefordert wurde.546 Stadt Plauen : Die Stadtverordnetenversammlung Plauen stimmte am 9. November in geheimer Wahl über die Mitglieder des Rates der Stadt ab. Von 19 wurde nur einer nicht bestätigt. Vor allem Vertreter der LDPD drängten wegen Wahlmanipulation auf einen freiwilligen Rücktritt des Oberbürgermeisters und des Sekretärs des Rates. Zuvor wurde ein Brief des Neuen Forums mit Zweifeln an der Gültigkeit der Kommunalwahl verlesen.547 540 Vgl. ebd., vom 11. und 15. 11. 1989. 541 KDfS Oelsnitz vom 7. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 539, Bl. 2). 542 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Lage in den Grenzkreisen Plauen / Oelsnitz ( ebd. 2147, 1, Bl. 86–88). 543 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 8. 11. 1989. 544 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 155 f.); MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21–32). 545 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 132 f.); VPKA Plauen vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAC, VPKA Plauen, 1100, Bl. 19). 546 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 11. 11. 1989. 547 Vgl. KDfS Plauen : Stadtverordnetenversammlung in Plauen am 9. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 540, 1, Bl. 233); Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 11. 11. 1989.

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Reichenbach : Beim Dialog in Reichenbach am 7. November war die Stimmung „sehr gereizt“.548 Es ging um den Wahlbetrug im Mai und einen vom Neuen Forum geforderten Volksentscheid. Gefordert wurde der Rücktritt des Vorsitzenden des FDGB - Kreisvorstandes.549 Das MfS fasste die Lage bei allen Foren so zusammen : Überall gebe es im Wesentlichen Forderungen nach einem Ende des Führungsanspruchs der SED und der Ablösung von Funktionären im Partei - und Staatsapparat. Das MfS werde als „Angst - und Machtinstrument der SED“ angegriffen, kritisiert werde „die zum Teil noch spürbare Arroganz und Ignoranz“ der Funktionäre. Die Nichtzulassung des Neuen Forums werde als „Hinhaltetaktik der Partei“ und der sachliche Umgang des Neuen Forums mit der SED und Staatsorganen umgekehrt „als Anbiederung aufgefasst“. Spürbar sei die „Zunahme aggressiver Tonart“.550 In Reichenbach demonstrierten am 8. November nach einem Friedensgebet in der ev. - luth. Peter - Paul - Kirche 7 000 Personen mit Sprechchören und Parolen wie „Knüppeltreiber raus – euer Spiel ist aus“ oder „SED – das tut weh“ an der SED - Kreisleitung vorbei. Rund 1 000 Personen zogen zur MfS - Kreisdienststelle, riefen Losungen und stellten Kerzen ab.551 Rochlitz : Bei Foren am 7. November ging es um die Führungsrolle der SED, freie Wahlen, Reisefreiheit, den Rücktritt der Regierung, die Zulassung oppositioneller Gruppen, Wirtschaftsreformen und das MfS. Mit Bedauern berichtete die MfS - Kreisdienststelle, „konstruktive Vorschläge und Gedanken“, wie von der SED geplant, seien „noch nicht zum Hauptinhalt des Dialogs geworden“. In der 10. Tagung sah das MfS die „allerletzte Chance“ der SED.552 In Penig demonstrierten am 7. November 700 Personen. Ein Redner vom Rat des Kreises forderte, den Dialog konstruktiv und friedlich weiterzuführen. Die Bürgerinitiativen wurden aufgefordert, „im Sinne der eingeleiteten Wende“ mitzuarbeiten. Die Antwort waren Sprechchöre wie „SED, das tut weh“ oder „Wir sind das Volk“.553 Das MfS konstatierte, es falle den Funktionären schwer, sich zu positionieren. Die Bürger würden auf allen Ebenen personelle Konsequenzen fordern.554 So war es auch beim Forum in Rochlitz am 9. November. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Horst Scheinfuß, forderte, alle gesellschaftlichen Kräfte müssten „an einen Tisch“, einschließlich des Neuen Forums.555 548 549 550 551

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KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 130, Bl. 5 f.). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 8. 11. 1989. KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, RB 231, Bl. 3–9). Vgl. KDfS Reichenbach vom 8. 11. 1989 : Lagefilm / Demonstration ( ebd. 130, Bl. 1 f.); KDfS Reichenbach : Veranstaltungsmeldung, o. D. ( ebd., AKG 2147, 2, Bl. 171); MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 10. 11. 1989. KDfS Rochlitz vom 7. 11. 1989 : Info IMS „Bruno Gerber“ zur Beratung des Kreisvorstandes der LDPD am 6. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1817, Bl. 1–3). MfS, ZOS vom 7.–8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 49–56). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 10. 11. 1989. Vgl. KDfS Rochlitz vom 7. 11. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1817). Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 9. und 11. 11. 1989.

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Schwarzenberg : In Johanngeorgenstadt bestanden die Einwohner darauf, dass die MfS - Ferien - und Kurheime der Allgemeinheit zugänglich sein sollten.556 Stollberg : Bei einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration in Thalheim forderten am 8. November 3 500 Personen freie Wahlen, Reisefreiheit, mehr Umweltschutz und stellten die Führungsrolle der SED in Frage. Am Rathaus wurden brennende Kerzen abgestellt. In Stollberg nahmen an einem Einwohnerforum auf dem Marktplatz 1 200 Personen teil.557 Die Stadtverordnetenversammlung Stollberg versuchte sich am 9. November in Demokratie. Ein Mitglied der LDPD sollte die Leitung übernehmen, stellte sich aber als ungeeignet heraus.558 Werdau : Als Hauptforderungen der Bevölkerung registrierte das MfS hier freie Wahlen, ein Ende der SED - Herrschaft, die Abschaffung des MfS und der Kampfgruppen sowie Informationen über das Neue Forum.559 In der „Freien Presse“ rief der Rat des Kreises am 9. November zur Teilnahme an Ständigen Kommissionen des Kreistages auf. Zwei Tage später wurde darüber informiert, dass 37 Mitarbeiter des Rates für Arbeiten im Gesundheitswesen, Kraftverkehr und Handel abgestellt worden seien. Auch Mitarbeiter der SED - Kreisleitung würden zeitweilig in sensiblen Bereichen eingesetzt.560 Zschopau : In Zschopau registrierte das MfS am 7. November „zunehmende Unruhe“ der Bevölkerung über die „Sprachlosigkeit“ der Regierung, der Volkskammer und anderer Gremien. Man interpretierte dies als eine Art „Hinhaltetaktik“ zur „Beruhigung der Massen“. Die Demonstrationen zeigten eine Zunahme bei der Beteiligung und immer konkretere Forderungen nach freien Wahlen, einer besseren Versorgung, mehr Umweltschutz, mehr Reisefreiheit, einer Reduzierung des Verwaltungsapparates, der Zulassung des Neuen Forums „bis hin zur Abschaffung des MfS und der Kampfgruppen“. Nach Meinung des Leiters des Wehrkreiskommandos Zschopau würde es „nicht mehr lange dauern, bis evtl. die Waffen sprechen“. Eine Zuspitzung der Lage sei unvermeidlich.561 In Zschopau demonstrierten am 7. November 30 Jugendliche. Am Zschopauer Rathausgespräch beteiligten sich ca. 2 000 Teilnehmer. In Ehrenfriedersdorf gingen 250 Menschen für demokratische Veränderungen auf die Straße. In Krumhermersdorf gab es ein Gesprächsforum.562 An den nächsten Tagen folgten Foren in Scharfenstein, Hohndorf und Witzschdorf.563 Nach der 556 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 27); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 11. und 17. 11. 1989 ( ebd., Mappe Herbst 1989). 557 Vgl. KDfS Stollberg vom 8. 11. 1989 : Info über den am 8. 11. 1989 in Thalheim durchgeführten Schweigemarsch des Neuen Forums ( ebd., AKG 2174, 2, Bl. 10); MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46). 558 Vgl. KDfS Stollberg vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 10). 559 Vgl. KDfS Werdau vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 679, Bl. 2–4). 560 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 11. 11. 1989. 561 KDfS Zschopau vom 7. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 2, Bl. 201– 204). 562 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 7. 11. 1989. 563 Vgl. Sachsen 1989 ( HAIT, StKa, PB Matthias Zwarg ).

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Sitzung des Politbüros war am 9. November in der Bevölkerung die Rede von einem „vorläufigen“ Politbüro. Der Vorschlag, Modrow zum Vorsitzenden des Ministerrates zu machen, fand Zustimmung.564 Der Kreistag beschloss ein Aktionsprogramm, die Bildung von Fraktionen und ein gleichberechtigtes Miteinander aller Parteien. Ein CDU - Sprecher kündigte an, man werde sich mit einer eigenständigen, unabhängigen Politik in den Block einbringen. Ein Sprecher des Neuen Forums forderte, statt Sündenböcke für die entstandene Lage zu suchen, eine gesamtgesellschaftliche Übereinkunft zu erreichen.565 Stadt Zwickau : Vor der Stadtverordnetenversammlung forderten Gastredner des Neuen Forums den Rat am 9. November auf, die Vertrauensfrage zu stellen, was die Versammlung mehrheitlich ablehnte.566 Am Abend demonstrierten in Zwickau 3 000 Menschen.567 Bezirk Leipzig : Am 7. November beriet der Bezirkstag Leipzig die Lage. Ratsvorsitzender Rolf Opitz forderte von den Abgeordneten „eine klare Haltung für die grundlegende Erneuerung des Sozialismus in unserem Lande“. Er kündigte die Zulassung des Neuen Forums an und übte Selbstkritik an der Arbeit des Rates. Nach dem Stellen der Vertrauensfrage wurde er im Amt bestätigt. LDPD und CDU bildeten eigenständige Fraktionen. Es wurde eine Vorschlagskommission beschlossen und die Mitarbeit von Vertretern kirchlicher Basisgruppen und des Neuen Forums als erwünscht bezeichnet.568 Die SED - Bezirksleitung berichtete von Forderungen in den Kreisen nach dem Abtreten der gesamten Sekretariate in mehreren Kreisen und einem Ende hauptamtlicher Parteisekretäre in den Betrieben.569 Altenburg : Der Kreistag Altenburg beschloss am 7. November die Bildung einer Vorschlagskommission unter Einbeziehung von Bürgern. Der Rat unterstützte den Vorschlag von NDPD und LDPD zur Bildung von Fraktionen sowie die Forderung nach Gleichheit aller Parteien, der Wahl unter mehreren Kandidaten und Programmen sowie freie Wahlen.570 Nach einer öffentlichen Stadtverordnetenversammlung in Meuselwitz fand ein Dialog statt.571 Am 564 KDfS Zschopau vom 9. 11. 1989 : Stellungnahmen zur Wahl des Politbüros am 8. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 2, Bl. 199). 565 Vgl. Gemeindeverwaltung Großolbersdorf ( HAIT, StKa, PB Matthias Zwarg ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 10. 11. 1989. 566 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 10. 11. 1989. 567 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 287). 568 Vgl. Rolf Opitz, Referat in der außerordentlichen Sitzung des BT Leipzig am 7. 11. 1989 ( SächsStAL, BT / RdB, 19046); BT Leipzig vom 7. 11. 1989 : Beschluss 62/ IX /89 ( ebd., 19046); Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 9. 11. 1989 ( ebd., 18656); Instrukteurabteilung : Info über meine Teilnahme an der Tagung des BT Leipzig am 7. 11. 1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46149, Bl. 10); Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 8. und 10. 11. 1989; Sächsisches Tageblatt vom 8. 11. 1989. 569 Vgl. SED - BL vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139). 570 Vgl. 3. Sitzung des KT Altenburg am 7. 11. 1989 ( KA Altenburg, RdK ABG, KT 1772); Standpunkt des RdK zur Sitzung des KT am 7. 11. 1989 ( ebd. 1768); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 10. 11. 1989. 571 Vgl. SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 236.

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9. November demonstrierten nach einem Fürbittgottesdienst in Lucka rund 500 Personen.572 Borna : Im Kreis Borna wurde am 8. November nach dem Rücktritt der Regierung und von Teilen des Politbüros „mit Nachdruck“ auch noch eine Bestrafung korrupter Funktionäre gefordert.573 Unmut erzeugte die Behauptung von Krenz, das Politbüro habe die Wende eingeleitet. Das sei nicht wahr, denn die Wende sei „durch die Demos auf der Straße erzwungen“ worden.574 Am 7. November kam es in Kitzscher zu einer vom LDPD - Ortsvorstand organisierten Demonstration mit rund 1 000 Teilnehmern. Mitglieder des Rates der Stadt Kitzscher stellten sich den Fragen der Bürger. Am nächsten Tag demonstrierten hier erneut 3 000 Menschen für freie Wahlen und Demokratie. Mit Losungen und brennenden Kerzen gingen die Demonstranten zum Rat der Stadt.575 In Sprechchören wurden „demagogisch“ freie Wahlen, die Auflösung von SED und MfS, die Zulassung des Neuen Forums und der Rücktritt der Bürgermeisterin gefordert. In Regis - Breitingen demonstrierten am 8. November 800 Personen zum Braunkohlewerk für einen besseren Umweltschutz.576 In Pegau fand nach einer Veranstaltung in der Stadtkirche eine Demonstration von ca. 500 meist jüngeren Menschen zum Rathaus statt. Es gab Forderungen nach Gesprächen mit der Bürgermeisterin und Losungen gegen SED und MfS.577 Beim Rathausgespräch in Borna ging es am 9. November um Fragen der Versorgung. Die Zulassung des Neuen Forums wurde begrüßt und weitere Demonstrationen angekündigt.578 Delitzsch : Im Kreis Delitzsch sprach die Bevölkerung auf Dialogforen dem 1. und 2. Sekretär der SED - Kreisleitung das Vertrauen ab.579 Am 9. November gab es ein Treffen über gesellschaftliche Veränderungen im Gemeindehaus mit Superintendent Heinrich Behr. Neue Gruppen stellten sich vor, und es wurde über die Demonstrationen beraten. Das Neue Forum übernahm die Organisation einer Demonstration am 13. November samt Ordnungsgruppe.580 Döbeln : Im Kreis Döbeln forderte die Bevölkerung den Rücktritt des gesamten Sekretariats der SED - Kreisleitung.581 Am 7. November fand in der überfüll572 Vgl. BDVP Leipzig vom 9.–10. 11. 1989 : Lagefilm ( ebd., BDVP Leipzig, 1450/1); ebd., SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 242. 573 SED - KL Borna vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED Leipzig, 886, Bl. 114 f.). 574 SED - KL Borna vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 112 f.). 575 Vgl. MfS, ZOS vom 8.–9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 38–46); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 10. 11. 1989. 576 SED - KL Borna vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 116–118). 577 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21–32). 578 Vgl. SED - KL Borna vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 116– 118). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 11./12. 11. 1989. 579 Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139). 580 Vgl. Protokoll des Treffens zur gesellschaftlichen Veränderung bereiter Delitzscher vom 9. 11. 1989 ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). 581 Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139, 141).

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ten Kirche von Gersdorf eine Veranstaltung des Neuen Forums statt.582 Auch in Roßwein gab es an diesem Tag in der Kirche ein Bürgergespräch mit Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums. Der CDU - Kreisvorsitzende, Otto Beck, erklärte, er erkenne die führende Rolle der SED nicht länger an.583 In Mochau diskutierten Vertreter des Neuen Forums und des Rates des Kreises.584 Eilenburg : In Eilenburg fand am 8. November nach einer Zusammenkunft in der Nikolaikirche eine vom Neuen Forum vorbereitete und von der Polizei genehmigte Demonstration statt, an der sich bis zu 8 000 Menschen beteiligten. Der Zug bewegte sich zur SED - Kreisleitung, zur Kreisdienststelle des MfS und zum Volkspolizeikreisamt. Mitgeführte Transparente richteten sich gegen die SED, die Grenzsicherung, die Kampfgruppen sowie gegen einzelne Kreisfunktionäre. Auf eine Kundgebung wandten sich Sprecher des Neuen Forums gegen die führende Rolle der SED und warnten vor einem Machtvakuum im Lande. Der Auftritt der Ratsvorsitzenden, Anita Donath, wurde von Pfiffen, Buhrufen und der Forderung zum Abtreten begleitet.585 Geithain : Am 7. November beteiligten sich an einer Kundgebung und Demonstration in Geithain für freie Wahlen, Demokratie, die Aufgabe des Führungsanspruchs der SED und ein neues Reisegesetz 2 000 Personen. In KohrenSahlis nahmen 500 Menschen an einem Dialog mit Vertretern des Rates der Stadt und des Kreises teil und forderten das Ende des Führungsanspruchs der SED.586 Am nächsten Tag folgte eine Sitzung des Kreistages. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Lutz Helm, forderte eine grundlegende Erneuerung des Sozialismus, der künftig durch die Volkssouveränität verkörpert werden solle. So werde auch der Staatsapparat das Vertrauen der Bevölkerung wiedererlangen.587 In Frohburg demonstrierten an diesem Tag 250 Personen, meist Schüler der 9. und 10. Klassen mit ihren Lehrern. Sie riefen „Nieder mit der SED“, „Nieder mit der Mauer“, „Wir fordern Wahlen“ und stellten vor dem Rat der Stadt Kerzen ab. In Bad Lausick gingen rund 1 000 Personen auf die Straße. Transparente sprachen sich gegen Funktionäre, für Reformen, Reisezahlungsmittel und freie Wahlen aus.588 Nach einer Kundgebung mit 2 000 Bürgern auf 582 Vgl. Gemeindeverwaltung Gersdorf an Staatskanzlei vom 25. 3. 1999 ( HAIT, Döbeln B2). 583 Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 139, 141); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 9. 11. 1989. 584 Vgl. ebd., vom 10. 11. 1989. 585 Vgl. Neues Forum : Rede auf dem Marktplatz in Eilenburg am 8. 11. 1989 ( ABL, H. 16); KDfS Eilenburg vom 8. 11. 1989 : Lagefilm ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg 146, Bl. 1); Neues Forum an VPKA Eilenburg vom 9. 11. 1989 ( ebd. 116, Bl. 1); SED - BL Leipzig vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 145); P. Bruck an den Bürgermeister von Eilenburg, o. D. ( HAIT, Eilenburg, A5.3); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 10. 11. 1989. 586 Vgl. VPKA Geithain vom 7.–8. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 568); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 9. und 11./12. 11. 1989. 587 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 10. und 17. 11. 1989. 588 Vgl. VPKA Geithain vom 8.–9. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 570); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 43.

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dem Markt in Geithain bildete sich ein Demonstrationszug zum Rat des Kreises und zur MfS - Kreisdienststelle. Vor beiden Objekten wurden Kerzen abgestellt. Der Pfarrer und weitere Personen bildeten ein loses Spalier zur Abwendung von Ausschreitungen. Dennoch wurden Silvesterknallkörper auf das Gebäude der MfS - Kreisdienststelle geworfen.589 In Kohren - Sahlis zog ein Demonstrationszug mit Plakaten gegen SED und MfS zum Rathaus.590 Grimma : Beim Dialog in Grimma mit dem 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Manfred Hohe, und anderen führenden Kreisfunktionären am 7. November meinten Teilnehmer, die Bürger hätten das Vertrauen in Partei und Staat verloren. Es müsse künftig eine andere SED geben, denn mit der bisherigen werde man „die Wende nicht vollziehen“.591 Am nächsten Tag fanden in einigen anderen Orten Einwohnerversammlungen statt. Auch in Mutzschen war die Stimmung aufgeladen. Es ging um Missstände im Ort. Der Pfarrer wandte sich gegen die ideologische Beeinflussung in der Schule und forderte eine freie Entscheidung zwischen Konfirmation und Jugendweihe. Das Unrecht der SED - Herrschaft wurde mit „Verbrechen der Faschisten“ gleichgesetzt.592 Hier wie in Großbothen blieb es trotz Verärgerung aber bei verbaler Gewalt.593 Stadt Leipzig : In Leipzig demonstrierten am 9. November 3 500 Personen.594 Kreis Leipzig : In Markranstädt fand auf Einladung des Bürgermeister am 8. November eine öffentliche Einwohnerversammlung statt, bei der intensiv Kritik an der Situation in der Stadt geübt wurde. Die Einwohner führten keine eigenen Demonstrationen durch, sondern beteiligten sich an denen im Leipziger Zentrum.595 Oschatz : Die Oschatzer Blockparteien teilten dem Vorsitzenden des Rates des Kreises ab dem 8. November mit, dass sie künftig im Kreistag eigene Fraktionen bilden würden.596 Der Rat des Kreises beschloss in einem Aktionsprogramm, der Bevölkerung konkrete Themen im Dialog anzubieten. Kupke schlug dem Rat vor, einzelne Dialoge zu verschiedenen Themen zu führen und diese nicht mehr an die Friedensgebete zu binden. Dass der damit verbundene Versuch, die Massenveranstaltung zu vereinzeln und die thematische Deutungshoheit wieder in die Verantwortung des SED - gelenkten Rates zu legen, nicht gelingen würde, machte das Treffen der Gruppe am 8. November deutlich, mit der Kupke die Veranstaltungen in der Kirche vorbereitete und auswertete. Am 9. November wurde Karl - Heinz Buschmann von seiner Funktion als 1. Sekretär der SED - Kreisleitung entbunden. Von der Bevölkerung war ihm zuvor Machtmissbrauch beim Bau eines Bungalows am Collm vorgeworfen worden. 589 590 591 592 593 594

Vgl. SED - BL Leipzig vom 8. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 141). Vgl. BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 53. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 7. 11. 1989. Schmidt, 5 Jahre einer 450 - jährigen Stadt, S. 3 f. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 24. 11. 1989. MfS, HA XXII, ZOS vom 9.–10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21– 32). 595 Vgl. Woitschek, Vom Runden Tisch Markranstädts, S. 35 f. 596 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 78–80.

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Mit der Absetzung Buschmanns reagierte die SED - Kreisleitung auch auf Vorwürfe aus der Bevölkerung, dieser sei feudalabsolutistisch aufgetreten. Mit ihm traten auch weitere Sekretäre zurück. An Buschmanns Stelle trat der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises für Inneres, Karl - Heinz Becker. Schmölln : Im Kreis Schmölln informierte die SED - Kreisleitung darüber, „dass in allen Dialogen und Aussprachen die führende Rolle der SED immer häufiger angezweifelt wird und die Angriffe gegen die Genossen immer aggressiver und provokativer werden“.597 Bei einem Dialog in Schmölln am 9. November standen Fragen des Bauwesens im Mittelpunkt. Es gab Kritik an der „bürokratischen Planwirtschaft“ und Forderungen nach freien Wahlen, einem Verzicht der SED auf ihren Machtanspruch, der Änderung des Artikels 1 der Verfassung und mehr Umweltschutz. Verlangt wurde die Bestrafung aller Verantwortlichen, wobei der SED alle Schuld zugewiesen wurde.598 Torgau : In Torgau demonstrierten am 9. November 8 000 Personen mit zahlreichen Transparenten gegen die SED, das MfS und die Kampfgruppen. Anschließend folgte eine Kundgebung auf dem Markt, wo der Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung und weiterer Funktionäre gefordert wurde.599 4.8

Proteste in den Betrieben und Ablehnung von Streiks

Die politischen Forderungen bei Demonstrationen und Foren entsprachen denen in den Betrieben, und auch die Disziplin war vergleichbar. Fanden fast alle Protestveranstaltungen nach Feierabend oder am Wochenende statt, so wurde auch in den meisten Betrieben „diszipliniert und planmäßig gearbeitet“.600 Streiks gab es Anfang November kaum.601 So waren die Beschäftigten der Wismut in Aue „einhellig [...] der Überzeugung, dass es Streiks nicht geben darf. Dies müsse jedem, vom ‚Neuen Forum‘ bis hin zur Partei, klar sein.“602 Auch in Flöha wurden Streiks von der „Arbeiterklasse des Kreises“ abgelehnt.603 In Freiberg befürwortete die Bevölkerung Demonstrationen, sah aber Streiks als nichttauglich an.604 Im VEB Braunkohlenwerk „Oberlausitz“ ( Görlitz ) erklärten die Kumpel, dass ein Produktionsrückgang nicht zugelassen werden dürfe.605 Ein 597 SED - KL Schmölln vom 3. 11. 1989 : Lageinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 94 f.). 598 SED - KL Schmölln vom 10. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 113–115); VPKA Torgau vom 8.– 13. 11. 1989 : Rapport ( ebd., VPKA Torgau, 7339); MfS, HA XXII, ZOS vom 9.– 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 21–32). 599 Vgl. ebd. 531, Bl. 158. 600 SED - KL Borna vom 5. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 108). 601 Vgl. SED - KL Dippoldiswalde vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 602 KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Bereich Wismut ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 9– 12). 603 KDfS Flöha vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 51–54). 604 Vgl. KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 6–8). 605 SED - BL vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 39 f., 47 f.).

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Grund dafür war das verbreitete Gefühl, sich angesichts der maroden Wirtschaft mit Streiks zusätzlich selbst zu schaden. So kam es nur vereinzelt und zeitlich eng begrenzt zu Arbeitsniederlegungen, z. B. wenn die SED - Leitung Aufrufe des Neuen Forums von den Wandzeitungen entfernte.606 Wohl aber gab es einige Streikdrohungen, die aber nicht umgesetzt wurden. So wurde z. B. im VEB Kraftwerk „Völkerfreundschaft“ Hagenwerder ( Görlitz ) mit Streik gedroht, wenn Mängel in der Arbeiterversorgung und Lohnprobleme nicht geklärt würden.607 In Löbau wurde ein Streik angedroht,608 aber nicht umgesetzt. Ähnlich sah es mit Streikandrohungen in der LPG ( T ) Leuben ( Meißen ),609 im VEB Vovotex, im VEB Halbmond - Teppichfabrik Adorf ( Oelsnitz ),610 im Metall Leichtbaukombinat Plauen und in anderen Plauener Betrieben aus.611 Nicht bei Streiks, sondern auf innerbetrieblichen Foren artikulierten die Beschäftigten ihre Forderungen. Hier mussten Direktoren und Funktionäre Rechenschaft ablegen. So fand am 7. November im Robotron Anlagenbau Leipzig ein Forum mit verantwortlichen Funktionären und dem Betriebsdirektor statt. Hier ging es um die Perspektive des Betriebes, die Mitwirkung der Werktätigen bei Entscheidungen, einschließlich Kaderfragen, und die Rolle der Kampfgruppen. Gefordert wurde, „dass die Partei die führende Rolle aufgeben und sich ihre Anerkennung durch ihre Arbeit mit den Werktätigen erwerben“ müsse.612 Bei einem Gesprächsforum im VEB MZ Zschopau am 5. November mit Hunderten Teilnehmern wurden freie Wahlen und demokratische Strukturen gefordert.613 Bei einer Belegschaftsversammlung im VEB Frottana Zittau ging es um betriebliche Probleme und Kritik am Verhalten der Funktionäre.614 Ähnlich sah es im VEB Reifenwerk Heidenau ( Pirna ) aus.615 Im VEB Flachglaswerk Uhsmannsdorf stand Kritik an der Arbeit des FDGB im Mittelpunkt einer Aussprache. Dieser sei nie eine Interessenvertretung der Arbeiter gewesen. Gegen den Werkdirektor wurde ein Misstrauensantrag gestellt.616 Bei einer Aussprache im VEB Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen mit 500 Betriebsangehörigen gab es, so das MfS, „übelste Angriffe gegen die SED, den FDGB und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse“. So wurde gefordert, die Grundorganisationen der SED und des FDGB in Betrieben aufzulösen und deren Funktionäre abzulösen. In Sprechchören forderten Werktätige ein Ende der Kampf606 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 247. 607 Vgl. BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1. 608 Vgl. KDfS Löbau vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd. 7002, 2, Bl. 250); BVfS Dresden : Zeitraum vom 7.–8. 11. 1989 ( ebd., XX 9186, Bl. 39–42). 609 Vgl. BVfS Dresden vom 1. 11. 1989 : Tagesinformation ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 378). 610 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 9. 11. 1989 : Grenzkreise Plauen / Oelsnitz ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 86–88). 611 Vgl. RdB Karl - Marx - Stadt vom 7. 11. 1989 ( SächsStAC, 126409). 612 SED - SBL Leipzig - Südost vom 8. 11. 1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 1–4). 613 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 7. 11. 1989. 614 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 11./12. 11. 1989. 615 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 1. 11. 1989. 616 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 15. 11. 1989.

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gruppen.617 Im VEB Görlitzer Maschinenbau erklärten Kollegen, die SED habe das Vertrauen des Volkes verloren. Auch unter Krenz packe sie alles falsch an. Es gehe nicht in erster Linie um Reisen in den Westen, sondern um Freiheit und um „volle Läden“.618 Im VEB Kraftwerk Hagenwerder ( Görlitz ) wurde vor allem Kritik an Missständen im Betrieb geübt und die Notwendigkeit der Kampfgruppe in Frage gestellt.619 Im VEB Prüfgerätewerk und VEB Plastmaschinenwerk Freital ging es um die Durchsetzung des Leistungsprinzips, um Lohn - und Wettbewerbsfragen sowie um Privilegien und Amtsmissbrauch einzelner Funktionäre.620 Im VEB Robotron - Elektronik Radeberg ( Dresden - Land ) forderten 600 Kollegen den Wegfall aller hauptamtlichen Funktionen der Massenorganisationen, den Einsatz der Funktionäre in der Produktion, die Neuwahl der BGL, vor allem des Vorsitzenden, ein Ende des Führungsanspruchs der SED, die Auf lösung des MfS sowie eine völlige Neuprofilierung der Produktion.621 Außer in Betriebsversammlungen wurden zunehmend Forderungen in offenen Briefen und auf Wandzeitungen formuliert. Mitarbeiter des VEB Robotron ESA Auerbach forderten in einem offenen Brief an FDGB - Bezirksvorstand und Regierung einen Volksentscheid über die führende Rolle der SED und freie Wahlen, eine echten Wettbewerb in der Wirtschaft und die Beseitigung administrativer Organe in den Betrieben.622 Auf Wandzeitungen wurde gegen die SED protestiert und das Neue Forum propagiert.623 Im VEB Vliestextilien Lößnitztal stand auf zwei Wandzeitungen des Neuen Forums, die Dialogpolitik sei nur Kosmetik, der Führungsanspruch der SED müsse weg, bis dahin müsse demonstriert werden.624 Auf einer Wandzeitung im VEB Narva Brand - Erbisdorf wurde mit 200 Unterschriften die Zulassung des Neuen Forums, eine freie Gewerkschaftsarbeit, die Ablösung der BGL - Leitung und des Direktors gefordert.625 Versuche der SED, solche Wandzeitungen oder Aushänge zu entfernen, waren nicht mehr durchsetzbar und wurden, wie im VEB Press - und Schmiedewerke Brand - Erbisdorf, mit vorübergehenden Arbeitsniederlegungen beantwortet.626 Inhaltlich gab es nach wie vor zahlreiche Forderungen bezüglich betrieblicher Probleme. Verlangt wurden ein Verwaltungsabbau, die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien,627 die Durchsetzung des Leistungsprinzips,628 realistische Berichte über den Stand der Planerfüllung, die Beseitigung von Mängeln 617 KDfS Meißen vom 3. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 217– 219). 618 KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 10999, Bl. 1–16). 619 Vgl. KDfS Görlitz vom 8. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 11000, Bl. 1–7). 620 Vgl. KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( ebd. 10917, Bl. 411–414). 621 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 29–37). 622 Vgl. KDfS Auerbach vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 2, Bl. 110–112). 623 Vgl. KDfS Hainichen vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 12–14). 624 Vgl. KDfS Flöha vom 2. und 4. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 60–66). 625 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 11–15). 626 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 1. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., Bl. 35–39). 627 Vgl. KDfS Freiberg vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 9–11). 628 Vgl. KDfS Flöha vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 51–54).

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in der Versorgung mit Material für die Produktion629 und bessere Arbeitsbedingungen.630 Nach wie vor gab es, wie im VEB Kraftwerk Hagenwerder, „große Erwartungshaltungen, die bis zu Spekulationen gehen“, hinsichtlich von Reisemöglichkeiten, der Verbesserung von Warenangeboten und besseren Verdienstmöglichkeiten.631 Wie auf der Straße waren konkrete Anlässe Grund für Proteste und Forderungen in den Betrieben, so etwa der Entwurf des Reisegesetzes,632 der Rücktritt der Regierung633 oder die Untersuchung der Übergriffe um den Jahrestag.634 Überall registrierte das MfS ein Anwachsen des Neuen Forums in den Betrieben. Ganze Kollektive nahmen inzwischen geschlossen an dessen Veranstaltungen teil.635 Wie bei den Demonstrationen richteten sich Kritiken vor allem gegen die SED - Herrschaft. Gefordert wurden deren Ende, freie Wahlen, ein Verschwinden der SED und ihrer Kampfgruppe aus den Betrieben und die Bestrafung von Verantwortlichen.636 Generelle Kritik verband sich mit den Funktionären aller Ebenen und der Forderung nach deren Absetzung.637 Immer wieder richteten sich Vor würfe gegen Privilegien und Amtsmissbrauch von Funktionären wie etwa den Bau von Eigenheimen aus betrieblichen Mitteln.638 629 Vgl. KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 411– 414); KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 10999, Bl. 1–16). 630 Vgl. KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 60–64). 631 KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 10999, Bl. 1–16). 632 Vgl. Brief der BGL VEB Elektromaschinen und Anlagenbau Leipzig vom 7. 11. 1989 (SächsStAL, SED - KL, 1817, Bl. 32 f.). 633 Vgl. KDfS Niesky vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 142–144). KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 9–11). 634 Vgl. KDfS Hainichen vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd. 534, 1, Bl. 12–14). 635 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 247; BVfS Karl - Marx - Stadt vom 3. 11. 1989 : Informationen ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 3); KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 532, 1, Bl. 11–15); KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 636 Vgl. ZK der SED, Abt. Parteiorgane vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 5); KDfS Plauen vom 4. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 182–184); KDfS Flöha vom 2. und 8. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 51–54 und 60–64); KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Bericht ( ebd. 531, 1, Bl. 21–23); BVfS Dresden : Zeitraum vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 61, 65); KDfS Löbau vom 4. 11. 1989: Reaktion ( ebd., LBV 10923, Bl. 5 f.); KDfS Görlitz vom 8. 11. 1989 : Neues Forum (ebd. 11000, Bl. 1–7); KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( ebd. 10917, Bl. 411–414); SED- KL Freital vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 637 Vgl. SED - KL Borna vom 7. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 112 f.); KDfS Schwarzenberg vom 1. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 4. und 6. 11. 1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 18 f., 22–24); KDfS Freiberg vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 6–8); KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage (ebd. 532, 2, Bl. 60–64); KDfS Brand - Erbisdorf vom 8. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., 1, Bl. 11–15); KDfS Löbau vom 8. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 1–4). 638 Vgl. KDfS Hainichen vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 12– 14); KDfS Brand - Erbisdorf vom 3. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 29–34); KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 411–414).

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Krise des FDGB Nach der Tagung des FDGB - Bundesvorstandes Ende Oktober kamen aus den Betrieben fast nur ablehnende Haltungen zur Verschiebung der Vertrauensfrage bezüglich des FDGB - Vorsitzenden Tisch. Die Entscheidung stieß auf „Unverständnis, Enttäuschung und Ablehnung“. Ganze FDGB - Gruppen bekundeten ihre Absicht, aus dem FDGB auszutreten.639 Dank Tisch sei der FDGB „heute kein Interessenvertreter der Arbeiter mehr“, sondern habe sich zum „Instrument der Betriebsleitung“ entwickelt.640 Ebenso hätten die Kreisvorstände die Verbindung zu den Werktätigen verloren. Die dortigen Funktionäre hätten bisher „nur hinter ihren Schreibtischen gesessen und auf schöngefärbte Berichte gewartet“. Um der Forderung nach Tischs Rücktritt Nachdruck zu verleihen, wurden von Arbeitern verschiedener Betriebe Streiks angekündigt.641 In einigen Betrieben des Kreises Hohenstein - Ernstthal erklärten die Mitarbeiter ihren Austritt aus dem FDGB. Der berücksichtige nur Funktionärsmeinungen und ignoriere die Basis. Es gab Forderungen nach einer grundlegenden Änderung der Gewerkschaftsarbeit mit einer neuen Führung und einer Erweiterung der Rechte der Gewerkschaften. Der FDGB - Kreisvorstand sei ein „Schwatzverein“. Nötig seien personelle Veränderungen und eine Hinwendung zu tatsächlichen Gewerkschaftsaufgaben.642 Auch aus anderen Kreisen und Freiberg kamen ähnliche Erklärungen und Meldungen über Austritte.643 Zusätzliche Brisanz erhielt die Diskussion durch die persönliche Bereicherung des Vorsitzenden der IG Metall, Nennstiel. Hier reichte es schon nicht mehr aus, dass der Bundesvorstand des FDGB den Funktionär absetzte. Gefordert wurde vielmehr eine Bestrafung.644 Wie in der SED führte die zögerliche Haltung der kommunistischen „Gewerkschafts“ - Funktionäre zu einer breiten Abwendung vom FDGB. In „Zentren der Arbeiterklasse“ wie dem VEB Edelstahlwerk Freital gab es „eine echte Enttäuschung zur Arbeit der Gewerkschaft“.645 Auch in anderen Kreisen traten ganze Brigaden und Gruppen aus. In Sebnitz wie auch andernorts richtete sich aber „der Hauptangriff“ gegen den Führungsanspruch der SED in den 639 ZK der SED vom 1. 11. 1989 : Resonanz unter den Werktätigen auf die vertagte Entscheidung des Bundesvorstandes des FDGB zur Vertrauensfrage Harry Tisch ( BStU, ZA, SdM 664, Bl. 4–6). 640 Wobei sich die Frage stellt, wann der FDGB eine gewerkschaftliche Vertretung der Arbeiter gewesen sein soll. 641 MfS, ZAIG vom 30. 10. 1989 : Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 7). 642 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 1. und 2. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 16 f., 25–28). 643 KDfS Freiberg vom 1. 11. 1989 : Lage ( ebd. 533, 1, Bl. 16–18); KDfS Löbau vom 31. 10. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 410–412). 644 Vgl. SED - KL Borna vom 3. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 104– 106). 645 KDfS Freital vom 7. 11. 1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10917, Bl. 411–414). Vgl. KDfS Freiberg vom 3. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 9– 11).

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Gewerkschaften.646 Überall gab es Forderungen nach einer von der SED unabhängigen Gewerkschaft.647 Einzelne Kreisvorsitzende traten wie in Bautzen als Zeichen künftiger Unabhängigkeit aus der SED aus.648 Trotzdem häuften sich überall auch Forderungen nach Rücktritt regionaler FDGB - Funktionäre.649 Um die Situation zu retten, erklärte Tisch Anfang November seinen Rücktritt, was die Situation aber nur kurz beruhigte. Entsprechende Forderungen bezogen sich nun auf weitere Funktionäre, vor allem wenn sie sich als „Wendehälse“ gerierten.650 Zwar fand die 10. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB und die dabei vorgenommenen Kaderveränderungen Zustimmung,651 es gab aber sofort Kritik an der neuen FDGB - Vorsitzenden Kimmel, die, so hieß es, mit Forderungen nach der 40 - Stunden - Woche den Mund sehr voll nehme. Hier waren es die Werktätigen, die meinten, zunächst einmal müsse die Arbeitsproduktivität steigen; der Grund, warum man hier auf Streiks verzichtete. Eine neue „Weihnachtsmann - Politik“ helfe nicht weiter, wisse doch jeder, dass angesichts der Lage solche Versprechungen nicht eingelöst werden könnten.652 Angesichts des breiten Vertrauensverlustes des FDGB hörten auch die Forderungen nach Gründung unabhängiger Gewerkschaften nicht auf. So protestierten Mitarbeiter des VEB Elektromaschinen und Anlagenbau Leipzig in einem Brief an den Ministerrat gegen den Alleinvertretungsanspruch der SED und „eine neue Vorsitzende des FDGB, die schon zum Antritt sagt, dass sie ihre Funktion unter der Führung der SED“ sehe. Man brauche eine „freie, von Parteien unabhängige Gewerkschaft mit total veränderter Struktur und neuem Statut“.653 Ähnliche Forderungen kamen auch aus dem VEB Plasticart Zschopau,654 dem VEB Sachsenring Zwickau655 und aus dem Kreis Bischofswerda.656 Bei der Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz verlas Heiner Müller einen gegen den FDGB gerichteten Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften.657 646 SED - KL Sebnitz vom 1. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–3). 647 Vgl. SED - KL Altenburg vom 6. 11. 1989 ( ebd., SED - BL Leipzig, 886, Bl. 22–25); SEDKL Dippoldiswalde vom 8. 11. 1989 : Lage ( ebd., 13553, Bl. 1–4); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 8. 11. 1989. 648 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 20). 649 Vgl. BDVP Dresden vom 8. 11. 1989 : Lagebericht ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 172). 650 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 12–15). 651 SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 652 KDfS Niesky vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 142– 144). 653 Brief der BGL VEB Elektromaschinen und Anlagenbau Leipzig vom 7. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1817, Bl. 32 f.). 654 Vgl. Sachsen 1989 ( PB Matthias Zwarg ). 655 Vgl. KDfS Zwickau vom 1. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1, Bl. 32– 35). 656 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 5. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 657 Vgl. Pirker / Hertle / Kädtler u. a., FDGB, S. 43 und 139 f.; Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 203 f.; Eckert, Die Aktivitäten, S. 703 f.

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In dieser Situation versuchte der FDGB, neue Attraktivität zu gewinnen, rannte dabei aber, wie die SED ständig hinter der Entwicklung her. In außerordentlichen Kreisvorstandssitzungen des FDGB wurden Maßnamen wie die Bildung von Arbeitsgruppen zur Erarbeitung gewerkschaftlicher Standpunkte, Maßnahmen zur Planübererfüllung, Einführung einer 40 - Stunden Woche oder mehr betriebliche Kommunikation beschlossen.658 So unternahm der FDGB erste vorsichtige Versuche, sich von einer Organisation zur Durchsetzung kommunistischer Interessen zur Interessenvertretung der Werktätigen umzuprofilieren.659 Bald aber sollte sich zeigen, dass der FDGB als „Teil des ökonomischen Antreibungs - und politischen Repressions - , Bevormundungs - und Entmündigungssystems“ und in seiner symbiotischen Verbindung mit der SED nicht in der Lage war, eine positive Rolle im revolutionären Prozess zu spielen.660 Weil er keine Gewerkschaft war, war er auch „nicht in eine Gewerkschaft transformierbar, sondern strukturell reformunfähig“.661 4.9

Haltung der bewaffneten Organe ( MfS, Volkspolizei, NVA )

Die immer aggressiver vorgetragenen Forderungen der Bevölkerung warfen die Frage nach dem Verhalten der „bewaffneten Organe“ des kommunistischen Regimes auf. Würden sie den Versuch unterstützen, nach sowjetischem Muster eine Reform des Sozialismus zu erreichen oder selbst nach der Macht greifen, um das bisherige System zu retten ? MfS : Vor allem galt dies für das „Schild und Schwert der Partei“, das MfS. In Meißen z. B. gab es Befürchtungen, „dass das MfS in der Lage sei, selbst die Macht zu übernehmen“.662 So geriet das MfS Anfang November selbst immer mehr ins Visier der Demonstranten. Sprechchöre und Transparente forderten die Abschaffung der kommunistischen Geheimpolizei, der Spitzelei und politischen Verfolgung. Es gab „zunehmend Handlungen gegen MfS - Objekte“.663 In einzelnen Orten bildeten sich Initiativen zur Enttarnung und Bestrafung inoffizieller Mitarbeiter.664 Vor der MfS - Kreisdienststelle Schwarzenberg hieß es „Reißt sie nieder“, „Brennt sie ab !“, in Plauen „Stasi - Schläger in den Knast“, in Freiberg wurde gefordert, das Gebäude für die Kinderklinik zu nutzen.665 In den Kreisdienststellen traf man Vorbereitungen für eine verstärkte Sicherung 658 659 660 661 662 663

Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 9. 11. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 8. 11. 1989. Koch - Baumgarten, Gewerkschaften, S. 36. Hertle / Weinert, Die Auf lösung des FDGB, S. 1. KDfS Meißen vom 9. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 178). KDfS Eilenburg : Handschriftliches Tagebuch, Eintrag über die Dienstbesprechung vom 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Eilenburg, 141, Bl. 71–78). 664 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 10.–11. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII, 5942, Bl. 40). 665 KDfS Schwarzenberg vom 6. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, Mappe Herbst 1989, Bl. 5). Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Stimmungsbild unter den Mitarbeitern der BVfS, o. D. (ebd., AKG 417). Zit. in Horsch, Das kann, S. 28.

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der Dienstobjekte. Die Aggressionen der Bevölkerung richteten sich nicht nur gegen Mitarbeiter, sondern oft auch gegen deren Angehörige. Trotzdem wurden die „Tschekisten“ darauf getrimmt, „abstrichlos ihre Kampfaufgaben und jeden Auftrag der Partei“ zu erfüllen.666 Intern gab es Hinweise, wie mit der Situation umzugehen sei. Trotz der Angriffe sollten die Mitarbeiter öffentlich „souverän, würdig auftreten“, versuchen, Misstrauen abzubauen, in kleinen Gesprächsgruppen bis 30 Personen öffentlich Haltung beziehen, größere Veranstaltungen dagegen meiden. Alle Mitarbeiter wurden, so in Brand - Erbisdorf, verpflichtet, sich unter die Demonstranten zu mischen, bei Protesten die Objekte zu verdunkeln, „Schlagstöcke bereithalten, Pistole unterschnallen“ und beim Eindringen ins Haus zunächst körperliche Gewalt, dann chemische Mittel und nach Genehmigung durch die Bezirksverwaltung des MfS die Schusswaffe einzusetzen.667 Aufgeschreckt wurden die Mitarbeiter auch durch Forderungen nach einem weitgehenden Personalabbau oder der völligen Auflösung des MfS.668 Um die eigenen Reihen moralisch zu stützen, besuchten Mitglieder der Leitungen der Bezirksverwaltungen die am meisten unter Druck stehenden Kreisdienststellen, um „Sorgen und Nöte der Mitarbeiter vor Ort entgegenzunehmen und eine optimistische Grundstimmung zu verbreiten“.669 Das war auch notwendig, denn die Angst war teilweise so groß, dass die „echte tschekistische Motivation“ in den Hintergrund trat. Vor allem jüngere Mitarbeiter fragten, „ob sie sich wirklich erst erschlagen lassen müssen, bevor sie zum Knüppel greifen dürfen“. Es dürfe nicht so weit kommen, dass jetzt die Schuld beim MfS gesucht werde, es habe schließlich jahrelang über die beständig wachsenden Probleme informiert.670 In der Berliner MfS - Zentrale empfahl man, den „jungen Genossen“ zu sagen, dass die Situation 1953, 1956 und 1961 „ähnlich war und gemeistert wurde“. Wichtig sei es, „Zuversicht zu entfachen und Zweifel auszuschalten“. In der DDR habe das MfS stets nach den Gesetzen gearbeitet, nicht willkürlich, und „die Würde des Menschen entsprechend der Gesetze stets geachtet“.671 Auch weiterhin stand das MfS fest zur SED. In der MfS - Kreisdienststelle Brand - Erbisdorf schätzte der Leiter ein, alle Mitarbeiter seien bereit, „jeden ihnen übertragenen Auftrag zum Schutz der Arbeiter - und Bauernmacht unter Führung der Partei in Ehren zu erfüllen“, man erhoffe jedoch mehr „Rückendeckung“ durch die

666 KDfS Schwarzenberg vom 2. 11. 1989 : Meinungsäußerungen von Angehörigern der Schutz - und Sicherheitsorgane im Kreis Schwarzenberg im Zusammenhang mit einem am 31. 10. 1989 auf der Lokalseite der „Freien Presse“ veröffentlichten Artikel ( ebd., AKG 471, Bl. 170–174). 667 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( ebd., BE 98). 668 Vgl. Horsch, Das kann, S. 29. 669 Berichte über Vorort - Einsätze vom 6., 9. und 10. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG443). Zit. in Horsch, Das kann, S. 37. 670 Vgl. KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Bereich Wismut ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 9–12). 671 MfS, HA VIII vom 2. 11. 1989 : Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Abteilung / AG ( BStU, ZA, HA III, AKG 1672, Bl. 327–329).

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SED in der Öffentlichkeit.672 Da die SED - Führung unter Krenz bereit war, MfS und Volkspolizei als Sündenböcke hinzustellen, um die eigene Haut zu retten, ging das MfS in die Medienoffensive. Ähnlich wie der stellvertretende Minister Mittig dem „Neuen Deutschland“,673 gab der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt, Gehlert, am 4. November der „Freien Presse“ ein Interview, in dem er nachzuweisen versuchte, dass das MfS im Interesse der Allgemeinheit gewirkt habe. Die Sprechchöre „Stasi in die Produktion“ seien überholt. Die Staatssicherheit habe sich unter dem Namen „Kartell“ seit Jahren an Forschungsaufgaben für Konsumgüter beteiligt.674 Punkten konnte das MfS damit nicht. Zweckoptimistisch berichtete zwar die MfS - Kreisdienststelle BrandErbisdorf, die Bevölkerung sei „beeindruckt von der Mitarbeit des MfS bei der Entwicklung des Waschvollautomaten“, wie Gehlert berichtet habe und sie habe kein Verständnis, warum das MfS bisher diese „guten Taten“ nicht popularisiert habe,675 tatsächlich aber waren die Reaktionen in Leserbriefen durchweg negativ. Das MfS wurde als „ein der Bevölkerung angsteinflößender Apparat dargestellt“.676 Dies aber war genau der Grund, warum die Argumentation des MfS, man habe stets gut informiert, nicht plausibel erschien. Das mochte mit Blick auf die SED - Führung stimmen, war aber nur ein Teil der Wahrheit. Stets war die Bespitzelung der Bevölkerung im Dienste der „Avantgarde der Arbeiterklasse“ mit deren Unterdrückung und Schikanierung verbunden gewesen. Nur so hatte die SED ihr undemokratisches Regime überhaupt aufrechterhalten können. Davon wollte man aber in der SED jetzt nichts mehr wissen und nie etwas gewusst haben. Im MfS verstand man umgekehrt nicht, warum sich die SED plötzlich so friedfertig gab und seine Unterdrückungsorgane mit spitzen Fingern anfasste. Angesichts der überraschenden Zurückhaltung der SED gegenüber ihrem kommunistischen Spitzel - und Terrorapparat fragte die SED - Grundorganisation der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig am 8. November beim 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung nach, „wieso die Partei es den Massenmedien gestattet, uns als Partei, den Staat und die ausführenden Machtorgane dermaßen zu verunglimpfen, zu verleumden und in den Schmutz zu ziehen“. Unter den Mitarbeitern gebe es eine „tiefe Sorge um den Fortbestand der sozialistischen Errungenschaften“. Man sei „besorgt, wie hilf los wir zusehen müssen, wie die Forderungen der feindlichen Kräfte von Montag zu Montag, von Demo zu Demo an Aggressivität und Staatsfeindlichkeit zunehmen, dass nicht nur uns Mitgliedern der SED - Grundorganisation Bilder aus schlimmster deutscher Geschichte in Erinnerung gerufen werden“. Man erkläre ausdrücklich die Bereit672 KDfS Brand - Erbisdorf vom 3. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 29–34). 673 Neues Deutschland vom 6. 11. 1989. 674 Vgl. Freie Presse vom 4. 11. 1989; Horsch, Das kann, S. 32. 675 KDfS Brand - Erbisdorf vom 7. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 23–26). 676 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 10. 11. 1989 : Auswertung Stellv. Operativ ( ebd., Mappe Herbst 1989, Bl. 1 f.).

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schaft, „auch künftig alle uns von der Partei und Regierung übertragenen Aufgaben“ zu erfüllen.677 Der Vergleich der Demonstranten mit Nazis und die gleichzeitig geäußerte Bereitschaft, die kommunistische Diktatur bedingungslos, also auch gewaltsam, zu verteidigen, zeigt die skurrile ideologische Ausrichtung der Geheimpolizei und verdeutlicht die Gefahr, die von diesem Apparat nach wie vor ausging. Den „Wendehälsen“ in den oberen Etagen der SED aber passte eine Positionierung für ihren bisherigen Unterdrückungsapparat angesichts einer Politik, bei der man versuchte, die Oppositions - und Protestbewegung durch Annäherung zu paralysieren, nicht mehr ins Konzept. Man setzte zwar weiterhin auf den eigenen Sicherheitsapparat, mochte dies aber öffentlich nicht zugeben. So verfestigte sich unter den „Tschekisten“ das Gefühl, von der SED im Stich gelassen zu werden.678 Aus der MfS - Kreisdienststelle Annaberg hieß es, die SED habe „es bisher nicht fertiggebracht, Standpunkte und Haltungen zum MfS weder in Presse, Rundfunk noch Fernsehen wirksam gegenüber den Angriffen zum MfS zu veröffentlichen“.679 Unterdessen gingen die Angriffe gegen das MfS weiter, die sich insbesondere gegen die Bespitzelung aller Bürger und die Verfolgung politischer Gegner richteten.680 Die MfS - Kreisdienststelle Annaberg berichtete über eine „zunehmende Aggressivität bei den Demonstrationen und Dialogveranstaltungen“ gegen das MfS. Dies verursache bei den Familien „Besorgnis und Angst um Leben und Gesundheit“. Die SED mache nun „das MfS zum Prügelknaben“. Große Besorgnis bestehe wegen der Gerüchte über eine Auf lösung des MfS. Man frage sich, ob man überhaupt noch eine Perspektive habe. Mitarbeiter forderten, endlich „gegen die sozialismus - feindlichen Elemente“ vorzugehen, man sei „bereit, alles zur Sicherung des Sozialismus in der DDR, unter Beachtung der eingeschlagenen Wende, zu unternehmen“. Angesichts der Verunsicherung würden bereits die ersten IM ihre inoffizielle Verbindung lösen.681 Aber auch weiterhin hielt sich die Unterstützung der SED für das MfS in Grenzen. In Karl - Marx - Stadt sprach sich der 1. Sekretär der SED Bezirksleitung, Lorenz, in einer Rede vor den 1. SED - Kreissekretären am 9. November gegen eine „vordergründige Frontnahme für die Sicherheitsorgane“ aus, denn damit würde nur „Öl ins Feuer gegossen“ werden.682 Trotzdem blieb die Ausrichtung des MfS an der Führung der SED erhalten. Der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt erklärte, man müsse den Mitarbeitern klarmachen, „dass wir Soldaten sind und Befehle durchführen, und wenn 677 BVfS Leipzig, SED - GO, an den 1. Sekretär der SED - BL vom 7. 11. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 23, Bl. 1–3). 678 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt : Bericht über Vorort - Einsätze am 8. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 443). 679 KDfS Annaberg vom 7. 11. 1989 : Info. Zit. in Horsch, Das kann, S. 38. 680 Vgl. KDfS Flöha vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 51–54). 681 KDfS Annaberg vom 7. 11. 1989 : Besorgnis und Verantwortung für die staatliche Sicherheit ( ebd. 752, Bl. 34–36). 682 Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 12. 11. 1989 ( ebd. 440, Bl. 39). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 33.

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wir beginnen mit Anarchie, dann geben wir uns praktisch selber auf und ich denke, dass das niemand von uns will“.683 Am 6. November befahl Mielke mit Blick auf eine bereits intern diskutierte Auf lösung der Kreisdienststellen des MfS und angesichts der „gegenwärtigen komplizierten und sich zuspitzenden Bedingungen“, den Bestand an dienstlichen Bestimmungen, Weisungen und „anderen operativen Dokumenten“ in den Kreisdienststellen des MfS „auf den unbedingt notwendigen Umfang zu reduzieren“. Eine solche Vernichtungsaktion schien ihm notwendig, um angesichts der Lage „bestimmten Gefahren und Gefährdungen, die im Zusammenhang mit der Aufbewahrung von und dem Umgang mit operativen Dokumenten entstehen können, vorzubeugen“. Der Minister befahl den Leitern der Kreis - und Objektdienststellen, „die erforderlichen Voraussetzungen für ihre kurzfristige Vernichtung zu schaffen“ oder die Unterlagen in die Bezirksdienststellen zu verlagern.684 Mit dem Befehl löste Mielke eine Vernichtungsorgie aus, die sich bald jeder Kontrolle entzog. Vor allem dürfte es darum gegangen sein, Beweise für das Ausmaß der Bespitzelung und politischen Unterdrückung zu beseitigen. Zwei Tage später wies Mielke die Bezirksverwaltungen des MfS an, die Ausrüstung mit den chemischen Mitteln r - 1 und r - 2 bereitzustellen. Sie waren „parallel zum Schusswaffengebrauch“ einzusetzen, „wenn von Personengruppen Angriffe gegen die sozialistische Staats - und Gesellschaftsordnung ausgehen“ und eine Besetzung von Dienststellen des MfS drohte.685 Außerdem mussten alle Dokumente, die Auskunft über die IM gaben, in die Bezirksverwaltungen des MfS transportiert werden. Der Minister kündigte an, das MfS werde demnächst neue Strukturen und einen neuen Charakter erhalten.686 Von nun an wurden Unterlagen über den Spitzelapparat aus den Kreisdienststellen des MfS in die Bezirksverwaltungen gebracht,687 andere Akten in den Bezirksverwaltungen des MfS im großen Umfang vernichtet.688 In den Kreisdienststellen wurden von nun an alle Dokumente des MfS, des MdI und der Bezirksverwaltungen des MfS vernichtet, „außer denen, die nicht für Aufbewahrung in DE u. Zentral geeignet sind“.689 Generell bleibt festzuhalten, dass sich das MfS weiterhin ausdrücklich an der SED orientierte und keine Tendenzen erkennbar waren, sich zu einer 683 Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 10. 11. 1989 ( ebd. 439, Bl. 9). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 32. 684 Erich Mielke an Leiter der Diensteinheiten vom 6. 11. 1989 ( BStU, ZA, RS 678, Bl. 45– 50). 685 MfS vom 8. 11. 1989, gra 28–257/89. Zit. bei Jürgen Fuchs, Landschaften der Lüge (III). In : Der Spiegel vom 2. 12. 1991. 686 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 10. 1989 : Arbeitsbuch von Ulrich Kreyer ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 187). 687 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989 ( ebd., BE 98); Protokoll der Beratung des Runden Tisches der Stadt Marienberg vom 24. 1. 1990 ( StA Marienberg, ZA 10249). 688 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 3–5 und 8). 689 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Holger Ottos von Oktober 1989, Eintrag über die Auswertung der Dienstberatung beim LBVfS vom 8. 11. 1989 ( ebd., BE 98).

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alternativen, eigenständigen militärischen Macht zu wandeln. Nicht die Macht an sich war das primäre Ziel, sondern die Durchsetzung einer bestimmten Ideologie. In der Hoffnung auf eine neue Rolle im reformierten Sozialismus blieb die schlagkräftige Stasi - Armee samt vieler gewaltbereiter Mitarbeiter friedlich. Volkspolizei : Solche Gefahren gingen von der Volkspolizei von vornherein nicht aus, auch wenn die SED nun ebenfalls von dem von ihr selbst angeordneten Vorgehen der Volkspolizei Anfang Oktober nichts mehr wissen wollte. Anfang November setzte sich die „zunehmende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen großen Teilen der Bevölkerung und der DVP“ fort,690 was freilich vor allem für die Orte galt, in denen es zu Übergriffen gekommen war.691 Weiterhin wurden in Kirchen Erlebnisprotokolle von Übergriffen verlesen.692 Obwohl von Krenz in Schutz genommen, wurden Anfang November Ermittlungsverfahren gegen Volkspolizei - Angehörige aufgenommen.693 Im Bezirk Karl- Marx - Stadt begann am 7. November ein Untersuchungsausschuss des Bezirkstages mit seiner Arbeit, dem auch Vertreter der Kirchen und des Neuen Forums angehörten. Hier lagen mehrere Anzeigen vor, die sich auf Übergriffe in Karl - Marx - Stadt, Hainichen und Plauen bezogen.694 Auch in Hainichen wurde ein Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen,695 der Ende Februar 1990 einen Abschlussbericht vorlegte.696 Aufgrund der Stimmungslage kam es Anfang November vereinzelt zu Entschuldigungen führender Volkspolizei - Leiter für Übergriffe,697 was unter den Volkspolizei - Angehörigen auf wenig Verständnis stieß. Angesichts der Entschuldigungen meinten Angehörige, dass sie sich gar nicht mehr getrauten, Amtshandlungen durchzuführen, da sie sich dann vielleicht hinterher entschuldigen müssten oder ein Verfahren gegen sie eingeleitet würde. Sie hätten, so die altbekannte Formel, „doch nur ihre Pflicht“ getan.698 Im Kreis Görlitz diskutierten einige ABV darüber, wie man sich gegenüber den Bürgern verhalten solle, die „zunehmend frecher und aggressiver werden“ und 690 Vgl. BDVP Leipzig : Festlegungen zur Weiterführung der politisch - ideologischen Arbeit vom 1. 11. 1989, gez. Straßenburg ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840 II ). 691 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37– 39). 692 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( ebd. 2145, 2, Bl. 168–172). 693 Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED - BL Dresden vom 3. 11. 1989 ( ABL, EA 891103_1); Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 183. 694 Vgl. 1. Beratung des Unabhängigen Untersuchungsausschusses im RdB Karl - Marx - Stadt am 7. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 19); Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 ( ebd., AKG 438, Bl. 12); Bericht des Sekretariats an SED - BL - Sitzung Karl - Marx - Stadt vom 11. 11. 1989 ( SächsStAC, 115856). 695 Festlegungsprotokoll der 1. Zusammenkunft der zeitweiligen Untersuchungskommission vom 14. 11. 1989 ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 23. 11. 1989. 696 Abschlussbericht zur Untersuchung der Vorfälle um den 7./8. 10. 1989 in der Stadt Hainichen vom 20. 2. 1990 ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ). 697 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 3. 11. 1989. 698 KDfS Annaberg vom 31. 10. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 529, 1, Bl. 20– 25).

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fragten, ob man sich „weiterhin beschimpfen lassen“ und dabei tatenlos zusehen müsse.699 In Hohenstein - Ernstthal warteten Volkspolizei - Angehörige auf eine klare Stellungnahme der Führung zugunsten der „Genossen in den Schutzund Sicherheitsorganen“. Die Entgegennahme anonymer Gedächtnisprotokolle durch die Generalstaatsanwaltschaft sei eine Provokation, die die Mitarbeiter verunsichere und „Gesetzesverletzern Tür und Tor“ öffne.700 In Oelsnitz war die SchuPo unzufrieden darüber, als „Schlägertruppe“ bezeichnet zu werden.701 Die SchuPo des Volkspolizeikreisamtes Zittau erklärte, man sei gewillt, „bei der Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses zur SED und der Tätigkeit der Volkspolizei“ mitzuwirken. Voraussetzung dafür sei allerdings eine Rehabilitierung der Volkspolizei durch ihre Führung. Durch das Handeln Einzelner sei sie „im Ganzen diffamiert“ worden. Man wolle Partner und „eine wahre Polizei des Volkes“ sein.702 Generell zeigten die Volkspolizei - Mitarbeiter, wie auch die des MfS, wenig Neigung, anstelle der SED, die ihr bisheriges Handeln befohlen hatte, als Prügelknabe zu dienen. In ihren Reihen setzte sich dabei ein Differenzierungsprozess fort, wie er in der gesamten Bevölkerung zu beobachten war. Forderten die einen, auch bald in den Westen fahren zu dürfen,703 waren andere erkennbar mehr um den Erhalt des SED - Regimes bemüht. Dass Letzteres so blieb, darum bemühten sich die politischen Köpfe in der Volkspolizei - Führung. So forderte der Chef der Leipziger Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei die Leiter der Volkspolizeikreisämter auf, den Angehörigen zu erklären, sie müssten sich hinter den Erneuerungsprozess stellen, der „nur unter der Führung der SED“ vollzogen werden könne. Es gelte auch weiterhin, die „sozialistischen Errungenschaften zu sichern“ und „den Angriffen auf die führende Rolle der Partei zu begegnen“.704 So war denn auch in Volkspolizeikreisämtern wie in Altenburg die „Sorge um die sozialistische Perspektive“ erkennbar.705 In Aue sorgten sich Angehörige des Wachpersonals eines Bergbaubetriebes, man lasse sich „das Geschaffene nicht wegnehmen“. Man müsse durchgreifen, „sonst kommt es zur Konterrevolution“.706 Freilich war solches Kampfesgeschrei angesichts fehlenden Nachschubs aus der SED immer weniger zu hören. Stattdessen gewöhnten sich immer mehr Angehörige an den bisher ungewöhnlichen Gedanken, auch die Polizei derer zu sein, die gegen das Regime protestierten. Dazu trug die Kooperation bei, die sich aus dem Zusammenwirken der Volkspolizei 699 KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1– 16). 700 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 1. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 25–28). 701 KDfS Oelsnitz vom 31. 10. 1989 : Lage ( ebd. 540, 1, Bl. 8 f.). 702 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 4./5. 11. 1989. 703 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 2. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 168–172). 704 Chef der BDVP Leipzig an Leiter der VPKÄ vom 5. 11. 1989 ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840 II ). 705 SED - KL Altenburg vom 4. 11. 1989 ( ebd., SED - BL Leipzig, 886, Bl. 15 f.). 706 KDfS Aue vom 2. 11. 1989 : Bereich Wismut ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 9– 12).

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mit den Organisatoren der Demonstrationen und Kundgebungen ergab. Ende Oktober / Anfang November tauchte dafür der Begriff der „Sicherheitspartnerschaft“ auf.707 Seitdem Volkspolizisten Demonstrationen und Kundgebungen freundlich begleiteten, wurde auch die Haltung der Bevölkerung freundlicher. In Zittau bedankten sich Teilnehmer einer Demonstration in der Zeitung bei der Verkehrspolizei für „ihr umsichtiges und schnelles Reagieren“.708 Die klügsten Köpfe in der Volkspolizei erkannten bereits zu diesem Zeitpunkt ihre künftige Rolle als überparteiliche Polizei aller Bürger. NVA : Angesichts des Armeeeinsatzes der NVA gegen die eigene Bevölkerung Anfang Oktober stellte sich auch später noch die Frage, ob angesichts der revolutionären Entwicklung von der Armee eine Putschgefahr ausging. Die Situation in der NVA war stark polarisiert. Ideologisch der SED treu ergebenen Berufssoldaten mit politischen Ambitionen standen Pragmatiker gegenüber, die nach neuen Wegen für die Armee suchten. Mitte Oktober hatten Berufssoldaten Sorge wegen der „Attacken und Kampagnen des Gegners“ geäußert, der die Beseitigung des Sozialismus anstrebe. „Dieser großdeutsche und konterrevolutionäre Traum“ einer „Rückführung der DDR in eine kapitalistische Vergangenheit“ dürfe aber nicht in Erfüllung gehen.709 Die Atmosphäre in den Armeeeinheiten war bis Ende Oktober von einem scharfmacherischen Ton bestimmt gewesen. Die Soldaten wurden auf mögliche Einsätze gegen „konterrevolutionäre“ Kräfte vorbereitet, die im Auftrag des „Imperialismus“ den Sozialismus beseitigen wollten.710 Die Demonstration am 4. November in Berlin löste bei vielen Berufssoldaten „Empörung über die von ihnen als konterrevolutionär, antisozialistisch und gegen die SED gerichtet gewerteten Auslassungen fast aller Redner“ aus.711 Es war in der Armee kein Geheimnis, dass noch Anfang November viele Offiziere eine „chinesische Lösung“ befürworteten.712 Unter Berufssoldaten wurde erörtert, „den Ausnahmezustand zu verhängen und Militär einzusetzen“. Dagegen bestanden insbesondere in der Volksmarine starke Widerstände.713 Immerhin gab es also starke Kräfte, die die Errichtung einer Militärdiktatur für sinnvoll und geboten hielten. Wortführer der eher ideologisch geprägten Richtung war Keßler, der laut Eppelmann versuchte, „stramm durchzuhalten“, aber beim 707 KDfS Aue : Demonstration am 8. 11. 1989 ( ebd. 2147, 2, Bl. 33 f.). Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 143. 708 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 4./5. 11. 1989. 709 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 17. 10. 1989. 710 Berichte eines Armeeangehörigen, o. D. In : Friedrichsfelder Feuermelder ( Extrablatt ) 12/1989, S. 1 f. 711 MfS, HA I / AKG vom 8. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 50–54). 712 Vgl. Die Abrechung. Abschlussbericht des Ausschusses zur Untersuchung von Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen der DDR vom 15. 3. 1990. In : Trend, (1990) 3 vom 12. 4. 1990, S. 14. Zit. bei Lapp, Ein Staat, S. 14, Fn. 7. 713 MfS, HA I / AKG vom 8. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 50–54).

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Generalstab immer weniger Unterstützung fand.714 Vor allem unter den wehrpflichtigen Soldaten aber sank nach dem Missbrauch der NVA um den 7. Oktober herum die Bereitschaft rapide, sich auf militärische Abenteuer einzulassen. Die Zahl der Fälle von „Nichtbereitschaft zur Aufgabenerfüllung in den aufzustellenden Einsatz - Hundertschaften der Landstreitkräfte“ nahm schnell zu.715 Bei den für Einsätze gegen Demonstranten eingesetzten Kräften der NVA ließ Anfang November „die Bereitschaft zur speziellen Aufgabenerfüllung“ mit der Begründung nach, dass dies keine Aufgabe für die Armee sei.716 Immer mehr Wehrpflichtige brachten ihre Zweifel an der Legitimität der Regierung und eines Einsatzes gegen die Bevölkerung zum Ausdruck. Auch Unteroffiziere und Offiziersschüler fragten, „inwieweit der Einsatz der NVA noch gerechtfertigt sei“. Erhebliche Diskussionen löste die Einweisung in die Einsatzvariante 2 aus, welche die Anwendung der Schusswaffe vorsah.717 Offiziersschüler der Offiziershochschule der NVA - Landstreitkräfte forderten die Aufhebung der Einsatz - Hundertschaft, freie Meinungsäußerungen und ein Ende der SED - Mitgliedschaft von Berufssoldaten.718 Da von der NVA - Führung keine klare Antwort zur Auflösung der Einsatz - Hundertschaften kam, entschied der Chef des Militärbezirks Leipzig, Generalmajor Klaus Wiegand, die Hundertschaften in seinem Verantwortungsbereich eigenmächtig aufzulösen.719 Einzelne Offiziere forderten einen neuen Umgangston in der Armee.720 Schon Anfang November gab es Pläne, Soldatenräte zu bilden.721 Etliche Reservisten verweigerten die Ableistung des Reservistendienstes mit der Waffe.722 Im Politunterricht wurde das Feindbild in Frage gestellt, die Legitimität der SED - Regierung und die Rechtmäßigkeit eines Einsatzes „gegen jeden Feind“ bezweifelt.723 Das MfS registrierte in der NVA und bei den Grenztruppen eine „ungünstige Tendenzverschiebung im politischmoralischen Zustand“. Es gebe eine „anhaltend starke Hinwendung zur Fahnenflucht und zum Grenzübertritt“, eine zunehmende Verunsicherung, Pessi714 Aussage Rainer Eppelmann. In : Dietmar Ostermann, Von der chinesischen Lösung zur Selbstaufgabe. Die Nationale Volksarmee in der Zeit der Wende. In : Frankfurter Rundschau vom 30. 11. 1990. 715 Vgl. Albert Funk, Wahlfälschung ist das geringste Delikt. In : FAZ vom 19. 4. 1993. 716 MfS, HA I / AKG vom 3. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 68–75). 717 MfS, HA I / AKG vom 23. 10. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( ebd., Bl. 94–98). 718 Abgedruckt in Ehlert, Zwischen „Prager Frühling“, S. 555–557. 719 Vgl. ebd., S. 435. 720 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 9. 11. 1989. 721 MfS, HA I / AKG vom 3. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 68–75). 722 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, AKG vom 9. 11. 1998 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 2, Bl. 200). 723 MfS, HA I / AKG vom 8. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 50–54).

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mismus, Austritte aus der SED und eine sinkende Bereitschaft zur Aufgabenerfüllung.724 Für eine mögliche Militärdiktatur eignete sich die in den unter sowjetischer Führung stehenden Warschauer Pakt eingebundene NVA so wenig wie die internationalen Rahmenbedingungen dafür einen Anlass boten. 4.10 Zulassung des Neuen Forums (8.11.) Anfang November registrierte das ZK der SED eine Zunahme des Einflusses des Neuen Forums in der Bevölkerung, in Betrieben, Blockparteien und „bei nicht wenigen Genossen“.725 So war es auch in Sachsen,726 und die Aktivisten des Neuen Forums bemühten sich, ihren Einfluss noch auszuweiten.727 „Die breite Masse der Arbeiter und Angestellten sowie der Bevölkerung“ meinte, die Ziele des Neuen Forums stimmten mit den eigenen überein. Seine Vertreter würden als „positive Kräfte für die Entwicklung des Sozialismus“ beurteilt, die Gefahren einer möglichen Zulassung nicht erkannt.728 In Einzelfällen setzten sich sogar schon Betriebsleiter für eine Unterstützung des Neuen Forums ein.729 Das Bild wurde dabei vor allem von den über westliche Medien verbreiteten Aussagen der Berliner Initiativgruppe um Bohley bestimmt, in Sachsen aber auch von lokalen Gründungen. Bärbel Bohley erklärte z. B. am 2. November, man sollte neben die bestehenden Parteien keine neuen stellen. Das Neue Forum verstehe sich als Massenorganisation, als Massenbewegung und als politische Elite. Es sei eine Bewegung, die den offenen Dialog kanalisieren wolle. Den Führungsanspruch der SED stellte sie nicht in Frage. Bohley nannte die Frage nach der Rolle der SED „einfach zu klein“. Im DA meinte man angesichts solcher Stellungnahmen, die SED lasse das Neue Forum im Fernsehen auftreten, weil es kein Gegner sei und den Alleinvertretungsanspruch der SED nicht in Frage stelle.730 Nach Einschätzung des MfS war die Führung des Neuen Forums uneins über das weitere Vorgehen und sah sich außerstande, die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Um kein Machtvakuum entstehen zu lassen, sei man nicht an einer Zuspitzung der Situation und der Infragestellung der Führungsrolle der SED interessiert.731 Der Aktivist des Leipziger Neuen Forums, Jürgen Tallig, kritisierte, die westliche Mediendarstellung sei Berlin - orientiert und auf Bohley und Rolf Henrich fixiert. Die beiden könnten sich aber eigentlich nicht repräsentativ äußern, denn das Neue Forum habe eine viel größere, 724 MfS, HA I / AKG vom 10. 11. 1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( ebd., Bl. 41–45). 725 ZK der SED vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 6). 726 Vgl. KDfS Annaberg vom 4. 11. 1989 : Dialoge im Kreis Annaberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 4–7). 727 Vgl. KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 60–64). 728 KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital, 15053, Bl. 1–10). 729 Vgl. KDfS Flöha vom 3. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 57–59). 730 Vgl. Eppelmann, Wendewege, S. 5–7. 731 Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7. 11. 1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 247.

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bislang jedoch nicht wahrgenommene, organisatorische und programmatische Breite.732 In der Tat gingen die inhaltlichen Zielvorstellungen in Sachsen weiter auseinander als dies Bohley auch nur ansatzweise zum Ausdruck brachte. Sie vertrat und verallgemeinerte eher ihre persönlichen Vorstellungen. Nur in wenigen Fällen verfügten sächsische Gründungskreise bereits über formulierte Programme, dennoch zeichneten sich in Aussagen auf Flugblättern, bei Dialogrunden und Besprechungsprotokollen bereits Konturen ab. So ging das Neue Forum in Bautzen vom Fortbestand der DDR aus und strebte „eine sozial gerechte Gesellschaft“, freie Wahlen, die Aufgabe des Führungsanspruches der SED, eine Neufassung des Sozialismusbegriffs, Gewaltenteilung, Rechtssicherheit, Entflechtung von Staat, SED und Wirtschaft, eine Ökologisierung der Wirtschaft und des Städtebaus sowie Wirtschaftsreformen und eine Umgestaltung der Volksbildung an.733 Einige Akteuere des Neuen Forums in Dresden forderten eine Besinnung auf die Grundwerte des Sozialismus und Basisdemokratie,734 andere setzten wie Vaatz und Reinfried auf freiheitliche Demokratie und deutsche Einheit. In Görlitz ging es um Demokratisierung sowie um Wirtschaftsfragen, aber auch hier glaubte man an „die Möglichkeit eines demokratischen, liebenswerten Sozialismus“.735 Auch in Kamenz wollte man „keine kapitalistischen Verhältnisse“.736 Im Oppositionszentrum Großhennersdorf ( Löbau ) forderte Andreas Schönfelder von der Initiativgruppe des Neuen Forums in Berlin den Verzicht der SED auf ihr Wahrheitsmonopol, Medienfreiheit, ein Ende der Bespitzelung sowie die Aufdeckung krimineller und gewalttätiger Machenschaften des Regimes.737 In Meißen wurden zwar Schwerpunkte der Arbeit definiert, darunter Umweltschutz, freie Wahlen und Menschenrechte, „zur weiteren Linie“ gab es aber auf Empfehlung Bohleys „noch keine konkrete Abstimmung“, da man auf die staatliche Zulassung wartete.738 In Jänkendorf ( Niesky ) wurden u. a. die Abschaffung des MfS, ein Ende der SED - Herrschaft und Parteienpluralismus gefordert.739 Auf Kreisebene setzte sich das Neue Forum für Demokratie und gegen die führende Rolle der SED ein.740 In Riesa forderte man eine Demokratisierung, die Trennung von Partei und Staat und „einen für alle durchsichtigen und erlebbaren Sozialis732 Zit. in Frankfurter Rundschau vom 2. 11. 1989. 733 Positionspapier des Neuen Forums Bautzen vom 8. 11. 1989 ( StA Bautzen, Ronny Heidenreich ). 734 Zur Selbstbestimmung des „Neuen Forums“ Dresden vom 6. 11. 1989 ( SLUB, Flugblätter der Wendezeit ). 735 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 9. 11. 1989. 736 KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1– 3). 737 Erste Ziele für den Dialog. Initiativgruppe Neues Forum, Andreas Schönfelder, Großhennersdorf vom 3. 11. 1989 ( UB Grohedo; ABL, H. XIX /1). 738 KDfS Meißen : IMS „Jens Hildebrandt“ zum Treffen am 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 325–328). 739 Vgl. BVfS Dresden, XX an AKG vom 8. 11. 1989 ( ebd., Bl. 113–116). 740 Vgl. SED - BL vom 10. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553).

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mus“.741 In Zittau war man noch mit der „Strukturierung und Aufstellung eines Programms“ befasst.742 In Hoyerswerda verfügte das Neue Forum bereits über eine ausgefeiltere Programmatik. Hier trat man auf der Grundlage der Verfassung der DDR für „Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie für den Schutz und die Bewahrung der Natur“ ein. Man wollte mehr Spielraum für wirtschaftliche Initiativen, aber „keine Ellenbogengesellschaft“. Eine Wiedervereinigung war „kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben“. Man forderte eine Reform des Wahlrechtes und die Gewährleistung aller Grundrechte, Freizügigkeit, Presse - sowie Versammlungs - und Demonstrationsfreiheit.743 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt bekämpften nach MfS - Darstellung viele Mitglieder des Neuen Forums den Führungsanspruch der SED und setzten sich für Marktwirtschaft und Wieder vereinigung ein.744 Die Basisgruppe Ober wiesenthal ( Annaberg ) forderte eine Demokratisierung, Meinungsfreiheit, freie Wahlen, einen Machtwechsel und die Wiedervereinigung.745 Auf Kreisebene waren sich alle Gruppen einig, „dass es mit der SED keine Zusammenarbeit mehr geben“ werde.746 In Brand - Erbisdorf war das Neue Forum „parteimäßig für SPD“.747 In Meerane ( Glauchau ) verfügte das Neue Forum laut MfS - Bericht noch über kein Programm.748 Das Neue Forum Freiberg kämpfte „für einen wahrhaft humanistischen Sozialismus“.749 In Karl - Marx - Stadt orientierte man auf Demokratie, freie Wahlen und ein Ende der SED - Herrschaft,750 aber auch hier gab es Gruppen, die noch über „keine klaren konzeptionellen Vorstellungen“ verfügten.751 In Marienberg wollte man „die Weichen neu stellen, um alte abgefahrene Gleise zu vermeiden“, den „Boden ebnen, um darauf eine Gesellschaftsstruktur zu errichten, die nie wieder zulassen wird, dass sich ein Machtmonopol weder auf wirtschaftlichem noch auf politischem Sektor bilden kann“.752 In Reichenbach hatte das Neue Forum nicht vor, eine politische Plattform zu bleiben. Vielmehr wollte man „ein Zeichen setzen und die Partei aus ihrem Winterschlaf wecken“. Nach Veränderungen und Reformen wollte man 741 Informationsblatt Nr. 1 des Neuen Forums Riesa, o. D. ( PB Andreas Näther ); Neues Forum, Sprechergruppe Kreis Riesa, o. D. ( HAIT, StKa ). 742 KDfS Zittau, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 82). 743 Wortlaut der Erklärung vom 1. 11. 1989 in Hoyerswerda. In : Lausitzer Rundschau vom 4. 11. 1989. 744 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4. 11. 1989 : Info Abt. XX ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 4). 745 Vgl. Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 in unserem Kurort Ober wiesenthal (HAIT, StKa ). 746 KDfS Annaberg vom 9. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 198–200). 747 KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Ulrich Kreyer vom 11. 10. 1989 ( ebd., BE 187). 748 KDfS Glauchau vom 11. 11. 1989 : Stimmung ( ebd., AKG 533, 2, Bl. 2 f.). 749 Aufbruch ’89 – Neues Forum in Freiberg vom 4. 11. 1989 ( KA Freiberg, Akten Nr. 444). 750 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX /9 vom 2. 11. 1989 : IM „Frank Schulze“ ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 1). 751 BVfS Karl - Marx - Stadt, XX vom 7. 11. 1989 : IM „Blei“ ( ebd. 850, Bl. 19). 752 KA Marienberg, PB Dr. Straube, o. D.

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sich ursprünglich wieder auf lösen.753 Das Leipziger Neue Forum forderte am 1. November als Voraussetzungen für einen rechtlich abgesicherten gleichberechtigten Dialog die Legalisierung eines unabhängigen Forums, freien Zugang zu Informationen und Medien, die Abschaffung jeder Zensur und die Freilassung sowie Rehabilitierung aller politischen Gefangenen.754 Hier wie andernorts lag damit noch kein weitreichendes Programm vor, sondern eine programmatische Orientierung für die nächsten Schritte. Die programmatische Ausformung erfolgte dabei in den einzelnen Zentren im Wechselspiel von Orientierung an der Berliner Initiativgruppe, anderen Zusammenschlüssen im Umfeld und eigenen Vorstellungen der jeweiligen Akteure. Eine deutliche Profilierung war auch deswegen noch nicht erkennbar, weil Aussagen zugunsten eines verbesserten Sozialismus sich zum einen mit Forderungen nach einer freiheitlichen Demokratie überlappten und zum anderen nicht klar war, ob und inwieweit sie der Gesetzeslage geschuldet waren, die ein Bekenntnis zum Sozialismus als Grundlage einer legalen Tätigkeit zwingend vorschrieb. Uneinheitlich war die Meinung über die eigene Rolle und Funktion im Umbruchprozess und danach. In Bautzen verstand sich das Neue Forum als Podium für verschiedene Meinungen, nicht als Partei, und war „zu politischer Mitverantwortung als Mandatsträger grundsätzlich bereit“.755 In Riesa wollte man gleichberechtigter Dialogpartner gegenüber den Räten, Kreisleitungen und staatlichen Arbeitsgruppen sein.756 In Radebeul ging es um die Beteiligung der Bürger an der Neugestaltung der Gesellschaft : „Weil gestörtes Vertrauen in die vorgefundenen politischen Organisationen die jetzt notwendigen Schritte hemmen kann, laden wir zur Mitarbeit im Rahmen eines demokratischen Forums zur Erneuerung der Gesellschaft ein. Dies Neue Forum soll der Verständigung dienen und eine Ausgangsbasis für gemeinsames politisches Handeln bilden.“ Beteiligen konnten sich „alle Personen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu politischen Parteien und Massenorganisationen“.757 In der Gruppe Altgostritz in Dresden - Süd beriet man laut IM - Bericht die Frage eines Zusammengehens mit allen oppositionellen Kräften und den Blockparteien sowie eine Entwicklung zur Massenorganisation bzw. die Formierung als Partei. Zunächst wartete man den für den 11. November avisierten Entwurf eines Status aus Berlin ab.758 Ähnlich different und unabgeschlossen wie die programmatische war die organisatorische Entwicklung. Dabei orientierte man sich an den Vorstellungen der „Zentrale“ in Berlin, die im Oktober verbreitet worden waren. Die Nutzung 753 KDfS Reichenbach vom 4. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 541, 1, Bl. 2–5). 754 Erklärung, gez. Petra Lux, Sprechergruppe Neues Forum vom 1. 11. 1989 ( ABL, H. XIX/1). 755 Positionspapier des Neuen Forums Bautzen vom 8. 11. 1989 ( StA Bautzen, Ronny Heidenreich ). 756 Informationsblatt Nr. 1 des Neuen Forums Riesa, o. D. ( PB Andreas Näther ). 757 Initiativgruppe Neues Forum Radebeul vom 4. 11. 1989 : Einladung zu einem demokratischen Forum in Radebeul ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 136 f.). 758 Ebd., AKG 7002, 1.

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bestehender Organisationsstrukturen der DDR, wie in der SED und in Blockparteien teilweise diskutiert, wurde „grundsätzlich abgelehnt“,759 auch wenn es Kooperation mit Vertretern von Blockparteien – vor allem von LDPD und CDU – gab und diese die Aktivisten des Neuen Forums zur Mitarbeit in den eigenen Reihen aufriefen.760 Damit oszillierte die Organisationsentwicklung wie die Programmatik zwischen Vorgaben einer mehr oder weniger fiktiven und ohnehin demokratisch nicht legitimierten Berliner „Zentrale“ und eigenen Vorstellungen. Der gewohnte Zentralismus kontrastierte mit basisdemokratischen Auffassungen. Durch den uner warteten Mitgliederzulauf und die starke Resonanz gab es einen starken Organisationsbedarf, weshalb die Vorgaben aus Berlin von Aktivisten gern aufgegriffen wurden. Der Organisationslogik aus Berlin folgend orientierte sich der Aufbau an einer Struktur auf drei Ebenen, den Basisgruppen, der Kreis - sowie der Bezirks - , später Landesstruktur. Grundlage der Struktur waren Orts - , Betriebs - 761 oder andere Basisgruppen.762 In zahlreichen Kommunen gab es Anfang November zwar viele Sympathisanten, aber keine Strukturen.763 In Moritzburg ( Dresden - Land ) gab es zwar eine Ortsgruppe, jedoch zunächst ohne innere Strukturen.764 Bevor sich Basisgruppen bildeten oder Aktivisten die Organisation in die Hand nahmen, stellten verschiedene Kirchen Basen der Zusammenkünfte dar.765 Teilweise gingen die Basisgruppen, wie in Hohenstein - Ernstthal, aus Bürgerinitiativen hervor.766 Überall bildeten sich Anfang November neue Basisgruppen. Jede wählte ihren / ihre Sprecher. In Radebeul gab es eine Sprechergruppe. Sie koordinierte die Zusammenarbeit innerhalb des Forums, vertrat es gegenüber staatlichen Stellen sowie politischen Organisationen und war verantwortlich für die überregionalen Beziehungen.767 Die meisten Basisgruppen bildeten Gesprächsgruppen und thematische Arbeitsgruppen.768 In Radebeul konnten auch Freundeskreise, Jugendgruppen und andere bereits geformte Verbindungen in ihrer beste759 SED - BL Karl - Marx - Stadt vom 2. 11. 1989 : Bestrebungen, die Bürgerinitiative Neues Forum zu legalisieren ( SächsStAC, 121517). 760 Vgl. Neues Forum vom 5. 11. 1989 : Protokoll der Sitzung in Rietzschen ( UB Grohedo; PB Pfarrer Reinhard Müller, Weißwasser ); BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2; ebd. 2146, 2, Bl. 137. 761 Vgl. SED - SL Leipzig vom 7. 11. 1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 40–43). 762 Vgl. Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 in unserem Kurort Ober wiesenthal (HAIT, StKa ); PB Superintendent i. R. Reinhard Leue Rothenburg, o. D. ( ebd.). 763 Vgl. KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1–3). 764 Vgl. KDfS Dresden - Land vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 102–104). 765 Vgl. SED - BL Karl - Marx - Stadt vom 2. 11. 1989 : Bestrebungen, die Bürgerinitiative Neues Forum zu legalisieren ( SächsStAC, 121517); KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1–3). 766 Vgl. Hallmann, Chronologie der Wende in Hohenstein - Ernstthal ( HAIT, Hoh - I 8). 767 Initiativgruppe Neues Forum Radebeul vom 4. 11. 1989 : Einladung zu einem demokratischen Forum in Radebeul ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 136 f.). 768 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX vom 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 1).

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henden Form mitarbeiten. Hauptaufgabe der Arbeitsgruppen sollte es sein, aus Vorlagen politikfähige Konzepte zu erarbeiten.769 In einigen Gruppen gab es Überlegungen, die Basisgruppen auf 15 bis 20 Personen zu begrenzen.770 Die Basisgruppen sollten auf Kreisebene zusammengefasst werden und die Sprecher aller Basisgruppen den Sprecherrat eines Kreises bilden. Dieser hatte die Delegierten für den Bezirks- später für den Landessprecherrat zu bestimmen. Teilweise gab es Anfang November, wie z. B. in Görlitz, zunächst noch keine feste Organisationsstruktur auf Kreisebene. Es existierte aber ein Vorbereitungskreis mit dem Ziel der Bildung von Arbeitsgruppen in Betrieben und Wohngebieten. Dazu gab es die Möglichkeit, sich auf Listen als Kontaktadresse eintragen zu lassen und so sein Interesse an aktiver Mitarbeit zu bekunden.771 In einigen Kreisen trafen sich Anfang November Vertreter regionaler Gruppen zur Bildung einer Struktur auf Kreisebene,772 zum Teil gab es bereits, wie in Schwarzenberg, Kreisvorstände773 oder es etablierten sich, wie in Reichenbach, Sprecherräte auf Kreisebene, deren Ziel die Zusammenführung einzelner Gruppen war.774 In Pirna gab es auf Kreisebene eine Koordinierungsgruppe und Themengruppen.775 In einigen Kreisstädten eröffneten, insbesondere seit der Zulassung, Büros, über die Kontakt zwischen regionalen Gruppen hergestellt wurde.776 Andernorts gab es Konsultationsstützpunkte in kirchlichen Räumen.777 In größeren Städten bildeten sich wie in Bautzen778 oder Meißen779 Stadtgruppen, die nicht ganz ins Schema passten und bei denen zunächst auch nicht klar war, ob sie sich eher auf die Kreisstadt oder den Kreis bezogen. Es gab auch, wie im Fritz - Heckert - Wohngebiet in Karl - Marx - Stadt, Zusammenschlüsse auf Stadtteilebene, die sich wie hier in mehrere Zehnergruppen unter-

769 Vgl. Initiativgruppe Neues Forum Radebeul vom 4. 11. 1989 : Einladung zu einem demokratischen Forum in Radebeul ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 136 f.). 770 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Ulrich Kreyer vom 11. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 187). 771 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 772 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 6.–7. 11. 1989 ( ebd., XX 9195, Bl. 50); Neues Forum vom 5. 11. 1989 : Protokoll zur Sitzung in Rietzschen ( UB Grohedo, PB Pfarrer Reinhard Müller, Weißwasser ); KDfS Marienberg vom 9. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 122). 773 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 4. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd. 678). 774 Vgl. KDfS Reichenbach vom 7. 11. 1989 : Lage ( ebd., RB 231, Bl. 3–9); Neues Forum 1989, Sprechergruppe Kreis Riesa, o. D. ( HAIT, StKa ). 775 Vgl. BVfS Dresden vom 6.–7. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 29, 33). 776 Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 134 f. 777 Vgl. KDfS Görlitz vom 5. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10999, Bl. 1–16). 778 Vgl. StA Bautzen, Oktoberrevolution Bautzen, Bl. 19 f.; Basisdemokratische Dialogplattform Neues Forum, Stadtgruppe Bautzen, an Vorsitzenden des RdK Bautzen, Müller vom 14. 11. 1989 : Gründungsversammlung der Stadtgruppe Bautzen ( UB Grohedo ). 779 Vgl. KDfS Meißen : IMS „Jens Hildebrandt“ zum Treffen am 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 325–328).

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gliederten.780 In Delitzsch bildeten einen Tag nach der offiziellen Zulassung des Neuen Forums auf Einladung von Superintendent Heinrich Behr veränderungswillige Bürger eine Kreisgruppe des Neuen Forums, die vor allem für die Organisierung der künftigen Demonstrationen zuständig sein sollte.781 Auch der Organisationsgrad auf Bezirksebene war Anfang November unterschiedlich. Im Bezirk Karl - Marx - Stadt war das Neue Forum schon bald in Kreisund Ortsverbände gegliedert. Hier tagte Anfang November bereits ein erweiterter Sprecherrat und diskutierte die Einrichtung eines konspirativen Kontaktbüros sowie eine wöchentliche Anleitung der Kreissprecher.782 Im Bezirk Leipzig schätzte das MfS die Mitgliederzahl auf 1 500 und beobachtete eine fortgesetzte Mitgliedergewinnung sowie den raschen Aufbau von Strukturen.783 Der organisatorische Aufbau ging meist unabhängig davon voran, ob man mit einer Zulassung durch das SED - Regime rechnete. Eher noch beeinflusste die politische Atmosphäre die programmatische Ausrichtung. Angesichts der Dynamik der Entwicklung wurde vielerorts damit gerechnet, dass es bald gar nicht mehr im Ermessen der SED liegen würde, ob Organisationen wie das Neue Forum zugelassen würden. Dem Regime gingen seine Sanktionspotenziale peu à peu verloren. So wurden auch weiterhin auf allen Ebenen Anträge auf Zulassung gestellt.784 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt registrierte die SED - Bezirksleitung seit der Ablehnung des Antrages „eine systematische Steigerung ihrer Aktivitäten auf Zulassung dieser Vereinigung“. Martin Böttger, einer der Hauptorganisatoren, forderte die Anhänger auf, die Staatsorgane mit massenhaften Eingaben förmlich zu überschwemmen. Seitdem war eine Zunahme der Anträge an den Rat des Bezirkes zu registrieren. Von anfänglich vier Schreiben täglich stieg der Eingang auf täglich bis zu 30 Schreiben. Bis Ende Oktober gingen bereits 471 Anträge ein.785 Flankiert wurden die Anträge auf Zulassung durch solche nach Druckgenehmigungen für Schriften des Neuen Forums,786 Unterschriftensammlun-

780 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX vom 7. 11. 1989 : IM „Blei“ ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 19). 781 Vgl. Protokoll des Treffens zur gesellschaftlichen Veränderung bereiter Delitzscher vom 9. 11. 1989 ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). 782 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX, IM „Marco“ : Beratung des erweiterten Sprecherrats des Neues Forums am 4. 11. 1989 in Mittelbach ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 6). 783 Vgl. BVfS Leipzig vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 37, Bl. 1–35). 784 Vgl. Schreiben an den RdK Aue vom 1. 11. 1989 : Antrag auf Zulassung des Neuen Forums ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 68–72); KDfS Rochlitz vom 2. 11. 1989: Beabsichtigte Bildung des Neuen Forums in Penig ( ebd., Bl. 193 f.); RdK Aue vom 3. 11. 1989 : Antrag auf Zulassung des Neuen Forums ( SächsStAC, 121516). 785 Vgl. SED - BL Karl - Marx - Stadt vom 2. 11. 1989 : Bestrebungen, die Bürgerinitiative Neues Forum zu legalisieren ( ebd., 121517). 786 Vgl. KDfS Dresden - Land vom 2. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 336); Neues Forum Radebeul an RdK Dresden vom 1. 11. 1989 : Druckgenehmigung (ebd., XX 9186, Bl. 7–9).

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gen787 sowie Aushänge und Flugschriften.788 In zahlreichen Orten trat das Neue Forum, meist in Kooperation mit kirchlichen Mitarbeitern, als Organisator von Demonstrationen auf und sorgte für deren Friedlichkeit.789 In dem Maße, in dem es zur Selbstorganisation von Teilen der Bevölkerung kam, zog sich die Kirche wieder auf ihre eigentlichen Betätigungsfelder zurück.790 Das Neue Forum erfuhr eine immer breitere Unterstützung durch die Bevölkerung, das zeigt ein Blick auf die auf Demonstrationen und Foren sowie in Eingaben vorgetragenen Forderungen nach Zulassung.791 Die SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt registrierte eine „Tendenz der Zunahme der kollektiven Befürwortung“ einer Gründung des Neuen Forums aus verschiedenen Betrieben und Einrichtungen. Auch die mit steigender Teilnehmerzahl stattfindenden Demonstrationen dokumentierten die Forderung nach Legalisierung mit Sprechchören und Transparenten. Der Dialog hatte unter den Bürgern Hoffnungen auf eine baldige Legalisierung geweckt.792 Am 1. November informierte die CDU - Presse über einen Brief des Vorsitzenden der CDU - Volkskammerfraktion, Wolfgang Heyl, an Innenminister Dickel, in dem dieser die Zulassung des Neuen Forums auf der Grundlage der Verfassung forderte.793 Die Pressestelle des MdI sah sich daraufhin zur Mitteilung veranlasst, die Zulassung werde geprüft.794 Noch galt allgemein die Orientierung auf „das offensive Vorgehen zum Zurückdrängen der Forderungen auf Zulassung“.795 Am 2. November wies Krenz die 1. Sekretäre der Kreisleitungen an, Vertretern des Neuen Forums „Angebote zur aktiven Mitarbeit bei der Veränderung kreislicher Probleme“ zu machen.796 Welchem Ziel dies diente, zeigte eine Beratung des Sekretariats der SED - Bezirksleitung Dresden am 3. November. Hier wurde beschlossen, dass 787 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 8. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 9–11); KDfS Flöha vom 2. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 60–64); KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, KDfS Freital 15053, Bl. 1–10). 788 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 3.–4. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 61, 65); KDfS Freital vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., KDfS Freital 15053, Bl. 1– 10); KDfS Löbau vom 4. 11. 1989 : Reaktion ( ebd., LBV 10923, Bl. 5 f.); KDfS Flöha vom 2. 11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 60–64). 789 Vgl. Ekkehard Lehmann, Von der Arbeit des Neuen Forums in der Zeit der Wende 1989/1990. In : Neues Grenzblatt 12 vom 21. 6. 1991; Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz, Teil II vom 31. 10. 1989 ( HAIT, StKa ); KDfS Annaberg vom 9. 11. 1989 : Vertretertreffen Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 198–200). 790 Vgl. KDfS Reichenbach vom 1. 11. 1989 : Pfarrkonvent des Sup. - Bereiches Plauen in Jocketa mit Vertretern des Neuen Forums ( ebd., RB 130, Bl. 31 f.). 791 Vgl. KDfS Flöha vom 3. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 532, 2, Bl. 57–59); KDfS Marienberg vom 2. 11. 1989 : Info ( ebd. 538, Bl. 143); KDfS Freiberg vom 3. 11. 1989 : Lage (ebd. 533, 1, Bl. 9–11); KDfS Kamenz vom 3. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11063, Bl. 1–3). 792 SED - BL Karl - Marx - Stadt vom 2. 11. 1989 : Bestrebungen, die Bürgerinitiative Neues Forum zu legalisieren ( SächsStAC, 121517). 793 Vgl. Die Union vom 1. 11. 1989. 794 Vgl. ebd. vom 2. 11. 1989. 795 SED - BL Karl - Marx - Stadt vom 2. 11. 1989 : Bestrebungen, die Bürgerinitiative Neues Forum zu legalisieren ( SächsStAC, 121517). 796 SED - KL Löbau 2. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553).

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Vertreter der Räte auf Bezirks - und Kreisebene Gespräche mit Aktivisten des Neuen Forums führen, um dabei den Druck auf Zulassung „weiter zurückzudrängen“. Antragsverfahren seien „langfristig zu bearbeiten und dem Ministerium des Innern zu übergeben“. Den Versuchen des Neuen Forums, „über Arbeitsgruppen einen bestimmten Stand von Legalität zu erreichen“, sei „in ausgewogener Weise durch die Einbeziehung von Bürgern, die sich zum ‚Neuen Forum‘ bekennen, in Arbeitsgruppen der Volksvertretungen entgegenzuwirken“. Gleichzeitig, so Modrow, seien „verstärkte Bemühungen zu unternehmen, um den politischen Platz und die führende Rolle der Partei in der sozialistischen Gesellschaft weiter überzeugend darzulegen“.797 Nun gab es in allen Kreisen und Bezirken, aber auch auf kommunaler Ebene, Gespräche von Mitgliedern der SED - Leitungen mit Vertretern des Neuen Forums, bei denen sie aufgefordert wurden, sich an Arbeitsgruppen der Volksvertretungen zu beteiligen und dort ihre Vorstellungen darzulegen. Diese Angebote wurden meist auch genutzt, allerdings achtete man dabei darauf, sich nicht vom Regime vereinnahmen zu lassen. Von der gewünschten Zurückdrängung des Neuen Forums konnte aber in einer Situation, in der sich alles gegen die SED kehrte, keine Rede sein. Auch in der SED wurde inzwischen das bisherige Vorgehen gegen das Neue Forum von vielen Mitgliedern kritisiert.798 Selbst das MfS meinte inzwischen, da die Zulassung „weder mit politischen noch mit rechtlichen Mitteln zu verhindern“ sei, könne das Festhalten an der Nichtzulassung zu einer „Eskalation der Massenaktionen für die Zulassung“ und damit „zu einer erheblichen Zuspitzung der Lage, in der die Zulassung unumgänglich wäre“, führen. Die Folge wäre ein weiterer Autoritätsverlust des Staates, in dessen Folge die Legalisierung dann auch ohne Zustimmung der SED erfolgen würde. Im Sinne einer Stabilisierung der Lage für die SED wurde daher eine Zulassung befürwortet.799 Daher kam es nun zur Neuorientierung der SED - Führung. Das ZK meinte am 6. November intern, die Bevölkerung sehe die Legalisierung des Neuen Forums als „Probe für den Willen der SED zur revolutionären Erneuerung des Sozialismus“ an.800 Das Politbüro beschloss einen Tag später die Zulassung, beauftragte aber alle Parteiorganisationen, „auf die zu erwartenden Gründungsprozesse in ihrem Verantwortungsbereich Einfluss zu nehmen, um vor allem Verfassungstreue zu sichern und antisozialistischen Tendenzen entgegenzuwirken“. Dazu sollten auch SED - Mitglieder „gezielt“ im Neuen Forum mitwirken.801 Unterstützung unterhielten sie durch Spitzel des MfS, die Extraprämien dafür erhielten, wenn es ihnen gelang, in Strukturen des Neuen Forums einzudringen.802 Ziel war es, 797 Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED - BL Dresden vom 3. 11. 1989 ( ABL, EA 891103_1). 798 Vgl. ZK der SED vom 6. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZAIG 7834, Bl. 7). 799 Hinweise zur möglichen Zulassung des Neuen Forums, o. D. ( ebd. 7388, Bl. 20–22). 800 ZK der SED vom 6. 11. 1989 : Lage ( ebd. 7834, Bl. 6). 801 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 7. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2358). 802 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf : Arbeitsbuch Ulrich Kreyer vom 11. 10. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, BE 187).

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so der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl - Marx - Stadt, mit den IM das Neue Forum zu „unterstützen“, wie man bisher schon die „befreundeten Parteien“ unterstützt habe. Außerdem wurden, Zulassung hin oder her, auch weiterhin alle Bürger, die sich im Neuen Forum engagierten, nach der Direktive 1/67 des MfS erfasst,803 um sie eventuell später doch noch bestrafen zu können. Nach Anweisung von Krenz804 und einem entsprechenden Beschluss des ZK beauftragte Stoph am 8. November Innenminister Dickel, die Stellvertreter für Inneres der Räte der Bezirke und des Ost - Berliner Magistrats anzuweisen, in Aussprachen mit Antragsstellern darauf hinzuwirken, dass diese „konkrete Aussagen über die Zielstellung und den Charakter dieser Vereinigung im Rahmen der Verfassung der DDR“ in das Statut ihrer Vereinigung aufnehmen und diese dann erneut einreichen. Erst wenn diese Bereitschaft vorhanden sei, sei die Zulassung zu erteilen, dann aber gleich für das gesamte Territorium.805 Das Innenministerium bestätigte daraufhin die Prüfung der Zulassung des Neuen Forums als Vereinigung und erlaubte grundsätzlich die Gründung von Vereinigungen, wenn von diesen „die Verfassung der DDR als Grundlage des politischen Handelns ausdrücklich anerkannt wird“. Der Vorsitzende des Ministerrates ordnete ausdrücklich an, eine Zulassung für den Fall zu untersagen, wenn „verfassungswidrige Ziele in das Statut aufgenommen werden“ oder „rechtswidrige Aktivitäten“ begangen werden.806 Mit der Zulassung derart disziplinierter Ableger des Neuen Forums für die jeweiligen Territorien ( Bezirke ) sollten zugleich parallele Gründungen verhindert und neben der Mitarbeit von SED Mitgliedern sowie Spitzeln eine Kontrolle über die Gründungen gewonnen werden. Mit der so angestrebten Anerkennung der in der Verfassung verankerten Alleinherrschaft der SED war einem Vorgehen gegen das Neue Forum ebenso Tür und Tor geöffnet, wie dessen Einverleibung in den Block untergeordneter Parteien und Massenorganisationen. Der Vorgang machte deutlich, dass die SED keinen Millimeter von ihrem bisherigen Machtanspruch abgerückt war. Nun wurden alle nachgeordneten Staatsorgane in diesem Sinne instruiert.807 Noch am selben Tag gab es eine Stellungnahme der Initiativgruppe des Neuen 803 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8. 11. 1989 (ebd., AKG 438, Bl. 16). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 34; KDfS Meißen : IMS „Jens Hildebrandt“ zum Treffen am 2. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 325– 328). 804 MfS, der Minister, an Leiter der Diensteinheiten vom 8. 11. 1989, Anlage : Weisung Egon Krenz an Friedrich Dickel vom 8. 11. 1989 ( ABL, FVS Dresden o008, Teil 3). Vgl. Besier / Wolf, Pfarrer, Christen und Katholiken, Dok. 129, S. 621 f. 805 Willi Stoph an Vorsitzende der RdB zur Weiterleitung an die Oberbürgermeister der Städte und Berlin, an die Vorsitzenden der RdK vom 8. 11. 1989 ( Brandenburg. LHA, A /3296); Minister für Inneres und Chef der DVP, Dickel, an Magistrat von Berlin, RdB 2–15 vom 8. 11. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 806 Egon Krenz an 1. Sekretäre der SED - BL und GL Wismut, 1. Sekretäre der SED - KL, Horst Brünner NVA, Erwin Primke MdI, Horst Felber MfS, o. D. In : Klemens, Geheime Verschlußsache, S. 219 f. 807 Chef der DVP, Dickel, an RdB 2–15 vom 8. 11. 1989 ( SächsStAC, 126403); BVfS KarlMarx- Stadt, Leiter, an alle op. Diensteinheiten vom 8. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45).

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Forums, in der der Eingang der Anmeldungsbestätigung durch das Innenministerium bekannt gemacht wurde. Gründungshandlungen des Neuen Forums wurden angekündigt und die Umsetzung der programmatischen Forderungen bekräftigt. Die Initiativgruppe wies darüber hinaus darauf hin, dass nun auch andere oppositionelle Gruppierungen und Parteien zu legalisieren seien, um auch ihnen die Möglichkeit zu geben, an einer „tiefgreifenden und dauerhaften Umgestaltung in der DDR“ mitzuwirken. Das Neue Forum zeigte sich für eine Zusammenarbeit mit allen oppositionellen Parteien und Gruppierungen bis hin zu Wahlbündnissen offen.808 Noch am 8. November wurde das Neue Forum in Karl - Marx - Stadt und Leipzig bestätigt und durfte nun innerhalb von drei Monaten Gründungsverhandlungen durchführen.809 In Karl - Marx - Stadt trug die SED - Bezirksleitung damit „der Tatsache Rechnung, dass die verantwortlichen Vertreter des Neuen Forums [...] im Gegensatz zu dem abgelehnten Erstantrag vom 19. 9.1989 mit der dort beigefügten Plattformerklärung sich jetzt eindeutig bekennen, ihre Tätigkeit auf dem Boden des Sozialismus und seiner demokratischen Erneuerung sowie in Übereinstimmung mit den Grundsätzen unserer Verfassung zu vollziehen“. Gegenüber dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes erklärten sie allerdings, die Führungsrolle der SED nicht zu akzeptieren und eine Verfassungsänderung auf dem Wege eines Volksentscheides erreichen zu wollen. Wichtig war den Partei - und Staatssekretären dabei die Bereitschaft der Vertreter des Neuen Forums zu Gesprächskontakten und „gemeinsame[ n ] Handlungsaktivitäten auf Bezirksund Kreisebene“. „Wir fördern sie“, so das Sekretariat der SED - Bezirksleitung, „nehmen aktiv daran teil und empfehlen unseren Kreisleitungen wie dem Rat des Bezirkes und auch den örtlichen Räten ein gleiches Herangehen.“ Das Neue Forum unterstütze inzwischen das Bemühen der SED, „den Dialog möglichst in kleineren, überschaubaren Gesprächsgruppen zu sachbezogenen Themen und unter Einbeziehung sachkompetenter Persönlichkeiten zu lenken“.810 In den Kreisen konstituierten sich nun angemeldete und legale Kreisverbände, die den Führungsanspruch formal anerkennen mussten, de facto aber meist weiterhin das Gegenteil taten. Unmittelbar nach der Zulassung forderte auch die Berliner Inititiativgruppe die Zulassung weiterer oppositioneller Gruppierungen und Parteien, freie Wahlen und Medien sowie die Schaffung einer pluralistischen Gesellschaft und griff das Führungsmonopol der SED offen an.811 Unter der Bevölkerung löste die Anerkennung „keine besonderen Reaktionen“ aus.812 Hier wie im Neuen Forum hatte sich die Stimmung bereits so verändert, dass 808 Stellungnahme des Neuen Forums zur Bestätigung seiner Anmeldung vom 8. 11. 1989 (UB Grohedo ). 809 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 9. 11. 1989. 810 Bericht des Sekretariats an SED - BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 ( SächsStAC, 115856). Vgl. Schnurrbusch, Herbst 1989, S. 49 f. 811 Stellungnahme des Neuen Forums zur Bestätigung der Anmeldung vom 8. 11. 1989. Für die Initiativgruppe Neues Forum Bärbel Bohley, Sebastian Pflugbeil, Eberhard Seidel (ABL, H. XIX /1). 812 KDfS Stollberg vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 10).

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niemand auf die Meinung des „Auslaufmodells“ SED besonderen Wert legte. Einzig die Partei - und Staatsführung demonstrierte weiterhin – und bis ins neue Jahr hinein – die Nachhaltigkeit ihres Unvermögens einer klaren Analyse der Situation und bestätigte ihr ideolgisch begründetes Festhalten am totalitären Führungsanspruch. Schabowski bestätigte später die Rolle der Ideologie beim verbissenen Festhalten an der Diktatur. Es sei das „selbstverliebte Verharren in der Utopie“ gewesen, das sie in der Führung weiter glauben ließ, sie „könnten aus dem ruinierten Balg doch noch einen sozialistischen Phönix zaubern“.813 4.11 Rücktritt von Teilen des Politbüros beim 10. Plenum des ZK der SED (8./9.11.) Parallel zu der von der Bevölkerung erzwungenen Legalisierung des Neuen Forums im Rahmen kommunistischer Gesetzlichkeit geriet das 10. Plenum des ZK der SED vom 8. bis 10. November (1. Session 8./9.11.) zum „Spiegelbild der Zerrüttungserscheinungen“ der SED.814 Nach dem geschlossenen Rücktritt des bisherigen Politbüros wurde Krenz einstimmig zum Generalsekretär wiedergewählt. Das Politbüro wurde verkleinert.815 Mehrere führende Funktionäre aus der Honecker - Zeit wurden in den Ruhestand geschickt. Krenz ging zwar hart mit der Politik Honeckers und Mittags ins Gericht, setzte aber dennoch auf die früheren Träger des Regimes. Schon vor dem Plenum waren Forderungen nach schneller Einberufung einer Parteikonferenz erhoben worden. Während des 10. Plenums gab es bereits Forderungen nach einem Sonderparteitag. Eine Parteikonferenz konnte einen Teil der Mitglieder des ZK auswechseln, ein außerordentlicher Parteitag ein neues ZK wählen und alle Führungspositionen neu besetzen. Angesichts des schwachen Reformwillens von Krenz hatte die SED - Organisation der Akademie der Wissenschaften zu einer Demonstration vor dem Gebäude des ZK aufgerufen. Rund 15 000 SED - Mitglieder forderten hier am 8. November, mit der Vergangenheit zu brechen und das gesamte ZK neu zu wählen. Die Wahl des „neuen“ Politbüros wurde kritisiert.816 Auch Modrow und Wolf sprachen dem „provisorischen alten – neuen Politbüro“ die Führungslegitimation ab und verliehen sie den SED - Demonstranten vor dem ZK.817 In der SED - Bezirksleitung Dresden wurden die personellen Veränderungen im Politbüro als „halbherzige Veränderung“ aufgenommen. Das wiederge813 Schabowski, Selbstblendung, S. 116. 814 Stephan, Vorwärts immer, rückwärts nimmer !, S. 18. 815 Neu gehörten dem Politbüro Hans Modrow, Wolfgang Herger, Wolfgang Rauchfuß und Gerhard Schürer an. Ausscheiden mussten Hermann Axen, Horst Dohlus, Werner Eberlein, Kurt Hager, Günther Kleiber, Werner Krolikowski, Erich Mielke, Erich Mückenberger, Gerhard Müller, Alfred Neumann, Horst Sindermann, Willi Stoph, Harry Tisch und, nach Protesten von der Basis, Hans - Joachim Böhme, Werner Jarowinsky, Heinz Keßler, Siegfried Lorenz sowie Günter Schabowski. Vgl. Neues Deutschland vom 9. 11. 1989. 816 Vgl. Bollinger, Als die Verhältnisse, S. 28 f. 817 Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 287.

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wählte Politbüro biete, so Modrow, „keine Garantien für die notwendige Wende und Erneuerung in der Partei und Gesellschaft“. Stattdessen wurde gefordert, die bislang Verantwortlichen auch juristisch „mit aller Konsequenz zur Rechenschaft zu ziehen“. Ohne solche „radikalen Konsequenzen“ sei es nicht möglich, das Misstrauen gegen die SED abzubauen. Nur wenige Mitglieder sähen im Moment „echte Ansätze für die erfolgreiche Erneuerung des Sozialismus in der DDR“.818 Auch wenn hier das Bestreben Modrows mitklang, Krenz die Kompetenz zur Führung abzusprechen, um sich selbst als den neuen Mann zu präsentieren – die Darstellung entsprach der Stimmung in den meisten Kreisverbänden. In Borna löste die Zusammensetzung des neuen Politbüros bei Funktionären „Resignation und Ratlosigkeit“ aus. Es gab „Zweifel am Fortbestand der SED“.819 In Hohenstein - Ernstthal registrierte man eine „tiefe Zerstrittenheit“ und Zerwürfnisse in der Parteiführung. Die Partei sei gespalten und zeige ein breites Meinungsgefüge. Schon deshalb seien Forderungen nach einer Parteikonferenz berechtigt.820 In dieser Situation erhöhte auch die Bundesregierung ihren Druck weiter. Der Kanzler erklärte am 9. November im Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vor dem Bundestag, freie Selbstbestimmung für alle Deutschen war, ist und bleibe das „Herzstück unserer Deutschlandpolitik“.821 Die Rede des Oppositionsführers zeigte, dass Regierung und Opposition in zentralen Fragen der Deutschlandpolitik gleiche Auffassungen vertraten : Grundlage umfassender Hilfe seien der Verzicht der SED auf ihr Machtmonopol, die Zulassung unabhängiger Parteien und freie Wahlen. Vogel plädierte für das Selbstbestimmungsrecht als Grundlage jeder Entscheidung in der DDR, meinte aber, dass keine politische Gruppierung in der DDR derzeit von Wieder vereinigung rede. Was derzeit in der DDR und im gesamten Ostblock zu beobachten sei, sei die „Wiedergeburt“ des „demokratischen Sozialismus“, der bald auch auf Westeuropa ausstrahlen werde.822 Für die Fraktion der Grünen erklärte Antje Vollmer, angesichts der Reformbemühungen in der DDR sei die Rede von Wiedervereinigung „historisch überholter denn je“. Zum ersten Mal entstehe in der DDR „eine eigene DDR - Identität. Jetzt ausgerechnet in dieser Lage von Wieder vereinigung zu sprechen, heißt das Scheitern der Reformbewegung zu postulieren und vorauszusetzen.“823 Vor diesem Hintergrund beauftragte das Politbüro Schalck - Golodkowski, die Bundesregierung um 818 SED - BL Dresden vom 9. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 52, 54 f.). 819 SED - KL Borna vom 9. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 116–118). 820 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 9. 11. 1989 : Erste Reaktionen auf den Beginn der 10. Tagung des ZK der SED ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 7 f.). 821 Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 8. 11. 1989. Abgedruckt in Texte zur Deutschlandpolitik III /7, S. 319–383. Vgl. Jäger, Kanzlerdemokratie, S. 354 f. 822 Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 8. 11. 1989. Abgedruckt in Texte zur Deutschlandpolitik III /7, S. 346 f. 823 Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland. In : Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 3 f.

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Unterstützung zu bitten und ein Interesse an einer weiteren Entwicklung der Beziehungen zu bekunden.824 Das entsprechende Interesse in der Bundesregierung war vorhanden. Freilich teilte man hier weder die in SPD und bei den Grünen verbreitete Auffassung, die Bevölkerung werde sich für ein Aufblühen des demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR entscheiden, noch wünschte die konservativ - liberale Regierung dies. Hier setzte man auf staatliche Einheit, ohne freilich wissen zu können, wie die Entwicklung in der DDR weitergehen würde. 4.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Anfang November wurden das Grenzregime und die Ausreispraxis liberalisiert, um politischen Druck vom Regime zu nehmen. Tausende DDR - Bürger reisten daraufhin über die tschechisch - bayerische Grenze aus. Innenpolitisch galt weiterhin erhöhte Einsatzbereitschaft. Krenz machte klar, dass er an der SED Alleinherrschaft nicht rütteln lassen werde. Am 4. November demonstrierten in Berlin Hunderttausende für Veränderungen unterschiedlichster Art. Auf einer Kundgebung sprachen sich führende, meist marxistische Intellektuelle für eine Reform des Sozialismus aus. Vertreter der demonstrierenden Bevölkerung kamen nicht zu Wort. Hier zeichnete sich erstmals deutlich eine Distanz zwischen den Zielen der Bevölkerung und Aktivisten aus den Reihen der Bürgerbewegungen und der Intellektuellen ab. Sachsen erlebte Anfang November den Höhepunkt der Demonstrationen. Überall wurde die führende Rolle der SED, das MfS und die SED - Dialogpolitik massiv in Frage gestellt sowie Freiheit und Demokratie gefordert. Ein Blick auf die Zeitschiene zeigt, dass die Proteste gegen die SED ab Mitte Oktober stark anstiegen, um Mitte Dezember wieder abzufallen. Mitte Oktober bot die durch die Dialoge entstandene, offenere Atmosphäre die Möglichkeit, eigene Meinungen offener und ungestraft kundzutun. Zuvor hatten sich die Wünsche nach einem Ende des SED - Regimes hinter Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums oder nach Reformen verborgen. Nun spielten zwar auf Demonstrationen und bei Foren auch aktuelle Aspekte wie der Entwurf des Reisegesetzes eine gewisse Rolle, dominant aber war das Verlangen nach Beseitigung des Systems. Systemmodifizierungen wurden fast nur noch von Bürgerbewegungen und Intellektuellen eingefordert. Insofern machten sich die Proteste nur bedingt an von der SED verantworteten aktuellen Ereignissen fest. Nicht die SED bestimmte das Geschehen, sondern die Menschen auf der Straße und in Versammlungen. Bei regionalen Kundgebungen ging es aber auch um Veränderungen vor Ort und in den Betrieben. Lokale Funktionäre wurden zum Rücktritt gedrängt. Die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung nahm zu, wurde aber Dank permanen824 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.–10. 11. 1989, Anlage Nr. 5 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2//2358).

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Diagramm 14: Parolen für und gegen SED / SED - PDS.

ter Interventionen der Kirchen und des Neuen Forums unterdrückt. In der SED setzte sich die Austrittsbewegung fort. Die Einheitlichkeit der Partei schwand. Die Lage war von Desorientierung und Verunsicherung gekennzeichnet. Unter den Mitgliedern wuchs die Bereitschaft, die Führung für die Entwicklung verantwortlich zu machen. Auf allen Ebenen begann eine Rücktrittswelle von Funktionären des Partei - und Staatsapparates. Um die Lage zu entspannen, veröffentlichte das Politbüro am 6. November einen Gesetzentwurf über Reisen ins Ausland. Wegen darin enthaltener fortgesetzter Restriktionen führte er zu einer weiteren Verschärfung der Lage und zu einem Fortgang der Massenausreise über die ČSSR nach Bayern. Um den Druck von der SED - Führung wegzulenken, trat die Regierung ( der Ministerrat) am 7. November zurück. Zu einer Beruhigung der Lage trug dies nicht bei, vielmehr nahm die Protestbewegung weiter an Stärke zu. Zu den Forderungen nach einem Ende der SED - Herrschaft und ihres Sicherheitsapparates, nach Freiheit und Demokratie, kam nun immer öfter auch die Forderung nach deutscher Einheit. Die Dialogveranstaltungen unterschieden sich in dieser Beziehung kaum noch von den Protesten auf der Straße. Die Fortsetzung der Dialogstrategie der SED stand im Zusammenhang mit der Lage in den Staatsorganen. Anfang November zeigten sich bei Räten und Volksvertretungen wie bei der SED selbst erste Auf lösungserscheinungen. Daraufhin beschloss das Regime nach Dresdner Vorbild eine stärkere Einbeziehung interessierter Bürger in die Sacharbeit der Kommissionen der Volksvertretungen aller Ebenen. Statt von „Dialogen“ war nun immer häufiger von „Foren“ die Rede. Das Regime nahm die Begriff lichkeit des Forums – in Anlehnung an

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das Neue Forum – auf, um seinen Dialogen ein neues Outfit zu verpassen und um zu suggerieren, dass man kein „Neues Forum“ brauche und selbst Foren anbieten könne. Vor allem sollten so die Proteste auf den Straßen im Sinne der Logik der Funktionsweise des bisherigen Regimes „versachlicht“ werden. Die Aufforderung zur Mitarbeit in Arbeitsgruppen der Volksvertretungen sollte suggerieren, dass Änderungen im Rahmen des bestehenden Systems möglich seien und es nur um eine fleißige Mitarbeit gehe. Hier wurden vor allem kommunale Probleme auf Grundlage der bestehenden Ordnung thematisiert. Während die Bevölkerung das Ende des Regimes forderte, glaubte die Führung, durch Modifizierungen in der Arbeit der Volksvertretungen und der Räte den Protest kanalisieren zu können. Das Neue Forum reagierte darauf mit einer Strategie, nach der man zwar die Angebote zur Kooperation durch das Regime nutzte, zugleich aber weiter auf Durchsetzung politischer Grundforderungen durch Demonstrationen setzte. Damit war die Strategie des Regimes ausgehebelt, und die Kooperationsangebote des Staates zusätzlich im Sinne einer Systemveränderung bzw. eines Systemssturzes genutzt. Allerdings gab es auch von Seiten der Kirche und des Neuen Forums viele, die Dialogforen den Demonstrationen vorzogen. Darin drückte sich meist die Vorstellung von einer gemeinsam mit der SED zu gestaltenden Zukunft aus. Die demonstrierende Bevölkerung aber lehnte Dialoge in geschlossenen Räumen als Scheinangebote ab, mit denen die neu errungene Öffentlichkeit wieder zur sozialistischen degradiert worden wäre. Sie demonstrierten weiter und „retteten dadurch die Revolution“.825 Auch in den Betrieben nahmen die Proteste zu, allerdings wurden Streiks weitgehend abgelehnt. Hier stand auch die kommunistische Massenorganisation FDGB, mit der die SED Gewerkschaftstätigkeit simuliert hatte, im Fokus der Kritik. Es häuften sich Forderungen nach echten und unabhängigen Gewerkschaften. Eine zentrale Frage hinsichtlich des Fortganges der revolutionären Entwicklung betraf, insbesondere in dieser Phase, die Haltung der „bewaffneten Organe“, also von MfS, Volkspolizei, Armee und Kampfgruppen. Anfang Oktober hatten sie ihre Bereitschaft demonstriert, auch gewaltsam gegen die Bevölkerung vorzugehen. Nun aber zeigte sich, dass der Niedergang der SED auch ihre Kampfmoral unterminierte. Besonderes Augenmerk galt dem MfS, dessen symbiotische Verbindung mit der SED und ideologische Fixiertheit nun deutlich wurde. Fixiert auf die SED zeigte das MfS unter dem neuen, aber führungsschwachen SED - Generalsekretär Krenz eine „orientierungslose Entscheidungsschwäche“.826 Von dort aber kamen keine klaren Signale. Ohne entsprechende Order der Partei gab es aber auch bei den anderen militärischen Machtorganen des Regimes keine hinlängliche Bereitschaft, die Macht um ihrer selbst willen zu stützen. Bei dieser Haltung spielten auch Rückbindungen in den sowjetischen Machtapparat eine Rolle. Eine offene Militärdiktatur im Osten Deutschlands widersprach den politischen Zielen Moskaus fundamental. So reduzierten sich 825 Oberreuter, Medien als Akteure, S. 374. 826 Fricke, Geschichtsrevisionismus aus MfS - Perspektive, S. 495.

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die Anstrengungen des MfS, um das es in diesem Zusammenhang vor allem ging, auf den Schutz seiner Objekte und auf die Beseitigung der Spuren seines oft verbrecherischen Wirkens. Es gab freilich aus den Reihen der „Tschekisten“ genügend Stellungnahmen, die keinen Zweifel daran ließen, dass man bereit war, das Regime gewaltsam zu schützen, wenn die SED dies denn wünschte. Mielke betonte im Nachhinein : „Hätte die Partei mir den Auftrag gegeben, dann gäbe es die DDR vielleicht noch heute. Darauf können Sie sich verlassen.“827 In der SED - Führung um Krenz aber setzte man, auch unter Druck aus Moskau, auf friedliche Methoden der Machtsicherung. Dazu gehörten die fortgesetzten Versuche, die Demonstrationen zugunsten von Dialogveranstaltungen einzuschränken sowie Sicherheitspartnerschaften zwischen Vertretern des Staates und der Demonstranten zu vereinbaren. Aus diesen Kooperationsformen unter Einbeziehung von Vertretern der Kirchen gingen später die regionalen Runden Tische her vor. Die Sicherheitspartnerschaften waren aus Sicht der Revoltierenden dem Willen geschuldet, den politischen Umbruchprozess nicht zu gefährden. Aus Sicht des Regimes ging es primär um den Erhalt staatlicher Sicherheit, weniger um die Rolle der SED. Hier kündigte sich ein Vorgehen an, das sich stärker an den Kategorien sozialistischer Staatlichkeit als an der SED - Alleinherrschaft orientierte. Typisch deutsch sollten vor allem Ordnung und Sicherheit gewährleistet werden, erst Modrow formte daraus ein Konzept zur Erhaltung des sozialistischen Staates durch Verzicht auf eine Einparteiendiktatur. Der Strategie der staatlichen Machtsicherung durch eine Öffnung gegenüber neuen Kräften entsprach auch die Zulassung des Neuen Forums am 8. November, das gesetzlich auf den sozialistischen Staat unter Führung der SED verpflichtet wurde. Durch die Einbindung dieser oppositionellen Sammlungsbewegung in die Arbeit des Staatsapparates hoffte die SED, das sozialistische Regime wieder stabilisieren zu können. Diesem Ziel diente auch die nun überall beginnende Bildung von Fraktionen in den örtlichen und regionalen Volksvertretungen. Im Neuen Forum gab es in der Tat zahlreiche Akteure, die eine Reform der Gesellschaft an der Seite der SED anstrebten. Sie kamen freilich eher aus Berlin als aus Sachsen. Die Mehrheit der demonstrierenden Bevölkerung aber formulierte immer deutlicher andere Vorstellungen. Diese liefen auf ein Ende jeder Art von Sozialismus und auf die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus. Obwohl das Neue Forum nun überall schnell Organisationsstrukturen bildete, ging sein Einfluss in Sachsen zugleich rapide zurück. Das lag vor allem an den reformsozialistischen Zielen der Berliner Akteure, die in Sachsen kaum geteilt wurden. Hier überlebte das Neue Forum in den Kreisen und Orten vor allem deswegen noch Monate, weil es sich von der Berliner Gruppe distanzierte und eine Form der Selbstorganisation der Proteste bzw. der Bevölkerungsinteressen vor Ort darstellte.

827 Interview mit Erich Mielke. In : Der Spiegel vom 31. 8. 1992.

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Unter dem Druck der Massenproteste, die Anfang November ihren absoluten Höhepunkt erreichten, traten große Teile des Politbüros am 8./9. November zurück. Krenz blieb Generalsekretär. Zwar wollte die SED - Führung damit ihre Handlungsbereitschaft bekunden, der als unzureichend empfundene Schritt führte aber nicht nur zu neuen Protesten, sondern auch zu wachsender Kritik an der SED - Führung in den eigenen Reihen. Hier erkannte man die Gefahr für den Erhalt der Macht durch unzureichendes Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Demonstranten. Die Haltung der SED - Führung unter Krenz war durch teilweises Entgegenkommen in personellen Fragen ohne Aufgabe inhaltlicher Positionen gekennzeichnet. Sie legte keine programmatischen Reformpositionen vor und gab ihre ideologischen Paradigmen nicht auf. Die Bundesregierung erhöhte in dieser Situation ihren Druck, indem sie weiterreichende Schritte der Demokratisierung als Grundlage für die Entwicklung guter Beziehungen bezeichnete. In Bonn setzte man weiter auf das Ziel, die deutsche Einheit auf dem Wege einer selbstbestimmten Entscheidung einer demokratisierten DDR zu erreichen.

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Fall der Mauer (9.11.–16.11.)

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Öffnung der Grenze, erste Reisewelle und westliche Reaktionen

Seit der Möglichkeit der Ausreise über die ČSSR am 3. November war der Flüchtlingsstrom nicht abgerissen. Stündlich passierten am 9. November drei bis viertausend DDR - Bewohner mit Pkw den Grenzübergang Schönberg Richtung ČSSR.1 In Berlin setzte indessen die 10. Tagung des ZK der SED ab 10.00 Uhr ihre Beratungen fort und beschloss, für den 15. bis 17. Dezember die 4. Parteikonferenz der SED einzuberufen. Eher beiläufig wurde auch die Reiseverordnung verhandelt. Eine Arbeitsgruppe legte einen Entwurf über „Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreisen“ vor, nur darum ging es zunächst.2 Während der Beratung wurde jedoch klar, dass dadurch Ausreisewillige die Grenze hätten sofort überqueren können, während alle anderen zurückgewiesen worden wären.3 Dadurch hätte sich der Druck auf die Personen erhöht, ständig auszureisen, die eigentlich nur einmal in den Westen fahren wollten.4 Daher fügte man einen „Passus über Privatreisen“ als Übergangslösung in den Entwurf ein. Der Entwurf lautete nun : „1. Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ( Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. 2. Die zuständigen Abteilungen Pass - und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich. 3. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West ) erfolgen. 4. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.“5 Innenminister Dickel gab Krenz zu Beginn der ZK - Tagung die neue Reiseregelung zur Genehmigung.6 Das Visum sollte im Fall einer positiven Entscheidung der Volkspolizei in den Pass oder Personalausweis eingetragen werden. Nach dem Entwurf

1 2 3 4 5 6

Vgl. Das Volk vom 10. 11. 1989. Vgl. Hertle, Der 9. 11. 1989, S. 22 und 26; Aussage Gerhard Lauter. In : Kurz, Ost - Berlin, S. 178; Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1147 f. Vgl. Der Spiegel vom 8. 10. 1990, S. 104. Vgl. Walter Süß, Öffnung der Mauer vor einem Jahr. Weltgeschichte in voller Absicht oder aus Versehen ? In : Das Parlament vom 9./16. 11. 1990. Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1147. Friedrich Dickel an Willy Stoph vom 9. 11. 1989, Anlage ( BArch Berlin, C 20 I /3–2867, Bl. 55 f.). Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.–10. 11. 1989, Anlage 2 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2358).

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gingen einer Ausreise noch erhebliche Formalitäten voraus. Die letzte Entscheidung lag nach dem neuen Reisegesetz weiterhin bei den DDR - Sicherheitsbehörden. Krenz verlas ihn dann auf der ZK - Tagung7 und betonte, die Regelung diene in erster Linie dazu, Aussiedler direkt über die Grenzpunkte der DDR in die Bundesrepublik zu entlassen.8 Anschließend legte er den Entwurf dem Politbüro vor.9 Es fand keine reguläre Sitzung statt, sondern Krenz verlas den anwesenden Mitgliedern die Erklärung.10 Das Politbüro stimmte im Eilverfahren zu. Danach wurde das Papier im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der Regierung verabschiedet.11 Anders ist die Darstellung Modrows. Demnach lagen zum Zeitpunkt der Verkündigung weder Beschlüsse der Regierung noch der Volkskammer vor, die „über diese weitreichende Frage hätte beraten und entscheiden müssen“.12 Herger informierte Krenz, der daraufhin gegen 17.20 Uhr die Debatte der ZK - Tagung unterbrach und die Verordnung verlas.13 Sie löste hier keine sonderliche Überraschung mehr aus. Krenz und Schabowski beschlossen, die Medien über die Verordnung zu informieren.14 Gegen Ende der vom DDR - Fernsehen live übertragenen Pressekonferenz gab Schabowski um 18.57 Uhr auf Nachfrage den Beschluss bekannt.15 Nach eigenem Bekunden zögerte Schabowski mit der Bekanntgabe, um der noch ausstehenden Entscheidung des Ministerrates nicht vorzugreifen und den Beschluss nicht nur als den des Politbüros erscheinen zu lassen.16 Auf die Nachfrage, ab wann die Regelung gelte, antwortete Schabowski zögernd und eher beiläufig : „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“17 Tatsächlich sollte sie erst um 4.00 Uhr in Kraft treten. Darüber war Schabowski jedoch nicht informiert. Die Meldung wurde sofort über alle Medien ohne weitere Einzelheiten verbreitet. Nach der Pressekonferenz wurde Schabowski offensichtlich die Brisanz seiner Mitteilung klar. Er erkundigte sich, ob die Sicherheitsorgane auf die neue Situation vorbreitet seien. Da der Ministerrat die Reiseregelungen selbst zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch nicht bestätigt hatte, waren auch die Einheiten der 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Protokoll der 10. Tagung des ZK der SED vom 8.–10. 11. 1989 ( ebd. 2/1/707); Erklärung von Egon Krenz auf der 10. Tagung des ZK der SED am 9. 11. 1989 ( ebd. 2/1/708). Vgl. Egon Krenz, Es war das Volk. In : Der Spiegel vom 22. 10. 1990. Vgl. Modrow, Aufstieg und Ende, S. 26. Willi Stoph vom 9. 11. 1989 : Vorlage für das Politbüro des ZK der SED : Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR ( BArch Berlin, C 20 I /3–2867, Bl. 57–60). Aussage Wolfgang Herger. In : Hertle, Der 9. 11. 1989, S. 6. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 307; Aussage Wolfgang Herger. In : Hertle, Der 9. 11. 1989, S. 24. Modrow, Aufstieg und Ende, S. 25. Beschluss des Ministerrats der DDR vom 9. 11. 1989 : Regelungen für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR ( BArch Berlin, C 20 I /3 2867, Bl. 44–51). Aussage Wolfgang Herger. In : Hertle, Der 9. 11. 1989, S. 11 f. Vgl. Karl - Heinz Baum, In dieser Nacht ging Berlin nicht schlafen. In : Frankfurter Rundschau vom 11. 11. 1989. Vgl. Schabowski, Der Absturz, S. 307. Nach Schabowskis Darstellung gab ihm Krenz das Papier, „ohne ein Wort über eine Sperrfrist zu verlieren“. Schabowski, Das Politbüro, S. 138.

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Grenztruppen der DDR „noch Stunden danach“18 nicht informiert. Auch im Innenministerium wunderte man sich über die Ankündigung, sollte hier doch um 20.00 Uhr ein Fernschreiben verschickt werden, wonach die neuen Reiseregelungen ab dem nächsten Tag und verbunden mit Anträgen, Visastempel im Personalausweis und anderen bürokratischen Hürden gelten sollten. Um 20.30 Uhr unterzeichnete Generaloberst Wagner im Innenministerium weisungsgemäß das Fernschreiben und ging gegen 21.00 Uhr nach Hause. Dort klingelte bereits ununterbrochen das „We - Tsche“, das abhörsichere Telefon. Grenzeinheiten verlangten Auskunft darüber, was angesichts der Menschen an der Grenze zu tun sei. Auch im MfS und bei der NVA erfuhr man von der neuen Regelung durch den Rundfunk. Noch galt der Befehl, massenhafte Grenzdurchbrüche mit aller Macht zu verhindern. Gegen 20.45 Uhr fand in Strausberg eine von Armeegeneral Keßler anberaumte Sitzung des Kollegiums des Verteidigungsrates statt, bei der auch Generaloberst Baumgarten über die Vorgänge an der Berliner Mauer informiert wurde. Nach kurzer Beratung fuhr er zur Kommandozentrale der Grenztruppen, um selbst die Führung der Einheiten zu übernehmen. Baumgarten gab während der Nacht mehrfach die Anweisung, keine Schusswaffen anzuwenden. Als der diensthabende Generaloberst Karl - Heinz Wagner im MdI vom Ansturm auf die Mauer hörte, setzte er sich telefonisch mit der Leitstelle des MfS in Verbindung. Um 21.00 Uhr wurde Krenz von Neiber informiert. Im Leitzentrum der HA VI des MfS, zuständig für die „Personenkontrolleinheiten“ an den Grenzen, war man laufend über die Entwicklung an den Grenzen informiert, da hier die Kommandeure Bericht gaben. Sie meldeten, dass erst Dutzende, dann Hunderte und schließlich Tausende unter Berufung auf Schabowskis Ankündigung über die Grenze gehen wollten. Auch aus den MfS - Bezirksverwaltungen kamen ähnliche Meldungen. Die Kommandeure forderten klare Anweisungen, die aber bis in die Nacht auf sich warten ließen.19 Es wurde zunächst geraten, die Wartenden auf den nächsten Morgen zu vertrösten. Diese aber beriefen sich auf Schabowskis Ankündigung und ließen sich nicht zurückweisen. Die Stimmung eskalierte weiter, als die Menschen aufgefordert wurden, sich mitten in der Nacht bei den Meldestellen Visa zu besorgen. Daraufhin rief Mielke bei Krenz an und meldete große Menschenansammlungen an der Mauer. Er äußerte die Befürchtung, dass es zu ernsthaften Zwischenfällen kommen könnte.20 Krenz musste entscheiden, „ob an der Grenze Blut fließt oder die Schlagbäume geöffnet werden“21 und beschloss, die Grenze zu öffnen.22 Nachdem es zunächst zu Irritationen kam, erhielten bis Mitternacht 18 Schabowski, Der Absturz, S. 307 f. Zur Rolle der NVA am 9./10. 11. 1989 vgl. Ehlert, Zwischen Mauerfall, S. 432–436. 19 Vgl. Claus Dümde, Die längste Nacht der DDR. In : Neues Deutschland vom 9. 11. 1990. 20 Vgl. Egon Krenz, Es war das Volk. In : Der Spiegel vom 22. 10. 1990. 21 Egon Krenz an Erich Honecker. Zit. in Der Spiegel vom 4. 2. 1991. Vgl. Krenz, Anmerkungen, S. 368. 22 Aussage Wolfgang Herger. In : Hertle, Der 9. 11. 1989, S. 13–15. So auch Alexander Schalck - Goldokowski. In : tango vom 29. 9. 1994.

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alle Übergangsstellen Nachricht vom neuen Befehl.23 Schließlich wurden alle Grenzübergänge geöffnet. Das Grenzkommando Mitte der Grenztruppen der DDR erteilte den Passkontrolleinheiten um 21.26 Uhr die Weisung: „Wer an GÜST auf Ausreise besteht, dem ist sie mit PA zu gestatten.“24 Die Regelung wurde vom MdI am 9. November 21.55 Uhr fernschriftlich an die Organe des MdI übermittelt.25 Hans - Joachim Friedrichs eröffnete die ARD - Tagesthemen um 22.40 Uhr mit den Sätzen : „Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ Spätestens diese Meldung löste den Massensturm auf die Mauer aus. In Berlin gingen kurz nach Mitternacht alle Schlagbäume hoch. An der Bornholmer Straße hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt etwa 20 000 Menschen teils mit Pkw versammelt.26 In Berlin brach der Verkehr zusammen. In West - Berlin wurden die Besucher jubelnd begrüßt. Während der gesamten Nacht herrschte Festtagsstimmung. In zahlreichen Kneipen gab es für die Besucher aus dem Osten Freibier, viele Taxifahrer akzeptierten die DDR - Mark als Bezahlung. Der Kurfürstendamm war überlaufen. Auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor standen zahlreiche Menschen. Im Laufe der Nacht verloren die Grenzsoldaten der DDR in Berlin die Kontrolle über die Situation völlig. Bürger aus beiden Teilen Berlins strömten ohne Pass und Visum in die andere Hälfte der Stadt. Ohne jede Kontrolle waren am frühen Freitagmorgen die Übergänge Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Sonnenallee passierbar. Gegen 3.30 Uhr riegelten bewaffnete Einheiten den Zugang zum Brandenburger Tor ab. Die Menschen wurden aufgefordert, die Mauer zu verlassen. Am frühen Morgen löste sich die Menge am Brandenburger Tor auf. In Rudolphstein an der Autobahn Berlin - München warteten um Mitternacht bereits etwa dreißig Trabant auf ihren ersten Ausflug nach Bayern. Früher hatte es immer geheißen, der Schlüssel für die Mauer liege in Moskau, Gorbatschow hingegen hatte immer die Selbstbestimmung der Staaten betont. Wie also würde sich die sowjetische Führung verhalten ? Tatsache war, dass die DDR, was West - Berlin betraf, verpflichtet war, die sowjetische Führung zu konsultieren. Diese hätte die westlichen Alliierten und die Bundesregierung informieren können. Angesichts der Mischung aus Konfusion in der SED - Partei - und Staatsführung und aktivem Handlungswillen der Bevölkerung war zwar die Regierung der UdSSR über die geplanten Reiseregelungen informiert,27 nicht aber über die plötzliche Grenzöffnung.28 Sie wurde davon völlig überrascht. Das KGB erfuhr die Nachricht von der Grenzöffnung aus den Abendnachrichten. Die Verantwortlichen traf die Meldung „wie ein Blitz aus heiterem 23 Vgl. Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 183. 24 PdVP - Rapport 230, lfd. Nr. 14. Zit. bei Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung, S. 1151. 25 Minister des Innern an Leiter der BDVP vom 9. 11. 1989 ( ThSTAM, 783). 26 Vgl. Claus Dümde, Die längste Nacht der DDR. In : Neues Deutschland vom 9. 11. 1990. 27 Vgl. Modrow, Aufstieg und Ende, S. 25 f. 28 Aussage Gennadi Iwanowitsch Gerassimow. Zit. bei dpa vom 13. 11. 1989. Vgl. Schäuble, Der Vertrag, S. 17.

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Himmel“.29 Krenz telegrafierte an Gorbatschow, angesichts der Lage in der DDR sei es in den Nachtstunden nötig gewesen, die Ausreise zu gestatten. Eine Nichtzulassung hätte „zu schwer wiegenden politischen Folgen geführt, deren Ausmaße nicht überschaubar gewesen wären“.30 Es bedeutete einen Gesichtsverlust und Autoritätsverfall, über die wichtigste Entscheidung in Berlin seit dem Bau der Mauer nicht einmal informiert worden zu sein. Die sowjetische Führung leistete damit gegenüber den westlichen Alliierten einen Offenbarungseid darüber, dass sie die Kontrolle über die DDR verloren hatte.31 Das mehrfach ausgedrückte Bekenntnis, die Mauer sei eine Angelegenheit der DDR, ließ der sowjetischen Regierung jedoch keine Wahl, als die Art der Öffnung zu akzeptieren. Kotschemassow erklärte Krenz zunächst, in Moskau sei man „beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer“. Die Öffnung der Grenze berühre die Interessen der Alliierten. Wenig später und nach Rücksprache mit Moskau beglückwünschte er Krenz „und alle deutschen Freunde“ im Namen der sowjetischen Führung zu ihrem mutigen Schritt.32 Auch Schewardnadse nannte die Entscheidung der DDR - Führung „korrekt“ und „natürlich“.33 Außenamtssprecher Gerassimow sprach von einem „souveränen Akt der DDRRegierung“.34 Die sowjetische Führung setzte sich sofort mit den Westalliierten und der Bundesregierung in Verbindung und versicherte ihr Festhalten an der Politik der Zweistaatlichkeit.35 Gorbatschow erklärte in einer Botschaft an US Präsident George Bush zwar seine Unterstützung für die jüngsten Entscheidungen der DDR - Führung,36 gleichzeitig forderte er die Westmächte auf, ihren Vertretungen in West - Berlin Weisungen zu erteilen, „damit die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der nicht wünschenswert wäre“. Gorbatschow machte auf Tendenzen in der Bundesrepublik aufmerksam, die Existenz der Zweistaatlichkeit in Frage zu stellen. Daraus ergebe sich die Gefahr einer „Destabilisierung der Lage nicht nur im Zentrum Europas, sondern auch darüber hinaus“.37 Der Bundestag beriet gerade das Vereinsförderungsgesetz, als die Nachricht von der Öffnung der Grenze eintraf. Nachdem drei Abgeordnete der CDU / CSU Fraktion daraufhin spontan die Nationalhymne anstimmten, erhoben sich fast alle Abgeordneten und stimmten ein.38 Kanzleramtsminister Seiters begrüßte die Grenzöffnung als einen „Schritt von überragender Bedeutung“. Die Bundesregierung sei zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der 29 Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 30 Telegramm Egon Krenz an Michail Gorbatschow vom 10. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/1/704). 31 So Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1148 und 1154. 32 Aufzeichnung der Gespräche durch Egon Krenz. Zit. in Krenz, Anmerkungen, S. 368 f. 33 Die Zeit vom 24. 11. 1989. 34 TASS vom 10. 11. 1989. 35 Vgl. Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 15. 36 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 48. 37 Botschaft Michail Gorbatschows an François Mitterrand, Margaret Thatcher und George Bush vom 10. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3258). 38 Vgl. Herles / Rose, Parlaments - Szenen, S. 16.

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politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt werde. Die SED müsse auf ihr Machtmonopol verzichten, unabhängige Parteien und freie Wahlen zulassen.39 Dies waren die Forderungen, die in der DDR auf fast allen Demonstrationen vorgetragen wurden. In einer Botschaft von Gorbatschow an Kohl hieß es : „Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz zweier deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen, können kein anderes Ziel verfolgen, als die Lage in der DDR zu destabilisieren.“ Er fordert Kohl auf, „Maßnahmen zu treffen, damit eine Komplizierung und Destabilisierung der Situation nicht zugelassen wird.“40 Der Bundeskanzler weilte während der Maueröffnung zu einem offiziellen Staatsbesuch in Polen, den er angesichts der Ereignisse aber unterbrach.41 Am 10. November gab es eine zweite Welle von Besuchern Richtung Westen. Am Brandenburger Tor feierten Tausende aus Ost und West die Grenzöffnung. Vor den Meldestellen der Volkspolizeikreisämter bildeten sich lange Schlangen von Bürgern, die sich die Ausreiseerlaubnis in ihren Ausweis stempeln lassen wollten. Die Schlange der Wartenden am Grenzübergang Heinestraße reichte fast zwei Kilometer bis zur Jannowitzbrücke. Viele legten ihre Arbeit nieder, um einen Ausflug Richtung Westen zu unternehmen. Ganze Kollektive und Schulklassen fuhren geschlossen nach West - Berlin. Nachmittags brach der Verkehr zusammen. Am Freitag fiel der reguläre Schulunterricht aus. Die Banken waren überfüllt, weil die Leute DDR - Mark in DM eintauschten. Auf der Sitzung des ZK am Morgen des 10. November herrschte Ratlosigkeit. Vor dem Schöneberger Rathaus in West - Berlin fand am Abend eine Kundgebung statt, auf der die Öffnung der Grenze begrüßt wurde. Neben Bundeskanzler Kohl, der von den Demonstranten niedergebrüllt wurde,42 sprachen u. a. Außenminister Genscher, Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper und Willy Brandt.43 Brandt formulierte einen Satz, der später in aller Munde war, als er sagte, jetzt wachse zusammen, was zusammengehört. Während der Rede Brandts erhielt Kohl einen Anruf von Gorbatschow, bei dem dieser den Bundeskanzler aufforderte, alles zu tun, um ein Chaos in Berlin zu vermeiden. Hintergrund des Anrufes war, dass KGB, MfS und SED - Führung in Moskau Alarm geschlagen hatten: Die Situation sei ähnlich wie 1953.44 Gorbatschow bezeichnete in einer mündlichen Botschaft an die US - Regierung die Situation in Berlin als „very sensitive“

39 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 46. 40 Michail Gorbatschow an Helmut Kohl vom 10. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2A /3258). 41 Vgl. Kohl, Deutschlands Zukunft, S. 84–105. 42 Vgl. Klein, Es begann im Kaukasus, S. 121. 43 Redetexte abgedruckt in Texte zur Deutschlandpolitik III /7 1989, S. 394–407. 44 Mündliche Botschaft Michail Gorbatschows an Helmut Kohl vom 13. 11. 1989 ( SAPMOBArch, SED, IV 2/2.039/319, Bl. 15 f.). Vgl. Interview mit Helmut Kohl. In : Welt am Sonntag vom 27. 9. 1992.

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und wies auch seinen Botschafter in Ost - Berlin an, Kontakte mit den Botschaftern der drei westlichen Besatzungsmächte aufzunehmen.45 Schewardnadse informierte Kotschemassow telefonisch, er verfüge über Informationen, wonach sich die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte rührte. Auch die Ost - Berliner KGB - Zentrale erhielt ständig Anrufe der Westgruppe, die sich in Erwartung möglicher Unruhen in höchster Alarmbereitschaft befand.46 Schewardnadses Anweisung lautete : „Keine Aktionen unternehmen!“ Kotschemassow rief daraufhin den Oberkommandierenden der Westgruppe, Generaloberst Boris Snetkow, an und empfahl ihm, „zu erstarren und in sich zu gehen“. Der General stritt jedoch jede derartige Aktivität oder Absicht ab.47 Tatsächlich verlangten nach der Maueröffnung „Opponenten“ in der sowjetischen Führung, „an den Grenzen die Eingreif - und Sperrdivisionen aufzustellen, die Panzermotoren anzulassen“. Das alles, so Schewardnadse, habe sich „an der Grenze des Krieges“, ja „des dritten Weltkrieges“ bewegt.48 Auch Falin drohte: „Wir werden eine Millionenarmee schicken, die wieder die Grenze schließt.“49 In der „Pravda“ forderte er eine „Notbremse“ gegen die Einheit Deutschlands. Nach unbestätigten Informationen erörterte ein hoher sowjetischer Funktionär mit Kotschemassow bereits den Einsatz sowjetischer Truppen.50 Da dies aus außenpolitischen Gründen jedoch als wenig opportun erschien, wurden Armeeeinheiten der DDR mobilisiert. Krenz befahl als Vorsitzender die Bildung einer operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates unter Leitung des Chefs des Hauptstabes der NVA, Streletz. Sie hatte „ununterbrochen die Lage des Gegners einzuschätzen“ und Führungsentscheidungen vorzubereiten.51 Streletz befahl um 13.00 Uhr „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für die in Potsdam stationierte 1. Motorisierte Schützendivision und das in Lehnin untergebrachte Luftsturmregiment 40. Die Soldaten erhielten ihre persönliche Bewaffnung, die Kampftechnik wurde entkonserviert und aufmunitioniert. In Lehnin wurden 54 schwere Geschütze (122 - mm - Haubitzen und 152 - mm Selbstfahrlafetten ) mit Munition beladen und die Fahrtechnik voll betankt.52 Mit der Herstellung der erhöhten Gefechtsbereitschaft standen über 20 000 Soldaten bereit, um binnen kürzester Zeit in Gefechtshandlungen einzutreten. Da keine militärischen Aktivitäten des Westens zu verzeichnen waren, konnte dies nur dem Ziel dienen, die Grenze mit militärischen Mitteln zu schließen. Auf eine solche Lösung deutete auch die Aussage von Mitarbeitern der Abteilung Sicherheit des ZK der SED hin, ein Waffeneinsatz zur Lagebereinigung sei notwen45 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 23. 46 Vgl. Iwan N. Kusmin, Da wussten auch die fähigsten Tschekisten nicht weiter. In : FAZ vom 30. 9. 1994. 47 Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung II, S. 1155 f. 48 Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Literaturnaja gazeta vom 10. 4. 1991. 49 Vgl. Der Spiegel vom 15. 4. 1991. 50 So Oldenburg, Moskau und die Wiedervereinigung, S. 18. 51 Befehl 12/89 des Vorsitzenden des NVR der DDR über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des NVR der DDR vom 10. 11. 1989, gez. Egon Krenz ( BStU, ZA, Neiber 195, Bl. 3–5). 52 Vgl. Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung III, S. 1247 f.

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dig.53 Laut Eppelmann versuchte Keßler in Absprache mit Mielke54 die Berliner Mauer am 11. November mit Hilfe der mobilisierten Verbände wieder zu schließen. Das Unternehmen scheiterte am Widerstand des Hauptstabes der NVA in Strausberg. Eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Pläne Keßlers spielte General Joachim Goldbach, der Keßler bereits Anfang Oktober widersprochen hatte, als es um den Einsatz der NVA gegen die eigene Bevölkerung ging.55 Die Grenzöffnung stellte eine Zäsur für die politische Entwicklung in der DDR dar. Zu den reformsozialistischen und demokratischen Angeboten der Bürgergruppen trat nun die sinnliche, wenn auch oberflächliche Erfahrung der Bundesrepublik. Schon deswegen hatten vor allem sozialistische Intellektuelle Probleme mit der Reisefreiheit. Im Fernsehen verlas Christa Wolf einen Appell von sozialistischen Künstlern und Oppositionellen, in dem die Bevölkerung aufgerufen wurde, zu bleiben und gemeinsam eine Gesellschaft zu schaffen, die „die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt“.56 Stefan Heym, der selbst hatte reisen können, meinte, durch die Grenzöffnung sei aus dem Volk, das „soeben noch edlen Blicks einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien“, eine „Horde von Wütigen“ geworden, „die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie mit kannibalischer Lust in den Krabbeltischen von westlichen Krämern wühlte : und welch geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie’s ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und Tücke Begrüßungsgeld geheißen worden war von den Strategen des kalten Krieges.“57 Günter Grass äußerte die Befürchtung, die Entwicklung provoziere „ein vorschnelles Wiedervereinigungsgeschrei“.58 Ähnlich sah Erich Honecker in der Grenzöffnung „das Tor“ für den „Wechsel der gegeben Gesellschaftsordnung in der DDR Richtung BRD“. Für alle, „die ihre Zukunft, ihre Hoffnungen mit der DDR verbanden“, habe die Grenzöffnung „etwas Erschütterndes, etwas Magisches, etwas Unerklärliches“ gehabt.59 Aber auch die SED - Reformer um Wolf und Modrow sahen dadurch ihre Mission gefährdet, die DDR in reformierter Form zu erhalten.60 Für die weitere Entwicklung von Bedeutung war auch die Haltung der Führungszirkel der neuen Gruppierungen. Bärbel Bohley bezeichnete die Öffnung 53 BVfS Potsdam : SED - GO - Versammlung der Zentralschule für Kampfgruppen in Schmerwitz in BVfS Potsdam vom 10.–11. 11. 1989 : Rapport 314/89 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 54). 54 Vgl. Die Welt vom 6. 6. 1990. 55 Schriftlicher Bericht des NVA - Stabsoffiziers Hans Werner Weber. Zit. bei Wolle, Der Weg, S. 107 f. Vgl. Interview mit Rainer Eppelmann. In : Die Welt vom 10. 7. 1990; Ralf Georg Reuth, Legenden verklären die Rolle der früheren NVA. In : FAZ vom 10. 11. 1990; Eppelmann, Wendewege, S. 127; Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung III, S. 1250; Ehlert, Zwischen Mauerfall, S. 437. 56 taz vom 10. 11. 1989. 57 Heym, Aschermittwoch, S. 71 f. Vgl. Junge Welt vom 5. 12. 1989. 58 FAZ vom 11. 11. 1989. 59 Zit. bei Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 22. 60 Vgl. Günter Schabowski, Vor fünf Jahren barst die Mauer. In : FAZ vom 8. 11. 1994.

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der Mauer als überstürzt und den betroffenen Menschen unzuträglich. Sie erklärte : „Die Regierung ist verrückt, und das Volk hat den Verstand verloren.“61 Für die Bürgergruppen war die Haltung Bohleys, so Jens Reich, von „verheerender Wirkung“. Sie sei zum „Bruchpunkt unserer Popularitätskur ve“ geworden.62 Für Demokratie Jetzt distanzierte sich Wolfgang Ullmann von der Haltung Bohleys und erklärte, „dass wir die Freude der Bevölkerung uneingeschränkt teilen“.63 Auch Ludwig Mehlhorn ( DJ ) wies zwar auf Gefahren hin, die für die Wirtschaft der DDR entstünden, meinte aber, die Chancen der Öffnung seien doch größer.64 Richard Schröder analysierte später, Personen wie Bohley hätten die Maueröffnung als „Sabotage der Revolution“ und „Verrat“ angesehen.65 In Dresden nannte SDP - Aktivist Matthias Müller die Maueröffnung eine Katastrophe und das Ende der friedlichen Revolution, da nun der Weg verbaut sei, die DDR von innen sozialistisch zu reformieren.66 In Freiberg begrüßten DJ, DA und Neues Forum die Maueröffnung und riefen zum Bleiben auf.67 Um die Äußerungen Bohleys abzuschwächen, verbreitete die Berliner Gruppe des Neuen Forums ein Flugblatt, das u. a. von Bohley und Reich unterzeichnet war. Hier hieß es, die Maueröffnung sei ein „Festtag für uns alle“, aber mit zahlreichen Problemen verbunden. Die desolate Wirtschaftslage werde krass zutage treten, es werde Währungsverschiebungen geben. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Demokratisierung fortzusetzen und sich kein Sanierungskonzept aufdrängen zu lassen, das die DDR „zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens“ mache.68 Das Neue Forum Leipzig kritisierte die Grenzöffnung als Ablenkungsmanöver der SED zur Machterhaltung. Zunächst käme es darauf an, die materiellen Voraussetzungen für die Reisefreiheit zu schaffen.69 Freya Klier meinte, die DDR werde „sich auf lösen wie eine Brausetablette“.70 Das MfS registrierte bei der SDP und dem Neuen Forum „durchgängig Überraschung und Verunsicherung“. Beide Gruppierungen sahen sich „wesentlicher Argumente beraubt“ und befürchteten ein Nachlassen der Demonstrationsbereitschaft der Bevölkerung.71 Die oft ambivalente Haltung in den Führungszirkeln der neuen Gruppierungen hing mit der Ahnung zusammen, dass „mit der Maueröffnung im 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Zit. bei Rolf Schneider, Wann blühen die Steine ? In : FAZ - Magazin 517 vom 26. 1. 1990, S. 48. Vgl. Das sagten Ost und West zum 9.11. in Deutschland. In : Berliner Illustrierte von Dezember 1989, S. 33. Reich, Rückkehr nach Europa, S. 201. Interview mit Wolfgang Ullmann. In : taz vom 18. 11. 1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 87 f. Schröder, Die wichtigsten Irrtümer, S. 81 f. Zit. in Herzberg / von zur Mühlen, Auf den Anfang, S. 262. Aufruf von Demokratie Jetzt, Demokratischem Aufbruch und Neuem Forum Freiberg vom 10. 11. 1989 ( KA Freiberg, Akten Nr. 444). Die Mauer ist gefallen vom 12. 11. 1989. Für die Initiativgruppe Neues Forum : Jens Reich, Sebastian Pflugbeil, Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Eberhard Seidel, Jutta Seidel ( MDA, Wende IV ). Neues Forum Leipzig, S. 232 f. Zit. in taz vom 11. 11. 1989. BVfS Potsdam vom 11. 11. 1989 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 56).

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Grunde das gesamte System des Sozialismus, in welcher Spielart auch immer, zur Disposition stand“ und damit auch „die systemimmanente Argumentation“ einer demokratischen Erneuerung der DDR obsolet wurde. Die Grenzöffnung machte deutlich, „dass die Oppositionsführung das Volk gar nicht vertrat, dass sie zur Masse des Volks keinen Kontakt besaß und eine Außenseitergruppe von rot - grünen Intellektuellen darstellte, die sich dem Volk schlichtweg überlegen fühlte“.72 Dieses Volk begrüßte die von ihm erzwungene Grenzöffnung mit großer Zustimmung, wenn auch hier durchaus die wirtschaftlichen Probleme gesehen wurden.73 Schorlemmer verweist auf einen Sachverhalt, der für die weitere Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung wurde. Die Erfahrung des Westens, so der Pfarrer, habe „die Gefangenen ihre Gefangenschaft in aller Schärfe wahrnehmen“ lassen. „Freiheitstrunken aus dem reichen Glitzerstaat“ zurückgekommen, habe sich das Gefühl des Betrogenseins verstärkt und sich als Hass auf die ergossen, „die uns 28 Jahre geraubt hatten“.74 Seine Beobachtung wird durch Erlebnisberichte bestätigt. So schrieb ein Klingenthaler, er habe sich beim Passieren der Grenze gefühlt „wie ein Zuchtnerz“, der sein Gehege verlassen darf. Sein Resümee : „Die Kommunisten haben uns zutiefst erniedrigt und entwürdigt ! Sie haben Leibeigene und Gefangene aus uns gemacht. [...] Sie müssen für alle Zeit verschwinden !“75 Viele Reisende hatten angesichts der Eindrücke im Westen das Gefühl verlorener Lebenszeit. Umfragen unter Übersiedlern im Notaufnahmelager Gießen in den letzten Jahren hatten bereits gezeigt, dass die Erfahrung der Diskrepanz der Lebensweise und materiellen Versorgung zwischen Ost und West Schockerfahrungen auslöste. Eine ähnliche Wirkung hatten die ersten Eindrücke nach der Grenzöffnung.76 Die Bereitschaft, einen eigenen DDR - Weg zu gehen, sank, sofern er überhaupt vorhanden gewesen war, rapide. Freilich ging die Bedeutung des Falles der Mauer weit über Deutschland hinaus. Er symbolisierte das Ende einer geschichtlichen Epoche, in dem die „Konfrontation zweier Welten und zweier Zivilisationen“ im Leben fast aller Länder eine Schlüsselrolle gespielt hatte.77 Neben dem 13. August 1961 bildete der 9. November 1989 die tiefste Zäsur in der Entwicklung der deutschen Frage nach 1945.78

72 Pollack, Außenseiter oder Repräsentanten, S. 1222. 73 Vgl. SED - KL Schmölln vom 12. und 13. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 119 f., 126 f.); KDfS Glauchau vom 11. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 2 f.); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12. 11. 1989 : Lage ( ebd. 534, 2, Bl. 2 f.). 74 Schorlemmer, Träume, S. 165 f. 75 Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution. Erinnerungen eines Klingenthalers ( Ev.Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 76 Vgl. Hesse, Westschock, S. 61. 77 El País vom 9. 11. 1990. 78 Vgl. Hacker, Die Ostpolitik, S. 25.

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Reisewelle: Als Folge der Grenzöffnung sank die Beteiligung an öffentlichen Protesten zunächst rapide ab.79 Stattdessen gab es überall einen Ansturm bei den Meldestellen der Volkspolizei und bei der Staatsbank. Die Staatsbank hatte oft schon nach wenigen Stunden keine Devisen mehr, was zu heftigen Protesten führte. In Meuselwitz ( Altenburg ) kam es zu Angriffen auf die Sparkasse und zu Branddrohungen, da die Kasse pünktlich schloss, obwohl noch ca. 200 Personen Devisen abholen wollten.80 Nur in den wenigsten Fällen wurde sofort die ständige Ausreise beantragt;81 viele von denen, die dauerhaft ausreisen wollten, hatten dies bereits getan. DDR - weit wurden vom 9. bis 12. November 13.00 Uhr 4 298 375 Ausreisevisa und 10144 Visa zur „ständigen Ausreise“ erteilt.82 Allein am 10. November reisten über die Grenzübergangsstellen (GÜST) des Bezirkes Potsdam insgesamt 146 668 DDR - Bewohner mit insgesamt 39 324 Pkw nach West - Berlin aus.83 Im Bezirk Dresden wurden am 10. November bis 19.00 Uhr 84 595 Privatreisen und 2 470 ständige Ausreisen genehmigt. In der Bezirksstadt und fast allen Kreisen wurden die Öffnungszeiten der Meldestellen verlängert.84 Am 11. November wurden im Bezirk Dresden 108 648 Reisevisa erteilt und 254 ständige Ausreisen genehmigt.85 Der Andrang in den Meldestellen der Kreise war überall enorm. Im Bezirk Karl - Marx - Stadt stellten am Wochenende 81 948 Bürger einen Antrag auf Besuchsreise in die Bundesrepublik und über 28 000 Menschen passierten die GÜST Gutenfürst und Blosenberg in Richtung Westen.86 An jenem Wochenende waren die meisten Züge Richtung Westen völlig überbelegt, es mussten Entlastungszüge eingesetzt werden.87 Der Autoverkehr brach an mehreren Übergängen zusammen. Vor dem bayerischen Übergang Hirschberg stauten sich die Fahrzeuge auf DDR - Seite bis zu 60 Kilometer, am Grenzübergang Helmstedt warteten die Fahrzeuge in einem 50 Kilometer langen Stau, der bis hinter Magdeburg reichte, rund elf Stunden bis zur Abfertigung. Überall entlang der innerdeutschen Grenze kam es zu Feiern und herzlichen Kontakten zwischen den Menschen. Wildfremde Menschen wurden umarmt und zum Kaffee eingeladen. Eine „selbstverständliche Zusammengehörigkeit“,88 die über Jahre von der SED verboten worden war, konnte sich nun wieder ausdrücken.

79 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 11.–12.11.1989: Lage (BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 70). 80 Vgl. SED - KL Altenburg vom 15. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 60 f.). 81 Vgl. KDfS Zschopau vom 10. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 108). 82 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 48. 83 Vgl. BVfS Potsdam vom 10.–11. 11. 1989 : Rapport ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 51). 84 MdI an Leiter der VP - Kreisämter 1–16, Transportpolizeiämter, Strafvollzugseinrichtungen 1–4 vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 67 f.). 85 BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 11, 17, 19. 86 Vgl. Horsch, Das kann, S. 30. 87 Vgl. MdI vom 10. 11. 1989 : Lagefilm ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 274). 88 Walser, Zum Stand, S. 86.

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Die Situation in den grenznahen bundesdeutschen Städten war kaum beherrschbar. Für West - Berlin konstatierte der Verkehrsfunk : „Stehender Fußgängerverkehr auf der Tauentzien.“ In der City kam der Autoverkehr zum Erliegen. Auch der U - Bahn-Verkehr brach teilweise zusammen. Vor Postämtern und Banken standen lange Schlangen. Viele Städte hinter der Grenze waren von DDR - Fahrzeugen zugeparkt. Für die Besucher aus der DDR wurden rund 360 Mio. DM Begrüßungsgeld ausgezahlt.89 In mehreren Orten ging bei den Behörden das Begrüßungsgeld aus. In Lübeck standen die Besucher in Fünfer - und Sechser - Reihen in einer mehrere Hundert Meter langen Schlange vor dem Rathaus, um es in Empfang zu nehmen. Die Innenstädte von Mellrichstadt, Coburg und Hof wurden teilweise für den Verkehr gesperrt. Hof wurde am Samstag von etwa 40 000 DDR - Bewohnern besucht. Die Geschäfte auf westlicher Seite setzten sich meist über das Ladenschlussgesetz hinweg und hielten die Geschäfte das ganze Wochenende geöffnet. Zahlreiche Bewohner der DDR plünderten aus Angst vor einer bevorstehenden Geldentwertung ihre Konten und tauschten DDR - Mark in größeren Mengen in D - Mark ein. Am 11. November stürzte der Kurs der DM zur DDR - Mark vorübergehend auf einen Kurs von 1 :20. Vom 10. bis 14. November reisten insgesamt 5 000 860 Personen in den Westen, davon 3 431705 nach West - Berlin und 1 576 896 in die Bundesrepublik. Die ständige Ausreise wurde im gleichen Zeitraum 13 579 Personen genehmigt.90 Ab dem 14. November durften auch Angehörige der NVA, der Grenztruppen und der Zivilverteidigung uneingeschränkt Richtung Westen reisen.91 Bis zum Morgen des 17. November stieg die Zahl der Reisenden auf fast 9,6 Millionen Bürger, das waren fast zwei Drittel der DDR - Bevölkerung. Am 17. November reisten zwischen 4.00 Uhr und 14.00 Uhr 3 014 424 DDR - Bewohner in die Bundesrepublik. Vor den Grenzübergängen stauten sich die Autos bis zu 80 km in das Gebiet der DDR hinein. Völlig überfüllte Sonderzüge trafen mit mehrstündiger Verspätung im Westen ein. Schon am frühen Morgen herrschte in den meisten grenznahen Städten ein völliges Verkehrschaos.92 Auch am Wochenende (18./19.11.) reisten wieder ca. 2,5 Millionen DDR - Bewohner in die Bundesrepublik. An vielen Orten wurden die Besucher noch immer mit spontaner Hilfsbereitschaft empfangen. In etlichen Kommunen wurden kostenlos heiße Getränke und Suppe an die Besucher verteilt. Hoteliers in Minden stellten 165 Hotelbetten plus Frühstück kostenlos zur Verfügung. Lübeck öffnete seine Ratsäle für die Übernachtung der Gäste. Auf dem Hamburger Rathausplatz feierten Bürger aus Ost und West die Grenzöffnung. Bürger mehrerer Orte luden Ostbesucher zur Übernachtung in ihre Wohnung ein. Unstimmigkeiten blieben die Ausnahme. So warfen in der Lübecker Fußgängerzone Verkäufer von einem Lkw Bananen einzeln unter die DDR - Besucher. In Hannover wurden zwei Pkw Trabant angezündet. 89 Vgl. FAZ vom 14. 11. 1989. 90 MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 292). 91 MfNV vom 14. 11. 1989 : Befehl 126/89 über Privatreisen in das Ausland ( BArch Berlin, MZAP, VA - 1/37604, Bl. 1–3). 92 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 298).

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Um dem Andrang zu begegnen, wurden überall neue Grenzübergänge eingerichtet. Bis zum 12. November kamen in Berlin zu den acht vorhandenen drei weitere Übergänge hinzu. Auch an der innerdeutschen Grenze öffneten zwölf weitere Übergangsstellen.93 Der Innenminister erklärte zugleich die Sperrzone an der Grenze für aufgehoben.94 Ab dem 19. November wurde die seit 1951 gesperrte Autobahn - Direktverbindung von Karl - Marx - Stadt nach Hof freigegeben, um damit den völlig überforderten neuen Grenzübergang Blosenberg zu entlasten.95 An mehreren Stellen führten Bürgermeister von Grenzgemeinden auf beiden Seiten der Grenze Verhandlungen über die Eröffnung weiterer Übergangsstellen. Am 22. November forderte Ministerpräsident Modrow, die Anzahl der Grenzübergänge „nicht ausufern“ zu lassen.96 Man müsse nun der „Spontaneität ein Ende setzen“.97 „Weitere Eigenmächtigkeiten einzelner Bürgermeister von Grenzortschaften“ müssten „künftig ausgeschlossen werden“.98 Obwohl allein vom 23. bis 27. November 41 neue Grenzübergangsstellen eingerichtet wurden, gab es weiterhin „massive Forderungen durch die Grenzbevölkerung“, weitere Grenzübergangsstellen zu öffnen. Vereinzelt sahen sich die Grenztruppen gezwungen, ohne Regierungsgenehmigung Grenzübergangsstellen zu öffnen, um Krawalle zu vermeiden.99 Ende November wurden die Forderungen nach Einrichtung neuer Übergangsstellen immer massiver,100 die Regierung aber trat auf die Bremse. Modrow ordnete an, dass neue Grenzübergangsstellen nur auf Regierungsbeschluss errichtet werden dürften. Die Vorsitzenden der Räte der Bezirke sollten zugleich „hochrangige Kontakte in die Bundesrepublik nur nach Abstimmung mit Außenminister Fischer“ aufnehmen, da diese von bundesdeutscher Seite dazu genutzt würden, „um ihre innerdeutsche Konzeption durchzusetzen bzw. den Charakter der Staatsgrenze in Frage zu stellen“. Ebenso sollte „die Aufnahme neuer Partnerschaften vermieden“ und „Gemeindepartnerschaften verhindert“ werden.101 Aber auch im Westen traten Politiker auf die Bremse, denen die nationale Annäherung nicht ins politische Konzept passte. Oskar Lafontaine hatte schon Anfang November gefordert, den Zuzug von Aus - und Übersiedlern zu begrenzen.102 Im Saarbrücker Landtag lehnte die SPD - Fraktion einen Antrag der FDP 93 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17. 11. 1989, S. 7 f. 94 MdI, Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Wagner, an Chefs der BDVP, Leiter der VPKÄ, VPI, TPÄ 1–16 vom 12. 11. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 95 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 20. 11. 1989. 96 Beratung des Ministerrates mit Vorsitzenden der RdB am 22. 11. 1989, Ausführungen Hans Modrows ( Brandenburg. LHA, A /3274). 97 Niederschrift der Beratung mit Vorsitzenden der RdB am 23. 11. 1989 im Ministerrat (SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46141, Bl. 1–9). 98 Hans Modrow an Vorsitzende der Räte der Grenzbezirke, der Grenzkreise und Bürgermeister der Grenzgemeinden vom 24. 11. 1989 ( SächsStAC, 126409). 99 Minister für Nationale Verteidigung, Admiral Hoffmann an Hans Modrow vom 27. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2874, Bl. 138 f.) 100 Vgl. Eingaben der Gemeinden des Bezirkes Suhl, o. D. ( ThSTAM, 2682). 101 Hans Modrow an OB von Berlin und Vorsitzende der RdB vom 30. 11. 1989 ( SächsStAL, BT / RdB, 38212). 102 Vgl. Neues Deutschland vom 6. 11. 1989; Die Welt vom 6. 11. 1989.

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ab, der ein Bekenntnis zur Präambel des Grundgesetzes und zur einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft forderte.103 Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg verlangte am 9. November einen Aufnahmestopp von Deutschen aus der DDR und kündigte an, Hannover werde nach Bremen demnächst keine DDR - Bewohner mehr aufnehmen. Mischnick und Schäuble nannten die Position Schmalstiges grundgesetzwidrig. Schäuble erklärte, mit derartigen Äußerungen werde in der DDR Panik ausgelöst, die zu einer weiteren Erhöhung der Übersiedlerzahlen führe. Die Bundesregierung bleibe dabei, dass von ihr kein Deutscher zurückgewiesen werde. Unterstützt wurde Schmalstieg von Lafontaine und Gerhard Schröder, die vor einer Überstrapazierung des Aufnahmevermögens der Bundesrepublik und vor einer Bevorzugung der DDR - Übersiedler warnten.104 Ende des Monats wiederholte Lafontaine, man könne Aus und Übersiedlern aus der DDR oder anderen Ostblockstaaten nicht länger den Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik einräumen. Es dürfte keine Prämien für das Weggehen, sondern es müsste welche für das Dableiben geben.105 Der Bund der Vertriebenen kritisierte die Haltung Lafontaines und anderer SPD - Politiker.106 Tatsächlich waren die Unterbringungsmöglichkeiten für DDR - Übersiedler in vielen Bundesländern erschöpft. Die meisten Übergangsheime waren belegt, und die Länder sahen sich gezwungen, Notunterkünfte in Hotels, Jugendherbergen, Turnhallen und auf Schiffen anzumieten.107 Der Anteil der Bundesdeutschen, der es begrüßte, dass Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik kamen, sank vom Oktober zum November leicht von 64 auf 59 Prozent.108 Auch die DDR - Regierung war daran interessiert, die Zahl der Übersiedler zu begrenzen. Dazu sollte propagandistisch die Rückführung von DDR - Bürgern aus dem Westen genutzt werden, von denen es angeblich etwa 10 000 gab. Am 11. November wies der Ministerrat die Grenzbezirke an, Übergangsobjekte vorzubereiten und Journalisten des In - und Auslandes „eine ungehinderte Berichterstattung in Wort und Bild vom Eintreffen an der Staatsgrenze bis zu Gesprächen mit den Bürgern“ zu gewährleisten.109 Am 15. November fand eine entsprechende Beratung statt,110 es zeigte sich aber bereits, dass sich die Information des Außenministers der DDR nicht bestätigte. Der 1. Stellvertreter des 103 104 105 106 107 108

Vgl. Die Welt vom 10. 11. 1989. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10. 11. 1989. Interview mit Oskar Lafontaine. In : Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 11. 1989. Vgl. Die Welt vom 10. 11. 1989. Ausführlich bei Sturm, Uneinig, S. 230–237. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 11. 1989. Emnid : Frage nach der Bereitschaft der Bundesdeutschen, Übersiedler aus der DDR aufzunehmen. In : Der Spiegel vom 27. 11. 1989. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 21./ 22. 11. 1989; Scheuch / Scheuch, Wie deutsch sind die Deutschen, S. 269. 109 Vorsitzender des Ministerrates an Vorsitzende der RdB Erfurt, Gera, Magdeburg, Schwerin : Weisung vom 11. 11. 1989, gez. i. V. Kleiber ( SächsStAC, BT / RdB Karl - MarxStadt, 128707). 110 Vorsitzender des Ministerrates, Abteilungsleiter Instrukteurabteilung, an 1. Stellvertreter des OB von Berlin und 1. Stellvertreter der Vorsitzenden der RdB vom 14. 11. 1989 ( ThHSTA, 040450).

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Vorsitzenden des Ministerrates, Kleiber, plädierte Mitte November wegen ausbleibender Rückkehrer dafür, die Aktion „auf Grund der Nichtbestätigung von in der BRD konzentriert bereitstehenden DDR - Bürgern“ wieder abzubrechen.111 5.2

Entwicklung in der SED

10. Tagung des ZK der SED (10.11.) Die zweite Session der 10. Tagung des ZK stand unter dem Eindruck der Grenzöffnung. Das ZK veröffentlichte ein Aktionsprogramm,112 in dem „eine revolutionäre Volksbewegung“ und die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Sozialismus“ konstatiert wurde. Das System selbst wurde nicht in Frage gestellt und stattdessen davon ausgegangen, dass „ernste Fehler des abgelösten Generalsekretärs und des abgelösten Politbüros“ Partei und DDR in eine tiefe Krise geführt hätten. Erneut trat die SED für eine Fortführung des Sozialismus ein, dem „mit mehr Demokratie neue Dynamik“ verliehen werden sollte. Ziel der SED, die sich weiter zur kommunistischen Ideologie bekannte, war die Wiedergewinnung der politischen Initiative. Die programmatischen Ausführungen zu allen Bereichen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft blieben weit hinter den Erfordernissen des Augenblicks zurück und zeigten die Unfähigkeit der SED, sich zu reformieren. Nach Abschluss der Tagung fand im Berliner Lustgarten eine von der Berliner SED organisierte Großveranstaltung mit bis zu 150 000 Personen statt. Während die meisten SED - Mitglieder das Aktionsprogramm begrüßten, forderten einige Redner statt der avisierten Parteikonferenz einen außerordentlichen Parteitag, damit sich die SED „von den Füßen bis zum Kopf“113 erneuern könne. Krenz verlas eine von Hermann Kant ausgearbeitete Rede, in der er für eine Erneuerung des Sozialismus plädierte.114 Die darin versuchte Zurückweisung der Forderung nach radikaler Erneuerung der SED stieß auf unüberhörbares Missfallen der Teilnehmer. Besonderen Protest löste es aus, dass unter Ignorierung der Stimmung an der Parteibasis Bezirkssekretäre als ZK - Kandidaten aufgestellt worden waren, die unter dem Vor wurf der Korruption standen. Während überall die Ablösung bezirklicher und kreislicher SED - und Staatsfunktionäre gefordert wurde oder bereits erfolgte,115 erfuhr die Bevölkerung in Halle, Cottbus und Neubrandenburg aus der Zeitung, dass ihre im Bezirk bereits abgesetzten 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen zu Mitgliedern des Politbüros gewählt worden waren. Die 111 RdB Karl - Marx - Stadt, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden : Aktennotiz über die Beratung beim 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Günter Kleiber, am 15. 1. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB, 128707). 112 Neues Deutschland vom 11. 11. 1989. 113 Zit. in Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 84. 114 Vgl. Kant, Abspann, S. 511. 115 SED - BL Frankfurt / Oder vom 11. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775).

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Wahl wurde von der SED - Basis als „politischer Skandal“ bewertet und der Krenz - Führung der Blick für die reale Lage abgesprochen.116 In Halle traten daraufhin zahlreiche Mitglieder aus der SED aus. Für den 13. November wurden öffentliche Proteste in Halle angekündigt. Arbeiter im Kombinat Chemische Werke Buna und Mitarbeiter der Martin - Luther - Universität Halle kündigten Streiks an, um die Absetzung Böhmes durchzusetzen. In der SED erwartete man eine Verschärfung der Lage und schloss Gewalthandlungen gegen die SED Bezirksleitung nicht aus.117 Angesichts der Proteste blieb den gerade ernannten Mitgliedern des Politbüros Hans - Joachim Böhme, Werner Walde und Johannes Chemnitzer nichts weiter übrig, als ihre Funktionen im Politbüro niederzulegen. Die Tatsache, dass das ZK der SED seine Entscheidung auf Grund von Protesten der Basis revidieren musste, bedeutete de facto ein Ende des Prinzips des demokratischen Zentralismus. Aber auch so gehörten dem neuen Politbüro noch immer acht von zehn Vollmitgliedern und drei Kandidaten aus dem alten Politbüro an. Die Reaktionen der Bevölkerung auf die Tagung waren überwiegend negativ. Hier ging man davon aus, dass die SED ihren Führungsanspruch verloren hatte, dies aber nicht wahrhaben wollte.118 Selbst die als viel zu gering erachteten Veränderungen wurden als „Ergebnis des Drucks von unten“ und vor allem der Demonstrationen angesehen.119 Besondere Ablehnung ernteten die Enthüllungen über die Korruption der SED - Führung und die vor diesem Hintergrund als unverschämt empfundene Behauptung von Krenz : „Wir Kommunisten kennen nur ein Privileg – das der Arbeit.“120 Reaktionen der SED - Basis Die Kreisverbände begannen, sich auf Grundlage der Beschlüsse der 10. Tagung neu zu formieren.121 Dabei war die Haltung der SED - Basis gespalten. In einigen Kreisverbänden begrüßte man die Erklärung als positiven Schritt.122 Damit sei „endlich die Zeit der Konzeptionslosigkeit vorbei“.123 Die meisten Reaktionen aber waren eher negativ. Selbst „bewährte Genossen und standhafte Gewerkschafter“ nannten das Aktivprogramm unvollkommen und lücken116 SED - BL Potsdam vom 9. 11. 1989 : Lage ( ebd., Rep. 530, Nr. 432/433). 117 Vgl. MfS : Weitere Hinweise auf die Reaktion der Bevölkerung zur 10. Tagung der Volkskammer sowie zu weiteren aktuellen Aspekten der Lage, o. D. ( BStU, ZA, ZAIG Z 4262, Bl. 16 f.). 118 Vgl. KDfS Glauchau vom 10. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 104 f.). 119 Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 (SächsStAC, 115856). 120 Zit. in Schabowski, Der Absturz, S. 320. 121 Vgl. SED - KL Schmölln vom 10. 11. 1989 : Lageinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 113–115). 122 SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13551). 123 SED - KL Bautzen vom 13. 11. 1989 : Lage ( ebd., A 13554).

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haft.124 Unter den SED - Mitgliedern herrschte Unsicherheit. Es gab „Stagnation und Stillstand in der Parteiarbeit“.125 Auch die Darlegungen zur Arbeitsweise des Politbüros, über Privilegien führender Funktionäre und Fehlentscheidungen führten zum weiteren Vertrauensverlust und zu „Misstrauen gegenüber dem Politbüro und zum ZK“. Immer häufiger wurde ein außerordentlicher Parteitag gefordert, der ein gänzlich neues ZK wählen sollte.126 Im Brief eines Mitgliedes des Sekretariats der SED - Kreisleitung Riesa sowie von Parteisekretären aus Betrieben an das ZK hieß es, es gebe kein Vertrauen in das neu gewählte Politbüro und ZK. Die Kreisparteiorganisation fordere den Ausschluss früherer Mitglieder und einen baldigen Sonderparteitag.127 Viele SED - Mitglieder erkannten „die gefährlichen destabilisierenden Folgen der Hinhalte - und Vertuschungspolitik des Politbüros“,128 der sie aus dem Veränderungsprozess ausschloss. Sie wurden mit einem immer massiveren Auftreten gegen die Führungsrolle der Partei konfrontiert, „oft verbunden mit persönlichen Anfeindungen“.129 Viele bislang privilegierte Mitglieder fühlten sich nun „verloren und alleingelassen“.130 So wuchs die Zahl der Austritte weiter,131 in einzelnen Betrieben hatte inzwischen mehr als die Hälfte aller Mitglieder die Partei verlassen.132 Immer mehr Personen in Führungsposition verließen das sinkende Schiff, um ihre beruf liche Karriere nicht zu gefährden.133 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt traten vom 6. bis zum 11. November über 6 000 Mitglieder aus, seit dem 1. September waren es 12 690.134 Parallel zur Kritik an der Führung nahm auch die an regionalen Funktionären zu. In Betrieben häuften sich Forderungen, hauptamtliche Parteisekretäre abzuschaffen.135 Funktionäre und Direktoren wurden zum Rücktritt aufgefordert.136 Auf Kreisebene traten überall Funktionäre zurück, hier seien nur die 1. Sekretäre genannt : In Wurzen wurde die 1. Sekretärin der SED - Kreisleitung, 124 SED - BL Frankfurt / Oder vom 11. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 125 KDfS Stollberg vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 010). 126 SED - KL Schmölln vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 119 f.). 127 KDfS Riesa vom 10. 11. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, BV, AKG 7002, 1, Bl. 62 f.). 128 Falkner, Die letzten Tage der SED, S. 1757. 129 Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 (SächsStAC, 115856). 130 KDfS Oelsnitz vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 132 f.). 131 Vgl. SED - KL Delitzsch vom 20. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58); SED - KL Altenburg vom 10. 11. 1989 : Lage ( ebd., 886, Bl. 41–44). 132 SED - KL Sebnitz vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 133 Vgl. KDfS Glauchau vom 10. 11. 1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 104 f.). 134 Vgl. Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 ( SächsStAC, 115856). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 29. 135 Vgl. SED - KL Löbau vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Zittau vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd.). 136 Vgl. SED - KL Bautzen vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd., A 13554); KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 10. 11. 1989 : Meinungsäußerungen / Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 4–6).

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Jutta Börner, am 10. November von ihrer Funktion entbunden.137 In Stollberg wurde das Rücktrittsgesuch des 1. Sekretärs, Werner Kunz, angenommen. Neuer 1. Sekretär wurde der bisherige Sekretär für Agitation und Propaganda, Uwe Löff ler.138 In Aue löste Klaus Grabner Hans Grimmer ab.139 Am 11. November löste Norbert Kertscher, bisher 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Hohenstein Ernstthal, den 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt, Siegfried Lorenz, ab, der zum Sekretär des Zentralkomitees gewählt worden war. Mit Lorenz traten die meisten Mitglieder der alten SED - Bezirksleitung zurück.140 Nachfolger in Hohenstein - Ernstthal wurde Jürgen Blume, bisher Abteilungsleiter Industrie der SED - Bezirksleitung.141 In Geithain trat die SED - Kreisleitung am 12. November geschlossen zurück. Der bisherige 1. Sekretär, Rolf Müller, wurde durch Eduard Misale ersetzt.142 In Klingenthal trat Günther Straube zurück.143 In Rochlitz ersetzte am selben Tag Rudolf Hennig Horst Scheinfuß,144 in Zwickau-Land trat an die Stelle von Wolfgang Trommer der bisherige Sekretärs für Agitation und Propaganda, Michael Schmidt.145 In Grimma trat der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Manfred Hohe, „aus gesundheitlichen Gründen und wegen Überlastung“ zurück, sein Nachfolger wurde Martin Harnack.146 In Bautzen wurde Hans-Jürgen Steindl aus Großenhain neuer 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, da hier kein Mitglied aus Bautzen die Funktion übernehmen wollte.147 Überall in der DDR kam es nach der 10. Tagung des ZK zu Kundgebungen der SED - Basis, auf denen Veränderungen in Partei und Gesellschaft gefordert wurden. In Dresden bekundeten rund 50 000 Menschen ihre Sympathie für Hans Modrow. Eine größere Kundgebung fand auch in Karl - Marx - Stadt statt.148 In Leipzig demonstrierten am 11. November etwa 6 000 Mitglieder für eine Erneuerung der SED und für die Einberufung eines Sonderparteitages.149 Die Kundgebungen wurden durch Kreisparteiaktivtagungen und Mitglieder versammlungen der Grundorganisationen ergänzt, auf denen über die Neuausrichtung der SED beraten wurde.150 Überall gab es Skepsis, ob eine Neuformierung 137 Vgl. Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989 ( HAIT, Wur A6). 138 Vgl. KDfS Stollberg vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, St. 45, Bl. 10); Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 11. 11. 1989. 139 Vgl. Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ). 140 Vgl. Protokoll der Dienstversammlung der LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 12. 11. 1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 440, Bl. 32). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 29. 141 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 15. 11. 1989. 142 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 14. 11. 1989. 143 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 15. 11. 1989. 144 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 15. 11. 1989. 145 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 15. 11. 1989. 146 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 14. 11. 1989. 147 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 14. 11. 1989. 148 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 14. 11. 1989. 149 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 13. 11. 1989. 150 Vgl. SED - BL Dresden vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Bautzen vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd.); SED - KL Dippoldiswalde vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd.); SED - KL Schmölln vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED

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gelingen werde.151 Auch in der SED selbst wurde die führende Rolle der Partei inzwischen vielerorts in Zweifel gezogen. 11. Tagung des ZK der SED (13.11.) Angesichts der Forderungen der SED - Basis sah sich das Politbüro am 12. November gezwungen, für den 13. November die 11. Tagung des ZK der SED allein zu dem Zweck einzuberufen, um dem ZK vorzuschlagen, statt einer Parteikonferenz einen außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 durchzuführen.152 Krenz musste erneut bekennen, die SED - Führung sei wieder einmal „hinter den dynamischen, schnellen Entwicklungen in unserer Partei zurückgeblieben“.153 Entwicklung in der SED : Rücktrittswelle Auf der Dienstbesprechung am 15. November konstatierte die MfS - Führung, die Lage in der SED sei DDR - weit „durch Schwäche und Inaktivität gekennzeichnet“. Die Auf lösung der SED setze sich fort, und das Vertrauen in die Leitungen sei auf allen Ebenen erschüttert. Viele SED - Mitglieder seien verunsichert und „massiven Angriffen unterschiedlicher Art“ ausgesetzt. Immer mehr Bürger forderten eine Bestrafung führender Funktionäre. Die Bemühungen verstärkten sich, die SED aus den Betrieben zu verdrängen und die Arbeiter gegen sie zu mobilisieren. Die Situation in der SED sei von „Ratlosigkeit, Zweifel und starkem Pessimismus gekennzeichnet“.154 Die SED - Kreisleitung Freital meldete, die ZK - Tagung und die 11. Tagung der Volkskammer hätten die politische Lage in den Parteiorganisationen weiter verschärft. Unsicherheit, Unzufriedenheit und Empörung nähmen zu, die hohe Anzahl vorliegender Austritte sei „nur schleppend abzuarbeiten“.155 Befürchtungen um den Erhalt der SED nahmen zu, weil sich, so die Kreisleitung Bischofswerda, kein Ausweg abzeichnete „und nach wie vor die neue Rolle und Verantwortung der Partei noch nicht geklärt“ sei. Tägliche Enthüllungen über Machtmissbrauch brächten einen weiteren Vertrauensverlust. Überall werde gefordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, „ansonsten wäre ein Zerfall der Partei nicht aufzuhalten“.156 Selbst

151 152 153 154 155 156

Leipzig, 889, Bl. 126 f.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 11./12. 11. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 14. 11. 1989. Vgl. SED - KL Löbau vom 11. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). Protokoll der 51. Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 12. 11. 1989 ( SAPMO BArch, SED, J IV 2/2/2360). Neues Deutschland vom 14. 11. 1989. MfS vom 15. 11. 1989 : Hinweise für die Dienstbesprechung ( ABL, DZ 15. Januar, unsortiertes Material ). SED - KL Freital vom 14. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). SED - KL Bischofswerda vom 16. 11. 1989 : Lage ( ebd., 13554).

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Mitglieder stellten die führende Rolle in Frage und befassten sich mit Austrittsgedanken, „da sie zunehmend mit der Schuldfrage konfrontiert werden und den Angriffen nicht mehr genügend standhalten können“.157 Aus Bautzen hieß es, die Rolle der SED in den Betrieben und Einrichtungen gehe weiter zurück. Die Abrechnung mit der Vergangenheit, mit Funktionsmissbrauch und Korruption führten zu neuen Vertrauensverlusten. Die Mitglieder „weichen aufgrund des Druckes weiter zurück“. „Viele gute Kommunisten“ verließen die SED, weil sie die „für einen Kommunisten unwürdige Politik nicht vertreten“ könnten. Viele Hoffnungen würden sich auf die Wahl Modrows zum Ministerpräsidenten an der Spitze einer Koalitionsregierung richten.158 Auch in Schmölln fühlten sich die Mitglieder alleingelassen und hatten kein Vertrauen mehr in die Führung. Es häuften sich Forderungen, die SED umzubenennen, „man schäme sich dieses Namens“.159 In Flöha gab es „keine planmäßige und zielgerichtete Parteiarbeit mehr“. Forderungen nach personellen Veränderungen in der Kreisleitung nahmen zu. Gefordert wurde hier wie vielerorts ein Herabsetzung der Parteibeiträge, da „die oben auf unsere Kosten gelebt haben“ und die Aufgabe des Führungsanspruchs.160 Die Zahl der Austritte nahm weiter zu, „insbesondere aus der Arbeiterklasse“.161 Z. B. traten im Stahl- und Walzwerk Gröditz am 15. November 81 Mitglieder aus,162 im VEB Robotron-Elektronik Riesa am 14. November 50, im VEB Stahl - und Walzwerk Riesa 30.163 Einzelne Grundorganisationen mussten bereits aufgelöst werden, weil nicht genügend Mitglieder vorhanden waren.164 Weiterhin wurden Parteisekretäre und Leitungsmitglieder angegriffen und aufgefordert, die Betriebe zu verlassen.165 Die Unsicherheit unter den Funktionären wuchs schnell. Dabei wurde weniger nach persönlicher Verantwortung gefragt, in Funktionärsfamilien drehten sich die Diskussionen vielmehr um „die Erhaltung der bisher erarbeiteten materiellen Sicherheit und die beruf liche Perspektive“.166 Deswegen traten auch immer mehr Funktionäre aus der SED aus, wurden in Betrieben, Einrichtungen und Organisationen zum Rücktritt gezwungen167 oder entzogen sich selbst durch Austritt der Verantwortung.168 Bis Mitte November kam es in allen 15 Bezirksleitungen der SED zur Neuwahl der 1. Sekretäre. Nach dem Wechsel in Karl - Marx - Stadt wurde in Dres157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168

SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Bautzen vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Schmölln vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 126 f.). BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 45–48). SED - BL Dresden vom 15. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 8). SED - BL Dresden vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). SED - BL Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 19). Vgl. SED - KL Borna vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 128). Vgl. SED - KL Löbau vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Kamenz vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Bautzen vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). Vgl. SED - BL Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 15– 24). Vgl. SED - BL Dresden vom 13. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 25, 29).

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den Hansjoachim Hahn Nachfolger von Modrow, hier freilich wegen dessen bevorstehender Wahl zum Ministerpräsidenten. In Leipzig trat das Sekretariat geschlossen zurück und wählten eine neue SED - Bezirksleitung mit Roland Wötzel als 1. Sekretär weiter.169 Auch in nahezu allen Kreisen drehte sich das Personalkarussell der 1. Sekretäre. Am 16. November wurde in Bischofswerda Hannelore Strugalla abgesetzt,170 in Zittau musste Günter Löff ler zurücktreten.171 In Zschopau wurde Wolfgang Winkler durch den bisherigen Sektorenleiter in der Abteilung Landwirtschaft der SED - Bezirksleitung, Gunther Nitzsche, ersetzt.172 In Altenburg übernahm der bisherige Sekretär für Landwirtschaft, Peter Krause, die Funktion von Wolfgang Nebe.173 In Döbeln ersetzte Berthold Schmidtke Jochen Bischoff,174 in Borna Klaus Heyer Saarfried Thiele,175 in Weißwasser trat Klaus Frey zurück.176 In Zwickau wurde der Sekretär für Agitation, Propaganda, Kultur und Bildung, Bernd Meyer, neuer 1. Sekretär.177 In Plauen wurde Werner Schweigler „auf Anraten der Ärzte“ durch Uwe Tobies ersetzt.178 In Eilenburg, Löbau und Marienberg trat das Sekretariat der SED Kreisleitung geschlossen zurück.179 Trotz der Krise gab es genügend Kräfte, die auf eine Neuformierung der Partei drängten. In vielen Orten und bei Kreisleitungen gab es Kundgebungen für eine Erneuerung der SED.180 Vor dem Gebäude der SED - Kreisleitung Bautzen hing ein Transparent mit der Aufschrift „Sprachlosigkeit ist vorbei – die Partei ist mit dabei“. Es gab Spruchbänder wie „Für das Aktionsprogramm der SED“ und „Nicht kneifen, sondern kämpfen“ oder „Kreisleitung aufwachen“. Viele Mitglieder wünschten, die SED wieder „zur Partei des Handelns“ zu entwickeln.181 Überall wurde aber auch ein massiver Vertrauensverlust in die Führung manifest,182 verbunden mit Forderungen nach einem schonungslosen Aufdecken und Bestrafen korrupter Funktionäre183 und einer kritischen Ausein-

169 Vgl. Neues Deutschland vom 16. 11. 1989. 170 Vgl. Bischofswerda – das Tor zur Oberlausitz : Zuarbeit zur Chronologie der Wende, o. D. ( HAIT, StKa ). 171 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 16. 11. 1989. 172 Vgl. Matthias Zwarg, Sachsen 1989 ( HAIT, Zschop - B9). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 17. 11. 1989. 173 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 18./19. 11. 1989. 174 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 17. 11. 1989. 175 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 17. 11. 1989. 176 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 15. 11. 1989. 177 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 15. 11. 1989. 178 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 16. 11. 1989. 179 Vgl. SED - BL Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 18); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 16. 11. 1989; Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 18. 11. 1989. 180 Vgl. Sächsische Zeitung vom 18./19. 11. 1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 15. 11. 1989; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 16. 11. 1989. 181 SED - KL Bautzen vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 182 Vgl. SED - KL Dippoldiswalde vom 13. 11. 1989 : Lage ( ebd.). 183 Vgl. SED - KL Bautzen vom 12. 11. 1989 : Lage ( ebd.).

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andersetzung mit der eigenen Vergangenheit.184 Dabei waren die Schlussfolgerungen freilich sehr unterschiedlich und zeigten eine Ausdifferenzierung der Meinungen in der bisher nach außen monolithisch erscheinenden Staatspartei. Es zeigte sich eine „äußerst vielfältige Breite der oftmals kontroversen Standpunkte der Genossen“, wodurch es schwer oder unmöglich wurde, „für das geschlossene Handeln der Genossen einheitliche Schwerpunkte abzuleiten“.185 Vor allem zeigte sich eine Polarisierung in eine kommunistische und eine reformsozialistische Richtung. Letztere forderte vor allem eine künftige Gleichberechtigung der Parteien, die Trennung von Staat und Partei,186 mehr innerparteiliche Demokratie und Meinungsfreiheit in der SED sowie weniger Zentralismus und Reglementierung.187 Die SED - Kreisleitung Auerbach z. B. sprach sich offen gegen das Machtmonopol der SED, für parlamentarische Demokratie und freie Wahlen aus.188 Häufig wurde in der SED nun die Bereitschaft zur offenen Diskussion mit Neuem Forum und Bürgerbewegungen bekundet.189 Vor allem älteren Mitgliedern bereitete jedoch „das sich Hineinversetzen in das neue Herangehen und die veränderten Anforderungen der Partei erhebliche Schwierigkeit“.190 Viele hätten gern alles beim Alten gelassen, sahen sich aber aufgrund der mitgetragenen Korruption und Privilegienwirtschaft gezwungen, sich für Änderungen auszusprechen. Freilich wiesen diese eher in die entgegengesetzte Richtung. So gab es Forderungen nach Auf lösung der SED und der Neubildung einer „echten m / l Partei im Thälmann’schen Sinne“. Die meisten Mitglieder, so die SED - Kreisleitung Großenhain, stünden zu den „Idealen der Arbeiterklasse und des M / L“ und wollten nach einer Neugründung der Partei wieder Mitglied sein.191 Selbst viele der ausgetretenen Mitglieder nannten sich noch Kommunisten und beriefen sich auf den Marxismus - Leninismus. Sie strebten eine andere kommunistische Partei an.192 Die aber, die in der SED blieben, strebten danach, die SED als marxistisch - leninistische Partei zu erhalten.193

184 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 14. 11. 1989. 185 SED - KL Dippoldiswalde vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 186 Vgl. SED - KL Geithain vom 14. 11. 1989 : Diskussionsgrundlage „Aktuelle Aufgaben in Auswertung der 10. ZK - Tagung“ ( KA Altenburg, RdK, SLN, Nationale Front, 8); SEDKL Geithain vom 12. 11. 1989 : Schlussfolgerungen für die weitere politische Arbeit in der Kreisparteiorganisation Geithain, Entwurf ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 82/1, Bl. 74 f.). 187 Vgl. Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung, o. D. (SächsStAC, 115856). 188 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 11. 11.1989. 189 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 11.11.1989. 190 SED - KL Dippoldiswalde vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 191 SED - KL Großenhain vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd.). 192 Vgl. SED - KL Bautzen vom 16. 11. 1989 : Lage ( ebd.). 193 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Vorbereitung der Kreisdelegiertenkonferenz ( ebd.).

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Wahl Modrows zum neuen Ministerpräsidenten (13./14.11.)

Zur offenen und kritischen Aussprache kam es auf der mit Verzögerung einberufenen 11. Tagung der Volkskammer.194 Es handelte sich um die erste freie Debatte in der Geschichte der Volkskammer, unfrei war nur das Verharren auf dem Dogma, alle Parteien müssten dem Sozialismus verpflichtet bleiben.195 Tatsächlich hielten alle Abgeordneten am Sozialismus fest, einzig die CDU Abgeordnete Christine Wieynk, wenngleich auch sie einen humanistischen Sozialismus forderte, verlangte unmissverständlich freie, geheime Wahlen, eine demokratische Kontrolle des Gesetzgebungsprozesses und eine strikte Entflechtung von SED und Staat.196 Bereits am 10. November hatte die SED - Fraktion der Volkskammer dem Politbüro Hans Modrow als neuen Ministerpräsidenten vorgeschlagen.197 Der Vorschlag ging auf SED - Chef Krenz zurück. Dieser setzte sich damit gegen Gerhard Schürer durch, der Siegfried Lorenz favorisiert hatte. Krenz selbst hatte zunächst auch Schalck - Golodkowski und den Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker, ins Auge gefasst.198 Am 13. November wählte die Volkskammer den bisherigen 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, mit einer Gegenstimme zum neuen Ministerpräsidenten. Alle Fraktionen bekundeten ihren Willen, sich an einer Koalitionsregierung zu beteiligen. Der neue Vorsitzende der SED - Fraktion, Werner Jarowinsky, kündigte ein neues Verhältnis gegenüber Gruppierungen und Parteien an, die nicht in der Volkskammer vertreten waren. Wie Krenz machte auch Jarowinsky vor allem Honecker und das abgelöste Politbüro für Fehler der Vergangenheit verantwortlich. Stoph übernahm als bisheriger Ministerpräsident die politische Verantwortung für Fehler der Regierung. Honecker und Mittag hätten die Kompetenzen des Ministerrates wesentlich eingeschränkt. Mielkes Rede erntete starken Widerspruch. Er brüstete sich damit, „her vorragende Informationen“ geliefert zu haben. Berühmt - berüchtigt wurde seine Bemerkung : „Ich liebe doch alle, alle Menschen“, die angesichts der Angst verbreitenden Arbeit des MfS nur ein befreiendes Lachen auslöste. Mielkes „Auftritt von makabrer Komik“199 wurde in den Bezirks - und Kreisverwaltungen des MfS mit Verärgerung aufgenommen und führte erstmals zur offenen Distanzierung von ihm. Volkskammerpräsident Sindermann und sein Stellvertreter Götting traten zurück. Bei der erstmals geheimen Wahl eines neuen Volkskammerpräsidenten setzte sich der DBD - Vorsitzende Günther Maleuda im zweiten Wahlgang mit 246 gegen 230 Stimmen gegen den LDPD - Vorsitzenden Manfred Gerlach durch. Seine Wahl stützte sich 194 Volkskammer der DDR, 9. WP. 11. Tagung am 13. 11. 1989. Protokoll in Herles / Rose, Parlaments - Szenen, S. 74–201. 195 So ebd., S. 12. 196 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 15. 11. 1989. 197 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.–10. 11. 1989, Anlage 2 (SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2359). 198 Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 109. 199 Fricke, MfS intern, S. 70.

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vor allem auf die Stimmen der Massenorganisationen, die befürchteten, die LDPD werde ihren Vorsatz wahrmachen, sie aus der Volkskammer zu verbannen.200 Auf Antrag der SED - Fraktion gaben 27 führende SED - Spitzenfunktionäre ihre Volkskammermandate auf.201 Außerdem billigte die Volkskammer das Ausscheiden von Heinrich Homann, Gerald Götting, Kurt Hager, Werner Krolikowski, Horst Sindermann, Willi Stoph und Harry Tisch aus dem Staatsrat. Zuvor war hier bereits Günter Mittag ausgeschieden. Er wurde im November auch aus der SED ausgeschlossen. Eine überraschende Wendung nahm die Tagung am Abend mit der Anhörung von Mitgliedern der Regierung zur bislang geheim gehaltenen Staatsverschuldung in Höhe von 130 Milliarden Mark Inlands - Verpflichtungen. Gerhard Schürer erklärte, er habe Honecker bereits im Mai 1988 auf die katastrophale Finanzsituation aufmerksam gemacht, seine Argumente seien jedoch zurückgewiesen worden. Die Volkskammertagung verschärfte den Unmut der Bevölkerung weiter, da sie „erst richtig die volle Tragweite des Schadens, den die SED angerichtet“ hatte, deutlich machte.202 Bereits am 14. November beriet Modrow zum Ärger des noch amtierenden Willy Stoph mit den Mitgliedern des Ministerrates die Lage.203 Stoph bezeichnete dies als „Verfassungsbruch“ und untersagte Modrow den Zutritt zum Gebäude des Ministerrates.204 Am Abend desselben Tages berieten die Führungen der Blockparteien über die Bildung einer Koalitionsregierung. Am Vortag hatte der NDPD - Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Günter Hartmann, eine Zusammenarbeit der Regierungsparteien auf gleichberechtigter Grundlage gefordert und erklärt, der Führungsanspruch der SED sei nicht mehr akzeptabel.205 Modrow aber drängte auf Beibehaltung der führenden Rolle der SED und wies die Forderung nach einer gleichberechtigten Teilnahme zurück. Wer zu viel an „Zusammenwirken“ fordere, so klärte er die MfS - Spitze auf, stelle eine Koalitionsregierung unter seiner Führung in Frage.206 Damit war klar, dass sich das Grundmuster seiner Politik nicht von dem des SED - Vorsitzenden unterschied. Noch steckten die Blockparteien nicht zurück. Am 15. November wurde bekannt, dass die LDPD - Volkskammerfraktion bei der nächsten Sitzung die Streichung des Artikels 1 der Verfassung der DDR beantragen wollte. Krenz, Hartmann ( NDPD ), Maleuda ( DBD ) und de Maizière kritisierten dies und setz200 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 323. 201 Hans Albrecht, Hermann Axen, Hans - Joachim Böhme, Johannes Chemnitzer, Friedrich Dickel, Horst Dohlus, Kurt Hager, Joachim Hermann, Erich Honecker, Margot Honecker, Günther Kleiber, Werner Krolikowski, Inge Lange, Erich Mielke, Günter Mittag, Erich Mückenberger, Gerhard Müller, Alfred Neumann, Alfred Rohde, Horst Schumann, Horst Sindermann, Willi Stoph, Ernst Timm, Harry Tisch, Werner Walde, Heinz Ziegenhahn, Heinz Ziegner. Informationen des BMB 22 vom 1. 12. 1989, S. 21 f. 202 SED - BL Potsdam vom 14. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 432/433). 203 Protokoll der Arbeitsberatung des Vorsitzenden des Ministerrates mit den amtierenden Mitgliedern des Ministerrates vom 14. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2869). 204 So Modrow, Aufstieg und Ende, S. 36 f. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 318. 205 Vgl. National - Zeitung vom 14. 11. 1989. 206 Ausführungen Hans Modrows anlässlich der Diensteinführung von Wolfgang Schwanitz als Leiter des AfNS am 21. 11. 1989 ( BStU, ZA, ZAIG 4886).

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ten durch, die SED solle freiwillig auf die „führende Rolle“ verzichten.207 Hier widersprechen sich die Aussagen. Nach Darstellung de Maizières machte er seine Bereitschaft zum Einstieg in die Regierung von der Streichung der SED - Führungsrolle aus der Verfassung abhängig. Außerdem sollte klar geregelt sein, dass es sich um eine Übergangsregierung bis zu freien Wahlen handle. Modrow sagte demnach zu, da er selbst ähnliche Vorstellungen gehabt habe.208 5.4

MfS unter Modrow : Umbenennung in „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS )

Nach dem Fall der Mauer nahmen die Vorwürfe gegen das MfS weiter zu. Es musste sich mit Vorwürfen wie der Anwendung psychischer Zwangsmittel, der Misshandlung von Personen und wegen der Übergriffe Anfang Oktober auseinandersetzen.209 In Dresden war mit Blick auf die Bezirksverwaltung des MfS in der Bautzner Straße von Foltermethoden die Rede.210 Vermutungen über Spitzeltätigkeit kursierten.211 Trotz der Verunsicherung unter den Mitarbeitern212 waren die meisten IM auch weiterhin bereit, für das MfS zu wirken.213 Auch am Feindbild gab es keine Abstriche. In einer Propagandabroschüre vom November hieß es „Feinde sind diejenigen Organisationen, Einrichtungen und Kräfte, deren Bestrebungen und Aktivitäten auf einen Umsturz der verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Ordnung, gegen den staatlichen Bestand unseres Landes gerichtet sind“.214 Am 11. November erklärte Mittig vor dem 10. Plenum des ZK der SED : „Wir haben keine Illusionen über die Feinde unserer sozialistischen Ordnung und die von ihnen verfolgten Ziele.“215 In der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig meinte man, dass „auch gewaltfreier Widerstand eigentlich Gewalt“ sei.216 Zwar versuchte man hier nun klarer zwischen Feinden und „Irregeleiteten“ zu unterscheiden“. Feinde waren demnach nur 207 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 328 f. 208 Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 110. 209 Vgl. KAfNS Brand - Erbisdorf vom 22. 11. 1989 : Verbreitung von Gerüchten ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 5–9). KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 10. 11. 1989 : Meinungsäußerungen ( ebd. 534, 2, Bl. 4–6). MfS, Presseabteilung von November 1989 : Fakten und Argumente 2/89, S. 31–33 ( MDA, „Fakten und Argumente“ des MfS / AfNS 1–4/1989). 210 Vgl. BVfS Dresden vom 7.–12. 11. 1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, BV, AKG 7002, 1, Bl. 28). 211 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 11. 1989 : Lagemeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 4 f.). 212 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 10. 11. 1989 : Meinungen ( ebd. 534, 2, Bl. 4–6). 213 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 1, Bl. 4 f.); BVfS Karl Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd. 532, 2, Bl. 45–48). 214 MfS, Presseabteilung von November 1989 : Fakten und Argumente 2/89 ( MDA, „Fakten und Argumente“ des MfS / AfNS 1–4/1989). 215 Neues Deutschland vom 11./12. 11. 1989. 216 BVfS Leipzig vom 11. 11. 1989 : Auffassungen von Marx – und davon gehen wir aus – zur Gewalt ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 31, Bl. 1 f.).

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noch jene, die auf „den Sturz unserer Republik hinarbeiten“.217 Dieses Ziel einte freilich bald fast die gesamte Bevölkerung der DDR. Auch das Verhältnis des MfS zur SED blieb unverändert. Man werde, so hieß es nicht nur in der MfSKreisdienststelle Döbeln, „weiterhin alles tun, um die Kampfkraft unserer Partei zu festigen“.218 In Karl - Marx - Stadt erklärte der 2. Sekretär der SED - Bezirksleitung : „Wir stehen in diesen Stunden fester denn je an eurer Seite. Wir werden diesen Kampf gemeinsam bestehen.“219 In dieser Situation sorgte der Auftritt Mielkes vor der Volkskammer am 13. November220 zur Verschärfung der Krise des MfS und zur sprunghaften Zunahme der Kritiken am MfS - Kollegium. Der Leiter der Bezirksver waltung des MfS Karl - Marx - Stadt, Gehlert, meinte am nächsten Tag : „Wenn ich als Jäger spreche, war das der Fangschuss für die Tschekisten.“221 Am 15. November blieb Mielke keine andere Wahl, als sich vor dem Kollegium des MfS für seinen Auftritt zu entschuldigen.222 Die bereits Anfang November angelaufene Aktenvernichtung wurde nach dem Fall der Mauer intensiviert.223 Mit Blick auf eventuelle Besetzungen von Objekten des MfS wies Mielkes Stellvertreter Schwanitz an, die Vernichtung kurzfristig abzuschließen. Es galt zu verhindern, dass die Bevölkerung Einblick nahm. Die Bestimmungen waren so formuliert, dass nahezu alle Ergebnisse der gesamten bisherigen Arbeit beseitigt werden konnten. Überall in den Dienststellen wurden jetzt wahllos Materialien über „Andersdenkende“, Exponenten der Bürgerbewegung, Speicher der Kreisdienststellen, umfangreiche Dossiers zu Sachverhalten und Personen sowie insbesondere die Ergebnisse der über Jahre durchgeführten Ermittlungen in möglichst großer Menge vernichtet und zahlreiche Akten auf andere Weise beiseite geschafft. Nach der Wahl Modrows zum neuen Ministerpräsidenten konstatierte Schwanitz am 15. November etwas verfrüht, die führende Rolle der SED unter Modrow sei offensichtlich nicht mehr gegeben. Von Modrow werde eine Entflechtung von Staat und Partei erwartet.224 Damit, so schien es, war die bisherige Raison d’ être der Staatssicherheit entfallen.225 Die Mitarbeiter standen vor einer Entscheidung, die das Grundverständnis ihrer bisherigen Arbeit berührte. Bislang verstanden sie sich als überzeugte „Tschekisten“, als kommunistisch motivierte „Kämpfer an der unsichtbaren Front“ zum vermeintlichen imperia217 BVfS Leipzig vom 11. 11. 1989 : Unser Verhältnis zu Andersdenkenden ( ebd., Bl. 2–4). 218 KDfS Döbeln vom 12. 11. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 304, Bl. 1). 219 Protokoll der Dienstversammlung der LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 16. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 441, Bl. 17). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 40. 220 Siehe zur 11. Tagung der Volkskammer Kap. III.5.3. 221 Zit. bei Horsch, Das kann, S. 41. 222 Vgl. Arbeitsbuch von Major Haase vom 15. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA IX 2915, Bl. 95). 223 Leiter der ZAIG, Irmler : Reduzierung des Bestandes erfasster und gespeicherter operativ bedeutsamer Informationen sowie vorliegender Einschätzungen der politisch - operativen Lage in den Kreisdienststellen / Objektdienststellen, o. D. ( ebd., ZAIG 13671, Bl. 1 und 4). 224 Vgl. Hinweise für die Dienstbesprechung am 15. 11. 1989 ( ebd. 8682, Bl. 1–28). 225 Vgl. Süß, Entmachtung, S. 131.

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listischen Klassenfeind. Nun schienen sie plötzlich zwischen Partei - und Staatsraison wählen zu müssen. Modrow übernahm sein Amt mit recht klaren Vorstellungen hinsichtlich des MfS. Für ihn stand fest, dass die DDR weiterhin entsprechende Dienste benötigte.226 Zur Debatte standen jedoch Form und Ziele. Weiterhin sollte es um den Schutz des Sozialismus in modifizierter Form gehen. Befehle sollte künftig nicht mehr der SED - Vorsitzende, sondern der Regierungschef geben. Das Kollegium reagierte am 15. November mit einer organisatorischen Umgestaltung des MfS in ein in „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ) auf die Vorgaben. Den Mitarbeitern wurde erklärt, es sei „grundsätzlich davon auszugehen, dass das Amt für nationale Sicherheit auch zukünftig den mit der Verfassung der DDR verbundenen Auftrag, den Sozialismus zuverlässig zu schützen, zu erfüllen“ habe.227 Aufklärung und Bekämpfung waren nun auf alle auszurichten, von denen verfassungsfeindliche Aktivitäten ausgingen, die sich also statt für eine erneuerte sozialistische DDR für eine Wieder vereinigung einsetzten.228 Im Wesentlichen setzte das MfS seine Arbeit unter neuem Namen fort, auch weiterhin observierte man die neuen politischen Kräfte und dachte gar nicht daran, den Spitzelapparat aufzulösen. Auch die Blockparteien wurden weiterhin bespitzelt,229 obwohl Modrow eine Regierungskoalition mit ihnen bildete. Unter den MfS - Mitarbeitern führte die geplante Umwandlung zu Besorgnis und auch Empörung. „Vorherrschend war die Frage: Wie geht es mit uns im Allgemeinen und mit jedem Einzelnen im Besonderen weiter?“230 5.5

Bonner Deutschlandpolitik nach dem Mauerfall

Am Vormittag des 11. November telefonierten Krenz und Kohl. Der SED - Chef erklärte, Kohl stimme doch wohl mit ihm in der Frage „absolut“ überein, „dass gegenwärtig die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung steht“. Kohl erwiderte, seine Regierung sei „da ganz anderer Meinung“.231 Dass dies keine Eskalation seitens der Bundesregierung bedeutete, machte Genscher gegenüber Schewardnadse klar. Die Bundesregierung trete für „Stabilität in Europa“ sowie „die weitere Entwicklung auf dem festgelegten und bereits

226 Vgl. Interview mit Hans Modrow. In : Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi ( Spiegel TV Special ), VOX vom 12. 1. 1996 um 22.05–22.45 Uhr. 227 Erklärung des Kollegiums des MfS vom 15. 11. 1989 ( BStU, ZA, SDM 627, Bl. 69; VIII 1829, Bl. 62–72). 228 Vgl. Hinweise für die Dienstbesprechung am 15. 11. 1989 ( ebd., ZAIG 8682, Bl. 1–28). 229 Vgl. BAfNS Halle, XX vom 24. 11. 1989 : Lage. In : Keine Überraschung zulassen !, S. 117–121. 230 Info über die Reaktionen der Dienstkollektive der Bezirksverwaltung auf die Erklärung des Kollegiums des Ministeriums vom 15. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, L 26). 231 Telefongespräch Egon Krenz mit Helmut Kohl am 11. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2039/324).

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gebahnten Weg“ ein und halte an den geschlossenen Verträgen fest.232 Unmittelbar nach dem Gespräch mit Krenz telefonierte Kohl mit Gorbatschow über das für ihn unbefriedigende Ergebnis und betonte, es sei an der Zeit, in der DDR Reformen durchzuführen. Einigkeit bestand in der Frage, bei der Entwicklung Umsicht walten zu lassen. Kohl bekräftigte, er „lehne jegliche Radikalisierung ab und wünsche keine Destabilisierung der Lage in der DDR“.233 Beachtung fand im Bundeskanzleramt die Tatsache, dass von sowjetischer Seite weder gedroht noch gewarnt wurde. Zu Teltschik sagte Kohl nach dem Telefonat mit Gorbatschow : „De Bärn is g’schält.“234 Tatsächlich blieb die Bundesregierung bei ihrer Politik, der DDR wirtschaftliche Hilfen für den Fall politischer Reformen anzubieten. Darüber beriet am 14. November die Staatssekretärsrunde unter Vorsitz von Kanzleramtsminister Seiters,235 der darüber weiterhin mit Schalck - Golodkowski verhandelte.236 Dieser unterbreitete dem Politbüro am 15. November ein Konzept, wie man mit der Bundesregierung in Verhandlungen treten könnte. Unmittelbar danach wurde er zum Staatssekretär der Regierung Modrow benannt.237 Auf einer Vorstandssitzung präzisierte die CDU ihre Haltung zu wirtschaftlichen Hilfen. Man werde nicht warten, so Rühe, bis die DDR die soziale Marktwirtschaft einführe. Schon jetzt müsse überlegt werden, welche „Investitionen für Deutschland“ möglich seien. Dazu gehörten die Förderung des Umweltschutzes, der Kommunikationseinrichtungen und Hilfen auf humanitärem Gebiet. Die CDU beschloss, eine Expertenkommission einzusetzen.238 Im Bundesarbeitsministerium setzte Norbert Blüm eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit den Auswirkungen einer Wiedervereinigung auf den Sozialstaat beschäftigte.239 Wichtig war auch die Einrichtung eines Reisedevisenfonds für DDR - Bürger.240 Am 13. November versicherte Genscher den Mitgliedern der Westeuropäischen Union, die Bundesregierung werde keinen nationalen Alleingang unternehmen, sondern die Integrationspolitik in der EG und in der NATO konsequent fortsetzen. Jetzt komme es darauf an, die westeuropäische Integrationspolitik zu beschleunigen.241 Vor dem Bundestag betonte Kohl am 16. November, die Bundesrepublik bleibe Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Die Lösung der deutschen Frage stehe in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Überwindung der Teilung Europas. Zur Entwicklung in der DDR meinte er : „Freiheit ist, war und bleibt der Kern der deutschen Frage. Das 232 Telefongespräch Eduard Schewardnadse mit Hans - Dietrich Genscher am 11. 11. 1989 (ebd. 2/2A /3258). 233 Telefongespräch Michail Gorbatschow mit Helmut Kohl am 11. 11. 1989 ( ebd.). 234 Teltschik, 329 Tage, S. 27–29. 235 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 16. 11. 1989. 236 Aussage Alexander Schalck - Golodkowskis. Vgl. FAZ vom 18. 4. 1991. 237 Vgl. Schabowski, Das Politbüro, S. 146. 238 Vgl. Kölner Stadt - Anzeiger vom 16. 11. 1989. 239 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18./19. 11. 1989. 240 Vgl. Duisberg, Das deutsche Jahr, S. 84–94. 241 Vgl. Kölner Stadt - Anzeiger vom 14. 11. 1989.

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heißt vor allem : Unsere Landsleute in der DDR müssen selbst entscheiden können, welchen Weg in die Zukunft sie gehen wollen. Sie haben dabei keinerlei Belehrungen – von welcher Seite auch immer – nötig. Sie wissen selbst am besten, was sie wollen. Das gilt auch für die Frage der deutschen Einheit, die Frage der Wiedervereinigung.“242 Willy Brandt meinte, schon jetzt lasse sich der Führungsanspruch der SED nicht mehr aufrechterhalten. Politischer Pluralismus und freie Wahlen stünden auf der Tagesordnung. Rühe sprach die Erwartung der CDU aus, die große Mehrheit der Bürger in der DDR werde sich für die staatliche Einheit entscheiden. Genscher sprach von einem „urdemokratischen Aufbruch“, einer Demokratie und „Einheit von unten“, einer „gewaltlosen Revolution der Freiheit“. Das „stolze Bürgerwort“ „Wir sind das Volk“ richte sich auch an die Bundesdeutschen. Der Freiheitswille der Deutschen in der DDR verlange, dass die Bundesrepublik den Weg respektiere, für den sich die Bevölkerung entscheiden werde.243 Einig waren sich die Parteien, dass nur die Deutschen in der DDR darüber zu befinden hätten, ob sie zukünftig gemeinsam mit den Westdeutschen in einem Staat leben wollten. Grundlage der übereinstimmenden Haltung der Parteien war die Tatsache, dass eine Mehrheitsentscheidung in der Bundesrepublik zugunsten der deutschen Einheit bereits getroffen war. Die Strategie bestand demzufolge darin, die Entscheidung von den Deutschen in der DDR treffen bzw. nachholen zu lassen, um auf diese Weise den einheitlichen Willen des gesamten deutschen Volkes auszudrücken. Eine Majorisierung der DDR - Deutschen durch die Bundesdeutschen war international nicht durchsetzbar und im nationalen Sinne auch nicht wünschenswert. Eine Wiedervereinigung gegen den Willen der DDR - Bevölkerung war undenkbar, mit ihrem Willen aber vom Ausland nicht mehr zu verhindern. Allerdings gingen die Erwartungen in den Parteien wie in der Bevölkerung darüber auseinander, wie die Deutschen in der DDR sich entscheiden würden. Baden - Württemberg und Bayern werden aktiv Unmittelbar nach dem Fall der Mauer entwickelten die späteren Partnerländer Baden - Württemberg und Bayern Aktivitäten in Richtung Sachsen. Damit betraten neue ( bundesdeutsche ) Akteure die politische Handlungsbühne, deren Aktivitäten sich vor allem im Laufe des Jahres 1990 bei der Herausbildung des Freistaates Sachsen intensiv auswirkten.244 Baden - Württemberg : Im Stuttgarter Staatsministerium erkannte man früh wirtschaftliche Möglichkeiten durch regionale Kontakte in die sich verändernde DDR. Spätestens seit einem Besuch Modrows bei Späth im September 1989 gab es hier einen intensiven Kontakt. Späth war an Kooperationen im Rahmen eines „Europas der Regionen“ interessiert, er wollte Europa von unten her schaf242 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 17. 11. 1989. 243 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht der 176. Sitzung vom 16. 11. 1989. 244 Vgl. die entsprechenden Kap. in Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen.

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fen. In diesem Zusammenhang interessierte er sich für Sachsen als „Zukunftsland“, in dem er wegen dessen historischer und wirtschaftlicher Bedeutung einen möglichen neuen Motor Europas vermutete. Deswegen wollte er das entstehende Sachsen als Partnerland gewinnen. Anders als sein Konkurrent Kohl strebte er eine größere Vitalität der Politik nach außen an und zielte generell auf eine Reform der bundesdeutschen Gesellschaft. Da er sich nicht gegen Kohl durchsetzen konnte, suchte er im regionalen Bereich nach Möglichkeiten einer politischen Profilierung. Im November ließ er in Sachsen recherchieren, „was können wir hier tun, welche Hilfsmaßnahmen, welche Zeichen des guten Willens können wir noch vor Weihnachten unterbringen, um uns bemerkbar zu machen“.245 Wenig später vereinbarte man mit Modrow einen Besuch Späths,246 der am 10. Dezember nach Dresden reiste und damit dem Besuch seines Kontrahenten Kohl um einige Tage zuvorkam. Späth kündigte die Schaffung von Kontaktbüros in Stuttgart und Dresden sowie eine Reihe konkreter Hilfen an. Eine Unternehmerkonferenz sollte Partner aus Baden - Württemberg und den sächsischen Bezirken zusammenführen. Zunächst aber verständigten sich beide Seiten auf eine Kooperation zwischen dem Bezirk Dresden und Baden - Württemberg, ein Modell, das am Abend des Treffens publik wurde. Das DDR - Fernsehen übertrug das „Dresdener Gespräch“ direkt, an dem neben Späth, Berghofer und dem Generaldirektor des VEB Kombinat Robotron, Friedrich Wokurka, auf Drängen der baden - württembergischen Seite auch Herbert Wagner als Sprecher der Gruppe der 20 teilnahm.247 Späth beauftragte die Internationale Abteilung des Staatsministeriums, die Zusammenarbeit mit Sachsen zu koordinieren. Am 19. Dezember begann man hier mit der Vorbereitung von Hilfsmaßnahmen.248 Noch im Dezember rollten sieben Lastwagen mit Hilfsgütern nach Sachsen. Um näher am Geschehen zu sein, wurde im fränkischen Bad Berneck ein „Headquarter“ eingerichtet, von wo aus besser operiert und die Logistik organisiert werden konnte. Kurz vor Weihnachten wurden Güter an Ärzte und Krankenhäuser verteilt.249 Noch vor Weihnachten wurde die Eröffnung eines Koordinationsbüros in Dresden Ende Januar 1990 avisiert. Bayern: Bereits am 14. November plädierte Ministerpräsident Max Streibl für die Wiederherstellung der alten Länder auf dem Boden der DDR und schlug eine Partnerschaft zwischen dem Freistaat und den angrenzenden thüringischen und sächsischen Bezirken vor.250 Noch am selben Tag setzte die Bayerische Staatsregierung einen Staatssekretärsausschuss unter Leitung des Chefs der

245 246 247 248

Interview mit Wolfgang Zeller am 10. 2. 2000. Vgl. Mengele, Wer zu Späth kommt, S. 174–178. Vgl. Wagner, Zwanzig gegen die SED, S. 108. SMBW, Abt. V : Vermerk für den Herrn Ministerpräsidenten vom 18. 12. 1989, betr. : Konkretisierung der Zusammenarbeit mit Dresden / Sachsen, gez. Mengele ( SMBW, 0136 Partnerschaft mit Dresden / Sachsen ). 249 Interview mit Wolfgang Zeller am 10. 2. 2000. 250 Rede von Max Streibl im Bayerischen Landtag am 14. 11. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB, 126406).

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Staatskanzlei, Wilhelm Vorndran, mit dem Ziel ein, „im Rahmen der Zuständigkeiten und Möglichkeiten den politischen und wirtschaftlichen Neubeginn auf freiheitlicher und markwirtschaftlicher Grundlage zu unterstützen“. In der Staatskanzlei wurde ein Arbeitsstab und eine interministerielle Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik ins Leben gerufen.251 Ausdrücklich betonte Vorndran, die konzeptionellen Überlegungen sollten der „Unterstützung der Reformbewegung und des Neubeginns in der DDR“ dienen.252 Als erste praktische Schritte stellte die bayerische Straßenbauverwaltung seit Jahrzehnten unterbrochene Straßenverbindungen wieder her und leistete im Gesundheitswesen erste Hilfe.253 Im Dezember wurden die Kontakte intensiviert. Auf Einladung des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Karl - Marx - Stadt, Lothar Fichtner,254 sprach Innen Staatssekretär Peter Gauweiler am 12. Dezember mit Vertretern des Rates und der Wirtschaft über den Ausbau der Autobahn Hof - Plauen, neue Grenzübergangsstellen und den Abbau von Grenzsperranlagen. Beide Seiten vereinbarten für den Januar 1990 die Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen.255 Gauweiler traf zwar auch mit dem Superintendenten von Karl - Marx - Stadt, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht mit Vertretern neuer politischer Gruppen zusammen.256 Im Dezember nahm eine erste Arbeitsgruppe für Verkehrsfragen zwischen Oberfranken und dem Bezirk Karl - Marx - Stadt ihre Arbeit auf.257 Noch während Gauweilers Besuch entschied der Staatssekretärsausschuss, Kredite in Höhe von 50 Mio. DM für den Jugend - und Schüleraustausch, Straßen - , Brücken - und Wasserbau im grenznahen Bereich zur Verfügung stellen zu lassen.258 Der Landtag beschloss zwei Tage später einen Nachtragshaushalt und stellte

251 Bayerische Staatskanzlei, Arbeitsstab Deutschlandpolitik, Interministerielle AG Deutschlandpolitik : Gespräch Max Streibls mit der Bayerischen Landtagspresse am 9. 4. 1991, Materialien : Aufbau der neuen Länder mit Bayerischer Hand ( BayStK, Baer). Vgl. Rede von Wilhelm Vorndran bei der Strukturkonferenz am 24. 1. 1990 in Fürth (ebd.); Artikel von Wilhelm Vorndran für die Bayerische Staatszeitung : Informationsbüros des Freistaates Bayern in Dresden und Erfurt eröffnet. [ handschr., Stand 28. 8. 1990] ( ebd.). 252 Protokoll über die 1. Sitzung des Staatssekretärsausschusses für DDR - Angelegenheiten vom 17. 11. 1989 ( BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 259–262); Bericht von Wilhelm Vorndran über die bisherige Tätigkeit des Staatssekretärsausschusses im Ministerrat am 30. 1. 1990 ( BayStK, Baer ). 253 Bayerische Staatskanzlei, Arbeitsstab Deutschlandpolitik, Interministerielle AG Deutschlandpolitik : Gespräch Max Streibls mit der Bayerischen Landtagspresse am 9. 4. 1991, Materialien : Aufbau der neuen Länder mit Bayerischer Hand ( ebd.). 254 Lothar Fichtner an Peter Gauweiler vom 30. 11. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB, 126406). 255 Ergebnisse der Verwirklichung der am 12. 12. 1989 zwischen Delegationen des RdB Karl- Marx - Stadt und des Freistaates Bayern getroffenen Vereinbarung ( ebd.). 256 Vorsitzender des RdB Karl - Marx - Stadt : Protokoll für den Besuch einer Delegation des Freistaates Bayern unter Leitung von Peter Gauweiler am 12./13. 12. 1989 im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( ebd.). 257 Rede von Wilhelm Vorndran bei der Strukturkonferenz am 24. 1. 1990 in Fürth (BayStK, Baer ). 258 Protokoll der 3. Sitzung des Staatssekretärsausschusses für DDR - Fragen im Bayerischen Landtag vom 13. 12. 1989 ( BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 251–253).

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50 Mio. DM sowie Verpflichtungsermächtigungen von 100 Mio. DM zur Verbesserung der Beziehungen für die Zeit bis 1992 ein.259 In der Staatsregierung war man sich nach wie vor einig, dass „Kontakte und Verbindungen nicht nur zu den Amtsträgern aufgenommen werden, die durchweg alle noch SED - Mitglieder sind, sondern auch mit der Opposition“. Als Ansprechpartner sah man „vorrangig die neuen Oppositionsgruppen und die beiden Kirchen“ an.260 Zielte das bayerische Vorgehen auf die Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in der DDR, hatte Ratsvorsitzender Fichtner andere Intentionen. Er sprach sich für eine Erneuerung des sozialistischen Regimes sowie gegen die staatliche Einheit Deutschlands aus und bezeichnete die Kontakte am 20. Dezember vor dem Bezirkstag Karl - Marx - Stadt als Beitrag zur Politik einer „Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten“.261 Zwischen den politischen Erwartungen der kommunistischen Funktionäre und der bayerischen Politiker lagen Welten. Orientierten die SED - PDS - Funktionäre auf eine modifizierte Fortsetzung des sozialistischen Regimes, gab es in der CSU zum Jahreswechsel 1989/90 Überlegungen, durch eine Unterstützung christlich - sozialer Parteien in Sachsen und Thüringen zu einer späteren Ausdehnung über die gesamte DDR und nach der Vereinigung über ganz Deutschland zu kommen. 5.6

Öffentliche Proteste und Sicherheitspartnerschaft

Nach der Maueröffnung ging die Beteiligung an Demonstrationen und Kundgebungen überall merklich zurück.262 In Berlin fanden kaum noch Demonstrationen statt. Der Schwerpunkt des Geschehens lag im Süden. Am 10. November erklärte nun auch die katholische Berliner Bischofkonferenz etwas verspätet, man solidarisiere sich mit denen, die sich um demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse bemühten. Sie rief „alle katholischen Christen auf, sich am gesellschaftlichen Prozess der Veränderung aus christlicher Verantwortung zu beteiligen“. Der Führungsanspruch der SED wurde zurückgewiesen. Die Erklärung wurde am 12. November in allen Gottesdiensten verlesen.263 Unter den Angehörigen der Volkspolizei blieb die Stimmung nach dem Fall der Mauer gereizt. Berichte über Korruption und Machtmissbrauch führten auch hier zu Diskussionen über die Führungsrolle der SED.264 Zwar erklärten 259 Bayerische Staatskanzlei, Arbeitsstab Deutschlandpolitik, Interministerielle AG Deutschlandpolitik : Gespräch Max Streibls mit der Bayerischen Landtagspresse am 9. 4. 1991, Materialien : Aufbau der neuen Länder mit Bayerischer Hand ( BayStK, Baer ). 260 Protokoll der 3. Sitzung des Staatssekretärsausschusses für DDR - Fragen im Bayerischen Landtag vom 13. 12. 1989 ( BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 251–253). 261 Bericht des RdB Karl - Marx - Stadt an die 16. Tagung des BT für den Zeitraum vom 31.10.–20. 12. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB, 126369). 262 Vgl. MfS, ZOS vom 11.–12. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 2–10). 263 Erklärung der Berliner Bischofskonferenz vom 7. 11. 1989. In : St. Hedwigsblatt vom 19. 11. 1989. 264 VPKA Leipzig vom 13. 11. 1989 : Lage, Anlagen ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840 II ). 265 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 11./12. 11. 1989.

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immer noch SED - Grundorganisation von Volkspolizeikreisämtern, „konterrevolutionären Bestrebungen und Aktionen“ entgegentreten und den Sozialismus schützen zu wollen,265 aber die Anzahl derer, die nicht mehr bereit waren, politische Probleme mit polizeilichen Maßnahmen zu lösen, wuchs.266 Überall kam es nun zu Gesprächsrunden zwischen Vertretern der demonstrierenden Bevölkerung, darunter vielen Pfarrern, und Verantwortlichen der Räte, der Volkspolizei und auch des MfS.267 Etliche Vertreter der Demonstranten und neuen Gruppen waren skeptisch, gab es doch Befürchtungen, vor allem das MfS nutze die Sicherheitspartnerschaft, um weiter ungehindert Akten zu schreddern und seine Macht zu erhalten. Auch Aufforderungen an Vertreter des Neuen Forums, die Demonstrationen und die Meinung der Bevölkerung im Sinne der SED - Politik zu beeinflussen, stießen auf Ablehnung, „denn es waren nicht die Demonstrationen des Neuen Forum, sondern es waren die Demonstrationen des Volkes und warum hätten wir die beeinflussen sollen, wo doch das Volk in der DDR das erste Mal seit 1953 seine Stimme wiedergefunden hatte“.268 Vor allem, wenn sich wie in Leipzig MfS - Vertreter begeistert über die angeblich gerade erfolgende Erneuerung des Sozialismus aussprachen und meinten, die Sicherheitspartnerschaft diene dazu, diesen Prozess vor Entwicklungen zu schützen, „die wir und Sie nicht wollen“, wuchs Skepsis. So konzentrierte sich die Zusammenarbeit immer stärker auf die Volkspolizei als Partner, ging man doch davon aus, dass es die Polizei in irgendeiner Form weiter geben müsse, nicht aber das MfS.269 Bezirk Dresden : Aus dem Bezirk Dresden berichtete die SED - Bezirksleitung, unterschiedliche Kräfte, u. a. die evangelische Kirche, trügen „zunehmend offener“ Angriffe gegen die SED vor und gäben der Partei die alleinige Schuld an der Lage. Durch diese Kräfte werde inzwischen „grundsätzlich die Dialogpolitik abgelehnt und Dialogveranstaltungen als Geschwätzrunden bezeichnet“. Stattdessen würden weitere Demonstrationen als „vorrangige Maßnahme“ betrachtet, um Regierung und SED - Führung zu zwingen, auf den „Druck der Straße“ zu reagieren.270 Nach der 10. Tagung des ZK und der 11. Volkskammertagung war die Lage durch Enthüllungen über Machtmissbrauch und Fehlleistungen „äußerst gespannt“. Angriffe auf die SED nahmen an Schärfe weiter zu. Parteisekretäre seien „mit wachsender Härte Drohungen ausgesetzt“. Die 266 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 24). 267 Vgl. Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 ( SächsStAC, 115856); KDfS Marienberg vom 9. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 122); BVfS Leipzig : BVfS und BDVP Leipzig : Gemeinsamer Standpunkt – Gewaltlosigkeit, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 26, Bl. 1–3); BVfS Leipzig vom 16. 11. 1989 : Gespräch mit Gruppenvertretern ( ebd. 27, Bl. 1–3); VPKA Torgau : Komplexe Lageeinschätzung von 1989 ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 7329, Bl. 1– 11); SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Info laut Anforderung ( SächsHStA, SEDBL Dresden, 13551); Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 16. 11. 1989. 268 So Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue vom 18. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 269 Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. 270 SED - BL Dresden vom 13. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 25, 29). 271 SED - BL Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 15–24).

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Privilegien führender Funktionäre würden immer mehr ins Blickfeld der Kritik rücken.271 Bautzen: Nach der Öffnung der Mauer gingen die Bürgeraussprachen weiter und richteten sich deutlich gegen die SED.272 Am 13. November versammelten sich bei dichtem Nebel ca. 10 000 Bautzener auf dem Hauptmarkt.273 Sprecher des Neuen Forums forderten freie Wahlen, eine Sanierung der Altstadt, die Aufklärung der Ereignisse um den 7. Oktober und Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Lebenslage von Senioren. Die Redner von SED und Rat des Kreises wurden ausgepfiffen. Danach zog ein Demonstrationsmarsch durch die Innenstadt zur MfS - Kreisdienststelle. Es gab Sprechchöre und Losungen gegen SED und MfS. Vor der MfS - Kreisdienststelle wurden Kerzen und Plakate abgestellt. Zwei Tage später wurde die Gründung des Neuen Forums in Bautzen bekannt gegeben.274 Die SED - Kreisleitung konstatierte im inzwischen unpassenden Erfolgsjargon : „Es konnte festgestellt werden, dass es im Kreis eine komplizierte Lage gibt.“ Sehr massiv werde gegen die führende Rolle der SED aufgetreten.275 Bischofswerda: Auch im Kreis Bischofswerda gingen die Dialogforen mit Kreisfunktionären weiter.276 In Großröhrsdorf endete am 13. November eine Demonstration mit ca. 3 200 Teilnehmern im Sportstadion der Stadt. Hier wie inzwischen fast überall wurde der SED der Führungsanspruch abgesprochen.277 Am 14. November fand in Pulsnitz eine erste Demonstration mit ca. 3 000 Teilnehmern statt. Ein „Bürgerkomitee Pulsnitz“ stellte Ordner, die mit der Volkspolizei kooperierten. Die SED - Kreisleitung beriet im Vorfeld mit den Organisatoren und Blockparteien den Ablauf, um „auch Genossen die Möglichkeit einzuräumen, das Wort zu nehmen“. Außerdem wurden die SED - Mitglieder zur Teilnahme mobilisiert.278 Es gab viele Sprechchöre und Transparente mit Forderungen nach freien Wahlen. Hauptforderung bei einer Kundgebung war auch hier das Ende der SED - Alleinherrschaft und die Auflösung des MfS. CDU - Sprecher forderten ihre Führung auf, zurückzutreten und sich als neue selbstständige Partei zu formieren. SED - Redner wurden ausgepfiffen und der Rückritt des 272 Vgl. SED - KL Bautzen vom 11. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, A 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 11./12. 11. 1989. 273 Vgl. MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146– 160). 274 KDfS Bautzen : Demonstration in Bautzen am 13. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 212 f.); BVfS Dresden : Zeitraum vom 13.–14. 11. 1989 ( ebd., XX 9186, Bl. 54–60); Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 15. 11. 1989. 275 SED - KL Bautzen vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 276 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 8. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 170 f.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 11./12. 11. 1989. 277 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 13. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 223); BVfS Dresden vom 13.–14. 11. 1989 : Info ( ebd., XX 9186, Bl. 54–60); Stadt Großröhrsdorf an Sächsische Staatskanzlei vom 29. 3. 1999 ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 15. 11. 1989. 278 SED - KL Bischofswerda vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554).

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Bürgermeisters gefordert,279 der in der Tat am nächsten Tag sein Amt niederlegte.280 In Bretnig fand am 16. November in der ev. - luth. Kirche eine Einwohnerversammlung statt, bei der eine Änderung des Artikels 1 sowie eine Wirtschafts - und Verwaltungsreform gefordert wurde.281 Die SED - Kreisleitung konstatierte, die Lage im Kreis sei „durch Enthüllungen über Machtmissbrauch und Fehlleistungen in der Wirtschaft weiterhin sehr gespannt“. Der Vertrauensschwund gegenüber der SED halte an. Funktionäre würden als „Verräter an der Arbeiterklasse, am ganzen Volk und am Sozialismus“ angeprangert.282 Dippoldiswalde : Neben Einwohnerversammlungen u. a. in Lauenstein283 fand am 13. November in Glashütte ein Schweigemarsch mit ca. 600 überwiegend Jugendlichen statt. Mitgeführte Transparente richteten sich gegen die führende Rolle der SED. Demonstranten und Volkspolizei nahmen den friedlichen Marsch zum „Anlass, in Zukunft sich bei solchen Veranstaltungen zu unterstützen“.284 Stadt Dresden: Am 13. November demonstrierten in Dresden etwa 100 000 Menschen gegen die führende Rolle der SED. Bei einer Kundgebung forderte Arnold Vaatz vom Neuen Forum unter starkem Beifall einen unverzüglichen Volksentscheid zum Artikel 1 der Verfassung. Jürgen Bönninger vom DA verlangte die Bekanntgabe des SED - Vermögens und ein neues Parteiengesetz.285 Freital: In Freital dauerten die Forderungen an, führende Funktionäre für die Krise und die wirtschaftlichen Missstände zur Verantwortung zu ziehen. Im VEB Buntgarnwerke Coßmannsdorf wurde verlangt, dass ihnen ihr persönliches Eigentum entzogen wird und sie nur eine Mindestrente erhalten.286 Kreis und Stadt Görlitz: Neben Bürgergesprächen zu kommunalen Themen287 bestimmte eine Demonstration am 10. November in Görlitz die Lage. Nach Gottesdiensten in vier Kirchen zogen ca. 4 000 meist Jugendliche zur SED - Kreisleitung, wo Kerzen abgestellt wurden und Plakate gegen die SED und für freie Wahlen gezeigt wurden.288 Am nächsten Tag trafen sich in Sohland Bürger, die 279 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 14. 11. 1989 : Pulsnitz ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 188 f.); BVfS Dresden vom 9. 11. 1989 : Info ( ebd. 7002, 1, Bl. 121 f.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 17., 28.11. und 1. 12. 1989. 280 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 281 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 23. 11. 1989. 282 SED - KL Bischofswerda vom 15. 11. 1989 : Lageinformation ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 283 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 15. 11. 1989. 284 Ebd., vom 16. 11. 1989. Vgl. BVfS Dresden vom 13.–14. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 54–60). MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). 285 Vgl. MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 146–160); ebd., HA XXII 531, Bl. 223; Sächsisches Tageblatt vom 14. 11. 1989. 286 Vgl. SED-BL Dresden vom 13.11.1989: Lage (BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 25, 29). 287 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 10. und 11./12. 11. 1989. 288 Vgl. BVfS Dresden vom 9.–10. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 51, 52); Neues Forum, o. D. ( ebd. 7002, 1, Bl. 41); Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 14. 11. 1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 15. 11. 1989.

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an der Mitarbeit im Neuen Forum interessiert waren und bildeten Initiativgruppen für die Regionen des Kreises.289 Am 13. November demonstrierten in Ostritz ca. 600 Einwohner.290 Großenhain: Auch hier gingen die Bürgerforen in den Gemeinden des Kreises weiter.291 Am 16. November fand in Großenhain nach einer vom Neuen Forum organisierten Donnerstagsdemonstration eine Kundgebung mit 4 500 Bürgern vor dem Rathaus statt, die von Angriffen auf die SED geprägt war. Bei der Demonstration wurden brennende Kerzen mitgeführt und beim Rat des Kreises und der SED - Kreisleitung abgestellt. Die Demonstration wurde vom Neuen Forum geführt, deren Vertreter für „einen ordentlichen Ablauf“ sorgten.292 Kamenz: In Kamenz zogen am 13. November nach einem Friedensgebet in der ev. - luth. Hauptkirche ca. 450 Teilnehmer in einem Schweigemarsch mit brennenden Kerzen zum Volkspolizeikreisamt, zur SED - Kreisleitung und zur MfS - Kreisdienststelle.293 In Königsbrück zogen am nächsten Tag nach einer Veranstaltung des Neuen Forums in der ev. - luth. Kirche 300 Personen zum Markplatz, wo brennende Kerzen abgestellt wurden.294 Die SED - Kreisleitung meldete nach Dresden, die täglichen Foren zeigten, dass das Vertrauen zur Parteiführung verloren gegangen sei. Es gebe „offenes Entsetzen“ über die Wirtschaftslage.295 Löbau: In Niederoderwitz fand am 13. November die erste öffentliche Großveranstaltung des Neuen Forums mit ca. 800 Teilnehmern in der Kirche statt. Am 14. November folgte eine Einwohnerversammlung mit ca. 300 Teilnehmern im Kino.296 In Löbau demonstrierten am 16. November SED - Mitglieder für eine Erneuerung der Partei.297 Auch in der Kirche von Cunewalde gab es am 16. November eine vom Neuen Forum organisierte Veranstaltung.298 Für den nächsten Tag hatte das Neue Forum für Löbau eine Demonstration angemeldet.299 289 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 22. 11. 1989. 290 Vgl. SED - BL Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 19, 24). 291 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 14., 17. und 22. 11. 1989. 292 KDfS Großenhain vom 16. 11. 1989: Info (BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 140 f.). Vgl. SED - KL Großenhain vom 17. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Demonstration in Großenhain am 16. 11. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). Ilka Wilkening, Tagebuchnotizen aus dem Herbst 1989 ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 18./19. 11. 1989. 293 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 13.–14. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 54–60); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). 294 Vgl. BVfS Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9181, Bl. 1–2); MfS, ZOS vom 14.–15. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 137–145); ebd., HA XXII 531, Bl. 250. 295 SED - KL Kamenz vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 296 Vgl. Klaus Reichel an Gemeinde Oderwitz vom 9. 2. 1999, Anlage 1 ( HAIT, Löb - G3). 297 Vgl. KDfS Löbau vom 16. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 137); SED - KL Löbau vom 16. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 298 Vgl. Niederschrift des Anrufs der Stadtverwaltung Cunewalde vom 11. 3. 1999 ( HAIT, StKa). 299 Vgl. KDfS Löbau vom 10. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 54 f.).

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Meißen: In Meißen demonstrierten am 14. November ca. 4 000 Bürger gegen die SED. Durch IM war das MfS informiert, dass die „Regionalvereinigung Neues Forum Meißen“ eine Protestkundgebung vor der MfS - Kreisdienststelle plante, weil man befürchtete, „dass das MfS in der Lage sei, selbst die Macht zu übernehmen“. Das Gebäude wurde daraufhin gesichert.300 Es blieb aber schließlich bei friedlichen Protesten. Bei einer Kundgebung vor dem Rat des Kreises gab es Angriffe auf die führende Rolle der SED. Sprecher gingen hier in ihren Ausführungen bis zur „Schaffung des Freistaates Sachsen“.301 Neben dem Vorsitzenden des Rates des Kreises sprach Pfarrer Wöllner als Vertreter des Neuen Forums sowie weitere Personen. Wöllner teilte am Ende der Kundgebung mit, dass in Meißen keine weiteren Demonstrationen mehr organisiert würden, was auf Ablehnung stieß.302 Niesky : Nach einem Friedensgebet in der Stadtkirche Rothenburg zogen am 13. November 120 Demonstranten mit Kerzen durch die Stadt.303 An verschiedenen Orten gab es Einwohnerversammlungen.304 Pirna: Am 12. November beriet das Neue Forum in Hohnstein,305 am nächsten Tag traf sich die Initiativgruppe im Kulturraum des Bahnhofes Bad Schandau.306 Am 16. November folgte in Pirna das 3. Rathausgespräch,307 und in Heidenau sprachen der Bürgermeister und Vertreter des Neuen Forums über eine Mitarbeit in der Kommunalpolitik.308 Riesa : In Riesa fand am 13. November ein Montagsgespräch unter dem Motto „Worte, Dialog, Taten“ statt.309 Sebnitz : Nach einem Gottesdienst in der ev. - luth. Kirche Neustadt demonstrierten am 10. November ca. 250 meiste Jugendliche durch die Stadt vorbei an der MfS - Kreisdienststelle und stellten am Rathaus Kerzen auf.310 Am 12. November folgte im Kreiskulturhaus Neustadt ein Bürgerforum des Rates der Stadt zu kommunalen und betrieblichen Problemen mit 600 Teilnehmern.311 Am 13. November sprach in Sebnitz der 1. Sekretär der Kreisleitung, Helmut Geyer,

300 KDfS Meißen vom 9. 11. 1989 ( ebd. 7002, 2, Bl. 178). 301 SED - BL Dresden vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd. 7001, Bl. 7–14). 302 Vgl. KDfS Meißen vom 14. 11. 1989 : Info ( ebd. 7002, 2, Bl. 185–187); BVfS Dresden vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd, XX 9181, Bl. 1–3); SED - BL Dresden vom 15. 11. 1989 : Lage ( ebd., AKG 7001, Bl. 7, 14); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 182 und 250. 303 Vgl. KDfS Niesky vom 13. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 2, Bl. 222). 304 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 15. 11. 1989. 305 Vgl. BVfS Dresden vom 16. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 148). 306 Vgl. BVfS Dresden vom 13. 11. 1989 : Bad Schandau ( ebd., Bl. 224). 307 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 16. 11. 1989. 308 Vgl. ebd., vom 23. 11. 1989. 309 Vgl. Unterlagen Große Kreisstadt Riesa, Oberbürgermeister, o. D. ( HAIT, StKa ). 310 Vgl. BVfS Dresden : Demonstration in Neustadt am 10. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 51); BVfS Dresden, XX vom 7.–12. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 30–33). 311 Vgl. KDfS Sebnitz vom 12. 11. 1989 : Bürgerforum Neustadt ( ebd., Bl. 24); SED - KL Sebnitz vom 12. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554).

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zu ca. 1 000 Teilnehmern.312 Die SED - Kreisleitung schlug den Blockparteien „das Verlagern des Dialoges von der Straße in die Arbeitskollektive“ sowie in Volksvertretungen vor.313 Davon unbeeindruckt demonstrierten am 15. November rund 1 000 Menschen in Sebnitz. Das Neue Forum führte anschließend im Zentrum eine Kundgebung durch, die von Angriffen gegen die führende Rolle der SED geprägt war.314 Zittau: Nach Aufrufen des Neuen Forums fand am 13. November vor dem Rathaus von Zittau eine Protestkundgebung mit ca. 2 000 Teilnehmern statt. Auf Transparenten wurde gegen die SED protestiert und u. a. mehr Umweltschutz gefordert.315 „Ein Demonstrationszug formierte sich durch das kluge Reagieren des Bürgermeisters nicht.“316 Einen Tag später versammelten sich „alle Kommunisten der Kreisparteiorganisation“ zur Kundgebung auf dem Klienebergerplatz.317 Am 15. November folgte vor dem Ferrolegierungswerk Hirschfelde eine Kundgebung des Neuen Forums mit ca. 200 Teilnehmern zum Thema Umweltschutz.318 In Bertsdorf nahmen am nächsten Tag ca. 500 Personen an einer Bürgerversammlung in der Kirche teil. Neben kommunalen Themen ging es auch um freie Wahlen und um „den Betrug von Regierung und SED“.319 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : In Hoyerswerda demonstrierten am 13. November ca. 1 000 Personen und am folgenden Tag erneut ca. 200 Personen unter Mitführung von Transparenten mit Texten gegen die führende Rolle der SED und das MfS. Anschließend fand ein Dialoggespräch zum Thema Kommunalpolitik mit ca. 7 500 Teilnehmern vor dem Rat der Stadt statt.320 Weißwasser: Am 13. November fand in der ev. - luth. Kirche Weißwasser ein Gottesdienst mit ca. 800 Besuchern statt. Der Pfarrer forderte ein Ende des Führungsanspruchs der SED und freie Wahlen, danach stellten sich Demokratie Jetzt, SDP und Neues Forum vor.321 An einer Kundgebung vor dem Rathaus von Weißwasser beteiligten sich ca. 2 000 Menschen.322 Am 15. November stellten sich die Ortsgruppe Bad Muskau des Neuen Forums und die Blockparteien 312 Vgl. BVfS Dresden : Zeitraum vom 13.–14. 11. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 54–60); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). 313 SED - KL Sebnitz vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 314 KDfS Sebnitz vom 16. 11. 1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 143 f.); MfS, ZOS vom 17. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 261). 315 Vgl. KDfS Zittau vom 13. 11. 1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 214); Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 15. 11. 1989. 316 BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 223. 317 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 14. 11. 1989. 318 Vgl. BVfS Dresden, XX vom 16. 11. 1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 148). 319 Friedrich Ender, Über die „Wende“ in Bertsdorf ( HAIT, StKa ). 320 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, Nr. 52461, Bl. 282–287); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). 321 KDfS Weißwasser : Veranstaltung der evangelischen Kirche in Weißwasser am 13. 11. 1989 ( BStU, ASt. Frankfurt / Oder, BVfS Cottbus, AKG 1793, Bl. 551–555). 322 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, Nr. 52461, Bl. 282–287); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 148; Lausitzer Rundschau vom 11. und 15. 11. 1989.

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in der Jakobskirche vor. Für den 18. November lud die Initiativgruppe des Neuen Forums zur Kundgebung vor der evangelischen Kirche in Weißwasser ein.323 Bezirk Karl - Marx - Stadt: Die Situation im Bezirk Karl - Marx - Stadt war aus Sicht der SED - Bezirksleitung durch „außerordentliche Angespanntheit“ gekennzeichnet. Eine Mehrheit strebe danach, die „Entstellungen des Sozialismus zu überwinden“, es gebe aber „auch Stimmen, die den Sozialismus generell in Frage stellen und Veränderungen im Sinne einer Hinwendung zu kapitalistischen Strukturen anstreben“. Deutlich sei ein Vertrauensverlust in die SED - Führung erkennbar, viele meinten, die SED habe ihren Führungsanspruch verspielt. Bei Diskussionsrunden und Foren werde meist die führende Rolle der SED in Frage gestellt, dennoch sei das Interesse, mit Funktionären zu sprechen, hoch. Vertreter von Bürgerbewegungen erhielten lebhafte Zustimmung, wenn sie gegen die führende Rolle der SED polemisierten. Am sachlichsten würden Foren zu Sachthemen verlaufen. Als nützlich habe sich die Einbeziehung der Sprecher der Bürgerbewegungen in die Vorbereitung erwiesen. Die Demonstrationen seien hingegen „mit nicht zu unterschätzenden Sicherheitsrisiken verbunden“. Jede Demonstration enthalte „Züge des Unbeherrschbaren, der Provokation und der Eskalation“. Notwendig seien deshalb vorbeugende Sicherheitsabsprachen zwischen Volkspolizei und Veranstaltern. Generell bemühe man sich weiterhin um eine Verlagerung des Geschehens in Räume und Säle.324 Neu war, dass sich in der Woche nach der Maueröffnung Sprechchöre und Transparente mit Forderungen nach Wiedervereinigung häuften.325 Annaberg: Die Maueröffnung wurde überall, so auch in Schlettau, begrüßt. Einige hängten die schwarz - rot - goldene Fahne aus dem Fenster.326 Nach einer Veranstaltung in der St. Annenkirche mit ca. 1700 Teilnehmern demonstrierten am 11. November in Annaberg - Buchholz 6 000 Personen zum Marktplatz. Auf einer Kundgebung griffen Vertreter des Neuen Forums die führende Rolle der SED sowie das MfS an und riefen zu einer weiteren Demonstration am 18. November auf.327 Organisiert vom Neuen Forum und dem Pfarrer fand am 12. November in Oberwiesenthal eine Demonstration statt. Nach einem Friedensgebet in der Martin - Luther - Kirche zogen ca. 1 000 Demonstranten mit Transparenten, Rufen und Kerzen zum Markt, wo Reden gehalten und Kerzen abgestellt wurden.328 In Scheibenberg versammelten sich am 13. November Sympathisanten des Neuen Forums und kritische Bürger, um über die Lage in der Kommune 323 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 11. 11. 1989. 324 Bericht des Sekretariats der SED - BL Karl - Marx - Stadt an BL - Sitzung vom 11. 11. 1989 (SächsStAC, 115856). 325 Vgl. RdB Karl - Marx - Stadt vom 16. 11. 1989 ( ebd., 126409). 326 Vgl. Greifenhagen, Wende in Schlettau ( HAIT, StKa ). 327 Vgl. MfS, ZOS vom 11.–12. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 2–10); Swoboda, Die Revolution der Kerzen, S. 119 f.; Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 14. 11. 1989. 328 Vgl. Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 in unserem Kurort Oberwiesenthal (HAIT, StKa ); MfS, ZOS vom 12.–13. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 161–165).

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zu beraten und die Teilnahme an Demonstrationen zu organisieren.329 Auch in Schlettau trafen sich engagierte Bürger und organisierten Demonstrationen.330 Aue : In Schönheide nahmen am 11. November nach einer Demonstration ca. 800 Bürger an einem Dialog vor dem Rat der Gemeinde teil. Hier wurden freie Wahlen und ein Ende der SED - Alleinherrschaft gefordert.331 In Aue gingen am 13. November 5 000 Menschen auf die Straße.332 Auerbach: Am 10. November beteiligten sich in Auerbach etwa 5 000 meist jüngere Menschen an einer Demonstration gegen den SED - Führungsanspruch und das MfS sowie für freie Wahlen. Sie stellten am Wehrkreiskommando und der SED - Kreisleitung Hunderte Kerzen ab, die MfS - Kreisdienststelle wurde nicht tangiert. An der Spitze des Zuges wurde ein Plakat getragen, auf dem es hieß : „Vogtland unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft“. Auf einer Kundgebung wurden nach einer Aufforderung von Berthold Rink vom Neuen Forum die „Internationale“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ gesungen. Hier sprachen auch der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Hans - Joachim Döhn, und der Vorsitzende des Rates des Kreises, Herrmann Heinke. Es wurde vereinbart, am darauf folgenden Freitag eine genehmigte Demonstration unter Teilnahme der SED - Kreisleitung und des Neuen Forums zu veranstalten.333 Die SED - Kreisleitung hatte sich zuvor gegen das Machtmonopol der SED, für parlamentarische Demokratie und freie Wahlen ausgesprochen.334 Brand - Erbisdorf: Am 11. November versammelten sich auf einem Schulhof in Brand - Erbisdorf ca. 100 Personen. Der Organisator, ein DBD - Mitglied, rief zur Reduzierung des MfS und zur Bestrafung der Verantwortlichen auf.335 Die MfSKreisdienststelle brachte IM zum Einsatz und besetzte die Kreisdienststelle mit über 50 Prozent der männlichen Mitarbeiter.336 Durch den Kirchenvorstand organisiert, demonstrierten am 12. November in Frauenstein ca. 400 Personen mit Kerzen durch die Stadt. Im Anschluss erfolgte ein „Meeting“ auf dem Kirchenplatz.337 Weiterhin fanden im Kreis an verschiedenen Orten Bürgerforen statt.338 329 Vgl. Gabriele und Karlheinz Schlenz, Wende in Scheibenberg ( HAIT, StKa ). 330 Vgl. Greifenhagen, Wende in Schlettau ( ebd.). 331 Vgl. KDfS Aue vom 11. 11. 1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 54). 332 Vgl. MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146– 160). 333 Vgl. KDfS Auerbach vom 10. 11. 1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 73–75); KDfS Auerbach vom 10. 11. 1989 : Demonstration ( ebd., Bl. 113 f.); MfS, HA XXII, ZOV vom 10.–11. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 34– 45). 334 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 11. 11. 1989. 335 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 11. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 1, Bl. 6 f.). 336 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 10. 11. 1989 : Kundgebung ( ebd. 2147, 1, Bl. 120). 337 StV Frauenstein, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 173. 338 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 14. 11. 1989.

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Flöha: Die Grenzöffnung wurde auch im Kreis Flöha euphorisch begrüßt. Das MfS notierte als typische Äußerungen : „Das ist das, was wir schon über Jahre wollten“, „Endlich sind wir frei“. Die SED wurde als „einzig Schuldige an der Gesamtsituation“ bezeichnet und die Bestrafung führender Funktionäre gefordert. Es gab aber auch Ängste vor einem Ausverkauf der DDR und dem Verfall der Währung.339 So wurden verstärkt hochwertige Konsumgüter wie Tiefkühlschränke und Staubsauger als „bleibende Werte“ gekauft.340 An einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration in Flöha beteiligten sich am 10. November ca. 2 000 Personen, darunter wie überall viele Kinder und Jugendliche. Das Neue Forum setzte Ordner mit einer gelben Armbinde ein und traf Absprachen mit der Volkspolizei. Rufe richteten sich hier wie bei einer anschließenden Kundgebung gegen die SED und das MfS. Vor dem Rat des Kreises und der SED - Kreisleitung wurden Kerzen abgestellt und Losungen gerufen.341 Zwar organisierte das Neue Forum Demonstrationen, zeigte sich aber nach Meinung der SED programmatisch eher konzeptionslos. Bei einem Forum am 13. November in Oederan hätten Vertreter des Staates dadurch eine „Festigung staatlicher Positionen“ erreichen können. Nach der Volkskammertagung am 13./14. November sank die Stimmung aber weiter. Die Rede war von „Verrat am Volk“, es gab Forderungen, die Verantwortlichen müssten „schonungslos zur Verantwortung gezogen“ werden. Nach dem Auftritt Mielkes meinten „progressive Personen“, das ohnehin stark deformierte Ansehen des MfS sei nun endgültig hinüber.342 Freiberg : In Freiberg forderten einige Hundert Teilnehmer einer SED - Kundgebung am 16. November die „Wiederherstellung der Sauberkeit und Reinheit der SED“.343 Glauchau : Nach einem Friedensgebet in der St. Georgen - Kirche Glauchau demonstrierten am 13. November ca. 1 500 Menschen gegen die SED. In Meerane gingen am selben Tag bei dichtem Nebel 1 000 Menschen auf die Straße.344 Hainichen : Auf mehreren Foren wurde im Kreis Hainichen die führende Rolle der SED kritisiert und wurden Rücktritte von Funktionären in den Betrieben gefordert. Überall begrüßten die Menschen die Öffnung der Grenzen, so auch bei einer Veranstaltung am 15. November in der ev. - luth. Kirche in Frankenberg.345 339 KDfS Flöha vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 49–51). 340 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 45–48). 341 Vgl. KDfS Flöha vom 10. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 49–51); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( ebd., Bl. 45–48); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 186–187; Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 14. 11. 1989. 342 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 45–48). 343 Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 18. 11. 1989. 344 Vgl. Stadtverwaltung Glauchau : Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146– 160). 345 Vgl. KDfS Hainichen vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 98–103); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 15. 11. 1989.

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Hohenstein - Ernstthal: Nach der Grenzöffnung meinte die MfS - Kreisdienststelle, gängige Meinung sei, das Vertrauen der Menschen zum Sozialismus und zur SED sei weg : „Jeder hat nur ein Leben und will das Beste daraus machen.“346 In Hohenstein - Ernstthal demonstrierten am 12. November im Anschluss an einen Fürbittgottesdienst 800 Personen in der St. Christopheri Kirche und stellten vor dem Rathaus Kerzen ab.347 Am nächsten Tag demonstrierten hier nach einem Aufruf der Bürgerinitiative „Fürbittandacht für unser Land“ noch einmal 3 000 bis 4 500 Menschen gegen den Führungsanspruch der SED. Das Neue Forum stellte eine Ordnungsgruppe.348 Im Anschluss sprachen bei einem Forum auch Teilnehmer des Neuen Forums. Der Bürgermeister lud zur Mitarbeit in Kommissionen und Arbeitsgruppen der Stadtverordnetenversammlung ein, Pfarrer Johannes Zimmermann forderte baldige freie Wahlen.349 Karl - Marx - Stadt: In Karl -Marx -Stadt demonstrierten am 10. November bis zu 60 000 Personen durch das Zentrum zum Rathaus. Sie forderten einen Volksentscheid über den Artikel 1 der Verfassung sowie die Bestrafung von Funktionären.350 Während einer abschließenden Kundgebung wurde „mit zunehmender Aggressivität“ die Ablösung von Krenz und Lorenz gefordert. Ein Plakat trug die Aufschrift „Weg mit dem roten Scharlatan“.351 Parallel dazu demonstrierten ca. 800 Angehörige der SDAG Wismut im Stadteil Siegmar.352 Karl - Marx - Stadt-Land : In Limbach - Oberfrohna demonstrierten am 15. November nach einem Friedensgottesdienst in der Lutherkirche bis zu 15 000 Menschen für Demokratie, freie Wahlen und Wiedervereinigung. Einige Demonstrationsteilnehmer riefen „Deutsche Einheit – 40 Jahre sind genug“. Bei einer Kundgebung sprachen u. a. Redner des Neuen Forums, des DA und der SED.353 Klingenthal : In Klingenthal versammelten sich am 10. November ca. 2 000 Personen zur Demonstration gegen den Führungsanspruch der SED und für mehr Demokratie. Sie forderten den Rücktritt des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Heinz Gabler, und des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Günther Straube. Bei einer Kundgebung auf dem Markt verlangte der Bürgermeister, die Führungsrolle der SED zu überdenken und erklärte sich bereit, mit Bürgerinitiativen zusammenzuarbeiten. Andere Redner forderten das Ende der SED -

346 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 12. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 2 f.). 347 MfS, ZOS vom 12.–13. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 161–165). 348 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 15. 11. 1989. 349 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 13. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2); Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 16. 11. 1989. 350 Vgl. MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146– 160); Reum / Geißler, Auferstanden, S. 97. 351 BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 227. 352 Vgl. ebd., Bl. 186–187. 353 Vgl. MfS, ZOS vom 15.–16. 11. 1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 124–134); SächsStAC, Chef BDVP Karl - Marx - Stadt I /351, Bl. 3; Freie Presse, Ausgabe Karl - MarxStadt - Land, vom 17. 11. 1989; Schnurrbusch, Herbst 1989, S. 46.

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Alleinherrschaft und freie Wahlen.354 Am 13. November gab es in Erlbach eine Demonstration von 300 Personen mit einer anschließenden Gesprächsrunde in der Kirche.355 Zwei Tage darauf gingen in Markneukirchen 4 500 Menschen auf die Straße, weniger als in der Woche zuvor. Wieder gab es Sprechchöre gegen SED und MfS. In der Kirche wurde die Nationalhymne der DDR mit dem Text „Deutschland einig Vaterland“ gesungen. Auf der anschließenden Kundgebung vor der Kirche forderten Sprecher die Trennung von Partei und Regierung,356 wobei Meinungsverschiedenheiten unter den Vertretern der Bürgerinitiative deutlich wurden. Ebenfalls am 15. November demonstrierten in Schöneck etwa 600 Einwohner zum Rathaus und forderten freie Wahlen. In der Kirche wurde der DA vorgestellt.357 Marienberg : Am 10. November gingen in Olbernhau 10 000 meist jüngere Menschen auf die Straße. Es wurden Transparente und Kerzen mitgeführt und Losungen gerufen.358 In Marienberg waren es am nächsten Tag 2 000 Personen. An der Spitze des Zuges hieß es auf einem Plakat : „Keine Gewalt, keine Diktatur, Neues Forum, Demokratie“. Das Neue Forum forderte hier, die Infiltration der Bevölkerung durch das MfS rückgängig zu machen. Es gab Forderungen, „zur Stasi zu ziehen“. Dem wurde nicht gefolgt. Vor der SED - Kreisleitung wurden brennende Kerzen abgestellt.359 An Demonstrationen in Lengefeld beteiligten sich am 16. November 500 und am nächsten Tag in Olbernhau 2 000 Teilnehmer. Sie forderten eine Demokratisierung und freie Wahlen. Reisefreiheit allein reiche nicht.360 Oelsnitz: Beim öffentlichen Forum am 12. November im Filmtheater Oelsnitz war das Interesse begrenzt. Der 1. SED - Kreissekretär, Alfred Hoffmann, kündigte den Verzicht der SED auf den Führungsanspruch an.361 Am nächsten Tag gingen hier 2 500 Menschen auf die Straße. Statt der beantragten Strecke führte der Demonstrationszug an der MfS - Kreisdienststelle vorbei. Hier kam es zu Pfeifkonzerten, Buhrufen und Sprechchören.362 In Adorf demonstrierten am 16. November 300 Personen, in Bad Elster 200.363 354 Vgl. Günter Kunzmann, Die friedliche Revolution, Erinnerungen eines Klingenthalers (Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); KDfS Klingenthal vom 10. 11. 1989 : Demonstration in Klingenthal ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 77–79). 355 Vgl. KDfS Klingenthal vom 13. 11. 1989 : Info ( ebd. 2148, 2, Bl. 147). 356 Vgl. BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 129. 357 Vgl. Stadt Markneukirchen : 1989 – ein historisches Jahr ( PB Johannes Sembdner ); MfS, ZOS vom 15.–16. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 124–134). 358 Vgl. KDfS Marienberg vom 10. 11. 1989 : Demonstration in Olbernhau ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 67). 359 StA Marienberg, PB Köhler; KDfS Marienberg vom 11. 11. 1989 : Demonstration in Marienberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 59). 360 Vgl. MfS, ZOV vom 16.–17. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 117– 122); Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 21. 11. 1989. 361 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 14. 11. 1989. 362 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 11. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 65 f.); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 15. 11. 1989. 363 Vgl. BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 264; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 18. 11. 1989.

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Aufstand gegen die Diktatur

Stadt Plauen: In Plauen zogen am 11. November 10 000 bis 15 000 Personen an der MfS - Kreisdienststelle, dem Wehrkreiskommando und der SED - Kreisleitung vorbei zum Rathaus. Es gab Sprechchöre und Plakate gegen SED und MfS und für freie Wahlen. Im Demonstrationszug wurde auf Transparenten die deutsche Einheit gefordert.364 Reichenbach : Nach einem Friedensgebet in der Peter - Paul - Kirche in Reichenbach zogen bis zu 25 000 Menschen in drei Demonstrationszügen zum Volkspolizeikreisamt, zur SED - Kreisleitung und zur MfS - Kreisdienststelle. Es gab Sprechchöre gegen die SED, die Volkspolizei und das MfS.365 In Lengenfeld formierte sich am 15. November nach einer Friedensandacht in der ev. - luth. Kirche ein Demonstrationszug von 1.100 Personen zum Marktplatz. Am nächsten Tag gingen erneut einige Hundert Menschen auf die Straße.366 Rochlitz: Am 14. November forderten ca. 250 Demonstranten in Penig demokratische Wahlen, aktive Gewerkschaften und ein Ende des SED - Führungsanspruchs. In Lunzenau demonstrierten am nächsten Tag ca. 250 Personen und riefen „aggressive Losungen“. In Geringswalde führte ein Demonstrationszug von der Kirche durch den Ort.367 Schwarzenberg: In Johanngeorgenstadt demonstrierten am 10. November 300 meist Jugendliche. Vor einem MfS - Erholungsheim gab es Rufe gegen das MfS, und es wurden Kerzen abgestellt.368 In Schwarzenberg fand am 13. November eine vom Neuen Forum organisierte Demonstration von ca. 3 000 Personen statt. Vor der MfS - Kreisdienststelle wurden Losungen gegen das MfS gerufen. Auf einer Kundgebung sprachen Redner verschiedener Parteien und Gruppen.369 Im Genesungsheim Johanngeorgenstadt folgte am nächsten Tag ein Gespräch zwischen Bürgermeister, Pfarrer, Kirchenvorstand, Lehrern und Vertretern des Forums u. a. über ein Heim des MfS im Ort.370 Stollberg: Bei einer Veranstaltung am 13. November vor dem Rathaus in Stollberg mit 350 Teilnehmern gab es Angriffe gegen die führende Rolle der SED.371 364 Vgl. MfS, ZOS vom 11.–12. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 2–10); Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk, S. 53 f. 365 Vgl. KDfS Reichenbach : Vom Neuen Forum Reichenbach beantragte Demonstration am 15. 11. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 85–87); SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 3. 366 Vgl. KDfS Reichenbach vom 11. 11. 1989 : Friedensandacht der ev. - luth. Kirche in Lengenfeld ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 49); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 207. 367 MfS, ZOS vom 15.–16. 11. 1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 124–134). Vgl. ebd., Bl. 129; Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in der Stadt Lunzenau ( Archiv der Ortschronik Lunzenau ); Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 16. 11. 1989. 368 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 10. 11. 1989 : Demonstration in Johanngeorgenstadt (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 76). 369 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 13. 11. 1989 : Demonstration ( ebd. 2148, Bl. 139 f.); KDfS Schwarzenberg vom 13. 11. 1989 : Lage ( ebd. 678, Bl. 3 f.); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 14. und 15. 11. 1989. 370 Vgl. KDfS Schwarzenberg vom 15. 11. 1989 : Gespräch ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 92 f.). 371 Vgl. KDfS Stollberg vom 10. 11. 1989 : Info ( ebd., St. 45, Bl. 10).

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Werdau : Am 13. November demonstrierten in Werdau nach einem Friedensgebet in der Marienkirche ca. 2 500 Personen durch das Stadtgebiet und riefen Losungen.372 Zschopau: Am 11. November forderte die Bürgerversammlung Thum in einem Schreiben an die Volkskammer, keine Partei dürfe wie bisher einen Führungsanspruch erheben. Zur Demokratie gehörten eigenständige Parteien, denen die Bürger in freier Wahl ihre Zustimmung geben können.373 Am 13. November demonstrierten in Ehrenfriedersdorf nach einem Aufruf des Neuen Forums ca. 2 000 Personen gegen die SED.374 Zwickau : In Zwickau demonstrierten am 13. November nach Friedensgebeten in der Moritz - und der Friedenskirche 10 000 Menschen zum Rathaus, wo eine Kundgebung stattfand. In Sprechchören wurden freie Wahlen und die (bereits erfolgte ) Zulassung des Neuen Forums gefordert. Sprecher des Neuen Forums forderten die Selbstauflösung der Stadtverordnetenversammlung und ihre Neuwahl.375 Zwickau - Land: Beim Kirchberger Bürgerforum am 11. November informierte das Neue Forum über Fachgruppen zur Aufklärung von Bürgeranliegen. Der NDPD - Kreissekretär forderte freie Wahlen und die Streichung des Artikels 1 der Verfassung. Ein CDU - Vertreter plädierte für den Austritt aus der Nationalen Front. Ein Specher von DJ verlas einen Aufruf gegen den Führungsanspruch der SED.376 Am 12. November gingen bei einer Demonstration des Neuen Forums in Kirchberg ca. 200 Personen auf die Straße. Vor dem Rathaus fand eine Kundgebung statt.377 Bei einer Einwohnerversammlung in der Kirche von Friedrichsgrün ging es am nächsten Tag um ökologische Probleme.378 Bezirk Leipzig / Altenburg: In Altenburg schätzte die SED - Kreisleitung die Lage als „äußerst gespannt, gekennzeichnet von Unsicherheit, Nervosität“ ein. Hier führte am 10. November nach Fürbittgottesdiensten in zwei Kirchen eine Demonstration von ca. 2 000 Personen durch die Innenstadt. Es gab Transparente gegen das MfS und für freie Wahlen. An der MfS - Kreisdienststelle gab es Rufe gegen das MfS und es wurden Kerzen abgestellt, ebenso vor der SED Kreisleitung.379 Am 14. November demonstrierten in Meuselwitz auf Einladung des Neuen Forums, der CDU - Ortsgruppe und anderer Gruppierungen ca. 120 372 Vgl. KDfS Werdau, o. D. ( ebd., AKG 2148, 2); Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 15. 11. 1989. 373 Vgl. Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1. 11. 1989–30. 3. 1990 ( StA Zschopau ). 374 Vgl. KDfS Zschopau vom 14. 11. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 679, 2, Bl. 196 f.). 375 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 14. 11. 1989. 376 Vgl. ebd., vom 14. 11. 1989. 377 Vgl. KDfS Zwickau : Info, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 14. 11. 1989. 378 Vgl. ebd., vom 15. 11. 1989. 379 SED - KL Altenburg vom 10. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 41–44). Vgl. BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 187.

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meist jugendliche Personen gegen die SED und für freie Wahlen. Die Stimmung war „gespannt bis aggressiv“.380 Borna: In Borna demonstrierten am 12. November am Tag und noch einmal am Abend, nach einem Friedensgottesdienst in der Stadtkirche, insgesamt ca. 400 Personen, viel weniger als von den Organisatoren erwartet. Diskussion gab es, als der Zug an den langen Schlangen vor dem Visa - Amt und der Staatsbank vorbeizog. Es gab Äußerungen wie: „Wegen 15,– DM stellen die sich stundenlang an, mitdemonstrieren tun sie nicht.“ Vor der SED - Kreisleitung wurden Transparente aufgehängt und der Rücktritt des 1. Sekretärs, Saarfried Thiele, gefordert.381 In Kitzscher nahmen an einer vom Neuen Forum und der LDPD organisierten Demonstration am 14. November bis zu 1 000 Personen teil. Es gab Sprechchöre gegen die SED. Bei einem anschließenden Dialoggespräch im Rat der Stadt ging es um die Versorgung und kommunale Probleme, aber auch um ein Ende der SED - Herrschaft und freie Wahlen.382 Delitzsch : Nach einer Andacht in der Stadtkirche zum Thema „Wahrheit und Lüge“383 gab es am 13. November in Delitzsch die erste, vom Neuen Forum organisierte Demonstration mit ca. 1 500 Teilnehmern. Die Hauptforderung war die nach freien Wahlen. Unterwegs versuchte eine Abordnung der SED Kreisleitung, sich an die Spitze des Demonstrationszuges zu setzen, was zu heftigen Protesten führte. Der gesamte Zug blieb stehen, und es erklangen Sprechchöre „SED hintendran“. Erst als die Genossen ihre Plakate einrollten und von der Spitze verschwanden, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Bei der Demonstration erhielt der Vorschlag viel Beifall, das Herrmann - Schulze - Denkmal wieder an seinen alten Platz zu versetzen, an dem nun ein Denkmal des Kommunisten Wilhelm Pieck stand.384 Am 15. November fand in der Kirche von Krostitz ein Dialogforum zum Neuen Forum statt, an dem auch Vertreter des Rates des Kreises teilnahmen. Man einigte sich, keine Demonstration zu organisieren.385 Döbeln : In Döbeln demonstrierten am 13. November nach einem Fürbittgottesdienst in der Nikolaikirche 2 000 Personen. Vor dem Rathaus diskutierten der Bürgermeister und Mitglieder der SED - Kreisleitung mit den Bürgern. Während der Demonstration kam es zur Gründung eines Komitees zur Organisa380 SED - KL Altenburg vom 15. 11. 1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 60 f.). Vgl. VPKA Altenburg vom 14.–15. 11. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Altenburg ). 381 BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 163. Vgl. taz vom 16. 11. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 15. 11. 1989. 382 Vgl. SED - KL Borna vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 128). MfS, ZOS vom 14.–15. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 137–145); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 16. 11. 1989. 383 Montagsandachten ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). 384 Zusammenstellung wichtiger Ereignisse im Zeitraum 1989/90 ( ebd. ); SED - KL Delitzsch vom 13. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 189). Vgl. MdI: Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, Nr. 52461, Bl. 284); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 15. 11. 1989. 385 Vgl. VPKA Delitzsch vom 15.–16. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Delitzsch, 3487).

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tion weiterer Demonstrationen. Auch hier war die Zahl der Teilnehmer rückläufig. In Leisnig gingen 60 Personen auf die Straße. Sie trugen Plakate und riefen Sprechchöre gegen SED und MfS sowie für freie Wahlen und forderten den Rücktritt örtlicher Funktionäre.386 In einem offenen Brief kritisierten Teilnehmer eines Friedensgebetes am 14. November gegenüber dem Rat der Stadt Roßwein gravierende Mängel in der Kommunalpolitik.387 Zu einem Dialogforum kamen am 15. November etwa 1 000 Besucher in die Waldheimer Kirche St. Nikolai, um über politische Änderungen zu diskutieren.388 Eilenburg: In Bad Düben demonstrierten am 14. November nach einem Gebet in der ev. - luth. Kirche ca. 2 500 Personen. Bei einer Kundgebung auf dem Markt griffen Redner des Neuen Forums die SED und das MfS an.389 Geithain: Bei einer Kundgebung in Frohburg stellte sich am 12. November das Neue Forum vor. Vorübergehend nahm die Veranstaltung „tumultähnliche Züge“ an.390 In Geithain protestierten am 14. November nach einem Friedensgebet 300 Personen gegen die SED - Führungsrolle. Vor der MfS - Kreisdienststelle wurden Kerzen abgestellt und Sprechchöre gegen das MfS gerufen. Bei einer Kundgebung auf dem Markt forderten 500 Personen die Aufgabe der Führungsrolle der SED und die deutsche Einheit. Hier hatte es vorab eine Besprechung des Leiters der MfS - Kreisdienststelle mit Vertretern von LDPD, CDU und SDP sowie mit dem Pfarrer und Vertretern der Stadt gegeben.391 An einer Kundgebung in Kohren - Salis nahmen 200 Personen teil.392 Einen Tag später formierte sich in Bad Lausick nach einem Gottesdienst ein Demonstrationszug von ca. 400 Personen. Auf Transparenten wurden freie Wahlen gefordert. Es gab Sprechchöre gegen SED und MfS.393 In Frohburg demonstrierten ca. 500 Personen von der Kirche zum Marktplatz, wo eine Dialogveranstaltung mit Vertretern des Rates der Stadt und des Kreises stattfand.394 In Geithain marschierten erneut 150 Personen durch die Stadt.395

386 Vgl. VPKA Döbeln vom 13.–14. 11. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Döbeln, 3722); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 15. 11. 1989. 387 Offener Brief des Friedensgebetes an die Stadt Roßwein vom 14. 11. 1989 ( HAIT, StKa). 388 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 22. 11. 1989. 389 Vgl. MfS, ZOS vom 14.–15. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 137– 145). 390 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 14. 11. 1989. 391 Vgl. KDfS Geithain vom 15. 11. 1989 : Bericht ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 82/1, Bl. 43–48); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 16. 11. 1989. 392 Vgl. VPKA Geithain vom 14.–15. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 582). 393 Vgl. MfS, ZOS vom 15.–16. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 124– 134). 394 Vgl. ebd., Bl. 130. 395 Vgl. VPKA Geithain vom 15.–16. 11. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 582).

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Grimma : Am 13. November demonstrierten in Grimma ca. 500 Menschen gegen SED und MfS sowie für freie Wahlen und forderten den Rücktritt örtlicher Partei - und Staatsfunktionäre.396 In Mutzschen zogen am 16. November nach einem Friedensgebet etwa 120 Personen mit Kerzen durch die Stadt. Der Pfarrer hatte die Aktion angemeldet. Auf Transparenten und in Sprechchören protestierten sie gegen die SED und forderten freie Wahlen. Die Demonstration wurde durch die Volkspolizei gesichert.397 Stadt Leipzig: Am 11. November fand vor dem Dimitroff - Museum eine Demonstration der SED - Kreisleitung statt, bei der dazu aufgerufen wurde, sich künftig an den Montagsdemonstrationen zu beteiligen.398 Am 13. November gingen in Leipzig wieder Hunderttausende auf die Straße und forderten ein Ende der SED - Herrschaft und freie Wahlen.399 Während des gesamten November blieben die Leipziger Montagsdemonstrationen die zentralen Ereignisse der friedlichen Revolution. Ihre Wirkung ging auch dank internationaler Medienpräsenz weit über die Grenzen des Bezirkes und der DDR hinaus. Aus allen Teilen der DDR fuhren Menschen nach Leipzig, um sich an den Massenaufmärschen zu beteiligen. Allgemein war die besondere Rolle Leipzigs im Umbruchprozess klar. Erstmals riefen Demonstranten „Wir sind ein Volk“ anstatt wie bisher „Wir sind das Volk“. Vereinzelt erklang auch „Deutschland einig Vaterland“ und „Wiedervereinigung“.400 Die neue Parole bündelte, was die Menschen ausdrücken wollten, nämlich ihre Absage sowohl an das System des real existierenden Sozialismus als auch an Versuche, dieses System zu reformieren oder dritte Wege einzuschlagen.401 Ebenso dominierte jedoch auch weiterhin die Forderung nach Abschaffung der führenden Rolle der SED. Im Demonstrationszug wurden kleine Zettelchen verteilt, auf denen „Achtet auf Provokateure und Betrunkene“ stand.402 Das Neue Forum rief wiederholt zu Gewaltlosigkeit auf. Ordner, die nach Berliner Beispiel gelbe Schärpen trugen, sicherten nach Absprache mit den Leitern der „Runden Ecke“, der Bezirksverwaltung des MfS.403 Am 14. November rief auch Manfred Hummitzsch im Sender Leipzig zur Friedlichkeit auf,404 einen Tag später war auf einem Transparent in Leipzig zu lesen : „Es lebe die sächsische Revolution !“405 396 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, Nr. 52461, Bl. 284); MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). 397 Vgl. Schmidt, 5 Jahre einer 450–jährigen Stadt, S. 4. 398 Vgl. Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. 399 Vgl. MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146– 160); Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 14. 11. 1989; Tetzner, Leipziger Ring, S. 49– 52. 400 Vgl. Das deutsche Jahr, S. 10; Leipziger Volkszeitung vom 14. 11. 1989; Leipziger Demontagebuch, S. 103–116. 401 Vgl. Winkler, Nationalismus, S. 22. 402 Neues Forum Leipzig, S. 239. 403 Vgl. Mitteldeutsche Neueste Nachrichten vom 14. 11. 1989. 404 Mitschnitt des Senders Leipzig vom 14. 11. 1989 um 16.00 Uhr ( BStU, ASt. Leipzig, XX 01042, Bl. 1–7). 405 Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 206.

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Oschatz : Zum Friedensgebet am 13. November war die St. Aegidienkirche in Oschatz wieder überfüllt.406 Zirka 500 Interessierte verfolgten die Debatten vor der Kirche. Dass vom Rat des Kreises trotz Einladung niemand zur Diskussionsrunde erschienen war, wurde von den Anwesenden mit Buhrufen quittiert. Ursache dafür war ein Beschluss der SED - Kreisleitung, sich künftig von Bürgerforen fernzuhalten, das diese doch nur als Tribunale der Anklage gegen die SED dienten.407 Nach dem Friedensgebet demonstrierten ca. 3 500 durch die Innenstadt. Neben den bisherigen Transparenten hieß es diesmal auch „Sachsen bleibt wachsam“ und „Keinen Ego( n )ismus“.408 In Wermsdorf wurde am 16. November auf einem Bürgerforum der Rücktritt des gesamten Rates der Gemeinde gefordert, der daraufhin am 22. November geschlossen zurücktrat. Bereits am 13. November hatte die SED - Bürgermeisterin aufgegeben.409

Bild 42: Demonstration am 13.11.1989 in Oschatz. 406 Protokoll des Friedensgebets vom 13. 11. 1989 in der Oschatzer St. Aegidienkirche ( PB Martin Kupke ). Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 83 f. 407 Vgl. Sitzung der SED - KL Oschatz am 9. und 10. 11. 1989 ( SächsStAL, SED IV F 4/10/007). 408 MfS, ZOS vom 13.–14. 11. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 146–160). Vgl. SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 153. 409 Vgl. Einladung des RdG Wermsdorf vom 23. 11. 1989 ( HAIT, StKa ).

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Schmölln: Nach einem Friedensgottesdienst in der Stadtkirche formierte sich am 10. November in Schmölln ein Demonstrationszug mit ca. 600 Teilnehmern. Es gab Sprechchöre wie „SED – das tut weh“, „Stasi in die Volkswirtschaft“ und „freie Wahlen“. Vor der MfS - Kreisdienststelle gab es Rufe gegen das MfS, und es wurden Kerzen abgestellt.410 Am 12. November protestierten in Gößnitz ca. 1 000 Demonstranten mit Fackeln und Kerzen u. a. vor dem Wohnhaus des Ortsparteisekretärs und forderten dessen Rücktritt. Am 14. November fand in Schmölln eine Veranstaltung des Neuen Forums mit 250 Teilnehmern statt.411 Torgau: Am 12. November fand in der Stadtkirche Torgau ein weiteres „Gebet zur Erneuerung“ statt, an dem ca. 1 500 Menschen teilnahmen. Anschließend zogen ca. 800 Personen zum Markt und stellten vor dem Rathaus Kerzen ab.412 Wurzen: Im Anschluss an Friedensgebete in den Kirchen von Wurzen demonstrierten hier am 13. November ca. 2 000 Menschen, die vor der SED - Kreisleitung mit „gegen die Partei und Sicherheitsorgane gerichteten Losungen provozierten“.413 Neben Plakaten gab es Sprechchöre für freie Wahlen und Forderungen nach dem Rücktritt örtlicher Partei - und Staatsfunktionäre.414 5.7

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Unter dem Druck der Massenausreise über die ČSSR nach Bayern behandelte das ZK der SED die neue Reiseverordnung im Eilverfahren. Am Abend informierte Politbüromitglied Schabowski darüber und löste durch missverständliche Formulierungen in der Nacht zum 10. November einen Massenansturm auf die Berliner Mauer und innerdeutsche Grenzübergänge aus. Noch einmal kam es zu einer äußert kritischen Lage, weil NVA und MfS keine klaren Handlungsanweisungen erhielten. Die Krenz - Führung erwies sich als wenig handlungsfähig. Auch im Ausland gab es Kritiken an der Art der Grenzöffnung, die zugleich als wichtiger Schritt zur hier mehrheitlich unerwünschten staatlichen Einheit Deutschlands angesehen wurde. Tatsächlich war der Fall der Mauer „ein beispielloser, nicht mehr rückgängig zu machender Durchbruch zur Freiheit“.415 Während die Bevölkerung diese neue Freiheit begrüßte, formulierten DDR Intellektuelle und die Berliner Initiativgruppe des Neuen Forums Bedenken. Sie vergrößerten so die Kluft zwischen sich und der Bevölkerungsmehrheit. Am 10. November setzte eine Reisewelle über die seit Jahrzehnten geschlossene innerdeutsche Grenze ein. In grenznahen bundesdeutschen Orten und im West410 Vgl. SED - KL Schmölln vom 10. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 113– 115); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 187. 411 Vgl. SED - KL Schmölln vom 15. 11. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 126 f.); VPKA Schmölln vom 14.–15. 11. 1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Schmölln, 7149). 412 Vgl. VPKA Torgau vom 8.–13. 11. 1989 : Rapport ( ebd., VPKA Torgau, 7339). 413 SED - BL Leipzig vom 13. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED - BL Leipzig, 823, Bl. 153). 414 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, Nr. 52461, Bl. 284). 415 Stern, Fünf Deutschland, S. 582.

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teil Berlins gab es Freudenfeste, während einige SPD - Politiker wie Lafontaine und Schmalstieg wegen der Massenübersiedlung verstärkt eine Abkehr von der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft forderten. Während die SED - Spitze nach dem Fall der innerdeutschen Grenze ihr Festhalten am Sozialismus unter ihrer Führung bekräftigte, allerdings Reformen ankündigte, setzte sich die Ausdifferenzierung an der Parteibasis fort. Überall traten regionale Funktionäre des Partei - und Staatsapparates zurück und verließen Mitglieder die SED in Scharen. Es gab unterschiedliche Bemühungen, die Partei zu reformieren oder auf altem Kurs zu halten. Unter dem Druck der Entwicklung schlug Krenz vor, Modrow zum neuen Ministerpräsidenten zu ernennen. Beide stimmten in ihren politischen Zielen weitgehend überein, wobei Modrow gegenüber Krenz den Vorteil hatte, auch im Westen als unbelasteter Reformkommunist zu gelten. Die selbst nicht gewählte Volkskammer wählte ihn daraufhin am 13. November und bekannte sich zur Fortsetzung des sozialistischen Kurses. Gleichzeitig begann Modrow, assistiert von Markus Wolf, mit der Umgestaltung des MfS in das „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ). Er sollte nun nicht mehr alle missliebigen Bürger observieren, sondern nur noch erklärte Gegner des Sozialismus und Befürworter der deutschen Einheit verfolgen. Das war freilich die Mehrheit der Bevölkerung. Für die weitere Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung war es, dass nach dem Fall der Mauer verstärkt bundesdeutsche Akteure die Auseinandersetzungen in der DDR mitbestimmten. Nicht nur übte die Bundesregierung mit ihren Forderungen nach freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft sowie den damit verbundenen Angeboten enger wirtschaftlicher Kooperation Druck auf die Partei - und Staatsführung aus, auch in verschiedenen Bundesländern wurden Landespolitiker aktiv und knüpften mit Blick auf kommende Veränderungen politische und ökonomische Kontakte. Nach dem Mauerfall ging die Zahl der Protestveranstaltungen insgesamt zurück. Allerdings erlebte die Stadt Leipzig eine ihrer größten Demonstrationen. Immer deutlicher und häufiger wurden nun aber Forderungen nach einer Abschaffung der DDR zugunsten der deutschen Einheit erhoben. Dadurch kam es zu einer starken Polarisierung zwischen den Wünschen einer wachsenden Bevölkerungszahl und den politischen Zielen der weiterhin SED - gelenkten Modrow - Regierung.

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IV. Deutsche Einheit oder DDR - Reform ? 1.

Richtungskämpfe (17.11.–3.12.)

1.1

Regierung Modrow 17. November : Machterhalt und Erneuerung des Sozialismus

Der Wahl Modrows zum neuen Ministerpräsidenten am 13. November folgte auf der 12. Tagung der Volkskammer am 17. November die Wahl eines neuen Ministerrates.1 Bei offener Abstimmung votierten fünf Abgeordnete dagegen, fünf enthielten sich der Stimme. Die Volkskammer beschloss die Bildung einer Kommission zur Verfassungsänderung und von Ausschüssen zur Erarbeitung eines neuen Wahlgesetzes sowie zur Überprüfung von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung.2 In seiner Regierungserklärung kündigte Modrow eine „demokratische Erneuerung“ an.3 Sein Ziel war „eine neue sozialistische Gesellschaft“ bei Beibehaltung der Planwirtschaft, aber mit Meinungs - , Versammlungs - und Vereinigungsfreiheit sowie Rechtssicherheit. Sein neuer Sozialismus sollte „der Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsprozesses des Volkes der DDR auf neuer Grundlage“ dienen, so „die Legitimation der DDR als sozialistischer deutscher Staat erneuert“ und allen „unrealistischen wie gefährlichen Spekulationen über eine Wiedervereinigung die klare Absage erteilt“ werden. Stattdessen wünschte er sich eine „Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik, die „weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen beider Staaten“ hinausgehen sollte. Deutlich war die Handschrift Falins erkennbar. Zwar erschien seine Zielstellung moderater als die von Krenz, war aber angesichts der Forderungen der Bevölkerung genauso unrealistisch. Bemerkenswert sind Modrows Erläuterungen des Verhältnisses zur Bundesrepublik vor der Spitze des MfS. Die DDR müsse „verhandlungsoffen erscheinen“ und bei Forderungen der Bundesrepublik nicht „schon ausverkauft“ sein wie bei der Grenzöffnung. Auch wenn man vorschnell freie Wahlen durchführe und die führende Rolle der SED abschaffe, habe man gegenüber der Bundesrepublik keinen Verhandlungsspielraum mehr.4 Am 18. November 1989 trat der neue Ministerrat zur konstituierenden Sitzung zusammen.5 Er setzte sich aus Vertretern aller in der Volkskammer vertretenen Parteien zusammen und hatte sich von 44 auf 28 Minister verkleinert. 1 2 3 4 5

Volkskammer der DDR, 9. WP, 12. Tagung vom 17./18.11.1989. GBl. DDR I, 23 vom 29.11.1989, S. 249 f. Vgl. Berliner Zeitung vom 20.11.1989. Volkskammer der DDR, 9. WP, 12. Tagung vom 17.–18.11.1989, 1. Tag, Stenographische Niederschrift der Rede Hans Modrows ( BArch Berlin, C 20 I /3–2872, Bl. 29–66). Ausführungen Hans Modrows anlässlich der Diensteinführung von Wolfgang Schwanitz als Leiter des AfNS am 21.11.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 4886). Protokoll der 1. konstituierenden Sitzung des Ministerrates der DDR am 18.11.1989 (BArch Berlin, C 20 I /3–2870).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Der Anteil an SED - Ministern sank auf ca. 60 Prozent. Stellvertreter Modrows wurden Christa Luft ( SED ), Lothar de Maizière ( CDU ) und Peter Moreth (LDPD ). Alle wichtigen Ministerien blieben in SED - Hand. Auf die Vormachtstellung der SED angesprochen, erklärte Modrow, die SED werde „die Position, die wir heute innehaben, und die bestehenden Mehrheitsverhältnisse nicht aufgeben“. Immerhin seien die anderen Parteien in der Regierung stärker vertreten als bisher.6 Sein Ziel war die Zusammenarbeit aller Parteien bis zu Wahlen. Diese biete für alle „die größte politische Wirksamkeit“ und einen Zugewinn an Stabilität und politischem Einfluss. Das bisherige Verständnis des Bündnisses aller Parteien müsse geändert werden. Gegenüber den neuen Kräften wolle man geschlossen auftreten. Als Grundlage akzeptierten die Parteivorsitzenden, in der Volkskammer keine Änderung des Artikels 1 der Verfassung zu fordern und „keine Schritte zu tun, die vor der Begegnung mit dem Bundeskanzler liegen“.7 Die Zugehörigkeit zur Regierung hinderte Modrow freilich nicht, seine Koalitionspartner von der Staatssicherheit observieren zu lassen.8 Überhaupt spielte die Staatssicherheit in Modrows Konzept einer künftigen reformsozialistischen DDR eine große Rolle. Hier arbeitete Modrow eng mit Markus Wolf zusammen, den Stefan Heym lieber als Ministerpräsidenten gesehen hätte.9 Schabowski sprach in diesem Zusammenhang von der „Fraktion Wolf - Modrow“.10 Wolf, der sich nach eigenem Bekunden Reformen „nur als Veränderung von Oben“ vorstellen konnte,11 verfügte im Gebäude des ZK der SED auf der Etage der Mitglieder des Politbüros über ein Arbeitszimmer. Nach Schabowskis Meinung war er der „Spiritus rector der neuen Interimsführung der SED“,12 der auch dafür sorgte, dass die entstehende Parteienlandschaft durch wichtige IM an den Spitzen neuer wie alter Parteien im Sinne der SED lenkbar blieb. In seiner Regierungserklärung gab Modrow die Umwandlung des MfS in das Amt für Nationale Sicherheit ( AfNS ) bekannt. Seine Aufgabe sollte es nun sein, die Reform des Sozialismus abzusichern. Das galt ebenso für die Volkspolizei. Die neu - alte politische Ausrichtung der Regierung formulierte Modrows neugewählter Minister für Inneres gegenüber den Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei am 19. November deutlicher, als dies gegenüber der Bevölkerung opportun erschien. Es gehe darum, so Lothar Ahrendt, „den Sozialismus in der DDR weiter auszubauen, die sozialistischen Ideale hochzuhalten, keine unserer gemeinsamen Errungenschaften preiszugeben“. Unter den Genos6 7

Interview mit Hans Modrow. In : Die Zeit vom 17.11.1989. Ausführungen Hans Modrows anlässlich der Diensteinführung von Wolfgang Schwanitz als Leiter des AfNS am 21.11.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 4886). 8 MfS, HA VI, vom 23.11.1989 : Beabsichtigte Einreise von Persönlichkeiten der Kategorie I gemäß der 2. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung 3/75, Aktion „General“, Rühe, Volker ( ebd., HA VIII, AKG 1673, Bl. 5). 9 So Horst Teltschik, Biermanns Aufschrei ( Kolumne ). In : Die Zeit vom 15.11.1991. 10 Günter Schabowski, Vor fünf Jahren barst die Mauer. In : FAZ vom 8.11.1994. 11 Aussage Markus Wolf. In : Der Spiegel vom 7.11.1994, S. 41. 12 Günter Schabowski, Vor fünf Jahren barst die Mauer. In : FAZ vom 8.11.1994.

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sen habe sich „der Hass auf den Feind vertieft“, und man sei fest entschlossen, dem Gegner „keine Chance zu geben, die Arbeiter - und Bauern - Macht anzutasten“. Energisch sei „Angriffen auf die führende Rolle der Partei zu begegnen“.13 In das gleiche Horn blies Krenz, der als SED - Chef den Kampfgruppen auch weiterhin eine Aufgabe beim „Schutz des Sozialismus“ zuwies.14 Modrow stellte eine „demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens“ mit dem Ziel einer „neuen sozialistischen Gesellschaft“ in Aussicht.15 Nach dem Vorbild seiner Regierung sollten auch die Räte der Bezirke „Koalitionsregierungen“ bilden, die die sozialistische Prädefinition von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nicht in Frage stellten und in denen weiterhin die SED das Sagen hatte. Modrow, der die Benachteiligung der sächsischen Bezirke durch die Berliner SED - Führung erlebt hatte, griff aber auch die Forderungen nach einer Dezentralisierung des Staates auf und bereitete eine Ver waltungsreform vor. Sein Ziel war es, revolutionäre Entwicklungen zu verhindern und durch Reformen die Kontrolle und den Einfluss der SED auf die Staatsorgane nicht zu verlieren. Aus dieser Haltung heraus räumte Modrow den neuen demokratischen Kräften immer nur soviel Einfluss auf staatliche Entscheidungen ein, wie diese unter dem Druck der andauernden Demonstrationen durchzusetzen vermochten. Dem diente auch sein Vorschlag gegenüber den Ratsvorsitzenden der Bezirke, das Neue Forum zwar in die Arbeit einzubeziehen, es aber dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen und staatliche Politik zu vertreten. So sollte das Aufkommen von Anarchie verhindert werden. Ziel sei ein Runder Tisch mit der Absicht, den Sozialismus zu erneuern, nicht zu beseitigen. Dabei müsse sich die SED auch weiterhin „als polit. führendes Gremium fühlen“. Klar müsse auch bleiben, dass jeder, der sich gegen den Sozialismus wende, nicht die Zustimmung der staatlichen Stellen erhalten dürfe.16 Für den Zeitraum bis 1990 und darüber hinaus plante der Ministerrat eine Vielzahl an Gesetzen, mit denen Modrow seinem politischen Programm im Sinne einer Demokratisierung im Rahmen des Sozialismus Ausdruck verleihen und öffentliche Forderungen aufgreifen wollte.17 Dazu gehörten u. a. eine Änderung und Ergänzung der Verfassung, ein Gesetz über die Bildung und Aufgaben des Verfassungsgerichtshofes, eine Änderung des Wahlgesetzes, des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Richtergesetzes, neue Gesetze über die Rechte aus Versammlung und Vereinigung in politischen Organisationen, ein neues Medien13 Dienstbesprechung mit Chefs der BDVP am 19.11.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 53444, Bl. 3–5 und 21 f.). 14 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 28.11.1989, Anlage 7 : Brief von Egon Krenz an die Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2365). 15 Abgedruckt in DA, 23 (1990), S. 122–135. 16 Beratung des Ministerrates mit Vorsitzenden der RdB am 22.11.1989, Ausführungen Hans Modrows, Mitschrift Herbert Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A /3274); vgl. Niederschrift der Beratung mit Vorsitzenden der RdB am 23.11.1989 im Ministerrat (SächsHStA, BT / RdB, 46141, Bl. 1–9). 17 Ministerrat der DDR : Begründung, o. D. ( BArch Berlin, C 20 I /3–2873, Bl. 41).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

gesetz, neue Wehrdienst - und Grenzgesetze, neue gesetzliche Regelungen im Bereich der Justiz und Gesetze zur Vorbereitung und Durchführung von Verwaltungs - und Wirtschaftsreformen.18 Ein Maßnahmeplan des Ministerrates nannte vor allem die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes und eine stabile Versorgung der Bevölkerung als vordringliche Ziele.19 Modrow war klar, dass er samt seiner Partei nur eine Chance hatte, wenn es ihm gelingen würde, die Lebenssituation zu verbessern. Gerade dies aber war angesichts des finanziellen Ruins der DDR und der bereits verstärkt einsetzenden Orientierung der Bevölkerung auf die Wieder vereinigung ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg. Trotzdem schöpften in der aktuellen Situation viele SED - Mitglieder erstmals wieder neue Hoffnung und sahen im Regierungsprogramm „eine reale Grundlage für die Erneuerung des Sozialismus“.20 So gelang es der SED mit der Installierung der Regierung Modrow, „ihre politisch - gesellschaftlich bereits zerrüttete Macht auf der Ebene des zentralen Staatsapparates noch einmal zu behaupten“.21 Das Ancien Régime unternahm so den letzten Versuch, sich an der Macht zu halten und die Entwicklung nach eigenen Vorstellungen zu formen. Im Sinne der Logik des Verlaufs der friedlichen Revolution ist es deswegen nicht verkehrt, von einem „Staatsstreich gegen die Revolution“ und von „Konterrevolution“ zu sprechen.22 Die Bemühungen der SED, ihre Macht auf diese Weise zu behaupten, waren freilich zum Scheitern verurteilt, weswegen der Versuch, die revolutionäre Dynamik zu stoppen, nicht gelang. Allerdings gelang es Modrow, das Tempo zu verlangsamen und die SED zum Mitgestalter einer nun an Runden Tischen vermittelten Revolution zu machen. In den neuen politischen Gruppen waren viele Akteure erst einmal froh darüber, dass ein Reformkommunist das Ruder in die Hand nahm. Noch wusste ja auch niemand, welche Wege die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, allen voran die Sowjetunion, in Deutschland zulassen würden. So akzeptierte man Modrow als „Spatz in der Hand“, wies aber, wie Konrad Weiß, gleich darauf hin, dass die Volkskammer, die Modrow gewählt hatte, nicht aus freien Wahlen hervorgegangen war. Die Regierung sei bestenfalls eine Übergangsregierung, weshalb der außerparlamentarischen Opposition Kontrollmöglichkeiten eingeräumt werden müssten. Eine Forderung, die sich erst nach weiteren langen Kämpfen Anfang 1990 durchsetzen ließ.23

18 Beschluss des Ministerrates der DDR 2/3/89 vom 23.11.1989 über Maßnahmen zur Vorbereitung von Gesetzen für den Zeitraum bis Ende 1990 ( ebd., Bl. 27–34). 19 Beschluss des Ministerrates der DDR 2/1/89 vom 23.11.1989 : Maßnahmeplan in Auswertung der 12. Tagung der Volkskammer der DDR wird bestätigt, gez. H. Modrow (ebd. 2872, Bl. 2–19). 20 SED - KL Bischofswerda vom 20.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 21 Bericht der Enquete - Kommission, S. 210. 22 Erhart Neubert. In : Esslinger Zeitung vom 17./18. 3.1990. Vgl. Maier, Die Wende, S. 35. 23 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 94.

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Maßnahmen gegen Wirtschafts - und Währungskrise Neben der revolutionären Erhebung wurde es für die Regierung zur zentralen Herausforderung, dass sich die ökonomische und finanzielle Krise im November weiter zuspitzte.24 Nach einem Bericht in der „Frankfurter Rundschau“ vom 3. November über eine zu erwartende Entwertung der DDR - Mark sank der durchschnittliche Umtauschkurs von Mark der DDR in DM rapide. Hatte er im Laufe des Jahres bei acht bis neun DDR - Mark für eine DM gelegen, sank er bis zum 18. November auf einen historischen Tiefstand von 20 :1, um sich Ende November bei einem Kurs von etwa 10 :1 einzupegeln.25 Es kursierten Gerüchte, wonach die Sparguthaben um die Hälfte abgewertet würden, um den Wert der DDR - Mark an den der D - Mark anzugleichen.26 Überall wurden Sparkonten geplündert und hochwertige Konsumgüter gekauft.27 Hamsterkäufe gab es vor allem bei Haushaltwäsche, Bettwäsche, Möbeln, Teppichen, Schuhen, aber auch bei „Grundwaren“.28 Die Folge waren weitere Engpässe in der Versorgung.29 Angesichts des günstigen Umtauschkurses deckten sich auch Westdeutsche, Westberliner, Alliierte sowie Polen und Tschechen billig und in großen Mengen mit subventionierten Waren ein. Polen räumten mit billig erworbenem DDR - Geld die Läden in Ost - Berlin leer, um die Produkte in West - Berlin zu verkaufen. Im Grenzbezirk Frankfurt ( Oder ) forderte die Bevölkerung Maßnahmen „gegen polnische Schieber und Spekulanten“.30 Am 23. November beschloss der Ministerrat der DDR, dass bestimmte Waren nur noch an DDR Bürger und in der DDR lebende Ausländer verkauft werden durften. Bekleidung und Lebensmittel wurden nur noch gegen Vorlage des Ausweises abgegeben.31 Das waren freilich nicht die einzigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Modrow - Regierung. Nach seiner Amtsübernahme wurde Modrow von SchalckGolodkowski über die Verschuldung der DDR informiert, die demnach Ende des Jahres 1989 41,8 Mrd. Valutamark, zuzüglich 7,2 Mrd. Mark Verbindlichkeiten „gesonderte Importe“, plus 2,6 Mrd. Mark an KoKo - Verbindlichkeiten 24 Zum ökonomischen Niedergang und zur Zahlungsunfähigkeit der DDR vgl. HaendckeHoppe - Arndt, Wer wußte was, S. 588–602. 25 Alle Werte sind Durchschnittswerte aus verschiedenen Orten. Vgl. Ministerrat der DDR: Geheime Verschlusssache b2–b8–971/89, V 1213/89, o. D. ( BArch Berlin, C 20 I /3–2868, Bl. 16); FAZ vom 11.11.1989; Handelsblatt vom 13. und 18./19.11.1989; Frankfurter Rundschau vom 17. und 25.11.1989. 26 Vgl. KDfS Riesa vom 11.11.1989 : Tagesbericht ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 205). 27 Vgl. MfS, ZOS vom 16.–17.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 121); BVfS Dresden, XX vom 8.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 1, Bl. 113–116). 28 Vgl. SED - KL Altenburg vom 10. und 15.11.1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 41–44, 60 f.). 29 Vgl. MfS, ZOS vom 16.–17.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 118). 30 SED - BL Frankfurt / Oder vom 19.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 31 Protokoll der 2. Sitzung des Ministerrates der DDR vom 23.11.1989 (BArch Berlin, C 20 I /3–2871); Beschluss des Ministerrates der DDR vom 23.11.1989, Anlage (ebd. 2873, Bl. 156). Vgl. MdI an Chefs der BDVP 1–15 vom 23.11.1989 (BArch Berlin, DO 1, 52461).

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aus Industrievereinbarungen betrug. Dagegen standen auf der Habenseite 12,6 Mrd. Mark an Guthaben aus Fonds, die zur Finanzierung der Zahlungsbilanz eingesetzt waren oder eingesetzt werden sollten sowie die Staatsdevisenreserve von einer Mrd. Valutamark. Das machte eine Gesamtverschuldung von 38 Mrd. Valuta - Mark aus.32 In seiner Regierungserklärung vom 17. November erklärte Modrow, seine Regierungsarbeit ziele auf eine Stabilisierung der Wirtschaft und eine Vergrößerung des Sozialproduktes. Wichtigstes Ziel sei es, zu einer „grundlegenden Erneuerung der sozialistischen Planwirtschaft“ zu kommen, indem die Rolle der einzelnen Betriebe gestärkt wird und kleine Privatbetriebe gebildet werden könnten. Das Volkseigentum sollte in „echtes Volkseigentum“ als einer Mischung aus sozialistischem und privatwirtschaftlichem Eigentum der Betriebe umgestaltet werden. Die Kombinate wurden verpflichtet, sich innerhalb von vier Monaten in Kapitalgesellschaften umzuwandeln, deren Geschäftsanteile von einer Treuhandstelle verwaltet werden sollten.33 Im Laufe ihrer Regierungszeit entfaltete die Regierung Modrow ihr Wirtschaftsprogramm, das vor allem durch folgende Maßnahmen geprägt war :34 Aufhebung der Planbindung, Einstellung der staatlichen Materialbewirtschaftung, Neuorganisation der Wirtschaftsverwaltung, Zulassung von Joint Ventures, Gewerbefreiheit für Inländer, Zulassung von Wochenmärkten, Beseitigung von Knebelungssteuern, Reprivatisierung ausgewählter Staatsbetriebe, Neuordnung des Bankwesens und Wiederzulassung von Kommunalkrediten. Was noch wenige Jahre zuvor begeistert aufgenommen worden wäre, fand nun in der Bevölkerung kaum noch Zustimmung. Hier wünschte eine Mehrheit inzwischen die Einführung einer sozialen Marktwirtschaft nach bundesdeutschem Muster. Haltung zur deutschen Frage In seiner Regierungserklärung erteilte Modrow allen „unrealistischen wie gefährlichen Spekulationen über eine Wiedervereinigung die klare Absage“. Stattdessen wünschte er sich eine „Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik. Bundeskanzler Kohl war damit ebenso wie mit den vagen Äußerungen Modrows über politische Reformen und dem Festhalten am Führungsanspruch der SED unzufrieden.35 Am 20. November führte Kanzleramtsminister Seiters ein Gespräch mit Krenz und Modrow. Krenz betonte die Unumkehrbarkeit der Reformen, erklärte aber zugleich, die DDR müsse ein souveräner sozialistischer Staat bleiben. Die Wirtschaftsordnung solle in Richtung einer an Marktbedingungen orientierten Planwirtschaft umgestaltet werden. Seiters wiederholte die Forderungen der Bundesregierung nach unumkehrbaren Reformen, freien Wahlen, der Zulassung von Parteien und einer Änderung der Verfassung als Bedin32 33 34 35

Vgl. Seiffert / Treutwein, Die Schalck - Papiere, S. 87. Hans Modrow. In : Neues Deutschland vom 18./19.11.1989. Vgl. Buck, Von der staatlichen Kommandowirtschaft, S. 14–17. Vgl. Teltschik, 329 Tage.

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Tabelle 1: Umfrage vom November 1989: Sollte nach Ihrer Meinung ein sozialistisches System in der DDR beibehalten werden, würden Sie die Übernahme eines marktwirtschaftlichen Systems nach dem Muster der Bundesrepublik oder eher ein Mischsystem befürworten ?36 Anhänger von

Soz. System

Marktsystem

Mischsystem

weiß nicht / keine Angabe

SED

54

12

33

1

CDU

9

64

25

2

LDPD

20

40

38

2

NDPD

27

42

31

0

8

63

18

1

17

52

28

3

SDP

18

36

45

1

insg.

24

41

32

3

DBD NF

gungen für eine umfassende Wirtschaftsunterstützung.37 Modrow beauftragte Schalck - Golodkowski, gegenüber der Bundesregierung die Devisenlage der DDR offenzulegen,38 zugleich kritisierte die SED die Haltung Bonns, die auf die Bildung eines vereinten deutschen Staates hinauslaufe. Bonn wolle nur Hilfe gewähren, wenn sich die DDR als souveräner sozialistischer Staat zuvor selbst aufgegeben, sprich demokratisiert, habe.39 Gegenüber den Vorsitzenden der Räte der Bezirke erklärte Modrow, die Bundesregierung betreibe „ein unsauberes Spiel“. Der Spielraum der DDR - Regierung sei gering. Klar sei, dass mit Kohl „keine Wieder vereinigungsgespräche geführt werden“.40 In der ARD sprach sich auch Krenz erneut für Zweistaatlichkeit aus,41 gegenüber der „Financial Times“ schloss er gleichzeitig konföderative Strukturen nicht aus, wenn es zu einer Auf lösung von NATO und Warschauer Pakt kommen sollte.42 Unrealistisches Ziel von SED und DDR - Regierung war es, die Bundesregierung auf die Zweistaatlichkeit festzulegen und sie gleichzeitig als Hauptinvestor im maroden SED - Staat zu gewinnen.43 36 Umfrage des Stern vom 23.11.1989. 37 Vgl. Ministerrat der DDR : Bericht über das Gespräch mit Rudolf Seiters am 20.11.1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2873, Bl. 116–133); Teltschik, 329 Tage, S. 45. 38 Alexander Schalck - Golodkowski an Hans Modrow vom 21.11.1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2873, Bl. 148). 39 Vgl. Neues Deutschland vom 22.11.1989. 40 Niederschrift über die Beratung mit Vorsitzenden der RdB am 23.11.1989 im Ministerrat ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46141, Bl. 1–9). 41 Vgl. Informationen des BMB 22 vom 1.12.1989, S. 27. 42 Vgl. Financial Times vom 25.11.1989. 43 Vgl. Beschluss des Ministerrates der DDR 2/5/89 vom 23.11.1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2873, Bl. 105–107).

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Umwandlung des MfS in ein „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ) Am 17. November gab Modrow in seiner Regierungserklärung die Umwandlung des MfS in ein „Amt für Nationale Sicherheit“ ( AfNS ) offiziell bekannt.44 An die Spitze des Amtes berief er den in Ministerrang erhobenen, „heillos kompromittierten“45 Stellvertreter Mielkes, Wolfgang Schwanitz. In der Öffentlichkeit erschien das AfNS als institutionelle und personelle Nachfolgeeinrichtung des MfS.46 Am 18. November wurden die MfS - Kreisdienststellen über ihre organisatorische Umgestaltung in Ämter des AfNS instruiert. Modrow schickte Regierungsbeauftragte in die Bezirke, die die Umwandlung kontrollieren sollten.47 Schwanitz informierte über die politische Ausrichtung des AfNS und verlangte von den Mitarbeitern, dass sie „alles unternehmen, um den Prozess der revolutionären Erneuerung auf der Grundlage des Aktionsprogramms der SED sowie der Regierungserklärung vorbehaltlos zu unterstützen“.48 Entsprechend instruierten die Bezirksämter die ihnen untergeordneten Diensteinheiten. Es gehe für alle Mitarbeiter des AfNS darum, die „Parteikollektive zu konsolidieren und die Kampfkraft sowie das einheitliche Handeln der Mitglieder zu gewährleisten, damit unsere Partei wieder in die Offensive kommt“.49 Damit war klar, dass Schwanitz das Amt zur Konsolidierung der SED - Macht nutzen wollte. Über die politische Ausrichtung des Amtes sprach Modrow mit der Führung des AfNS und den Leitern der Bezirksämter bei der Amtseinführung von Schwanitz am 21. November. Modrow lehnte den Einsatz von Gewalt strikt ab und erklärte, ein „Zurückdrehen“ der Entwicklung könne es auf diese Weise nicht geben. Andererseits stelle es ein Problem dar, dass die Entwicklung gewaltlos „nicht mehr zu bremsen“ sei. Daher müsse man einen Weg finden, „wie wir mit diesem Umstand konstruktiv umgehen“. Für den Herbst 1990 kündigte Modrow Neuwahlen an und forderte das AfNS in diesem Zusammenhang auf, ihm Informationen über die politische Lage, die Parteien und besonders über die SDP zu liefern. Schwanitz erklärte, das AfNS müsse die operative Bearbeitung „Andersdenkender“ einstellen und sich von solchen Begriffen wie „politisch - ideologische Diversion, politische Untergrundtätigkeit, politische Kontaktpolitik“ trennen. Künftig solle sich das Amt nur noch um „Verfassungsfeinde“ kümmern, von denen nun die Kräfte ausgenommen wurden, „die ebenfalls für einen demokratischen Sozialismus sind“. Mit anderen sozialistischen Kräften strebe die Regierung vielmehr eine „Sicherheitspartnerschaft“ an. Die Besprechung machte klar, dass Modrow das Amt zur Stabilisierung des sozialistischen Systems nutzen wollte und enthob das AfNS damit zunächst seiner größten Sorge. Auch die 44 Vgl. Neues Deutschland vom 18./19.11.1989. 45 Fricke, Zur Abschaffung, S. 59. 46 So der Zentrale Runde Tisch am 18.1.1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 67. Vgl. Fricke, Macht und Entmachtung, S. 122. 47 Vgl. Gauck, Die Stasi - Akten, S. 81. 48 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 18.11.1989 ( BStU, ZA, 103643). 49 Leiter des BAfNS Magdeburg an Leiter der Diensteinheiten vom 20.11.1989. In : Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang, S. 339–342.

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Vernichtung von Unterlagen war ein Thema der Dienstbesprechung. Schwanitz forderte auf, bei der Vernichtung „sehr klug und unauffällig“ vorzugehen, da das Amt „stark kontrolliert“ werde. Es habe „keinen Zweck, einen Haufen Papier mitzuschleppen, der uns in der gegenwärtigen und künftigen Zeit nichts nützt“.50 Tatsächlich galt es, Beweise dafür zu tilgen, wie das SED - Regime die Menschen obser viert und freie politische Entfaltung im Keime erstickt hatte. Statt sich von der bisherigen Praxis zu distanzieren, versuchte man sie zu kaschieren. Ein Neuanfang sah anders aus. Schwanitz ordnete eine weitere „Reduzierung des Bestandes registrierter Vorgänge und Akten sowie weiterer operativer Materialien und Informationen“ an.51 Die Kreisämter wurden am 23. November aufgefordert, „unter maximaler Nutzung aller eigenen Kapazitäten“ und „unter Wahrung strengster Geheimhaltung, Konspiration und Sicherheit“ die Vernichtung durchzuführen.52 Überall wurden nun nach Gutdünken Akten und Datenträger zerstört.53 Parallel wurde befohlen, brisantes Material in die Bezirksämter zu transportieren. In kürzester Zeit und unter teils abenteuerlichen Bedingungen wurde das Schriftgut in Säcke gefüllt und mit Lkw in die Bezirkszentralen geschafft.54 An einigen Orten war man, wie z. B. in Borna, mit der Vernichtung bereits weit gekommen. Hier wurden von den etwa 23 000 Akten nach Aussagen eines Mitarbeiters ca. 90 Prozent auf einem sowjetischen Truppenübungsplatz verbrannt.55 Es war Eile geboten, denn bereits am 24. November musste der Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Leipzig, Hummitzsch, vor zunehmenden Kontrollen der Kreisämter warnen. Durch sie werde die Vernichtung von Akten bereits erheblich behindert.56 Deswegen wurde auch hier die Vernichtung beschleunigt und auf fast alle Bereiche ausgeweitet.57 Am 29. November erging ein Befehl zur Beschleunigung der Vernichtung,58 vor allem sollten nach DDR - Maßstäben rechtswidrig angelegte 50 Dienstbesprechung anlässlich der Einführung von Wolfgang Schwanitz als Leiter des AfNS durch Hans Modrow am 21.11.1989 ( Tonbandabschrift ) ( BStU, ZA, ZAIG 4886, Bl. 19, 24, 26, 36, 40, 65 f.). Redetext Hans Modrows abgedruckt in Stephan, Vorwärts, S. 253–267. 51 Vgl. Leiter des AfNS vom 22.11.1989, Anlage : Vernichtung operativer Materialien und Informationen ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 709–710); Bericht der Enquete Kommission, S. 239. 52 Leiter des BAfNS Potsdam an Leiter des KAfNS vom 23.11.1989 : Reduzierung des Bestandes registrierter Vorgänge und Akten sowie weiterer operativer Materialien und Informationen ( BStU, ZA, PO 400 1309); Leiter des BAfNS Leipzig an Leiter der Diensteinheit vom 24.11.1989 ( ABL, FVS Dresden o006 Leipzig ). 53 Vgl. Fricke, Die totale Überwachung, S. 15; ders., Macht und Entmachtung, S. 123. 54 Vgl. Gill / Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 183. 55 Ein ehemaliger Stasi-Mann erzählt. In: Neues Forum – Kontext. Hg. vom Neuen Forum der Stadt und des Kreises Borna 3/90 vom 16.3.1990 (PB Hartmut Rüffert). Vgl. Museum Borna, Herbst 89. Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna, 1999. 56 Vgl. Der Morgen vom 14. 7.1990. 57 BAfNS Leipzig vom 24.11.1989 : Reduzierung des Bestandes registrierbarer Vorgänge und Akten sowie weiterer operativer Materialien und Informationen ( Museum Borna, Herbst 89. Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna, 1999). 58 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 29.11.1989 : Reduzierung des Bestandes der dienstlichen Bestimmungen und Weisungen des MfS auf den für die

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Aktenbestände vernichtet werden.59 Nach BStU - Erkenntnissen waren u. a. Unterlagen zu historischen Ereignissen wie zum 17. Juni 1953, zur Intervention in der Tschechoslowakei 1968, den Fälschungen bei Wahlen und über die Bekämpfung der Opposition 1989 zur Vernichtung vorgesehen. Auch im sonstigen Partei - und Staatsapparat liefen Vernichtungsaktionen.60 Die Beseitigung der zum großen Teil ohne Rechtsgrundlage angelegten Akten führte den Mitarbeitern noch einmal die Dimension ihrer bisherigen Bespitzelungs - und Obstruktionspolitik vor Augen. Unter einem Teil der Mitarbeiter herrschten zu Recht Hysterie und Angst, führt man sich vor Augen, wie sich das MfS gegenüber den Menschen verhalten hatte.61 Ein Hauptantrieb bei der Vernichtung war daher Angst vor dem berechtigten Zorn der Menschen. Außerdem versuchte man, sich ins rechte Licht zu rücken. Der Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit Freital verwies darauf, dass er und seine Mitarbeiter keine Privilegien gehabt, stattdessen aber kritische Berichte zur Wohnungsproblematik im Kreis und der noch immer nicht errichteten Rauchgasentstaubungsanlage geschrieben hätten.62 Bereits ab Mitte November spielten im MfS fast nur noch innere Probleme eine Rolle.63 Viele Mitarbeiter nutzten die Gelegenheit, um in den Westen zu reisen, holten sich das verpönte, vom „Klassenfeind“ zur Verfügung gestellte, Begrüßungsgeld ab, hörten selbst in den Dienstobjekten des MfS westliche Sender64 oder setzten sich bereits in Richtung Westen ab.65 In den Ämtern bildeten sich Arbeitsgruppen, die über eine künftige zivile Verwendung der Mitarbeiter berieten. Im Kreisamt für Nationale Sicherheit Karl - Marx - Stadt wurde über den Aufbau eines eigenen Dienstleistungskombinates aus Mitarbeitern beraten. In der Diskussion nahm die Frage finanzieller Abfindungen beim Ausscheiden aus dem Amt einen breiten Raum ein.66 Während sich vor allem die Mitarbeiter von Kreisämtern um ihre Stellen sorgten, bot Modrow dem MfS andererseits aber wieder eine Perspektive. Obwohl die revolutionäre Entwicklung darauf hinauslief, die Verfassung samt SED - Führungsanspruch aus den Angeln zu heben, erteilte Modrow dem AfNS den Auftrag, die in der Verfassung verankerte Ordnung zu sichern. Die Mitarbeiter wurden instruiert, das Amt diene der „Abwehr von Angriffen auf die verfas59 60 61 62 63 64 65 66

Gewährleistung der Arbeit des AfNS erforderlichen Mindestbestand ( BStU, ZA, 103647). Vgl. Schell / Kalinka, Stasi und kein Ende, S. 354; Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 97. Vgl. Bericht der Enquete - Kommission S. 239 f. Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des Leiters des BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 23.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 442, Bl. 32). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 44. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 24.11.1989. Vgl. Protokoll der Dienstversammlung der LBVfS Karl - Marx - Stadt vom 8.11.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 438, Bl. 7). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 37. Vgl. Protokoll der Sitzung der SED - KL des MfS am 18.11.1989 ( BStU, ZA, SED - KL 570, Bl. 829 und 841). Zit. bei Süß, Entmachtung, S. 43. Vgl. Arbeitsbuch des Leiters der HA XX, P. Kienberg, o. D. ( ebd., HA XX 987, Bl. 133). Protokoll der Dienstversammlung des Leiters des BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 23.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 442, Bl. 33–39). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 44 f.

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sungsmäßigen Grundlagen der DDR“, die „auf den Umsturz unserer Gesellschaft zielen“. Entsprechend wurde eine „bewusste Parteinahme für den Sozialismus“ als unabdingbare Vorraussetzung einer Tätigkeit im AfNS genannt.67 Damit begab sich Modrow in eine bewusste Contraposition zur revolutionären Bevölkerungsmehrheit, die im Begriff war, die DDR zum Einsturz zu bringen. Die Ausrichtung des AfNS war somit „ein Programm zur Fortsetzung von Unterdrückung und Manipulation“ nicht mehr „feindlich - negativer“, sondern nun „verfassungsfeindlicher“ Aktivitäten.68 In einer Situation, in der selbst die ehemaligen Blockparteien begannen, eine Änderung der Verfassung zu fordern, bezeichnete das Kollegium des AfNS all jene politischen Kräfte als Feinde, die sich gegen die Verfassung aussprachen. Hier deuteten sich auch zwischen den „Regierungspartnern“ Widersprüche an, die sich erst einige Monate später lösten. Ein anderes Leitmotiv Modrows war die Sorge um die Mitarbeiter des MfS / AfNS. Joachim Gauck urteilte später : „Es war unübersehbar, dass er sich den Mitgliedern des Unterdrückungsapparates der SED [...] mehr verpflichtet fühlte als den aufgebrachten Bürgern.“69 Unter den Mitarbeitern des AfNS dominierten in der Tat Diskussionen darüber, was mit jenen würde, die durch die Reduzierung des Apparates freigesetzt wurden. Wenig Sympathie fanden hier Forderungen nach einem spezifischen „Arbeitsdienst“ für ehemalige MfS - Mitarbeiter.70 Eher zog man hier gefälschte Arbeitsnachweise oder finanzielle Fonds in Erwägung, mit denen Firmen gegründet werden könnten, die dann vorrangig MfS - Mitarbeiter einstellen sollten. Am 23. November beschloss der Ministerrat, die durch den freien Grenzverkehr völlig überlasteten Zollorgane durch die Übernahme von Mitarbeitern des AfNS zu verstärken.71 Der Minister für Innere Angelegenheiten, Lothar Ahrendt, plädierte für eine Übernahme von Aufgaben und Struktureinheiten des MfS / AfNS.72 Entlassene Mitarbeiter erhielten nun gefälschte Nachweise ziviler Arbeitsstellen, um bei Bewerbungen nicht als MfS - Mitarbeiter aufzufallen. Bei ihrer Entlassung aus dem MfS / AfNS und bei der Rentenberechnung wurden die Mitarbeiter häufig als Angehörige des Innenministeriums ausgegeben.73 Oft wurde, wie in Leipzig, eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern geplant, die das AfNS verließen.74 Damit deutete sich unter der Regierung Modrow eine neue Qualität der 67 68 69 70

AfNS, Pressestelle : Fakten und Argumente 3/1989, S. 7 und 10 ( MDA Berlin ). Süß, Entmachtung, S. 138. Gauck, Die Stasi - Akten, S. 81. Vgl. Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi. In : VOX, Spiegel TV Special vom 12.1.1996 um 22.05–22.45 Uhr. 71 Beschluss des Ministerrates der DDR 2/6/89 vom 23.11.1989, Anlage ( BArch Berlin, C 20 I /3–2873, Bl. 154). 72 Ausführungen des Ministers für Innere Angelegenheiten am 9.1.1990 ( ebd., DO 1, 52444, Bl. 5). 73 Vgl. FAZ vom 5. 3.1994. Auch die SVK - Ausweise der MfS - Mitarbeiter wiesen diese stets als Angehörige des MdI aus. Interview mit Alexander W. Bauersfeld am 23. 7. 2007. 74 Vgl. Diensttagebuch des Leiters des Bezirksamtes Leipzig, Hummitzsch. Zit. in Stasi intern, S. 350.

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Durchdringung staatlicher Institutionen durch die Geheimpolizei an, wie sie in anderen Ostblockstaaten Realität wurde. Der Ministerrat dachte aber auch an die materielle Absicherung der Mitarbeiter. Anfang Dezember begann in großem Stil ein Ausverkauf von MfS - Immobilien. Sie gelangten zum Teil zu günstigen Konditionen in den Besitz von AfNS - Mitarbeitern.75 Der Ausverkauf erfolgte in Kooperation mit örtlichen Räten. Hier machten sich personelle Verflechtungen im wahrsten Sinne des Wortes bezahlt. Verpflichtung der Volkspolizei auf erneuerten Sozialismus Nicht nur das umbenannte MfS wurde von Modrow weiterhin auf die politischen Ziele der SED, nämlich die Erneuerung des Sozialismus in der DDR, verpflichtet, ebenso galt dies für die Volkspolizei. Obwohl sich immer weniger Volkspolizei - Angehörige vor den Karren der Politik spannen lassen wollten und sich von den politisch motivierten Übergriffen Anfang Oktober distanzierten,76 forderte der neugewählte Minister für Inneres der DDR, Lothar Ahrendt, die Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei am 19. November auf, „den Sozialismus in der DDR weiter auszubauen, die sozialistischen Ideale hochzuhalten“ und „keine unserer gemeinsamen Errungenschaften preiszugeben“. Es war sogar die Rede davon, dass sich angesichts der Ereignisse der letzten Wochen „der Hass auf den Feind vertieft“ habe und es die „feste Entschlossenheit“ gebe, „einheitlich und geschlossen für die Politik unserer Partei einzutreten“.77 Etwas moderater forderte er die Mitarbeiter in einem Offenen Brief auf, für die Erneuerung des Sozialismus in der DDR, den „Fortbestand des Sozialismus auf deutschem Boden“ und „eine aktionsfähige marxistisch - leninistische Partei im gleichberechtigten Bündnis mit allen demokratischen Kräften“ einzutreten.78 Damit verpflichtete Ahrendt die Volkspolizei - Angehörigen auch weiterhin auf die Unterstützung der SED. Entsprechend wurden diese politischen Direktiven in der Folge von den Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei an die VKKÄ weitergegeben.79 Auch hier zeigte sich, dass von einer Entkopplung von SED und Staat unter Modrow keine Rede sein konnte. Ziel blieb der möglichst weitgehende Machterhalt seiner Partei.

75 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 14.12.1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 554). 76 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 17.11.1989. 77 MdI, Dienstbesprechung des Ministers mit den Chefs der BDVP am 19.11.1989 ( BArch Berlin, DO 1, 53444, Bl. 3–5 und 21 f.). 78 MdI, Minister : Offener Brief an alle Angehörigen und Zivilbeschäftigten des MdI vom 20.11.1989 ( ThSTAM, 824). 79 Offener Brief des Chefs der BDVP Leipzig vom 24.11.1989, Anlagen ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2839).

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Lage in der NVA Während am 11. November alle Hundertschaften der NVA aufgelöst wurden,80 kam es im Parteiaktiv des MfNV zu einer heftigen Debatte, in der „erstmals der ganze aufgestaute Frust über die politische und militärische Entwicklung der letzten Jahre in einer turbulenten Sitzung artikuliert und der völlig uneinsichtige Minister zum Rücktritt aufgefordert wurde“.81 Unter Berufssoldaten war das Meinungsbild indes uneinheitlich und machte sich an der Haltung zur NVA - Führung und deren Kurs fest. Bei vielen Berufssoldaten löste die Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz „Empörung über die von ihnen als konterrevolutionär, antisozialistisch und gegen die SED gerichtet gewerteten Auslassungen fast aller Redner“ aus. Bei diesen wurde erörtert, „den Ausnahmezustand zu verhängen und Militär einzusetzen“. Dagegen stand eine wachsende Gruppe führender Militärs, die z. B. bei der Volksmarine, derartige Überlegungen für unverantwortlich hielten, weil deren Umsetzung „das Ende der DDR bedeuten würde“.82 Nach dem Mauerfall änderte sich die Stimmung in der NVA weiter nachhaltig. Das MfS registrierte hier wie bei den Grenztruppen eine „ungünstige Tendenzverschiebung im politisch - moralischen Zustand“. Es gebe eine „anhaltend starke Hinwendung zur Fahnenflucht und zum Grenzübertritt“, eine zunehmende Verunsicherung, Pessimismus in der Lageentwicklung, Austritte aus der SED und eine sinkende Bereitschaft zur Aufgabenerfüllung.83 Bereits seit Anfang November wurden Pläne diskutiert, innerhalb der NVA „Soldatenräte“ zur Interessenvertretung zu bilden.84 Im Zusammenhang damit registrierte das MfS in allen Teilstreitkräften „im zunehmenden Maße kritische Auffassungen“ über Keßler, seinen Stellvertreter Streletz und den Chef der Politischen Hauptverwaltung Brünner.85 Keßler versuchte vergeblich, im Generalstab Mitstreiter für seinen Eskalationskurs zu gewinnen.86 Kurz nach der Maueröffnung erklärte Generaloberst Goldbach, „dass er den Wahnsinn nicht mehr mitmache“ und gab damit eine Initialzündung für eine breitere Kritik an Keßler.87 Forderungen 80 Vgl. Dietmar Ostermann, Von der chinesischen Lösung zur Selbstaufgabe. In : Frankfurter Rundschau vom 30.11.1990. 81 Kutz, Demokratisierung der NVA, S. 93. 82 MfS, HA I / AKG vom 8.11.1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 50–54). 83 MfS, HA I / AKG vom 10.11.1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( ebd., Bl. 41–45). Vgl. Ehlert, Zwischen Mauerfall, S. 439–443. 84 MfS, HA I / AKG vom 3.11.1989 : Stimmungs - und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der Grenztruppen der DDR ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 68–75). 85 MfS, HA I vom 11.11.1989 : Stimmungs - und Meinungsbild über die Leitung des MfNV ( ebd., Bl. 38–40). 86 Vgl. Dietmar Ostermann, Von der chinesischen Lösung zur Selbstaufgabe. In : Frankfurter Rundschau vom 30.11.1990. 87 Vgl. Eppelmann, Fremd im eigenen Haus, S. 365 f.

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nach personellen Veränderungen in der Führungsspitze des MfNV nahmen nun schnell zu. Leitende SED - Funktionäre des MfNV forderten Keßler zum Rücktritt auf.88 Auch Vizeadmiral Hoffmann wandte sich nun gegen ihn. Im Parteiaktiv des MfNV kam es am 15. November erneut zu heftigen Auseinandersetzungen mit Keßler. Nun wurde eine Konzeption Hoffmanns für die sozialistische Erneuerung in der NVA und den Grenztruppen diskutiert und am 18. November von der Politischen Hauptverwaltung der NVA beschlossen. Hoffmann wurde aufgefordert, die Nachfolge Keßlers anzutreten. Der Generalstab informierte Krenz, dass die militärische Führung für Keßlers Rücktritt plädiere.89 Am 16. November bestimmte das Politbüro ( sic !) Theodor Hoffmann zum neuen Minister für Nationale Verteidigung. Heinz Keßler wurde abberufen.90 Daraufhin wurde Hoffmann am nächsten Tag neuer Verteidigungsminister und kündigte eine Militärreform an. Ziel war die Umwandlung der NVA in eine nationale Armee, die nicht der SED unterstand und den Reformprozess unterstützte. Dabei ging Hoffmann vom Fortbestand eines reformierten Warschauer Paktes aus und wollte Erfahrungen westlicher Armeen, besonders der Bundeswehr, nutzen.91 Am 18. November gab er die Trennung der Führungsorganisation von NVA und SED bekannt.92 Am 21. November nahm eine Kommission „Militärreform der DDR“ ihre Arbeit auf. Zugleich wurde ein „Konsultationspunkt Militärreform“ gebildet, der Hinweise und Vorschläge zur Reform der NVA sammelte.93 Einen Tag später wurden die SED - Parteiinstruktionen für die NVA und die Grenztruppen vom Politbüro außer Kraft gesetzt.94 Im „Konsultationspunkt Militärreform“ gingen nun zahlreiche Vorschläge von Armeeangehörigen ein, die deutlich deren ideologische Prägung zeigten. So bestand weitgehende Übereinstimmung, dass der Sozialismus „nicht zur Disposition“ stehen dürfe und „auch weiterhin einen zuverlässigen militärischen Schutz“ benötige.95 Nach wie vor war die Mehrzahl der NVA - Angehörigen nicht bereit, sich einer Entwicklung zur Demokratie zur Verfügung zu stellen. Worauf die Militärreform zielte, zeigte auch der Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung vom 27. November, bei der politischen Arbeit in der NVA und den Grenztruppen das „sozialistische Staatsbewusstsein zu festigen“, den „Erneuerungsprozess konsequent und unumkehrbar zu realisieren“ und das „sozialistische Vaterland“ 88 MfS, HA I vom 11.11.1989 : Stimmungs - und Meinungsbild über die Leitung des MfNV ( BStU, ZA, Neiber 181, Bl. 38–40). 89 Vgl. Eppelmann, Fremd im eigenen Haus, S. 365 f. 90 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 16.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2362). 91 Vgl. Hofffmann, Zur nicht - vollendeten Militärreform, S. 110; Ehlert, Zwischen Mauerfall, S. 438. 92 Vgl. Hoffmann, Das letzte Kommando, S. 40. 93 MfNV vom 20.11.1989 : Anordnung des Ministers für nationale Verteidigung über die Bildung und die Arbeit des Konsultationspunktes Militärreform ( BArch Berlin, VA 01/37615, Bl. 1–3). 94 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 22.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2364). 95 Info für das Kollegium des MfNV am 5.12.1989 ( BArch Berlin, VA - 01/37615, Bl. 86).

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vor allen Feinden zu schützen.96 Auch hier zeigte sich, dass Modrows Konzept der Reform des Sozialismus gegen die eigene Bevölkerung gerichtet war, deren Ziel es gerade mehrheitlich war, das sozialistische Vaterland DDR zu beseitigen und Deutschland wieder zu vereinigen. Um die Stimmung gegen die NVA bei Demonstrationen zu beruhigen, beschloss das Verteidigungsministerium, 2 000 bereits eingezogene Wehrpflichtige ab dem 1. Dezember im Gesundheitswesen einzusetzen. In Zittau konnten Wehrdienstverweigerer bereits Mitte November einen zivilen Wehrersatzdienst im Pflegebereich antreten.97 In Görlitz drängten Vertreter der Kirchen und der Diakonie auf Einführung des Zivildienstes noch vor einer gesetzlichen Regelung. Auch hier konnten seit Anfang Dezember Jugendliche ihren Zivildienst in medizinischen Einrichtungen antreten.98 Ein anderer Schwerpunkt waren Proteste gegen NVA - Objekte. So protestierten in Pulsnitz ( Bischofswerda ) schon seit Mitte Oktober Bürger gegen das NVAObjekt am Eierberg, der Teil eines Landschaftsschutzgebietes war.99 In Großenhain, wo auch Einheiten der sowjetische Armee stationiert waren, gab es Proteste gegen eine Ausweitung des NVA - Geländes.100 Ende November forderte das Neue Forum in diesem Zusammenhang die Schaffung eines entmilitarisierten Kreises Großenhain, wobei alle Bürger auf jede Art militärischer Betätigung verzichten sollten.101 Solch radikalpazifistischen Forderungen waren vor dem Hintergrund des Militarismus und der Hasserziehung im SED - Staat verständlich. Auch in Kamenz gab es auf dem Keulenberg, dem Sitz der Schule der Zollver waltung, Forderungen nach einer zivilen Nutzung.102 Die Proteste waren meist pazifistisch oder ökologisch orientiert und richteten sich nicht speziell gegen die NVA. Nach der Wiedervereinigung gab es sie in vergleichbarer Form auch gegen Einrichtungen der Bundeswehr. Im Herbst 1989 aber richteten sie sich auch gegen sowjetische Kasernen. So forderten Bürger in Kamenz bereits Anfang November, die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte möge das Schießen auf dem Truppenübungsplatz einstellen sowie Objekte im Stadtgebiet räumen, um Platz für Wohnungen zu schaffen.103 In Meißen gab es erstmals 96 MfNV vom 27.11.1989 : Befehl 133/89 des Ministers für Nationale Verteidigung über die Führung der politischen Arbeit in der NVA und den Grenztruppen der DDR ( ebd. 01/37619, Bl. 84–86). 97 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 15.11.1989. 98 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.12.1989. 99 Vgl. SED - BL Dresden vom 10.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 39, 45 f.); SED - KL Bischofswerda vom 15.11.1989 : Vorbereitung der Kreisdelegiertenkonferenz ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 11./12.11.1989. 100 Ereignisse in der Stadt Großenhain im Jahr der Wende 1989 : NVA - Aktivitäten im Raschützwald, o. D. ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 21.11.1989. 101 Schaffung eines entmilitarisierten Kreises Großenhain vom 25.11.1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 102 Vgl. SED - KL Kamenz vom 13.11.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 103 Vgl. SED - BL Dresden vom 7.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 74).

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öffentliche Kritik am Panzermarsch der Sowjetarmee durch die Stadt.104 In Dresden musste der KGB - Offizier Wladimir Putin aufgebrachte Dresdner davon abhalten, ein Objekt des KGB in Dresden zu stürmen.105 Das Neue Forum Großenhain forderte in einem Aufruf die Auf lösung des sowjetischen Militärflugplatzes und parallel dazu die eines Flugplatzes der Westalliierten in der Bundesrepublik.106 Dass die Aktionen sich nicht gegen die Sowjetunion bzw. „die Russen“ richteten, zeigt eine Aktion in Bischofswerda, wo Heiligabend russische Familien von Angehörigen einer Raketeneinheit der Sowjetischen Streitkräfte zur Christvesper in die Kirche eingeladen wurden. Im Januar 1990 folgte eine Gegeneinladung in die Kaserne.107 1.2

Demonstrationen und andere Proteste der Bevölkerung (17.–25.11.)

Bezirk Dresden : Auch nach der Ernennung Modrows zum Ministerpräsidenten hielt in „seinem Bezirk“ Dresden „das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Partei - und Staatsführung unvermindert“ an.108 Obwohl die Beteiligung an Kundgebungen abnahm, fanden doch noch überall meist vom Neuen Forum organisierte und inzwischen genehmigte Demonstrationen und Kundgebungen statt. Bautzen : Im Kreis Bautzen bildete das Neue Forum einen „Initiativkreis Demo“, der für die Organisation der Demonstrationen zuständig war.109 Hier gingen bei einer Demonstration des Neuen Forums mit anschließender Kundgebung auf dem Hauptmarkt am 19. November ca. 800 Personen auf die Straße. Redner forderten das Ende der führenden Rolle der SED, den Rücktritt von Krenz, freie Wahlen sowie eine Untersuchung der Strafvollzugsanstalt Bautzen I.110 Am nächsten Abend fand erneut eine Montagsdemonstration mit ähnlichen Forderungen statt. Rund 4 000 Personen protestierten gegen den Führungsanspruch der SED und für Demokratie. Vor der SED - Kreisleitung wurden Kerzen abgestellt. Es gab Forderungen nach deutscher Einheit. Vereinzelt wurden Deutschlandfahnen getragen. Sprecher des Neuen Forums forderten auf, sich weiterhin an Protesten zu beteiligen. Das Neue Forum setzte Ordner ein und sorgte für einen geregelten Ablauf.111 Am 21. November nahmen in Weißenberg rund 200 Personen an einer Kundgebung des Neuen Forums teil, bei der 104 105 106 107 108 109 110

Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 18.11.1989. Vgl. Wolodjas Geheimnis. In : Sächsische Zeitung vom 7./8.10. 2006. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 12. und 14.12.1989. Vgl. Erinnerung von Pfarrer Christian Näcke vom 9. 9.1999 ( PB Christian Näcke ). SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1–6). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 24.11.1989. Vgl. KDfS Bautzen vom 19.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 81 f.); SED KL Bautzen vom 19.11.1989 : Lage ( SächsHStA, A 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 21.11.1989; Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 111 Vgl. KDfS Bautzen vom 20.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 61–65); SED - KL Bautzen vom 20.11.1989 : Demonstration ( SächsHStA, A 13554).

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Bild 43: Montagsdemonstration auf dem Theaterplatz in Dresden.

es vor allem um kommunale Fragen ging und gegen die SED - Führung protestiert wurde.112 Die Anzahl der Bürgerforen ging zurück.113 Bischofswerda : Am 17. November fand in Bischofswerda eine Demonstration des Neuen Forums und des Kreisausschusses der Nationalen Front statt. Ca. 2 000 vorwiegend Jugendliche und Kinder forderten Demokratie und riefen Sprechchöre gegen SED und MfS. An der MfS - Kreisdienststelle wurden Hunderte Kerzen abgestellt. Bei einer Kundgebung vor dem Rathaus mit ca. 3 000 Personen sprachen ca. 30 Redner. Die Hauptangriffe richteten sich gegen die SED und das MfS, das, wie gehabt, die Namen aller Kritiker notierte.114 Vertreter der Blockparteien erklärten, sie hätten „im Innern versagt“ und plädierten für das Ende des Blocks. Ein SED - Redner bekundete den Willen, gleichberechtigt an der demokratischen Erneuerung mitzuwirken.115 Das Stadtparteiaktiv hatte zuvor ein „einheitliches Auftreten“ beraten, allerdings lehnten es die meisten Mitglieder ab, mitzudemonstrieren.116 Am 22. November fanden in 112 Vgl. KDfS Bautzen vom 20.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 61–65); KAfNS Bautzen vom 21.11.1989 ( ebd., Bl. 47); BAfNS Dresden vom 21.11.1989 ( ebd., XX 9195, Bl. 23 und 26). 113 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 28). 114 Vgl. KDfS Bischofswerda vom 17.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 119 f.); BVfS Dresden vom 17.11.1989 : Geplante Veranstaltungen ( ebd., Bl. 106). 115 SED - KL Bischofswerda : Weitere Aufgaben der Kreisparteiorganisation vom 17./18.11. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 116 SED - KL Bischofswerda vom 16.11.1989 : Lage ( ebd.).

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Pulsnitz vom Rat der Stadt und einer Bürgerinitiative organisierte Einwohnerversammlungen statt. Mitglieder der Bürgerinitiative erklärten sich bereit, als Mitglieder in ständigen Kommissionen mitzuarbeiten.117 Bei einem Einwohnerforum in Demitz - Thumitz ging es um kommunale Belange wie eine fehlende Bäckerei, ungepflasterte Straßen, illegale Müllhalden, Rohrbrüche, schlechte Wasserqualität, fehlende Sportmöglichkeiten und die massive Geräuschbelästigung durch Sprengarbeiten im VEB Lausitzer Granit.118 Unter dem Motto „Demokratie durch freie Wahlen“ fand am 24. November in Bischofswerda erneut eine vom Neuen Forum organisierte Demonstration statt. Die Kreiseinsatzleitung stellte „erhöhte Führungsbereitschaft“ her.119 Zum Rathausgespräch lud an diesem Tag in Neukirch der Bürgermeister Mitglieder der „sogenannten Bürgerinitiative“ und des Neuen Forums ein. Der Versuch des kommunistischen Funktionärs, die meist jungen Teilnehmer mit Diskussionen über Fragen wie die „Verbesserung planmethodischer Arbeit“, die „Arbeit zur Übereinstimmung Plan - Vertragsbilanz“ aufs ideologische Glatteis zu locken, misslang. Die jungen Leute erklärten kurzerhand, sie wollten prinzipielle Veränderungen und ein Ende der SED - Herrschaft. Ihre Bürgerinitiative verstehe sich als Kontrollorgan gegenüber Funktionären und wolle keine Verantwortung im Rahmen des vorhandenen Systems übernehmen.120 Dippoldiswalde : Auch in Dippoldiswalde versuchten die hier besonders veränderungsunwilligen Funktionäre vergeblich, Mitglieder des Neuen Forums durch Gespräche über kommunale Fragen ins vorhanden Regime einzubinden.121 Das Neue Forum organisierte dennoch für den 25. November in der Kreisstadt eine Demonstration und Kundgebung unter der Losung „Keine Wende für die Wende“.122 Daran beteiligten sich ca. 1 500 Personen, die vor allem gegen die SED und regionale Funktionäre sowie das MfS protestierten.123 Bei einer abschließenden Kundgebung vor dem Rathaus gab es vor allem Äußerungen gegen die SED und einige Losungen für die Wiedervereinigung. In der ersten Reihe wurde eine weiß - grüne Sachsenfahne mitgeführt, die Kundgebung begann mit einer Schweigeminute für die Betroffenen des Stalinismus. Die SEDKreisleitung konstatierte, „dass diese Kundgebung sowie der Inhalt der Reden zur Schürung von Emotionen und Hassgefühlen gegen die SED“ bestimmt waren. Vor allem die junge Kreissekretärin der CDU, Andrea Hubrig, habe „Emotionen bewusst angeheizt“. Sie beklagte, dass ihre bisherige Tätigkeit als 117 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 30.11.1989. 118 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 25./26.11.1989. 119 SED - KL Bischofswerda vom 24.11.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553); Dr. Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda 1227–1997); Große Kreisstadt Bischofswerda – das Tor zur Oberlausitz : Zuarbeit für die Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 120 SED - KL Bischofswerda vom 24.11.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 121 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 25./26.11.1989. 122 SED - KL Dippoldiswalde vom 8.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553, Bl. 1–4). 123 MfS, ZOS vom 26.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 1721, Bl. 35).

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Kreissekretärin von „Sektierertum und Erniedrigung ihrer Partei“ geprägt gewesen sei. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Martin Hessmann, kam angesichts massiver Proteste nicht zu Wort. Hubrig forderte die Umwandlung des Gebäudes des MfS in eine Kinderkrippe.124 Nach der Kundgebung organisierte die SED Leserbriefe, in denen Demonstranten, die die deutsche Einheit forderten, „neofaschistisches Gedankengut“ unterstellt wurde. Wer nicht für einen neuen Sozialismus sei, habe die Zeichen der Zeit nicht begriffen.125 Stadt Dresden : In Dresden fand am 19. November eine Demonstration und Kundgebung der Dresdner Kunst - und Kulturschaffenden statt, an der sich zeitweilig bis zu 100 000 Menschen beteiligten. Auch hier wurden weiß - grüne und Deutschlandfahnen geschwenkt und die Wiedervereinigung gefordert. Bei einer Kundgebung auf dem Thaterplatz griffen die meisten Redner die SED und das MfS an.126

Bild 44: Demonstration der Kunst - und Kulturschaffenden auf dem Dresdner Theaterplatz am 19.11.1989. 124 SED - KL Dippoldiswalde vom 26.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. KAfNS Dippoldiswalde : Demonstration und Kundgebung des Neuen Forums am 25.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 7–8); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 28.11.1989. 125 Ebd. vom 29. und 30.11.1989. 126 Vgl. MfS, ZOS vom 19./20.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 315). MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 302 f.); Urich, Die Bürgerbewegung, S. 171 f.

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In SED - Kreisen war man über die Kundgebung entsetzt. Besonders wurden „die Auftritte von Prof. Güttler und Gunter Emmerlich verabscheut, da sie einen ganzen Kübel von Hetze und Stimmungsmacherei gegen die SED ausgeschüttet“ hätten.127 In Leserbriefen kritisierten SED - Mitglieder die „niederträchtigen, dreckigen Äußerungen“ Güttlers und bezweifelten seine charakterlichen Qualitäten.128 Nun, da man keine Machtmittel mehr in der Hand hatte, gegen unliebsame Personen vorzugehen, griff man zum Mittel der Polemik. Dresden - Land : In Radebeul nahmen am 17. November 1 500 Bürger an einer von Vertretern der Friedenskirchgemeinde organisierten Demonstration teil.129 Freital : Am 22. November fand in Freital eine Demonstration der „Gruppe der 25“ mit etwa 350 Einwohnern statt. Bei einer Kundgebung sprachen Vertreter der Gruppe, des Neuen Forums sowie Partei - und Staatsfunktionäre. Vertreter der Oppositionsgruppen verlangten die Beseitigung des Artikels 1 der Verfassung und baldige demokratische Neuwahlen. Heftig wurden Missstände und Mängel im kommunalen Bereich angeprangert. Funktionsträger wurden durch Sprechchöre und durch Pfeifen unterbrochen. Die SED - Kreisleitung meldete, die Veranstaltung habe „keinen konstruktiven Charakter seitens der Kundgebungsteilnehmer“ gehabt. Aggressiv seien Vorwürfe gegen die SED gerichtet worden, und es habe Rufe wie „rote Schweine“ und „Nazis“ gegeben.130 Stadt und Kreis Görlitz : Am 17. November fanden in vier Görlitzer Kirchen Friedensgebete statt. Anschließend demonstrierten etwa 1 000 Bürger durch die Innenstadt.131 An einer Gesprächsrunde des Kulturbundes über Umweltprobleme nahmen etwa 350 Bürger teil.132 In Gersdorf ging es bei einer Einwohnerversammlung am 21. November um Fragen der Kommunalpolitik, um den Empfang von Westfernsehen, die ungenügende Versorgung mit Obst und Gemüse, den Umweltschutz im Zusammenhang mit der LPG für Schweinemast, die Fleischverkaufsstelle, die Abschaffung der Delikatläden und um ausreichende Bereitstellung von Mülltonnen.133 Am 22. November fand in der Stadthalle Görlitz eine Großveranstaltung des Neuen Forums mit ca. 550 Personen statt. Es ging um die bisherige Arbeit und Themen wie Umweltschutz, die SED - Führungsrolle und freie Wahlen, die Vertreter verschiedener Gruppen vorstellten. Das Neue Forum rief zu einer Demonstration für freie Wahlen am 2. Dezem-

127 SED - KL Löbau vom 22.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 128 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 29.11.1989. 129 Vgl. KDfS Dresden - Land vom 17.11.1989 : Beantragung einer Demonstration in Radebeul ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 99); BVfS Dresden vom 17.11.1989 : geplante Veranstaltungen ( ebd., Bl. 106). Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 21.11.1989. 130 SED - KL Freital vom 23.11.1989 : Stimmung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. KAfNS Freital vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 35); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 24.11.1989. 131 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.11.1989. 132 Vgl. ebd. vom 18./19.11.1989. 133 Vgl. ebd. vom 25./26.11.1989.

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ber auf.134 Am 24. November demonstrierten nach Friedensgebeten in mehreren Kirchen ca. 200 meist Jugendliche durch die Innenstadt von Görlitz. Vor dem Rathaus wurden Kerzen abgestellt.135 Großenhain : In Großenhain demonstrierten am 23. November ca. 600 Personen. Vor der SED - Kreisleitung wurden Kerzen abgestellt, anschließend zogen die Demonstranten am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei. Es gab Sprechchöre gegen die SED und das AfNS. Auf einem Transparent wurde die Wiedervereinigung gefordert.136 Unterdessen setzten der Partei - und Staatsapparat ihre Politik der Bürgerforen fort,137 bei denen es meist, wie z. B. in Nauleis und Nasseböhla um kommunale Belange und Versorgungsfragen ging.138 Kamenz : Am 20. November demonstrierten in Kamenz 500 Personen am Volkspolizeikreisamt, der SED - Kreisleitung und dem Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei, wo Kerzen abgestellt wurden. Transparente und Sprechchöre richteten sich gegen die SED sowie das AfNS. Die Demonstration endete mit einer Andacht in der Hauptkirche.139 Am nächsten Tag zog in Königsbrück nach einem Friedensgebet in der Kirche ein Demonstrationszug mit ca. 200 Personen durch die Innenstadt. Sprechchöre richteten sich gegen das MfS, die Kampfgruppen und den Führungsanspruch der SED.140 Am 22. November ging es beim Bürgerforum in Elstra vor allem um kommunalpolitische Probleme.141 Löbau : Am 17. November fand in Löbau eine Demonstration des Neuen Forums mit bis zu 10 000 Teilnehmern statt, bei der das Neue Forum die Ordner stellte. Sprecher aller Parteien und Bürgerbewegungen kamen zu Wort. Das Neue Forum des Kreises stellte sich vor. Es gab Plakate wie „Stasi in die Volkswirtschaft“. Vor dem Rat der Stadt, der SED - Kreisleitung und der MfS - Kreisdienststelle wurden Kerzen aufgestellt.142 Am nächsten Tag standen weitere Schilder vor der Kreisleitung mit Aufschriften wie „Armee - und Staatsgehälter kürzen“, „Je weiter der Blick – desto freier das Herz ( Goethe ) br( d )dr“, „Diktator Honecker muss für seinen Mordbefehl büßen“ und „Lieber mal 3 Hasis im Bett als 1 Stasi in der Wohnung“.143

134 Vgl. KAfNS Görlitz vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 34); BAfNS Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 31, 32); Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 25./26.11.1989. 135 Vgl. KAfNS Görlitz vom 24.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 11). 136 Vgl. KAfNS Großenhain vom 23.11.1989 : Demonstration ( ebd., Bl. 24 f.); MfS, HA XXII, ZOS vom 23.–24.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 133–138); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 25./26.11.1989. 137 Vgl. ebd. vom 21.11.1989. 138 Vgl. ebd. vom 25./26.11.1989. 139 Vgl. SED - KL Kamenz vom 21.11.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); KAfNS Kamenz vom 20.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 66 f.). 140 Vgl. KAfNS Kamenz vom 21.11.1989 : Lage in Königsbrück ( ebd., Bl. 41). 141 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 22.11.1989. 142 Vgl. KDfS Löbau vom 17.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 98 und 128); KAfNS Löbau vom 17.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 30). 143 SED - KL Löbau vom 18.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554).

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Meißen : Am 21. November fand in Meißen im Anschluss an ein Friedensgebet in der Frauenkirche die fünfte Demonstration unter dem Thema „Staatssicherheit und Rechtssicherheit“ statt, an der sich etwa 1 000 Personen beteiligten. Vor der Kreisdienststelle des MfS ( KDfS ), inzwischen in „Kreisamt für Nationale Sicherheit“ ( KAfNS ) umbenannt,144 wurden unter Sprechchören Kerzen abgestellt. Am Abend fand ein Bürgerforum statt, auf dem sich das Neue Forum vorstellte. Beim Kreisstaatsanwalt erfolgt eine Anzeige wegen Wahlfälschung im Kreisgebiet am 7. Mai 1989.145 Am 25. November fand auf dem Schulhof der Ostrowski - Oberschule in Coswig ein zweites Bürgerforum statt, dessen Ablauf Unmut hervorrief. Spontan rief deswegen das Neue Forum zu einer Demonstration am kommenden Dienstag auf.146 Niesky : Am 21. November demonstrierten im Anschluss an eine Veranstaltung des Neuen Forums in Niesky rund 500 Menschen gegen das MfS, den Führungsanspruch der SED und für die Auflösung der Kampfgruppen. Der Schweigemarsch mit Spruchbändern führte am Kreisamt für Nationale Sicherheit, der SED - Kreisleitung und dem Volkspolizeikreisamt vorbei. Vor dem Kreisamt wurden Kerzen abgestellt.147 Pirna : Am 19. November fand beginnend auf dem Elbeparkplatz in Pirna eine Demonstration des Neuen Forums mit ca. 8 000 Teilnehmern statt. Der Demonstrationszug führte an der SED - Kreisleitung sowie am Wehrkreiskommando Pirna vorbei. Es wurden Sprechchöre gerufen und Transparente mitgeführt. Auf dem Marktplatz fand eine Kundgebung statt, bei der freie Wahlen gefordert und gegen Funktionsmissbrauch und Amtsüberschreitung protestiert wurde. Weitere Themen waren der Erhalt der Altstadt und die Umweltbelastung im Elbtal.148 Zwei Tage später folgte das 4. Rathaustreffen in Pirna mit Kreisfunktionären. Themen waren die Führungsrolle der SED, das politische Strafrecht und Privilegien von Funktionären. In der Presse plädierte der Vorsitzende des Rates des Kreises, Günter Hensel, für die Trennung von Partei und Staat.149 Sebnitz : Am 17. November gab es in Hohnstein ein Bürgerforum des Neuen Forums und der SDP mit anschließendem Marsch zum Denkmal für die Opfer des Faschismus.150 Der Kommentar der MfS - Kreisdienststelle war hämisch : 144 Für eine Übergangszeit gingen nun die Begriffe durcheinander. 145 Vgl. KAfNS Meißen vom 21.11.1989 : Demonstration zum KAfNS Meißen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 40); Informationsblatt Neues Forum Meißen 2/89, S. 14 (HAIT, Iltgen 2); Die Union, Ausgabe Meißen, vom 21.11.1989. 146 Vgl. ebd. vom 25.11.1989. 147 Vgl. KAfNS Niesky vom 21.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 42 und 52 f.); BAfNS Dresden vom 21.11.1989 ( ebd., XX 9195, Bl. 23–25); VPKA Niesky : Rapportberichte 35/89 bis 73/89, o. D. ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 23.11.1989. 148 SED - KL Pirna vom 19.11.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); MfS, ZOS vom 19.–20.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 226–234); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 21.11.1989. 149 Vgl. ebd. vom 22.11.1989. 150 BVfS Dresden vom 17.11.1989 : Geplante Veranstaltungen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 106).

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„Zielstellung nicht erreicht; Leute sollten Fragen und Probleme vorbringen, sprachen aber nur ihre kommunalen Probleme an.“151 Am 23. November gab es in Sebnitz eine Demonstration mit Kundgebung von ca. 500 Teilnehmern, meist Anhänger des Neuen Forums. Nach Meinung der SED - Kreisleitung war die Kundgebung „in gezielter Absicht organisiert und gerichtet“ auf Einheit Deutschlands ( Abspielen der Nationalhymne der DDR mit vollem Text ), die Bildung eines Bundeslandes Sachsen, die Abschaffung des MfS und freie Wahlen. Die Teilnehmer hätten erklärt, „dass sie mit jenen, die jetzt regieren, nichts zu tun haben wollen“. Es wurde zur nächsten Demonstration aufgerufen.152 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : In Hoyerswerda demonstrierten am 21. November ca. 80 Jugendliche durch die Altstadt. Vor dem Gebäude des Rates der Stadt riefen sie „Wir sind hier, wo seid Ihr“.153 Weißwasser : Unter dem Motto „Aufbruch 89 – was wird aus unserem Land?“ fand am 18. November eine Kundgebung vor der evangelischen Kirche in Weißwasser statt, zu der das Neue Forum eingeladen hatte. Nach der Kundgebung formierte sich ein Demonstrationszug von etwa 4 000 Bürgern. Für das Neue Forum sprach Pfarrer Havenstein, für eine tragfähige Koalition der Vernunft sprach sich ein LDPD - Redner aus.154 Am 20. November formierte sich nach einer Veranstaltung in der evangelischen Kirche in Weißwasser ein Schweigemarsch von ca. 300 Personen zur SED - Kreisleitung, wo Kerzen abgestellt wurden.155 Bezirk Karl - Marx - Stadt / Annaberg : Am 18. November beteiligten sich in Annaberg - Buchholz ca. 3 000 Personen an einer Demonstration des Neuen Forums mit anschließender Kundgebung. Es gab scharfe Angriffe gegen SED und MfS.156 Einen Tag später gingen in Oberwiesenthal ca. 200 Menschen für freie Wahlen und gegen die SED auf die Straße. Auf dem Markplatz sprachen der Pfarrer und Vertreter des Neuen Forums.157 Hier wie auch in Crottendorf liefen die Demonstrationen inzwischen unter der Regie des Neuen Forums ab.158 Am 25. November demonstrierten in Annaberg nach einer Veranstaltung in der ev.- luth. St. Annenkirche erneut ca. 3 000 Menschen. Auf dem Marktplatz fand eine Kundgebung gegen die SED statt.159 151 KDfS Sebnitz vom 17.11.1989 : Veranstaltung in Hohenstein ( ebd., Bl. 125). 152 SED - KL Sebnitz vom 24.11.1989 : Kundgebung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. KAfNS Sebnitz vom 23.11.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 21 f.). 153 MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224). 154 Vgl. Redemanuskript zum Gebetsgottesdienst am 18.11.1989 in Weißwasser ( UB Grohedo, PB Pfarrer Hennerjürgen Havenstein ); Lausitzer Rundschau vom 21.11.1989. 155 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224). 156 Vgl. MfS, ZOS vom 18.–19.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 236–240); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 311. 157 Vgl. KAfNS Annaberg vom 20.11.1989 : Demonstration in Oberwiesenthal ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 22 f.). 158 Vgl. Jörg Lötzsch / Andreas Demmler, Chronik der Wende in Crottendorf ( HAIT, StKa). 159 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 25.–26.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 177–180); ebd. 1721, Bl. 36; Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 28.11.1989.

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Aue : In Aue marschierten am 20. November ca. 8 000 Personen im Anschluss an einen Fürbittgottesdienst in der St. - Nikolaus - Kirche zum Kreisamt für Nationale Sicherheit und zur SED - Kreisleitung. Teilnehmer skandierten „in böswilliger Art und Weise“ Losungen gegen das AfNS und stellten ca. 600 brennende Kerzen vor dem Objekt ab.160 In Schönheide beteiligten sich am selben Tag 800 Personen an einer Demonstration mit anschließendem Dialoggespräch vor dem Rat der Gemeinde.161 Auerbach : In Auerbach beteiligten sich am 17. November ca. 1 500 meist Jugendliche an einer Demonstration zur SED - Kreisleitung. Während des Marsches wurden Losungen gegen MfS und SED gerufen sowie der Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Hans - Joachim Döhn, gefordert.162 Erstmals waren auch hier Rufe nach Wiedervereinigung zu hören. Auf einem Transparent hieß es : „Vogtland unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft“.163 In Werda nahmen am 23. November rund 100 Personen an einem Einwohnerforum teil. Auf eine Demonstration wurde hier wie in anderen kleinen Orten zugunsten der Teilnahme an Veranstaltungen in größeren Städten verzichtet.164 Am 24. November gingen in Auerbach erneut ca. 2 500 Menschen auf die Straße.165 Vor dem Wehrkreiskommando gab es Pfiffe und Rufe wie „arbeiten, arbeiten“. Auch vor der SED - Kreisleitung gab es Sprechchöre. Bei einer Kundgebung auf dem Friedensplatz wurde die „Aufklärung aller Verbrechen am Volk durch die Regierung“ gefordert und von vielen Rednern für die Wiedervereinigung plädiert. Hier wurde auch die Bildung eines Runden Tisches vorgeschlagen. Frau E. Schöffler verlas Forderungen der Bürgerinitiative des Kreises Auerbach u. a. nach Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Offenlegung von Amts - und Machtmissbrauch, einer Öffnung der Lokalseite der „Freien Presse“ für alle Parteien und Bürgerinitiativen, einem Ende der Zensur durch die SED, dem Rückzug der SED aus den Betrieben und Einrichtungen sowie der Auflösung der Kampfgruppen und des Kreisamtes für Nationale Sicherheit.166 Brand - Erbisdorf : An einem Einwohnerforum in Dittersbach mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Horst Schmidt, und dem Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit nahmen am 23. November ca. 70 Personen teil. Themen waren der Wahlbetrug vom Mai 1989, Funktionärsprivilegien, das MfS und 160 Ebd. XXII 1721, Bl. 64–65. Vgl. KDfS Aue vom 20.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 15 f.). 161 BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 207. 162 MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 110–115). 163 Vgl. Zwahr, Die demokratische Revolution, S. 36; Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 18.11.1989. 164 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 172. 165 Vgl. KAfNS Auerbach vom 24.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 108 f.); BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 172 f. 166 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 167 Vgl. KAfNS Brand - Erbisdorf vom 23.11.1989 : Einwohnerforum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 94–98).

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kommunale Probleme. Vor allem aber stellten die Einwohner die führende Rolle der SED in Frage.167 Bei einem Forum in Frauenstein nahmen am 26. November 200 Personen teil. Hier ging es u. a. um ein Ferienheim des MdI im Ort.168 Flöha : In Flöha marschierte am 17. November ein Zug von ca. 750 Personen zum Rat des Kreises, wo eine Kundgebung stattfand. Es sprachen Funktionäre und Vertreter von Bürgerinitiativen. Der neue 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Olaf Lützner, trat für freie Wahlen und die Aufgabe des SED - Führungsanspruches ein. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Klaus Leber, wurde durch Pfiffe und Rufe zum Abbruch seiner Rede gezwungen. In Sprechchören wurde „Stasi in die Produktion“ gerufen. Das Neue Forum informierte über die Bildung von Arbeitsgruppen.169 Am 24. November forderten hier erneut ca. 500 Menschen freie Wahlen. Bei einer Kundgebung vor dem Rat des Kreises wurde von Rednern die Aufspaltung der SED in KPD und SPD gefordert.170 In Eppendorf nahmen an diesem Tag ca. 200 Personen an einer von der CDU Ortsgruppe organisierten Demonstration mit Transparenten, Sprechchören und „Liedern zur Wende“ teil.171 Freiberg : In Freiberg demonstrierten nach einem Aufruf des Neuen Forums am 19. November ca. 3 000 Menschen für freie Wahlen, ein echtes Mehrparteiensystem und gegen den Führungsanspruch der SED.172 Glauchau : In Glauchau fand am 18. November eine Kundgebung des Neuen Forums mit ca. 500 Personen statt. Es wurde mehr Einfluss des Neuen Forums in allen Bereichen und eine Bestrafung von Funktionären gefordert. An einer anschließenden Demonstration nahmen 700 Personen teil.173 Nach einem Friedensgebet in der St. Georgen Kirche gingen hier am 20. November erneut rund 500 Menschen auf die Straße. Es wurden Kerzen und vereinzelt Transparente mitgeführt sowie Losungen gerufen.174 In Meerane demonstrierten am selben Tag ca. 300 meist Jugendliche für Freiheit, Demokratie und Umweltschutz.175 Hainichen : In Frankenberg nahmen am 20. November bis zu 3 000 Personen an einer vom Demokratischen Aufbruch organisierten Demonstration und Kundgebung teil. Sprecher des Neuen Forums, des DA und der LDPD forderten Demokratie und freie Wahlen. Es gab massive Proteste gegen das MfS / 168 Vgl. KAfNS Brand - Erbisdorf vom 28.11.1989 : Forum ( ebd., Bl. 80 f.). 169 Vgl. MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 110– 115); ebd., HA XXII 531, Bl. 333; Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 18.11.1989. 170 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 24.–25.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 171 f.); Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 25.11.1989. 171 Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ). 172 KDfS Freiberg vom 19.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 31 f.); Steffen Wendisch vom 9.11.1989 : Antrag auf Demonstration ( KA Freiberg, Akten Nr. 444); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 21.11.1989. 173 Vgl. MfS, ZOS vom 18.–19.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 236– 240). 174 Vgl. StV Glauchau, Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ); MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224); ebd., HA XXII 1721, Bl. 64 f. 175 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224).

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AfNS.176 Im Speisesaal des VEB Teppichweberei Frankenberg fand die Gründungsveranstaltung des Neuen Forums statt.177 Am nächsten Tag ging es bei einer Gesprächsrunde von 400 Personen auf dem Mittweidaer Markt um Runde Tische auf Kreis - und Stadtebene, Umweltprobleme, die Wohnraumsituation, den Umgang mit Unterlagen des MfS und die Ereignisse am 7. Oktober in Hainichen. Zentrale Forderungen waren die deutsche Einheit, die alte Länderstruktur und freie Wahlen.178 Karl - Marx - Stadt : In Karl - Marx - Stadt informierte am 17. November die Demokratisch - Oppositionelle Plattform ( DOP ) über die Bildung eines Kontaktbüros der Bürgerinitiativen DA, Neues Forum, SDP und Vereinigte Linke. Die DOP bezeichnete die Stadtverordnetenversammlung als provisorisch und sich selbst als Mittler zur Bevölkerung.179 In der Stadt nahmen nach einer Demonstration rund 4 000 Personen an einer von Künstlern und Kulturschaffenden organisierten Kundgebung teil. Die Redner wandten sich gegen die führende Rolle der SED und das MfS. Gleichzeitig fand ein weiteres Rathausgespräch statt.180 Am 20. November folgte in Karl - Marx - Stadt nach Gottesdiensten in mehreren Kirchen eine Kundgebung mit anschließender Demonstration unter Teilnahme von ca. 40 000 Menschen. Redner der vom Neuen Forum organisierten Kundgebung forderten einen Volksentscheid zum Artikel 1 der Verfassung und griffen die führende Rolle der SED und das MfS an. Die neugebildete Regierung Modrow wurde als nicht vom Volk gewählt in Frage gestellt. Im Demonstrationszug wurden u. a. folgende Losungen mitgeführt : „SED und Stasi - Macht hat das Land kaputt gemacht“, „SED das ist wahr, das ist Euer letztes Jahr“ und „Vorwärts – bleibt nicht stehen, dann muss Egon auch bald gehen“.181 Karl - Marx - Stadt - Land : In Limbach - Oberfrohna demonstrierten am 22. November ca. 1 500 Menschen von der Friedenskirche aus durch das Stadtzentrum. Es wurden Sprechchöre gerufen. Rednern äußerten sich „in aggressiv negativer Weise“ gegen die SED - Herrschaft. Vertreter des Neuen Forums mahnten zur Disziplin.182 Klingenthal : In Klingenthal demonstrierten am 17. November ca. 1 500 Personen. Bei einer Kundgebung auf dem Platz der Einheit forderten Vertreter des Neuen Forums, der Kirche sowie der Blockparteien eine Ende der SED - Herr176 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( ebd.); ebd., HA XXII 1721, Bl. 64 f. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 23.11.1989. 177 KDfS Hainichen vom 20.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2). 178 Vgl. Gisela Dietz, Ereignisse der Wendezeit in Mittweida und im ehemaligen Kreis Hainichen ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 23.11.1989. 179 Vgl. Die Union vom 17.11.1989. 180 Vgl. MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 110– 115); ebd., HA XXII 531, Bl. 319 und 333. Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 22.11.1989. 181 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224); ebd., HA XXII 1721, Bl. 64–65. 182 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 106–109); ebd. 1721, Bl. 47. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 24.11.1989.

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schaft, freie Wahlen, die Ablösung des neuen 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Thomas Zuber, und die Wiedervereinigung. Einzelne riefen „Kommunisten an die Wand“.183 In Markneukirchen marschierten am 22. November 4 000 Personen zur ev. - luth. Kirche. Auf Transparenten hieß es „Deutschland – einig Vaterland“ und „Wir stecken im Dreck – SED muss weg“. Vor der Kirche sprachen mehrere Redner. Die meisten kritisierten, dass die angekündigte Wende bisher nur verbal eingeleitet worden sei. Daher wurde beschlossen, weiter zu demonstrieren.184 In Klingenthal demonstrierten am 24. November erneut etwa 500 Personen durch ein Neubaugebiet in Richtung Stadtzentrum. Ein vier Meter langes Transparent mit der Aufschrift „Wiedervereinigung – Beste Lösung“ wurde dem Zug vorangetragen.185 Marienberg : Am 17. November demonstrierten in Olbernhau ca. 1 500 Personen mit Plakaten durch die Stadt. Sie forderten freie Wahlen und die deutsche Einheit. Es wurden Unterschriften für die Forderung nach Rücktritt des 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Horst Carlowitz, und des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Fritz Ullmann, gesammelt.186 Einem Aufruf des Neuen Forums folgten am 23. November in Lengefeld ca. 50 Personen. Aufgrund der geringen Teilnehmerzahl kam es nicht zur Demonstration. Die Versammelten begaben sich in die Kirche.187 In Marienberg marschierten am 25. November ca. 400 Personen vom Markt zur SED - Kreisleitung. Auf Transparenten wurde der Führungsanspruch der SED verurteilt.188 Oelsnitz : Am 20. November formierte sich auf dem Markt von Oelsnitz ein Demonstrationszug von ca. 1 000 Personen, die am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbeizogen, Losungen riefen und Kerzen abstellten. Auf dem Markt fand ein Bürgerforum zu kommunalen Problemen statt. Redner des Neuen Forums forderten die Änderung des Artikels 1 der Verfassung und eine Unabhängige Untersuchungskommission für Wahlbetrug und Amtsmissbrauch.189 Am 23. November gab es in Bad Elster eine Demonstration mit anschließendem Forum in der Wandelhalle. Auch hier ging es vor allem um die Forderung nach Aufgabe des Führungsanspruchs der SED.190 Stadt Plauen : In Plauen beteiligten sich am 18. November bis zu 20 000 Menschen an einer Demonstration. Der Zug führte am Kreisamt für Nationale 183 MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 110–115); ebd., HA XXII 531, Bl. 333. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 21.11.1989. 184 Vgl. Stadt Markneukirchen : 1989 – ein historisches Jahr ( PB Johannes Sembdner ); MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 106–109), Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 25.11.1989. 185 KDfS Klingenthal vom 24.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 106). 186 Vgl. MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 110– 115); ebd., HA XXII 531, Bl. 333; Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 17.11.1989. 187 Vgl. BStU, ZA, HA XXII 1721, Bl. 42. 188 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 25.–26.11.1989 : Lage ( ebd. 5942, Bl. 177–180). 189 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 22.11.1989. 190 Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2.1999 ( HAIT, StKa).

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Sicherheit vorbei, wo Sprechchöre gegen das AfNS gerufen und Kerzen abgestellt wurden. Auf einer Abschlusskundgebung sprachen Vertreter des Neuen Forums, der Grünen, der SDP und kirchliche Würdenträger. Forderungen waren die Wiedervereinigung Deutschlands, die Beseitigung der SED ( nicht nur des Führungsanspruches ) und eine Entschuldigung für die Zerschlagung des Prager Frühlings 1968. Die Stimmung war geprägt durch ein „totales Infragestellen der Rechtmäßigkeit des Rates und der Stadtverordnetenversammlung“ und „diffamierende Unterstellung von angeblichen Privilegien einzelner Funktionäre“. Alle Redner „gingen in ihren Forderungen über alle bisher bekannten Äußerungen hinaus, stellten SED und Staatsfunktionäre bezüglich der Rechtmäßigkeit und der persönlichen Redlichkeit in Frage“. Gefordert wurde eine sofortige Beteiligung der Bürgerinitiativen an allen grundlegenden Entscheidungen des Rates im Sinne einer öffentlichen Kontrolle. Es wurde nicht nur die Rechtmäßigkeit der örtlichen Volksvertretung und des Rates, sondern auch der neuen Regierung und der Volkskammer in Frage gestellt. Die letzten Tagungen und die Wahl des Ministerrates wurden als neues „Tarn - und Schaumanöver der SED“ bezeichnet. Die Regierung sei bestenfalls eine „notwendige Übergangslösung ohne Volksmandat“. Der Rat der Stadt schätzte ein, „dass von Woche zu Woche eine verschärfende Weiterführung der Forderungen erfolgte und alle durch den Rat eingeleiteten Maßnahmen durch die Organisatoren entweder als Showmanöver diffamiert oder als von der Straße erzwungen dargestellt“ wurden.191 Am 25. November demonstrierten erneut etwa 5 000 Bürger am Kreisamt für Nationale Sicherheit, der SED - Kreisleitung und dem Wehrkreiskommando vorbei. Auf Plakaten und Transparenten forderten sie massiv die Wiedervereinigung. Kreisfunktionäre der SED und Betriebsdirektoren wurden aufgefordert, zurückzutreten.192 Ein Charakteristikum der Plauener Demonstration, so Superintendent Küttler, war „eine andere inhaltliche Akzentuierung und Zielsetzung“ als in Berlin. In Plauen wurde deutlich die Einheit Deutschlands gefordert.193 Reichenbach : Nach einem Gottesdienst in der Peter - Paul - Kirche Reichenbach demonstrierten hier am 22. November ca. 1 000 Personen für freie Wahlen und gegen Artikel 1 der Verfassung. Vor dem Volkspolizeikreisamt und der SED Kreisleitung wurde „Faule Schweine“, „SED – das tut weh“ und „Geeintes Deutschland“ gerufen. Die Verkehrsregelung erfolgte durch die Volkspolizei und Ordner des Neuen Forums.194 Am 23. November forderten in Lengenfeld

191 Lothar Fichtner an Hans Modrow vom 20.11.1989 ( SächsStAC, 126409). Vgl. BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 311; KDfS Plauen vom 18.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 51–55). 192 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 25.–26.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 177–180); Axel Vornbäumen, Im Vogtland denkt man erstmal deutsch. In : Frankfurter Rundschau vom 23.12.1989; Sächsisches Tageblatt vom 27.11.1989. 193 Küttler, Die Wende in Plauen, S. 153. 194 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 106–109); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 24.11.1989.

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50 Demonstranten die Wiedervereinigung Deutschlands und ein Ende der Herrschaft der SED.195 Rochlitz : In Penig fand am 21. November vor dem Rathaus eine Dialogveranstaltung mit dem stellvertretenden Bürgermeister unter Teilnahme von ca. 250 Personen statt. Redner forderten kommunale Verbesserungen. Es gab eine Schweigeminute zur Solidarisierung mit den „Kampfgefährten in der ČSSR“.196 Schwarzenberg : An einer Demonstration in Schwarzenberg nahmen am 20. November ca. 3 000 Personen teil. Neben Forderungen zur Auflösung der Kampfgruppen richteten sich Angriffe vor allem gegen das AfNS. Nach der Demonstration führten mehrere Personen eine Mahnwache vor dem Kreisamt für Nationale Sicherheit durch.197 In Johanngeorgenstadt demonstrierten am 24. November ca. 50 Personen durch das Zentrum.198 Werdau : Nach einem Friedensgebet demonstrierten am 19. November in Crimmitschau ca. 2 500 Menschen für freie Wahlen, Pressefreiheit sowie Reformen in Justiz und Volksbildung.199 In Werdau gingen am nächsten Tag 700 Menschen auf die Straße.200 Zschopau : Am 21. November gab es in Zschopau eine Demonstration und Kundgebung vor dem Rathaus, an der sich Hunderte Einwohner beteiligten. Es ging vor allem um kommunale Probleme, und es wurde eine gemeinsame Erklärung des Rates der Stadt und der Bürgerinitiative verlesen.201 Stadt Zwickau : Am 20. November formierte sich nach Friedensgebeten in mehreren Kirchen in Zwickau ein Schweigemarsch von ca. 8 000 Personen. Im Anschluss fand eine Kundgebung statt, die sich vor allem gegen die führende Rolle der SED richtete und bei der der Rücktritt von Krenz gefordert wurde.202 Zwickau - Land : In Kirchberg fand am 19. November nach einer Veranstaltung in der ev. - luth. Kirche eine Demonstration und Kundgebung vor dem Rathaus statt. Auf Transparenten hieß es „Solange Krenz allein regiert wird weiter demonstriert“, „Weg mit dem Führungsanspruch der SED“, „SED weg“ und „Freie Wahlen“.203 Bezirk Leipzig / Altenburg : In Altenburg fand am 19. November nach einem Aufruf des Landestheaters eine Demonstration mit anschließender Kundgebung 195 MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23. und 23.–24.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 107, 133–138). 196 MfS, HA XXII, ZOS vom 21.–22.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 112–118). 197 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 22.11.1989. 198 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 24.–25.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 171 f.). 199 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 21.11.1989. 200 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224). 201 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 23.11.1989. 202 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224); ebd., HA XXII 1721, Bl. 64–65; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 21.11.1989. 203 Vgl. KDfS Zwickau, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 33); MfS, ZOS vom 19.–20.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 226–234).

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des Neuen Forums mit ca. 5 000 Teilnehmern statt. Der neue 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Peter Krause, wurde ausgepfiffen. Durch die Redner des Neuen Forums, der Umweltbibliothek, von Friedensgruppen und der Kirche gab es vorwiegend Angriffe gegen die führende Rolle der SED und das MfS. Gefordert wurde die Offenlegung des Wahlergebnisses vom 7. Mai, und die Glaubwürdigkeit der neuen Regierung wurde angezweifelt.204 SED - Mitglieder waren mit Losungen vertreten wie : „S = Sozialismus, E = Erneuerung, D = Demokratie“, „Ich bleibe Kommunist“ und „Nie wieder Machtmissbrauch“.205 Borna : Aus Sicht der SED - Kreisleitung Borna entspannte sich die Lage langsam.206 Am 19. November demonstrierten hier nach einem Friedensgottesdienst in der ev. - luth. Kirche ca. 200 Personen zur SED - Kreisleitung und ca. 30 Personen zum Kreisamt für Nationale Sicherheit. Vor den Gebäuden wurden Kerzen abgestellt und Sprechchöre gerufen.207 In Regis fand am 22. November eine Demonstration der LDPD - Ortsgruppe vom Stadtzentrum zum Sportplatz statt. Bei einer Kundgebung stellte sich der Betriebsdirektor des VEB BKW Regis den Fragen.208 Da das Neue Forum eine gemeinsame Kundgebung mit der SED Kreisleitung ablehnte, organisierte diese am 24. November auf dem Karl - MarxPlatz ein „Kampfmeeting der Kommunisten“ mit etwa 250 Teilnehmern.209 Am nächsten Tag folgte hier eine Kundgebung des Neuen Forums mit ca. 500 Teilnehmern. Hartmut Rüffert vom Sprecherrat Neues Forum Borna kritisierte den Dialog und stellte das Neue Forum vor. Das Neue Forum fordere den Verzicht der SED auf das alleinige Macht - und Wahrheitsmonopol, vollkommene Aufklärung der Ereignisse um den 40. Jahrestag, die Freilassung und Rehabilitierung aller politischen Häftlinge, die Einstellung jeglicher Verleumdung und Bespitzelung des Neuen Forums, eigene Publikationsmöglichkeiten sowie die Bereitstellung von Büros. Am folgenden Sonntag demonstrierten im Anschluss an ein Friedensgebet erneut etwa 70 Menschen.210 Delitzsch : Im Kreis Delitzsch forderte Superintendent Behr den Rat des Kreises am 17. November auf, das Kreisamt für Nationale Sicherheit aufzulösen.211 204 SED - BL Leipzig vom 19.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 823, Bl. 163 f.); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 319. 205 SED - KL Altenburg vom 19.11.1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 68 f.). 206 Vgl. SED - KL Borna vom 17.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 133). 207 Vgl. MfS, ZOS vom 19.–20.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 226– 234); ebd., HA XXII 531, Bl. 319; VPKA Altenburg vom 19.–20.11.1989 : Lagefilm (SächsStAL, VPKA Altenburg, 4458). 208 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 106–109). 209 SED - KL Borna vom 22.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 138 f.). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 28.11.1989. 210 Vgl. Rede zur Kundgebung des Neuen Forums Borna am 25.11.1989 ( PB Hartmut Rüffert ); Ausschnitte der Bornaer Kundgebung des Neuen Forums vom 28.11.1989 ( HAIT, StKa ); BDVP Leipzig vom 25.–26.11.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP, 1450/1); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 28.11.1989. 211 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse im Zeitraum 1989/90 ( StV / Museum Schloss Delitzsch ).

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Am 20. November fand in der Stadtkirche ein Montagsgebet unter dem Thema „Demokratie“ statt, an dem sich rund 1 300 Menschen beteiligten. Sie stimmten „Gedanken zu einem Reisegesetz“ zu, in dem es hieß : „Wir sind mündige Bürger und wollen nicht überall und ständig von staatlichen Organen reglementiert werden. Auch unser völkerrechtlich anerkanntes Grundrecht auf Reisen wollen wir uneingeschränkt verwirklichen.“ 212 Anschließend forderten ca. 700 Teilnehmer einer Demonstration freie Wahlen und Demokratisierung. Es wurden Kerzen vor dem Gebäude der SED - Kreisleitung und dem Rathaus abgestellt und Transparente an der Rathaustür abgelegt, die sich wie die Sprechchöre besonders gegen das MfS richteten.213 Döbeln : In Döbeln demonstrierten am 20. November ca. 2 500 Bürger nach einem Fürbittgottesdienst gegen die Dialogstrategie der SED. Mitgeführte Transparente und Losungen richten sich gegen die SED und das MfS. Auf einem Transparent hieß es : „Vertrauen versauen, dann Dialog aufbauen ?“ Die Forderung der Demonstranten, die SED aus den Betrieben zu verbannen, wies der neue 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Berthold Schmidtke, damit zurück, das Organisationsprinzip in den Betrieben sei ein unverzichtbarer Thälmann’scher Grundsatz. Der Sprecher des Neuen Forums Döbeln, Bechstein, erklärte, nach der Diktatur der Partei dürfe nicht die Diktatur der Banken und Monopole folgen. Am 24. November folgte ein Bürgerforum zum Thema „Stasi“.214 Eilenburg : In Eilenburg folgten am 22. November bis zu 2 000 Bürger einem Aufruf des Neuen Forums und versammelten sich auf dem Marktplatz, „um die bisher so schleppende demokratische Erneuerung etwas voran zu bringen“.215 Es gab eine Unterschriftensammlung zur Änderung des Artikels 1 der Verfassung. Daneben ging es um den Umweltschutz und die Lage im Gesundheitswesen. Es sprachen Vertreter mehrerer Parteien, von Arbeitsgruppen, dem Demokratischen Aufbruch und des Neuen Forums.216 Am selben Tag beteiligten sich in Frohburg ca. 300 Menschen an einem Friedensgebet.217 Geithain : Etwa 120 Personen demonstrierten am 21. November auf dem Marktplatz von Geithain gegen den Führungsanspruch der SED und für freie

212 Evang. Superintendentur Eilenburg an Volkskammer, Ausschuss für Reisegesetzgebung, vom 24.11.1989 ( HAIT, StKa ). 213 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse im Zeitraum 1989/90 ( StV / Museum Schloss Delitzsch ); Montagsandachten ( ebd.); MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage (BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224); ebd., HA XXII 1721, Bl. 65. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 22.11.1989. 214 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89; VPKA Döbeln vom 20.–21.1189 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Döbeln, 3722); BStU, ZA, HA XXII 1721, Bl. 65; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 22.11.1989. 215 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 24.11.1989. 216 Vgl. P. Bruck an Bürgermeister von Eilenburg, o. D. ( HAIT, Eilenburg A5.4); MfS, HA XXII, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 106–109). 217 Vgl. VPKA Geithain vom 22.–23.11.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 595).

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Wahlen. Unter Teilnahme des Bürgermeisters, des Pfarrers und von SDP - Mitgliedern ging es zudem um kommunale Probleme.218 Grimma : In Colditz marschierten am 20. November nach einem Friedensgebet ca. 250 Teilnehmer durch die Stadt und stellten am Rathaus Kerzen ab.219 Dialogrunden gab es u. a. in Nerchau, Grimma und Schönbach.220 Stadt Leipzig : Am 17. November legten Kurt Masur und die Mitinitiatoren der Öffentlichkeit als erste Zusammenfassung der „Dialoge am Karl - Marx Platz“ die „Leipziger Postulate“ vor. Darin wurden u. a. die Beseitigung der führenden Rolle der SED und die Durchsetzung der Grundrechte gefordert.221 Am 18. November nahmen an der ersten genehmigten Kundgebung des Neuen Forums zwischen 10 000 und 30 000 Personen teil.222 Für das Neue Forum forderte Jochen Läßig in einer vom Fernsehen übertragenen Rede den Rücktritt von Krenz, freie Wahlen und andere Grundrechte, drückte aber andererseits den Verzicht auf eine Übernahme von Regierungsverantwortung aus.223 Nach einer inoffiziellen Kundgebung demonstrierten am 20. November in Leipzig über 200 000 Menschen. Noch immer wurden die Demonstrationen vom AfNS aufgezeichnet. Von Rednern erhobene Forderungen nach deutscher Einheit und der Übernahme der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik fanden den Beifall von Zehntausenden. Der Wunsch nach „Deutschland einig Vaterland“ übertönte erstmals alle anderen Forderungen. Ein Sprecher, der sich für die Beibehaltung der deutschen Teilung und der „sozialen Errungenschaften der DDR“ aussprach, wurde ausgepfiffen.224 Insgesamt war bei der Demonstration inzwischen fast jede politische Richtung vertreten.225 Oschatz : Am 20. November folgte ein weiteres Friedensgebet in der Oschatzer St. Aegidienkirche. Die Zahl der Teilnehmer war weiter rückläufig, immerhin waren aber noch etwa 800 Interessierte gekommen. In Oschatz demonstrierten am 20. November ca. 1 000 Personen. Auf mitgeführten Transparenten

218 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 21.–22.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 112–118); BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 358. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 23.11.1989. 219 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224). 220 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 25./26. und 29.11.1989. 221 Leipziger Postulate. In : Rein, Die Opposition, S. 172–174. 222 Vgl. Kundgebung des Neuen Forums am 18.11.1989 auf dem Georgi - Dimitroff - Platz in Leipzig ( ABL, H. XVII, Neues Forum ); MfS, ZOS vom 18.–19.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 236–240); Texte der Ansprachen in Demo - Reminiszensen ( pro vocation 1), S. 52–79; Leipziger Volkszeitung vom 20.11.1989; Neues Forum Leipzig, S. 258–270; Tetzner, Leipziger Ring, S. 53–55. Zum 18.11.1989 und der Vorgeschichte vgl. ausführlich Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 503–545. 223 Rede von Jochen Läßig. In : Neues Forum Leipzig, S. 264. 224 Vgl. MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214– 224); Tetzner, Leipziger Ring, S. 59. 225 Vgl. Ash, Ein Jahrhundert, S. 395.

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Bild 45: Montagsdemonstration in Leipzig am 20.11.1989.

wurde Pressefreiheit gefordert sowie das AfNS angegriffen. Am Objekt des Kreisamtes für Nationale Sicherheit wurden brennende Kerzen abgestellt.226 Torgau : In Torgau nahmen am 23. November an einer Demonstration mit anschließender Kundgebung des Neuen Forums bis zu 3 000 Menschen teil. Die Demonstration führte unter anderem am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei. Auf Transparenten und in Redebeiträgen wurden freie Wahlen sowie das Ende des MfS und der Kampfgruppen gefordert.227 Wurzen : Am 20. November gingen in Wurzen nach Gebeten in allen drei Kirchen der Stadt bis zu 2 500 Bürger auf die Straße. Am Kreisamt für Nationale Sicherheit wurden Sprechchöre gerufen und brennende Kerzen abgestellt. Losungen richteten sich gegen die SED, den Staatsapparat und das MfS. Aus 226 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 92 f. 227 Vgl. SED - KL Torgau vom 23.11.1989 : Lage im Kreis ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 139–141); MfS, HA XXII, ZOS vom 23.–24.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 133–138).

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Wurzen fuhren zahlreiche Einwohner regelmäßig zu den Montagsdemonstrationen nach Leipzig.228 Situation in den Betrieben Nach dem Mauerfall setzten sich auch in den Betrieben die Angriffe auf die SED fort. Gefordert wurden ein Ende der SED - Alleinherrschaft und die Entfernung der SED - Strukturen aus den Betrieben. Zugleich häuften sich Forderungen nach Wieder vereinigung.229 Hauptamtliche Parteifunktionäre und Mitarbeiter der SED wurden abgelehnt, SED - Mitglieder negiert und angegriffen, wenn sie sich als solche zu erkennen gaben.230 Im Kreisbetrieb für Landtechnik Brand - Erbisdorf war an einer Wandzeitung zu lesen, es sei an der Zeit, dem MfS und der SED das Grab zu schaufeln.231 Die Zahl der Austritte aus SED und Kampfgruppen stieg mit der Begründung weiter, man wolle nicht mitschuldig an der Lage sein.232 In der SED dachte man verstärkt über einen Rückzug aus den Betrieben nach, da keine Grundlage für eine Parteiarbeit mehr gesehen wurde.233 In den Betrieben wurden alternative Führungsstrukturen diskutiert.234 Streikandrohungen wurden in der Regel, auch durch das Neue Forum, abgelehnt.235 Allerdings gab es Ende November Diskussionen über einen Generalstreik, die im Süden der DDR sogar bereits in konkrete Streikvorbereitungen übergingen. In mehreren Städten des Bezirkes Karl - Marx - Stadt wurden Streikwünsche an das Neue Forum herangetragen. Insbesondere unter dem Druck aus Plauen führte ein Sprecher des Neuen Forums Ende November mit Vertretern aller Blockparteien Gespräche über eine gemeinsame Vorbereitung. Ohne Absprache mit dem Sprecherrat des Neuen Forums in Karl - Marx - Stadt unterschrieb er einen Aufruf aus Plauen zur Durchführung eines Generalstreiks am 6. De228 Vgl. SED - KL Wurzen vom 21.11.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 187 f.); MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 214–224); Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 139. 229 Vgl. KDfS Glauchau vom 11.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 2, Bl. 2 f.); KDfS Plauen vom 14.11.1989 : Info ( ebd. 539, Bl. 38–44); SED - KL Großenhain vom 17.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Riesa vom 15.11.1989 : Lage ( ebd.). 230 Vgl. SED - KL Großenhain vom 30.11.1989 : Lage ( ebd.); SED - BL Frankfurt / Oder vom 28.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 231 Vgl. KAfNS Brand - Erbisdorf vom 22.11.1989 : Gerüchte ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 2, Bl. 5–9). 232 Vgl. KDfS Glauchau vom 11.11.1989 : Stimmung ( ebd. 533, 2, Bl. 2 f.). 233 Vgl. SED - KL Großenhain vom 17.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Bischofswerda vom 16.11.1989 : Lage ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 15.11.1989. 234 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 20.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 235 Vgl. KDfS Görlitz vom 3.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 235); BVfS Dresden vom 13.11.1989 ( ebd., 2, Bl. 249); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 22.11.1989.

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zember. Dieser wurde am 1. Dezember der Presse übergeben, die Aktuelle Kamera berichtete darüber.236 Unklar war die weitere Entwicklung der Wirtschaft. Auf Flugblättern wurden „eine Arbeiterdemokratie in Ost und West“ ebenso gefordert wie klare Aussagen der Regierung zur künftigen Struktur der Volkswirtschaft.237 Es gab zahlreiche eigene Vorschläge zur künftigen Wirtschaftsweise,238 die oft zwischen Plan - und Marktwirtschaft schwankten. Ab Mitte November gab es vereinzelte Forderungen nach der Bildung von Betriebsräten. So wurde im VEB Barkaswerke Karl - Marx - Stadt ein Aufruf des „Initiativkomitees Betriebsrat“ veröffentlicht, der die Wahl eines Betriebsrates bis Ende des Jahres forderte. Dieser sollte die Kontrolle über die staatliche Leitungstätigkeit erhalten, die Arbeit des FDGB sich hingegen künftig auf das Sozialwesen beschränken.239 Im VEB Bandtex Pulsnitz wurde die Bildung eines Arbeiterrates vorgeschlagen.240 Daneben gab

Bild 46: Forderungen nach Entfernung der SED aus Schulen und Betrieben in Dresden. 236 Vgl. Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 256–258. Vgl. Kap. IV.2.3. 237 Vgl. SED - BL Dresden vom 15.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 7– 14); SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 1–6). 238 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 25./26.11.1989. 239 Vgl. MfS, ZOS vom 14.–15.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 141). 240 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 26.11.1989 : Vorbereitung KDK ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555).

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es, vor allem von bisherigen FDGB - Funktionären, Vorschläge zur Umwandlung des FDGB aus einer kommunistischen Massenorganisation in eine Gewerkschaft.241 In diesem Zusammenhang wurde Kritik an der Mitgliedschaft von FDGB - Funktionären in SED - Gremien geübt. Sie wurden zum Rücktritt aufgefordert.242 Lage an den Schulen Um die Entwicklungen im Schulbereich richtig einzuordnen, muss man sich vor Augen führen, dass fast alle MfS - Berichte Schüler und Jugendliche als Hauptakteure der Demonstrationen beschreiben. Hier drückte sich auch ein Generationskonflikt aus. Während sich die mittlere Generation mit den Verhältnissen abgefunden hatte, so galt dies für die jüngere Generation nicht. Sie stellte die Hauptmenge der Flüchtlinge und Demonstranten. So war es durchaus keine Ausnahme, wenn die Volkspolizei am 8. November aus Frohburg ( Geithain ) von einer Demonstration berichtete, an der mehrheitlich Schüler der 9. und 10. Klassen, hier übrigens angeführt durch zwei Lehrer, teilnahmen. Gemeinsam riefen sie „Nieder mit der SED“, „Nieder mit der Mauer“ und „Wir fordern Wahlen“.243 Aus Hohenstein - Ernstthal berichteten Lehrer fast aller POS des Kreises, es sei derzeit äußerst schwer, die Schüler vom Kurs der SED zu überzeugen. Aber auch viele Lehrer funktionierten nicht mehr wie gewünscht. Aus Flöha wurde berichtet, dass selbst Kinder von SED - Mitgliedern Akzeptanzprobleme hätten. Viele Schüler würden sich zum Neuen Forum bekennen, die Demonstrationen begrüßen sowie den Wehrdienst und ein Engagement in der FDJ ablehnen.244 In Leipzig forderten Schüler, Lehrer sollten nicht länger Funktionen in der SED ausüben, und der Staatsbürgerkundeunterricht müsse verändert werden.245 An der EOS „Karl Marx“ in Altenburg meinten Schüler, es sei nicht ehrlich, wenn sich Lehrer von einem Tag auf den anderen umstellten. Die kommunistische Erziehung sei nicht mehr aktuell und falsch.246 In Görlitz zeigten Lehrlinge „über wiegend eine ungefestigte Haltung zu unserer Republik“, wenn sie meinten, die Jugend habe in der DDR keine Perspektive. Man sei ein241 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 16.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 22.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 15.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 11./12.11.1989. 242 Vgl. SED - KL Niesky vom 11.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 17.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 11./12.11.1989. 243 VPKA Geithain vom 8.–9.11.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 570). 244 Vgl. KDfS Flöha vom 4.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 65 f.). 245 Vgl. SED - SL Leipzig vom 7.11.1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 890, Bl. 40–43). Zur Entwicklung im Staatsbürgerkundeunterricht vgl. Biskupek, Transformationsprozesse. 246 Vgl. SED - KL Altenburg vom 6.11.1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 22–25).

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geengt und es fehlten Reisemöglichkeiten. Lohnsystem und Preisbildung stimmten nicht überein, als Lehrling könne man sich ohne Hilfe der Eltern nicht modisch kleiden. Die Altbausubstanz verrotte, es fehlten Ersatzteile. Schuld an den Missständen sei die SED. Daher sei es „gut, dass die Leute offen auf Missstände in unserem Staat hinweisen“. Die DDR brauche eine Opposition und keine Einparteienregierung.247 Anfang November wurde an vielen Schulen der Unterricht in Marxismus Leninismus und Wehrkunde eingestellt und für die 9. Klassen ein Lehrgang in Zivilverteidigung eingeführt. Im Fach Staatsbürgerkunde wurde am 3. November die Zensierung ausgesetzt.248 In Borna verließen zahlreiche Kinder demonstrativ den Russischunterricht.249 Überall wurde nun die Abschaffung des Wehrkundeunterrichtes verlangt.250 Angesichts der Entwicklung suspendierte der amtierende Volksbildungsminister Günther Fuchs am 9. November die Relegierung von vier Oberschülern der Carl - von - Ossietzky - Oberschule in Berlin Pankow.251 Während systemkritische Lehrer nun endlich ihre Meinung deutlicher sagen konnten, hatten es vor allem SED - Pädagogen schwer. Sie fühlten sich von der Führung „völlig alleingelassen“ und standen „mit dem Rücken an der Wand“. „Errungenschaften der DDR würden ignoriert“, so klagten sie, und es fehlten ihnen „vernünftige Argumente“ im Sinne der weiterhin geltenden ideologischen Arbeitsrichtlinien.252 Aber auch angesichts des Aufbegehrens der Bevölkerung gegen die kommunistische Diktatur bewahrten, wie z. B. an der Leipziger Samuel - Heinicke - Schule „die wahren Kommunisten auch in dieser schwierigen Situation ihre Ideale von einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft“,253 wie es die DDR für sie offenbar war. Einer Mehrzahl systemtreuer Lehrer standen die gegenüber, die wie z. B. Pädagogen der POS „W. I. Lenin“ in Aue ein Ende der SED - Herrschaft, Wirtschaftsreformen und ein Ende des MfS forderten.254 Überall beklagten Lehrer Anfang November, dass sich die Volksbildung so spät zu Wort gemeldet habe. Sie diskutierten über Veränderungen in der Gesellschaftsstrategie sowie in der Bildungspolitik und forderten ein neues Bildungsgesetz.255 In der Zeitung forderte der populäre sorbische Schriftsteller Jurij Brezan die Anpassung des Schulsystems an die politischen Gegeben247 KDfS Görlitz vom 8.11.1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV 11 000, Bl. 1– 7). 248 Vgl. RdB Potsdam, Bezirksschulrat, an Vorsitzenden vom 13.11.1989 ( Brandenburg. LHA, A /3273); Wir sind das Volk 2, S. 58. 249 Vgl. SED - KL Borna vom 7.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 886, Bl. 112 f.). 250 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 62). 251 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17.11.1989, S. 10. 252 KDfS Stollberg vom 7.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 678, Bl. 61–63). 253 SED - SBL Leipzig - Südost vom 8.11.1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 1–4). 254 Vgl. KDfS Aue vom 2.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 13–16). 255 Vgl. SED - KL Altenburg vom 1.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1066, Bl. 200–205); SED - KL Bautzen vom 2.11.1989 : Bericht ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553).

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heiten, um auch der Jugend in der Schule den geistigen Fortschritt zu ermöglichen.256 Die Diskussionen fanden auch in den Ständigen Kommissionen Bildungswesen der Kreistage257 und auf öffentlichen Foren statt. In Zittau kritisierte ein Geschichtslehrer die Wende - Haltung der Bildungsfunktionäre : „Während gestandenen Lehrern Seele, Knie und Lippen bebten und mancher, zerrissen von Gefühlen zwischen Angst und Zorn, gar nicht sprechen konnte, saß uns auf der Bühne eine Gruppe gegenüber, die lächelnd das mit Beifall beklatschte, was aus dem Auditorium massiv kritisiert wurde und wofür die Mitarbeiter der Abteilung zum Teil persönliche Schuld tragen.“258 Die Lage der Pädagogen war von Unmut und Verunsicherung geprägt. Sie fühlen sich allein gelassen, das Selbstvertrauen vieler war beeinträchtigt. In den SED - Organisationen der Schulen kam es zu heftigen Debatten. Besonders angespannt war die Lage unter Lehrern für Staatsbürgerkunde, Geschichte, Geographie, Deutsch und Heimatkunde, weil hier dringend benötigte neue Richtlinien für eine Abkehr vom ideologisch geprägten Unterricht fehlten. Für zusätzliche Verunsicherung sorgte die Beendigung der marxistisch - leninistischen Weiterbildung.259 Seitens der Volksbildungsministerin Margot Honecker waren hier keine neuen Direktiven zu erwarten. So war die Lage an den Schulen Mitte November teilweise chaotisch. In Beierfeld ( Schwarzenberg ) waren – wie an anderen Schulen nach dem Fall der Mauer – die Klassenzimmer an den Samstagen ziemlich leer. Die Lehrer setzten eine Reduzierung der Schulappelle sowie den Verzicht auf den militärischen Einmarsch der Schüler zum Fahnenappell bei preußischer Marschmusik durch.260 Diskussionsrunden mit Schülern wurden von diesen kaum genutzt. Themen waren hier der Zwang zum Tragen des FDJ - Blauhemdes, zur Abschlussprüfung und zur Teilnahme am SED - Parteiunterricht, genannt Staatsbürgerkunde.261 In einzelnen Kreisen war, wie in Pirna, die Rede von Unruhe und Anarchie.262 Überall wurden Pionierorganisation und FDJ sowie die Jugendweihe in Frage gestellt. Die Rede war vom Vertrauensbruch zwischen Elternhaus und Schule.263 Im Bezirk Dresden spitzte sich die Situation an den Schulen täglich zu. Direktoren und Lehrer warteten vergeblich auf neuen Direktiven des Volksbildungsministeriums. Die Rede war von „anarchistischen Entscheidungen“ der Lehrer. Die Situation führe „zu Disziplinlosigkeit und teilweise katastrophalen Lerneinstellungen, die gipfeln in unentschuldigtem Fehlen, persönlichen Angriffen durch Schüler gegenüber den Lehrern an Wandzeitungen sowie vereinzel256 257 258 259 260 261 262 263

Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 18). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 17.11.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 10.11.1989. Beschlussprotokoll der Sondersitzung des RdB Dresden am 8.11.1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 47115, Bl. 2 f.). Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (HAIT, StKa ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 16.11.1989. Vgl. SED - KL Pirna vom 22.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). Vgl. SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554 und 13555.

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ten Forderungen, dass die von Schülern geleistete Arbeit in der polytechnischen Ausbildung zu bezahlen sei“.264 Auch das MfS registrierte eine „Zunahme von Disziplinlosigkeit ( unentschuldigtes Fehlen ), Resignation ( unter Pädagogen ) und oppositionellem Verhalten ( gegenüber Leitungskadern )“.265 An der EOS „Rainer Fetscher“ in Pirna protestierten Schüler in einem öffentlichen Brief „gegen Schemendenken und die Nötigung zur Doppelzüngigkeit in der Schule“. Sie forderten eine Ende der kommunistischen „Festlegung der Interpretationsrichtung von Kunstwerken in Deutsch, Musik und Kunsterziehung, Staatsbürgerkunde als Philosophie - und Rechtsunterricht“. Stattdessen verlangten sie eine „Vermittlung der Kenntnisse unterschiedlicher philosophischer Anschauungen ohne Zwang zum Bekenntnis“. Gleichzeitig lobten sie hier ihre Direktorin, Kliem, die ein Umdenken der Schüler ermögliche.266 Seit Mitte November häuften sich die Forderungen nach einer Herauslösung der Pionier - und FDJ - Organisation aus den Schulen.267 In Leipzig traten vier Schulen geschlossen aus den „Pionieren“ aus und gründeten einen „Verband freier Schuljugend“.268 Die paramilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“ ( GST ) erklärte am 1. Dezember die vormilitärische Erziehung für abgeschafft. Künftig sei sie eine Organisation mit eigenständigen Sportverbänden.269 1.3

Entwicklung und Bedeutung der neuen politischen Gruppen und Parteien

Neues Forum Das zweite DDR - weite Koordinierungstreffen des Neuen Forums in der Berliner Christuskirche fand am 11. November statt. Bei allem Dissens war man sich einig, dass die SED die Gesellschaft zugrunde gerichtet habe. Das Neue Forum habe die politische Verantwortung in dieser Situation übernommen, nicht nur als Diksussionsplattform, sondern, nach längerer Diskussion mit Mehrheitsbeschluss, auch als wählbare Plattform für freie Wahlen. Die Voraussetzung dafür, ein eigenes Statut und eigenes Programm, wurden in Auftrag gegeben. Die Strukturdebatte wurde ausführlich geführt und mündete in verschiedene Wahlverfahren, aus denen als wichtigstes Entscheidungs - und Vertretungsgremium ein demokratisch legitmierter Republiksprecherrat hervorging. Er löste die Initiativgruppe des Neuen Forums de facto ab, allerdings wurden fünf Mitglieder ( Bärbel Bohley, Jutta Seidel, Erika Drees, Luise Schramm und Jens Reich ) dazugewählt. Für die sächsischen Bezirke wurden Andreas Bochmann ( Karl - Marx Stadt ), Andreas Schönfelder ( Dresden ) und Petra Lux ( Leipzig ) gewählt. Außer264 265 266 267 268 269

SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1–6). BVfS Potsdam vom 16.11.1989 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 86). Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 16.11.1989. StA Marienberg, PB Herr Köhler. Vgl. Die Welt vom 28.11.1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 30.

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dem fanden Wahlen zu Arbeitsgremien statt, die ebenfalls nach Bezirksproporz besetzt wurden.270 Das Treffen machte dennoch erhebliche Meinungsunterschiede in Grundfragen deutlich.271 Sollte sich das Neue Forum als Partei konstituieren oder als basisdemokratische Bürgerbewegung weiterarbeiten ? Sollte es politische Verantwortung übernehmen ? Rolf Henrich warnte davor, sich vom Staat vereinnahmen zu lassen. Bärbel Bohley sprach sich gegen eine Parteibildung aus. Die Teilnehmer einigten sich, zunächst an der Basis zu diskutieren und dann einen Konsens zu suchen. Nach Mitschriften aus den Bezirken herrschte in der Frage der Wahrung der Eigenstaatlichkeit der DDR und ihrer „Entwicklung zu einer lebendigen, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft“ als Voraussetzung für eine künftige Vereinigung über eine Konföderation im europäischen Verbund weitgehender Konsens.272 Wenig Verständnis fand in der Bevölkerung ein Appell der Initiativgruppe, in dem die Bevölkerung vor Konsequenzen der Reisefreiheit und dem System der Bundesrepublik gewarnt wurde: „Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen. Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, lasst Euch jetzt nicht ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen.“273 Der durch die Medien vermittelte Eindruck einer vor allem von Bohley immer wieder postulierten sozialistischen Ausrichtung des Neuen Forums führte bereits kurz nach dem Fall der Mauer in einzelnen Regionen zum Rückgang der Resonanz.274 So dürften die als Ergebnis einer Umfrage ermittelten 22 Prozent Stimmen für das Neue Forum im Falle freier Wahlen,275 wenn sie denn seriös zustande gekommen waren,276 den absoluten Höhepunkt der allgemeinen Akzeptanz markieren. Dass es jetzt bergab ging, dafür sorgten von nun an der neugewählte Republiksprecherrat samt der nicht gänzlich entmachteten Initiativgruppe, aber auch Gleichgesinnte in den Bezirks - , und Kreissprechergruppen. So sprach sich Reinhard Schult am 16. November für Zweistaatlichkeit sowie die Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft aus und nannte mit Blick auf die wachsenden Forderungen der Bevölkerung das „Gerede von der Wieder vereinigung“ „ner vend 270 Vgl. Neues Forum : Zweites DDR - weites Koordinierungstreffen am 11.11.1989 in Berlin ( UB Grohedo ). 271 Vgl. ebd. 272 Republiksprechersitzung am 11.11.1989 in Berlin. In : Neues Forum Magdeburg. 3. Sonderausgabe vom 13.11.1989 ( ABL, H. XVII, Neues Forum ). Vgl. Neues Forum – Sprechertreffen in Berlin am 11.11.1989, Neues Forum Leipzig, Regionalzentrum Grünau, vom 19.11.1989 ( ebd.); KDfS Pirna : DDR - weites Vertretertreffen des Neuen Forums in Berlin, o. D. ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 215). 273 Die Mauer ist gefallen. Für die Initiativgruppe Neues Forum Jens Reich, Sebastian Pflugbeil, Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Eberhard Seidel, Jutta Seidel vom 12.11.1989 (ABL, H. XVII, Neues Forum ). 274 Vgl. MfS, ZOS vom 12.–13.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 164). 275 Vgl. Die SPD im Deutschen Bundestag vom 23.11.1989 : Ergebnisse der Meinungsumfrage stimmen nachdenklich ( ABL, H. IX, SPD ). 276 Meist wichen Umfragen dieser Zeit von den Ergebnissen ab und hatten oft eine suggestive Funktion.

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und widerlich“.277 Bärbel Bohley erklärte : „Wir wollen über uns selbst bestimmen und uns das, was uns 40 Jahre verwehrt wurde, auch nicht von der BRD nehmen lassen“. Ziel sei es, die DDR zu erhalten und zu verändern.278 „Revolutionäre Basisgruppen“ des Neuen Forums meinten am 28. November, Ziel sei eine „gerechtere Gesellschaftsordnung“, in der „nicht die KOHLe das Maß aller Dinge ist“.279 Auch Reinhard Weißhuhn schließlich sah in der Übernahme der Marktwirtschaft keine Lösung für die Wirtschaft der DDR.280 „Selten“, so meint Daniel Friedrich Sturm, „war der mentale Graben zwischen der Bevölkerung und den intellektuell geprägten, elitär denkenden Akteuren in den oppositionellen Gruppen so groß wie in jenen Tagen. Mit den Prinzipien von Freiheit und Menschenrechten hatte Bohleys Haltung wenig zu tun.“281 Genauer müsste man sagen, dass für sie diese Prinzipien ihrer Idee einer gerechteren Gesellschaftsordnung nachgeordnet waren, die es als Alternative zu westlichen Systemen zu erreichen galt. Die programmatische Ausrichtung am Modell eines demokratischen Sozialismus führte das Neue Forum politisch in die Nähe kommunistischer Reformkräfte. So war es nur ein kleiner Schritt, wenn Jens Reich Ende November die Auffassung propagierte, „dauerhafte und auf Erhalt des Sozialismus gerichtete Reformen“ seien ohne die SED nicht möglich.282 Vor diesem Hintergrund kam es auch in Sachsen Ende November öfter vor, dass SED - Mitglieder beim Neuen Forum mitarbeiteten und sogar zu Sprechern gewählt wurden.283 Jedenfalls für die führenden Akteure gilt, dass nie daran gedacht war, die SED zu stürzen : „An Umsturz war nicht gedacht, nicht einmal an einen veritablen Machtwechsel. Die Opposition und die Bürgerbewegungen wollten Impulse für einen Reformprozess geben, der nicht gegen die, sondern mit der SED stattfinden sollte.“284 Während Demonstranten forderten, das Neue Forum möge die Macht im Staate übernehmen – so ertönte Mitte November in Leipzig wiederholt der Ruf „Neues Forum an die Macht !“ – wiesen Vertreter des Neuen Forums dies mit der Begründung zurück, sie seien dafür nicht kompetent genug. Die Zurückhaltung in der Frage der Macht kontrastierte mit der Sicherheit, mit der viele Akteure sich für einen neuen sozialistischen Großversuch aussprachen. Indem sie sich aber selbst für inkompetent erklärten, wiesen sie indirekt der SED diese Aufgabe zu und flüchteten sich in die unorganisierte Verantwortungslosigkeit basisdemokratischer Strukturen. In der Bevölkerung verstärkte sich dadurch der Eindruck, das Neue Forum habe keine brauchbaren Konzepte. 277 278 279 280 281 282

Der Stern vom 16.11.1989. Vgl. Schult, Offen für alle, S. 168 f. Berliner Zeitung vom 25./26.11.1989. Zit. bei Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 19. Vgl. Berliner Zeitung vom 25./26.11.1989; Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 8 f. Sturm, Uneinig, S. 140. MfS, HA XXII : Rapport 273/89 vom 8.–9.11.1989, Info 714/89 zu geplanten Aktivitäten des „Neuen Forums“, o. D. ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 10). 283 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 29.11.1989. 284 Schneider, Die abgetriebene Revolution, S. 80.

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Hinzu kam, dass im Gegensatz zu den Führungsspitzen in Berlin und den Bezirken die politische und thematisch Ausrichtung in den Basisgruppen äußerst unterschiedlich, widersprüchlich und teils inkompatibel war und dieser Kontrast von der nach Orientierung suchenden Bevölkerung natürlich auch so wahrgenommen wurde. Die unverbindliche Uneinheitlichkeit war in der Anfangsphase der entscheidende Vorteil des Neuen Forums gegenüber den anderen Bürgerrechtsgruppen gewesen. Für eine Organisation musste das Konzept programmatischer Weite freilich auf Dauer eine sprengende Wirkung entfalten. In einer Phase rückläufiger Bedeutung des Neuen Forums als Organisator der Proteste stellte sich für die Bewegung die Frage ihrer künftigen Bedeutung. Hier nun gingen die Erwartungen bereits Mitte November soweit auseinander, dass kein Sprecher mehr als Sprecher der gesamten Organisation auftreten konnte. Es gab Auseinandersetzungen und Abgrenzungen jeweils von den Erklärungen, die einzelne Richtungen nicht mitzutragen bereit waren. Der nun vor allem von der Berliner Initiativgruppe betriebene Versuch, das Neue Forum als basisdemokratische Sammelbewebung auf demokratisch - sozialistischen Kurs zu steuern und sich der anwachsenden Volksbewegung für die deutsche Einheit zu widersetzen, leitete – ebenso wie widerstrebende Bemühungen – das Ende der Sammelbewegung und den Übergang der in ihm vorübergehend vereinten Richtungen in politische Parteien ein. Reinhard Schult erinnert sich : „Unsere Leute sind in Leipzig oder Plauen ausgepfiffen worden. Wir in Berlin haben ganz massiven Druck aus Mecklenburg und Sachsen bekommen. Schon irgendwann im November oder Dezember gab es da einen Antrag, dass Bohley, Köppe, Wolfram und ich Redeverbot erhalten sollten. Viele, die neu eingestiegen sind – es war ja längst nicht mehr die alte Szene –, haben Druck auf uns ausgeübt und dem, was sich auf der Straße abspielte, nicht mehr widerstanden.“285 Noch aus der nachträglichen Bewertung spricht die tiefe Kluft zwischen der „alten Szene“ der Oppositionellen aus der Zeit vor der Revolution und der Volksbewegung, hier abwertend als das, „was sich auf der Straße abspielte“, bezeichnet. Anders als die reformsozialistischen Berliner Initiatoren aber verfolgten zahlreiche Akteure im Süden der DDR nie Konzepte eines dritten Weges und Modelle eines demokratischen Sozialismus und standen auch den Zielen und Wünschen der Bevölkerung nicht ablehnend gegenüber. Sie blieben so Wortführer der Bevölkerung,286 entfremdeten sich aber dem Neuen Forum der Richtung Bohleys. Untrennbar verbunden waren die Konflikte um die politische Ausrichtung und die Konstituierung des Neuen Forums als Partei oder Bürgerbewegung.287 Sie wurden auch in Sachsen mit Vehemenz geführt288 und hatten hier eine Stoß285 286 287 288

Zit. bei Geisel, Auf der Suche, S. 73. Vgl. Engler, Stellungen, S. 52. Vgl. MfS, HA III vom 17./18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA III 858, Bl. 141). Vgl. KAfNS Löbau vom 18.11.1989 : Info Großhennersdorf ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 43–45); Liebe Freunde des Neuen Forums ! Karl - Marx - Stadt vom 19.11. 1989 ( ABL, H. XIX /1). Neues Forum, Bewegung für gesellschaftliche Erneuerung in der DDR. Programmatisches Diskussionspapier, gez. Jürgen Tallig vom 22.11.1989 (ebd.).

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richtung gegen die als autoritär empfundenen Vorgaben der Berliner Initiativgruppe.289 Am 2. Dezember trafen sich im Französischen Dom in Berlin die beiden Leitungsgremien des Neuen Forums : der Sprecherrat aus Vertretern der Bezirke und die Initiativgruppe um Bärbel Bohley. Die Runde war von der Sorge geprägt, die Initiative im Lande zu verlieren,290 verlor sich aber ungeachtet dessen in Tagesordnungsdebatten und Diskussionen über die weitere Entwicklung. In wesentlichen Fragen gingen die Meinungen weit auseinander. Die Vertreter der Bezirke vertraten sehr verschiedene Konzepte, einige von ihnen kritisierten die Dominanz der Initiativgruppe, die nicht mehr die Meinung der Basis wiedergebe.291 Der am 11. November gewählte vorläufige Sprecherrat bildete einen Arbeitsausschuss, der die alte Initiativgruppe ablöste. Von nun an trafen sich der Landessprecherrat wöchentlich und der Arbeitsausschuss mehrmals wöchentlich.292 Im Bezirk Dresden fand am 12. November ein von Aktivisten des Neuen Forums organisiertes Koordinierungstreffen statt, zu dem die Leiter von Basisgruppen eingeladen wurden und an dem 45 Personen teilnahmen. Die Mehrheit der Teilnehmer wollte das Neue Forum als demokratische Bürgerbewegung verstanden wissen, die eine Dachorganisation für alle oppositionellen Kräfte bilden sollte. Ansonsten zeigte die Tagung, dass man nicht gedachte, sich an Vorgaben von Bärbel Bohley aus Berlin zu richten. Hier wie andernorts in Sachsen war nicht zu erkennen, dass das Neue Forum dank der ideologischen Vorgaben aus Berlin im Begriff war, seinen politischen Zenit zu übersteigen. So bemühten sich die führenden Aktivisten um den weiteren Ausbau legaler Strukturen, die Verbreitung und Propagierung von Schriften und um Resonanz bei der Bevölkerung.293 Das MfS nannte hier „die bekannten Erstunterzeichner“ Olaf Freund ( Dresden ), Alfred Hempel ( Großschönau ), Ottmar Nickel ( Dresden ), Hanno Schmidt ( Coswig ) und Catrin Ulbricht ( Dresden ).294 Vor allem ging es um eine Erweiterung der Kontaktadressen, die Bildung von Initiativ -, Basis - bzw. Ortsgruppen in Betrieben, Einrichtungen, Städten und Gemeinden sowie um die Formierung überregionaler Arbeitsgruppen, deren vorrangige Aufgabe darin gesehen wurde, gesellschaftliche Mängel aufzudecken, „in den öffentlichen Dialog zu tragen und damit weitere Mitglieder für das ‚Neue Forum‘ zu gewinnen“. Man bemühte sich um eine Vernetzung aller Gruppen untereinander und die wöchentliche Herausgabe einer Zeitung. Um eigene Ziele zu propagieren, verließ man den Schutz der Kirchen und nutzte zunehmend öffentliche Dialoge, 289 Vgl. Kölner Stadt - Anzeiger / Süddeutsche Zeitung vom 15.11.1989. 290 Vgl. taz vom 4.12.1989. 291 Vgl. Dietmar Halbhuber, Rot ? Grün ? Schwarz ? Blau ? Bunt ! Anmerkungen zum 2. Landessprecher - Treffen des Neuen Forums in Berlin. In : Neues Forum 2/1989, S. 1 f. 292 Vgl. Neues Forum, Gründungskonferenz : Rechenschaftsbericht vom 27.1.1990 ( ABL, H. XIX /4). 293 Vgl. BVfS Dresden vom 15.11.1989 : Politische Sammlungsbewegungen ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 29–32); BVfS Dresden, XX vom 29.11.1989 : Einschätzung „Neues Forum“ ( ebd., Bl. 5–9); BVfS Dresden vom 9.–16.11.1989 : Tagesinformation (ebd., AKG 7002, 2, Bl. 148–152). 294 BVfS Dresden, XX vom 29.11.1989 : Neues Forum ( ebd., XX 9195, Bl. 5–9).

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Demonstrationen und Kundgebungen. Durch Sprechchöre, „Sichtelemente“ oder Redner wurde für das Neue Forum geworben.295 Plötzlich wurde dem Neuen Forum auch in den Betrieben angeboten, Aushänge zu machen oder politische Diskussionen zu führen.296 Der Organisationsgrad in den Kreisen war in der zweiten Novemberhälfte uneinheitlich.297 Im Kreis Dippoldiswalde hatte das Neue Forum inzwischen 1800 eingeschriebene Mitglieder. Aktive Gruppen gab es vor allem in Dippoldiswalde, Schellerhau und Bärenfels, aber auch in Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Kultur und des Bauwesens. Im Kreis wurde das Mitteilungsblatt „Aufbruch“ des Neuen Forums Dresden verteilt und vervielfältigt.298 Im Kreis Sebnitz wurde das Neue Forum Neustadt am 15. November vom Rat des Kreises bestätigt und konstituierte sich am 24. November. Hier wirkten vor allem drei Akteure und bemühten sich, Kontakte zu Jugendlichen und Schülern herzustellen.299 Im Kreis Niesky bildete das Neue Forum Basisgruppen in mehreren Gemeinden.300 In Riesa gab es seit dem 15. November ein Kontaktbüro in den Räumen der CDU - Kreisstelle, in dem sich alle Basisgruppen anmelden konnten.301 Im Kreis Löbau bildete das Neue Forum um Andreas Schönfelder in Großhennersdorf einen Organisationsschwerpunkt, der weit über den Ort hinauswirkte.302 In Königsbrück ( Kamenz ) bildeten die Basisgruppen Arbeitsgruppen zu den Themen Ökonomie / Ökologie, Bildungswesen und Rechtssicherheit,303 in Großenhain zu den Themen Recht und Rechtssicherheit, Umweltschutz, Volksbildung, Gesundheits - und Sozialwesen sowie Kultur.304 In Bischofswerda konstituierte sich das Neue Forum am 10. November.305 In Freital fand am 16. November eine Gründungsversammlung des Neuen Forums statt,306 am selben Tag konstituierte sich im VEB Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden eine Betriebsgruppe.307 Eine Betriebsgruppe gründete sich 295 BVfS Dresden vom 15.11.1989 : Politische Sammlungsbewegungen ( ebd., Bl. 29–32). Vgl. BVfS Dresden, XX vom 9.–16.11.1989 : Tagesinformation ( ebd., AKG 7002, 2, Bl. 148–150). 296 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 297 Die hier genannten Aktivitäten sind, bedingt durch die Aktenlage, unvollständig. 298 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 6.12.1989. 299 Vgl. Das Wende - Jahr 1989 in Neustadt / Sachsen ( HAIT, StKa ); Chronologie der Wende, o. D. ( Stadt Neustadt in Sachsen, Heimatmuseum ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 24.11.1989; KDfS Sebnitz vom 16.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 203). 300 Vgl. SED - KL Niesky vom 4.11.1989 : Stimmung ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 301 PB Michael Herold, Riesa. 302 Vgl. KAfNS Löbau vom 18.11.1989 : Großhennersdorf ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 43–45). 303 Vgl. BVfS Dresden, XX vom 9.–16.11.1989 : Tagesinformation ( ebd., Bl. 148). 304 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 29.11.1989. 305 Vgl. Dr. Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda 1227– 1997). 306 Vgl. KDfS Freital vom 16.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 2, Bl. 95 f.). 307 Vgl. BVfS Dresden vom 16.11.1989 : Info vom 9.–16.11.1989 ( ebd., Bl. 148–152).

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auch im Mähdrescherwerk Singwitz ( Bautzen ).308 Eine Initiativgruppe entstand in der Lutherkirche Meißen, die ein enges Zusammenwirken mit Gruppen aus Coswig und Nossen beschloss.309 Im Kreis Görlitz wurden Sach - und Themengruppen organisiert und den Betrieben des Territoriums Kontaktadressen zugeordnet. Im Kreis Zittau gab es dank der Aktivitäten von Pfarrer Lothar Alisch Kontaktadressen in allen größeren Gemeinden sowie in jedem Wohnbezirk der Stadt.310 In Bautzen konstituierte sich eine Arbeitsgruppe „Bauen, Pflegen, Schützen“.311 Da, wo das Neue Forum noch eng mit der Bevölkerung verbunden war, standen meist aktuell - politische Aufgaben sowie vor allem die Lösung kommunaler Probleme auf der Tagesordnung. Allerdings zeichnete sich bereits überall die an unterschiedlichen Zielen ausgerichtete Polarisierung ab. In Bautzen war das Wirken des Neuen Forums im November z. B. vor allem von zwei Themen bestimmt: dem desolaten Zustand der Bautzner Altstadt und dem Militärflugplatz Litten.312 In Klitten ( Niesky ) ging es bei der Gründungsveranstaltung um die Erhaltung des Ortes im Kohleabbaugebiet.313 Ständige Themen waren aktuelle politische Aufgaben wie die Streichung des Artikels 1 der Verfassung, die Forderung nach mehr Demokratie oder eine Reduzierung des Sicherheitsapparates.314 Hinsichtlich der kommenden Verhältnisse dachte man mancherorts pragmatisch und befürwortete eine Mischung der vermeintlichen Vorteile von Sozialismus und Kapitalismus,315 häufiger war allerdings eine Trennung entlang ideologischer Scheidelinien. So erklärte das Neue Forum in Zittau, man wolle nicht den Sozialismus abschaffen, sondern stalinistische Verkrustungen aufbrechen. Hier verwahrte man sich gegen eine „Diffamierung des Neuen Forums als Umsturz - Vereinigung“.316 Auch in Bischofswerda zog man einen „demokratischen Sozialismus, der Leistungen abfordert und konsequente Geborgenheit der Schwachen in der Gesellschaft bietet“ dem „kapitalistischen Wolfsgesetz“ vor.317 In Erklärungen anderer Gruppen und Sprecher war von Sozialismus keine Rede mehr. In Bautzen und Riesa z. B. stellte das Neue Forum Forderungen auf, die auf einen freiheitlich - demokratischen Rechtsstaat zielten und mahnte dazu aktuelle Maßnahmen zur SED - Entmachtung an.318 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318

Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). Vgl. BVfS Dresden vom 15.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 29–32). Vgl. BVfS Dresden, XX vom 29.11.1989 : Neues Forum ( ebd., Bl. 5–9). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 22.11.1989. Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). Vgl. KAfNS Niesky vom 27.11.1989 : Lage in Klitten ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 51). Vgl. KDfS Niesky vom 14.11.1989 : Lage ( ebd. 7002, 2, Bl. 167); KDfS Riesa vom 15.11.1989 : Erklärung „Neues Forum“ Riesa ( ebd., Bl. 85–87). Vgl. BVfS Dresden vom 16.11.1989 : Info vom 9.–16.11.1989 ( ebd., Bl. 148–152). Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 16.11.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 22.11.1989. Vgl. KDfS Riesa vom 15.11.1989 : Erklärung „Neues Forum“ Riesa ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 85–87); Veranstaltung des Neuen Forums am 19.11.1989 in Bautzen ( PB Ronny Heidenreich ).

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Überlagert wurde die Frage der politischen Ziele mit der nach dem künftigen Organisationsprinzip. Etliche Sprechergruppen lehnten eine Umwandlung zur Partei ab. Die Sprechergruppe Riesa verstand das Neue Forum als unabhängiges Kontrollorgan der gesellschaftlichen Prozesse und politische Plattform unterhalb der Parteien - und Massenorganisationsebene.319 In Niesky sollte es eine „Sammlung aller oppositionellen Kräfte“ für Demokratie sein,320 in Großenhain als Bürgerinitiative den Parteien Anstöße geben und als Kontrollfunktion für die örtlichen Volksvertretungen dienen.321 In Freital bekannte es sich zur Basisarbeit und wollte „von unten nach oben arbeiten“.322 Hier gab es aber auch Überlegungen, sich einer neuen Partei wie dem DA anzugliedern.323 Mehrheitlich wurde eine Parteibildung im Bezirk Dresden aber abgelehnt. Bei der Bevölkerung, die mehrheitlich nicht an einer basisdemokratischen Dauerpolitisierung interessiert und auf der Suche nach neuen Führungskräften war, kamen programmatische Zerrissenheit und Machtabstinenz nicht gut an. Laut MfS geriet das Neue Forum vor allem durch die Erklärungen der Berliner Initiativgruppe zunehmend in die Defensive, seine zukünftige Rolle wurde mit Skepsis betrachtet. An der Technischen Universität Dresden meinten Lehrkräfte, Angestellte und Studenten, das Neue Forum sei zwar nicht überflüssig, habe sich aber zum Teil schon überlebt.324 Neben solch skeptischen Tönen gab es aber noch immer eine breite Zustimmung, insbesondere zu dessen Materialien an Wandzeitungen sowie zu Unterschriftensammlungen.325 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Basisgruppen bildeten sich im Bezirk u. a. in Reichenbach,326 Geringswalde ( Rochlitz ),327 Oberlungwitz, Gersdorf und Hermsdorf (Hohenstein - Ernstthal )328 und Sosa ( Aue ).329 In Plauen fand Mitte November eine erste Vollversammlung statt,330 in Limbach - Oberfrohna und Brand - Erbisdorf wurde die Bildung von Arbeitsgruppen bekannt gegeben und zur Mitarbeit aufgerufen.331 Im Kreis Auerbach bestand das Neue Forum des Kreises aus einem Sprecherrat mit fünf Personen und einem festen Kern von etwa 20 Per-

319 Vgl. KDfS Riesa vom 15.11.1989 : Erklärung „Neues Forum“ Riesa ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 85–87). 320 Vgl. KDfS Niesky vom 14.11.1989 : Lageinformation ( ebd., Bl. 167). 321 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 29.11.1989. 322 KDfS Freital vom 16.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 95 f.). 323 Vgl. KAfNS Freital vom 22.11.1989 : Info ( ebd., Bl. 48 f.). 324 Vgl. BVfS Dresden vom 9.–16.11.1989 : Tagesinformation ( ebd., Bl. 148–152). 325 Vgl. BVfS Dresden vom 15.11.1989 : Politische Sammlungsbewegungen ( ebd., XX 9195, Bl. 29–32). 326 Vgl. Landratsamt Reichenbach : Wir sind das Volk – Dokumentation über die Herbsttage 1989 in Reichenbach und Umgebung, S. 80 ( HAIT, StKa ). 327 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 15.11.1989. 328 Vgl. Ereignisse der politischen Wende in Oberlungwitz ( HAIT, Dok. Hoh - I 5). 329 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa ( HAIT, StKa ). 330 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 18.11.1989. 331 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 15.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 25.11.1989.

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sonen. Für die Arbeit in den Kommunen wurden Akteure gesucht.332 Auch in Flöha bemühte man sich um die Gründung von Ortsgruppen und plante thematische Arbeitsgruppen.333 Hier wie andernorts freute man sich beim MfS über die offensichtliche Konzeptionslosigkeit, die der „Festigung staatlicher Positionen“ diene.334 Es war erkennbar, dass die Stärke des Neuen Forums in der Organisierung und Bündelung der Proteste, weniger aber in politischer Zukunftsarbeit lag. Dennoch gab es auch hier, wie z. B. durch das Neue Forum Freiberg, deutliche Bekenntnisse zur Sicherung der „Zukunft des Sozialismus“.335 Häufiger waren vom Neuen Forum im Bezirk allerdings andere Töne zu hören. In Plauen etwa rückte man schnell von sozialistischen Bekenntnissen ab, trat für die deutsche Einheit ein und distanzierte sich ausdrücklich von der Berliner Initiativgruppe.336 Hier schloss sich das Neue Forum sogar einem Gegenaufruf der „Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauens“ an, in dem die Erneuerung des Sozialismus und die Zweistaatlichkeit des Aufrufs „Für unser Land“ entschieden zurückgewiesen wurden.337 In Markneukirchen ( Klingenthal ) rief das Neue Forum zwar dazu auf, die Nationalhymne der DDR wieder zu singen und forderte einen freiheitlich - demokratischen Rechtsstaat, allerdings nicht im Verbund mit der Bundesrepublik, sondern „als freie, aufrechte Bürger eines demokratischen, souveränen Staates“ DDR.338 Wie im Bezirk Dresden tendierten die meisten Gruppen des Neuen Forums auch hier dazu, keine Partei zu bilden,339 räumten aber wie in Flöha ein, dass sich aus einem Teil des Neuen Forums eine Partei formieren könnte.340 Mehrheitlich erfreute sich das Neue Forum auch hier noch einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung, zumal, wenn es sich mehr um kommunale Belange als um die politische Zukunft kümmerte. So sprachen z. B. die Maler - PGHs von Stollberg, Lugau und Auerbach dem Neuen Forum ihr Vertrauen aus und forderten neben freien Wahlen einen besseren Status des Handwerks und der PGHs.341 Bezirk Leipzig : Ähnlich wie in Dresden und Karl - Marx - Stadt war der Organisationsstand im Bezirk Leipzig. Wie in Borna waren Kreissprechergruppen 332 Vgl. KDfS Auerbach vom 10.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 113 f.). 333 Vgl. KDfS Flöha vom 10.11.1989 : Reaktion ( ebd. 532, 2, Bl. 49–51). 334 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 14.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 45–48). 335 Neues Forum Freiberg : Erklärung, o. D. ( KA Freiberg, Akten Nr. 444). 336 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 153; Steffen Kollwitz. In : Lindner, Zum Herbst ’89, S. 136. 337 Für die Menschen in unserem Land. Gegenaufruf der „Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauen“ zu dem Aufruf „Für unser Land“. In : Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk, S. 63–65. 338 Aufruf des Neuen Forums Markneukirchen vom 15.11.1989 ( PB Johannes Sembdner). 339 Liebe Freunde des Neuen Forums ! Karl - Marx - Stadt vom 19.11.1989 ( ABL, H. XIX /1). 340 Vgl. KDfS Flöha vom 10.11.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 49–51). 341 Gemeinsame Stellungnahme und Erklärung, betr. Bürgerinitiative Neues Forum – Standpunkte und Stellungnahme der drei Maler - PGH, Posteingang RdK Stollberg vom 8.11.1989 ( ebd. 678, Bl. 59 f.).

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mit der Bildung von Arbeitsgruppen beschäftigt342 oder führten wie in Altenburg erste Vollversammlungen auf Kreisebene durch.343 Programmatisch liefen vergleichbare Differenzierungsprozesse, wobei die Umweltprobleme fast überall, besonders aber in stark umweltgeschädigten Regionen, ein Thema waren.344 Hauptsächlich aber ging es noch immer um die Abrechnung mit dem SED Regime.345 In Döbeln forderte das Neue Forum „sozialistische Demokratie statt SED - Führungsanspruch und sozialistische Marktwirtschaft statt bisheriger Planwirtschaft“, was aber hier wie andernorts eher als aktuelle Auseinandersetzung denn als endgültige programmatische Aussage zu verstehen war.346 In Leipzig trafen sich am 28. November Vertreter der 30 im Bezirk tätigen Betriebsgruppen. Sie forderten die Trennung von Staat und Wirtschaft, die Abschaffung aller hauptamtlichen Funktionäre von Parteien und Massenorganisationen in den Betrieben, freie Gewerkschaften, Fachkompetenz statt Ideologie als Auswahlkriterium für leitende Kader, die Entmilitarisierung der Betriebe, eine Trennung von FDGB und Feriendienst sowie den Zugang zu Wirtschaftsdaten.347 Organisatorisch neigten die meisten Gruppen im Bezirk dazu, das Neue Forum dauerhaft als basisdemokratische Organisation in Form von Kleingruppen zu erhalten, in denen autonomes, selbstständiges Handeln ohne Anweisung und Anleitung gefragt bleiben sollte.348 In Borna erklärte Hartmut Rüffert, das Neue Forum sei keine Partei, sondern eine Plattform für das konstruktive Gespräch.349 Sozialdemokratische Partei in der DDR ( SDP ) Auf einer Zusammenkunft im Gemeindehaus von Christinendorf wurde Anfang November unter Leitung von Pfarrer Steffen Reiche das taktische Vorgehen und Zusammenwirken von SDP, LDPD und Neuem Forum zur gewaltfreien Entmachtung der SED beraten. In Erwägung gezogen wurde der Eintritt von SDPMitgliedern in die LDPD, um so Volkskammermandate zu erlangen, die „Qualifizierung von SDP - Kadern in der BRD“, die Vorbereitung des 1. Parteitages und die Schaffung eigener Publikationen.350 Das Verhältnis zur SED war für die 342 Vgl. Beantwortung der Fragen ( PB Hartmut Rüffert ). 343 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 7.12.1989. 344 Rede zur Kundgebung des Neuen Forums Borna am 25.11.1989 ( PB Hartmut Rüffert); Ausschnitte der Bornaer Kundgebung des Neuen Forums vom 28.11.1989 ( HAIT, StKa). 345 Vgl. 1. Erklärung Neues Forum Kitzscher ( ebd.). 346 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 16.11.1989; Plate, Döbelner Herbst ’89. 347 Neues Forum Leipzig, Informationsblatt Nr. 8 vom 4.12.1989. 348 Neues Forum, Bewegung für gesellschaftliche Erneuerung in der DDR. Programmatisches Diskussionspapier, gez. Jürgen Tallig vom 22.11.1989 ( ABL, H. XIX /1). 349 Rede zur Kundgebung des Neuen Forums Borna am 25.11.1989 ( PB Hartmut Rüffert). 350 BVfS Potsdam vom 4.–5.11.1989 : Rapport 308 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 20).

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SDP von zentraler Bedeutung, intendierte doch deren Name „Sozialistische Einheitspartei“ bei der Gründung eine Einheit von Sozialdemokraten und Kommunisten. Vor diesem Hintergrund sprach Reiche der SED am 7. November den Führungsanspruch ab und forderte die Wiederaufspaltung der SED in KPD und SPD.351 Aus SED - Sicht, etwa für Modrow, bedeutete die SDP denn umgekehrt auch eine „Spaltung der Arbeiterklasse“.352 Eher für eine Kooperation sprach sich SDP - Vorsitzender und MfS - Einflussagent Ibrahim Böhme aus. Er erklärte am 2. November, man komme an den über zwei Millionen SED - Mitgliedern nicht vorbei. Man müsse sich „die Option mit einer Reform - SED schon auch deshalb offen halten“, weil „keine oppositionelle Gruppe und auch alle Gruppen zusammen nicht über eine abgeschlossene, den Perspektiven dieses Landes entsprechende Programmatik“ verfügen.353 Zur Frage deutsche Einheit oder DDR - Erhalt erklärte Böhme, die SDP strebe als Fernziel ein „einheitliches demokratisches Deutschland in einem entmilitarisierten europäischen Haus“ an. Zunächst müsse es allerdings bei „strikter Zweistaatlichkeit“ bleiben.354 Auch Steffen Reiche erklärte, die SDP trete „für die Beibehaltung der Grenzen innerhalb Europas“ und „die Zweistaatlichkeit Deutschlands“ ein. Für die SDP sei „das Thema Wiedervereinigung völlig unaktuell“.355 Es gab aber auch andere Stimmen. So gab Vorstandsmitglied Konrad Elmer zu bedenken, es gebe eine „schweigende Mehrheit“ für die Wiedervereinigung. Parteien, die sich für dieses Ziel einsetzen, könnten in der DDR relativ stark werden.356 Nicht zu trennen von dieser Frage war die nach dem Verhältnis zur bundesdeutschen SPD, zu der man zunächst keine Beziehungen besonderer Art unterhalten wollte. Anfang November sprach sich Böhme gegen eine Institutionalisierung der Beziehungen zur SPD aus. Denkbar seien Gesprächskreise, wie man sie bereits mit Grünen und Alternativen habe. Überhaupt stehe die SDP in vielen Positionen den Grünen näher als der Sozialdemokratie.357 Dennoch gab es Kontakte. So traf sich Reiche am 3. November mit einem Vertreter des SPD - Bundesvorstandes,358 und die Friedrich - Ebert - Stiftung begann mit einer umfangreichen Unterstützung der SDP. Es wurden Seminare, Tagungen sowie die Bereitstellung von Informationsmaterial geplant.359 Insgesamt blieb man im Parteivorstand der SPD jedoch zurückhaltend und forderte die Parteigliederungen am 17. November dringend auf, keine Kontakte zur sich bildenden SDP aufzunehmen. Diese sei in vielen Teilen der DDR noch im Aufbau begriffen und dürfe nicht durch 351 Vgl. BVfS Potsdam vom 7.11.1989 ( ebd., Bl. 35). 352 Ausführungen Hans Modrows anlässlich der Diensteinführung von Wolfgang Schwanitz als Leiter des AfNS am 21.11.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 4886). 353 taz vom 2.11.1989. 354 Vorwärts von November 1989. 355 Berliner Zeitung vom 24.11.1989. 356 Die Welt vom 13.11.1989. 357 Interview mit Ibrahim Böhme. In : taz vom 2.11.1989. 358 Vgl. BVfS Potsdam vom 4.–5.11.1989 : Rapport 308 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 20). 359 Vgl. MfS, HA III vom 3.–4.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA III 858, Bl. 37).

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Kontakte belastet werden. Auf diese Weise versuchte die SPD den Eindruck einer Fernsteuerung der SDP durch die SPD zu vermeiden,360 hätte das doch international als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR verstanden werden können. Eine Einmischung aber widersprach dem Kurs der SPD, die Entscheidung über die gemeinsame oder getrennte Zukunft allein vom Votum der DDR- Bevölkerung und dort frei gewählten Gremien abhängig zu machen. Generell meinte man in Bonn, die SDP habe mit ihren Grundsätzen einen politischen Handlungsrahmen erarbeitet, „der den Kern dessen trifft, was die DDR- Bevölkerung an Veränderungen fordert und erwartet“.361 Ähnlich dachte man in der SDP und hoffte, wie z. B. in Potsdam, bei freien Wahlen „in einem zu schaffenden Block von Bürgerinitiativen ( als Gegenpol zur Nationalen Front ) die Führungsrolle und nach 1991 als Regierungspartei die Macht zu übernehmen“.362 Bezirk Dresden : In diesem Sinne strebte die SDP auch im Bezirk Dresden nach Strukturierung, Offizialisierung und Vergrößerung der Einflusssphären. In Dresden informierte Annemarie Müller am 9. November über Statut und Programm der SDP, worauf ca. 200 Personen ihren Beitritt erklärten.363 Als wesentliche Inhalte wurden hier die Wiedervereinigung „im Sinne von ganz Europa“, die Ablehnung der Führungsrolle der SED sowie Verfassungsreformen und Neuwahlen diskutiert.364 Die SDP strebte keine Wiedervereinigung an, forderte die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR durch die Bundesregierung und wollte einen neuartigen Weg der sozialen Entwicklung mit sozialistischer freier Marktwirtschaft einschlagen. Allerdings gingen in der Dresdner SDP in dieser Frage die Meinungen weit auseinander. Alte Sozialdemokraten wie Gerhard Brenn drängten auf eine rasche Einheit, während jüngere auf eine reformierte DDR setzten.365 Für den 16. oder 17. November wurde eine Gründungsveranstaltung der SDP im Kulturpalast Dresden geplant, wobei es Auseinandersetzungen über die Besetzung des Vorstandes gab. Uneinheitlich war nach Erkenntnissen des MfS in den einzelnen Gruppen auch der Standpunkt zur Frage der Wiedervereinigung.366 Hinsichtlich des Vorsitzes der Dresdner SDP versuchte Angelika Barbe zwischen Brenn und dem Ehepaar Müller zu vermitteln. Brenn schlug schließlich als Kompromisskandidaten Frank Heltzig vor.367 Am 24. November fand schließlich im Kulturpalast Dresden die bislang größte Informationsveranstaltung der SDP mit über 2 000 Teilnehmern statt.368 Die Dresdner 360 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 18.11.1989. 361 Zit. in Die SPD im Deutschen Bundestag vom 23.11.1989 : Ergebnisse der Meinungsumfrage stimmen nachdenklich ( ABL, H. IX, SPD ). 362 BVfS Potsdam vom 10.11.1989 ( BStU, ASt. Potsdam, AKG 1750, Bl. 47). 363 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 254 f. 364 BVfS Dresden vom 15.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, XX 9195, Bl. 29–32). 365 Vgl. Sturm, Uneinig, S. 140. 366 Vgl. BVfS Dresden vom 9.–16.11.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 148–152). 367 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 256 f. 368 Vgl. Fiedler, Die Anfänge der Sozialdemokratie, S. 93–97.

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Aktivitäten hatten Bedeutung sowohl für die Stadt als auch als Grundlage für die künftige Bezirksstruktur. Daneben entwickelten sich aber auch in den Kreisen SDP - Organisationen. Am 23. November bildete sich auf Initiative von Brenn eine SDP - Ortsgruppe in Radebeul ( Dresden - Land ),369 was dort von Anhängern Müllers nicht gern gesehen wurde. Der Streit um die Führung in der Dresdner SDP eskalierte bei einer Sitzung des Stadtvorstandes am 28. November. Brenn wurde nicht als Sprecher anerkannt. Auch Heltzig teilte hier die Ansichten Brenns nur bedingt. Zwar wollte auch er die Einheit Deutschlands, doch hatte er „ein moderneres Parteienverständnis als Gerhard Brenn, der noch dem Bild der Sozialdemokraten als Kampfpartei verhaftet war“.370 In Schmiedeberg ( Dippoldiswalde ) gab es in dieser Zeit Aktivitäten zur Bildung eines Kreisverbandes. Im kleinen Kreis fanden Abendversammlungen statt und wurden Mitglieder geworben.371 In Pirna gab es Ende November eine SDPKontaktstelle. Der Pfarrer von Berggießhübel, Michael Winkel, war maßgeblich an der Herausbildung von Kreisstrukturen beteiligt. Noch gehörte Mut dazu, sich zur illegalen SDP zu bekennen und wie in Pirna Flugblätter zu verbreiten, auf denen ein Sozialstaat mit ökologischer Orientierung, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, strikte Religions - und Gewissensfreiheit, soziale Marktwirtschaft, betriebliche Mitbestimmung und die Förderung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften verlangt wurden. Hier wurde auch schon der Wunsch nach deutscher Einheit mittels konföderativer Strukturen geäußert.372 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt lagen Anfang November im „Kontaktbüro der Bürgerinitiativen“ Listen des Neuen Forums, von Bürgerinitiativen und der SDP aus. Ca. 70 SDP - Interessenten aus Karl - Marx - Stadt und Umgebung trafen sich daraufhin am 7. November zur ersten Versammlung im Pfarrhaus der Lukas Gemeinde. Geschäftsführer Dieter Häcker schilderte kurz den Weg von der „Initiativgruppe zur Gründung der SDP in Karl - Marx - Stadt“ zum provisorischen Bezirksvorstand und stellte die Mitglieder vor. Es wurden Beitrittsformulare ausgegeben und zur Unterschriftensammlung für einen Volksentscheid zur Änderung von Artikel 1 der Verfassung aufgerufen.373 Die Initiativgruppe wurde von den Anwesenden als Führungsgremium für den Bezirk Karl - Marx - Stadt bestätigt. Informiert wurde ebenso über die Bildung unterschiedlicher Ortsgruppen der SDP in verschiedenen Kreisen des Bezirkes.374 Unabhängig von der Initiativgruppe um Häcker kam es in der Stadt zu einer weiteren SDP - Gründung durch Mitarbeiter der Stadtmission um Volkmar Zschocke. Erst später wurden beide Initiativen im Rahmen der sich herausbildenden Parteistruktur 369 370 371 372 373 374

Vgl. BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 259. Vgl. Herrmann, Die Anfänge, S. 89–92. Vgl. Fiedler, Die Anfänge, S. 93–97. Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 10.11.1989 : Informationen des IM „Anett Friedrich“ (BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 9).

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zusammengeführt.375 Neben der Bildung von Ortsgruppen gab es auch Bestrebungen zur Gründung von Betriebsgruppen, etwa im VEB Tiefbau und im Büro des Stadtarchitekten.376 In Freiberg konstituierte sich am 12. November eine SDP - Gruppe, die sich nun regelmäßig traf.377 In Plauen entstand vier Tage später eine Gruppe.378 Diese erweiterte sich kontinuierlich und trat mit Sprechern bei den Demonstrationen auf. Bei einer ersten öffentlichen Veranstaltung am 30. November wurden ca. 50 Personen Mitglieder, darunter Rolf Schwanitz.379 In Markneukirchen ( Klingenthal ) wurde am 30. November eine Ortsgruppe gebildet,380 in Schwarzenberg konstituierte sich am 11. November ein Vorbereitungsausschuss zur SDP - Gründung im Kreis.381 Bezirk Leipzig : In Leipzig wurde am 7. November in Anwesenheit von 200– 300 Personen der Stadtverband der SDP gegründet und Karl - August Kamilli zum Vorsitzenden gewählt. Stellvertreter wurden Andreas Schurig und Thomas Lipp. Auf Listen konnte man sich als Parteimitglied anmelden und für Arbeitskreise registrieren lassen. Strittig war u. a. die Schaffung von Betriebs - und Ortsgruppen. Man einigte sich auf Stadtbezirksgruppen. Betriebsgruppen wurden abgelehnt, weil man gerade gegen die Betriebsstrukturen der SED zu Felde zog.382 Zur Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms wurden Ende November Arbeitsgruppen gebildet. Daneben galt bis Ende des Jahres das besondere Augenmerk dem Aufbau der Organisation in der Stadt, ab Anfang 1990 im Bezirk Leipzig. Die Ortsvereine waren nach Stadtteilen organisiert. Um sie besser in die Arbeit einzubinden, wurde Ende November ein „Parteirat“ gebildet, in den jeder Ortsverein ein Mitglied entsandte. Bis zum ersten Kreisparteitag Anfang Februar 1990 war formal gesehen der Parteirat das höchste beschlussfassende Gremium.383

375 Vgl. Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. 376 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt, XX vom 3.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 3). 377 Vgl. Lersow, Von der Bürgerbewegung, S. 27–40; Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. 378 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 21.11.1989. 379 Vgl. Kätzel, Die SPD im Vogtland, S. 128–131. 380 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 6.12.1989. 381 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 14.11.1989; Häcker, Die Wiedergründung, S. 116–127. 382 Vgl. Demo - Reminiszensen ( pro vocation 1), S. 67; BVfS Leipzig vom 9.11.1989 : Tagesbericht. Zit. in Stasi intern, S. 270; BVfS Leipzig, XX vom 14.11.1989 : Bericht des IM „Wolfgang“ über das Treffen der SDP in Leipzig ( ABL, H. VIII ); Motzer, Die Gründung, S. 229–234; Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160; Manhenke, Erinnerungen, S. 182–200; Schulze, Rückblick, S. 164–167; Schurig, Die Anfangsphase, S. 201–206. 383 Vgl. Voss, Aufbruch und Stagnation, S. 178–181.

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Demokratischer Aufbruch ( DA ) Am 4. November beschloss der DA - Vorstand auf DDR - Ebene, einen Gründungsparteitag abzuhalten. Schnur wollte größere Wirksamkeit erzielen als Neues Forum und SDP. Der DA sollte sich nach MfS - Informationen mit einem klaren marktwirtschaftlichen Konzept zur Partei des Mittelstandes entwickeln und auch ehemalige SED - Mitglieder gewinnen.384 Mitte November reisten Schnur und Eppelmann nach Bonn, nachdem Vertreter der Bundesregierung Interesse an Kontakten signalisiert hatten.385 Zuvor hatte Schorlemmer sich öffentlich dafür ausgesprochen, „die Mauer, dort wo keine Durchgänge sind, noch ein bisschen bestehen“ zu lassen.386 Am 17. November traf Schnur mit Kanzleramtsminister Seiters, Außenminister Genscher sowie den FDP - Politikern Mischnick, Baum und Hirsch zusammen. Hier erklärte er, die Zurückhaltung des DA und anderer Gruppen in Sachen Wiedervereinigung dürfe keinesfalls als Absage verstanden werden. Sie rühre aus der Befürchtung, das Thema könne den Demokratisierungsprozess in der DDR belasten. Eine solche Position sei bis vor kurzem durch die noch immer herrschende SED kriminalisiert worden. Daher habe sich eine öffentliche Meinung zum Thema noch nicht bilden können.387 Öffentlich erklärte er, der DA halte an einer „Vision des Sozialismus“ in der DDR fest.388 Eppelmann sprach sich hingegen in Bonn für eine offene Erörterung der Frage der Wiedervereinigung aus.389 Am 27. November gab Schnur bekannt, dass sich der DA am 16. und 17. Dezember als Partei konstituieren werde.390 Auch Anfang Dezember waren die Stimmen aus der DA Spitze heterogen und widersprüchlich. Nachdem sich Schnur und Eppelmann mit Kohl und Seiters getroffen hatten, fuhr Edelbert Richter Anfang Dezember nach Bonn, um sich „ausdrücklich nur mit Vertretern der SPD und der Grünen zu treffen“.391 In einer gemeinsamen Erklärung mit dem Neuen Forum und der SDP befürwortete der DA die spätere Einheit eines blockfreien Deutschland auf dem Wege über eine Konföderation.392 Zwei Tage später schlug der DA die Einberufung einer „Deutschen Nationalversammlung“ vor.393 Eppelmann meinte am 10. Dezember, es werde zu einer „Republik Deutschland“ kommen, und es gelte, die willkürliche Teilung zu überwinden.394 In der „Jungen Welt“ plädierte er zur gleichen Zeit für den Erhalt der DDR samt Staatseigentum als einer gesell384 Vgl. MfS, Leiter der HA VI, Berlin, an Stellvertreter des Ministers vom 8.11.1989 ( BStU, ZA, Neiber 195, Bl. 54–57). 385 Vgl. MfS, HA III vom 17./18.11.1989 : Lage ( ebd., HA III 858, Bl. 140). 386 Zit. in taz vom 14.11.1989. 387 Vgl. FAZ vom 18.11.1989. 388 Zit. bei Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 5 f. 389 Vgl. FAZ vom 25.11.1989. 390 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 11. 391 Richter, Erlangte Einheit, S. 40. 392 Thema Nummer 1 – Wieder vereinigung ? Demokratischer Aufbruch, Neues Forum, Sozialdemokratische Partei. Leipzig am 1.12.1989 ( ABL, H. XIX /1). 393 Vgl. FAZ vom 4.12.1989. 394 RTL vom 10.12.1989 um 18.05 Uhr.

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schaftlichen Alternative zur „kapitalistischen“ BRD. Das waren widersprüchliche Signale, die aus dem programmatischen Umbruch des DA resultierten. Um, so Eppelmann, die „inaktive Mehrheit“ „nicht den Rechten in die Arme zu treiben, müssen wir uns ihren Wünschen, Empfindungen, Erwartungen stellen“. Es könne „uns Linken nicht gleichgültig sein, was 70 Prozent der Bevölkerung bewegt. Sonst sorgen sich die anderen um sie.“395 Wohl deshalb strich der Vorstand des DA am 12. Dezember das Wort „sozialistisch“ aus dem Parteiprogramm.396 Bezirk Dresden : Der DA führte am 7. November in der Herz - Jesu - Kirche in Dresden eine erste öffentliche Informations - und Mitgliederversammlung durch.397 Hier ging es u. a. um die Zusammenarbeit mit dem Neuen Forum. Erstmals tauchte die Formulierung des DA als „Partei im Neuen Forum“ auf. Man strebte eine enge Zusammenarbeit an. Das Neue Forum sollte als basisdemokratische Plattform fungieren, während der DA als Partei an Wahlen teilnehmen und in Parlamenten vertreten sein sollte. Jürgen Bönninger beriet sich deswegen mit Hanno Schmidt vom Neuen Forum. Vor allem Hans Geisler wollte den DA als „Partei im Neuen Forum“ profilieren. Am 17. November kündigten Neues Forum und DA Dresden an, den DA als Partei zu gründen, um die Ziele des Neuen Forums wirksamer vertreten zu können. Parallel dazu sollten jedoch die Aktivitäten des Neuen Forums als Plattform weitergeführt werden. Am 25. November verabschiedeten DA und Neues Forum ein gemeinsames Aktionsprogramm, das die Fusion beider Organisationen nach Vollversammlungen in den Stadtbezirken auf einem Bezirkstreffen am 9. Dezember und einem Treffen aller Bezirke im Raum Sachsen am 16. Dezember vorsah. Das Aktionsprogramm wurde nie umgesetzt, da sich die Zentralen des Neuen Forums und des DA gegen die Fusion aussprachen.398 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 11. November konstituierte sich in Karl - Marx Stadt der Bezirksvorstand des DA, der kleinsten sächsischen DA - Organisation. Die 13 stimmberechtigten Mitglieder wählten einen vierköpfigen Vorstand. Vorsitzender wurde Jürgen Eschrich, Sprecher Wolf - Dieter Beyer.399 Inhaltliche Zeichen setzte der Bezirksverband am 9. Dezember mit einem Aufruf zur demokratischen Erneuerung der Gewerkschaften.400 Der DA war Mitglied in der „Demokratisch - Oppositionellen - Plattform“, in der sich seit dem 16. November die Oppositionskräfte in Karl - Marx - Stadt zusammenfanden. Schon zuvor war in einigen Kreisen wie in Hainichen auf Flugblättern für den DA geworben worden.401 Mitte November bildeten sich vereinzelt, wie z. B. in Adorf und 395 396 397 398 399 400

Interview mit Rainer Eppelmann. In : Junge Welt vom 9./10.12.1989. Radio DDR vom 13.12.1989 um 12.02 Uhr. Vgl. Eppelmann, Wendewege, S. 96. Vgl. Die Union vom 9.11.1989. Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 266 f. Vgl. Freie Presse vom 13.11.1989; Der Demokratische Aufbruch, S. 45. Aufruf des BV DA Karl - Marx - Stadt zur demokratischen Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit vom 9.12.1989 ( PB Wolf - Dieter Beyer ). 401 Vgl. KDfS Hainichen vom 6.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 12– 14).

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Bad Elster ( Oelsnitz ) Gruppen des DA.402 In Königswalde konstituierte sich am 7. Dezember der DA für den Kreis Werdau.403 Bezirk Leipzig : Der Leipziger DA hatte seine Wurzeln in der kirchlichen Friedensbewegung.404 Die Kirchliche Hochschule in Leipzig spielte eine wesentliche Rolle. Erste Arbeitsgruppen des DA bildeten sich durch Projekte zu den Themen Umwelt und Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Eine dieser Gruppen, die vom Pfarrer und Dozenten am Theologischen Seminar, Harald Wagner, betreut wurde, mündete direkt in den DA ein. Am 9. November fand in der Leipziger Trinitatiskirche eine Gründungsversammlung statt, bei der eine Koordinierungsgruppe gebildet wurde.405 Demokratie Jetzt ( DJ ) In der Oppositionsgruppe Demokratie Jetzt ( DJ ) bildeten sich im Laufe des November erste Strukturen heraus. DJ arbeitete noch immer ohne Büros, Funktionäre und Zugang zu den Medien, verteilte aber ungenehmigte Flugblätter, auf denen Kontaktadressen und Positionen verbreitet wurden. Es gab teilweise personelle Strukturen. Auf allen Ebenen existierten vereinzelte Gremien, die Kontakt untereinander hielten und interimistische Sprecher ernannten.406 In den programmatischen Aussagen war seit November eine „merkliche inhaltliche Relativierung der ursprünglichen reformsozialistischen Orientierung“407 festzustellen. Fortan verzichtete man auf den Begriff „Sozialismus“. Der Sprecher von DJ, Wolfgang Ullmann, erklärte, wenn es zu einer politischen Einheit Deutschlands komme, dann müsse dies in einer Form geschehen, die es so bisher nicht gegeben habe. Eine Vereinigung im Sinne der Präambel des Grundgesetzes schloss er aus.408 In einer DDR - weit verbreiteten Erklärung wurde eine Volksabstimmung darüber vorgeschlagen, ob die SED weiterhin eine führende Rolle innehaben solle oder ob „die DDR zukünftig einen pluralistischen Sozialismus auf der Basis der freien Übereinkunft aller sozialen und politischen Kräfte anstreben sollte“. In diesem Fall sollten freie Wahlen stattfinden. DJ erklärte, keine Partei und keine Vereinigung mit festen Mitgliedschaften sein, sondern mit Aktionen, Aufrufen und Reformvorschlägen die öffentliche Willensbildung und die Selbstorganisation gesellschaftlicher Kräfte anregen und fördern zu wol-

402 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 18.11.1989. 403 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 12.12.1989; Georg Meusel, Wunde Punkte – Wendepunkte ( HAIT, Werdau ). 404 Vgl. Fiedler, Demokratischer Aufbruch, S. 59–62. 405 Erika Becher wurde erste Vorsitzende des Leipziger DA. 406 Situation von „Demokratie Jetzt“ (20.11.1989). Nach Informationen des Mitinitiators Werner Wiemann. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 19./20.11.1989. 407 Kühnel / Wielgohs / Schulz, Die neuen politischen Gruppierungen, S. 35. 408 taz vom 18.11.1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 105.

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len.409 Regionale Gruppen gab es in Sachsen kaum, lediglich aus Dippoldiswalde ist eine DJ - Basisgruppe bekannt, die Unterschriften für einen Volksentscheid zur Änderung des Artikels 1 der Verfassung sammelte.410 Vereinigte Linke Am 5. November forderte die „Initiativgruppe für eine vereinigte Linke“ einen radikalen Umbruch der Gesellschaft in Richtung Sozialismus auf der Grundlage einer tatsächlichen Vergesellschaftung der Wirtschaft durch „Aneignung des Staatseigentums durch das Volk“411 und einer betrieblichen Selbstverwaltung. Am selben Tag bildete ein Koordinierungsausschuss der Vereinigten Linken in der Berliner Umweltbibliothek einen Sprecherrat und eine Redaktionsgruppe.412 Die Grünen Am 29. Oktober gründete „Arche“ laut MfS in der Kirche Berlin - Friedrichsfelde die Partei „Die Grünen“.413 Das war wohl etwas voreilig geschlussfolgert, denn erst am 5. November trat in der Bekenntniskirche in Berlin - Treptow eine Initiativgruppe mit einem Gründungsaufruf zur Grünen Partei an die Öffentlichkeit und stellte sich „auf die Seite aller Kräfte, die sich für Demokratie und Freiheit durch tiefgreifende Reformen in unserem Land einsetzen“.414 Es kam zu Protesten derer, die gegen eine Parteibildung und für die Beibehaltung parteiunabhängiger Organisationsformen plädierten, so dass es nicht zum formalen Gründungsakt kam.415 Dieser erfolgte erst am 24. November im Rahmen des 6. Berliner Ökologie - Seminars. Hier nun gründeten rund 150 Angehörige verschiedener Umweltgruppen die „Grüne Partei in der DDR“, die sich „über den nationalen Rahmen hinaus als Teil der globalen, insbesondere der europäischen Bewegung der Grünen“ sowie als „ökologisch, feministisch und gewaltfrei“ ver409 Demokratie Jetzt, Zeitung der Bürgerbewegung, Nr. 4 von November 1989 ( UB Grohedo, PB Pfarrer Reinhard Müller, Weißwasser ). 410 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 18./19.11.1989. 411 Mitteilung der Koordinierungsgruppe der „Initiativgruppe für eine vereinigte Linke“ : Ein radikaler Umbruch in Richtung Sozialismus. In : Wir sind das Volk 2, Hoffnung ’89, S. 74 f.; Eckert, Die Aktivitäten, S. 700–702. 412 Vgl. MfS, ZOS vom 5.–6.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 78). 413 BVfS Berlin vom 28.–29.10.1989 : Rapport ( BStU, ASt. Berlin, A 995, Bl. 38). Vgl. BVfS Berlin, XX /7 : Gründung der Partei „Die Grünen“ am 29.10.1989 in Berlin - Friedrichsfelde ( ebd., Bl. 40). Zur Gesamtentwicklung vgl. Eckert, Die Aktivitäten, S. 696–698. 414 Zit. in MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7.11.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 248. Wir sind das Volk 2, Hoffnung ’89, S. 71–73; Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 186–188. 415 Vgl. Fernsehmagazin Report Baden - Baden vom 3. 2.1992; FAZ vom 4. 2.1992; MfS, ZOS vom 5.–6.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 78).

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stand.416 Die Protagonisten der Grünen wollten vermeiden, die Bewegung in eine Partei und in ein Netzwerk aus Basisgruppen zerfallen zu lassen, die nichts miteinander zu tun hatten. Deshalb wurde bewusst gleichzeitig und an den gleichen Ort eingeladen zu Gründung einer Grünen Partei und der Initiative Grüne Liga. Beide Gruppierungen wurden als zwei Seiten einer Medaille verstanden.417 Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Grüne Partei noch kaum über eine ausgebaute Organisationsstruktur und Mitgliederbasis.418 In Sachsen kam es Anfang Dezember vereinzelt zu Gründungsinitiativen, die sich nicht unbedingt als Teil der Grünen Partei verstanden. In Borna konstituierte sich am 5. Dezember die Gründungsinitiative für einen Kreisverband der Grünen.419 In Delitzsch konstituierte sich Ende Dezember die Öko - Gruppe des Neuen Forums als „Grüne Alternative“ und erklärte, eine Arbeit auf Kreisebene anzustreben sowie mit Öko - Gruppen in Bitterfeld zusammenarbeiten zu wollen.420 In Dresden fanden sich Vertreter mehrerer Ökologie - Kreise zur Bildung der Grünen Liga zusammen.421 Die Grüne Partei sprach sich am 8. Dezember für die Bildung einer deutschen Konföderation, ein Bündnis linker demokratischer Kräfte und den „Erhalt der sozialistischen Errungenschaften der DDR“ aus.422 Diese Orientierung fand sich auch in ihren Wahlkampfmaterialen wieder.423 Unabhängiger Frauenverband ( UFV ) Am 26. November wandte sich ein Initiativkomitee zur Gründung eines autonomen Frauenverbandes mit einem Aufruf an die Frauen der DDR.424 Im Berliner Theater „Volksbühne“ wurde am 3. Dezember nach einem Aufruf der „lila offensive“ ein Unabhängiger Frauenverband gegründet.425 Unter dem Motto : „Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd“ wurde ein „Manifest für eine autonome Frauenbewegung“426 verabschiedet. Im Dezember forderte der UFV in einem Schreiben an Modrow die Einsetzung von Gleichstellungsbeauftragten

416 Informationen des BMB 22 vom 1.12.1989, S. 28. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 6 f. Vgl. Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 45 f. 417 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 349. 418 Erklärung der Gründungsinitiative für eine Grüne Partei in der DDR. In : Rein, Die Opposition, S. 119–121. Vgl. Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 65. 419 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 7.12.1989. 420 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 5.1.1990. 421 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 351. 422 Erklärung der Grünen Partei in der DDR zur deutschen Frage vom 8.12.1989. In : Die Knospe. Informationsblatt zur Politik der Grünen, (1989) 2. Vgl. Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 61. 423 SLUB, 1 D 145, Mappe Grüne Partei, Unabhängige Frauen / Flugblattsammlung Mappe Bündnis 90, Grüne, Demokratie Jetzt. 424 Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 10; Eckert, Die Aktivitäten, S. 698–700. 425 Neues Deutschland vom 4.12.1989. Vgl. Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 62. 426 Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 41–46.

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auf allen parlamentarischen und exekutiven Ebenen, in der Regierung mit den Kompetenzen einer Ministerin.427 Koordinierungsversuche sowie regionale Gruppen und Bürgerinitiativen Seit Anfang November bemühten sich die neuen politischen Gruppen um ein koordiniertes Vorgehen. Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, das Grüne Netzwerk Arche, die Initiative Frieden und Menschenrechte, die Initiativgruppe Vereinigte Linke Berlin, das Neue Forum und die SDP veröffentlichten Anfang November eine Gemeinsame Erklärung, in der eine Verfassungsreform, freie Wahlen, eine politische Willensbildung ohne festgeschriebene Führungsrolle der SED sowie Versammlungs - , Vereinigungs - und Pressefreiheit gefordert wurden.428 Andererseits war man sich darüber einig, sich trotz gemeinsamen Vorgehens bei kommenden Wahlen nicht zusammenzuschließen, da ein gewisser Pluralismus gebraucht werde. Auch war man sich klar darüber, nicht die Gesamtbevölkerung zu repräsentieren.429 Im Bezirk Dresden registrierte das MfS „zunehmende Aktivitäten hinsichtlich eines koordinierten und abgestimmten Vorgehens“ der Gruppen, die so als „Einheitsfront“ erscheinen wollten.430 Auf einem Koordinierungstreffen in Dresden forderten Vertreter der Gruppe der 20, von Demokratie Jetzt, dem Neuen Forum, des DA, der Demokratischen Erneuerung, der SDP sowie der Ökumenischen Friedenskreise und des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke am 4. November eine Volksabstimmung über die führende Rolle der SED, die Zulassung demokratischer Gruppen und Organisationen, den sofortigen Rücktritt der Regierung und ein neues Wahlrecht.431 Am 9. November trafen sich erneut Mitglieder verschiedener Gruppen in der Trinitatisgemeinde.432 Vergleichbare Tendenzen gab es im Bezirk Karl - Marx - Stadt. In der Bezirkshauptstadt bildete sich im Kontaktbüro der Bürgerinitiativen am 16. November eine „Demokratische Oppositionelle Plattform“ ( DOP ), die oppositionelle Gruppierungen und thematische Bürgerinitiativen auf Stadtebene umfasste. Sie diente nach eigenem Verständnis der Koordinierung und der Abgrenzung von den Blockparteien. Sie wollte die Opposition bis zu freien Wahlen vertreten und umfasste je zwei Vertreter des Neuen Forums, des DA, der SDP und der Vereinigten Linken. Die Plattform bezeichnete die Stadtverordnetenversammlung als

427 428 429 430 431 432

Abgedruckt in Kahlau, Aufbruch, S. 78 f., 82–84. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 56. Vgl. MfS, ZAIG, Nr. 496/89 vom 7.11.1989. In : Mitter / Wolle, Ich liebe, S. 248. Vgl. BVfS Dresden vom 7.–8.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, XX 9186, Bl. 39–42). Vgl. Resolution, Dresden vom 4.11.1989. Abgedruckt in Wir sind das Volk 2, S. 70 f. Info über die Einschätzung zum Treffen am 9.11.1989 von Mitgliedern verschiedener oppositioneller Gruppen in der Trinitatisgemeinde ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 22, 72–77, 134–136).

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provisorisch und sich selbst als Mittler zur Bevölkerung.433 Auch auf Veranstaltungen in Kreisen traten neue Gruppen oft gemeinsam in Erscheinung. In der Stadtkirche Mittweida ( Hainichen ) etwa stellten sich am 9. November das Neue Forum, der DA, Demokratie Jetzt und die SDP gemeinsam vor.434 In Leipzig befür worteten Neues Forum, DA und SDP gemeinsam eine spätere Einheit Deutschland auf dem Wege einer Konföderation.435 Noch immer wurden die Gruppen vom MfS observiert, unterwandert und „zersetzt“. Allerdings änderten sich mit der revolutionären Entwicklung auch die Bewertungsmaßstäbe. Habe man, so die Bezirksverwaltung des MfS Leipzig, bislang „Andersdenkende“ mit Feinden gleichgesetzt, so wurden politische Gegner, Andersdenkende oder oppositionelle Kräfte, „selbst wenn sie dem Sozialismus ablehnend gegenüberstehen“, nun nicht mehr als Feinde bezeichnet, solange sie nicht „aktiv zur Beseitigung der sozialistischen Verfassungsgrundlagen tätig“ wurden. Feinde waren für das MfS nun neben faschistischen und terroristischen Gruppierungen „solche, die auf den Sturz unserer Republik hinarbeiten“. Diese Feinde galt es weiterhin „zu bekämpfen“.436 Für eine Vielzahl sozialistischer und auf Erhalt der DDR orientierter Gruppen galt nun der Feind - Status nicht mehr. Das MfS folgte damit der Auffassung Modrows, wonach alle Kräfte zu bekämpfen seien, die mit ihrem Eintreten für freiheitlichdemokratische Verhältnisse und deutsche Einheit das Ziel einer Erneuerung des Sozialismus in der DDR unterminierten. Dieses Raster galt nun auch für die – neben den überregionalen Gruppen – entstehenden unterschiedlichen Gruppen und Initiativen in Kommunen und Kreisen, deren Bildung regionalen Akteuren und örtlichen Entwicklungen zu verdanken war.437 Im Bezirk Dresden entstand z. B. eine parteiunabhängige „Initiativgruppe Mitsprache Sebnitz“, die für eine demokratisch - pluralistische Gesellschaft und eine bürgernahe Arbeit eintrat.438 Sie galt demnach als Feind. In Bischofswerda war ein Arbeitskreis „Kirche und Mitwelt“ der evangelischen Kirchgemeinde aktiv,439 in Freital konstituierte sich die „Gruppe der 25“, die auf Grund persönlicher Querelen vom Neuen Forum nicht kontaktiert wurde.440 Im Kreis Großenhain konstituierte sich am 29. November der Gründungsausschuss eines Verbandes der Landjugend, der aktiv an der Erneuerung des Sozialismus mitwirken wollte,441 also nach neuer Lesart kein Feind war. In 433 Vgl. Die Union vom 17.11.1989; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 98. 434 Vgl. KDfS Hainichen vom 1.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1, Bl. 16–19). 435 Thema Nummer 1 – Wieder vereinigung ? Demokratischer Aufbruch, Neues Forum, Sozialdemokratische Partei, Leipzig vom 1.12.1989 ( ABL, H. XIX /1). 436 BVfS Leipzig vom 11.11.1989 : Verhältnis zu Andersdenkenden ( BStU, ASt. Leipzig, AKG 31, Bl. 2–4). 437 Vgl. Bruckmeier, Die Bürgerbewegungen, S. 33. 438 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 15. 2.1990. 439 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 17.11.1989. 440 Vgl. KDfS Freital : „Gruppe der 25“ in Freital am 13.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 2, Bl. 113 f.); KANS Freital vom 22.11.1989 : Info ( ebd., Bl. 48 f.). 441 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 30.11.1989.

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Kamenz und Niesky konstituierten sich wie in anderen Orten Ende November weitere Bürgerforen oder Bürgerinitiativen.442 In Görlitz trat im Dezember eine „Aktion katholischer Christen“ als politisches Forum ins Leben.443 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt gab es in verschiedenen Kommunen Bürgerinitiativen und - vereine, so etwa in Bergen ( Auerbach )444 oder in Lichtenstein ( Hohenstein - Ernstthal ) die Bürgerinitiative „Suchet der Stadt Bestes“.445 In Thum ( Zschopau ) sprach sich eine Bürgerinitiative für ein einiges Deutschland aus.446 In Meerane gab es einen Aufruf zur Bildung des Bürgervereins „Meerane 90“, der sich die kommunale Entwicklung zur Aufgabe stellte.447 In Freiberg gründete sich eine „Basisgruppe Konkret Freiberg“, deren Ziele eine Wirtschaftsreform, mehr Umweltschutz, Reformen in der Volksbildung und eine bessere Kulturarbeit waren.448 Überliefert ist die Satzung der Bürgerinitiative Klingenthal von Mitte November, die bestrebt war, Beschlüsse der Stadtverordnetenvertretung hinsichtlich nicht parteigebundener politischer Meinungsbildung zu beeinflussen und Bürger zur Mitarbeit in der Stadt zu gewinnen.449 Laut Pfarrer Frank Meinel strebte die Initiative u. a. einen freiheitlich - demokratischen Sozialismus mit Rechtssicherheit, Pressefreiheit, gemeinsamer Machtausübung, Demonstrationsrecht, Verbindung von Ökonomie und Ökologie in einer souveränen DDR an.450 In Plauen trat Anfang November die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“ mit Demonstrationsaufrufen in Erscheinung.451 Hier gab es auch eine Gruppe der 20 aus Vertretern verschiedener Bürgerinitiativen, auch des Neuen Forums.452 In Reichenbach konstituierte sich eine Unabhängige Untersuchungskommission aus Vertretern aller Parteien und des Neuen Forums.453 In Zschopau bildete eine Bürgerinitiative Arbeitsgruppen zu den Themen „Demokratisierung“, „Wirtschaft“, „Stadtentwicklung / Umweltschutz“, „Kultur“ sowie „Jugend und Erziehung“.454 Ähnlich vielfältige Initiativen gab es im Bezirk 442 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 17.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 6.12.1989. 443 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.12.1989. 444 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 138. 445 Vgl. MfS, ZOS vom 4.–5.11.1989 : Demonstrationen, Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 102 f.). 446 Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1.11.1989–30. 3.1990 ( StA Zschopau, unverzeichnet ). 447 Aufruf Bürger verein „Meerane 90“ – nur eine Vision ? In : Meeraner Blatt vom 31.12.1989. 448 Basisgruppe Konkret Freiberg, ( StA Freiberg ). 449 Satzung der Bürgerinitiative Klingenthal ( Entwurf ), o. D. ( Evang. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 450 Was will die Bürgerinitiative ? Pfarrer Frank Meinel für die Bürgerinitiative Klingenthal. In : Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 16.11.1989. 451 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4.11.1989 : Info über eine in Plauen verbreitete Erklärung einer „Initiative zur demokratischen Umgestaltung“ ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 471, Bl. 118–120). 452 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 10.11.1989. 453 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 16.11.1989. 454 Vgl. PB Matthias Zwarg ( HAIT Staatskanzlei ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 8.11.1989.

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Leipzig, wo u. a. am 22. November eine „Fraueninitiative Leipzig“ ins Leben trat.455 In einigen Kreisen kam es, ebenfalls neben den Strukturen der überregionalen Gruppen, zu regionalen Organisationsformen. In Werdau riefen DA und Neues Forum zur Wahl eines Bürgerrates für den südlichen Teil des Kreises auf.456 In Auerbach bildete sich bereits Ende Oktober eine Bürgerinitiative des Kreises vor allem aus Mitgliedern funktionierender Bürgerrechtsgruppen aus Treuen, Auerbach und Ellefeld. Sie führte Gespräche mit den Blockparteien, dem Rat des Kreises, der SED - Kreisleitung sowie Kirchenvertretern und bildete einen Sprecherrat. Sie forderte die Aufgabe des Machtmonopols der SED, den Rücktritt der Regierung sowie freie Wahlen und sprach sich für eine wachsende Bedeutung der Noch - Blockparteien aus.457 Parallel zu den diversen Bürgerinitiativen entwickelten sich die Organisationen der überregionalen Gruppierungen wie DA, DJ, VL, Die Grünen oder Unabhängiger Frauenverband. Hier erfolgte die Bildung eher „von oben nach unten“. 1.4

Entwicklung in der SED (17.–25.11.)

Aufdeckung von Korruption und Amtsmissbrauch Seit dem Bericht der „Berliner Zeitung“ über den Bau eines Einfamilienhauses des Vorsitzenden des Zentralvorstandes der IG Metall, Gerhard Nennstiel (SED) am 31. Oktober hatten sich Meldungen und Diskussionen über Amtsmissbrauch und Korruption leitender Funktionäre gemehrt.458 In der Folgzeit waren Privilegien von SED - Funktionären überall in Kreisen und Kommunen Thema bei Protesten. Grundstücke, Gästehäuser, Jagden und andere Vorrechte der „Bonzen“ trieben die Menschen um, die selbst auf jedes Ersatzteil lange warten mussten. Angesichts einer Flut von Eingaben schlug Generalstaatsanwalt Günter Wendland der Volkskammer am 10. November die Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch vor,459 den diese am 13. November auch beschloss.460 Er konstituierte sich am 22. November.461 Bis zum 24. November lagen zudem bei der Staatsanwaltschaft 189 Eingaben und Anzeigen wegen Amtsmissbrauch und Korruption vor, unter anderem gegen 25 Spitzenpolitiker. Die Kriminalpolizei führte bereits Ermittlungen gegen 17 Personen, darunter die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen Suhl, Rostock und Erfurt. In den folgenden zwei Wochen schnellte die Zahl der Fäl455 456 457 458 459 460 461

Vgl. Matzke, Der zweite Teil der Revolution, S. 175. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 9.12.1989. Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende vom 14. 2.1999 ( HAIT, StKa ). Neues Deutschland vom 8.11.1989. Vgl. Kap. III.4.8. Vgl. Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 94. Vgl. Klemm, Korruption, S. 7. Vorstand : Claus Dieter Knöf ler ( LDPD ), Gustav Adolf Schur ( SED ), Heinrich Toeplitz ( CDU ), Wilhelm Weißgärber ( DBD ), Volker Klemm ( NDPD ).

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le in die Höhe.462 Noch am 22. November teilte Schalck - Golodkowski mit, der Export von Antiquitäten und Gebrauchtwaren sei mit sofortiger Wirkung eingestellt worden.463 Am 23. November berichtete ein Kamerateam des DDR Fernsehens vor Ort über die Waldsiedlung des Politbüros in Wandlitz. Bereits seit Mitte November war dort „allzu provozierender Luxus“ aus den Häusern ausgebaut worden.464 Rund hundert Paletten mit hochwertigen Konsumgütern aus westlicher Produktion, u. a. noch verpackte japanische Unterhaltungselektronik, wurden kurz vor dem Pressetermin mit vier Lastzügen in aller Eile abtransportiert und in ein Depot des MfS in das Zweiglager Bohnsdorf der Forum - Handels GmbH in der Nähe Berlins verbracht.465 Den Journalisten wurde von den Wandlitzer MfS - Angestellten suggeriert, es habe keine besonderen Privilegien gegeben. Daraufhin stellte der Volkskammer - Untersuchungsausschuss in Wandlitz eigene Recherchen an, deren Ergebnisse alle vorher bestehenden Gerüchte noch übertrafen.466 Schalck - Golodkowski erklärt am 30. November, der Bereich Kommerzielle Koordinierung habe auf Weisung Honeckers jährlich etwa sechs Mio. Valutamark für die Versorgung von Wandlitz bereitzustellen gehabt.467 Diese Berichte, die Vertuschungsaktionen sowie folgende Informationen über Privilegien weiterer Funktionäre heizten die Stimmung weiter an. Am 23. November berichtete die DDR - Presse über das 100 Hektar große, eingezäunte Jagdrevier und das Luxus - Blockhaus von Harry Tisch im Kreis Ribnitz - Damgarten. Spezialisten mussten hier demnach für einen erstklassigen Wildacker mit Mais und anderen Kulturen für die Mast des Wildes sorgen, das ausschließlich für Tisch und seine Gäste zum Abschuss zur Verfügung stand. Nur für die Jagd standen dem Chef der eine Gewerkschaft simulierenden Massenorganisation 35 Forstarbeiter und ein umfangreicher Fahrzeugpark bereit.468 Am 28. November folgte ein ADN - Bericht über ein Grundstück Willi Stophs inmitten des Naturschutzgebietes an der Müritz. Im Bericht hieß es : „Das in gediegener Holzeinfassung gehaltene große Haus steht inmitten eines Parks, der auch noch einem größeren Bungalow und einem Pavillon Platz bietet. Obstplantagen, ein Gemüsegarten, Gewächshäuser, Wirtschaftsgebäude, Garagen sowie eine klarsichtüberdachte Schwimmhalle und Wildkühlräume grenzen an. [...] Nach Angaben einiger Bediensteter, zu denen drei Gärtner gehörten, hätte der Besitzer seine Lieblingsmöbel und andere Dinge bereits mit Lkw abgeholt. [...] Auf Drängen lässt man uns ins Haus mit seinen fünf Bädern, den Armaturen, die fast ausnahmslos aus westlicher Produktion stammen, den vielen Wohn - und Schlafzimmern, den Küchen, dem Videoraum und der Bar im Keller. Letztendlich öffnen sich uns auch die restlichen Keller462 463 464 465

Vgl. Klemm, Korruption, S. 27. Vgl. Das Volk vom 23.11.1989. Hein, Die fünfte Grundrechenart, S. 208. Aussage des Direktors des Lagers Bohnsdorf, Otmar Klotsch. In : Berliner Zeitung vom 28.11.1989. 466 Vgl. Klemm, Korruption, S. 34. 467 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 25. 468 Vgl. Tribüne vom 24.11.1989.

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türen. Mehr als zehn sehr große Kühlschränke stehen dort. [...] Hunderte Flaschen feinster ausländischer Weine und Spirituosen lagern neben leeren Kartons, in denen Werkzeuge und Computerzubehör aus der BRD verpackt waren.“469 Parallel zu den Berichten über „das schöne Leben der Bonzen“ wurden auch in Bezirken, Kreisen und Kommunen Kommissionen zur Untersuchung von Amtsmissbrauch, Bereicherung und Korruption gebildet.470 Das Neue Forum lud vielerorts zur Diskussion über Amtsmissbrauch ein.471 In Sachsen gab es unter anderem in Löbau Untersuchungen über den Bau am Haus des Betriebsdirektors des VE Kreisbaubetriebs.472 In Pirna musste sich die Vorsitzende der Kreisplanungskommission mit Vorwürfen der persönlichen Bereicherung auseinandersetzen.473 In Hohenstein - Ernstthal gab es unter Arbeitern der VEB Nickelhütte Diskussionen, warum man selber 14 Jahre auf einen Trabant warten müsse, der regionale Volkskammerabgeordnete aber alle fünf Jahre einen Trabant de luxe erhalte. Dem Leiter des Betriebes wurde die Nutzung von Betriebstechnik für den Bau seines Eigenheimes vorgeworfen.474 Überall kochte die Stimmung hoch und machte sich in Anschuldigungen gegenüber Funktionären Luft. Im VEB Kraftverkehr Hohenstein - Ernstthal und im VEB Bunttrikotagen Callenberg gab es Proteste gegen Privilegien der Betriebsleiter.475 Die Bevölkerung verlangte, „mit allen, die sich an der Gesellschaft in irgend einer Weise bereicherten, auf Kosten anderer lebten und sich Sonderrechte einräumten, sollte ‚aufgeräumt‘ werden.“476 In Geithain wurde Ende November eine „Unabhängige Untersuchungskommission zur Aufklärung von Amtsmissbrauch und Korruption“ gebildet.477 Reaktionen an der SED - Basis Eine Woche nach dem Fall der Mauer wurde die Stimmung gegen SED - Mitglieder immer aggressiver. Dem gesamten SED - Apparat wurden Korruption und Unglaubwürdigkeit vorgeworfen. Hinzu kamen immer neue Vor würfe wegen der Wahlfälschungen bei den ohnehin nur simulierten Kommunalwahlen im Mai 1989.478 Es gab wachsende Bestrebungen, die SED und ihre Kampfgruppen aus 469 Berliner Zeitung vom 29.11.1989. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 17 f. 470 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 2.12.1989; Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 20.1.1990. 471 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 13.12.1989. 472 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 2.11.1989. 473 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 18./19.11.1989. 474 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 12–15). 475 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 4.11.1989 : Info ( ebd., Bl. 22–24). 476 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 10.11.1989 : Reaktionen ( ebd., Bl. 4–6). 477 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 28.11.1989. 478 Vgl. SED - KL Sebnitz vom 22.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554, Bl. 1–3).

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den Betrieben zu verbannen.479 In den Kreisen verbreiteten persönliche Angriffe „Angst und Unruhe“. Es gab Beschimpfungen wie „Kommunistenschweine“, „rote Hunde“ oder „rote Schweine“.480 Die SED war kaum noch aktionsfähig. Sie wurde durch den Gang der Ereignisse getrieben. Es gab Auf lösungserscheinungen, und es bildeten sich unterschiedliche Richtungen heraus. Die Lage in der SED in Sachsen eine Woche nach dem Fall der Mauer geben Berichte aus den Kreisen wieder. Im Großenhainer Kreisverband war die Lage „gespannt und spitzt[ e ] sich von Tag zu Tag zu“. Die Führungstätigkeit der Kreisleitung war „nur noch teilweise gewährleistet“, und es gelang nicht, „den Zusammenhalt unter den Gen. wieder herzustellen“.481 In Zittau war die Rede von „Enttäuschung, Unsicherheit und Vertrauensverlust zur Partei“.482 Die SED- Kreisleitung Görlitz - Land befasste sich mit der „Begrenzung des Zerfalls der Partei“.483 Im Kreis Bischofswerda wurde eine neue Partei gefordert, „die nicht mehr den Namen SED trägt, die aber von neuen Genossen geführt und von einer neuen Politik bestimmt wird, so dass man sich als Kommunist wieder bekennen kann“.484 In Großenhain gab es Forderungen nach „strengster Bestrafung der für diesen Zustand verantwortlichen Genossen des Politbüros“. Misswirtschaft, Privilegienkonzeption, Unterversorgung, ein wuchernder Staatsapparat, Unterdrückung und Bevormundung, all das, so hieß es plötzlich nach 40 Jahren Diktatur, habe nichts mit Sozialismus zu tun.485 Die SED - Bezirksleitung Dresden meldete dem ZK, es sei nicht gelungen, die Parteikollektive zu stabilisieren und aus der Defensive zu führen. Immer mehr Mitglieder meinten, „dass die SED nicht mehr in der Lage sein wird, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen“.486 In Leipzig konstatierte die SED - Stadtleitung, die SED verliere täglich an Kraft, wobei „die schärfsten Angriffe aus den eigenen Reihen“ kämen. Es gebe Zweifel, ob es möglich sei, die SED in der jetzigen Form zu erhalten, oder ob man eine neue kommunistische Partei brauche.487 Auch in anderen Bezirken war die Lage nicht anders. In Schwerin meinte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, man könne sich das ganze Ausmaß dessen, was auf die SED zukomme, noch gar nicht voll vorstellen.488 Der SED479 Vgl. SED - SL Leipzig vom 20.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 53 f.). 480 SED-KL Bautzen vom 23.11.1989: Lage bei den Mitgliederversammlungen (SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); SED - KL Freital vom 23.11.1989 : Lage ( ebd.); SED - KL Borna an SED - BL Leipzig vom 22.11.1989 : Lageeinschätzung ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 138 f.). 481 SED - KL Großenhain vom 17.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 482 Standpunkt des Sekretariats der SED - KL Zittau. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 17.11.1989. 483 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.11.1989. 484 SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1–6). 485 SED - KL vom 15.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 486 SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1–6). 487 SED - SL Leipzig vom 20.11.1989 : Info zur Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 53 f.). 488 Standpunkt des Vorsitzenden des RdB, Fleck, betr. Bezirksdelegiertenkonferenz der SED im RdB vom 24.11.1989 ( MLHA, BT / RdB Schwerin, Z 9/90 58).

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BPO - Sekretär eines Rates des Kreises in Thüringen sah die SED „vor dem Abgrund“. „Im Zentrum der revolutionären Veränderungen“ stehe die Frage nach der führenden Rolle der Partei. „Ohne unsere SED“ aber „würde es keine DDR geben, kein einziges Jahr“. Die führende Rolle der marxistisch - leninistischen Partei sei „objektiv notwendig für den Aufbau des Sozialismus“. Deshalb müsse man „zueinander finden“ und „aus eigener Kraft aus dieser verfluchten Lage herauskommen“.489 Kennzeichnend für die Lage an der SED - Basis war die Delegierung der Verantwortung an die Parteiführung. Die Diskussionen in den SED - Gruppen zeigten, „dass eine Kollektivschuld der Partei an der entstandenen Lage abgelehnt und eine schonungslose Aufdeckung und Bestrafung der verantwortlichen Funktionäre verlangt“ wurde.490 „Einfache Genossen“ zeigten sich empört über den Machtmissbrauch von Spitzenfunktionären, distanzierten sich öffentlich491 und zeigten ihr Unverständnis darüber, „wie zwei Genossen die Partei und das ganze Land in absolutistischer Selbstherrschaft regieren konnten“.492 Korruption und Amtsmissbrauch führender Funktionäre wurden kritisiert, als hätte nicht jeder DDR - Bewohner von der privilegierten Stellung der meisten SED - Mitglieder und der allgemeinen Neigung der „Genossen“ gewusst, sich über andere zu erheben. Auch SED - Kreisleitungen distanzierten sich allerorten von der Politik der Parteiführung und forderten eine strenge Bestrafung der Schuldigen. Entsprechend wurde das Aktionsprogramm der 10. Tagung des ZK meist als unzureichend bezeichnet und die Einberufung eines Sonderparteitages gefordert, um eine neue Führung zu bestimmen.493 Die Schuld an der kritischen Lage, so das Sekretariat der Kreisleitung Zittau, trügen „nicht die über zwei Millionen Kommunisten“, sondern „die alte Führung unserer Partei, die sich von den Mitgliedern löste, verselbstständigte und bürokratisch administrativ leitete“. Sie allein sei zur Verantwortung zu ziehen.494 Mitglieder, „die bisher nie selbstständig ihren Standpunkt geäußert“ hatten, protestierten dagegen, mit den Funktionären „in einen Topf gesteckt“ zu werden. Sie hätten „doch immer ihren guten Willen gezeigt und gearbeitet [...] im Sinne der Umsetzung der Beschlüsse unserer Partei“. Nun sähen sie sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht und Vorwürfen aus den Kollektiven ausgesetzt. Sie hätten „an der Basis ehrlich 489 Rede des Vorsitzenden der BPO der SED des RdK auf der Gesamtmitgliederversammlung der BPO am 25.11.1989 ( ThHSTA, 040899). 490 SED - BL Frankfurt / Oder vom 21.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 491 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 29.11.1989. 492 SED - BL Frankfurt / Oder vom 15.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 493 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 17./18.11.1989 : Weitere Aufgaben der Kreisparteiorganisation ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2./3.12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 18./19.11.1989. 494 Standpunkt des Sekretariats der SED - KL Zittau. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 17.11.1989.

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gekämpft“ und betonten, dass „sie keine Schuld tragen“.495 Unter dem Druck der Vorwürfe wurde Günter Mittag am 23. November aus der SED ausgeschlossen und ein Parteiverfahren gegen Honecker eingeleitet.496 Gleichzeitig wurde der Parteiausschluss des ehemaligen Leiters des Aufbau - Verlages, Walter Janka, rückgängig gemacht.497 Angesichts der Tatsache, dass eine Mitgliedschaft inzwischen keine Vorteile, sondern eher Vorwürfe einbrachte, verließen Mitläufer scharenweise die Partei. Etliche Grundorganisationen lösten sich mangels Masse auf.498 Im Bezirk Dresden gab es vom 1. September bis 22. November 1989 insgesamt 18 931 Abgänge von Mitgliedern und Kandidaten der SED, das waren 9,7 Prozent. Dadurch wurden 153 Grundorganisationen aufgelöst (3,0 %).499 Allerdings war das Ende der Austrittsbewegung noch lange nicht erreicht, und die Masse der Mitglieder stand zur SED. Im Kreis Auerbach z. B. sank die Zahl der SED - Mitglieder von 6 800 am 26. Oktober auf 5 877 am 19. November, um sich Ende Mai 1990 bei etwa 700 Mitgliedern einzupegeln.500 Austrittsschwerpunkte waren Betriebsparteiorganisationen in der Industrie, im Bauwesen und in der Landwirtschaft.501 Hier gab es, wie z. B. im Stahl - und Walzwerk Riesa Probleme bei der „Beschaffung einer angemessenen Tätigkeit für ehemalige Funktionäre“, die von den Kollegen einfach nur noch „abgelehnt“ würden.502 Parallel zur Austrittsbewegung dauerte der Rücktritt von Funktionären auf Kreis - und kommunaler Ebene an. Neben dem Rücktritt ganzer Sekretariate traten fast überall auch die Kreisvorsitzenden oder - vorstände der FDJ oder des FDGB bzw. Vorsitzende und Mitglieder der Räte der Kreise und Kommunen zurück.503 Einzeln aufgeführt werden im Folgenden nur Rücktritte 1. Sekretäre der SED - Kreisleitungen, wobei diese stets mit dem Rücktritt anderer Sekretäre verbunden waren. In Bischofswerda trat am 17. November die 1. Sekretärin, Hannelore Strugalla, zurück. Nachfolger wurde das Mitglied der SED 495 SED - KL Bischofswerda vom 20.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 496 Vgl. Mittag, Um jeden Preis, S. 15; Janson, Totengräber, S. 262. 497 Vgl. Berliner Zeitung vom 24.11.1989. Janka war 1957 aus politischen Gründen inhaftiert worden. 498 Vgl. SED - KL Kamenz vom 17.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); SED - KL Zittau vom 17.11.1989 : Lage ( ebd.); SED - KL Löbau vom 22.11.1989 : Lage (ebd.); SED - KL Bautzen vom 23.11.1989 ( ebd., 13555); SED - KL Wurzen vom 21.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 889, Bl. 187 f.); SED - KL Borna vom 22.11.1989 : Lage ( ebd., 886, Bl. 138 f.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 18./19.11.1989. 499 Vgl. SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1– 6). 500 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 130. 501 Vgl. SED - KL Pirna vom 22.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 502 SED - KL Riesa vom 22.11.1989 : Lage ( ebd.). 503 Vgl. SED - KL Bautzen vom 19.11.1989 : Lage ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 21.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 18./ 19.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 21.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 21.11.1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 18./19.11.1989.

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Kreisleitung, Klaus Richter.504 Im Kreis Dresden - Land trat Dieter Breu zurück und wurde durch Andreas Koschmann ersetzt.505 Am 18. November trat in Freital Klaus Jentzsch zurück und wurde durch Steffen Pest ersetzt.506 In Niesky wurde Hans Lucas durch Christian Leim ersetzt.507 In Pirna wurde am 19. November Frank Jung neuer 1. Sekretär.508 In Zittau wurde nach dem Rücktritt von Günter Löff ler am 14. November Rita Kockisch gewählt.509 Die SED Kreisleitung Meißen berief Bernd Schmidt ab.510 In Klingenthal trat am 23. November das gesamte Sekretariat der Kreisleitung zurück. Nachfolger des am 13. November zurückgetretenen Günther Straube wurde Thomas Zuber.511 In Delitzsch trat am 21. November ebenfalls das gesamte Sekretariat zurück. Bis zur Kreisdelegiertenkonferenz blieben der bisherige 1. Sekretär, Gerhard Kießling, und weitere Funktionäre im Amt.512 Die Folge der Rücktritte unterschiedlichster Funktionäre, die sich ja bei weitem nicht auf die Kreisebene beschränkten, war deren weitgehende Verunsicherung über ihre künftige Tätigkeit. Viele Funktionäre hatten keinen Beruf, waren Berufskommunisten, und suchten nun angesichts der begonnenen Schrumpfung des parasitären Apparates nach neuer Beschäftigung. Etwas anders als bei Parteifunktionären war die Lage bei der SED angehörenden Staatsfunktionären wie z. B. Bürgermeistern. Viele von ihnen traten in der Hoffnung aus der SED aus, auf diese Weise ihre Ämter zu retten.513 Die SED - Kreisleitung Dippoldiswalde wies auf „karrieristische Bestrebungen“ bei ausgetretenen Genossen hin. Diese wollten so ihre Funktionen verteidigen bzw. sich für künftige Leitungsfunktionen „salonfähig“ machen.514 Parallel zur allgemeinen Absetzbewegung gab es Bestrebungen und Beratungen über eine programmatische und organisatorische Neuorientierung. Kreisleitungen beschlossen dazu Arbeitsprogramme und formulierten in Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages Forderungen. Die Arbeitsprogramme mussten nun auf Gesamtmitglieder versammlungen bestätigt werden. Zur Durchsetzung der neuen Ausrichtung und Organisation der Partei sollten diese Delegierte für die für Anfang Dezember vorgesehenen Kreisdelegiertenkonferenzen wählen. Bei denen sollte es erstmals in der Geschichte der SED zur 504 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 17./18.11.1989 : Weitere Aufgaben der Kreisparteiorganisation ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 18./19.11.1989. 505 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 18./19.11.1989. 506 Vgl. Beschlussprotokoll der Sonderberatungen des RdK Freital vom 20.–22.11.1989 (KA Landratsamt Weißeritzkreis, unverzeichnet ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 21.11.1989. 507 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 21.11.1989. 508 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 21.11.1989. 509 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 25./26.11.1989. 510 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 18.11.1999. 511 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 28.11.1989. 512 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 23.11.1989. 513 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 18./19.11.1989. 514 SED - BL Dresden vom 22.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 1–6).

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freien Direktwahl der Delegierten zum außerordentlichen Parteitag kommen515 Hier und auf dem Sonderparteitag sollte über die Zukunft der in sich nicht mehr homogenen Partei entschieden werden. Auf den Mitglieder versammlungen konnten die Mitglieder erstmals Vorschläge ohne Gefahr persönlicher Konsequenzen unterbreiten. Flankierend fanden an verschiedenen Orten SED - Kundgebungen statt, auf denen die unterschiedlichen Strömungen in der SED zu Wort kamen.516 Häufig formulierte Ziele in den Arbeitsprogrammen der Kreisleitungen war es, „auf der Grundlage einer tiefgreifenden Erneuerung unserer marxistisch leninistischen Partei“ das „Vertrauen in die eigene Kraft und bei den Mitbürgern wieder zu erringen“ und nun „einen besseren, einen demokratischen Sozialismus“ zu schaffen. Oft wurde dies mit der Forderung nach einer neuen „Partei der Arbeiterklasse“ mit neuem Programm, Statut, Strukturen, Kadern und einer anderen Stellung gegenüber anderen politischen Kräften verbunden.517 Es gab aber auch Kreisleitungen, die trotz Neuwahl der Spitze Maßnahmen beschlossen, die nur wenig Veränderungswillen erkennen ließen,518 und deshalb, wie z. B. im VEB Görlitzer Maschinenbau durch eine Gesamtmitglieder versammlung abgelehnt wurden.519 Um was es für die SED ging, formulierte der neue 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Bautzen, Hans - Jürgen Steindl. Es gehe darum, den Sozialismus so zu gestalten, „dass er von der Mehrheit des Volkes getragen wird, sonst können wir von der SED in 10 Jahren nur noch in der Vergangenheit sprechen“.520 Ziel vieler Mitglieder war weiterhin die „führende Rolle“ in Staat und Gesellschaft. Äußerungen wie, die SED müsse sich bei Neuwahlen auf eine Rolle als Oppositionspartei gefasst machen, führten noch zu Protesten.521 Orientierungspunkte für die parteiinternen Diskussionen waren in dieser Lage die Regierungserklärung Modrows522 und eine Rede von SED - Chef Krenz am 23. November, bei der er einen „Sozialismus in Farben der DDR“ propagierte. Erkennbares Ziel der SED war es, nun in Anlehnung an beide Funktionäre, „alle Kräfte, die den Sozialismus wollen, die bereit sind zu verändern im Sinne der besseren Ausgestaltung des Sozialismus in den Farben der

515 Vgl. SED - KL Borna vom 17.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 133); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 21.11.1989. 516 Vgl. SED - KL Kamenz vom 17.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 517 SED - KL Bischofswerda vom 17./18.11.1989 : Weitere Aufgaben der Kreisparteiorganisation ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). Vgl. Standpunkt des Sekretariats der SED - KL Zittau. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 17.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 18./19.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2./3.12.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 22.11.1989. 518 Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 27); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 21.11.1989. 519 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 29.11.1989. 520 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 25./26.11.1989. 521 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 25./26.11.1989. 522 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 21.11.1989.

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DDR zu vereinen“.523 Überall gab es nun Bereitschaftserklärungen, mit allen politischen Kräften zusammenzuwirken, „die für einen demokratischen Sozialismus eintreten“.524 Abgelehnt wurde dabei von vielen Mitgliedern eine „Erneuerung um jeden Preis“, nur „weil da drei Halbwilde auf der Straße rumschreien“.525 Entwicklung in der FDJ Großzügig zeigten sich Anfang November 1. Sekretäre von FDJ - Kreisleitungen und Jugendfunktionäre der SED bei einer Diskussionsveranstaltung in Zittau. Die FDJ sei zu „radikalen Veränderungen“ innerhalb der FDJ und sogar zur „Zusammenarbeit mit allen“ bereit, „denen der Sozialismus und die DDR am Herzen liegen“.526 Auch in Dippoldiswalde veröffentlichte der 1. Sekretär der FDJ - Kreisleitung einen 10 - Punkte Plan zur Verbesserung der Jugendarbeit der FDJ, die nun „einen modernen Sozialismus etablieren“ und „ein wirklicher Interessenvertreter der Jugend sein“ wollte.527 Noch war den Funktionären nicht klar, dass ihre sozialistisch gesinnte Zielgruppe recht klein war und die FDJ als „Kampfreser ve“ der SED der Entwicklung ebenfalls hinterherhinkte. Überall gab es nun Bereitschaft und Vorschläge zur Erneuerung der FDJ.528 Am 7. November verabschiedete schließlich das Sekretariat des Zentralrates der FDJ einen Entwurf „Für eine neue FDJ !“529 Die Reaktionen der Jugendlichen auf die Angebote waren freilich eher ablehnend und kündigten noch einmal vom fehlenden Klassenbewusstsein. In Annaberg - Buchholz meinten Schüler im Gespräch mit dem FDJ - Sekretär, die führende Rolle der SED sei nicht mehr aktuell. Notwendig sei eine FDJ unabhängig von der SED.530 Aus Freiberg berichtete das MfS ebenfalls von einem großen Vertrauensbruch hinsichtlich der FDJ,531 und in Niesky zweifelten Jugendliche die Existenzberechtigung der FDJ an. Blauhemd und Emblem seien veraltet, wer im Blauhemd auftrete, werde ausgepfiffen. Statt der FDJ sollte ein unabhängiger Jugendverband gebildet werden. Das MfS notierte selbstredend die Namen derer, die mit so staatsfeindlichen Äuße523 SED - KL Bischofswerda vom 24.11.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 524 Standpunkt des Sekretariats der SED - KL Zittau. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 17.11.1989. Vgl. SED - KL Borna vom 17.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED BL Leipzig, 886, Bl. 133). 525 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 21.11.1989. 526 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 2.11.1989. 527 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 2.11.1989. 528 Vgl. SED - KL Altenburg vom 4.11.1989 ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 17 f.); Sächsische Zeitung, Ausgaben Görlitz - Land und Großenhain, vom 9.11.1989. 529 Zit. bei Stephan, Die Führung der FDJ, S. 325. 530 Vgl. KDfS Annaberg vom 4.11.1989 : Dialogveranstaltungen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1804, Bl. 4–7). 531 Vgl. KDfS Freiberg vom 3.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 9– 11).

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rungen hervortraten.532 Dabei konnte die FDJ froh sein, dass noch Jugendliche ihre Veranstaltungen besuchten, meist kam fast niemand mehr, seit mit den Oktober - Ereignissen der Zwang zur Teilnahme entfallen war. Dabei waren die Änderungsvorschläge aus Sicht der FDJ - Funktionäre weitgehend. In Zittau wurde vorgeschlagen, dass alle Parteien und Massenorganisationen einen gemeinsamen Jugendausschuss bilden, das Mitspracherecht der Schüler und Eltern in den pädagogischen Räten zu garantieren, das Jugendweihegelöbnis zu überarbeiten und die Mitgliedschaft bei den Pionieren und in der FDJ auf freiwillige Basis zu stellen. Man ging sogar soweit, dies nicht mehr „zum Maßstab beruf licher Entwicklungen und Beurteilungen“ zu machen. Mit diesen „radikalen Veränderungen“ wollte die FDJ nun endlich „zum wirklichen Interessenvertreter aller Jugendlichen“ werden.533 Während sich nach der Maueröffnung viele Jugendliche in der Bundesrepublik umschauten, war man Mitte November in der FDJ vielerorts soweit, zu erklären, die FDJ solle nicht länger ein „Anhängsel“ der SED sein.534 Inzwischen war es schwer, selbst diese „einschneidenden Maßnahmen“ den Jugendlichen zu vermitteln. Diese stellten stattdessen, wie in Niesky, mit der SED auch die FDJ generell in Frage.535 Zu den überall organisierten Jugendforen erschienen kaum noch Teilnehmer.536 Inzwischen kündigten CDU, LDPD und NDPD die Bildung eigener Jugendverbände an, was z. B. die FDJ - Kreisleitung Löbau „tief betroffen“ machte und was man dort „als Spaltung von oben“ ansah. Spontan schlug man hier daraufhin die Reduzierung der FDJ auf das vor, was sie im Kern immer gewesen war, auf einen marxistisch leninistischen Jugendverband der SED.537 Es kam zu Rücktritten auf Kreis - und kommunaler Ebene.538 Auch die durchweg der SED angehörende FDJ - Führung in Berlin stand zur Disposition. Nachdem FDJ - Chef Eberhard Aurich intern bereits seine Ablösung vorgeschlagen hatte539 kündigte er am 16. November öffentlich seinen Rücktritt an. Der Zentralrat der FDJ wählte am 24. November stattdessen den bisherigen 1. Sekretär der FDJ - Bezirksleitung Dresden, Frank Türkowsky. Im Entwurf eines neuen Statuts hieß es, die FDJ verstehe sich als ein „sozialistischer, demokratischer, antifaschistischer parteiunabhängiger Jugendverband der DDR“. Sie habe „ihren ( falschen ) Alleinvertretungsanspruch für alle jungen Menschen aufgegeben; sie ist bereit, mit allen anderen Jugendorganisationen und Interessengruppen gleichberechtigt zusammenzuarbei532 KDfS Niesky vom 7.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 142– 144). 533 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 9.11.1989. 534 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 17.11.1989. 535 Vgl. SED - KL Niesky vom 11.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 536 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 15.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 18./19.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 16.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgaben Bischofswerda und Pirna, vom 23.11.1989. 537 SED - KL Löbau vom 18.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 538 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 10.11.1989. 539 Vgl. SAPMO - BArch, SED IV 2/2.039/322, Bl. 72.

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ten“.540 Das waren zwar neue Töne, die wenige Wochen zuvor vielleicht noch Bedeutung gehabt hätten, inzwischen konnte die FDJ damit die Offensive nicht mehr zurückgewinnen.541 Um ihren Kurs zu untermauern, lud der FDJ - Zentralrat Ende November Vertreter verschiedener neuer Jugendgruppen542 zu einem Runden Tisch der Jugend. Diskutiert wurden die Selbstständigkeit der Verbände und mögliche Formen der Zusammenarbeit. Konsens wurde freilich nur in der Frage erreicht, dass es wichtig sei, sich kennen zu lernen. Hochschulen : Die Ablösung von der FDJ und die Herausbildung demokratischer Strukturen vollzog sich auch im Hochschulbereich. Seit Anfang November gab es hier Diskussionen über die Bildung autonomer Studentenvertretungen. An der Bergakademie Freiberg diskutierte man über einen Studentenbund innerhalb oder außerhalb der FDJ, freilich bei zunehmender Tendenz, die FDJ abzuschaffen. Studenten der Ingenieurhochschule Mittweida ( Hainichen ) diskutierten die Gründung eines „Unabhängigen Studentenbundes“ als Opposition zur FDJ.543 Studenten aus Berlin und Leipzig gründeten Anfang November eine „Autonome Studentenunion“ ( ASU ) als einen außerhalb der FDJ agierenden überregionalen Zusammenschluss von Studentenräten an den Bildungseinrichtungen und als soziale Interessenvertretung der Studenten.544 Mitte November kamen die Diskussionen an den Hochschulen stärker in Fahrt. An der TU Dresden fand am 13. November ein öffentliches Konzil mit 5 000 Teilnehmern statt. Ein vom Rektor vorgestelltes Aktionsprogramm beinhaltete mehr Entscheidungsfreiraum für Studenten, Vorschläge für den Ausbau studentischer Interessenvertretung sowie Vorstellungen zur Durchsetzung des Leistungsprinzips im Studium und in der wissenschaftlichen Arbeit. Die Aktionsprogramme anderer Hochschulen sahen ähnlich aus.545 Statt überregionaler Interessenvertretungen kristallisierte sich nun die Notwendigkeit der Wiedereinsetzung der seit 1947 mit Hilfe Erich Honeckers beseitigten unabhängigen Studentenräte ab. An der Berliner Humboldt - Universität fand bereits am 7. November eine Urabstimmung der Studenten über die Bildung eines unabhängigen Studentenrates statt. Sie endete mit einer klaren Niederlage der FDJ. Am nächsten Tag konstituierte sich 540 Junge Welt vom 27.11.1989. Vgl. Freiburg, Die FDJ, S. 519. 541 Vgl. Stephan, Die Führung der FDJ, S. 325. 542 Neben der FDJ waren vertreten : DA, Junge Linke, Autonome Antifa „Kirche von Unten“, Revolutionärer Autonomer Jugendverband, Kommunistischer Jugendverband der PH Potsdam, Sozialistischer Studentenbund, Verband der Demokratischen Schuljugend Leipzigs, Sozialistischer Jugendverband der Offiziersschule Kamenz, JuLiA, CDJ, Evangelische Studentengemeinde, SDP, Arbeitsgemeinschaften „Christliche Jugend“, Evangelische Jugendarbeit, „Jugendseelsorge“ bei der Berliner Bischofskonferenz, DBD, Vertreter eines Lehrlingsbundes und Mitarbeiter des Forschungsbereichs Jugend in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und des Amtes für Jugendfragen. Vgl. Junge Welt vom 30.11.1989. 543 Vgl. KDfS Freiberg vom 3.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 9– 11). 544 MfS, HA XXII vom 8.–9.11.1989 : Rapport, Info 713/89 zur Gründung einer „Autonomen Studentenunion“ ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 5–9). 545 Vgl. SED - BL Dresden vom 14.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 15– 24).

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ein unabhängiger Studentenrat, für den sich 85 Prozent der Befragten aussprachen.546 Hier demonstrierten zehn Tage später etwa 10 000 Studenten „für Mündigkeit und Mitspracherecht“. Wenig später konstituierte sich im Gegenzug an der Humboldt - Universität ein „Sozialistischer Studentenbund“ mit dem Ziel, eine neue Form der FDJ - Studentenvertretung zu schaffen. 1.5

Bevölkerung zur Wiedervereinigung und Erklärung „Für unser Land“ (26.11.)

Bevölkerung für Wiedervereinigung Forderungen nach Wiedervereinigung gab es nicht erst seit dem Mauerfall. Es gab sie in der DDR immer, ihre Äußerung war freilich unter Strafe gestellt und tabuisiert worden. Seit es wieder möglich wurde, Freiheit und Demokratisierung zu verlangen, verband sich dies mit Überlegungen, es auf dem Weg der Wieder vereinigung zu erreichen. Seit dem Beginn der Massenflucht standen Forderungen im Raum, mit den Westdeutschen in einem Staat zu leben. Sie drückten sich auf zwei Weisen aus : In der Massenflucht als einer Art individueller Wiedervereinigung und in Forderungen nach staatlicher Einheit. Letzteres wurde von Personen vorgetragen, die nicht bereit waren, ihre Heimat zu verlassen. Langsam sah man die Chancen steigen, in der Bundesrepublik zu leben, ohne Sachsen zu verlassen. Nach dem Fall der Mauer setzte sich dieser Trend fort. Verließen die einen die DDR, hofften andere trotz widriger internationaler Umstände auf eine Wiedervereinigung. Neu war die nun offen vorgetragene Stärke der Forderung, die allerdings weniger auf eine Kehrtwende in der Bevölkerungsmeinung hindeutete, sondern eher darauf, dass es der SED nicht mehr gelang, die Bevölkerung mit ihrem Repressionsapparat zum Schweigen zu bringen. Zunächst hatte sich die Forderung nach deutscher Einheit vor allem in der Massenflucht ausgedrückt. Die Fluchtbewegung war flankiert durch Forderungen nach deutscher Einheit. So riefen Fluchtwillige, die am 3. Oktober in Bad Schandau aus den Zügen geholt wurden und auf den Gleisen demonstrierten, immer wieder auch „Deutschland“.547 Auf dem Dresdner Hauptbahnhof wurde die erste Strophe der DDR - Nationalhymne mit dem Passus „Deutschland einig Vaterland“ gesungen und „Deutschland – Deutschland“ gerufen.548 Auf dem Plauener Bahnhof riefen bei der Zugdurchfahrt Hunderte Menschen „Deutschland, Deutschland !“, einige Jugendliche schwenkten schwarz - rot - goldene Fahnen.549 Bemerkenswert fand das MfS in Beierfeld ( Schwarzenberg )

546 Vgl. Bahrmann / Links, Wir sind das Volk, S. 96. 547 Güst Dienststelle Bad Schandau an BVfS Dresden vom 3.10.1989 : Maßnahmen zum Ausreiseverkehr DDR - ČSSR ( BStU, ASt. Dresden, BV, 1. SdL 1, Bl. 194 f.). 548 BDVP Dresden vom 15.10.1989 : Entwicklung in Dresden vom 3.–9.10.1989 ( ABL, Dresden ). 549 Schorlemmer, und den Kindern, S. 34 f.

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auch, dass der Lastwagen eines selbstständigen Kohlehändlers mit der Aufschrift „Let’s go West“ versehen worden war.550 Schon im September registrierte die Volkspolizei im Bezirk Dresden Forderungen nach „Wieder vereinigung Deutschlands“,551 die nicht direkt mit Flucht oder Ausreise in Verbindung standen. Modrow berichtete Honecker von „Schmierereien an öffentlichen Gebäuden, auf Straßen und in Betrieben“ u. a. mit Forderungen nach „Wieder vereinigung“.552 Im Kreis Aue registrierte das MfS, dass Autobesitzer immer häufiger DDR - Kennzeichen mit schwarz - rot - goldenem Untergrund ohne Emblem benutzten.553 In Schwarzenberg wurden Plakate zum 40. Jahrestag der DDR mit roter Folie „verunstaltet“ : Aus „DDR 40“ wurde „D 40“.554 Im Kreis Schmölln fand die Volkspolizei ein Plakat „40 Jahre DDR“, über das ein großes „D“ gemalt war.555 Im VEB Zwirnerei - und Nähfadenfabrik Oederan, Betriebsteil Mittweida ( Hainichen ) war „Forum“ und „Deutschland“ zu lesen.556 In Dresden gab es am 6. Oktober erneut Deutschland - Rufe.557 Im Messgerätewerk Beierfeld ( Schwarzenberg ) hingen an mehreren Werkzeugschränken Bilder mit der Abbildung einer schwarz - rot - goldenen Fahne und der Aufschrift „Guten Morgen Deutschland“. Ähnliches berichtete das MfS aus anderen Betrieben.558 Im Kreis Bischofswerda kursierte um den 9. Oktober ein Flugblatt des Neuen Forums, auf dem u. a. das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zum Erlangen der staatlichen Einheit gefordert wurde.559 Im Kreis Flöha riefen Jugendliche in der Disko „Deutschland“.560 In der Turnhalle der POS „H. Warnke“ in Oederan sangen Schüler das Deutschlandlied.561 In der Lunzenauer LDPD ( Rochlitz ) sah man in der Massenflucht einen „möglichen Schritt zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten.“562 In der Karl - Marx - Städter Johanniskirche fanden am 13. Oktober in zwei Durchgängen Podiumsgespräche unter dem Motto „Auferstanden aus Ruinen und wie

550 KDfS Schwarzenberg vom 19.10.1989 : Öffentlichkeitswirksame Handlungen oppositioneller Kräfte ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 28 f.). 551 Vgl. BDVP Dresden vom 28. 9.1989 : Lage im September 1989 ( ABL, EA 890928_2). 552 Hans Modrow an Erich Honecker vom 4.10.1989 ( ABL, Dresden ). 553 Vgl. KDfS Aue vom 19. 9.1989 : Wochenlage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 531, 1, Bl. 125–131). 554 KDfS Schwarzenberg vom 25. 9.1989 : Angriffe ( ebd. 1818, Bl. 84 f.). 555 Vgl. VPKA Schmölln vom 5.–6.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 556 Vgl. KDfS Hainichen vom 6.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 833, Bl. 105). 557 Vgl. Böhm an Modrow vom 14.10.1989 : Ereignisse vom 3.–8.10.1989 ( ABL, EA 891014_1). 558 KDfS Schwarzenberg vom 9.10.1989 : Verbreitung von antisozialistischen Machwerken in volkseigenen Betrieben des Kreises ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1818, Bl. 62 f.). 559 Vgl. Was versteht man unter dem Begriff „Neues Forum“ ? Flugblatt vom 9.10.1989 (PB Hubertus Wolf ). 560 Vgl. KDfS Flöha vom 10.10.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 532, 2, Bl. 101–105). 561 Vgl. KDfS Flöha vom 12.10.1989 : Lage ( ebd., Bl. 97–100). 562 KDfS Rochlitz vom 12.10.1989 : Reaktion ( ebd., AKG 3078, 2, Bl. 5).

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nun weiter“ statt, bei denen es u. a. um die Frage der deutschen Einheit ging.563 Die sowjetische Botschaft in Ost - Berlin konstatierte an diesem Tag : „In der DDR wächst das gesamtdeutsche Interesse.“ Die Lage sei „beunruhigend und explosiv“.564 Welche Brisanz solche Forderungen hatten, die noch immer einem „Tabubruch“ gleichkamen,565 zeigte ein Vorfall in Torgau. Hier sorgte am 17. Oktober eine vermeintlich schwarz - rot - goldene Fahne ohne Emblem für Aufregung, bis sich herausstellte, dass es sich um ein älteres Exemplar handelte, bei dem nur eine Seite mit Emblem versehen war.566 In Plauen wurde bei einer Demonstration am 28. Oktober auf Transparenten und Losungen die Wiedervereinigung gefordert.567 Bei der Leipziger Montagsdemonstration am 30. Oktober tauchte erstmals auf Plakaten die Losung „Deutschland einig Vaterland“ auf, und es wurde eine „BRD - Fahne“ mitgeführt.568 Auch in Zwickau forderten Demonstranten an diesem Tag die Wiedervereinigung.569 Beim Bürgergespräch in Döbeln erklärte am 31. Oktober Pfarrer Frieder Hecker aus Roßwein, angesichts der ökonomischen Schwäche des Sozialismus und der katastrophalen Bausituation müsse die Frage erlaubt sein, ob die Wiedervereinigung „unsere einzige Chance“ sei, „solange die drüben noch nicht wissen, wie es wirklich bei uns aussieht und uns noch wollen“.570 Wie hart die SED gegen solche Forderungen vorging, machte ein Fall in Bautzen deutlich. Als sich hier am selben Tag ein Teilnehmer am Bürgerforum für die Wiedervereinigung aussprach, wurde er von der SED als Sympathisant des Neofaschismus und Revanchismus diskreditiert. Die Wieder vereinigung sei aufgrund der zwei Weltkriege abzulehnen, die Schuld noch lange nicht abgetragen.571 Generell reagierte die SED mit Leserbriefkampagnen in ihren Zeitungen auf unliebsame Forderungen. Unterstützung erhielt sie von linken Gruppierungen wie einer Antifa - Gruppe der „Kirche von Unten“, die mit Blick auf die zunehmenden Forderungen nach deutscher Einheit bei Demonstrationen dazu aufrief, diese „Schreihälse zum Schweigen“ zu bringen.572 Im November nahm die Zahl öffentlicher Forderungen nach deutscher Einheit weiter zu. In Klingenthal wurde bei einer Kundgebung am 2. November

563 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg an Sächsische Staatskanzlei : Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 ( HAIT, StKa ). 564 Maximytschew / Hertle, Die Maueröffnung I, S. 1140. 565 Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 139. 566 Vgl. VPKA Torgau vom 17.–18.10.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Torgau, 7339, Bl. 409). 567 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 29.10.1989 : Rapport ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 850, Bl. 12). 568 SED - BL Leipzig vom 2.11.1989 : Lage am 30.10.1989 ( BStU, ZA, Sekretariat d. Ministers, 664, Bl. 1–3). 569 Vgl. KDfS Zwickau vom 2.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1823, 1). 570 Pfarrer Frieder Hecker vom 31.10.1989 : Gespräche am Sonntagmorgen ( HAIT, StKa). 571 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 10.11.1989. 572 Erklärung einiger Mitarbeiter der Antifa - Gruppe der „Kirche von Unten“ zur geplanten Demonstration am 4.11.1989. In : Oktober 1989, S. 175.

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eine schwarz - rot - goldene Fahne getragen.573 Am 11. November war in Plauen auf einem Transparent zu lesen : „Egon reiche Helmut die Hand und vereinige unser Vaterland“.574 Im Kreis Niesky ging die Meinung der „klassenindifferent“ denkenden Bevölkerung „bis zur Forderung nach Wiedervereinigung“.575 Am 13. November skandierten größere Gruppen in Leipzig „Deutschland !“ und „Wiedervereinigung jetzt !“576 Zwei Tage später gab es solche Forderungen auch in Limbach - Oberfrohna.577 Am 17. November hieß es in Auerbach : „Vogtland unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft“.578 Auch in Klingenthal, Olbernhau,579 Pirna,580 Riesa,581 Leipzig,582 Markneukirchen, Reichenbach,583 Großenhain584 und Plauen wurde in der Zeit bis zum 25. November die Wiedervereinigung gefordert.585 In Pirna fragten SED - Mitglieder besorgt, „ob sich die DDR von Bonn ihre weitere Entwicklung diktieren lässt oder ob wir politisch und ökonomisch noch unabhängig bleiben und über unser Schicksal selbst entscheiden können“. Auch hier gab es wie in der Maschinenfabrik Heidenau Meinungen, wonach es zur baldigen Wieder vereinigung kommen werde.586 Das hörte sich weniger nach einer durchzusetzenden Forderung als nach einer angesichts der Verhältnisse unausweichlichen Entwicklung an. Auch im Rohrwerk Zeithain meinten bereits einige Leiter, darunter Genossen, „dass ohne Hilfe der BRD in der DDR - Wirtschaft nichts läuft, dass wir aus eigener Kraft selbst nicht rauskommen“. Um die deutsche Einheit werde man „wohl nicht herum kommen“.587 DDR - Intellektuelle und Vertreter neuer Gruppen für Erhalt der DDR und demokratischen Sozialismus Völlig anders als die Bevölkerung sahen führende, marxistisch geprägte DDR Intellektuelle die Lage. Auf dem Berliner Alexanderplatz war es am 4. November zum Schulterschluss zwischen ihnen und SED - Funktionären gekommen : Trotz aller Unterschiede plädierten beide Gruppen für den Erhalt der DDR und 573 Protokoll zur Aussage von Pfarrer Meinel im Pfarrhaus Schneeberg am 17. 8.1998 ( Ev.Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 574 RdB Karl - Marx - Stadt vom 16.11.1989 ( SächsStAC, 126409). 575 SED - KL Niesky vom 11.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 576 Vgl. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 139. 577 Vgl. MfS, ZOS vom 15.–16.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 129). 578 Vgl. Zwahr, Die demokratische Revolution, S. 36. 579 MfS, ZOS vom 17.–18.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 114). 580 SED - KL Pirna vom 19.11.1989 : Stimmungsbild ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 581 SED - KL Riesa vom 20.11.1989 : Lage ( ebd.). 582 MfS, ZOS vom 20.–21.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII - AKG 1672, Bl. 220). 583 MfS, ZOS vom 22.–23.11.1989 : Lage ( ebd., HA XXII 5942, Bl. 107). 584 MfS, ZOS vom 23.–24.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 134). 585 MfS, ZOS vom 25.–26.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 179). 586 SED - KL Pirna vom 22.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 587 SED - KL Riesa ( ebd., 13555).

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einen demokratischen Sozialismus. Besondere öffentliche Wirkung erzielten Stefan Heym und Christa Wolf. Heym hatte schon zu Beginn der Massenflucht erklärt, angesichts des „braunen Sumpfes“ in der Bundesrepublik wäre es „gut, wenn die DDR bleibt und die Mauer noch ein bisschen schützt, damit vielleicht eines Tages ein Teil von Deutschland da ist, der Grünen und Sozialdemokraten und anderen, die dann von den Faschisten verfolgt würden, Asyl geben kann“.588 Er deutete die Entwicklung auch nicht als Zusammenbruch des Sozialismus, sondern als „Scheitern des Stalinismus“.589 Zwei kapitalistische deutsche Staaten seien nicht vonnöten : „Die raîson d’être der DDR ist der Sozialismus, ganz gleich in welcher Form, ist eine Alternative zu bieten zu dem Freibeuterstaat mit dem harmlosen Namen Bundesrepublik.“590 Es werde schwer sein, die DDR zu halten, dies sei aber „die einzige Chance, die wir haben, den Sozialismus zu retten“.591 Ähnlich war Christa Wolfs Argumentation. Am 8. November verlas sie im Fernsehen einen Appell, in dem aufgerufen wurde, „die Vision eines demokratischen Sozialismus“ zu bewahren.592 Wie die SED plädierte sie für eine sozialistische Erneuerung und lehnte es ab, die DDR zur „Kolonie westlicher Konzerne“ zu machen.593 Der in der Bundesrepublik lebende Wolfgang Templin prognostizierte, in der DDR werde das Erbe des Sozialismus „in neuem Licht erscheinen“ und der Sozialismus wiederentdeckt. Er sah dafür in der DDR „ein ganz her vorragendes Feld, weil die Bildungsgrundlage der Leute, auch das noch vorhandene Interesse an linker Tradition und am Marxismus, gute Grundlage für ein Wiederauf leben“594 des Sozialismus darstellten. Heino Falcke meinte, da die DDR - Bevölkerung sich ihre Demokratie im Gegensatz zur Bundesrepublik von unten selbst erkämpft habe, gebe es eine „wirkliche politische Basis für eine Eigenstaatlichkeit der DDR“. Hier werde der Sozialismus anfangen, real zu existieren.595 Mitarbeiter des Deutschen Theaters schrieben Helmut Kohl : „Mit zunehmender Verärgerung beobachten wir ihren Einsatz für Demokratie in der DDR“. Das „Volk der DDR“ benötige „keine Schützenhilfe“ aus dem Westen.596 Peter Hacks bot später Erklärungen für den Wunsch nach staatlicher Einheit. Was sich auf den Straßen versammelt habe, sei „Lumpenkleinbürgertum“ gewesen : „Von diesen Leuten gehörte mindestens jeder Dritte zur Stasi, gehörte mindestens jeder zweite Dritte einem westlichen Geheimdienst an und der dritte Dritte war möglicherweise parteilos, wahrscheinlicher ist, dass er Doppelagent war.“597 Einen anderen Zungenschlag brachte Chris588 589 590 591 592 593 594 595 596 597

Zit. in Informationen des BMB 12 vom 30. 6.1989, S. 3. Interview mit Stephan Heym. In : Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 25. 8.1989. Stefan Heym. In : Junge Welt vom 5.12.1989. Berliner Zeitung vom 14.11.1989. Ebd. vom 9.11.1989. Ebd. vom 17.11.1989. Interview mit Wolfgang Templin. In : taz vom 7.11.1989. Zit. in Rein, Die Opposition, S. 221. Berliner Zeitung vom 24.11.1989. Peter Hacks im Gespräch mit Frank Tichy in der Zeitschrift der Salzburger Elisabethbühne. Zit. in Weißenseer Blätter, (1993) 2, S. 56.

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toph Hein in die Diskussion, wenn er den Sozialismus in der DDR als „brauchbare und zukunftsweisende Grundlage“ für eine spätere Wieder vereinigung bezeichnete.598 Ähnlich hatte schon Walter Ulbricht argumentiert. Hein setzte auf Zweistaatlichkeit und hoffte, die kommenden Wahlen würden nicht mit der deutschen Frage entschieden werden. Das wäre dann nämlich „eine Wahl zwischen dem Hertie - Schaufenster und unserem Konsumladen“. Die Menschen müssten erst den Kapitalismus kennen lernen, wenn er seine freundlichen Farben ablege.599 Während die Bevölkerung sich vom Sozialismus abwandte, sprachen die DDR - Intellektuellen davon, dass es bisher nur eine „Perversion einer ansonsten richtigen Lehre“ gegeben habe.600 Sie schlossen sich der Argumentation in der SED an, wonach, so Krenz, eine richtige Idee fehlerhaft verwirklicht worden sei.601 Der „Mielke - Sozialismus“, so auch Schorlemmer, habe „das Wort Sozialismus auf dem Gewissen“.602 Nachdem er der sozialistischen Diktatur über Jahrzehnte treu gedient hatte, meinte plötzlich auch Markus Wolf, in der DDR habe es „noch keinen Sozialismus“, vielmehr Stalinismus gegeben, der nun zugunsten des Sozialismus abgeschafft werden müsse.603 Für vergleichbare Äußerungen hätte er noch kurz zuvor als Spionage - Chef des MfS Menschen für Jahre in politische Haft bringen können. Parteivordenker Rolf Reißig erklärte, der Zusammenbruch des Sozialismus sei „nicht grundlegend schon in der Theorie angelegt und vorausbestimmt“ gewesen. Man habe lediglich versäumt, den „administrativ - zentralistischen Typ“ des Sozialismus zum „demokratischen Sozialismus“ zu wandeln.604 Weniger flexibel zeigte sich Honecker, der meinte: „Natürlich war das schon Sozialismus, auf jeden Fall ein großes Stück von ihm.“ Eines Tages werde das Volk „erneut die Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in Angriff nehmen“.605 Wie marxistische Intellektuelle und die meisten Funktionäre des DDR - Parteiapparates – einschließlich der Blockparteien – lehnten auch zahlreiche Wortführer der Bürgerbewegungen eine revolutionäre Veränderung zugunsten einer Reform des Sozialismus ab. Sie befanden sich, so Rüddenklau später, „oft in einer uneingestandenen Verbundenheit mit den Herrschenden und woben an ihren Patentparadiesen, ohne die Bedürfnisse der Menschen auf der Straße zu reflektieren“.606 Ihre Vorstellungen unterschieden sich nur graduell von denen der Reformkräfte in der SED.607 Wolfgang Thierse ( SDP ) etwa forderte eine Reform des Sozialismus, bei der allerdings „die Anerkennung der herrschenden 598 Christoph Hein an Rowohlt - Verlag vom 20.11.1989. In : Hein, Die fünfte Grundrechenart, S. 210. 599 Interview mit Christoph Hein. In : Junge Welt vom 12.12.1989. 600 So kritisch Kolbe, Die Heimat der Dissidenten, S. 36. 601 Krenz, Wenn Mauern fallen, S. 39. 602 Schorlemmer, Träume, S. 127. 603 Wolf, Nachdenken, S. 90 und 99. 604 Reißig, Vom Niedergang, S. 400. 605 Andert / Herzberg, Der Sturz, S. 403, 436 und 438. 606 Rüddenklau, Störenfried, S. 12. 607 So Knauer, Innere Opposition, S. 727.

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Rahmenbedingungen sowohl in einem äußerlichen als auch in einem innerlichen Sinne“ unerlässlich sei.608 Mitglieder eines „runden Tisches“ verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bekundeten ihre Sorge um die Existenz der DDR und die Idee des Sozialismus.609 In einem gemeinsamen Aufruf von SED, Theologen und Neuem Forum Rostocks bekundeten diese am 26. November ihren gemeinsamen Willen, am Sozialismus festzuhalten, weil dieser „die politische Konsequenz des Evangeliums, des Marxismus und anderer humanistischer Grundüberzeugungen“ sei. Ziel müsse ein demokratischer Sozialismus sein, in dem keine Partei einen Führungsanspruch erheben könne.610 Wolfgang Schnur erklärte am 24. November, auch der DA halte an einer „Vision des Sozialismus“ in der DDR fest.611 Damit bildete sich vor allem in der zweiten Novemberhälfte eine Allianz aus Funktionären der SED, der Blockparteien und Massenorganisationen, marxistischen DDR - Intellektuellen und führenden, wenn auch nicht gewählten, Vertretern der Bürgerbewegungen. Sie alle lehnten revolutionäre Veränderungen ab und wünschten eine Reform des diktatorischen hin zu einem mehr demokratischen Sozialismus. Die gemeinsame sozialistische Perspektive begründete sich vor allem in antiwestlichen Ressentiments der industriegesellschaftlich orientierten Akteure und wirkten wie ein Versuch, den politischen Revisionismus und Reformsozialismus der fünfziger und sechziger Jahre noch einmal zum Leben zu erwecken. Stabilisiert wurde diese Neigung durch die ohnehin vorhandene Tendenz oder Überlebensstrategie, jegliche Kritik von einer vermeintlich sozialistischen Position aus zu formulieren. Parlamentarisch - demokratische Positionen wurden von führenden Vertretern der Bürgergruppen kaum vertreten. Stellungnahmen wie die von Ludwig Mehlhorn ( DJ ), die Alternative „Sozialismus gegen Kapitalismus“ sei deshalb falsch, weil es um „Demokratisierung ohne Adjektive, ohne wenn und aber“ gehe, waren die Ausnahme.612 Stattdessen wurden „Volkseigentum“, sozialistische Solidarität und soziale Sicherheit ebenso verklärt wie der fragwürdige Charme von Unterentwicklung und konsumverzichtender Askese. Die inhaltliche Bestimmung des Sozialistischen in der Demokratie, die man anstrebte, blieb unscharf. Unterstützung erhielt das Bündnis für eine Reform des Sozialismus in der DDR durch linke Intellektuelle aus dem Westen, die eine Wieder vereinigung ebenfalls ablehnten.613 Typisch ist eine Äußerung des Schweizers Friedrich Dürrenmatt, der schon im April 1989 erklärt hatte, die große politische Leistung der Deutschen bestehe darin, „das Ende Deutschlands zu akzeptieren“. Es sei 608 Interview mit Wolfgang Thierse am 10.11.1989. In : Gorholt / Kunz ( Hg.), Deutsche Einheit, S. 325 f. 609 Abgedruckt in Frankfurter Rundschau vom 14.11.1989. 610 Aufruf zu vereinigten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus ! In : Schmidtbauer, Tage 2, S. 45–47. 611 Zit. bei Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 5 f. 612 Ludwig Mehlhorn. In : Süddeutsche Zeitung vom 7.12.1989. 613 Vgl. Schütt, Geteilte Linke, S. 95.

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ein Erfolg, dass es Deutschland nur noch in der Erinnerung gebe.614 Jürgen Fuchs meinte, bis auf Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Ingeborg Drewitz hätten viele Mitglieder des bundesdeutschen P. E. N „in Koexistenz mit der kommunistischen Diktatur gelebt“.615 In „Die Zeit“ sprach sich am 22. September 1989 Theo Sommer gegen eine Wiedervereinigung aus. Dem SED - Staat werde mit der Zeit „seine raison d’être“ zuwachsen. Der Reformbewegung in der DDR und ihren Unterstützern sprach er das Recht ab, sich für eine Veränderung des kommunistischen Systems einzusetzen : „Niemand hat heutzutage das Recht, in der Nähe eines Pulverfasses mit einer brennenden Fackel auf die Menschenrechte zu pochen.“ Im Namen der Entspannungspolitik, so Antonia Grunenberg, hielt man sich mit Kritik vornehm zurück und bestärkte so „die repressive Toleranz eines totalitären Staates“.616 Kritik östlicher Intellektueller an dieser Haltung war kaum aus der DDR, umso intensiver aber von Dissidenten anderer ostmitteleuropäischer Staaten zu vernehmen. Pavel Kohout meinte, die westdeutschen Linksintellektuellen hätten, „statt zu den Geschlagenen zu halten, lieber mit den Schlägern paktiert[ en ]“. Eine falsch verstandene Entspannung sei es gewesen, die die bundesdeutschen Intellektuellen „in ihrer überwiegenden Mehrheit dazu brachte, uns mit dem Stempel der Dissidenten abzutun und als Störenfriede zu behandeln“.617 Auch während des revolutionären Herbstes 1989 reagierte die „intellektuelle Klasse der Bundesrepublik“ mit Schweigen auf die Entwicklung. Diese Haltung wurde, so Joachim Fest, als „Zeichen der Verlegenheit angesichts des Scheiterns einer Idee“ interpretiert, die mehr als andere auf Sympathie derer zählen konnte, „die gesellschaftliche Beglückungsprojekte zu entwerfen lieben“.618 Aber es gab natürlich auch Kritik an dieser Haltung. So meinte Martin Walser, es sei Wahnsinn, die deutsche Teilung für vernünftig zu halten.619 In der FAZ ging Brigitte Seebacher - Brandt mit der westdeutschen Linken ins Gericht. Sie schrieb : „Klaus von Dohnanyi meint, die Linke vor der Wiederholung eines folgenschweren Fehlers warnen zu sollen. Das Nein zur sozialen Markwirtschaft habe sie auf lange Zeit die Mehrheit gekostet, das Nein zur deutschen Nation werde sie aufs Neue von der Macht verbannen.“620 Teile der Linken hofften, so Karsten Voigt, in einer eigenstaatlichen DDR ein attraktives Modell des demokratischen Sozialismus schaffen zu können. Sie hätten dabei allerdings verkannt, dass die DDR in den meisten Bereichen weiter von den Idealen des demokratischen Sozialismus entfernt sei „als das seit Jahren von Sozialdemokraten regierte Königreich Schweden“.621

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Vgl. Kuhn, Zwei Staaten – Eine Nation, S. 216. Zit. in FAZ vom 18.1.1992. Grunenberg, Das Ende der Macht, S. 17. Pavel Kohout am 18.12.1989. Zit. in taz vom 21.12.1989. Joachim Fest, Schweigende Wortführer. In : FAZ vom 30.12.1989. Interview mit Martin Walser. In : Stuttgarter Zeitung vom 23. 8.1989. Vgl. Seebacher - Brandt, Die Linke, S. 74–79. Voigt, Deutschlandpolitische Perspektiven, S. 56.

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Aufruf „Für unser Land“ und Gegenreaktionen In dieser Lage und angesichts immer breiterer Forderungen der Bevölkerung nach deutscher Einheit traten mehrere Linksintellektuelle der DDR am 26. November mit einer Erklärung „Für unser Land“ an die Öffentlichkeit. Sie wurde am 28. November publiziert. Auf einer internationalen Pressekonferenz verlas Stefan Heym den Aufruf zum der Erhalt der Zweistaatlichkeit und für einen demokratischen Sozialismus in der DDR. Er forderte die Bevölkerung auf, sich dem Appell schnell anzuschließen, da die Bundesregierung bereits mit der „Ouvertüre zur Vereinnahmung“ der DDR begonnen habe. Der Appell, so Heym, sei als ganzes ein Argument gegen Kohl. Es gelte, das Experiment „Sozialismus“ auf deutschem Boden zu bewahren. Bislang habe es keinen richtigen Sozialismus gegeben, sondern Stalinismus.622 Unterzeichnet wurde der von Christa Wolf verfasste Aufruf u. a. von den Schriftstellern Volker Braun, Stefan Heym und Christa Wolf, den Regisseuren Konrad Weiß und Frank Beyer, dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und den Kirchenvertretern Christoph Demke, Günter Krusche und Friedrich Schorlemmer.623 Aus Kreisen der bundesdeutschen Linken und Künstler erhielten die Initiatoren Zustimmung. So begrüßten u. a. Günter Grass und Günter Wallraff den Aufruf, in der Schweiz Max Frisch.624 Der Aufruf erhielt sofort starke Unterstützung durch die SED und wurde mit Adressen für Unterschriften in der SED - Presse verbreitet. Bereits einen Tag später schlossen sich Egon Krenz, Hans Modrow, Werner Eberlein, Wolfgang Herger, Werner Jarowinsky, Heinz Keßler, Siegfried Lorenz, Günter Schabowski, Markus Wolf und Günter Sieber an. Die ZK - Mitglieder bezeichneten den Appell „als genauen Ausdruck ihrer persönlichen Hoffnung und Sorge“ für den Sozialismus.625 Am 2. Dezember schlug Volkskammerpräsident Maleuda den Abgeordneten im Namen des Präsidiums vor, den Appell zu unterzeichnen.626 Auch beim AfNS fand er lebhafte Zustimmung. Dessen Mitarbeiter stellten sich „einhellig hinter den Aufruf“.627 Am 30. November stimmte der Ministerrat dem Aufruf zu. In Fernschreiben an die Vorsitzenden der Räte der Bezirke bewertete Modrow ihn als „einen von hoher staatsbürgerlicher Verantwortung geprägten Standpunkt, der ein klares Bekenntnis zu einem eigenständigen sozialistischen Vaterland auf deutschem Boden“ darstelle. Die Räte wurden aufgefordert, den Aufruf zum Gegenstand einer „überzeugenden politischen Argumentation“ zu machen.628 Nun sorgten Staatsorgane auf allen 622 Abgedruckt in DA, 23 (1990), S. 91. Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 286; Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 15 f. 623 Alle Unterzeichner in Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 16. 624 Vgl. Bondy, Angst, S. 211. 625 Neues Deutschland vom 30.11.1989. 626 Vgl. Das Volk vom 2.12.1989. 627 Interview mit Wolfgang Schwanitz. In : Berliner Zeitung vom 7.12.1989. 628 Vorsitzender des Ministerrates an OB Berlin und Vorsitzenden der RdB vom 30.11. 1989. Vgl. Schreiben des Vorsitzenden des RdB Suhl an alle Vorsitzenden der RdK und OB Suhl vom 1.12.1989 ( ThSTAM, 1077). Adäquat in den anderen Bezirken ( Brandenburg. LHA, A /4100) ( MLHA, BT / RdB Z 68/91 36478).

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Ebenen für seine Propagierung. In Freiberg erklärte Bürgermeister Uwe Klinge: „Wir brauchen ein millionenfaches Echo auf diesen Aufruf für das Überleben unseres souveränen sozialistischen Staates.“629 In Zittau schlossen sich die Mitglieder des Rates der Stadt dem Aufruf an und plädierten für „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik Deutschland“.630 In Bautzen stellten die SED - Abgeordneten des Kreistages den Antrag, alle Abgeordneten sollten sich an der Unterschriftenaktion beteiligen.631 Auch in Niesky wie in anderen Kreisen erklärten die Ratsmitglieder, es gebe „keine Alternative zu einer souveränen DDR“.632 Angesichts der für sie uner warteten Allianz organisierte die SED überall Unterschriftensammlungen im Stil bisheriger Massenmobilisierungen. Grundorganisationen sammelten in Betrieben und Einrichtungen Unterschriften.633 Bis zum 6. Dezember unterzeichneten 234 826 Personen den Aufruf.634 In Teilen der Öffentlichkeit entstand so der Eindruck, es handele sich um eine SED - Initiative. Ende November teilten die Initiatoren deshalb mit, der Appell sei die Initiative von Persönlichkeiten. Kein staatlicher oder sonstiger Leiter, Funktionär und Mandatsträger habe die Legitimation, eine Unterschriftenleistung anzuweisen, zu initiieren oder zu organisieren.635 An der Wirkung änderte dies nichts. Überall griff die SED nach dem Strohhalm einer Erklärung, die von ihr wie von Intellektuellen und Bürgerrechtlern getragen wurde. In der Freitaler SED wurde Unverständnis laut, warum die SED nicht selbst auf die Idee gekommen sei. Der Aufruf sei das erste brauchbare Konzept zur Rettung der Eigenständigkeit der DDR.636 In Delitzsch bekannten sich die Mitglieder der SED - Kreisleitung zur Unterschriftsleistung und meinten, „dass dieser Aufruf unserer Partei gut zu Gesicht gestanden hätte“.637 Auch in Großenhain unterstützte die SED - Kreisleitung und die Kreisredaktion der „Sächsischen Zeitung“ den Aufruf für unser Land,638 ähnlich sah es in Bautzen aus.639 Auf dem Leipziger Dimitroffplatz beteiligten sich am 28. November etwa 10 000 Personen an einer SED - Kundgebung unter dem Motto „Für unser Land“. Der neue 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Roland Wötzel, forderte zum Kampf gegen deutsche Einheit und „gegen rechts“ auf und schloss seine Rede mit „Rot Front !“.640 Unterstützung erfuhr der Aufruf auch durch die Kreisverbände des FDGB641 629 630 631 632 633 634 635 636 637 638 639 640 641

Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 6.12.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 1.12.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 1. und 2./3.12.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 1.12.1989. Vgl. SED - BL Frankfurt / Oder vom 30.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775); SED - KL Leipzig - Nordost vom 1.12.1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 145 f.). Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 54. Vgl. Berliner Zeitung vom 1.12.1989; Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 24. Vgl. SED - KL Freital vom 30.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). SED - KL Delitzsch vom 29.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, IV 4/04/58). Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 1.12.1989. Vgl. SED KL Bautzen vom 29.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL, OD, A 13555). Tetzner, Leipziger Ring, S. 65. Vgl. taz vom 1.12.1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 1.12.1989.

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und des DFD.642 Differenzierter war die Lage in den Blockparteien. So unterschrieb zwar die LDPD - Parteiführung den Appell,643 in den Bezirks - und Kreisverbänden aber folgte man ihm nicht überall. Hier wurde oft „einer sozialistischen DDR keine Perspektive mehr gegeben“.644 Ähnlich sah es an der Basis der CDU aus.645 Gemischt waren die Reaktionen des Neuen Forums. So erklärte sich u. a. das Neue Forum Leipzig mit dem Aufruf solidarisch. Das Rostocker Neue Forum rief zur Beteiligung an einer Menschenkette „Ein Licht für unser Land“ am 3. Dezember auf.646 Solche Unterstützung führte zum Popularitätsverlust in Teilen der Bevölkerung.647 Allerdings unterstützte das Neue Forum den Aufruf keineswegs durchweg. So schloss sich das Neue Forum in Plauen einem Gegenaufruf der „Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauens“ an.648 Auch in Meißen nahmen Vertreter des Neuen Forums gegen den Aufruf Stellung. Die Pfarrer Schmidt, Wöllner und Fröhner verwiesen auf die illusionären Vorstellungen des Aufrufs und meinten, die Lage gestatte keine Experimente mehr.649 Die Basisgruppe Meißen kritisierte ihn als Schwarzweißmalerei. Es sei illusorisch, zu glauben, dass „wir uns wie Münchhausen“ selbst aus dem Sumpf sozialistischer Planwirtschaft ziehen können. Es komme vielmehr darauf an, sich auf eine Konföderation mit der BRD auszurichten und „schnellstens alle bewährten westlichen Wirtschaftsmechanismen“ zu übernehmen.650 Die Führung des DA erklärte, der Appell werde den Problemen des Landes nicht gerecht und kritisierte, dass sich vor allem jene des Aufrufs bedienten, die den im Aufruf befürchteten Ausverkauf materieller, ideeller und moralischer Werte bereits seit Jahrzehnten betrieben hätten. Der DA habe die „Verantwortung und noch die Freiheit“ einen Beitrag für die sich einigende Nation zu leisten. Dies sei eine historische Chance, die nicht verspielt werden dürfe.651 Vielerorts kam es bei Demonstrationen und Kundgebungen zu Stellungnahmen gegen den Aufruf. In Eisenach protestierten am 4. Dezember etwa 3 000 Personen in der Georgenkirche gegen eine Vor wegnahme eines Volksentscheides durch den Appell. Landesbischof Leich erklärte unter Beifall, künftig würde die Mehrheit der

642 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 1.12.1989. 643 Gerlach sah in der Zehn - Punkte - Erklärung Kohls und dem Appell „Für unser Land“ „keinen Widerspruch“. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 338. 644 Ebd., S. 405. 645 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 8.12.1989. 646 Vgl. Schmidtbauer, Tage 1, S. 73. 647 Vgl. Aufruf : DDR soll DDR bleiben ! In : Neues Forum Leipzig 7 vom 28.11.1989, S. 1; Schulz, Neues Forum, S. 45. 648 Für die Menschen in unserem Land. Gegenaufruf der „Initiative zur demokratischen Umgestaltung Plauen“ zum Aufruf „Für unser Land“. In : Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk, S. 63–65. 649 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 2.12.1989. 650 Ebd. vom 23.12.1989. 651 Berliner Zeitung vom 8.12.1989; Leipziger Volkszeitung vom 12.12.1989.

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Bevölkerung entscheiden. Der Appell, der dazu diene, die verfallenden Machtstrukturen zu stützen, sei nicht der richtige Weg.652 An mehreren Orten wurden Gegenaufrufe unterzeichnet. In einem „Leipziger Aufruf“ auf Initiative des Malers Wolfgang Mattheuer hieß es : „Menschen unseres Volkes sind für einen gleichberechtigten, konföderativen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten auf neutraler Grundlage, der eine spätere Vereinigung im Rahmen der Grenzen von 1949 nicht ausschließt.“653 In Dresden wurde als Reaktion die Gegeninitiative „Keine Experimente mehr“ gestartet, die sich für eine Übernahme des bundesdeutschen Systems einsetzte.654 In Schwerin verbreitete eine Gruppe um Winfried Wolk einen Gegenaufruf, in dem ebenfalls die deutschen Einheit befürwortet wurde.655 Bischof Demke bezeichnete den Appell als gegenstandslos, nachdem sich auch die SED- Führung angeschlossen hatte. Damit habe der Appell seinen Sinn verfehlt.656 Kritik löste nicht nur die massive Unterstützung des Aufrufs durch die SED und die kommunistischen Medien aus. Vor allem die Tatsache, dass in einer Situation des völligen Versagens des Sozialismus neue Sozialismusmodelle angepriesen wurden, stieß auch unter nichtmarxistischen Intellektuellen auf wenig Verständnis. Immer mehr nannten den Aufruf „naiv und politisch verfehlt“.657 Der Begriff „Sozialismus“ habe, so Uwe Grüning, ebenso seine Unschuld verloren wie „Blut und Boden“ nach 1945. Er werde nicht mehr freikommen von dem, was in seinem Namen unterdrückt, gemordet und gelogen wurde : „Es ist naiv zu glauben, am Wort ‚Sozialismus‘ hafte nur das Humane und Idealische seines Ursprungs und die Millionen verhungerter ukrainischer Bauern, die Millionen der in Stalins Lagern zu Tode gebrachten, der Wahnwitz menschlicher Hybris, Verängstigungen, Zerstörungen, seelische Verkrüppelungen fielen durch den bloßen Willen zum Neubeginn von ihm ab.“658 Ähnlich meinte Kurt Masur, das Wort „Sozialismus“ sei verbraucht. Man könne den Begriff nicht mehr ver wenden, ohne daran erinnert zu werden, was unter diesem Namen alles geschehen sei.659 Mit „beispielloser Sorglosigkeit“, so Frank Schirrmacher später, hätten die Wortführer der Zweistaatlichkeit Apokalypsen ausgemalt, nur weil sie ihre eigene Utopie gefährdet sahen, „die doch in Wahrheit die wirkliche Katastrophe gewesen wäre“.660 Günter Kunert sprach von einem „schlechten Witz“ „übertüchtiger

652 Vgl. Das Volk vom 5.12.1989; Neue Zeit vom 6.12.1989. 653 Leipziger Aufruf. In : FAZ vom 8.12.1989; vgl. Weißgerber, Von der friedlichen Revolution, S. 15–19. 654 Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 47. 655 Für unser Volk ein neues Angebot. Antwort auf den Aufruf von Christa Wolf, Stefan Heym und anderen, Schwerin, den 3.12.1989 ( ABL, H. XIX /8). 656 Vgl. Zachhuber / Quast, Anstiftung, S. 34. 657 Vgl. Leipziger Aufruf. In : FAZ vom 8.12.1989. 658 Grüning, Die zweite Reformation, S. 52. 659 Kurt Masur. In : Neues Forum Leipzig, S. 275. 660 Frank Schirrmacher, Eilige Wortführer. Stefan Heym dankt Helmut Kohl. In : FAZ vom 11. 9.1991.

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Ruinenbaumeister“.661 Rolf Schneider nannte den Appell „eine der albernsten Angelegenheiten, die mir je untergekommen ist“. Der Text beschreibe „gefühlig“ wie eine vom „kapitalistischen Egoismus strotzende Bundesrepublik die DDR in den Ausverkauf zwingen möchte“. Es lasse sich freilich nicht einsehen, „wie noch ausverkauft werden soll, was längst ausverkauft ist“. Die Meinung, der wahre Sozialismus lasse sich ausgerechnet auf dem Boden des „verwüsteten Ein - Drittel - Deutschlands“ ver wirklichen, zeuge von „chauvinistische( r ) Anmaßung und Überheblichkeit“.662 Ähnlich meinte Johannes Gross, das als „Ausverkauf“ beschimpfte wirtschaftliche Engagement sei die einzige Hoffnung für die DDR und werde eher für die Bundesrepublik als für den maroden SEDStaat eine Belastung darstellen. Der deutschen Einheit würden sich die entgegenstemmen, „die von der Vereinigung nichts zu erhoffen haben : die SED, die bislang privilegierten Intellektuellen ohne Marktchancen in einer freien Gesellschaft und jene, die vom Sozialismus mit menschlichen Antlitz träumen und nicht wahrnehmen können, dass es den nicht gibt“.663 Das dichotomische Weltbild von Gut und Böse, das „die schöne Utopie gegen die schnöde Wirklichkeit“ stelle, hatte, so Gert - Joachim Glaeßner später, „unverkennbare Ähnlichkeiten mit dem der Propagandisten des Marxismus - Leninismus“.664 Ein weiterer Kritikpunkt betraf die mit dem Aufruf intendierte Ausgrenzung Andersdenkender. Allerorten war im Zusammenhang mit dem Aufruf – wie bei der NDPD – die Rede davon, künftig solle es einen „Wettstreit zwischen Parteien und Menschen“ geben, „die für die Ideale der sozialistischen Gesellschaft einstehen“.665 Nach Meinung der FDJ sollten auch künftig nur Parteien erlaubt sein, die auf der Grundlage der sozialistischen Verfassung stünden.666 Für die Bauernpartei erklärte auch Maleuda, im demokratischen Sozialismus würden nur Parteien zugelassen sein, die die DDR als sozialistischen und eigenständigen Staat anerkennen. Kapitalistische Wege seien ausgeschlossen.667 LDPD Chef Gerlach schlug ein Wahlverfahren vor, nachdem die in der Nationalen Front vereinten Parteien, allerdings mit größerem Spielraum, sich der Wahl stellen dürften. „Feindliche Gruppierungen“ müssten ausgeschlossen werden.668 Vor allem aber vertrat man diese Positionen in der SED. Sie waren auch Handlungsgrundlage für das von Modrow geschaffene AfNS. Die Erkenntnis, so SEDIdeologe Reißig zwei Jahre später, dass eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft sich schlecht durch Reduzierung der Demokratie auf wenige sozialistische Parteien realisieren lassen würde, setzte bei den SED - Reformern 661 Günter Kunert, Traumverloren. Die Idee des Sozialismus scheitert. In : FAZ vom 30.11. 1989; ders., Der Euphorie wird die Tristesse folgen. In : Süddeutsche Zeitung vom 20.11.1989. Vgl. Naumann ( Hg.), Die Geschichte ist offen, S. 97–103. 662 Schneider, Die Einheit wird kommen, S. 204. 663 Johannes Gross, Misstrauen gegen Freiheit. In : FAZ vom 3.1.1990. 664 Glaeßner, Einheit oder Zwietracht, S. 135. 665 National - Zeitung vom 28.11.1989. 666 Junge Welt vom 12.12.1989. 667 Interview mit Günther Maleuda. In : Bauern - Echo vom 22.11.1989. 668 Interview mit Manfred Gerlach. In : General - Anzeiger vom 28./29.10.1989.

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„erst spät, sehr spät“ ein.669 Nicht nur in dieser Frage waren andere schneller. Professor Manfred Bierwisch kritisierte die Ausgrenzung der Teile der Bevölkerung, die nicht für eine sozialistische DDR einträten. Das Verfahren erinnere an die Praktiken der vergangenen Scheindemokratie. Es setze dumpfe Drohungen an die Stelle verantwortlicher Diskussionen und treibe durch die Beschwörung einer angeblichen sozialistischen Idylle neue Bevölkerungsgruppen zur Abwanderung.670 Auch Günter de Bruyn lehnte den Aufruf mit der Begründung ab, er bedeute eine Ausgrenzung Andersdenkender.671 Pfarrer Christian Führer von der Leipziger Nikolaikirche meinte, der Aufruf verschärfe durch seine „Schwarzweiß - Malerei die Probleme weiter. Das Leben könne nicht in ein „Entweder - Oder - Schema“ eingezwängt werden. Der Aufruf trage dazu bei, dass sich die Menschen auf der Straße „in zwei Extremen gegenüberstehen“.672 Den Akteuren wurde eine anmaßende Haltung vorgeworfen, die wenig mit Demokratie zu tun habe. Manfred Bier wisch meinte, wie im bisherigen SED - Staat würden die Unterzeichner versuchen, „ohne erkennbare Rechtsgrundlage und ohne die Möglichkeit, eine alternative Meinung zu bekunden“, ihre Meinung durchzusetzen.673 In der taz erklärte Christian Semler, die im Aufruf gezeichnete „Vorstellung eines behüteten Weges, einer pädagogischen Provinz“ werde der Wirklichkeit nicht standhalten.674 „Der Morgen“ fragte im Januar 1990, wie die Unterzeichner „zu dieser selbstherrlichen Wegweiserfunktion“ haben kommen können. Statt eine Diskussion zu führen, finde eine aus der Vergangenheit bekannte „Zustimmungs - und Unterzeichnungskampagne“ statt.675 Kluft zwischen Bevölkerung und Intellektuellen Der Aufruf „Für unser Land“ zeigte eine tiefe Kluft zwischen den politischen Zielen vieler marxistisch geprägter Intellektueller und den Forderungen einer breiten Mehrheit der Bevölkerung nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand, die in der deutschen Einheit die beste Chance sahen, diese zu ver wirklichen. Die intellektuelle Minderheit verwechselte wie so oft ihre eigenen politischen Träume mit denen der Bevölkerungsmehrheit.676 Während die gemeinsame Orientierung auf einen demokratischen Sozialismus überraschende Gemeinsamkeiten von Intellektuellen, Sprechern verschiedener Bürgergruppen und SED - Reformern zeigte, war die Bevölkerung an weiteren Sozialismusexperimen669 Reißig, Der Umbruch, S. 22 und 30. 670 Berliner Zeitung vom 4.1.1990. 671 Interview mit Günter de Bruyn im Deutschlandfunk am 2.12.1989. Vgl. DA, 23 (1990), S. 92. 672 Katharina Führer, Zeit zum Umdenken. Gespräch mit Christian Führer. In : Neues Forum Leipzig, (1989) Heft 10, S. 2 ( MDA, Neues Forum ). 673 Berliner Zeitung vom 4.1.1990. Vgl. Maier, Die Wende, S. 55. 674 taz vom 1.12.1989. 675 Der Morgen vom 3.1.1990. 676 Vgl. Schneider, Die abgetriebene Revolution, S. 83.

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ten nicht interessiert. Sie ging weiter auf die Straße und sorgte in dieser entscheidenden Phase für einen Fortgang der Entwicklung in Richtung Wiedervereinigung. Ohne die fortgesetzten Demonstrationen hätte sich die von Bürgergruppen und Intellektuellen angestrebte und von der SED halbherzig eingeleitete Dialogpolitik möglicherweise in einem reformierten Dialogsozialismus erschöpft, der die tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung wiederum unberücksichtigt gelassen hätte. Nachdem es für einige Wochen eine partielle Parallelität zwischen Bürgerbewegungen und Massenbewegung gegeben hatte, verspielten Wortführer wie Bohley mit ihren sozialistischen Visionen nicht nur die Chance, die Bewegungen zu Kristallisationspunkten neuer politischer Strukturen und der Erneuerung der politischen Parteienlandschaft werden zu lassen. Sie sorgte nicht nur für eine Polarisierung zwischen Bürgerrechtlern und Bürgern, sondern zerstörte mit ihren unabgestimmten Forderungen auch die Einheitlichkeit der Bürgerbewegung. Dabei gab es genügend Warnhinweise, die in Bewegungen wie dem DA und in Teilen des Neuen Forums, ja auch zum Umdenken führten, sofern dies, wie in Sachsen, überhaupt notwendig war. Die „Junge Welt“ veröffentlichte am 12. Dezember den Leserbrief eines Magdeburger Professors, in dem dieser „ein tief eingewurzeltes Misstrauen gegen alle linken Intellektuellen“ konstatierte : „Sie waren die Steigbügelhalter für die stalinistische und verbrecherische Führungsschicht, die uns im Namen des Sozialismus bis zum heutigen Zustand gebracht hat.“677 In der „taz“ war Anfang Dezember zu lesen, die „Abstinenz von der Beschäftigung mit der nationalen Frage“ weite täglich die Kluft zwischen den Aktivisten eines demokratischen Sozialismus und der Bevölkerung.678 Theo Lechtenberg fragte, „ob die neue, aus den Gruppen her vorgegangene Linke mit dem Bekenntnis zu Sozialismus und Eigenstaatlichkeit der DDR tatsächlich jene repräsentiert, die zu Hunderttausenden auf die Straße gehen“.679 Der Mitbegründer des DA, Edelbert Richter, kritisierte später, Linke hätten sich „moralisierend und ästhetisierend“ über die Bedürfnisse der Bevölkerung hinweggesetzt.680 Lutz Rathenow diagnostizierte eine große Entfernung der Unterzeichner von der Bevölkerung und kritisierte den „sehr pädagogischen lehrhaften Ton“, der die Autoren „viel mehr als Opfer und Resultat einer Diktatur“ ausweise, „als sie das wahrhaben wollen“.681 Teile der Linken, so Karsten Voigt, die zur Überschätzung der Freiheitsdimension nationaler Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt neigten, hätten die freiheitlichen Potentiale der deutschen Einigungsbewegung unterschätzt.682 Bohley ärgerte sich später, man sei „abgedriftet“ und „nicht in der Lage“ gewesen, „über den Tellerrand zu sehen“ und zu erkennen, dass die Wiedervereinigung vor der Tür stand. Man wollte 677 678 679 680 681 682

Junge Welt vom 12.12.1989. taz vom 1.12.1989. Lechtenberg, Von den informellen Gruppen, S. 339 f. Richter, Erlangte Einheit, S. 39–41. Zit. bei Bondy, Deutschland aus zweiter Hand, S. 211 f. Voigt, Deutschlandpolitische Perspektiven, S. 55.

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die DDR selbst verändern und habe „an diesem Traum selbst dann noch festgehalten, als die Realität längst eine andere war“. „Ich werfe uns vor, dass wir der CDU das Feld überließen. Das regt mich bis heute wahnsinnig auf.“683 Was im Ausland überraschte, war die Schmähung der Demonstranten durch Intellektuelle, wenn sie Wünsche formulierten, die nicht den eigenen ideologischen Vorstellungen entsprachen. Als die Demonstranten riefen „Wir sind ein Volk“, da erklärte Heiner Müller : „Wo in Deutschland Volk ist, ist der Feind nicht weit.“ In „Die Zeit“ erklärte Joseph von Westphalen, „das Einheitsgeschrei des DDRPöbels“ kotze ihn an.684 Kommentare Heyms über den angeblich kaufwütigen Pöbel kommentierte der französische Philosoph bulgarischer Herkunft Tzvetan Todorov, so könnten nur jene reden, die nie erfahren hätten, „welche Demütigung der ständige Mangel“ bedeute. Er sei „ein Anschlag auf die Würde des Einzelnen“ gewesen.685 Ende November verspielten die Bürgergruppierungen und die etablierten Intellektuellen, da sie die Forderungen nach deutscher Einheit nicht oder unzureichend klar ausdrückten, ihre Meinungsführerschaft bei den Demonstrationen. Der Aufruf „Für unser Land“ signalisierte dabei „den Beginn des selbstgewählten Abschieds der Intellektuellen von der Meinungsführerschaft und auch den Beginn der Selbstmarginalisierung der alternativen Gruppierungen“. Die Bevölkerung versah die Revolution daher nun allein mit dem „Impetus zur Einheit“. Die sozialistische Intelligenz wurde nicht mehr gefragt und nicht mehr gebraucht. Der politische Wille vollzog sich ohne sie.686 Stimmungsumschwung zugunsten deutscher Einheit An der allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung änderte der Aufruf „Für unser Land“ wenig. In Leipzig brach am 27. November mit dem Sprechchor „Deutschland einig Vaterland !“ und dem Transparent „Dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“ „eine Art nationale Revolution zur Wende in der ‚Wende‘ durch“.687 Von nun an beteiligten sich immer stärker die Teile der Bevölkerung an den Demonstrationen, die sich bislang zurückgehalten hatten. „Frei vom gewohnten Anpassungsdruck, der Angst vor staatlichem Zugriff, beflügelt zudem von der neuen Bewegungsfreiheit und dem endlichen Augenschein des ‚Westens‘“688 sagten viele jetzt erst ihre Meinung und dominierten bald die Minoritätsmeinung sozialistischer Erneuerer. Es kam bei vielen Menschen zu einem „inneren und äußeren Aufbruch“. Was viele nicht mehr für möglich gehalten hatten, trat ein. Plötzlich konnte man seine Meinung sagen, seine 683 684 685 686 687 688

Bärbel Bohley. In : Der Spiegel vom 7.11.1994, S. 41–43. Bondy, Deutschland aus zweiter Hand, S. 208 f. Lettre Internationale, Paris, Sommer 1990. Zit. bei ebd., S. 210. Fehrenbach, Das Trauma, S. 64. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 139. Staritz, Ursachen und Konsequenzen, S. 34.

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Unzufriedenheit publik machen und demonstrieren. Es schien möglich, das seit Jahrzehnten vorhandene System zu beseitigen. Man entdeckte, dass man die DDR gar nicht reformieren müsse, sondern einfach aufgeben könne.689 Plötzlich gab es wieder Zukunft. Neue Lebensmöglichkeiten taten sich auf. Das wurde von vielen als „unbeschreibliche Freude“ erfahren. Immer wieder hörte man Worte wie „es ist unvorstellbar“, „mir kommen die Tränen“, oder „das ich das noch erleben darf“. Der „Eintritt des Unvorstellbaren bedeutete ein Transzendieren bisheriger Wirklichkeitshorizonte“.690 Als die Bevölkerung diesen Prozess spürte, stieg sie zunehmend in den Veränderungsprozess ein und formulierte ihre Wünsche. Dadurch kam es immer stärker zu einer Veränderung der Forderungen. Die der Intellektuellen nach einem neuen Sozialismus wurden zugunsten der tatsächlichen Wünsche nach einem besseren Leben in jeder Hinsicht verdrängt. Allerdings wurde die Aufbruchstimmung auch durch Unsicherheiten überlagert. Schließlich hatte das System nicht nur aus SED - Funktionären und dem MfS bestanden. Fast alle waren auf irgendeine Weise in die Mechanismen eingebunden gewesen. Darüber wurde aber kaum diskutiert. Die Vielzahl neuer Eindrücke und Probleme überlagerte und verdrängte die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Die Eindrücke von den ersten Besuchen in der Bundesrepublik und die immer neuen Nachrichten von der korrupten Partei - und Staatsführung führten zu dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Eine Reform des Systems wurde abgelehnt, stattdessen formte sich die bisher stets vorhandene Orientierung an der Bundesrepublik nun in den offen formulierten Wunsch nach staatlicher Einheit um. Neu daran war, dass die Forderungen von Personen vorgetragen wurden, die in ihrer Heimat bleiben aber dennoch in der Bundesrepublik leben wollten. Edelbert Richter sprach polemisch von der „Masse der Unpolitischen“, die erst ihr Heil im Westen gesucht hätten und dann den Westen herüberholen wollten, um sich „auch die Mühe der Ausreise noch sparen zu können“.691 Mit einer Analyse der Situation hatte solche Polemik freilich wenig zu tun. Statt sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, ergingen sich viele Intellektuelle in Bevölkerungsbeschimpfung. Angesicht ihrer abgehobenen Haltung standen in der DDR keine Wortführer bereit. Vor allem die Arbeiterschaft suchte sich andere Interessenvertreter, um ihren Wunsch nach Verbesserung der Lebenssituation durchzusetzen. Viele Bürgergruppen kamen dafür nicht in Frage. Hier waren der Freiheitswille und der Wunsch nach Verbesserung der materiellen Situation zu wenig ausgeprägt. Der Mehrheit der werktätigen Bevölkerung schienen nun die Bonner Parteien am besten geeignet, ihre Interessen durchzusetzen. Ihr Ziel hieß Wiedervereinigung in Freiheit und Wohlstand. Darin drückte sich angesichts der Versuche, einen neuen Sozialismus in einer fortbestehenden DDR auszuprobieren, auch der Wille aus, den Sturz der alten Ordnung irreversibel zu machen. So setzte sich im Streben nach Wiedervereinigung die „Revolution mit anderen Mit689 Vgl. Rürup, Die Revolution, S. 19. 690 Pollack, Religion und gesellschaftlicher Wandel, S. 242. 691 Richter, Erlangte Einheit, S. 39–41.

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teln“692 fort. Die nun einsetzende nationale Wende der Revolution bestätigte eindrucksvoll die Realitätsferne der These vom „Volk der DDR“. Es zeigte sich, dass die Deutschen in der DDR kein Volk, sondern „ein gewaltsam abgespaltener Teil des deutschen Volkes“693 waren. Jetzt, da es wieder möglich war, eigene Überzeugungen zu formulieren, wurden latent vorhandene nationale Überzeugungen reaktiviert, die im Westen viele bereits für überwunden hielten. Anders als mit den Forderungen nach einem demokratischen Sozialismus, wie ihn vor allem Reformkräfte der Bürgergruppen und der SED anstrebten, konkurrierte die nationale Ausrichtung der Revolution nicht mit dem Bemühen um Demokratie und Liberalisierung. Die Forderungen nach parlamentarischer Demokratie, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit ließ sich nicht nur mit staatlicher Einheit gut verbinden, sie erwiesen sich geradezu als zwei Seiten einer Medaille. Nationale und liberal - demokratische Forderungen standen, wie schon 1848, aber anders als im wilhelminischen Reich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich, eng beieinander.694 Seit der DDR - Gründung hatte es in der Bevölkerung die Bereitschaft zur Angleichung an die Bundesrepublik immer gegeben. Sie war jedoch nach dem Versuch des 17. Juni 1953 durch die weltpolitischen Konstellationen und die sowjetische Vorherrschaft nie wieder zum Ausbruch gekommen. Die Chance, dieses Ziel nun doch noch zu erreichen, sah die Bevölkerungsmehrheit aber durch links - alternative Tendenzen in vielen Bürgergruppen, die auf einen verbesserten Sozialismus in einer eigenen DDR orientierten, ebenso gefährdet wie durch die SED selbst. Sie erkor daher die politischen Kräfte der Bundesrepublik zu ihren neuen Wortführern, bei denen man sich mit den eigenen Vorstellungen am besten aufgehoben fühlte. Zwar versuchten die sozialistischen Reformkräfte deren Einfluss zu unterbinden, was jedoch nicht mehr gelang. In der Bundesrepublik aber nahm man die neuen Angebote rasch an, wenn auch mit der notwendigen Zurückhaltung, die die internationale Dimension des Konfliktes verlangte. 1.6

Internationale Haltungen zur deutschen Frage

Da beide deutsche Staaten in ein komplexes europäisches Vertragswerk eingebunden waren, das Grundlage für Sicherheit und Zusammenarbeit nicht nur in Europa war, stand die Entwicklung in der DDR in einem engen Zusammenhang mit der Haltung der internationalen Nachbarn und Partner beider deutscher Staaten.695 Auf sie musste die Bundesregierung Rücksicht nehmen, wenn es denn schon die DDR - Bevölkerung nicht tat. Die mit Abstand wichtigste Rolle

692 693 694 695

Meuschel, Revolution in der DDR, S. 12. Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 311. Vgl. Kocka, Umbrüche, S. 54 f. Zur Haltung der Staaten in der deutschen Frage vor dem Umbruch vgl. Horn / Mampel, Die deutsche Frage.

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spielten hier die USA und die UdSSR, von Bedeutung war aber auch die Haltung der EG und der NATO. NATO : Die Politik der Bundesregierung, auf Grundlage aller Verträge und Vereinbarungen in Richtung Wiedervereinigung zu wirken, indem das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR unterstützt wurde, setzte die westlichen Partner unter Druck. Um das besiegte Deutschland in den Westen einzubinden und als unberechenbaren Faktor der europäischen Politik auszuschalten, war man in den fünfziger Jahren auf das Ansinnen Adenauers eingegangen, die Wiedervereinigung für den Fall aller Fälle zu unterstützen. Dieser hatte ein Junktim zwischen westeuropäischer Einbindung der Bundesrepublik und westlicher Unterstützung einer Wiedervereinigung postuliert. Entsprechende Bekenntnisse waren in ritualisierter Form seitdem immer wiederholt worden. Durch vertragliche Vereinbarungen waren die Interessen der Bundesrepublik seit der Regierungszeit Adenauers so mit der westeuropäischen Staatengemeinschaft verwoben worden, dass die Bundesrepublik aus diesen Abmachungen eine klare Unterstützung für ihre Politik der deutschen Einheit ableiten konnte. Zuletzt hatten die drei westlichen Mächte im Sommer 1980 ihre Unterstützung einer Wiedervereinigung Deutschlands erklärt696 und im Juni 1982 auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in der DDR bekräftigt.697 Freilich war diese Symbiose in den westlichen Partnerstaaten weitgehend unbekannt. Dies galt vor allem für die normative Wirkung der Deutschlandverträge gegenüber den westlichen Mächten. Nach Meinung Kohls war ihr Verhältnis zur deutschen Einheit ebenso ambivalent wie bei weiten Teilen der Oberschicht in der Bundesrepublik : „Auch bei uns wurden Bekenntnisse abgelegt zur deutschen Einheit [...] mit dem Hintergedanken, es werde in Sachen Einheit schon nichts passieren.“698 Vielmehr gab es trotz öffentlicher Lippenbekenntnisse direkte Gegner einer Wiedervereinigung. Nach Gesprächen Gorbatschows mit Thatcher, Mitterrand und Andreotti war für diesen z. B. „klar“, dass diese Politiker „von der Bewahrung der Realitäten der Nachkriegszeit, einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten ausgehen“. Eine Entwicklung zur deutschen Einheit würde von ihnen „als äußerst explosiv für die gegenwärtige Situation“ angesehen.699 Dennoch konnten die westlichen Partner Bonns nun nicht so tun, als wären ihre bisherigen Erklärungen ohne Bedeutung. Auch unter US - amerikanischem Druck erklärte der NATO - Oberbefehlshaber in Europa, US - General John Galvin, am 18. November, es gebe im Westen „keine generellen Bedenken“ gegen eine Wiedervereinigung Es seien jedoch einige Fragen hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs, des Verfahrens und des „generellen Stils der Idee“ zu berücksichtigen.700 696 697 698 699

Vgl. Deutscher Bundestag, 9. WP., Drs. 9/678 vom 20. 7.1981. Vgl. Informationen des BMB 12 von 1982, S. 5 f. Interview mit Helmut Kohl. In : Welt am Sonntag vom 27. 9.1992. Vgl. Niederschrift des Gesprächs von Egon Krenz mit Michail Gorbatschow am 1.11.1989 in Moskau ( SAPMO - BArch, SED, ZK, IV 2/1/707). 700 Interview mit John Galvin. In : Süddeutsche Zeitung vom 18./19.11.1989.

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Europäische Gemeinschaft : Wegen der Entwicklung in Deutschland fand am 18. November auf Einladung Mitterrands im Pariser Elysée - Palast eine Sondersitzung der zwölf EG - Regierungschefs statt. Ihr Ziel war eine Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses und die Einbindung der DDR in den Kontext der Reformentwicklung in Ost - und Mitteleuropa. Zuvor hatte das Europäische Parlament in Straßburg am 12. Oktober in einer gemeinsamen Resolution der Christdemokraten, Sozialisten, Liberalen und Grünen die Regierung der DDR zu demokratischen Reformen und zur Beachtung der KSZE - Schlussakte von Helsinki aufgefordert. Es sei das „legitime Recht der DDR - Bewohner, ihr Wirtschaftssystem, ihre Regierungsform und über die Zukunft ihres Landes selbst zu bestimmen“.701 Die EG wurde durch die Entwicklung aus ihrer „weitgehend von Unkenntnis und Passivität gekennzeichneten Haltung gegenüber der DDR“ herausgerissen.702 EG - Kommissar Martin Bangemann hatte sich Anfang November in Ost - Berlin für eine baldige Aufnahme von Verhandlungen zwischen der EG und der DDR ausgesprochen.703 Der Präsident der EG - Kommission, Jaques Delors, sprach vom „Sonderfall“ DDR und erwähnte die Möglichkeit, diese könne bei einer Wiedervereinigung entweder als Teil der Bundesrepublik oder als unabhängiges Land der EG beitreten.704 Dagegen gab es nicht nur Widerstand aus London, auch die UdSSR forderte die EG auf, beim Gipfel die Unverrückbarkeit der deutschen Grenzen festzuschreiben. Gorbatschow betonte, es sei nicht die richtige Zeit, bestehende politische und wirtschaftliche Gebilde zu zerstören.705 Obwohl die internationale wie innenpolitische Diskussion über eine Wiedervereinigung längst voll entbrannt war, gab Bundeskanzler Kohl die Weisung, in der öffentlichen Diskussion Zurückhaltung zu üben. So wurde das Problem einer möglichen Wiedervereinigung in Paris von keiner Seite direkt angesprochen.706 Kohl forderte allerdings, dem deutschen Volk müsse ermöglicht werden, selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Er trat Befürchtungen entgegen, die Bundesregierung könne angesichts der Entwicklung in der DDR ein Interesse an der westeuropäischen Einigung verlieren. Die Verankerung im Westen sei Teil bundesdeutscher Staatsräson. Thatcher forderte die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki, die Beibehaltung der Grenzen in Europa und den Erhalt von NATO und Warschauer Pakt.707 Nach dem Gipfel relativierte Delors seine Überlegungen zunächst dahingehend, dass die Gemeinschaft die Frage eines Beitritts erst nach Vollendung des Binnenmarktes aufgreifen werde.708 Ungeachtet dessen kommt ihm das Verdienst zu, frühzei701 Protokoll der Sitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg vom 12.10.1989. In : Texte zur Deutschlandpolitik III /7, S. 286 f. 702 Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, S. 20. 703 Vgl. Informationen des BMB 21 vom 17.11.1989, S. 5. 704 European Commission has defined some principles and guidelines. In : Agence Europe vom 15.11.1989, S. 6. 705 Vgl. Kölner Stadt - Anzeiger vom 16.11.1989. 706 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 37 f. und 41. 707 Vgl. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1099. 708 Vgl. EEC - East Germany : Mr. Delors reaffirms that the GDR constitutes a special Case. In : Agence Europe vom 30.11.1989, S. 5.

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tig den nicht mehr zu kontrollierenden Entscheidungskonflikt der Deutschen zwischen Wiedervereinigung und europäischer Integration erkannt zu haben. Er versuchte von Anfang an, die deutsche Vereinigung in die europäische Integration einzubinden und zu deren Beschleunigung zu nutzen.709 Am 23. November bekräftigte das Europa - Parlament das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR und ihr Recht, über das politische und wirtschaftliche System sowie eine Wiedervereinigung in einem einigen Europa zu entscheiden.710 In der Debatte wurden jedoch eine Reihe von Vorbehalten geäußert, die sich insbesondere auf die Oder - Neiße - Grenze und die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft bezogen.711 USA : Die USA waren, so US - Botschafter Vernon Walters, „nahezu die einzigen, die sich klar für die Einheit Deutschlands in allernächster Zukunft aussprachen, vorausgesetzt, sie würde auf friedliche und demokratische Weise, durch eine klare Willensäußerung des ganzen deutschen Volkes erreicht werden“.712 Schon Anfang September nannte Walters eine Wiedervereinigung Deutschlands auf friedlichem Wege und durch freie Wahlen wünschenswert.713 US - Präsident Georg Bush erklärte am 24. Oktober, er „teile nicht die Besorgnis einiger europäischer Länder über ein wiedervereinigtes Deutschland“, denn er „glaube, die Verpflichtung und Erkenntnis der Bundesrepublik über die Bedeutung der Allianz ist unerschütterlich“. Er glaube nicht, dass die Bundesrepublik einen neutralistischen Kurs einschlagen werde.714 Anders als in London oder Paris ging man in Washington davon aus, dass die Wiedervereinigung nicht mehr aufzuhalten war, da die UdSSR nicht mehr in der Lage war, ihr Imperium zu erhalten. In Deutschland sah man die künftig stärkste Macht auf dem Kontinent, und es lag demnach im Interesse der USA, freundschaftlichste Beziehungen zu ihr zu pflegen.715 Kissinger teilte Bush am 13. November seine Auffassung mit, die Wiedervereinigung stehe „unausweichlich“ bevor und warnte den Präsidenten : „Wenn die Deutschen das Gefühl bekommen, dass wir ihre Bestrebungen unterlaufen, werden wir später dafür bezahlen müssen.“ Falls man nicht selbst auf die deutsche Einheit setze, habe Gorbatschow die Handhabe, sich auf die Seite Kohls zu schlagen, der auf eine rasche Wiedervereinigung dränge. Da die Wiedervereinigung nicht zu verhindern sei und eine Verzögerungstaktik Ressentiments bei den Deutschen hervorrufe, sei es besser, sich von vornherein dafür einzusetzen. Freilich müsse Deutschland Mitglied der NATO bleiben.716 Am 16. November erklärte auch Walters, wer sich gegen die Wiedervereinigung

709 Vgl. Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, S. 64. 710 Vgl. FAZ vom 24.11.1989. 711 Vgl. Claus Schöndube, Protokoll eines aufregenden Jahres. Die Einbindung des vereinigten Deutschlands in die EG. In : Das Parlament 51 vom 14.12.1990. 712 Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 94. 713 taz vom 25. 9.1989. 714 New York Times vom 24.10.1989. 715 Vgl. Joffe, Amerikas Rolle, S. 16. 716 Vgl. Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 181 f.

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wende, werde „politisch hinweggefegt“ werden.717 Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Bewertung meinte man in Washington, „dass die künstliche Teilung Deutschlands viel größere internationale Spannungen heraufbeschwor als ein friedlich geeintes, demokratisches Land“.718 Der Chefberater des amerikanischen Außenministers, Bob Zoellick, erklärte später : „Unsere starke Unterstützung für diesen Prozess würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das deutsche Volk freiwillig in den westlichen Strukturen verbleiben würde. In der Tat konnte langfristige Diskriminierung oder Aussonderung nur die Saat für künftigen Ärger streuen.“719 Andererseits war man unter allen Umständen bemüht, eine Entwicklung zu verhindern, die sich negativ auf die Position Gorbatschows im sowjetischen Machtapparat auswirken konnte.720 In der US - Außenpolitik entwickelte sich deswegen, so Walters, „eine kuriose Zweigleisigkeit“. Während Präsident Bush mit Kohl die deutsche Einheit befürwortete, stand Außenminister Baker eher den Positionen Genschers nahe.721 Deswegen wollte Bush nach dem Fall der Mauer auch „nicht auf der Mauer tanzen“, sondern verhindern, dass die Ereignisse sich als Niederlage der UdSSR darstellten.722 Intern aber teilte Außenminister Baker am 21. November Genscher die strategische Entscheidung der USA für eine Wiedervereinigung Deutschlands mit. Genscher wies darauf hin, dass sich in der DDR eine „Wiedervereinigung von unten“ abzeichne.723 Am 29. November fasste Bush die Haltung seiner Regierung in Washington in „Vier Prinzipien“ zur deutschen Vereinigung zusammen : Selbstbestimmung, Bekenntnis zur NATO, friedliche und schrittweise Vereinigung, Bestätigung der Grenzen in Europa.724 Frankreich : Im Juli 1989 hatte sich François Mitterrand für eine Wiedervereinigung auf friedlichem und demokratischem Wege ausgesprochen. Im September hatte Außenminister Dumas gemeint, die Wiedervereinigung sei bereits im Gange. Mitterrand sprach von den „legitimen Sorgen der Deutschen um Einheit“ und Giscard, der immer versucht hatte, die deutsche Teilung fortzuschreiben, sprach plötzlich wieder von „demselben Volk“ der Deutschen in beiden Staaten.725 Immer dominierte jedoch in der französischen Haltung die Schaffung der europäischen Einheit. Anfang Oktober hatte der stellvertretende Leiter des französischen Instituts für Außenpolitik, Moïsi, erklärt, heute müsse der Ausspruch François Mauriacs, „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zwei davon will“, einem neuen weichen : „Ich brauche Europa so sehr, dass ich willens bin, ein vereintes Deutschland anzunehmen.“ Ein starkes Europa von morgen bedeute ein „starkes, stabiles und zufriedenes Deutschland in seiner Mitte“. 717 718 719 720 721 722 723 724 725

Zit. bei Horst Teltschik. In : Der Spiegel vom 23. 9.1991. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 94. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 58. Vgl. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 95. Ebd., S. 91. Zit. bei Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 177 f. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 48; Horst Teltschik. In : „Der Spiegel“ vom 23. 9.1991. Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 145; Kap. IV.2.1. taz vom 25. 9.1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Die Wiedervereinigung werde kommen und Westeuropa sollte sie vorsichtig handhaben.726 Der französische Botschafter in Bonn, Serge Boidevaix, hatte am 17. Oktober noch einmal betont, Frankreich stelle sich der deutschen Wiedervereinigung nicht entgegen,727 und auch Mitterrand bezeichnete den Wunsch nach Wiedervereinigung Anfang November als legitim. In diesem Fall werde Frankreich „zum Besten der Interessen Europas und seiner Bewohner“ handeln.728 Noch am 9. November äußerte auch der französische Premierminister Rocard Verständnis für den Wunsch nach Wiedervereinigung.729 Trotz all dieser Zustimmung war die Reaktion auf die Grenzöffnung am 10. November gespalten. Während die Presse enthusiastisch berichtete, reagierte das politische Frankreich zurückhaltend. Der Sprecher und Berater des französischen Präsidenten, Hubert Vedrine, erklärte unter Anspielung auf die Rolle, welche die EG bei der Zügelung Deutschlands spiele, jetzt müsse es „ein stärkeres EG - Europa“ geben. Mitterrands Vertrauter, der Präsident der französischen Nationalversammlung, Laurent Fabius, brachte die „sehr, sehr reservierte Haltung“ der französischen Regierung auf den Punkt und drohte : „Wenn man die Wiedervereinigung Deutschlands gegen den Aufbau Europas setzt, so wird das schwer wiegende Probleme stellen.“730 Außenminister Dumas warnte vor einer „Überstürzung“ in der deutschen Frage und erinnerte an das Mitspracherecht der Vier Mächte.731 Trotz dieser Stellungnahmen stellte sich Frankreich nicht gegen die Wiedervereinigung. Allerdings überwog nach dem Mauerfall die Sorge vor einer Störung des europäischen Gleichgewichts durch eine „wilde Wiedervereinigung“. Die französische Regierung orientierte auf einen langfristigen Übergang. Im Gegensatz zu Thatcher ging es Mitterrand vor allem darum, den europäischen Einigungsprozess voranzubringen, deutsche Nuklearwaffen zu verhindern und die Abtrennung der deutschen Ostgebiete dauerhaft festzulegen. Das waren für ihn die Kriterien auch der Beurteilung seiner Deutschlandpolitik.732 Seine Haltung bewirkte freilich Reaktionen, „die den missverständlichen Eindruck aufkommen ließen, Frankreich wolle die deutsche Einheit verhindern“.733 Dumas erklärte am 15. November in Moskau, auch das deutsche Volk habe das Recht auf Selbstbestimmung. Das Schicksal eines Volkes dürfe aber von den anderen nicht als Gefahr empfunden werden.734 Am 22. November informierte der Elysée darüber, Mitterrand werde sich am 6. Dezember mit Gorbatschow in Kiew treffen. Am Vortag hatte die französische Regierung ohne Konsultation mit Bonn dessen Besuch in der DDR vom 20. bis 22. Dezember angekündigt. Im Bundeskanzleramt war man über das 726 727 728 729 730 731 732 733 734

FAZ vom 9.10.1989. Vgl. Boidevaix, Der französische Standpunkt, S. 12. Frankreich - Info 28/89 vom 10.11.1989. Vgl. FAZ vom 10.11.1989. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 51 f. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 143 f. Kolboom, Vom geteilten zum vereinten Deutschland, S. 45. Vgl. FAZ vom 16.11.1989.

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Vorgehen der französischen Regierung unzufrieden und spekulierte über die Absichten Mitterrands.735 In einem Vier - Augen - Gespräch mit Genscher stellte Mitterrand deswegen klar, die Einheit Deutschlands sei aus seiner Sicht eine „historische Notwendigkeit“ und werde von Frankreich unterstützt. Allerdings fragte er besorgt, wie es das vereinte Deutschland mit dem europäischen Einigungsprozess halten werde. Genscher erklärte, auch der sei eine historische Notwendigkeit.736 Mitterrand erklärte Ende November, er habe keine Angst vor einer Wiedervereinigung, was nicht bedeute, dass er sie begrüße. Durch eine Wieder vereinigung könnten die Nachkriegsgrenzen in Frage gestellt werden, was zu Spannungen und Krisen führen könne.737 Großbritannien : Die britische Regierung unter Thatcher erwies sich im Herbst 1989 als energischster Gegner einer Wiedervereinigung. Zwar hatte es auch hier immer Lippenbekenntnisse gegeben, aber, so Edward Heath, „Wir haben natürlich gesagt, dass wir an die deutsche Wiedervereinigung glauben, weil wir wussten, dass sie nicht passieren würde.“738 Solche Erklärungen stellten freilich die Glaubwürdigkeit britischer Politik und geschlossener Verträge mit Großbritannien insgesamt in Frage. Im Sinne einer Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte der britische Außenminister noch am 21. September 1989 in Bonn erneut erklärt, an der britischen Unterstützung des Wunsches nach Wiedervereinigung habe sich nichts geändert. Ziel der Alliierten sei „ein wiedervereinigtes Deutschland mit genau dem gleichen demokratischen System wie das der Bundesrepublik“.739 Wurde das Zusammenwachsen Deutschlands aus Sicht der britischen Bevölkerung vielleicht als normaler Prozess angesehen,740 so galt dies für Downing Street No. 10 allerdings tatsächlich nicht. Bereits im September 1989 machte sich Thatcher Gedanken darüber, wie eine deutsche Wiedervereinigung zu verhindern sei. Gegenüber Gorbatschow erklärte sie, „dass uns in der NATO diese Aussicht nun doch recht bedenklich stimmte – obwohl wir uns aus Tradition zur deutschen Wiedervereinigung bekannten“. Kohl gegenüber, der aus ihrer Sicht die Entwicklung gezielt schürte,741 erklärte sie, die deutsche Wiedervereinigung stehe nicht auf der Tagesordnung. Erst müssten überall in Osteuropa demokratische Strukturen verankert werden und abgewartet werden, ob diese auch funktionierten. Erst dann könne „vielleicht die Frage gestellt werden“.742 Beim „Lord Mayor’s Banquet“ in der Londoner Guildhall signalisierte Thatcher der sowjetischen Führung am 14. November, die westeuropäischen Staaten beabsichtigten keinesfalls, die DDR aus dem Warschauer Pakt herauszubrechen. Das Tempo der Entwicklung in der DDR könne den 735 736 737 738 739 740 741 742

Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 26 und 47. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 60. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 26./27.11.1989. Zit. in Süddeutsche Zeitung vom 20. 9.1989. taz vom 25. 9.1989. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22. 9.1989. Vgl. Ash, Ein Jahrhundert, S. 386. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1097. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 52.

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Demokratisierungsprozess in Osteuropa gefährden.743 In Berlin bestätigte der britische Außenminister am 16. November, eine Wiedervereinigung stehe aus britischer Sicht „nicht auf der Tagesordnung“.744 Vom Selbstbestimmungsrecht der Deutschen war keine Rede mehr. Gegenüber US - Präsident Bush warnte Thatcher am 24. November in Camp David vor den Folgen der deutschen Wiedervereinigung, insbesondere für die Stabilität der Herrschaft Gorbatschows, fand aber keine Zustimmung.745 In der „Times“ erklärte sie, dass es „für viele Jahre nicht in Frage kommt, die Grenzen Deutschlands neu zu ziehen“.746 Da sie „von den Amerikanern in Bezug auf eine Verlangsamung der deutschen Wiedervereinigung weiterhin nichts erwarten konnte“, setzte sie, „falls es noch Hoffnungen gab, die deutsche Wiedervereinigung aufzuhalten“, auf eine Achse zwischen Großbritannien und Frankreich.747 Freilich war in Großbritannien nicht nur in der Bevölkerung die Meinung verbreitet man solle den Deutschen mehr als vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht länger das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. So forderte z. B. der britische EG - Kommissar Leon Brittan die EG Anfang November auf, sich positiv zur Wiedervereinigung zu stellen. Widerstände dagegen erhöhten die Gefahr, dass die Deutschen die Teilung außerhalb der EG in einem Handel mit der UdSSR zu überwinden suchten. Sich gegen die Wiedervereinigung zu stellen, erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einer ungewünschten Form doch komme.748 Andere westliche Verbündete : Neben Großbritannien zeigten sich auch andere westliche Partner der Bundesrepublik ablehnend.749 Der italienische Ministerpräsident, der Christdemokrat Giulio Andreotti, erklärte Ende November, die Existenz zweier deutscher Staaten sei heute „ein Faktum, eine Wirklichkeit, die nicht bestritten“ werde. Er wünsche sich, dass eine deutsche Wiedervereinigung nicht stattfinde.750 Schon 1984 hatte er als Außenminister zur Freude der SED gefordert, der „Pan - Germanismus“ müsse überwunden werden. Es gebe zwei deutsche Staaten, und zwei sollten es bleiben. Damals hatte ihm der sozialistische Ministerpräsident Craxi widersprochen und betont, Italien bleibe seiner Politik der offiziellen Unterstützung der deutschen Wiedervereinigung treu.751 Am 16. November erklärte auch der spanische Außenminister Francisco Fernandez Ordonez, eine Wiedervereinigung Deutschlands stehe nicht auf der Tagesordnung. Wenn „die Völker“ beider deutscher Staaten jedoch langfristig den Wunsch hätten, sich zu vereinigen, werde es „schwer sein, das zu verhindern“.752 743 744 745 746 747 748 749

Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 16.11.1989. FAZ vom 17.11.1989. Vgl. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1099. Interview mit Margaret Thatcher. In : Times vom 24.11.1989. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1101 f. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9.11.1989. Vgl. Petersen, Die Einigung, S. 55–90; Bernecker, Spanien und die deutsche Einheit, S. 91–108. 750 Interview mit Giulio Andreotti in Corriere della Sera. Zit. in FAZ vom 27.11.1989. 751 Informationen des BMB 18 vom 21. 9.1984, S. 9. 752 Interview mit Francisco Fernandez Ordonez. In : El Pais vom 16.11.1989.

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UdSSR : Bei der sowjetischen Haltung zur deutschen Frage spielten Stabilitätserwägungen eine zentrale Rolle. Dem entsprachen Erklärungen, wonach die UdSSR keine grundsätzlichen Einwände gegen eine Vereinigung beider deutscher Staaten habe, jedoch befürchte, dass Europa dadurch destabilisiert werde. Jewgeni Primakow, Präsident des Unionsrates des Obersten Sowjet, erklärte, die Stabilität in der Welt werde von einer Wiedervereinigung nicht profitieren. Deshalb sei die Frage der deutschen Einheit nicht aktuell.753 Am 25. Oktober erklärte Gorbatschow, die Sowjetunion habe „weder das moralische noch das politische Recht“, sich in die Geschehnisse in Ostmitteleuropa einzumischen. Das gelte aber nur, wenn sich auch der Westen nicht einmische. Gerassimow erklärte die Breschnew - Doktrin für überholt. An ihrer Stelle gelte nun die „Frank - Sinatra - Doktrin“ mit dem Motte „I did it my way“.754 Drei Tage nach dem Mauerfall warnte Gorbatschow in mündlichen Botschaften an Mitterrand, Thatcher und Bush vor Erklärungen in der Bundesrepublik, die sich gegen die Existenz zweier deutscher Staaten richten. Versuche, die sich in der DDR dynamisch entwickelnden Prozesse der Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben, könnten eine Destabilisierung der Lage nicht nur im Zentrum Europas, sondern auch darüber hinaus nach sich ziehen.755 Am 15. November erklärte er anlässlich des Besuches des französischen Außenministers Dumas in Moskau, die Wiedervereinigung sei kein aktuelles Thema. Diskussionen darüber wären eine Einmischung in die Angelegenheiten Westdeutschlands und der DDR.756 Die UdSSR begrüßte zwar die von der SED angekündigten Reformen, lehne aber alles ab, was als Einmischung von außen oder Infragestellung der vorhandenen Grenzen aufgefasst werden könnte.757 Kwizinskij meinte nach dem Fall der Mauer, die Wiedervereinigung sei nicht mehr abzuwenden. Die UdSSR müsse über die DDR Einfluss auf die Entwicklung behalten. Am besten wäre es, die DDR zu veranlassen, eine Konföderation zu unterstützen. Dieses Konzept sollten neue politische Parteien vortragen, da man der SED „wahrscheinlich nicht glauben“ würde.758 Nach Darstellung Sagladins hatte sich neben Falin auch Kwizinskij noch kurz zuvor für den Einsatz von Panzern zur Verhinderung der Wiedervereinigung ausgesprochen.759 Am 21. November fragte Falins Abgesandter Portugalow Teltschik in Bonn, ob der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung aus Bonner Sicht noch Priorität vor der Lösung der deutschen Frage habe. Portugalow machte ihm klar, die sowjetische Führung könnte langfristig einer „wie immer gearteten deut753 Bundespresseamt : BPA - Ostinfo vom 30.10.1989. Vgl. Pfeiler, Moskau, S. 191. 754 Zit. bei Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 176. 755 Michail Gorbatschow an François Mitterrand, Margaret Thatcher und George Bush vom 13.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, IV 2/2.039/319, Bl. 20 f.). 756 TASS vom 17.11.1989. Prawda vom 16.11.1989 ließ den letzten Satz weg. 757 Vgl. FAZ vom 16.11.1989. 758 Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 17. 759 Vgl. FAZ vom 10. 3.1995.

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schen Konföderation grünes Licht geben“.760 Vizeaußenminister Viktor Karpow erklärte, die UdSSR habe nicht prinzipiell etwas gegen die deutsche Einheit. Es müsse aber von der Existenz zweier Staaten ausgegangen werden. Außerdem sei eine Willensbekundung des deutschen Volkes erforderlich.761 Gegenüber dem sowjetischen Fernsehen erklärte Gorbatschow Ende November noch einmal, aus seiner Sicht sei eine Vereinigung beider Staaten nicht aktuell.762 Nach Meinung Kotschemassows war „die herrschende Philosophie“ des Politbüros der KPdSU zu diesem Zeitpunkt bereits freilich die, dass der Prozess der Wiedervereinigung unumkehrbar und durch die UdSSR nicht mehr zu verhindern sei. Daher sollte alles getan werden, „damit Deutschland uns in Zukunft nicht bedrohen könnte“.763 Polen : Der Machtwechsel in Polen im Sommer 1989 hatte die Voraussetzungen für eine Neuorientierung der polnischen Haltung zur deutschen Wiedervereinigung geschaffen. Die polnische Haltung ähnelte nun der Frankreichs. Die bisherigen kommunistischen Positionen wiederholte Anfang Oktober Ryszard Wojna, seit Jahrzehnten tonangebender Deutschlandexperte der PVAP. Danach hatte jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung, nur nicht die Deutschen. Deren staatliche Existenzform sei vielmehr Sache aller Europäer und speziell ihrer Nachbarn. Bei den Deutschen sei eher auszuschließen, ihnen „auf Ehrenwort“ trauen zu können. Wojna meinte, auch Michnik und Geremek täten nur so, als seien sie für die Wiedervereinigung Deutschlands. In Wirklichkeit seien sie wie die große Mehrheit der Polen dagegen.764 Zum 40. Jahrestag der DDR erschien in „Trybuna Ludu“, dem Blatt der PVAP, ein Artikel von Ryszard Drecki, in dem er die Gründung des SED - Staates 1949 als notwendig bezeichnete. Auch in der Gegenwart sei die Existenz der DDR ein tragendes Element der europäischen Ordnung. Eine Wiedervereinigung brächte die europäische Einigung und die friedliche Umgestaltung Osteuropas zum Entgleisen.765 Diese Auffassungen waren freilich im Herbst 1989 nicht mehr tonangebend. Ministerpräsident Mazowiecki ver wies in seiner Regierungserklärung vom 12. September darauf, dass die polnische Außenpolitik im Zeichen des Wandels und der Aufrechterhaltung der Stabilität stünden. Deutschlandpolitisch bedeute dies die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen und die Entwicklung der Zusammenarbeit mit beiden deutschen Staaten. Seine Regierung strebe durch einen Wandel ihrer Außenpolitik die Verknüpfung der Ost - , West - , Europa - und Deutschlandpolitik an. In Anknüpfung an die Gemeinsame Erklärung der polnischen und der deutschen Katholiken zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges vom August 1989 ziele die neue Politik auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem und die Schaffung eines geeinten Gesamteuropas. 760 761 762 763 764 765

Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 67. Vgl. Bundespresseamt : BPA - Ostinfo vom 20.11.1989. Vgl. Bundespresseamt : BPA - DDR vom 20.11.1989. Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 147. Vgl. FAZ vom 3.10.1989. Ebd. vom 9.10.1989.

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Für die neue polnische Deutschlandpolitik hieß das, gemeinsame Ziele und Interessen unter der Bedingung der definitiven Anerkennung der polnischen Westgrenze von Seiten des „sich vereinigenden und dann vereinigten Deutschlands“766 zu verfolgen und zu ver wirklichen. Am 24. September nahm Außenminister Skubiszewski im polnischen Fernsehen Stellung zur deutschen Frage und ließ den Wandel der Deutschlandpolitik der Regierung Mazowiecki erkennen. Er erklärte die Wiedervereinigung zur „Sache der Deutschen“. Auch diese hätten ein „Recht zur Selbstbestimmung, auch über ihr Schicksal als Staat“. Zu beachten seien aber auch die Rechte der Siegermächte, über die künftige Gestalt Deutschlands zu bestimmen und der gesamteuropäische Aspekt. Hier hätte „ganz Europa mitzureden, insbesondere aber die Nachbarn Deutschlands“. Die Betrachtungsweise Skubiszewskis wich wesentlich von der Deutschlandpolitik vorheriger polnischer Regierungen ab, wonach die Offenheit der deutschen Frage überholt und die Viermächte - Verantwortlichkeit der Alliierten als Ganzes von den Realitäten überholt galt.767 Die polnische Haltung zur deutschen Vereinigung basierte nach Aussage von „Gazeta Wyborcza“ vom 13. November auf vier Prämissen. Erstens ging die Regierung Mazowiecki davon aus, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen sei zu achten und die Vereinigung Deutschlands vom gleichberechtigten Willen der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten abhängig. Als zweite und dritte Prämisse galten die Verantwortlichkeiten der Alliierten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes sowie die Einbindung der deutschen Vereinigung in eine gesamteuropäische Integration, verbunden mit der Schaffung einer neuen Struktur der europäischen Sicherheit. Viertens dürften sich die beiden deutschen Staaten „lediglich und ausschließlich in ihren gegenwärtigen Grenzen vereinigen“.768 In diesem Sinne erklärte Außenminister Krzysztof Skubiszewski, Polen respektiere das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen im Rahmen der europäischen Grenzen. Deutschlands Wiedervereinigung sei für Polen dann ein Problem, wenn dadurch Polens Grenzen unsicher würden.769 Ungarn : Auch Ungarns Außenminister Gyula Horn nannte am 18. November die Wiedervereinigung „unabwendbar“ und plädierte dafür, dass das vereinte Deutschland neutral sein sollte.770 Israel : Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Juden im Nazideutschland waren die meist ablehnenden Stimmen aus Israel zu deuten. Unmittelbar nach dem Mauerfall erklärte z. B. der Chefredakteur der israelischen Tageszeitung „Haarez“, Gerschom Schocken, im Fernsehen, es sei sehr wichtig, dass Deutschland gespalten bleibe. In der Zeitung „Jediot Achronot“ hieß es, vielleicht sei die Wiedervereinigung unvermeidlich, „aber bitte nicht in dieser Generation“. Israels Ministerpräsident Yitzchak Schamir sprach angesichts des demokrati766 767 768 769 770

Gazeta Wyborcza vom 27. 4.1990. FAZ vom 25. 9.1989. Wec, Die polnische Haltung, S. 524. Interview mit Krzysztof Skubiszewski. In : Die Welt vom 13.11.1989. Interview mit Gyula Horn. In : ebd. vom 18.11.1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

schen Aufbruchs im Osten Europas von einer Phase der Instabilität, die viele Gefahren in sich berge.771 Am 16. November erklärte er : „Ein starkes und vereinigtes Deutschland wird vielleicht wieder versuchen, das jüdische Volk zu vernichten.“772 Auch der Jüdische Weltkongress wandte sich strikt gegen die deutsche Einheit und für den Erhalt des SED - Regimes. Am 30. November übermittelte Maram Stern DDR - Außenminister Oskar Fischer Grüße vom Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman. Dieser ließ übermitteln, der Jüdische Weltkongress sei „ein Freund der DDR und werde es bleiben“. Stern erklärte, seine Organisation werde alles tun, um eine Wiedervereinigung zu verhindern.773 In einem Schreiben an Schamir drückte Kohl am 1. Dezember sein Befremden über dessen Äußerungen aus, ein vereintes Deutschland könnte die Gelegenheit nutzen, den Holocaust an den Juden zu wiederholen. Derartige Äußerungen seien geeignet, die deutsch - israelischen Beziehungen zu belasten.774 Auf die Entwicklung in Deutschland hatten die israelischen Positionen allerdings letztendlich keinen Einfluss. 1.7

Zehn - Punkte - Plan von Bundeskanzler Kohl (28.11.)

Bundeskanzler Kohl sah sich hinsichtlich der Entwicklung in der DDR mit verschiedenen Faktoren konfrontiert, die sein Handeln bedingten. Er musste Vorstellungen und Interessen der westlichen Verbündeten, der UdSSR sowie anderer Staaten berücksichtigen, in der Bundesrepublik gab es klare rechtliche Vorgaben hinsichtlich des Umgangs mit der offenen deutschen Frage, bei den Demonstrationen häuften sich Forderungen nach Wieder vereinigung, und es gab ein durch internationale Verträge bedingtes einheitliches Konzept der wichtigsten Parteien, in der DDR auch hinsichtlich der nationalen Frage auf Selbstbestimmung zu setzen. Der vermehrte Ruf nach deutscher Einheit konfrontierte alle politischen Akteure der Bundesrepublik mit der Forderung des Grundgesetzes, wonach der bundesdeutsche Staat nur eine „fragmentarische Staatsorganisation“, die nur einen Teil des Volkes umfasste, und ein „Provisorium ist bis zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit des ganzen deutschen Volkes“ war.775 Durch den Volksaufstand in der DDR und die dort vorgetragenen Forderungen nach deutscher Einheit wurde das von vielen politischen Kräften der Bundesrepublik bereits aufgegebene Staatsverständnis der Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat eines wiedervereinigten Deutschlands revitalisiert. Diese zu neuem Leben erweckte Staatsräson war „die gewichtigste westliche Hilfe zum Gelin771 772 773 774

Vgl. Frankfurter Rundschau vom 13.11.1989. Zit. in Wolffsohn, Schrille Töne aus Israel, S. 76. Zit. in Michael Wolffsohn, Aufs falsche Pferd gesetzt. In : FAZ vom 21.12.1990. Brief von Helmut Kohl an Yitzak Schamir vom 1.12.1989. Zit. in Maier, Die Wende, S. 106 f. 775 Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 309.

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gen der demokratischen Revolution“.776 Handeln mussten die Deutschen in der DDR allerdings selbst, denn DDR und Bundesrepublik waren weltweit anerkannte Staaten mit Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen und hatten sich auch selbst gegenseitig als Staaten anerkannt. Trotz ihrer vom Bundesverfassungsgericht rechtlich festgestellten „Subjektidentität“ mit dem Deutschen Reich war die Bundesrepublik bezüglich ihrer hoheitlichen Gestaltungskraft auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt.777 Das Bundesverfassungsgericht hatte ausdrücklich darauf verwiesen, dass die DDR, als Staat organisiert, „ihren Willen zur Vereinigung mit der Bundesrepublik nur in der Form äußern [ kann ], die ihre Verfassung zulässt“.778 Voraussetzung für einen Beitritt war also Freiwilligkeit und demokratische Erneuerung.779 Die Entscheidung der Deutschen in der Bundesrepublik für die deutsche Einheit lag bereits Jahrzehnte zurück und hatte der Bundesrepublik eine auf deutsche Einheit ausgerichtete Staats - und Rechtsform gegeben. Was ausstand war nun die Entscheidung des Teils der deutschen Bevölkerung, der in der DDR lebte. In dieser Situation schien es dem Kanzler notwendig und geboten, den Deutschen in der DDR noch einmal zu signalisieren, dass die Bundesregierung ihrerseits zur Wiedervereinigung bereit war, wenn dies auch die Landsleute in der DDR wollten. Nun war die Bundesrepublik nicht nur an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden, sie war auch in internationale Verträge eingebunden und Teil der westlichen Staatengemeinschaft. Hier reichte das Spektrum der Haltungen von deutlicher Zustimmung bis zu offener Ablehnung einer Wieder vereinigung. In Bonn wusste man von der Diskrepanz zwischen den verbalen Erklärungen und den tatsächlichen Interessen der westlichen Partner. Da man im Falle vorheriger Absprachen zumindest abwiegelnde Haltungen erwartete, entschloss sich der Kanzler zum „Überraschungscoup“, um voraussehbarem Widerstand im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft die „Verzögerungswirkung auf die mögliche Vereinigung Deutschlands“ zu nehmen.780 Der Bundeskanzler befürchtete, die westlichen Verbündeten hätten stark auf seinen Plan Einfluss nehmen oder ihn davon abhalten wollen. Die ambivalente Haltung einiger westlicher Partner und deutliche Signale aus der UdSSR, dass man in der dortigen Regierung Fragen einer deutschen Vereinigung bereits intensiv diskutierte, veranlasste Teltschik, Kohl zu empfehlen, in Fragen der Wiedervereinigung im nationalen Alleingang einen deutliche Impuls in Richtung deutsche Einheit zu setzen.781 Wegen politischer Auffassungsunterschiede zwischen Bundeskanzleramt und FDP - geführtem Außenministerium entschied sich der Kanzler auch hier zum Alleingang. Anders als Genscher maß 776 Wilke, Die Bewährung, S. 120–122. 777 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.10.1987. Zit. bei Blumenwitz, Wie offen, S. 7. 778 Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Grundvertragsurteil vom 31. 7.1973. Zit. bei ebd. Vgl. Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 321. 779 Vgl. ebd., S. 320. 780 Rühl, Zeitenwende, S. 350. 781 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 44 f.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Kohl der Einheit Deutschlands höchste Priorität bei, ohne die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft gefährden zu wollen. Der Kanzler sah eine einmalige Gelegenheit gekommen und strebte eine möglichst baldige Vereinigung Deutschlands an. Das hatte für ihn nach Meinung von US - Botschafter Walters sogar Vorrang vor dem Erhalt der Machtposition Gorbatschows. Die Politik des Auswärtigen Amtes war dagegen eher an europäischen Interessen ausgerichtet. Auch Genscher, der aus Halle ( Saale ) stammte, wünschte die Einheit, wollte zuvor aber eventuelle Befürchtungen abbauen und klarstellen, dass Europa den Vorrang besaß – und zwar „vor dem Nordatlantischen Bündnis und erst recht vor einer deutschen Wiedervereinigung“.782 Bereits am 23. November beschloss man daher im Bundeskanzleramt, Kohl solle sich „an die Spitze der Bewegung“ stellen. Nach einem Vorschlag Teltschiks wurde ein Konzept erarbeitet, das einen gangbaren Weg zur deutschen Einheit aufzeigen sollte. Zunächst wurde niemand, selbst innerhalb der Bundesregierung, über die Initiative informiert.783 Einem Paukenschlag gleich legte Kohl dann am 28. November vor dem Bundestag sein „Zehn - Punkte - Programm zur Über windung der Teilung Deutschlands und Europas“ vor.784 Kernstück des Konzeptes war es, über die Schaffung konföderativer Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland – also Strukturen eines Staatenbundes, wie es sie bereits von 1815 bis 1866 im Deutschen Bund gegeben hatte – zur Wiedervereinigung zu kommen. Kohl ging von einem Zeitraum von bis zu zehn Jahren aus.785 Er griff den Vorschlag Modrows von einer Vertragsgemeinschaft auf, war aber bereit, „noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, d. h. eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“. Das aber, so Kohl weiter, setze „zwingend eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR voraus“. Vorstellbar seien bald nach freien Wahlen gemeinsame Institutionen und Regierungsausschüsse und ein gemeinsames parlamentarisches Gremium. Er gehe bei seinen Vorschlägen davon aus, dass die Menschen in der DDR die Einheit wollen. Die Entwicklung der Beziehungen müsse aber eingebettet bleiben in den gesamteuropäischen Prozess. Die künftige Architektur Deutschlands müsse sich auf der Grundlage des KSZE - Prozesses und der europäischen Einigung in die künftige Architektur Europas einfügen. Mehrfach nahm Kohl Bezug auf die am 13. Juni in Bonn veröffentlichte „Gemeinsame Erklärung“ mit Gorbatschow und benutzte Wendungen wie „neue Architektur für das europäische Haus“ und „dauerhafte und gerechte Friedensordnung auf unserem Kontinent“. Allein die Punkte sechs bis neuen galten der künftigen Struktur Gesamteuropas.

782 Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 90 f. 783 Teltschik, 329 Tage, S. 49. 784 Deutscher Bundestag, 11. WP., Sten. Berichte, Band 151, S. 13510–13513. Vgl. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 29.11.1989. 785 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 52.

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Das Zehn - Punkte - Programm richtete sich auch an die europäischen Staaten und die vier Mächte, die noch immer an ihren Siegerrechten aus dem fast 50 Jahre zurückliegenden Krieg festhielten. Das Dokument war eine Offerte Bonns zu einer europäischen Verständigung über die Rahmenbedingungen des deutschen Einigungsprozesses, der auch Chancen für die Überwindung der Teilung Europas eröffnete. Indem der Kanzler die Überwindung der europäischen Teilung und der Blockstrukturen mit einem neuen europäischen Sicherheitssystem im Rahmen der KSZE verband, konnte er sich gegen eventuelle Einwände auf die in der „Schlussakte von Helsinki“ verankerten Prinzipien der Selbstbestimmung der Völker berufen. Dies war umso dringlicher, als vor allem aus der UdSSR, aber auch aus Frankreich und Großbritannien, Vorbehalte und Barrieren gegen die deutsche Einheit zu erwarten waren. Möglichen Widerständen begegnete Kohl mit dem Angebot der Europäisierung des bereits eingeleiteten deutschen Einigungsprozesses. Zusätzlich wurde der Prozess mit Rüstungskontrolle und Abrüstung verbunden. Kohl ging in seiner Erklärung zwar auf die Frage blockübergreifender Sicherheitsstrukturen ein, sparte aber sowohl die Bündnisfrage als auch das Problem der polnischen Westgrenze aus. Unter dem Einfluss erheblicher Stimmengewinne der Republikaner im Sommer 1989786 sah sich die CDU / CSU und allen voran der Bundeskanzler veranlasst, Rücksicht auf das national - konser vative Wählerpotential der Union zu nehmen. Davon war seine Zurückhaltung in der Frage einer vorschnellen Anerkennung der Oder - Neiße - Linie als polnischer Westgrenze ebenso bestimmt, wie durch die rechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes, die es ihm nicht erlaubten, als Bundeskanzler Rechtsgrundsätze in Frage zu stellen. Kohls Taktik nahm national - konservativen Kreisen Wind aus den Segeln und trug zur Marginalisierung der vor allem bei den Vertriebenen vorhandenen Opposition in den Auseinandersetzungen um die deutsche Einheit bei. Dem von Kohl von nun an ständig wiederholten Argument, die staatliche Einheit mit Mitteldeutschland stehe auf dem Spiel, wenn die Grenze an Oder und Neiße und der Verlust Ostdeutschlands nicht anerkannt werde, konnten und wollten sich auch viele ostdeutsche Vertriebene aus Königsberg oder Breslau nicht verschließen. Noch am 28. November übergab Teltschik den Botschaftern der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR den Text des Plans. Ebenso wurde er Krenz und Modrow sowie den Oppositionsgruppen in der DDR zugeleitet. Außenminister Genscher, der den Plan, obwohl nicht eingeweiht gewesen, dennoch spontan unterstützte,787 brach noch am Dienstag zu einer diplomatischen Parforcetour nach London und Paris auf.788 Zugleich wurden die Botschafter angewiesen, den Text den Regierungen ihrer Staaten zu übergeben. Genscher meinte allerdings im Nachhinein, er hätte, wäre er denn vorab gefragt 786 Bei den Wahlen zum West - Berliner Senat erhielten die Republikaner 7,5 %. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erhielten sie 7,1 % bundesdeutscher Stimmen, davon in Bayern 14,6 %. 787 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 51 und 54. 788 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 1.12.1989.

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worden, dem Zehn - Punkte - Plan nicht zugestimmt. Seine Ablehnung hätte demnach nicht auf einem zu weiten Vorpreschen Kohls basiert, sondern darauf, dass er nicht weit genug ging. Noch am Tag seiner Verkündigung sei er geschichtlich überholt gewesen, „denn er ging ja nicht von der Vereinigung als Nahziel aus, sondern er ging von konföderativen Strukturen“ aus. Das sei „durch die Vereinigung von unten längst überholt“ gewesen. Die Leute hätten gerufen „Wir sind ein Volk“ und nicht „wir sind zwei Konföderationsstaaten“.789 Fraglich bleibt dabei, ob sich der Diplomat Genscher tatsächlich zum Befürworter weiter reichender Forderungen gemacht hätte. Am 29. November wiederholte US - Außenminister James Baker die US - amerikanische Position : Die Menschen in beiden Staaten müssten über die Einheit selbst entscheiden, das vereinte Deutschland müsse Teil der NATO und der EG sein, die Vereinigung müsse Schritt für Schritt erfolgen und Veränderungen von Grenzen dürften nur in Übereinstimmung mit den Vereinbarungen von Helsinki erfolgen.790 Die sowjetische Regierung wies den Plan sofort zurück und äußerte Befürchtungen vor einem deutschen Revanchismus. TASS erklärte, Kohl stachele die Begierde jener an, die für eine Revision der Grenzen anträten und versuche, die Bewegung in der DDR in nationalistische Bahnen zu lenken.791 Portugalow erklärte, eine Konföderation Deutschlands sei im gegenwärtigen Europa unmöglich.792 Regierungssprecher Gremitskich erklärte, die europäische Sicherheit lasse die deutsche Einheit nicht zu. Der Plan Kohls sei mit den Prinzipien von Helsinki unvereinbar. Die deutsche Einheit sei erst nach der Überwindung der europäischen Spaltung denkbar.793 Der sowjetische Außenminister bezeichnete den Plan als ein „Diktat“ gegenüber der DDR.794 Gegenüber Genscher bezeichnete Gorbatschow die DDR als „verlässlichen Verbündeten und als wichtigen Garanten von Frieden und Stabilität in Europa“.795 Schewardnadse erklärte, es gebe kein Land in Europa, das die deutsche Einheit nicht als eine „Bedrohung der Stabilität Europas“796 ansehe. Gerassimow zeichnete gar die Gefahr eines „Vierten Reiches“797 an die Wand. Vor allem Genscher bekam den geballten Ärger der Sowjetführung zu spüren. Bei einem Besuch Gorbatschows am 5. Dezember äußerte dieser scharfe Kritik am Zehn - PunktePlan und forderte Genscher direkt auf, sich von Kohl zu distanzieren. Es sei 789 Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 122 f. 790 Vgl. U.S. Policy Information and Texts, Nr. 148 vom 1.12.1989. Deutsche Übersetzung in Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 169. 791 TASS vom 29.11.1989; Prawda vom 3. und 8.12.1989. 792 Vgl. Joseph Fitchett, East Germans Remain Wary but Interested. In : International Herald Tribune vom 29.11.1989. 793 Vgl. Bundespresseamt : BPA - DDR vom 30.11.1989. Vgl. Bill Keller, Gorbachev’s „European House“ : The Plan. In : International Herald Tribune vom 4.12.1989; Pfeiler, Moskau, S. 191. 794 Vgl. Presse - und Informationsamt der Bundesregierung, Nachrichtenspiegel / Inland II vom 7.12.1989. 795 Prawda vom 3. und 5.12.1989. Vgl. FAZ vom 7.12.1989. 796 Reuter vom 30.11.1989. 797 L’Unita vom 30.11.1989.

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empörend, dass der Kanzler verlange, die SED solle auf ihr Machtmonopol verzichten und dass er sich an die DDR - Bevölkerung wende, als seien dies „seine eigenen Staatsbürger“. Das sei „übelster Revanchismus“. Offensichtlich habe man in Bonn „das Begräbnis des europäischen Prozesses“ eingeleitet. Die Deutschen sollten sich daran erinnern, „wohin in der Vergangenheit schon einmal eine Politik ohne Sinn und Verstand geführt“ habe. Schewardnadse stellte direkte Vergleiche zum NS - Regime her : „Heute geht man in diesem Stil mit der DDR um, morgen womöglich mit Polen, der Tschechoslowakei und dann mit Österreich.“ „Nicht einmal Hitler hätte sich so etwas erlaubt.“798 Er sprach von „Blitzvereinigung“ und griff das Angebot der Bundesregierung an, Hilfe und Zusammenarbeit davon abhängig zu machen, dass das politische und wirtschaftliche System verändert werde.799 Nach Thatcher schien auch die Sowjetführung nichts daran zu finden, die Bundesregierung in überheblicher Weise zu diffamieren und zu beleidigen. Genscher sprach hinterher vom unangenehmsten Gespräch seiner Laufbahn. Tschernajew erklärte die Aggressivität später damit, dass Gorbatschow „keine Strategie in Bezug auf Deutschland, nur allgemeine Ideen“ gehabt hätte.800 Statt eine vernünftige Strategie in Bezug auf Deutschland vorzulegen, verlangte er ausgerechnet vom deutschen Kanzler, „sich gegen seine Grundüberzeugung einer Politik in Richtung Einheit Deutschlands zu enthalten“. Die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten wurden im konzeptlosen Agieren Gorbatschows behandelt als seien beide füreinander Ausland. Statt die Westeuropäer für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu gewinnen, dass der deutschen Entwicklung Rechnung trug, habe Gorbatschow versucht, den Westen gegen Deutschland zu mobilisieren.801 Das Fehlen eines „elften Punktes“ zur Oder - Neiße - Grenze löste vor allem in Polen Forderungen nach einer endgültigen Anerkennung der Grenze als Bedingung für die deutsche Einheit aus. Polens Außenminister Skubiszewski nannte das „Verschweigen der Grenzfrage mit den Nachbarn beider deutscher Staaten, insbesondere mit Polen“, einen „grundlegenden Mangel“ des Planes.802 Außenamtssprecher Stanislaw Staniszewski erklärte, Polen respektiere das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Von einem zukünftigen deutschen Souverän erwarte man jedoch die Anerkennung der Grenzen. Die polnische Regierung bestehe im Fall der Wiedervereinigung auf der Anerkennung des 1950 mit der DDR - Regierung geschlossenen Vertrages von Görlitz und des mit der Bundesregierung 1970 geschlossenen Warschauer Vertrages.803 Im Westen über wog Skepsis und Verärgerung über den deutschen Alleingang. Auch wurde hier die im Plan formulierte bundesdeutsche Meinung nicht 798 Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 127–135. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 50. 799 Ebd., S. 69. 800 Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 127–135. 801 Ebd., S. 135. 802 Zit. in FAZ vom 9.12.1989. 803 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 29.11.1989.

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geteilt, die EG dürfe auf Dauer nicht an der Elbe enden, sondern müsse „Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung“ werden. Bereits in der Frage der Aufnahme entwickelter europäischer Staaten wie Österreich stellte sich Brüssel quer. An eine europäische Föderation auf der Grundlage einer Zollund Währungsunion mit den Ostblockstaaten war vor diesem Hintergrund nicht zu denken. In dieser Situation stellte der Zehn - Punkte - Plan Kohls das Problem der Vereinbarkeit einer staatlichen Einigung Deutschlands mit dem Ausbau der EG als auch der politischen Einigung Westeuropas in der EG mit der gesamteuropäischen Einigung, wie sie auch die Regierung der UdSSR mit ihrem Modell eines gesamteuropäische Hauses anstrebte, zur Diskussion. Indem Kohl die westeuropäische Einigung auf ganz Europa projizierte und damit die bloße „Assoziierung“ der ehemaligen Ostblockstaaten in Frage stellte, rüttelte er an den Grundlagen der Gemeinschaft. Die Bundesregierung ließ ihren Zweifel daran erkennen, ob das Modell einer lediglich westeuropäischen Einigung zukunftsträchtig sein würde. Mit der Ausweitung des europäischen Einigungsprozesses war angesichts der geographischen Lage ein Bedeutungszuwachs Deutschlands im Rahmen einer größeren europäischen Staatengemeinschaft vorbestimmt. Die französische Regierung, deren Politik „noch deutlich vom klassischen Denken der alten Interessenpolitik, von Ressentiments gegen den deutschen Nachbarn und von der Nostalgie in der Erinnerung an den vorherrschenden Einfluss Frankreichs im europäischen Osten und Südosten charakterisiert“804 war, fühlte sich durch den Alleingang brüskiert. Der Präsident reagierte auf den Vorstoß zur Ausweitung des europäischen Einigungsprozesses mit dem Modell einer bundesstaatlichen Einigung Westeuropas in der EG als einer „Föderation“ und einer gesamteuropäischen „Konföderation“ im Rahmen der KSZE. Vor der französischen Nationalversammlung erklärte Außenminister Roland Dumas allerdings erneut, die Haltung der französischen Regierung zur Wieder vereinigung beruhe auf dem „einfachen und grundlegenden Prinzip“ der Selbstbestimmung. Jedes Volk habe das Recht, über sein Schicksal zu entscheiden, das deutsche Volk ebenso wie jedes andere. Der Wunsch nach Einheit sei daher grundlegend legitim. Allerdings könne dieser Prozess nicht ohne die Zustimmung der beiden deutschen Staaten und der Staaten verlaufen, die „Garanten für den deutschen Status“ seien und müsse auf friedliche und demokratische Weise erfolgen.805 Aus britischer Sicht war der Zehn - Punkte - Plan ein eindeutiger „Verstoß gegen den Geist des Pariser Gipfeltreffens“. Kritisiert wurde, dass der Plan nicht zuvor mit den Partnern abgesprochen worden war.806 Die DDR - Regierung erklärte noch am selben Tag, Kohls Plan gehe an den Realitäten vorbei. Die deutsche Einheit stehe nicht auf der Tagesordnung. Krenz forderte die Anerkennung zweier souveräner Staaten als Grundlage für Ver804 Rühl, Zeitenwende, S. 350. 805 Frankreich - Info 31/89 vom 1.12.1989. 806 Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1100.

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handlungen. Modrow betonte, Lösungen könne es nur „in den Grenzen von heute geben und nichts anderes. Und keine Wiedervereinigung.“807 Trotz solcher Stellungnahmen beauftragte das Politbüros am 28. November Außenminister Fischer, sich mit der Regierung der UdSSR über „mögliche Konzeptionen zu einer Konföderation zwischen der DDR und der BRD zu verständigen“.808 Hintergrund war die Empfehlung der sowjetischen Führung, die SED bzw. die DDR - Regierung solle aus finanziellen Erwägungen die Idee einer deutschen Konföderation in die Diskussion bringen.809 Deswegen erklärte Modrow am 4. Dezember, er könne sich vorstellen, dass die Vertragsgemeinschaft die Vorstufe einer Konföderation beider deutscher Staaten sein könnte. Modrow befürwortete die Bildung gemeinsamer Kommissionen und schlug Finanzjongleur Schalck - Golodkowski als Verhandlungspartner mit der Bundesregierung vor.810 In der Bundesrepublik begrüßten CDU, CSU, FDP und SPD den Plan in einer ersten Reaktion. Noch während Kohl ihn im Bundestag vortrug, spendete der SPD - Vorsitzende Vogel dem Kanzler mehrfach Beifall. Auch Karsten Voigt begrüßte sichtlich überrascht die Rede Kohls und bot die Zusammenarbeit der SPD an.811 Nach der Rede Kohls wurde von verschiedenen Politikern der SPD ein eigenes deutschlandpolitisches Konzept und die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage gefordert. So erklärte der schleswig - holsteinische SPD Vorsitzende Gerd Walter, der Umgang der Partei mit der nationalen Frage könne auf die Zukunft der SPD entscheidenden Einfluss haben. Eine Linke, die darauf keine Antwort bereithalte, riskiere ihre politische Zukunft.812 Bereits am 16. November hatte auch Ehmke einen Vorschlag formuliert, der auf eine deutsche Konföderation hinauslief. Kohls Stufenplan entsprach in vielen Punkten Positionen, wie sie mit Ausnahme des linken Flügels vor allem in der SPD diskutiert und auch dann noch vertreten wurden, als Kohl bereits den direkten Beitritt favorisierte. Nach Meinung Ehmkes versäumte es Vogel jedoch, das Thema für die SPD zu besetzen.813 Der Zehn - Punkte Plan erwischte, so Gerhard A. Ritter, die SPD „auf dem falschen Fuß“.814 Am 29. November rückte die SPD von ihrer ersten Zustimmung zum Zehn - Punkte - Plan Kohls wieder ab, und die SPD - Fraktion weigerte sich, die Erklärung durch eine gemeinsame Entschließung zu unterstützen. Bei Treffen machten die „Parlamentarische Linke“ und der „Seeheimer Kreis“ klar, dass sie einer gemeinsamen Entschließung nur zustimmen könnten, wenn „eigene Punkte“ der SPD darin vorkämen, wie die Anerkennung der Oder - Neiße - Grenze als polnische Westgrenze und konkrete 807 Informationen des BMB 23 vom 20.12.1989, S. 17. 808 Protokoll der Sitzung des Politbüro des ZK der SED vom 28.11.1989, Anlage 7 : Brief von Krenz an die Kampfgruppen ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2365). 809 Vgl. Kwizinskij, Vor dem Sturm, S. 17. 810 Interview mit Hans Modrow. In : Der Spiegel vom 4.12.1989. 811 Herles / Rose, Parlaments - Szenen, S. 66 f. Zur Reaktion der SPD vgl. Sturm, Uneinig, S. 217–230. 812 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 30.11.1989. 813 Vgl. Ehmke, Mittendrin, S. 404–406. 814 Ritter, Der Preis der deutschen Einheit, S. 23.

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Abrüstungsmaßnahmen. Mit diesem Ansinnen aber scheiterte Horst Ehmke bei Verhandlungen mit den Regierungsparteien.815 Vor allem Saarlands Ministerpräsident Lafontaine kritisierte den Zehn - Punkte - Plan und nannte ihn einen „großen diplomatischen Fehlschlag“. Er schlug vor, Deutsche aus der DDR künftig nur noch aufzunehmen, wenn sie sich zuvor Wohnraum und einen Arbeitsplatz besorgt hätten. Alle Sonderleistungen sollten wegfallen.816 Dagegen machte sich Willy Brandt immer mehr zum Befürworter der deutschen Einheit. Die Grünen warfen der Bundesregierung vor, sie beschwöre zwar das Selbstbestimmungsrecht, betreibe aber eine „erpresserische Politik der harten D - Mark“ und damit „eine Verwandlung der DDR in eine Filiale der BRD“.817 Trotz der spontanen Zustimmung durch Genscher distanzierte sich auch die FDP vom Zehn - Punkte - Plan Kohls, weil eine eindeutige Anerkennung der OderNeiße - Grenze fehle. Allerdings bekräftigte sie ihr Festhalten am „Recht auf Selbstbestimmung unter der Option der Wieder vereinigung“.818 Graf Lambsdorff warf der CDU vor, in der Vergangenheit Entspannung und Abrüstung verzögert zu haben und reklamierte Erfolge in der Deutschland - und Außenpolitik für die FDP.819 Entgegen aller Kritik zeigte die weitere Entwicklung die herausragende Bedeutung des Plans. Mit ihm „revolutionierte Bundeskanzler Kohl die innenpolitische Lage in beiden Teilen Deutschlands und die Haltung des internationalen Systems zur deutschen Frage in einer Weise, wie dies kein deutscher Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg getan hatte“.820 Der Bundeskanzler übernahm die „Meinungsführerschaft in der deutschen Frage“821 und löste eine „nationale Welle“ in der DDR aus.822 Binnen kurzer Zeit sprachen sich bald alle politischen Kräfte in der DDR für eine Vereinigung aus. Die Bundesregierung bezog gerade zu dem Zeitpunkt klar Partei für eine deutsche Einheit auf demokratischer Grundlage, als die SED und die Bürgergruppen sich verstärkt für eine demokratisierte Neuauf lage des Sozialismus engagierten. Mit dem Zehn Punkte- Plan und der von der DDR - Regierung unterstützten Erklärung „Für unser Land“ standen klar zwei Alternativen im Raum, die den Prozess der politischen Polarisierung in der DDR weiter verstärkten.

815 816 817 818 819 820 821 822

Vgl. Frankfurter Rundschau vom 30.11.1989. Vgl. ebd. vom 4.12.1989. Die Grünen, Bundesvorstand : Pressemitteilung vom 29.11.1989. Hacke, Die Rolle der Bundesrepublik, S. 226. Vgl. Frankfurter Rundschau / taz vom 4.12.1989. Hacke, Die Rolle der Bundesrepublik, S. 226. Teltschik, 329 Tage, S. 58. So Walter Jens, der Kohl vorwarf, ein „fahrlässiger Zündler“ zu sein. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 15.12.1989.

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Fortgang der Demonstrationen (26.11.–3.12.)

Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik meldete am 1. Dezember nach Bonn, die Lage in der DDR sei „von Sorge und Angst geprägt“. SED - Funktionäre befürchteten, aus ihren Machtpositionen und Privilegien verdrängt zu werden, die Bevölkerung sorge sich angesichts der sich „allzu schnell anpassenden“ und „in den Apparaten ausharrenden“ SED - Funktionäre. Die katastrophale Wirtschaftslage werde durch Konzeptionslosigkeit verstärkt, die Lösungsangebote der alten Parteien und neuen Bewegungen wirkten nicht überzeugend, „insbesondere deshalb, weil die Grundfrage nach der Einheit der Deutschen öffentlich nicht diskutiert“ werde.823 Bei den Demonstrationen waren der Ton härter und die Forderungen polarisierender geworden. Die Dialoge waren von „Hass, Wut und Aggressivität gegen die SED“ bestimmt.824 Auf Kundgebungen wurden die völlige Auf lösung des MfS und nicht nur seine Umbenennung sowie massiv die Einheit Deutschlands gefordert.825 Das

Bild 47: Forderung nach der Streichung des Artikels 1 der Verfassung ( führende Rolle der SED ) in Dresden. 823 Ständige Vertretung an Chef des Bundeskanzleramtes vom 1.12.1989. In : Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, S. 590. 824 SED - BL Frankfurt / Oder vom 30.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 825 Vgl. MfS, ZOS vom 4.–5.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 270–280).

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wiederum führte zu Auseinandersetzungen mit Gegnern der Einheit. Dialoge fanden schon deswegen immer weniger statt, weil die staatlichen Dialogpartner nach und nach verschwanden.826 Wo es sie noch gab, wurden „die Orientierung von Vertretern der Staatsorgane, die Demonstrationen zu beenden und Dialogveranstaltungen im kleineren Rahmen durchzuführen“, als SED - Manöver und „Beschneidung der Rechte der Bürger“ abgelehnt.827 Am 29. November beendeten endlich auch die Bezirkseinsatzleitungen ihre Tätigkeit. Zentrale Richtlinien, Direktiven und Ordnungen wurden vernichtet.828 Weniger Teilnehmer als erhofft folgten am 3. Dezember einem Aufruf der „Aktion Sühnezeichen“, des Neuen Forums sowie anderer Oppositionsgruppen unter dem Motto „Hand in Hand ein Licht für unser Land“ eine Menschenkette entlang der Fernstraßen, quer durch die DDR zu bilden. Selbst in Bezirksstädten konnte die Kette nicht geschlossen werden,829 möglicher weise wegen der verbalen Anleihe bei der polarisierenden Erklärung „Für unser Land“. Dennoch war die Aktion ein deutliches Zeichen des Demokratisierungswillens der Bevölkerung.

Bild 48: Menschenkette. 826 Vgl. Sievers, Stundenbuch, S. 97. 827 MfS, ZOS vom 1.–2.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 296). 828 Befehl 16/89 des Vorsitzenden des NVR der DDR über die Einstellung der Tätigkeit der Einsatzleitungen der Bezirke und Kreise der DDR vom 29.11.1989 ( BArch Berlin, VA - 01/39592, Bl. 278 f.). Abgedruckt in Sächsischer Landtag. 1. WP., Drs. 1/4773. Anlagen zum Minderheitenvotum des Abgeordneten Arnold und der Fraktion Bündnis 90/ Grüne, Bl. 1680–1682. 829 MfS, ZOS vom 3.–4.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 282–285). Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 40; Werdin ( Hg.), Unter uns, S. 9; Rein, Die protestantische Revolution, S. 305.

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Bezirk Dresden / Bautzen : Im Kreis Bautzen schrumpfte die Zahl der angebotenen Bürgeraussprachen wie überall Ende November deutlich.830 Am 27. November demonstrierten in Bautzen ca. 1 500 Personen. Bei einer Kundgebung auf dem Hauptmarkt forderte der LDPD - Kreisvorsitzende die Abschaffung der Kampfgruppen und der führenden Rolle der SED. Von dort zog ein Zug zur Strafvollzugseinrichtung Bautzen, wo in Sprechchören gerufen wurde: „Macht das gelbe Elend frei für die Stasikumpanei“. Anschließend begaben sich die meist jugendlichen Demonstranten zum Kreisamt für Nationale Sicherheit, riefen Sprechchöre und stellten Kerzen ab.831 Am 3. Dezember folgten zahlreiche Menschen der Initiative, eine Menschenkette quer durch die DDR zu bilden. Entlang der F 96 stellten sich so viele Bürger auf, dass es zwischen Kleinwelka und Raschau kaum Unterbrechungen gab.832 Bischofswerda : Im Kreis Bischofswerda beteiligten sich am 3. Dezember ca. 2 000 Personen an der Menschenkette entlang der F 6. Auf Plakaten wurde u. a. die deutsche Einheit gefordert.833 Dippoldiswalde : In Glashütte demonstrierten am 27. November ca. 300 Personen. Bei einer Kundgebung forderten die Sprecher das Ende der führenden Rolle der SED.834 Am 3. Dezember beteiligten sich auch im Kreis Dippoldiswalde viele Personen an der Menschenkette.835 Stadt Dresden: In Dresden beteiligten sich am 26. November rund 50 000 Menschen an einer Kundgebung, bei der die Angriffe gegen das AfNS „eine neue aggressive Qualität“ erreichten.836 Am 3. Dezember versammelten sich vor dem Bezirksamt für Nationale Sicherheit ca. 600 Personen zu einer Menschenkette und stellten Kerzen ab.837 Freital : Etwa 500 Bürger folgten am 29. November einem Aufruf des Neuen Forums zur Demonstration in Rabenau. Neben Plakaten trugen fast alle den „Demo - Becher“, einen Plastebecher mit Kerze. Einige Bürger stellten als Zeichen der Verbundenheit Kerzen in die Fenster, die meisten aber verfolgten hier wie überall das Geschehen nur vom sicheren Standort hinter der Gardine. Bei einer Kundgebung auf dem Markt sprachen Redner des Neuen Forums und der Bürgermeister, jedoch kein Vertreter der Parteien. Thema war: „Neue Demokratie – durch uns, für uns“, es wurden freie Wahlen mit einem neuen Wahlge830 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 25). 831 KAfNS Bautzen vom 27.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 30); MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196–204). 832 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 5.12.1989. 833 Vgl. KAfNS Bischofswerda vom 3.12.1989 ( BStU, ASt. Dresden, MfS, AKG 7002, 3, Bl. 13). 834 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196–204). 835 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 6.12.1989. 836 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 26.–27.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 182 f. ). 837 Vgl. MfS, ZOS vom 3.–4.12.1989 : Lage ( ebd. 828, Bl. 104–110, 117–122 und 137– 140).

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Bild 49: Kerzen vor der Bezirksdienststelle des MfS in Dresden, Bautzner Straße.

setz und die Abschaffung des Artikels 1 der Verfassung gefordert. Pfarrer Reime erklärte, nicht der 8. Mai 1945 sondern der 8. Oktober 1989 werde als Tag der Befreiung in die Geschichte eingehen. Zum Abschluss sangen Mädchen der Jungen Gemeinde das Lied von Gerhard Schöne „Mit dem Gesicht zum Volke“.838 Am 3. Dezember beteiligten sich auch viele Bürger des Kreises Freital an der Menschenkette durch die DDR, indem sie sich an der Straße von Dresden nach Kesselsdorf aufstellten.839 Görlitz : An einer Kundgebung des Neuen Forums „Für freie Wahlen und Demokratie“ beteiligten sich am 2. Dezember in Görlitz zwischen 500 und 5 000 Personen.840 Es sprachen Redner der verschiedensten Bürgerbewegungen und Parteien. Während die Demonstranten sich mit ihren Transparenten mehrheitlich für eine schnelle Wiedervereinigung aussprachen, wurde dies von allen Rednern außer dem der NDPD abgelehnt. Auf Plakaten wurde die

838 Revolutionäre Ereignisse auch in Rabenau. In : Ortsblatt Rabenau und der Ortsteile Karsdorf, Lübau, Obernaundorf, Oelsa, Spechtritz, Nr. 11 vom 15.11.1994. Vgl. KAfNS Freital : Demonstration in der Stadt, Rabenau vom 29.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 3, Bl. 59); Sächsisches Tageblatt vom 28.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 1.12.1989. 839 Vgl. ebd. vom 5.12.1989. 840 Bei keiner anderen Veranstaltung gehen die Angaben des AfNS und der Zeitungen stärker auseinander, wobei die Zeitungen fast immer zu hohe Teilnehmerzahlen angeben.

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Abschaffung der SED und des AfNS gefordert. Es gab Forderungen nach Gesprächen am Runden Tisch in der Stadt.841 Großenhain : Am 27. November beteiligten sich in Sacka rund 60 Bürger, die Bürgermeisterin und Mitglieder des Rates des Kreises an einem Einwohnerforum. Die Führung der SED wurde kritisiert und die Glaubwürdigkeit vieler Funktionäre angezweifelt. Daneben ging es vor allem um den seit Langem geschlossenen Gasthof und die schlechte Versorgung.842 Auch in anderen kleinen Orten fanden Bürgerversammlungen statt.843 Am 29. November erfolgte die Gründung eines Großenhainer Demonstrationskomitees, in dem neben dem Neuen Forum ( Joe Balzer ) auch alle Parteien vertreten waren. Sie organisierten Demonstrationen und Kundgebungen und stimmten sich thematisch ab.844 Schon für den nächsten Tag rief das Komitee zu einem Schweigemarsch unter dem Thema : „Der Millionen - Coup des FDGB. Enthüllungen um Wandlitz. Was haben wir noch zu erwarten ?“ auf.845 An der Demonstration in Großenhain nahmen etwa 2 000 Bürger teil. Hauptforderung war die deutsche Einheit. Der FDGB - Kreisvorsitzende beteuerte, nichts gewusst zu haben. Er und ein Vertreter des FDJ - Kreisvorstandes wurden ausgepfiffen. Forderungen nach Wiedervereinigung, Unterstützung des Zehn - Punkte - Planes von Kanzler Kohl und Ablehnung des Aufrufes „Für unser Land“ erhielten dagegen starken Beifall. Der Sprecher des Neuen Forums distanzierte sich davon. Ebenso wurde die Auflösung des sowjetischen Flugplatzes in Großenhain gefordert.846 Kamenz : In Kamenz demonstrierten am 27. November 800 Personen vorbei am Volkspolizeikreisamt, der SED - Kreisleitung und dem Kreisamt für Nationale Sicherheit zum Markt. Losungen und Sprechchöre richteten sich gegen SED und AfNS.847 Bemerkenswert ist der Hinweis, bei der Kundgebung gab es „keinerlei einzelne Zwischenrufe wie noch am letzten Montag. Die durch die Veranstalter angekündigte Disziplinierung war voll wirksam.“848 Anschließend traf man sich im Haus der Volkskunst, wo der Sprecher des Neuen Forums, Michael Niepelt, erklärte : „Die Zeit der Kirche ist nicht vorbei, aber die Zeit, wo die Kirche uns geleitet hat, ist vorbei, und deshalb versammeln wir uns heute hier.“849 Am 28. November demonstrierten 300 Personen in Königsbrück 841 Vgl. KAfNS Görlitz vom 2.12.1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 3, Bl. 16); Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 6.12.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz Land, vom 5. und 6.12.1989. 842 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2./3.12.1989. 843 Vgl. ebd. vom 28.11.1989. 844 Gründung des Großenhainer Demonstrationskomitees, o. D. ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 6.12.1989. 845 Ebd. vom 30.11.1989. 846 Vgl. KAfNS Großenhain vom 30.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 19); BStU, ZA HA VIII, AKG 1672, Bl. 303. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2./3.12.1989. 847 Vgl. SED - KL Kamenz vom 28.11.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 848 KAfNS Kamenz vom 27.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 3, Bl. 31). 849 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 29.11.1989.

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nach einem Friedensgebet in der Kirche über den Markt und riefen Losungen.850 Es wurden Arbeitsgemeinschaften gegründet, um in Kooperation mit dem Rat der Stadt Änderungen im kommunalen Bereich zu erreichen.851 Löbau : Am 27. November zogen in Löbau ca. 1 000 Personen zum Kreiskulturhaus, wo ein Bürgerforum u. a. mit dem neuen 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Giese, und dem Vorsitzenden des Rates des Kreises stattfand. Hauptthemen waren freie Wahlen, der Führungsanspruch der SED sowie kommunale und die Volksbildung.852 Im November beteiligten sich ca. 300 Bürger an einer Kundgebung auf dem Marktplatz von Bernstadt. Erstmals wurde hier offen die schwarz - rot - goldene Fahne ohne Emblem gezeigt.853 Am 3. Dezember beteiligten sich ca. 1 000 Bürger von Niederoderwitz an der Menschenkette entlang der B 96.854 Meißen : An einer Demonstration des Neuen Forums unter dem Motto „SED raus aus den Betrieben !“ beteiligten sich am 28. November ca. 1 000 Personen. Vor dem Volkspolizeikreisamt und der SED - Kreisleitung wurden Parolen gegen die SED gerufen und eine DDR - Fahne mit herausgeschnittenem Emblem sowie die Losung „SED lügt weiter“ gezeigt. Das AfNS notierte besonders aktive Personen. Der neue 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Axel Sauer, stellte sich den Fragen und wurde mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Am selben Tag nahmen in Coswig ca. 1 500–2 000 Personen an einer Demonstration des Neuen Forums teil. Hier ging es um die Wahlfälschungen im Mai 1989, und es wurde die 1. Strophe der Nationalhymne der DDR gesungen. Von CDU und Neuem Forum beauftragte Helfer mit gelben Schärpen „Keine Gewalt“ sorgten für Disziplin.855 In Lommatzsch fand unter dem Moto „Für Änderung der Verfassung und freie Wahlen“ die erste Demonstration statt.856 Am 3. Dezember bildeten auch im Kreis Meißen entlang der F 6 zahlreiche Bürger mit brennenden Kerzen, Transparenten und Plakaten abschnittweise Menschenketten.857 Niesky : Einer Einladung des Bürgermeisters zum Dialog in Niesky folgten am 27. November rund 500 Bürger. Themen waren das Gesundheitswesen, die Nutzung der „exquisit ausgestatteten Gästehäuser des FDGB, der SED oder der zahlreichen Ministerien“ durch die Bevölkerung und die Arbeit des Kreisamtes für Nationale Sicherheit.858 In Klitten fand am 27. November eine Gründungs850 Vgl. VPKA Kamenz vom 24.–30.11.1989 : Wochenlage ( SächsHStA, Dresden I 359); SED - KL Kamenz vom 28.11.1989 ( ebd., SED - BL Dresden, 13554). 851 Vgl. Chronik der Ereignisse 1989/1990 in Königsbrück ( StA Königsbrück ). 852 Vgl. KDfS Löbau vom 27.11.1989 : Lageinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 32). 853 StV Bernstadt : Chronologie der Wende Bernstadt, o. D. ( HAIT, StKa ). 854 Vgl. Klaus Reichel an die Gemeinde Oderwitz vom 9. 2.1999 ( ebd.). 855 Vgl. KDfS Meißen vom 28.11.1989 : Demonstration in Meißen und Coswig ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 52 f.); Die Union, Ausgabe Meißen, 28.11.1989. 856 Vgl. ebd. vom 30.11.1989. 857 Vgl. ebd. vom 3.12.1989. 858 SED - KL Niesky vom 28.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 29.11.1989.

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veranstaltung des Neuen Forums statt. 350 Personen diskutierten vor allem über die Erhaltung des Ortes, der als Kohleabbaugebiet vorgesehen war. Vertreter der CDU forderten die Entfernung der SED aus den Betrieben, freie Wahlen und die Abschaffung der Mandate für Massenorganisationen. Nach der Veranstaltung nahmen 300 Personen an einem Schweigemarsch teil.859 Riesa : In Riesa nahmen am 30. November nach einem Friedensgebet in der Klosterkirche ca. 350 Personen an einer Demonstration durch die Innenstadt teil. Es gab Rufe gegen die SED und Krenz.860 Sebnitz : Am 30. November organisierte das Neue Forum eine Demonstration durch die Innenstadt von Sebnitz mit anschließender Kundgebung. Ca. 1 000 Teilnehmer forderten ein Ende der SED - Macht durch Volksentscheid über den Artikel 1 der Verfassung und baldige Wahlen. Sprecher forderten die Wiedervereinigung, ein Bundesland Sachsen und riefen zum Boykott des Aufrufs „Für unser Land“ auf. Ein Vertreter des Neuen Forums erwog die Möglichkeit, zum Generalstreik aufzurufen. Es gab Angriffe gegen das MfS - Ferienheim „Kurt Schlosser“. Forderungen nach Wiedervereinigung wurden „stark umjubelt“.861 Am 2. Dezember wurde das Stasi - Ferienheim „Zeughaus“ auf Initiative des Neuen Forums und von zahlreichen Sympathisanten wegen des Verdachts der Aktenvernichtung durchsucht.862 Am nächsten Tag kam es in Sebnitz nur stellenweise zur Bildung einer Menschenkette. Etwa 250 Personen beteiligten sich an der Aktion.863 Zittau : Auch in Zittau rief das Neue Forum für den 3. Dezember zur Bildung einer Menschenkette auf.864 An diesem Tag forderte das Neue Forum Zittau die Enteignung der bisherigen Mitglieder von Politbüro und ZK der SED.865 Bezirk Cottbus / Weißwasser : Zum 2. Dezember lud die Ortsgruppe Bad Muskau des Neuen Forums zur freien Diskussion in die Jacobskirche ein. An einer anschließenden Demonstration im Kerzenschein nahmen auch die Bürgermeisterin und weitere Ratsmitglieder teil.866 Bezirk Karl - Marx - Stadt / Annaberg : In Oberwiesenthal versammelten sich am 27. November ca. 150 Teilnehmer einer kirchlichen Veranstaltung zu einer Demonstration durch den Ort. Sie forderten u. a. die Nutzung der Gästehäuser

859 Vgl. KAfNS Niesky vom 27.11.1989 : Lage in Klitten ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 3, Bl. 51). 860 Vgl. MfS, ZOS vom 30.11.–1.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 303– 307). 861 SED - KL Sebnitz : Kundgebung am 30.11.1989 in Sebnitz ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz IV / E /4/14/60, Bl. 1 f.). Vgl. KAfNS Sebnitz vom 30.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 20 f.). 862 Vgl. Ekkehard Lehmann, Von der Arbeit des Neuen Forums in der Zeit der Wende 1989/1990. In : Neues Grenzblatt 12 vom 21. 6.1991. 863 Vgl. KAfNS Sebnitz vom 3.12.1989 : Tagesmeldung ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 14). 864 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 30.11.1989. 865 Aufruf und Unterschriftenliste vom 3.12.1989 ( UB Grohedo ). 866 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 2.12.1989.

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Bild 50: Menschenkette in Zittau.

staatlicher Einrichtungen für alle Werktätigen.867 Bei einer Bürgerversammlung in Scheibenberg forderten die Einwohner am 1. Dezember die Aufdeckung der „Stasi - Machenschaften“, die Ablösung von Krenz und das Ende der SED - Alleinherrschaft.868 In Annaberg demonstrierten nach einem Fürbittgottesdienst in der St. Annenkirche ca. 5 000 Menschen durch die Innenstadt. Bei einer vom Neuen Forum organisierten Kundgebung sprachen sich mehrere Redner gegen den Aufruf „Für unser Land“ aus und forderten stattdessen die Wiedervereinigung. Das Neue Forum informierte über die Bildung eines Untersuchungsausschusses für Korruption und Amtsmissbrauch auf Kreisebene. Einige Redner riefen auf, mit den Kommunisten so abzurechnen, wie diese es nach 1945 mit Anderen getan hätten. Sprechchöre richteten sich gegen die führende Rolle der SED, Egon Krenz und das AfNS. Ein Ruf lautete : „Haben wir die Stasi nicht geknackt, haben wir’s noch nicht gepackt.“869 Aue : Nach einem Fürbittgottesdienst in der Sankt Nikolaikirche in Aue nahmen am 27. November ca. 3 000 Personen an einer Demonstration durch die Stadt teil. Beim Passieren des Kreisamtes für Nationale Sicherheit wurden 867 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196–204). 868 Vgl. Gabriele und Karlheinz Schlenz, Wende in Scheibenberg vom 15. 2.1999 ( HAIT, StKa ). 869 KAfNS Annaberg vom 2.12.1989 : Gottesdienst mit anschließender Demonstration (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 65 f.); BStU, HA XXII 828, Bl. 106. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 5.12.1989.

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Losungen gerufen und Kerzen abgestellt. Dem Demonstrationszug in Richtung SED - Kreisleitung wurde ein großes Plakat mit der Aufschrift „Deutschland einig Vaterland“ vorangetragen.870 Am 3. Dezember fand in Sosa ein vom Neuen Forum organisierter Schweigemarsch statt.871 Auerbach : Einer Aufforderung der Bürgerinitiative von Reumtengrün zur zweiten Demonstration am 30. November folgten ca. 100 Personen. Vom Sportplatz zogen sie mit Kerzen und Transparenten zum Gasthof, wo ein öffentliches Rathausgespräch stattfand.872 Am 1. Dezember fand in Auerbach eine vom Neuen Forum organisierte Demonstration mit ca. 2 000 Teilnehmern statt. Auf einer Kundgebung wurden der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung ausgepfiffen und in Sprechchören die Wiedervereinigung sowie das Ende der SED - Herrschaft gefordert.873 Flöha : An einer zweiten Demonstration in Eppendorf nahmen am 1. Dezember ca. 150 Personen teil.874 Freiberg : In Freiberg beteiligten sich am 30. November rund 3 000 Personen an einer Demonstration des Neuen Forums und anderer Gruppierungen. Schwerpunkt der Forderungen war die Wiedervereinigung. Der Zug bewegte sich vom Obermarkt zum Kreisamt für Nationale Sicherheit, wo die Teilnehmer Losungen riefen.875 Hainichen : In Hainichen forderten nach einem Gottesdienst in der ev. - luth. Kirche am 27. November ca. 250 Demonstranten, die Übergriffe seitens der DVP am 7. Oktober zu ahnden.876 Hohenstein - Ernstthal : In Hohenstein - Ernstthal demonstrierten nach einem Aufruf des Neuen Forums am 28. November zahlreiche Menschen durch die Stadt. Sie forderten freie Wahlen, den Rückzug der SED aus Betrieben und die Wiedervereinigung. Als sich der Sprecher des Neuen Forums, Jörg Hilbig, auf einer Kundgebung gegen die deutsche Einheit aussprach, erntete er Proteste.877 Karl - Marx - Stadt : Trotz Hinweises in der Presse, dass eine für den 27. November geplante Demonstration witterungsbedingt ausfällt, trafen sich nach den Fürbittgottesdiensten in fünf Kirchen ca. 500 Personen am Karl - Marx - Monument zur Demonstration.878

870 KAfNS Aue vom 27.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 68–72). 871 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa ( HAIT, StKa ). 872 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( ebd.); Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 138. 873 Vgl. KAfNS Auerbach vom 1.12.1989 : Demonstration in Auerbach ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 73 f.). 874 Vgl. Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ). 875 Vgl. KAfNS Freiberg vom 30.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 68). 876 Vgl. KDfS Hainichen vom 28.11.1989 : Lage ( ebd.). 877 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 30.11.1989. 878 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( ebd., HA XXII 5942, Bl. 196– 204).

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Karl - Marx - Stadt - Land : Am 29. November demonstrierten in Limbach - Oberfrohna ca. 5 000 Menschen. Auf einer Kundgebung riefen Teilnehmer Losungen gegen die SED und das AfNS. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung wurde ausgepfiffen.879 Klingenthal : Am 29. November gingen in Markneukirchen ca. 4 000 Menschen auf die Straße.880 Es gab Losungen gegen Privilegien von Funktionären, das Weiterwirken der SED in den Betrieben sowie für die Einheit Deutschlands.881 In Klingenthal demonstrierten am 1. Dezember ca. 8 000 Personen gegen die Regierung und die schleichende Restauration der SED, für Marktwirtschaft und die Einheit Deutschlands.882 Ein Aufruf zum Generalstreik wurde mehrheitlich begrüßt. Bei einer Kundgebung wurden auf Transparenten und in Sprechchören mehr Demokratie gefordert, der Führungsanspruch der SED verurteilt und der Rücktritt des Vorsitzenden des Rates des Kreises, Heinz Gabler, und des neuen 1. Sekretärs der SED - Kreisleitung, Thomas Zuber, verlangt. Es gab Zustimmung zum Warnstreik.883 Marienberg : In Lengefeld fand am 30. November eine Demonstration des Neuen Forums mit ca. 150 Personen statt. Bei der anschließenden Kundgebung auf dem Markt wurde vor allem gegen den Führungsanspruch der SED protestiert.884 Bei einem Meeting des Neues Forums in Olbernhau am 1. Dezember verkündete die CDU - Ortsgruppe ihre Trennung von der Nationalen Front und forderte die Auflösung der SED - Betriebsgruppen sowie die Wiedervereinigung.885 An einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration in Marienberg beteiligten sich am 2. Dezember ca. 1 000 Personen. Der Demonstrationszug führte am Volkspolizeikreisamt und der SED - Kreisleitung vorbei, wo Kerzen aufgestellt wurden. Immer wieder erklang die DDR - Nationalhymne mit der Textstelle „Deutschland, einig Vaterland“ und die Aufforderung „Demonstriert bei Eis und Schnee, sonst gewinnt die SED !“ Im Kino Marienberg wurden Forderungen wie die Trennung von Partei und Staat, die Entfernung der SED aus den Betrieben und das Ende der Kampfgruppen beschlossen.886 Oelsnitz : In Oelsnitz fanden sich zur montäglichen Demonstration am 28. November ca. 600 Personen zusammen. Sie zogen skandierend am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei und sammelten sich zur Kundgebung auf

879 880 881 882 883 884 885 886

Vgl. MfS, ZOS vom 29.–30.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 310–314). Vgl. ebd. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 1.12.1989. Vgl. KDfS Klingenthal vom 1.12.1989 : Demonstration in Klingenthal ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148 1, Bl. 76); BStU, ZA, HA XXII 828, Bl. 114 f. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 3.12.1989. Vgl. MfS, ZOS vom 30.11.–1.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 303– 307). Vgl. KDfS Marienberg vom 11.11.1989 : Demonstration in Marienberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 59); Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 5.12.1989. Vgl. StA Marienberg, PP Köhler; MfS, ZOS vom 2.–3.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 287–291); ebd., HA XXII 828, Bl. 106.

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dem Ernst - Thälmann - Platz.887 Hier hatte inzwischen eine Bürgerinitiative die Organisierung von Aktionen übernommen.888 Kreis und Stadt Plauen : In Plauen demonstrierten am 2. Dezember ca. 10 000 Personen am Kreisamt für Nationale Sicherheit, an der SED - Kreisleitung und am Wehrkreiskommando vorbei. Es gab Sprechchöre gegen das MfS. Am Zaun des Kreisamtes für Nationale Sicherheit wurde ein Pappschild mit der Aufschrift „Auch mit Euch rechnen wir eines Tages ab – Salzgitter“ angebracht. An einer anschließenden Kundgebung vor dem Rathaus nahmen ca. 14 000 Personen teil.889 Reichenbach : In Reichenbach kam es nach einem Fürbittgottesdienst in der Peter - Paul - Kirche am 29. November zu einer Demonstration von ca. 1 000 Personen. Auf Transparenten wurde die Wiedervereinigung Deutschlands in einem vereinten Europa gefordert. Schwarz - rot - goldene Fahnen wurden mitgeführt. Vor dem Volkspolizeikreisamt und der SED - Kreisleitung wurden Losungen wie „Wir sind das Volk“ gerufen.890 Rochlitz : Am 28. November demonstrierten in Penig rund 100 Menschen gegen die SED.891 Schwarzenberg : In Schwarzenberg fand am 27. November eine Kundgebung mit 1 500 Teilnehmern statt. 800 Personen marschierten zum Kreisamt für Nationale Sicherheit. Es wurde ein Plakat mit der Aufschrift „Dialog ohne Machtposition“ mitgeführt.892 Stollberg : An einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration in Stollberg nahmen am 1. Dezember ca. 5 000 Personen teil. Während des Vorbeimarschs am Kreisamt für Nationale Sicherheit wurden die Auflösung der Kampfgruppen und die Wiedervereinigung gefordert. Es gab Sprechchöre, die „Deutschland einig Vaterland“ und die Rückkehr zur Länderstruktur forderten. Bei einer Kundgebung auf dem Markt sprachen auch Vertreter von LDPD, NDPD und CDU.893 Werdau : Nach einem Friedensgebet in der ev. - luth. Kirche demonstrierten am 27. November in Werdau ca. 1 500 Personen u. a. am Gebäude der SED -

887 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( ebd. 5942, Bl. 196–204). 888 Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2.1999 ( HAIT, StKa ). 889 MfS, ZOS vom 3.–4.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 828, Bl. 104–110, 117–122 und 137–140). 890 Vgl. MfS, ZOS vom 29.–30.11.1989 : Lage ( ebd., HA VIII, AKG 1672, Bl. 310–314); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 1.12.1989. 891 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 28.–29.11.1989 : Lage ( ebd., HA XXII 5942, Bl. 205– 208). 892 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( ebd., Bl. 196–204); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 29.11.1989. 893 Vgl. KAfNS Stollberg vom 1.12.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 21481); MfS, ZOS vom 1.–2.12.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 296–299); Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom.12.1989.

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Kreisleitung vorbei. Plakate und Sprechchöre richteten sich gegen das AfNS, die SED und die Kampfgruppen.894 Zschopau : Am 3. Dezember beteiligten sich im Kreis Zschopau Tausende an einer Menschenkette durch den Kreis.895 Stadt Zwickau : Nach Friedensgebeten in der Moritz - und Friedenskirche demonstrierten in Zwickau am 27. November ca. 4 000 Personen mit Kerzen und Transparenten. Auf einer Kundgebung wurden das Ende der führenden Rolle der SED, die Auflösung der Kampfgruppen, der Nationalen Front und der SED- Betriebsparteigruppen gefordert und aufgerufen, nicht mit dem Demonstrieren nachzulassen.896 Bezirk Leipzig / Borna : An einem Friedensgebet in der katholischen Kirche Borna nahmen am 3. Dezember ca. 80 Personen teil.897 Delitzsch : In Delitzsch fand am 27. November eine Demonstration mit ca. 600 Teilnehmern statt. Sie zogen zur SED - Kreisleitung und zum Kreisamt für Nationale Sicherheit. Transparente und Losungen richteten sich gegen SED und AfNS.898 Am 3. Dezember versammelten sich zahlreiche Bürger zu Menschenketten an Straßen des Kreises Delitzsch.899 Döbeln : Am 27. November formierte sich in Döbeln nach einem Fürbittgottesdienst ein Demonstrationszug mit ca. 800 Teilnehmern. Transparente und Losungen richteten sich gegen SED und Staatssicherheit. In der Kirche sprach u. a. der CDU - Kreisvorsitzende, Beck.900 Eilenburg : Im Kreis Eilenburg bildeten am 3. Dezember mehrere Tausend Bürger eine Menschenkette entlang der F 2.901 Geithain : In Bad Lausick kam es am 29. November nach einem Friedensgebet zu einer Demonstration von ca. 60 Personen zum Marktplatz. Sprechchöre richteten sich gegen die SED und die FDJ. Gefordert wurde die Übersiedlung der Bewohner von Wandlitz nach Mölbis ( Borna ). Der Ort war für seine starke Umweltbelastung durch den VEB Braunkohleveredelung Espenhain berühmt berüchtigt. Vor dem Rat der Stadt wurde ein Plakat mit dem Text : „Deutschland einig Vaterland“ abgestellt.902

894 Vgl. KAfNS Werdau, o. D. ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1); Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 30.11.1989. 895 Vgl. PB Matthias Zwarg, Sachsen 1989 ( HAIT, StKa ). 896 Vgl. KAfNS Zwickau vom 27.11.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 90 f.); MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196– 204); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 28.11.1989. 897 Chronologie Borna ( HAIT, Borna ). 898 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196–204); BStU, ZA, HA XXII 1721, Bl. 27; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 5.12.1989. 899 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse 1989/90 ( StV, Museum Schloss Delitzsch). 900 Vgl. MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 196–204); ebd. 1721, Bl. 27; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 29.11.1989. 901 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 5.12.1989. 902 Vgl. MfS, ZOS vom 29.–30.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 828, Bl. 117–122).

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Bild 41: Montagsdemonstration in Leipzig am 27.11.1989.

Stadt Leipzig : Zur Montagsdemonstration am 27. November in Leipzig versammelten sich ca. 100 000 Menschen. Schwarz - rot - goldene Fahnen ohne DDR- Enblem und Rufe „Deutschland einig Vaterland“ bestimmten das Bild. Begeistert wurde der Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, begrüßt, der sich noch kurz zuvor dafür ausgesprochen hatte, in Hannover keine Flüchtlinge aus der DDR mehr aufzunehmen. Seine Rede wurde immer wieder von Rufen „Deutschland einig Vaterland“ unterbrochen. Für die SDP sprach sich Gunter Weißgerber für deutsche Einheit und soziale Marktwirtschaft aus.903 In der Nähe des Neuen Rathauses kam es zu Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen von Demonstranten. Eine Gruppe Jugendlicher trug Transparente wie „Gegen Annexion der DDR durch die BRD ! Wir wollen kein viertes Reich !“ und beschimpfte die Träger schwarz - rot - goldener Fahnen mit Parolen wie „Nazis raus !“.904 Am nächsten Tag beteiligten sich etwa 7 000 Personen an einer Kundgebung der SED auf dem Dimitroffplatz, die unter dem Motto „Für unser Land“ stand. Die Redner forderten zur Unterschrift auf und wandten sich gegen die deutsche Einheit sowie „rechte Kräfte“. Forderungen nach Auf lösung der Kampfgruppen wurden mit Pfiffen quittiert. Der neue 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung, Roland Wötzel, forderte zum

903 Abgedruckt in Weißgerber, Von der friedlichen Revolution, S. 6–8. 904 Vgl. BDVP Leipzig vom 27.–28.11.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP, 1450/1); MfS, HA XXII, ZOS vom 27.–28.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA XXII 5942, Bl. 200); Sächsisches Tageblatt vom 28.11.1989; Tetzner, Leipziger Ring, S. 64; Von Leipzig, S. 36.

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Bild 52: Abgestellte Transparente am Leipziger Neuen Rathaus am 29.11.1989.

Kampf „gegen rechts“ auf und schloss seine Rede mit „Rot Front !“905 Am 1. Dezember gab Wolf Biermann in Leipzig – nach 25 - jährigem Auftrittsverbot – vor etwa 4 000 Besuchern sein erstes öffentliches Konzert in der DDR.906 Am nächsten Tag demonstrierten ca. 1 000 Kinder und Jugendliche für einen schulfreien Sonnabend. Oschatz : In Oschatz demonstrierten am 27. November nach dem Montagsgebet ca. 500 Personen zum Kreisamt für Nationale Sicherheit. Sprechchöre richteten sich fast ausschließlich gegen die Staatssicherheit.907 Schmölln : Am 3. Dezember fand in Gößnitz eine Demonstration von ca. 700 Personen statt, zu der die LDPD aufgerufen hatte. Dabei wurde ein Aufruf zur Gründung der „Bürgerinitiative Gößnitz“ verteilt. Mitgeführt wurde u. a.

905 BDVP Leipzig vom 29.–30.11.1989 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP, 1450/1). Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 65; taz vom 1.12.1989. 906 Vgl. Biermann, Die schweigende Mehrheit, S. 414–416. 907 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 92 f. und 96 f.

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ein Sarg mit der Aufschrift „SED zum Kotzen“. Andere Forderungen waren „Das in Gößnitz erzeugte Gemüse soll im Kreis bleiben“ und „Getränke - und Versorgungsfragen sind umgehend zu verbessern“. Es gab Sprechchöre gegen SED und Kampfgruppen sowie für „Deutschland einig Vaterland“.908 Die Menschenkette am 3. Dezember hatte im Kreis Schmölln kaum Resonanz.909 Wurzen : In Wurzen zogen am 27. November ca. 1 500 Personen vom Dom, vorbei am Objekt der KAfS, zum Platz der DSF. Die mitgeführten Losungen waren vorwiegend gegen die Staatssicherheit gerichtet. Auf der anschließenden Kundgebung wurden ehemalige führende Funktionäre der SED wegen ihrer Privilegien angegriffen.910 Ein Redner schlug dem Demonstrationszug eine Abstimmung über die deutsche Einheit vor. Wer für die deutsche Einheit sei, solle durch die schmale Badergasse laufen, alle anderen durch die Jacobsgasse. Die Mehrheit ging durch die Badergasse.911 1.9

Krise des Staatsapparates und Bildung Runder Tische

Krise sowie Neuausrichtung und - strukturierung der Volksvertretungen Mitte November konstatierte das MfS im Staatsapparat des Bezirkes Dresden „Zerfalls - und Zerrüttungserscheinungen“ sowie Handlungsunfähigkeit.912 Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes berichtete, es gebe gegenüber Mitarbeitern des Staatsapparates „offen Drohungen und Verleumdungen“.913 In den Kreisen häuften sich bis in die SED hinein Forderungen nach freien Wahlen der regionalen und kommunalen Volksvertretungen, bei denen nur Parteien als Mandatsträger antreten dürften.914 Weiterhin gab es, wie in Schmölln, Absetzungen,915 oder, wie in Eilenburg, Rücktritte von Vorsitzenden von Räten der Kreise.916 In Auerbach trat am 23. November der gesamte Rat des Kreises zurück.917 In einigen Kreistagen gab es Absetzungen bzw. Rücktritte einzelner Sekretäre von 908 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4.12.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 153 f.); VPKA Schmölln vom 3.–4.12.1989 : Lagefilm ( ebd., VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 909 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4.12.1989 : Lage ( ebd., SED Leipzig, 889, Bl. 153 f.). 910 Vgl. SED - KL Wurzen vom 28.11.1989 ( ebd., Bl. 193–195). 911 Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 139. 912 MfS, ZOS vom 16.–17.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 118). 913 RdB Karl - Marx - Stadt an Hans Modrow vom 16.11.1989 ( SächsStAC, 126409). 914 Vgl. SED - KL Sebnitz vom 17.11.1989 : Lage in der SED - KPO ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–4); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 24.11. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 28.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 22.1.1989. 915 Vgl. Beschlussvorlage der außerordentlichen Tagung des KT Schmölln vom 25.11.1989 ( KA Altenburg, RdK, unverzeichnet ). 916 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 22.11.1989. 917 Vgl. Protokoll der Dienstberatung des Vorsitzenden des RdB Karl - Marx - Stadt mit den Vorsitzenden der RdK, OB, Stadtbezirksbürgermeistern und den Stellvertretern des Vorsitzenden und Mitgliedern des RdB vom 25.11.1989 ( SächsStAC, 127392). Vgl.

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Räten der Kreise,918 andere Kreistage lehnten es ab, die Vertrauensfrage zu stellen.919 In Stollberg wurden über 30 Mitarbeiter des Rates des Kreises in Handels - und Versorgungseinrichtungen „delegiert“.920 Einige Kreistage sprachen allen Mitgliedern des Rates das Vertrauen aus.921 Auch in den Volksvertretungen vieler Kommunen wurde die Vertrauensfrage gestellt, in deren Folge zahlreiche Mitglieder von Räten ihre Ämter verloren und Bürgermeister zurücktreten mussten.922 In einzelnen Kommunen, wie z. B. in Nossen ( Meißen ) und Radeburg ( Dresden - Land ) trat der Rat der Stadt geschlossen zurück.923 Es gab aber auch Orte, in denen die Bürgermeister durch die Volksvertretungen in ihren Ämtern bestätigt wurden.924 In einer „äußerst kritischen Atmosphäre“ wurden in den Volksvertretungen, wie z. B. im Dresdner Bezirkstag am 20. November, der Machtmissbrauch der SED und „gravierende Fehler des Rates des Bezirkes“ diskutiert.925 Hier sprach sich Ratsvorsitzender Günther Witteck für eine Erneuerung des Sozialismus aus und übte Selbstkritik an der bisherigen Arbeit sowie zentralistischen Anleitung des Rates,926 lehnte aber einen Rücktritt des Rates ab.927 Der Bezirkstag beschloss die Bildung von Fraktionen, neuen Ständigen Kommissionen und

918 919 920 921

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923 924 925 926 927

Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 24.11.1989; Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 45 f. Vgl. Protokoll der Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702); Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 18.11.1989. Vgl. ebd., vom 1.12.1989. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 21.11.1989. Vgl. Außerplanmäßige Sitzung des KT Döbeln am 25.11.1989 ( Landratsamt Döbeln, KA, VA, 27559, Bl. 19–26); Protokoll der Dienstberatung des Vorsitzenden des RdB Karl - Marx - Stadt mit den Vorsitzenden der RdK, OB, Stadtbezirksbürgermeistern und den Stellvertretern des Vorsitzenden und Mitgliedern des RdB vom 25.11.1989 ( SächsStAC, 127392); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 21.11.1989; Protokoll der Sitzung des KT Zittau vom 22.11.1989 ( KA Zittau, 4630); Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 24.11.1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 30.11.1989; Beschlussprotokoll der Sonderberatung des KT Freital vom 16.11.1989 (Landratsamt Weißeritzkreis, KA, unverzeichnet ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 21.11.1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 30.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 2.12.1989; Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 23.11.1989; Küttler, Die Wende in Plauen, S. 151 f.; Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 162; Landratsamt Reichenbach : Wir sind das Volk. Dokumentation über die Herbsttage 1989 in Reichenbach und Umgebung, S. 82 ( HAIT, StKa ); Friedrich Ender, Über die „Wende“ in Bertsdorf ( ebd.); Die Union, Ausgabe Leipzig / Sächsisches Tageblatt vom 16.11.1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 14. und 16.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 2./3.12.1989. Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 14.11.1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 28.11.1989. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 18./19.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 2./3.12.1989. RdB Dresden an Hans Modrow vom 30.11.1989 ( SächsHStA, BT / RdB, 46141, Bl. 189– 194). Günther Witteck, Einleitung und Thesen für das Referat auf dem Bezirkstag am 20.11.1989 ( ebd., 47115, Bl. 132–135). Beschlussprotokoll des BT Dresden vom 14.12.1989 ( ebd., 46070, Bl. 24).

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einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Arbeitsweise des Bezirkstages befassen und eine neue Geschäftsordnung ausarbeiten sollte. Den Bürgerinitiativen wurde die Mitarbeit in den ständigen Kommissionen angeboten.928 Die Abgeordneten übten sich in Selbstkritik. Der SED - Abgeordnete Siegfried Neubert erklärte, seine Partei habe den Führungsanspruch missbraucht, sei aber bereit, sich gleichberechtigt an der Erneuerung des Sozialismus zu beteiligen. Für die CDU erklärte Eduard Bahsler, Abgeordnete und Rat seien schuldig geworden. Die CDU sei bereit, einen „wahrhaft demokratischen Sozialismus mitzutragen“, allerdings ohne den Führungsanspruch einer Partei, ohne Block und Nationale Front und auf der Grundlage der Unabhängigkeit der Parteien. Wolfgang Berghofer forderte, „Andersdenkende“ in die parlamentarische Arbeit einzubeziehen und eine Gewaltenteilung zwischen Bezirkstag und Rat des Bezirkes einzuführen.929 Auch in den Bezirkstagen von Leipzig und Karl - Marx - Stadt ging es um die Neugestaltung von Struktur und Arbeitsweise des Rates des Bezirkes sowie um die Bildung von Fraktionen.930 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt traten bis Ende November der Oberbürgermeister der Stadt Plauen, elf Mitglieder der Räte der Kreise und Städte sowie elf Bürgermeister zurück.931 In Anlehnung an die Entwicklung auf Bezirksebene gaben die Räte der Kreise auf außerordentlichen Kreistagssitzungen Erklärungen über einen Neuanfang ihrer Arbeit ab und erklärten ihre Mitschuld an der Lage.932 In allen Kreistagen bildeten die Parteien seit Mitte November Fraktionen und betonten ihre Selbstständigkeit.933 Während die SED ihren Führungsanspruch revidierte, setzten sich die Blockparteien vielerorts bereits für einen echten Parteienpluralismus ein.934 Wie schwer sich Altfunktionäre damit zum Teil taten, zeigte erneut der CDU - Kreisvorsitzende von Delitzsch, Michael Czupalla, der sich bislang durch Treueschwüre auf die SED besonders hervorgetan hatte. Er erklärte nun, es gehe inzwischen in der Tat „um Bündnispolitik und Opposition, aber nicht Opposition im bürgerlichen Sinn“.935 In Ausführung zentraler Vorgaben suchten die Altkader nach neuen Arbeitsformen der Volksvertretungen 928 Beschluss der Tagung des BT Dresden vom 20.11.1989 ( ebd., 47115, Bl. 130 f. ). 929 Vgl. Diskussionsbeiträge des BT Dresden vom 20.11.1989 ( ebd., 47116/1, Bl. 53–58). 930 Vgl. Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Karl - Marx - Stadt vom 10.11.1989 ( SächsStAC, 127392); Klaus Reichenbach an Lothar Fichtner vom 6.12.1989 ( ebd., 127962). 931 Vgl. Lothar Fichtner an Hans Modrow vom 1.12.1989 ( ebd., 126416). 932 Vgl. Protokoll der Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702). 933 Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989, S.19 ( HAIT, StKa ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 28.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 21.11.1989; SED - KL Sebnitz vom 17.11.1989 : Lage der SED ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060, Bl. 1–4); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 24.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 21.11.1989; Beschlussprotokoll der Sonderberatung des KT Freital vom 16.11.1989 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA, RdK Freital, Vorsitzender ). 934 Vgl. Protokoll der Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702); Außerordentliche Sitzung des KT Riesa vom 16.11.1989 ( PB Andreas Näther ); Unser Ziel : Demokratie grundlegend neuer Art. In : Sächsische Zeitung vom 18./19.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 28.11.1989. 935 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 21.11.1989.

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und Räte, um in „besserer Weise die Vorzüge des Sozialismus spürbar werden zu lassen“.936 Auch in den Volksvertretungen der Kommunen wurde mit der Bildung von Fraktionen begonnen937 und versucht, Vertreter neuer Gruppen in die Arbeit einzubinden, sofern sie sich zum Sozialismus in der DDR bekannten.938 Vielerorts fanden öffentliche Sitzungen mit Vertretern neuer Gruppen statt,939 in einigen Kommunen wurden, wie z. B. in Pulsnitz, Vertreter von Bürgerinitiativen sogar bereits als Stadträte berufen.940 Bei den öffentlichen Beratungen ging es meist um kommunale Probleme wie Handel, Versorgung und Dienstleistungen, Wohnungsprobleme, Baukapazitäten und - genehmigungen sowie um Umweltschutz. Zu diesen wie zu politischen Themen bildeten die Volksvertretungen aller Ebenen nun eine Fülle neuer Arbeitsgruppen, zu denen interessierte Bürger wie Vertreter neuer Gruppen eingeladen wurden.941 Bei öffentlichen Sitzungen der Kreistage ging es um die Verbesserung der Lebensqualität, eine Stabilisierung des kommunalen Lebens, um den Einsatz neuer Kader, die Reduzierung des Verwaltungsapparates und um mehr Fachkompetenz. Immer wieder waren marode Bauten und Straßen ein Thema, ebenso die unzureichende Versorgung mit Wohnungen und Trinkwasser, fehlende Abwasseranlagen, Verkaufseinrichtungen und Telefonanlagen in Landgemeinden.942 Die Kreistage wählten vielerorts ständige Arbeitspräsidien mit Vertretern aller Parteien, bildeten Vorschlagskommissionen und Kommissionen zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Privilegien.943 Auch in den kommunalen Volksvertretungen wurden Vorschlagskommission gebildet944 und Arbeits936 Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 10.11.1989. 937 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 25.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 15.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 28.11.1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 14.11.1989; Sächsisches Tageblatt vom 22.11.1989; Die Union vom 25./26.11.1989. 938 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 28.11.1989; Die Union vom 25./26. und 28.11.1989. 939 Vgl. KDfS Görlitz vom 14.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 193); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 22. und 24.11.1989; Die Union, Ausgabe Meißen, vom 16. und 22.11.1989. 940 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 2./3.12.1989. 941 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 14.11.1989; Beratung des KT Sebnitz vom 30.11.1989 ( Landratsamt Sächsische Schweiz, KA Pirna, Mappe 55); RdK Bautzen an Uwe Hörenz vom 17.11.1989 : Bildung und Tätigkeit zeitweiliger AG ( UB Grohedo ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 16. und 22.11.1989. 942 Vgl. StV Glauchau : Daten zur politischen Wende 1989 in Glauchau ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 28.11.1989. 943 Vgl. Protokoll der Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702); Beschlussprotokoll der Sondertagung des KT Eilenburg vom 20.11.89 ( ebd., ASt. Eilenburg, RdK Eilenburg,1681); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 21.11. 1989; Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989, S.19 ( HAIT, StKa ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 28.11.1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 10.11.1989. 944 Vgl. Beschluss des RdK Altenburg zur Vorschlagskommission des KT vom 29.11.1989 ( KA Altenburg, RdK ABG KT, 1772).

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gruppen eingesetzt zu Themen wie „Weiterentwicklung und Einhaltung des sozialistischen Rechts“, „Bürgerkomitee zur Überprüfung mitgeteilter Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption“,945 „Ordnung, Sicherheit und Recht“,946 „Stadtgestaltung / innerstädtisches Bauen“, „Durchsetzung der Stadtordnung unter besonderer Beachtung der Sauberkeit“, „Jugendfragen“, „Handelsnetzentwicklung / Sicherung der Ladenöffnungszeiten“947 und zahlreichen anderen Themen.948 Auch hier wurden Vertreter neuer Gruppen zur Mitarbeit aufgefordert. Bildung regionaler und kommunaler Runder Tische Alle Volksvertretungen bemühten sich seit der Zulassung des Neuen Forums um neue Formen des Dialogs unter Einbeziehung des Neuen Forums und anderer neuer Gruppen. Aber auch die neuen politischen Kräfte waren meist an Gesprächen interessiert. Dabei ging es nicht nur um eine Sicherheitspartnerschaft bei den Demonstrationen, sondern um die Umgestaltung des diktatorischen Staatsapparates. Oft war aber auch beides miteinander verbunden.949 Zum Teil luden auf Kreisebene Staatsorgane und Neues Forum gemeinsam zu Dialoggesprächen ein, oder die Staatsorgane beendeten ihre bisherigen Dialogveranstaltungen zugunsten von Einwohnerversammlungen des Neuen Forums. Am verbreitesten waren auf Kreisebene Gespräche der Räte und der Altparteien mit Vertretern neuer Gruppen unter Einbeziehung von Kirchenvertretern. Dabei ging es oft zunächst um die Schaffung technischer Voraussetzungen für die Arbeit insbesondere des Neuen Forums und der SDP sowie um die Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen. Themen waren aber auch die Analyse der Situation, die Diskussion gemeinsamer Lösungen oder die Beruhigung der Lage. Regelmäßig ging es um das Ende der SED - Alleinherrschaft, den Rückzug der SED aus den Betrieben und die Rolle des MfS.950 Die Rede war nach dem 945 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 9./10.12.1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 25.11.1989. 946 Vgl. Niederschrift vom 14.11.1989 ( StA Plauen, A 962). 947 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 16.11.1989. 948 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 15.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 23.11.1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 24.11.1989. 949 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 20 f.). 950 Vgl. Aussprache beim Vorsitzenden des RdK Döbeln mit Vertretern des Neuen Forums am 11.11.1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 33, Bl. 1 f.); KDfS Zschopau vom 6.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1821, Bl. 1 f.); KDfS Oelsnitz vom 2.11. 1989 : Lage ( ebd. 540, 1, Bl. 5–7); KDfS Schwarzenberg vom 13.11.1989 : Lage (ebd. 678, Bl. 3 f.); KDfS Reichenbach vom 4.11.1989 : Gespräch mit Mitgliedern des Neuen Forums ( ebd. 541, 1, Bl. 2–5); Gespräch zwischen der Bürgerinitiative und SED - KL am 14.11.1989 ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 16. und 24.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 3.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 7.11.1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 18./19.11.1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 22.11.1989.

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zunächst gewaltsamen Vorgehen gegen die Oppositionellen nun von einer „Plattform gemeinsamen Handelns“ und einer „Koalition der Vernunft“.951 Oft wurde den Vertretern des Neuen Forums angeboten, ihre Vorstellungen bei öffentlichen Kreistagssitzungen vorzutragen.952 Entsprechend war die Lage in Städten und Gemeinden.953 Auch hier trafen sich Vertreter der Räte der Städte und Gemeinden, der Altparteien und der Volkspolizei mit Sprechern neuer Gruppierungen oder von „Bürgerinitiativen“,954 „Dialoggruppen“ wie in Pulsnitz,955 dem „Demonstrationskomitee“ wie in Großenhain956 oder einer „Initiativgruppe“ wie in Bernstadt ( Löbau ).957 Häufig firmierten diese Treffen nach Dresdner Vorbild als Rathausgespräche. In Geithain lud der Bürgermeister zum „Sonntags - Stammtisch“.958 In der Erinnerung einiger Akteure handelte es sich bereits um Runde Tische,959 was in Form und Zielstellung auch richtig ist. Unklar ist, ob die Bezeichnung zu diesem Zeitpunkt schon vor Ort verwendet wurde. Für Rochlitz lässt sich für den 9. November nachweisen, dass hier der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung forderte, alle gesellschaftlichen Kräfte müssten „an einen Tisch“.960 Auf jeden Fall reichten die Vorschläge zur Bildung eines Runden Tisches weiter zurück, bezogen sich aber in der Regel auf ein zentrales Gremium für die gesamte DDR. Ende September hatte der Fraktionsvorsitzende der CDU / CSUBundestagsfraktion, Alfred Dregger, wiederholt die Bildung eines Runden Tisches in der DDR vorgeschlagen.961 Eine Woche nach dem Sturz Honeckers formulierte auch Wolfgang Ullmann ( DJ ) eine entsprechende Idee.962 Am 27. Oktober schlugen Vertreter von Demokratie Jetzt für die Realisierung eines Volksentscheids über die führende Rolle der SED die Einsetzung eines Runden 951 Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 9.11.1989. 952 Vgl. KDfS Oelsnitz vom 8.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37– 39). 953 Vgl. Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in der Stadt Lunzenau ( Archiv Ortschronik Lunzenau ); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 3.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, XX 852, Bl. 3); BVfS Karl - Marx - Stadt vom 31.10.1989 : Rapport ( ebd. 850, Bl. 14); KDfS Niesky vom 9.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 92); StV Königsbrück an Michael Sagurna vom 23. 2.1999 ( HAIT, StKa ); Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 138. 954 Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2.1999 ( HAIT, StKa ); SED - KL Pirna vom 30.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); KDfS Bischofswerda vom 8.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 1, Bl. 137); Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 29.11.1989. 955 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 10.11.1989. 956 Vgl. Gründung des Großenhainer Demonstrationskomitees, o. D. ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 957 Vgl. StV Bernstadt : Chronologie der Wende in Bernstadt ( HAIT, StKa ). 958 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 22.11.1989. 959 Vgl. Schmidt, 5 Jahre einer 450 - jährigen Stadt, S. 4; Bürgermeister der Stadt Kohren Sahlis an Sächsische Staatskanzlei vom 19. 3.1999 ( HAIT, StKa ); Gründung des Runden Tisches in Altmittweida, o. D. ( ebd.). 960 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 9. und 11.11.1989. 961 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 28. 9.1989. 962 Vgl. Ullmann, Demokratie, S. 147 f.

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Tisches vor, an dem Vertreter von Volkskammer und Regierung, der Arbeiter, Kirchen, Opposition und Intelligenz teilnehmen sollten. Geplant war kein „Notparlament“, sondern „eine Art außerordentlicher Senat, der alle noch vorhandenen Autoritäten zu dem Zweck verbündet, dem Staat erst wieder zu handlungsfähigen Organen zu verhelfen“.963 Auch Vorschläge der SDP nach Bildung eines Runden Tisches nach polnischem Vorbild Ende Oktober bezogen sich auf die zentrale Ebene.964 Seit Anfang November fand die Idee unter den Oppositionsgruppen immer mehr Anklang.965 Das Initiativkomitee der SDP schlug am 3. November die Bildung eines Runden Tisches mit Vertretern der SED, der Blockparteien und neu gegründeter Gruppen vor.966 Der DA setzte sich am 6. November öffentlich für die Einrichtung eines Runden Tisches ein.967 Am 10. November forderte die aus Vertretern von sieben oppositionellen Organisationen bestehende Kontaktgruppe968 die SED und die Blockparteien zu Verhandlungen am Runden Tisch auf. Beim Treffen der Kontaktgruppe wurde die endgültige Form des Runden Tisches beschlossen.969 Am 17. November vereinbarten Ullmann und Bischof Forck, die katholische Kirche und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen als Miteinlader zum Runden Tisch zu bitten. Vier Tage später verständigten sich Forck und Leich über einen Runden Tisch. Auch der Vorsitzende der Berliner Bischofskonferenz, Georg Sterzinsky, war bereit, das Projekt zu unterstützen. Zunächst war es zwischen den Bürgergruppen und Vertretern der Kirche zu Irritationen über die Rolle der Kirchen gekommen, da diese auf einer Mitsprache bei der Zusammensetzung des Runden Tisches bestanden.970 Nun wurden die Blockparteien von Vertretern der neuen politischen Gruppen direkt zu Verhandlungen am Runden Tisch eingeladen. Ziel war eine Verständigung über die Situation im Lande und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Durch eine „erweiterte differenzierte interessenartikulierende politische Struktur“971 wolle man die positiven Ansätze des Regierungsprogramms unterstützen.972 Ohne die bisherigen Initiativen der Bürgergruppen zu erwähnen, beschloss das Politbüro der SED am 22. November, vorzuschlagen, „dass die in der Koalitionsregierung vereinten politischen Parteien sich gemeinsam mit anderen poli963 Ders., Der gemeinsame Boden, S. 85. 964 Vgl. Claus Wettermann am 28.10.1989. In : Das deutsche Jahr, S. 20. 965 Nach Uwe Thaysen geht die Idee auf Markus Meckel und Martin Gutzeit zurück. Vgl. Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 62. 966 Vgl. MfS, HA III vom 3.–4.11.1989 : Lageübersicht ( BStU, ZA, HA III 858, Bl. 31). 967 Vgl. Interview mit Erhard Neubert. In : taz vom 24.11.1989. 968 IFM, NF, DJ, DA, SDP, Grüne Partei, VL. 969 Vgl. Ullmann, Der gemeinsame Boden, S. 85 f.; Thaysen, Der Runde Tisch, S. 30; Bericht der Enquete - Kommission, S. 210. 970 Vgl. Blutvergießen konnte vermieden werden ! Gespräch zwischen Ewald Rose, Martin Ziegler und Martin Lange am 3. 4.1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 330 f.; Inter view mit Karl - Heinz Ducke. In : ebd., S. 325–329; Ullmann, Der gemeinsame Boden, S. 86. 971 Zimmerling, Neue Chronik DDR 2, S. 108. 972 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 331.

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tischen Kräften des Landes an einem ‚Runden Tisch‘ zusammenfinden“.973 „In Ver wirklichung des Aktionsprogramms der Partei“, so hieß es im „Neuen Deutschland“, werde die Bildung eines Runden Tisches vorgeschlagen.974 Auf einer Beratung des Ministerrates mit den Räten der Bezirke forderte Modrow die Ratsvorsitzenden auf, das Neue Forum in die Arbeit einzubeziehen, es aber zur Übernahme von Verantwortung und zur Vertretung staatlicher Politik zu bewegen. Es gelte nach dem neuen Demokratieverständnis, Politik am Runden Tisch zu gestalten und so den Sozialismus zu erneuern, müsse aber dabei bleiben, „dass wir uns als polit. führendes Gremium fühlen“.975 Zwei Tage später traf sich die Kontaktgruppe der Bürgergruppen im Berliner Dietrich - Bonhoeffer - Haus zur Vorbereitung des Runden Tisches,976 und die Blockparteien bekundeten ihren Willen, sich zu beteiligen.977 Das Neue Forum Leipzig rief am 26. November zur Bildung eines Runden Tisches „mit Kontroll - und Entscheidungskompetenzen zur Vorbereitung aller Volkskammerbeschlüsse“ auf. Angesicht der Tatsache, dass SED und Blockparteien „aus dem Schlaf geweckt“ seien und nun begännen, sich die Ergebnisse der Revolution auf ihre Fahnen zu schreiben, gelte es Einfluss auf die rasant laufende politische Entwicklung zu nehmen.978 Am 30. November lud der Bund der Evangelischen Kirchen der DDR zur ersten Sitzung eines Runden Tisches am 7. Dezember ins Bonhoeffer - Haus ein.979 Die Bedeutung dieser Einladung lag darin, dass die Kirchen die Bürgergruppen „in den Rang nicht nur rechtlich anzuerkennender, sondern auch politisch ebenbürtiger Kräfte hob“ und dass sie eine „aktive Parteinahme der Kirche für die Gruppierungen aus dem Widerstand“ bedeutete.980 Nach den Instruktionen Modrows zur geplanten Ver waltungsreform berieten nun auch die Räte der Bezirke über eine Veränderung der Arbeit und Formen der Kooperation mit neuen politischen Kräften.981 Von Runden Tischen auf Bezirksebene war dabei noch keine Rede. Unabhängig von den Vorschlägen des Politbüros und entsprechenden Anweisungen Modrow am 22. November gab es in sächsischen Kreisen bereits zuvor Initiativen zur Bildung Runder Tische auf Kreisebene. Der früheste nachweisbare Termin ist der 20. November. An diesem Tag vereinbarten das Christliche Friedensseminar Königswalde 973 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 22.11.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2364). 974 Anregung der SED. In : Neues Deutschland vom 23.11.1989. 975 Beratung des Ministerrates mit Vorsitzenden der RdB vom 22.11.1989, Ausführungen Hans Modrows, Mitschrift Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A /3274). 976 Vgl. FAZ vom 24. 9.1992. 977 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 6. 978 An alle Bürgerinnen und Bürger der DDR ! Neues Forum Leipzig vom 26.11.1989 (ABL, H. XIX /1). 979 BEKDDR vom 30.11.1989, gez. Ziegler ( BArch Berlin, A - 3 1, Bl. 26 f.). 980 Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 1, S. 82. 981 Vgl. Protokoll der Dienstberatung des Vorsitzenden des RdB Karl - Marx - Stadt mit den Vorsitzenden der RdK, OB Städte, Stadtbezirksbürgermeistern und Stellvertreter des Vorsitzenden und Mitgliedern des RdB vom 25.11.1989 ( SächsStAC, 127392).

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und die SED - Kreisleitung Werdau Gespräche am Runden Tisch im Kreis.982 In Freiberg kam es am 21. November auf Einladung des Rates des Kreises mit Vertretern von DJ, Neuem Forum, der „Basisgruppe Konkret“ und weiteren Bürgern zum ersten Rundtischgespräch.983 In Klingenthal fand das erste Rundtischgespräch einen Tag später statt,984 und auch in Hohenstein - Ernstthal wurde am 23. November die Bildung eines Runden Tisches vorgeschlagen.985 Er tagte am 29. November erstmals.986 Im Kreis Schwarzenberg gab es am 28. November erstmals ein Treff am Runden Tisch,987 in Geithain, Freital und Leipzig einen Tag später.988 In Leipzig war die Zuordnung des Runden Tisches zum Bezirk, zum Kreis bzw. zur Stadt besonders schwierig. Nicht immer von den Aktivitäten auf Kreisebene zu trennen, kam es auch zu Runden Tischen in Kommunen. Am 23. November beantragte der LDPD - Kreisvorstand Karl-Marx-Stadt, einen Runden Tisch der Stadt einzuführen. Der Demokratische Block lehnt diesen Vorschlag ab.989 In Lengenfeld fanden sich am 24. November Vertreter der meisten Parteien und Organisationen zum ersten Gespräch am Runden Tisch zusammen.990 Auf Einladung des Bürgermeisters kam es am 30. November in Meißen zur ersten Zusammenkunft am Runden Tisch. In Görlitz gab es am 2. Dezember Forderungen nach Gesprächen am Runden Tisch in der Stadt.991 Damit ist klar, dass sich regionale Runde Tische bereits lange vor der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember bildeten. Den Impuls dazu gaben entsprechende Überlegungen, den unterschiedlichen Formen der Kooperation zwischen Partei - und Staatsapparat auf der einen und Bürgergruppen auf der anderen Seite eine institutionalisierte Form zu geben. Der Impuls für die Bildung Runder Tische ging also nicht vom Zentralen Runden Tisch aus, wohl aber wirkte dieser als Impulsverstärker.

982 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 25.11.1989. 983 RdK Freiberg vom 21.11.1989 : Niederschrift des Rundtischgesprächs ( KA Freiberg, RdK, 444); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 24.11.1989; Kandler, Die Rolle der ev.luth. Kirche, S. 66 f. 984 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 24.11.1989. 985 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 25.11.1989. 986 Vgl. ebd. vom 6.12.1989. 987 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 1.12.1989. 988 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 29.11.1989; Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 92; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 5.12.1989; SEDKL Freital vom 1.12.1989 : Beratung der Parteien, Massenorganisationen sowie neu gegründeter Gruppen und Vereinigungen ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 989 Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 109. 990 Vgl. Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfelde, S. 7 ( HAIT, StKa ). 991 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 6.12.1989.

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1.10 Entwicklung der Blockparteien im November bis zum Ende von Nationaler Front und Demokratischem Block (28.11.) Der Prozess der politischen Differenzierung in den Blockparteien setzte sich Ende Oktober / Anfang November fort. Aus der Bevölkerung gab es nicht nur an der SED Kritik. Auch die Blockparteien wurden mit Vorwürfen hinsichtlich ihrer bisherigen Rolle konfrontiert.992 Bärbel Bohley meinte gar, die Blockparteien seien wegen ihres Opportunismus „noch schlimmer“ als die SED gewesen. Aber wenn sie Selbstkritik übten und sich profilierten, könnten sie innerhalb des Reformprozesses eine Rolle spielen.993 Angesichts der revolutionären Entwicklung gab es auch ohne Aufforderung in den Blockparteien Bemühungen, sich bei Dialogen, Kundgebungen und Demonstrationen programmatisch im Sinne von Erneuerungen zu profilieren und neue Personengruppen anzusprechen.994 Dem dienten auch von einzelnen Parteien wie von Gremien des Blocks durchgeführte Veranstaltungen mit Vertretern des Neuen Forums,995 das seinerseits vereinzelt, wie z. B. in Marienberg, eine Auf lösung des Blocks und ein eigenes Profil der Blockparteien forderte.996 Aus dem Bezirk Dresden berichtete die SED - Bezirksleitung, in den Blockparteien verstärkten sich Forderungen, dass die SED „ihre Rolle gründlich durchdenken“ müsse. Der Führungsanspruch sei „nicht zu dekretieren“. Politik und Wirtschaft sollten getrennt, das Wahlsystem müsse verändert und das Neue Forum in die Arbeit des Blocks einbezogen werden. Außerdem sollten bis auf den FDGB alle Organisationen aus den Betrieben entfernt werden.997 Ähnliche Diskussionen gab es in den Kreisen. In Löbau diskutierte der Block über ein neues Demokratieverständnis und eine andere Art der Zusammenarbeit. Die LDPD erklärte, sie habe viele Vorschläge zur Veränderung der sozialistischen Gesellschaft. Die CDU forderte mehr Entscheidungsbefugnisse und mehr leitende Positionen.998 In Oelsnitz sprachen sich die meisten Vertreter im Block der Kreisstadt für mehr Eigenständigkeit und Mitspracherecht mit dem Ziel einer funktionierenden Demokratie aus.999 Die Nationale Front in Plauen gab die Losung „Führen ohne zu beherrschen“ heraus.1000 In Altenburg plante der Block thematische Arbeitsgruppen, um bisher von der SED unterbundene Dis992 Vgl. KDfS Freiberg vom 1.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 16– 18). 993 Interview mit Bärbel Bohley. In : Stuttgarter Zeitung vom 2.11.1989. 994 Vgl. SED - KL Schmölln vom 2.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 91– 93). 995 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 4.11.1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 11/.12.11.1989. 996 Vgl. StA Marienberg, PB Köhler. 997 SED - BL Dresden vom 30.10.1989 : Lage ( SächsHStA, AR, 13118). 998 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 1.11.1989. 999 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 4.11.1989. 1000 KDfS Plauen vom 7.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 539, Bl. 50– 56).

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kussionen zu beleben.1001 Noch immer aber lag die Organisation der Arbeit im Block und in der Nationalen Front in der Hand der SED. Das zeigte eine Beratung des Sekretariats der SED - Bezirksleitung Dresden am 3. November, bei der beschlossen wurde, die Arbeit so zu gestalten, „dass dabei das gemeinsame Wirken aller befreundeten Parteien zum Tragen kommt“.1002 Die „befreundeten Parteien“ aber legten auf die kommunistische Art von Freundschaft immer weniger Wert. Sie forderten „einen größeren Einfluss“1003 und, dass „dem Machtmonopol der SED hinsichtlich des Alleinvertretungsanspruches [...] stärker begegnet werden müsse“. Ihre „aufgeschlossene Haltung“ im Dialog dürfe „von der SED nicht missverstanden werden“. Sollte diese nicht bald tatsächliche Veränderungen herbeiführen, „werde man andere Wege gehen“.1004 So meldete die SED aus dem Kreis Sebnitz, das Auftreten der Funktionäre der „befreundeten Parteien“ werde „immer selbstbewusster“ und „von den Bürgern im Gegensatz zur SED begrüßt“.1005 Auch im Kreis Freiberg wurden LDPD und CDU als „Alternative zur SED“ gesehen und gefordert, dass sich zur nächsten Wahl alle Parteien mit eigenen Programmen stellen können.1006 In Schwarzenberg kritisierten die Blockparteien das SED - Parteibuch als Kompetenzersatz und forderten eine neue Definition der „führenden Rolle“. Beim Pressegespräch des Bezirksausschusses der Nationalen Front Dresden am 6. November übte die LDPD Kritik am Führungsanspruch der SED.1007 Auch bei einem Dialog in Borna kritisierte die LDPD das Machtmonopol der SED, stellte die Nationale Front in Frage, votierte aber ausdrücklich für eine Beibehaltung des Sozialismus. Auch die SED stimmte immer häufiger selbst für ein Ende der bisherigen Bevormundung der anderen Parteien.1008 In Görlitz plädierte die DBD dafür, „die in 40 Jahren bewährte Bündnispolitik“ fortzusetzen, den anderen Parteien aber mehr politische Verantwortung zu übertragen. Auch die Vertreter der anderen Parteien votierten hier für mehr Eigenständigkeit bei der „Bewahrung und Erneuerung des Sozialismus“.1009 In Hainichen zeigte sich die Nationale Front offen für alle „Elemente, die willens sind, auf der Grundlage der Verfassung“, sprich der Anerkennung der SED - Führungsrolle, zu arbeiten.1010 Die Diskussionen waren also widersprüchlich, als am 11. November der Zentrale Block zusammentrat. Krenz forderte hier die Anerkennung der führenden Rolle der SED und der Eigenstaatlichkeit der DDR. Für die CDU erklärte dar1001 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 4./5.11.1989. 1002 Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED - BL Dresden vom 3.11.1989 ( ABL, EA 891103_1). 1003 KDfS Freiberg vom 3.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 9–11). 1004 KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 3.11.1989 : Info ( ebd. 534, 2, Bl. 12–15). 1005 SED - KL Sebnitz vom 4.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/ 060). 1006 KDfS Freiberg vom 7.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 6–8). 1007 Vgl. Die Union vom 8.11.1989. 1008 Im Miteinander um die Zukunft Bornas gestritten ( HAIT, StKa ). Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 10.11.1989. 1009 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 11./12.11.1989. 1010 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 17.11.1989.

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aufhin Lothar de Maizière, es könne einen Konsens hinsichtlich des sozialistischen Staates DDR geben, aber nicht mehr, was die „führende Rolle“ der SED angehe.1011 Am 14. November berieten die Führungen der Blockparteien in Berlin über die Bildung der Regierung Modrow. Die Blockparteien forderten ein Ende des Machtmonopols der SED und die Trennung von SED und Staat.1012 Modrow legte dagegen das Konzept zur Bildung einer „Koalitionsregierung“ unter Führung der SED vor und drängte auf Beibehaltung der führenden Rolle der SED. In dieser Situation entschieden sich die Blockparteien, eine untergeordnete Rolle in der Regierung zu spielen und nachgeordnete Ministerien in einer von der SED beherrschten Regierung zu übernehmen. Grundlage dafür war ihre demokratisch - sozialistische Grundausrichtung sowie die Tatsache, dass sie die Regierung als Übergangslösung bis zu freien Wahlen ansahen.1013 Ungeachtet dieses Nachgebens im Bereich der Administration setzten sich die Blockparteien politisch unterschiedlich stark von der SED ab. Zunehmende Unterstützung erhielten die Blockparteien ab Mitte November bei Demonstrationen und Kundgebungen. Hier richteten sich die Proteste fast ausschließlich gegen SED und MfS, nicht aber gegen die Blockparteien. Diese wurden vielmehr immer mehr zu Trägern der Proteste. Vereinzelt richteten sich die Vorwürfe aber auch gegen korrupte Funktionäre der Blockparteien wie etwa Götting.1014 Die überall erhobenen Forderungen nach freien Wahlen und gegen den Führungsanspruch der SED verbanden sich indirekt mit der Forderung nach einer wachsenden Rolle dieser Parteien. Gelegentlich waren die Blockparteien, vor allem LDPD und CDU, selbst Organisatoren von Protestkundgebungen.1015 Im Kreis Karl - Marx - Stadt - Land erklärte die CDU bereits am 14. November ihren Austritt aus dem Block. Die NDPD meinte, die Nationale Front sei „tot“. Die anderen politischen Kräfte sprachen sich hier für eine Weiterarbeit zugunsten eines attraktiveren Sozialismus aus.1016 In Stollberg traten LDPD und CDU am 16. November aus dem Block aus.1017 In Borna forderten Blockparteien, Massenorganisationen und neue Bürgerinitiativen künftig ein gleichberechtigtes Miteinander im Rahmen des Blocks.1018 Bei einer Kundgebung in Bischofswerda plädierten die Blockparteien am 17. November für ein Ende des Blocks, um sich frei entfalten zu können.1019 In Bautzen erklärten die Kreisverbände von CDU, NDPD und LDPD am 20. November ihren Austritt aus dem Block. 1011 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 322. 1012 Vgl. SED - BL Frankfurt / Oder vom 15.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 1013 Vgl. dazu Kap. IV.1.1. 1014 Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 16.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). 1015 Vgl. MfS, ZOS vom 14.–15.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 142). 1016 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 16.11.1989. 1017 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 18.11.1989. 1018 Vgl. SED - KL Borna vom 17.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 886, Bl. 133); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 18./19.11.1989. 1019 Vgl. SED - KL Bischofswerda : Weitere Aufgaben der KPO vom 17./18.11.1989 (SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554).

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Sie schlugen die Zusammenarbeit an einem Runden Tisch vor, an dem auch neue Gruppierungen teilnehmen sollten.1020 In Flöha einigte sich der Block am selben Tag auf eine Fraktionsbildung im Kreistag und bot den neuen Parteien und Organisationen eine Mitarbeit im Block an.1021 In Klingenthal beschloss der LDPD - Kreisvorstand den Austritt aus dem Block.1022 Am 23. November forderte die Nationale Front des Bezirkes Dresden eine Neuwahl ihrer Vertreter auf Grundlage eines neuen Wahlgesetzes, um so die bisherige SED - Dominanz zu beenden.1023 Auch in Dresden sahen LDPD und CDU keine Existenzberechtigung für die Nationale Front mehr und erklärten ihren Austritt aus dem Block.1024 In der Sitzung des Demokratischen Blocks am 23. November kündigte der LDPD - Kreisvorstand Karl - Marx - Stadt die weitere Mitarbeit auf und beantragte, einen Runden Tisch der Stadt einzuführen. Der Block lehnte diesen Vorschlag ab.1025 Bei der nächsten Sitzung wurde ein CDU - Antrag auf Auf lösung des Blockes nur von der LDPD unterstützt, während die anderen Teilnehmer für ein Weiterbestehen votierten.1026 In Oelsnitz sprach sich der Block für die Fortsetzung seiner Arbeit aus, forderte allerdings ein Ende der SED - Führungsrolle.1027 In Niesky erklärte die CDU am 24. November ihren Austritt aus dem Kreisausschuss der Nationalen Front und dem Block. Die NDPD forderte eine künftige Gleichberechtigung der Parteien.1028 Am 27. November kündigten in Bautzen CDU, LDPD und NDPD ihre Mitarbeit im Block und im Kreisausschuss der Nationalen Front und bezeichneten Runde Tische als denkbare Form weiterer Zusammenarbeit.1029 Das Kreissekretariat der Nationalen Front Auerbach beschloss am 29. November, sich gemeinsam mit Vertretern neuer Gruppen und der Kirche am 13. Dezember am Runden Tisch zu treffen.1030 In Bad Elster ( Oelsnitz ) schlug die LDPD die Bildung einer demokratischen Gesprächsrunde mit zwei Vertretern aller politischen Organisationen als Ersatz für die „strukturell erstarrte und einseitig ausgerichtete Nationale Front“ vor.1031 In Marienberg kündigten CDU, NDPD und LDPD ihre Mitarbeit im Block und in der Nationalen Front auf,1032 und in Zwickau - Land traten CDU und NDPD mit

1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029

Vgl. Sächsische Zeitung vom 19.11.1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 22.11.1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 23.11.1989. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 23.11.1989. Vgl. Die Union vom 23.11.1989. Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 109. Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 28.11.1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 25.11.1989. Vgl. SED - KL Niesky vom 26.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. SED - KL Bautzen vom 29.11.1989 : Lage ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 29.11.1989. 1030 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 30.11.1989. 1031 Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 29.11.1989. 1032 Vgl. RdK Marienberg an Neues Forum vom 30.11.1989 ( StA Marienberg, PB Köhler).

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der Begründung aus dem Block und dem Kreissekretariat der Nationalen Front aus, es handele sich um „Instrumente des Führungsanspruches der SED“.1033 Nachdem sich überall in der DDR Blockparteien aus dem „Demokratischen Block“ und der Nationalen Front zurückzogen und dasselbe von ihren Parteiführungen forderten, rief die SED zum 28. November die Parteien und Massenorganisationen zu einer Sitzung des Zentralen Blockes der DDR zusammen.1034 De Maizière stellte gleich bei der Eröffnung „einem Paukenschlag gleich“1035 für die CDU den Antrag, „diese Sitzung als unsere letzte zu betrachten und von ihr an den Runden Tisch zu gehen“. Er warf der SED vor, das ursprüngliche Verständnis des Blocks als „Beratungs - und Entscheidungsorgan gleichberechtigter, eigenständiger politischer Kräfte“ unterminiert zu haben und trat für eine völlige Selbstständigkeit der Mitglieder ein. Krenz wies dies zurück und erklärte, der Block habe sich in 40 Jahren DDR bewährt. Er forderte die Blockmitglieder auf, dem Vorschlag nicht zu folgen und stattdessen eine gemeinsame Position für den Runden Tisch festzulegen. Tatsächlich unterstützten alle Parteien und Massenorganisationen – mit Ausnahme der CDU – das Anliegen. Gerlach erklärte, ihm leuchteten die Argumente der CDU zwar ein, doch bevor die Strukturen aufgelöst würden, müsse im Block die Bildung weiterer Volkskammerausschüsse besprochen werden. Unter dem Eindruck der Debatte zog de Maizière den Antrag zurück.1036 Stattdessen bekundeten alle Parteien und Massenorganisationen ihre Bereitschaft, sich an einem Runden Tisch zu beteiligen.1037 Ungeachtet dessen blieb dies die letzte Blocksitzung. Der 1945 ins Leben gerufene Block ging auch ohne formalen Auf lösungsbeschluss in den Wirren der kommenden Ereignisse unter. CDU : Vor allem die mit den Kirchen verbundenen CDU - Mitglieder, die Kontakt zu oppositionellen Bürgergruppen hatten, verlangten Anfang November einen eindeutigen Kurswechsel der Partei und die Absetzung Göttings. So forderten ihn die Initiatoren des „Briefes aus Weimar“ und Vertreter aus den Bezirken am 1. November zum Rücktritt auf.1038 Am gleichen Tag informierte die CDU - Presse über einen Brief des Vorsitzenden der CDU - Volkskammerfraktion, Wolfgang Heyl, an Innenminister Dickel, in dem dieser die Zulassung des Neuen Forums auf der Grundlage der Verfassung forderte.1039 Damit entsprach er Forderungen, die es fast überall an der CDU - Basis gab. In einigen Kreisverbänden organisierten CDU - Kreisvorstände gemeinsame Beratungen mit dem Neuen Forum.1040 Fast überall wurden aber auch weitergehende Forderungen nach 1033 Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 2.12.1989. 1034 Stenographischer Bericht des Demokratischen Blocks vom 28.11.1989. Zit. bei Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 2, S. 285–287. 1035 Gerlach, Mitverantwortlich, S. 338. 1036 Vgl. ebd., S. 339. 1037 Vgl. Lothar de Maizière an Martin Ziegler vom 28.11.1989 ( BArch Berlin, A - 3 1, Bl. 21 f.). 1038 Vgl. MfS, ZAIG vom 2.11.1989 : Lage in den befreundeten Parteien ( BStU, ZA, ZAIG 3750, Bl. 14–21). 1039 Vgl. Die Union vom 1.11.1989. 1040 Vgl. SED - KL Schmölln vom 3.11.1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 94 f.).

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Veränderungen erhoben, teilweise von den Kreis - und Bezirksfunktionären unterstützt, teilweise nicht. Bei einer Mitgliederversammlung des CDU - Kreisvorstandes Plauen am 1. November wurde in Anwesenheit des CDU - Bezirksvorsitzenden Klaus Reichenbach gefragt, warum die CDU solange als „Steigbügelhalter der SED“ gedient habe. Die Antwort der Funktionäre war, die CDU werde sich „wandeln mit dem Ziel, auf der Basis der Beibehaltung des Sozialismus und der Führungsrolle der Arbeiterklasse eine freie unabhängige Partei zu werden“. Die bisherige Arbeit im Rahmen der Nationalen Front wurde allerdings in Frage gestellt.1041 Im Kreis Aue kritisierte die CDU - Bürgermeisterin der Gemeinde Lindenau, dass der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung die Diskussion mit Andersdenkenden meide. Die SED habe den Blick für die Realitäten verloren.1042 In Cämmerswalde ( Brand - Erbisdorf ) forderte der Vorsitzende der CDU- Ortsgruppe, in den Betrieben die SED - Parteisekretäre abzuschaffen,1043 im CDU - Kreisvorstand forderte man, die Führungsrolle der SED generell abzuschaffen und das Profil der CDU zu schärfen.1044 In der Gemeinde Lichtenberg ( Bischofswerda ) verlangte ein Sprecher der CDU - Ortsgruppe beim Bürgerforum die Auflösung des Blocks und der Nationalen Front, freie Wahlen und eine Erneuerung der CDU von unten.1045 Ähnlich Forderungen wurden in vielen Ortsverbänden erhoben. Unter dem Druck der Basis gab Heyl auf einer außerordentlichen Sitzung des Präsidiums des Hauptvorstandes am 2. November Göttings Rücktritt bekannt und schlug Lothar de Maizière als neuen CDU - Vorsitzenden vor.1046 Das Präsidium bestimmte ihn bis zur demokratischen Bestätigung auf einem Parteitag zum amtierenden CDU - Vorsitzenden. Unter seiner Leitung verdrängte die CDU die LDPD von ihrer bisherigen Rolle als Vorreiterin von Reformbestrebungen unter den Blockparteien. Bereits einen Tag nach Göttings Rücktritt verlangte die CDU - Fraktion eine sofortige Einberufung der Volkskammer. Sie forderte die Regierung auf, die Vertrauensfrage zu stellen, ein neues Wahlgesetz auszuarbeiten und die Kommunalwahlen zu wiederholen. Erklärtes Ziel der CDU war nun eine demokratische Reform des Sozialismus. De Maizière erklärte am 6. November im CDU - Zentralorgan „Neue Zeit“, die DDR brauche endlich „einen Sozialismus, der diesen Namen wirklich verdient“. Immer wieder setzte er sich für seine Vision eines gerechteren Sozialismus ein.1047 Auch die Bezirks - und Kreisverbände der CDU schlossen sich nach dem Führungswechsel dem neuen Kurs an, lehnten aber teilweise die sozialistischen Bekundungen der Parteiführung ab. In den Volksvertretungen profilierte sich die CDU mit Forderungen nach Fraktionsbildung, einem Ende der Blockpolitik 1041 1042 1043 1044 1045

KDfS Plauen vom 3.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 57–59). Vgl. KDfS Aue vom 1.11.1989 : Reaktionen ( ebd. 1805, Bl. 9–12). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 2.11.1989 : Stimmung ( ebd. 2145, 2, Bl. 168–172). Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 1.11.1989 : Stimmung ( ebd. 532, 1, Bl. 35–39). Vgl. SED - KL Bischofswerda vom 5.11.1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13553). 1046 Vgl. FAZ vom 15. 3.1991. 1047 Neue Zeit vom 18.11.1989.

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und der Unabhängigkeit der Parlamente. Einzelne Kreisfunktionäre verteidigten wie der Delitzscher CDU - Kreisvorsitzende Michael Czupalla weiterhin den Götting - Kurs einer Unterordnung der CDU. Am 6. November erklärte er, die Führungsrolle der SED erwachse aus der Größe der Arbeiterklasse.1048 Solche Auffassungen kontrastierten freilich mit mehrheitlichen Forderungen nach einer Demokratisierung. So erklärte der CDU - Kreisvorsitzende von Döbeln, Otto Beck, er erkenne die führende Rolle der SED nicht länger an.1049 Hier gab es bereits „erste Meinungen, dass die derzeitige Entwicklung zu einem vereinigten Deutschland führen könnte“.1050 Der Bezirksvorstand der Leipziger CDU beschloss am selben Tag, sich an der Montagsdemonstration mit einem eigenen Marschblock zu beteiligen und Losungen wie „Wir schließen uns dem Volk an“, „Kommt zu uns“ und „Wir beschreiten gemeinsam mit Euch den Weg“, mitzuführen.1051 Der CDU - Kreisvorstand Brand - Erbisdorf ließ in der „Freien Presse“ eine Erklärung gegen die führende Rolle der SED und für eine Änderung des Artikels 1 der Verfassung der DDR veröffentlichen.1052 Noch vor dem Fall der Mauer begann die CDU damit, in verschiedenen „Volksvertretungen“ eigene Fraktionen zu bilden. Den Startschuss gab am 7. November die CDU - Fraktion des Bezirkstages Leipzig.1053 Einen Tag später scheiterte ein Antrag auf Auf lösung des Kreistages Klingenthal. Die CDU schlug vor, Fraktionen zu bilden.1054 Am 9. November teilte der stellvertretende CDUBezirksvorsitzende von Dresden, Schramm, mit, die CDU werde künftig im Bezirkstag als Fraktion arbeiten.1055 Seit 1945 war es den Blockparteien in der SBZ / DDR untersagt gewesen, eigene Jugendorganisationen zu bilden. Auch hier gab es nun Veränderungen. Am 9. November wurde in Berlin die „Christlich- Demokratische Jugend“ ( CDJ ) gegründet. Am 2. Dezember trat die CDJ auch in Dresden an die Öffentlichkeit.1056 Wolfgang Thierse stellte am 10. November fest, bei der Ost - CDU sei eine Erneuerung von der Basis her festzustellen. Sie werde teilweise von kommunalpolitisch aktiven „Christen und Kirchenleuten“ getragen, die auch bislang auf kommunaler Ebene bereits „teilweise ganz vernünftige Dinge“ gemacht hätten. Alles was „drübergeht“, sei allerdings „unerträglich“.1057 1048 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 8.11.1989. Später versuchte er seine diversen Erklärungen abzuschwächen. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 11./12.11.1989. Die offenbar sozialistisch orientierte CDU - Basis des Kreises unterstützte seine Haltung. Er ist bis heute Landrat. 1049 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 9.11.1989. 1050 Plate, Döbelner Herbst ’89. 1051 BVfS Leipzig vom 2.11.1989 : Erscheinungen. In : Stasi intern, S. 269. 1052 Vgl. KDfS Brand - Erbisdorf vom 8.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1807, Bl. 15–18). 1053 Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 8.11.1989. 1054 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 11.11.1989. 1055 Schramm an Witteck vom 9.11.1989 ( SächsHStA, BT / RdB, 46070, Bl. 277). 1056 Neue Zeit vom 6.12.1989. 1057 Interview mit Wolfgang Thierse am 10.11.1989. In : Gorholt / Kunz ( Hg.), Deutsche Einheit, S. 333.

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Auf einer Tagung des Hauptvorstandes wurde Lothar de Maizière am 10. November zum Nachfolger Göttings gewählt.1058 Heyl wurde als Stellvertreter bestätigt. Lothar de Maizière sprach sich nach seiner Wahl für einen „erneuerten Sozialismus“ aus. Dieser müsse „breitester Pluralität“ Raum geben und mit Rechtsstaatlichkeit verbunden sein.1059 Er fühlte sich nach eigenem Bekunden mit der Wahl durch den Hauptvorstand nicht ausreichend legitimiert und machte sich „keine Illusionen über die Motive der Leute“, die ihn wählten : „Sie glaubten, ein neues Gesicht an der Spitze der Partei werde genügen, um die alten Kameraden in Ämtern und Würden zu halten.“1060 Daher berief er sofort den Hauptvorstand zur Klausursitzung in Burgscheidungen zusammen und forderte dort die Einberufung eines Sonderparteitages, der seine Wahl demokratisch untermauern sollte. Da der Hauptvorstand sich gegen die Einberufung eines Sonderparteitages aussprach, drohte de Maizière mit seinem Rücktritt. Erst daraufhin wurde der Sonderparteitag für den 15./16. Dezember einberufen.1061 Getragen wurde der Veränderungsprozess in der CDU - Führung auch weiterhin von der Basis. Am Tag der Wahl de Maizières forderte der CDU - Kreisvorstand Brand - Erbisdorf eine Änderung des Artikels 1 der Verfassung und eine Gleichberechtigung der Parteien.1062 Das CDU - Bezirkssekretariat Dresden beschloss am nächsten Tag auch für CDU - Kreisverbände die Unterstützung des Neuen Forums, z. B. durch Mitbenutzung von Räumlichkeiten.1063 Am 14. November trat die CDU in Coswig ( Meißen ) und im Kreis Karl - Marx - StadtLand aus der Nationalen Front aus.1064 In Altenburg organisierte die CDU am 14. November eine Demonstration gegen das MfS.1065 In Görlitz beendete die CDU am 15. November ihre Mitarbeit im Block.1066 Vor dem Kreistag Riesa sprach sich die CDU - Fraktion am 16. November für einen Wettbewerb aller Parteien um den Führungsanspruch aus und fordert dazu ein neues Wahlgesetz sowie die Änderung der Verfassung.1067 In Stollberg traten am selben Tag LDPD und CDU wegen des fortgesetzten SED - Führungsanspruchs aus dem Block aus.1068 Auch aus dem sonst eher linientreuen CDU - Bezirksvorstand Dresden erfuhr das MfS, dass die CDU aus der Nationalen Front austreten werde. Im Stadtbezirk Dresden - Ost plante die CDU, eine Fraktion zu bilden.1069 Nachdem 1058 VII. Hauptvorstandssitzung der CDU am 10.11.1989 ( ACDP,VII - 011, 3506). 1059 Erklärung vom 10.11.1989. In : Rein, Die protestantische Revolution, S. 287–290. 1060 Zit. bei Nina Grunenberg, Politik war eigentlich nicht vorgesehen. In : Die Zeit vom 19. 9.1991. 1061 Vgl. Leserbrief Lothar de Maizière. In : FAZ vom 13. 7.1991. 1062 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 10.11.1989. 1063 Vgl. Die Union vom 11.11.1989. 1064 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 16.11.1989; Die Union, Ausgabe Meißen, vom 14.11.1989. 1065 Vgl. BStU, ZA, HA XXII 531, Bl. 254. 1066 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 15.11.1989. 1067 Unser Ziel : Demokratie grundlegend neuer Art ( PB Andreas Näther Riesa ). 1068 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 18.11.1989. 1069 Vgl. BVfS, Abt. XX vom 18.11.1989 : Tagesinformation ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 110 f.).

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die SED vor dem Delitzscher Kreistag am 18. November selbst ihren Führungsanspruch aufgab, konnte dieser schlecht weiterhin von der CDU unterstützt werden. CDU - Kreisvorsitzender Michael Czupalla erklärte nun sybillinisch, jetzt gehe es „um Bündnispolitik und Opposition, aber nicht Opposition im bürgerlichen Sinn“.1070 In Pirna forderte die CDU unterdessen freie Wahlen und eine Veränderung der Verfassung.1071 In Dippoldiswalde machte sich die Kreissekretärin, Andrea Hubrig, zur Sprecherin einer radikalen Demokratisierung1072 und zeigte, dass das Spektrum in der CDU von fortgesetzter SED - Unterwürfigkeit bis zu freiheitlich - demokratischen Positionen reichte. Am 29. November bildete die CDU im Bezirkstag Karl - Marx - Stadt eine eigene Fraktion.1073 In ZwickauLand traten CDU und NDPD Ende November aus dem Block und der Nationalen Front aus.1074 Im Hauptvorstand führte die demokratisch - sozialistische Orientierung de Maizières inzwischen zu heftigen Debatten. Eine Mehrheit forderte auf einer Sitzung am 20.– 22. November, auf den Begriff „Sozialismus“ völlig zu verzichten.1075 In einem Bericht des AfNS über die Zusammenkunft hieß es, es gebe unter den Mitgliedern „äußerst widersprüchliche Auffassungen zur weiteren Perspektive und Zielen der CDU“. Dabei zeichnete sich eine Auseinandersetzung ab zwischen de Maizière, der an den Traditionen der Partei festhalte, und jenen Mitgliedern, die eine stärkere Machtbeteiligung in Staat und Regierung forderten.1076 Da sich de Maizière im Hauptvorstand mit seinen Vorstellungen durchsetzte, legte die CDU den Entwurf eines demokratisch - sozialistisch orientierten Programmpapiers vor, in dem ein Volksentscheid über eine neue Verfassung ohne Führungsanspruch einer Partei gefordert wurde. Darin bekannte sich die CDU zur Mitschuld an der SED - Diktatur und sprach sich für einen „Sozialismus nach christlichem Verständnis“ aus.1077 Damit erwies sich de Maizière als Sprecher der in der Tat mitverantwortlichen CDU - Führungsgruppe. Er lehnte einen radikalen Neuanfang in der CDU ab und knüpfte bewusst an die sozialistische Tradition der Blockpartei an. Seiner Linie eines demokratischen Sozialismus folgend kündigte er auf einer Sitzung am 28. November die Blockarbeit auf und schlug vor, die Arbeit auf gleichberechtigter Grundlage am Runden Tisch fortzusetzen.1078 LDPD : Manfred Gerlach forderte am 1. November eine „neue Politik“ mit „neuen Leuten“. An der nächsten Regierung müsse die LDPD stärker als bis1070 1071 1072 1073 1074 1075

Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 21.11.1989. Vgl. SED - KL Pirna vom 20.11.1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13554). Vgl. SED - KL Dippoldiswalde vom 26.11.1989 : Lage ( ebd., 13555). Vgl. Klaus Reichenbach an Lothar Fichtner vom 6.12.1989 ( SächsStAC, 127962). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 2.12.1989. VIII. Tagung des Hauptvorstandes der CDU vom 20.–22.11.1989 in Burgscheidungen ( ACDP, VII - 011–3506). 1076 Vgl. BAfNS Halle vom 24.11.1989. In : Keine Überraschung zulassen, S. 117–121. 1077 Neue Zeit vom 25.11.1989. 1078 Vgl. Stenografischer Bericht „Demokratischer Block“ vom 28.11.1989. Zit. bei Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 1, S. 71–100; 2, S. 285–287.

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her beteiligt sein.1079 Am nächsten Tag empfahl das Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD - Volkskammerfraktion die sofortige Einberufung einer Tagung der Volkskammer, um den Rücktritt der Regierung und die Wahl des LDPD - Vorsitzenden Manfred Gerlach zum Präsidenten der Volkskammer zu beantragen.1080 Dieser Vorschlag wurde von der Bevölkerung freilich unterschiedlich beurteilt. Ein Teil sprach Gerlach auf Grund seiner bisherigen Rolle im Regime den Willen ab, sich für tiefgreifende Veränderungen einzusetzen,1081 andere hielten ihn für geeignet, da er Autorität habe und Wirtschaftsexperte sei.1082 Die Haltung, zwar den Sozialismus beizubehalten, aber einen Wettbewerb zwischen verschiedenen sozialistischen Parteien zu gestatten, wurde in den Bezirksverbänden geteilt. Dabei ging man von der falschen und von der Basis kaum mitgetragenen Prämisse aus, die Meinung der Bevölkerung unterscheide sich lediglich hinsichtlich der Art des bevorzugten Sozialismus. Ein Blick auf die Demonstrationen hätte jeden Beobachter eines Besseren belehrt. Die Menschen hatten kein Bedürfnis an weiteren Politexperimenten gegen ihren Willen an sich und ihren Familien. Die Stimmung war eine ganz andere. Der Bezirksvorstand Potsdam meinte, die SED habe ihren Anspruch auf die Führungsrolle vollständig ver wirkt.1083 In Magdeburg bestätigte Peter Moreth die Orientierung seiner Partei auf den Erhalt der sozialistischen DDR. Dieser Konsens werde nur von „einigen Gruppen, die sich selber an den Rand des demokratischen Geschehens stellen“ verlassen. Allerdings müsse es mehr Eigenständigkeit der Parteien im Rahmen des Blocks geben.1084 An der Basis der LDPD war die Situation durch Meinungsunterschiede und die Suche nach neuen Wegen geprägt. Noch während des gesamten November schwankten die Meinungen hier zwischen demokratisch - sozialistischen und freiheitlich - demokratischen Positionen. In Pulsnitz und in Bischofswerda betonten Vertreter der LDPD bei einem Dialog, ihre Partei sei aus dem Schatten der SED herausgetreten und boten dem Neuen Forum eine Kooperation an.1085 In Reichenbach bot die LDPD Vertretern des Neuen Forums eine Mitgliedschaft an.1086 Im Kreis Kamenz übten Ortsgruppen der LDPD Kritik an der Bündnispolitik und der Bevormundung durch die SED. Diese müsse eine Opposition tolerieren, die nicht gegen den Sozialismus gerichtet sei.1087 In Auerbach meinte 1079 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 3.11.1989. 1080 Vgl. Der Morgen vom 3.11.1989; Gerlach, Mitverantwortlich, S. 310 f. 1081 Vgl. KDfS Hohenstein - Ernstthal vom 5.11.1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 2, Bl. 20 f.). 1082 Vgl. KDfS Löbau vom 8.11.1989 : Reaktion ( BStU, ASt. Dresden, LBV 10923, Bl. 1– 4). 1083 LDPD - Bezirksvorstand Potsdam vom 2.11.1989 : Informationsbericht von Oktober (Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 585). 1084 Protokoll der 15. Tagung des BT Magdeburg vom 2.11.1989 ( LHASA, 30232). 1085 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 3. und 4./5.11.1989. 1086 Vgl. MfS, Oberst Oettmeier, November1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2146, 2, Bl. 137). 1087 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 2.11.1989.

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der LDPD - Kreisvorsitzende, jede Partei solle eigenständig und mit einem eigenen Programm arbeiten. Die Regierung solle abgesetzt werden.1088 Im Karl Marx - Städter LDPD - Bezirksvorstand gab es am 5. November konträre Diskussion über die SED. Die Mehrheit meinte jedoch, dass auch künftig die „historische Funktion der Arbeiterklasse und ihre Partei existieren müssen“.1089 Bei einer Beratung des Kreisvorstandes Rochlitz der LDPD forderte Bezirksvorsitzender Dietmar Schicke freie Wahlen und ein Ende des Führungsanspruchs der SED, sofern sich dieser nicht aus Wahlen ergebe.1090 In Marienberg forderten LDPD - Abgeordnete mehr Entscheidungsfreiheit der örtlichen Organe.1091 In Plauen schätzte das MfS ein, dass die LDPD zur aktiven Mitarbeit an der Verbesserung des Sozialismus in der DDR bereit sei.1092 Beim Dialog in Borna sprach sich der LDPD - Vertreter gegen das Machtmonopol der SED und die Nationale Front sowie für Fraktionsbildung aus.1093 In Thalheim ( Stollberg ) forderte die LDPD bei einer öffentlichen Mitgliederversammlung ein Ende der führenden Rolle der SED, freie Wahlen und eine Gleichberechtigung der Parteien. Für den Fall, dass es keine Demokratisierung gebe, drohte man damit, alle Kreistagsabgeordneten abzuziehen.1094 In Löbau organisierten die LDPD - Ortsgruppe und das Neue Forum eine gemeinsame Veranstaltung.1095 In Oelsnitz protestierte der LDPD - Kreisvorstand gegen die Berichterstattung der „Freien Presse“ über die Kreistagsdebatte, forderte den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Neuwahlen.1096 Angesichts der Fülle der Vorschläge, die sich meist gegen die Unterstützung der führenden Rolle der SED durch Gerlach richteten und personalpolitische Veränderungen sowie ein schnelleres Reagieren auf die Entwicklung forderten, geriet die LDPD - Führung verstärkt unter den Druck der Parteibasis.1097 Dabei spiegelten sich Unsicherheiten über den künftigen Kurs auch in Stellungnahmen Gerlachs. Dieser erklärte am 6. November, er könne sich eine Diskussion darüber vorstellen, ob die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen werde.1098 Vor dem Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD wies er einen Tag später Forderungen aus seiner Partei zurück, einen Sonderparteitag einzuberufen und ein neues Wahlgesetz vorzulegen, um sich 1088 Vgl. KDfS Auerbach vom 3.11.1989 : Demonstration ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2145, 2, Bl. 37–41). 1089 BVfS Karl - Marx - Stadt, Abt. XX „Ingrid“ vom 5.11.1989 : Situation innerhalb der LDPD - Sitzung des Sekretariats des Bezirksvorstandes ( ebd., XX 852, Bl. 6). 1090 Vgl. KDfS Rochlitz vom 6.11.1989 : Info des IMS „Bruno Gerber“ über die Beratung des LDPD - Kreisvorstandes ( ebd., AKG 541, 2, Bl. 103 f.). 1091 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 7.11.1989. 1092 Vgl. KDfS Plauen vom 7.11.1989 : Stimmung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 539, Bl. 50– 56). 1093 Im Miteinander um die Zukunft Bornas gestritten ( HAIT, StKa ). Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 10.11.1989. 1094 Vgl. KDfS Stollberg vom 8.11.1989 : Sofortmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 30–32). 1095 Vgl. KDfS Löbau vom 9.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 250). 1096 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 9.11.1989. 1097 Vgl. MfS, HA III vom 9./10.11.1989 : Lage ( BStU, ZA, HA III 858, Bl. 78). 1098 Interview mit Manfred Gerlach. In : Der Spiegel vom 6.11.1989.

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von der SED und vom Sozialismus zu trennen und die führende Rolle der SED nicht mehr anzuerkennen.1099 Am 8. November forderte er im LDPD - Zentralorgan „Der Morgen“ einen Volksentscheid über ein neues Wahlgesetz und forderte eine Änderung des Artikels 1 der Verfassung, bei dem der Führungsanspruch der SED auch weiterhin gewährleistet bleibe. LDPD - Stellvertreter HansDieter Raspe sprach sich hingegen für eine Streichung des Führungsanspruchs der SED aus.1100 Gerlach erklärte am Tag nach der Maueröffnung, er halte eine Diskussion über die führende Rolle der SED für möglich, da die SED in der ganzen letzten Zeit „sprachlos und führungslos“ war und ihre führende Rolle nicht wahrgenommen habe.1101 Die Festlegung der DDR - Verfassung, wonach die SED die führende Rolle ausübe, sei überholt, da die SED kein Vertrauen in der Bevölkerung mehr besitze. Keinesfalls dürfe die DDR jedoch eine zweite Bundesrepublik werden. Die LDPD bleibe, was sie bislang war, eine „demokratische Partei im Sozialismus“.1102 Der Politische Ausschuss der LDPD beschloss am 14. November neue „Leitsätze liberal - demokratischer Politik heute“, in denen sich die Partei für einen demokratischen Sozialismus in Form einer „Mitbestimmungsdemokratie“ einsetzte. Ziel der LDPD sei es, dem Sozialismus eine „gesamteuropäische Perspektive“ zu eröffnen. Politische Führung durch Parteien könne nicht vererbt werden, sondern müsse Mehrheiten erobern und sich dem demokratischen Urteil unterwerfen.1103 Das lavierende Festhalten an sozialistischen Grundsätzen stieß in der zweiten Novemberhälfte in den Kreisverbänden auf wachsende Widerstände. In Zwönitz ( Aue ) erteilte ein LDPD - Vertreter bei einer Kundgebung der führenden Rolle der SED eine Absage und kündigte eine eigene liberale Politik an.1104 In Stollberg traten LDPD und CDU am 16. November wegen der andauernden SED - Führungsrolle aus dem Demokratischen Block aus.1105 In Niesky forderten Mitglieder „eine Trennung von aller Unter würfigkeit der Blockpolitik“ und klare Aussagen der LDPD zur Innen - , Außen - und Wirtschaftspolitik. Hier hieß es ohne Wenn und Aber, der derzeitige Sozialismus sei „nicht verbesserungsfähig“.1106 Auch in Delitzsch gab es Forderungen nach Fraktionsbildung und Austritt aus der Nationalen Front.1107 In Klingenthal beschloss der LDPD - Kreisvorstand am 20. November den Austritt aus dem Demokratischen Block und die Gründung einer eigenen Jugendorganisation.1108 Auch in Großenhain wurde eine Woche später die „Jungliberale Alternative“ gegründet. Motto der Veranstaltung war die Forderung „Sozial / 1099 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 318. 1100 Der Morgen vom 8.11.1989. 1101 Interview mit Manfred Gerlach. In : Der Spiegel vom 6.11.1989. Vgl. Der Morgen vom 10.11.1989. 1102 Der Tagesspiegel vom 10.11.1989. 1103 Der Morgen vom 16.11.1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 327 f. 1104 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II vom 31.10.1989 ( HAIT, StKa). 1105 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 18.11.1989. 1106 Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 17.11.1989. 1107 Vgl. Protokoll der 4. Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702). 1108 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 23.11.1989.

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ist / muss“.1109 In Dresden schlossen sich die Abgeordneten der LDPD in der Stadtverordnetenversammlung am 22. November zu einer Fraktion zusammen und wählten Ingolf Roßberg zum Vorsitzenden.1110 Am nächsten Tag kündigte auch der LDPD - Kreisvorstand Karl - Marx - Stadt die weitere Mitarbeit im Block auf und beantragte, einen Runden Tisch der Stadt einzuführen, an dem alle etablierten und neuen Parteien sowie die Bürgerbewegungen teilnehmen sollten. Der Block lehnte diesen Vorschlag ab.1111 Am 23. November wählte der Bezirksvorstand Leipzig Manfred Brendel als Bezirksvorsitzenden ab und schlug Wolfgang Görne als Nachfolger vor.1112 Bei einer Beratung des Zentralvorstandes der LDPD am 24. November gelang es Gerlach erneut, Forderungen zurückzuweisen, die sozialistische Orientierung der LDPD aufzugeben und sich von der SED zu distanzieren. Stattdessen beschloss der Vorstand, sich für einen demokratischen Sozialismus in Kooperation mit der SED einzusetzen und die deutsche Einheit abzulehnen.1113 Am selben Tag forderte der Bezirksvorstand Karl - Marx - Stadt die Abschaffung des Artikels 1 der Verfassung, einen Sonderparteitag zur Wahl eines neuen Vorstandes und Neuwahlen.1114 Der Bezirksvorstand der LDPD Dresden beschloss am 27. November, die Zusammenarbeit in der Nationalen Front in der bisherigen Form zu beenden. Der Ort für die weitere Zusammenarbeit sei der Runde Tisch.1115 Angesichts der Bildung der Regierung Modrow musste Gerlach am 26. November vor dem Zentralvorstand seine Meinung modifizieren. Er erklärte nun, die Formel „mit der SED befreundete Partei“ werde nicht mehr verwendet. Die LDPD sei ein Koalitionspartner aller an der Regierung beteiligten Parteien.1116 Am selben Tag traf der FDP - Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff mit Gerlach zusammen. Nach dem Gespräch ging Lambsdorff auf Distanz zur LDPD. Deren Festhalten an sozialistischen Vorstellungen sei der Zusammenarbeit mit einer wirklich liberalen Partei „nicht gerade förderlich“.1117 Durch alternative Kontakte zu Bürgergruppen versuchte die FDP - Führung den Vorstand der LDPD unter Druck zu setzen, sich zugunsten einer demokratischen Orientierung von sozialistischen Vorstellungen zu verabschieden. Zugleich nahm die FDP überall Kontakte zur LDPD - Basis auf, wo liberale Positionen weiter verbreitet waren und die LDPD bereits überall aus Block und Nationaler Front ausschied.1118 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118

Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 30.11.1989. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 22.11.1989. Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 109. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 24.11.1989. Der Morgen vom 27.11.1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 333–335. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 24.11.1989. Vgl. ebd. vom 28.11.1989. FAZ vom 28.11.1989. Süddeutsche Zeitung vom 28.11.1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 29.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau- Land, vom 2.12.1989.

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NDPD : Unter den Mitgliedern der NDPD wurde der Führungsanspruch der SED Anfang November meist abgelehnt und die Haltung der NDPD - Führung kritisiert. Diese, so hieß es, habe gegenüber der LDPD „an Boden verloren“. Innerhalb der Führung wurden personelle Konsequenzen gegen Funktionäre mit SED - freundlicher Haltung gefordert.1119 Bereits am 2. November trat der Parteivorsitzende, Heinrich Homann, zurück. Zum Nachfolger wurde der stellvertretende Vorsitzende der NDPD, Günter Hartmann, gewählt. Wie in den anderen Blockparteien gab es auch hier eine breiter werdende Kluft zwischen sozialistischer Parteiführung und an freiheitlicher Demokratie und deutscher Einheit ausgerichteter Basis. Weiterhin bekannte sich die Parteiführung „angesichts des Wiederauflebens des Neofaschismus in der BRD“ zur Bewahrung des Sozialismus in der DDR im Sinne eines „funktionstüchtigen sozialistischen Parteienpluralismus“1120 und „die untrennbare Verbindung mit seiner Hauptkraft, der Arbeiterklasse und ihrer Partei“.1121 In den Kreisverbänden orientierte man indessen stärker auf eine Zusammenarbeit mit dem Neuen Forum und machte sich Gedanken darüber, trotz der Sprachlosigkeit der Parteiführung im Demokratisierungsprozess nicht unterzugehen.1122 In Zittau sprach sich der Kreisvorstand für „Gleichheit aller im Wettstreit für die Interessen der deutschen Nation“ und die Aufhebung der Militärblöcke aus. Er forderte freie Wahlen für sozialistische Parteien, einen Volksentscheid über eine neue Verfassung, die Bildung der Länder und die Schaffung einer Leistungsgesellschaft durch eine „Wirtschaftsreform nach den Vorstellungen von Prof. Dr. Manfred von Ardenne“.1123 Als erste Partei schlug die NDPD am 17. November in der Volkskammer eine deutsche Konföderation auf der Grundlage des Erhalts einer sozialistischen DDR vor.1124 Eine „Angliederung der DDR an die BRD“ lehnte sie freilich ab. Es gehe nicht um Wiedervereinigung mit dem „imperialistischen Deutschland“, sondern darum, die Beziehungen beider Staaten auf eine höhere Stufe zu stellen.1125 Nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Modrow plädierte die NDPD - Führung für eine gleichberechtigte Mitarbeit aller Demokraten, „die für eine Erneuerung des Sozialismus sind“1126 und schloss damit alle nichtsozialistischen Kräfte von der Mitarbeit aus. Diese Linie bekräftigte Hartmann Ende November erneut und erteilte neben freiheitlich - demokratischen Tendenzen auch allen Kontaktversuchen der Republikaner und der NPD klare Absagen.1127 Die pro - sozialistische Linie, verbunden mit der Forderung nach Eigen1119 NDPD - Bezirksvorstand Potsdam vom 1.11.1989 : Info 22 ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 587). 1120 National - Zeitung vom 11./12.11.1989. 1121 Ebd. vom 4./5.11.1989. 1122 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 18). 1123 Zittauer Programm der NDPD vom 13.11.1989. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 6.12.1989. 1124 Vgl. Lapp, Ehemalige DDR - Blockparteien, S. 66. 1125 National - Zeitung vom 28.11.1989. 1126 Ebd. vom 21.11.1989. 1127 Ebd. vom 30.11.1989.

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ständigkeit der NDPD in einem ausschließlich aus sozialistischen Parteien bestehenden Parteiensystem wurde auch in einigen Kreisverbänden vertreten.1128 Daneben dominierten aber immer stärker Forderungen nach der Aufgabe des SED - Führungsanspruchs, einer uneingeschränkten Selbstständigkeit der Parteien und einer Demokratie ohne Bindung an sozialistische Bekenntnisse.1129 Wie auf allen parlamentarischen Ebenen beschlossen die Vertreter der NDPD auch in den Kreistagen die Bildung eigener Fraktionen1130 und stellten die Mitarbeit im Block und in der Nationale Front zugunsten Runder Tische ein.1131 DBD : Das Präsidium der DBD übernahm Anfang November Verantwortung dafür, „dass es in der DDR zu den angestauten Problemen, Widersprüchen und Konflikten kommen konnte“. Ungeachtet dessen bekannte sich die Führung jedoch weiterhin zum Sozialismus, zur Blockpolitik und zur Führung der SED.1132 Am 14. November bestätigte der DBD - Vorstand in geheimer Wahl das Präsidium der Partei. Vor der Volkskammer erklärte Fraktionsvorsitzender Michael Koplanski, seine Partei trete für eine Erneuerung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage ein. Für „sozialismusfeindliche oder an seinen Grundfesten rüttelnde Lösungen“ sei in der DBD kein Platz.1133 Wie die NDPD erteilte die DBD damit einer weitergehenden Demokratisierung eine Absage. Der Parteivorstand bestätigte diesen Kurs und stellte im Rahmen des angestrebten Pluralismus sozialistischer Parteien den SED - Führungsanspruch in Frage, ein Kurs, der auch von den meisten Kreisverbänden mitgetragen wurde.1134

1128 Vgl. Protokoll der 4. Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702). Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 16.11.1989. 1129 Vgl. SED - KL Niesky vom 26.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); SED - KL Pirna vom 20.11.1989 : Lage ( ebd., 13554). Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 15.11.1989; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 9.11.1989. 1130 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 2.12.1989. 1131 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 22.11.1989. 1132 Bauern - Echo vom 4./5.11.1989. 1133 Ebd. vom 15.11.1989. 1134 Vgl. Protokoll der 4. Tagung des KT Delitzsch vom 18.11.1989 ( KA Delitzsch, 1702); KDfS Oelsnitz vom 6.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 160– 162); Bauern - Echo vom 16.11.1989; Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 118; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 16.11.1989.

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1.11 Entwicklung in der SED (26.11.–3.12.) Stimmung an SED - Basis Ende November Auch nach der Amtsübernahme Modrows als Ministerpräsident setzte sich der Zerfall der SED durch Funktionsniederlegungen und Austritte fort. Angeheizt wurde die Stimmung durch tägliche Veröffentlichungen über Korruptionsskandale ehemaliger Partei - und Staatsfunktionäre.1135 Immer mehr Menschen forderten die Auf lösung der SED.1136 Vorschläge von ihrer Seite wurden „mit höchstem Misstrauen“ entgegengenommen bzw. nicht mehr akzeptiert. Kreisleitungen berichteten von „Hass gegenüber Genossen“, wobei kaum zwischen „einfachen Genossen“ und der Führung unterschieden wurde.1137 Auch einfache Mitglieder waren Anfeindungen ausgesetzt. Wer sich noch durch sein SED- Abzeichen in der Öffentlichkeit zu erkennen gab, musste damit rechnen, als „Kommunistenschwein“ oder „rote Sau“ bezeichnet zu werden. Nach wie vor entlud sich der Zorn der Bevölkerung auch gegenüber Volkspolizisten. Vereinzelt wurde Volkspolizei - Angehörigen an Tankstellen sogar der Verkauf von Benzin ver weigert.1138 Betriebe sträubten sich, ehemalige Funktionäre in die Produktion zu übernehmen.1139 Entsprechend war die Stimmung vieler Mitglieder „von bitterer Enttäuschung, Abscheu und Verunsicherung geprägt“.1140 Wegen der Forderungen nach Wiedervereinigung nahm die „Sorge um das Fortbestehen des Sozialismus in der DDR“ zu.1141 Es zeigten sich zwei Grundtendenzen. Ein Teil der Mitglieder zog sich in die Anonymität bzw. „Illegalität“ zurück oder trat aus. Ein anderer stand trotz der bevorstehenden Änderungen „fest zur SED“,1142 versuchte in die Offensive zu kommen und positionierte sich „parteimäßig“.1143 Vereinzelt begann man, „Kader für die Zukunft in den einzelnen, besonders strategisch wichtigen Bereichen zu stationieren“ und forderte eine erneuerte Partei im „Thälmannschen Sinne“.1144 In dieser Atmosphäre bereiteten die Kreisverbände Ende November überall Kreisdelegiertenkonferenzen vor, um Delegierten für den Sonderparteitag zu wählen. Auf Mitgliederversammlungen, Kreisleitungssitzungen und Delegiertenkonferenzen wurde erbittert über den künftigen Kurs diskutiert. Zur Orientierung dienten das Aktionsprogramm von Krenz und die Regierungserklärung 1135 Vgl. SED - KL Freital vom 30.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 1136 Vgl. SED - BL Potsdam vom 30.11.1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 432/433). 1137 SED - KL Großenhain : Lage, o. D. ( SächsHstA, SED - BL Dresden, 13554). 1138 Vgl. SED - KL Löbau vom 27.11.1989 ( ebd., 13555); Interview mit Lothar Ahrendt. In: Neues Deutschland vom 28.11.1989. 1139 Vgl. SED - KL Freital vom 30.11.1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 1140 SED - KL Großenhain : Lage, o. D. ( ebd., 13554). 1141 SED - KL Zittau vom 26.11.1989 : Lage ( ebd., 13555). 1142 SED - KL Löbau vom 27.11.1989 : Lage ( ebd.). 1143 SED - KL Pirna vom 26.11.1989 : Lage ( ebd.). 1144 SED - KL Großenhain : Lage, o. D. ( ebd., 13554).

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Modrows. In vielen Grundorganisationen gab es nicht mehr genügend Mitglieder, die bereit waren, sich delegieren zu lassen. Generell gab es eine Tendenz der Abrechung mit der SED - Führung und Proteste dagegen, deren Haltung mit der an der Basis gleichzustellen.1145 Die Absicht, den Sozialismus in der DDR auf eine „Drei - Mann - Diktatur“1146 zu reduzieren, bedeutete den Versuch, von den tatsächlichen Strukturen der SED - Diktatur abzulenken, die das ganze Land durchdrungen hatten. Streichung SED - Führungsrolle aus der Verfassung (1.12.), Rücktritt von Politbüro und Zentralkomitee sowie Bildung eines Arbeitsausschusses (3.12.) Seit dem 1. Dezember war der mit „führender Rolle der SED“ umschriebene diktatorische Charakter des Regimes kein Verfassungsgrundsatz mehr. Die Volkskammer beschloss an diesem Tag auf Antrag aller Fraktionen bei fünf Enthaltungen die Streichung des entsprechenden Passus aus dem Artikel 1 der Verfassung.1147 Gleichzeitig sprachen sich alle Fraktionen für einen erneuerten Sozialismus aus. Damit blieb die Verfassung weit von freiheitlich - demokratischen Positionen entfernt. Die Streichung änderte zudem kaum etwas an der fortdauernden Vorherrschaft der SED in Wirtschaft und Gesellschaft. Am selben Tag schieden auch Altkader wie Ernst Goldenbaum ( DBD ), Gerald Götting (CDU ), Heinrich Homann ( NDPD ), Werner Lorenz ( Kulturbund ), Frank Straube ( FDJ ) und Uwe Lorenz ( FDJ ) aus der Volkskammer aus. Ebenfalls am 1. Dezember trat in Berlin eine „Plattform WF“ der BPO des VEB Werk für Fernsehelektronik mit einer Gründungserklärung an die Öffentlichkeit. Hier hieß es, die SED sei in ihrer gegenwärtigen Fassung zu einer „Gefahr für unser sozialistisches Vaterland“ geworden. Der „massive Volksbetrug“ sei weiterhin die „bevorzugte politische Methode“ der SED. Die Plattform entzog der Parteiführung und dem politischen Apparat der SED ihr Vertrauen und rief zur Ver wirklichung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ auf.1148 Nach Verbreitung über die Medien schlossen sich zahlreiche Parteigruppen der SED an und übernahmen die Forderungen.1149 Nachdem das Politbüro informiert wurde, dass die „Plattform WF“ zu einem Treffen aller Parteitagsdelegierten in die Humboldt - Universität eingeladen hatte, um die Vorbereitung des Parteitages im Sinne einer „totalen Erneuerung der Partei bzw. Neugründung“ zu organisieren, rief Krenz alle 1. Sekretäre der Bezirks - und

1145 1146 1147 1148 1149

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 1.12.1989. So ablehnend Weber, Aufbau und Fall, S. 185. GBl. DDR I, 25 vom 22.12.1989, S. 271. Vgl. Herles / Rose, Parlaments - Szenen, S. 12. Gründungserklärung „Plattform WF“. In : DA, 23 (1990), S. 1760. Vgl. Falkner, Die letzten Tage der SED, S. 1761.

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Kreisleitungen auf, die Einheit der Partei um jeden Preis zu wahren.1150 Im Gegenzug fand am 2. Dezember vor dem Gebäude des ZK eine Kundgebung der SED - Basis statt, auf der Gysi den Rücktritt des gesamten ZK und des Politbüros forderte.1151 In dieser Situation traten auch in Sachsen die Kreisdelegiertenkonferenzen zusammen, auf denen sich der Zorn über die SED - Führung Luft machte. Hier wurden die Delegierten für den außerordentlichen Parteitag gewählt und Kreisfunktionäre bestätigt oder abgesetzt. Teilnehmer forderten die Bestrafung führender Funktionäre wegen Machtmissbrauch, Korruption und persönlichen Verfehlungen, eine neue Führung und traten für den Erhalt der DDR ein. Ebenso wurde aber auch die Erhaltung der Einheit der SED auf marxistisch - leninistischer Grundlage gefordert. Viele Delegierte sprachen sich gegen eine Spaltung, Auf lösung oder Neugründung der SED aus. Auch wurde die Forderung zurückgewiesen, die SED - Organisation aus den Betrieben und sonstigen Einrichtungen zu entfernen. Gefordert wurde jedoch eine gänzlich neue Parteiführung, die auf dem Parteitag gewählt werden sollte. Flankiert wurden die Konferenzen teilweise von Meetings, auf denen sich die Basis zu Wort meldete.1152 Als sich die Parteiführung unter Krenz am 3. Dezember zur 12. Tagung des ZK der SED traf, versammelten sich vor dem ZK - Gebäude zahlreiche Mitglieder, die den Rücktritt der SED - Führung verlangten und sogar in Erwägung zogen, für den Fall des Festhaltens an der Macht das Gebäude zu stürmen und zu besetzen.1153 Diese Angst vor dem Sturm auf das ZK - Gebäude prägte die Reaktionen.1154 Bernhardt Quandt, Alt - Kommunist des Jahrgangs 1903, forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe und schlug vor, „dass wir alle standrechtlich erschießen, die unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben, dass die ganze Welt vor einem großen Skandal steht, den sie noch niemals gesehen hat“.1155 Unter dem Druck der Ereignisse blieb dem Politbüro und dem ZK der SED keine Wahl, als seinen Rücktritt zu erklären. Zunächst sollte nur das Politbüro zurücktreten. Nachdem die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen drohten, ihre Funktionen geschlossen niederzulegen, trat das gesamte ZK der SED zurück.1156 Als letzte Maßnahme beschloss es, führende Partei - und Staatsfunktionäre aus dem ZK und aus der SED auszuschließen. Dazu gehörten u. a. Erich Honecker, Willi Stoph, Horst Sindermann, Erich Mielke, Werner Krolikowski, Günther Kleiber und Harry Tisch. Im Rücktrittsbeschluss wurde die Unfähigkeit der Parteiführung eingeräumt, „das ganze Ausmaß und die Schwere der 1150 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 1.12.1989, Anlage 1 : Fernschreiben an die 1. Sekretäre der BL und KL der SED ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2366). 1151 Vgl. Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 74 f. 1152 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 2./3.12.1989. 1153 Vgl. Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 70 f. 1154 Vgl. Bollinger, Als die Verhältnisse, S. 31. 1155 Bernhard Quandt auf der 12. Tagung des ZK der SED vom 3.12.1989. In : Hertle / Stephan, Das Ende der SED, S. 469. 1156 Vgl. Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 75.

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Verfehlungen von ehemaligen Mitgliedern des Politbüros aufzudecken und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen“.1157 Nach dem Rücktritt des ZK schlug Wötzel im Namen der 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen die Bildung eines Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des Parteitages vor, „bestehend aus Genossen, die konsequent für eine neue SED sind“.1158 Er wurde noch am 3. Dezember gebildet. Ihm gehörten u. a. Gregor Gysi, Wolfgang Berghofer, Markus Wolf und als Vorsitzender Herbert Kroker an.1159 Hier wurde beraten, wer neuer Vorsitzender der SED werden sollte. Gysi schlug Berghofer vor, der aber ablehnte. Schließlich erklärte Gysi sich bereit, das Amt zu übernehmen,1160 allerdings müssten vom Parteitag wirklich neue Signale ausgehen : „Wir müssen uns endlich an die Spitze der Bewegung setzen.“1161 Modrow erklärte, er werde es als Ministerpräsident nicht dulden, dass eine neue SED - Parteiführung in seine Arbeit hineinregiere.1162 Im „Neuen Deutschland“, das ab dem 4. Dezember nicht mehr als „Organ des Zentralkomitees der SED“, sondern als „Zentralorgan der SED“ erschien, erfolgte am nächsten Tag die Abrechnung mit der Führungsmannschaft um Krenz. Statt der Revolution Impulse und Orientierung zu geben, habe sie der Entwicklung hinterher gehechelt und meist nur noch nachvollzogen, was das Volk schon entschieden hatte. Diese „Salami - Taktik“ habe den Eindruck verstärkt, dass nur „vertuscht, vernebelt, bemäntelt werden sollte“.1163 Noch konnte niemand wissen, dass auch die neue Führung bis Ende Januar keinen wesentlich anderen Kurs fahren würde. 1.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Nach der Wahl eines neuen Ministerrates am 17. November verkündete Modrow als politisches Ziel seiner Regierung die demokratisch - sozialistische Erneuerung einer weiterhin eigenständigen DDR. Für Befürworter der Zweistaatlichkeit und sozialistischer Auffassungen sollten politische Grundrechte gewährleistet werden, und es sollte für sie Rechtssicherheit geben. Die Planwirtschaft sollte beibehalten, aber flexibler gehandhabt werden. Eine Wiedervereinigung lehnte er kategorisch ab, trat allerdings für engere Kontakte zur Bundesrepublik ein, um so der DDR - Wirtschaft überlebensnotwendige Vorteile zu verschaffen. Er instruierte das neugeschaffene AfNS, nur noch gegen Gegner des Sozialismus und der Zweistaatlichkeit vorzugehen.

1157 Protokoll der Sitzung des Politbüro des ZK der SED vom 3.12.1989, Anlage 2 : Beschluss des Politbüros des ZK der SED ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2367). 1158 Unkorrigiertes Protokoll der 12. ( außerordentlichen ) Tagung des ZK der SED vom 3.12.1989 ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/1/716). 1159 Vgl. Gysi / Falkner, Sturm aufs Große Haus, S. 73; Moreau, PDS, S. 17 f. 1160 Interview mit Gregor Gysi. In : Der Stern vom 14.12.1989. 1161 So Gysi am 3.12.1989. In : Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 38 f. 1162 Aussage Wolfgang Berghofers. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 407. 1163 Neues Deutschland vom 4.12.1989.

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Im neuen Ministerrat blieben fast alle Ministerien in SED - Hand. Die Vorsitzenden der Blockparteien akzeptierten die Beibehaltung der führenden Rolle der SED, forderten allerdings größere Schritte in Richtung einer Demokratisierung des Sozialismus und mehr Mitsprache. Modrow drängte jedoch auch bei den nun folgenden Koalitionsverhandlungen auf eine Beibehaltung der führenden Rolle der SED, was die Blockparteien schließlich unter der Bedingung akzeptierten, dass es sich um eine Übergangsregierung bis zu freien Wahlen handele. Die Entwicklung der nächsten zwei Monate sollte jedoch zeigen, dass Modrow die Bereitschaft zu nutzen versuchte, auch mittels des umstrukturierten MfS, eine dauerhafte Dominanz der SED als primus inter pares zu sichern. Sein Modell einer breiteren Zusammenarbeit auf Grundlage der Anerkennung sozialistischer Verfassungsstaatlichkeit wurde nun zur Geschäftsgrundlage für Kooperationen auch auf regionaler und kommunaler Ebene. Es stellte einen weiteren vergeblichen Versuch dar, der SED ein Maximum an politischer Macht unter sich wandelnden politischen Verhältnissen zu sichern. Kern des Konzeptes war es, die per Verfassung festgelegte Führungsrolle der SED durch einen verfassungsmäßig festgelegten sozialistischen Staat zu ersetzen, in dem der SED zwangsläufig eine zentrale Rolle zufallen würde, sie sich aber mit konkurrierenden sozialistischen Parteien würde auseinandersetzen müssen. Eine Abkehr von den ideologischen Grundlagen der SED bedeutete dies nicht, sondern lediglich eine Änderung von Taktik und Strategie unter veränderten „Klassenkampfbedingungen“. Die Umorientierung weg von der Führungspartei hin zum sozialistischen Staat betraf neben dem MfS / AfNS auch Volkspolizei und Armee, bei denen entsprechende Reformen in Gang gesetzt wurden. Hier wie beim MfS / AfNS war die Aussicht auf eine neue sozialistische Staatlichkeit ein wesentlicher Grund, sich der Entwicklung nicht in den Weg zu stellen. Auch für Befürworter eines reformsozialistischen Kurses in den Bürgerbewegungen erfüllte Modrow damit die Voraussetzungen für künftige kooperative Formen des Umgangs miteinander. Hier war die Auffassung verbreitet, eine Reform der Gesellschaft sei ohne die SED - Genossen mit ihrem Herrschaftswissen unmöglich. Dadurch wurden Kooperationsformen möglich, die sich in Gremien niederschlugen, aus denen um den 20. November bereits erste Runde Tische her vorgingen. Allerdings gab es in den Bürgerbewegungen Sachsens einen wesentlich größeren Teil an Aktiven, die ein freiheitlich - demokratisches System anstrebten. Für viele von ihnen war die staatliche Einheit eine erstrebenswerte Option. Dank Modrows Politik zog sich nun durch die Bürgerbewegungen eine neue Trennlinie zwischen Gegnern und Befürwortern einer neuen sozialistischen Ordnung in einer souveränen DDR. Die daraus resultierenden Polarisationsprozesse, die schon das künftige Parteiensystem andeuteten, ließen denn auch nicht lange auf sich warten und führten zu Zerfallsprozessen der ungefestigten Bürgerbewegungen. Aber auch die Blockparteien waren nun gezwungen, ihre programmatischen Vorstellungen deutlicher zu formulieren. Wollten sie künftig Verfassungsfeinde im Sinne Modrows sein und sich zu freiheitlich - demokratischen Parteien wandeln oder

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Diagramm 15: Teilnehmer an Demonstrationen in den sächsischen Bezirken nach Tagen Oktober 1989 bis Februar 1990.

von Lehrlingen zu Gesellen des kommunistischen Meisters in einem neuen demokratischen Sozialismus aufsteigen ? Eine deutliche Haltung gegen die SED und für freiheitlich - demokratische Verhältnisse nahm die SDP ein, die allerdings in der Frage der deutschen Einheit gespalten war. Weitgehend unbeeindruckt von den Zielen und Vorstellungen der Parteien und neuen Gruppierungen gingen auch nach der Wahl Modrows die Bevölkerungsproteste weiter. Nachdem Ende Oktober und Anfang November die größte Zahl an Demonstrationen stattgefunden hatte, gab es nun, insbesondere in Leipzig, die mächtigsten Montagsdemonstrationen. Hier setzte sich angesichts des Taktierens der SED schnell die Überzeugung durch, dass die eigenen Ziele einer freiheitlich - demokratischen Ordnung in einem sozial - marktwirtschaftlichen System nach dem Vorbild der Bundesrepublik sich am besten erreichen und absichern ließen, indem man einfach ein Teil der Bundesrepublik werden würde. Das Angebot stand ja im Raum und hatte schon Tausende zur Flucht in den Westen veranlasst. Gemessen an Modrows Vorgaben verhielt sich ein wachsender Teil der Bevölkerung verfassungsfeindlich. An neuen sozialistischen Experimenten mit einer nur modifizierten Staatssicherheit hatte man keinen Bedarf. Entsprechend deutlich fielen Ende November die Proteste gegen die SED und das MfS / AfNS aus, das sicherheitshalber möglichst viele belastende Unterlagen aus der Zeit vernichtete, als der Ministerpräsident noch führender Vertreter des Honecker - Regimes gewesen war und in Dresden Anfang Oktober den Einsatz der Armee gegen die Bevölkerung angeordnet hatte. Bekannt gewordene Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch führender Funktionäre lösten eine neue Protestwelle aus, in deren Folge sich auch in den Kreisen Untersuchungsausschüsse bildeten. Zwar trugen die auch hier zahlreich aufgedeckten Fälle, die das offiziell vermittelte Bild sozialer Gleichheit ad absur-

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dum führten, zu weiteren Protesten bei, andererseits verstärkte sich dadurch der von Reformkommunisten vermittelte Eindruck, das System habe nicht an immanenten Problemen gekrankt, sondern sei von einzelnen Personen missbraucht worden. Mit diesen gelte es nun abzurechnen, dann könne man an die Gestaltung eines wirklichen Sozialismus gehen. Diese Sichtweise wurde nun an der Basis der SED gern aufgegriffen. Hier versuchte man sich der Mitverantwortung für das diktatorische System und an der Benachteiligung „Andersdenkender“ dadurch zu entledigen, indem man alle Verantwortung auf eine korrupte und unfähige Führung schob. Viele SED - Mitglieder gerierten sich nun als Opfer einer verfehlten Entwicklung und reihten sich in die Bemühungen derer ein, die den nächsten Sozialismus - Versuch am Volk starten wollten. Von den Kreisverbänden aufwärts gab es Bestrebungen einer programmatischen und organisatorischen Neuorientierung, die sich mehrheitlich an Modrows Positionen einer sozialistischen Staatlichkeit „in den Farben der DDR“ festmachten. Weiterhin setzten sich dagegen die Mitläufer scharenweise von der SED ab, ohne deswegen freilich ihre in der Partei gewachsene Gesinnung ganz aufzugeben. Immer mehr staatliche Funktionäre verließen die Partei in der Hoffnung, dadurch ihre Ämter retten zu können und sich für neue Funktionen im kommenden System zu empfehlen. Während Ministerpräsident Modrow und die SED nun auf eine neue sozialistische Staatlichkeit setzten, in der nur Feinde des Sozialismus und der DDR Staatlichkeit mit Repressionen rechnen mussten, erwiesen sich immer größere Teile der demonstrierenden Bevölkerung als genau diese Gegner. Damit entwickelte sich ein Grundwiderspruch auch zwischen der neuen, ja ebenfalls nicht durch Wahlen legitimierten Regierung Modrow, und einem großen Teil der Bevölkerung, der das neue Experiment Modrows von vornherein ad absurdum führte. Die Situation zeigte auch, dass Modrow keinesfalls der Pragmatiker war, als der er vielerorts galt. Vielmehr folgte er wie seine Vorgänger im Amt ideologischen Prämissen. Weiterhin unklar war die Haltung einer schweigenden Mehrheit der Bevölkerung. Hier liefen Differenzierungs - und Neuorientierungsprozesse ab. Die Menschen orientierten sich immer weniger an ideologischen Eingebungen, sondern an eigenen Interessen und vermeintlich geeigneten Durchsetzungsstrategien. Hier setzte sich, auch angesichts der nun möglichen eigenen Wahrnehmung der Bundesrepublik, immer mehr die Überzeugung durch, es sei der beste Weg, allen sozialistischen Experimenten durch die deutsche Einheit ein unumkehrbares Ende zu machen. Vom wachsenden Widerspruch zwischen Bevölkerung und neuer Führung waren auch Intellektuelle und Vertreter neuer Gruppen betroffen, die wie Modrow ebenfalls einen neuen, demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR erträumten. Hier gab es starke antikapitalistische Ressentiments, welche die Notwendigkeit eines dritten Weges notwendig erscheinen ließen. Auch diese marxistisch geprägte Personengruppe orientierte sich mehr an Ideen als an handfesten Interessen im Gegensatz zur die Bevölkerung. Breite Unter-

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stützung fanden sie durch bundesdeutsche Linke, die ebenfalls den Traum einer sozialistischen deutschen Alternative zur ungeliebten „BRD“ träumten. Deutlichster Ausdruck dieser pro - sozialistischen Gesinnung war der Ende November veröffentlichte Aufruf „Für unser Land“, in dem für das Projekt eines neuen Sozialismus in einer eigenständigen DDR geworben wurde. Ihm schlossen sich nun nicht nur marxistisch geprägte Intellektuelle und Bürgerrechtler an, sondern vor allem die SED. Nichts machte die ideologische Nähe beider Gruppen deutlicher als die gemeinsame Unterstützung des Aufrufs, die meist mit teils wüsten Beschimpfungen der Bevölkerung einherging. Grund dafür gab es freilich, wuchs doch die Zahl der Befürworter einer möglichst schnellen deutschen Einheit, die nun die national - demokratische, von linken Intellektuellen verschmähte und diffamierte Phase der friedlichen Revolution einleiteten. Hatte es phasenweise so ausgesehen, als gebe es eine ausreichende Menge an Gemeinsamkeiten zwischen Intellektuellen und Bevölkerung, so erwies sich dies nun als Illusion. Die wachsende Zahl der Forderungen der demonstrierenden Bevölkerung nach deutscher Einheit wurde im Ausland sensibel registriert. Im Westen sahen sich westeuropäische NATO - Partner der Bundesrepublik unter Druck gesetzt. Jahrzehnte hatten sie Lippenbekenntnisse für die deutsche Einheit abgegeben, jetzt aber kam ihnen die Entwicklung ungelegen. In dieser Phase war es die USRegierung, die sich deutlich für eine Vereinigung unter der strikten Voraussetzung der Westbindung des vereinten Deutschland aussprach und in dieser Richtung Druck insbesondere auf Großbritannien ausübte. Deutlicher war die Zustimmung in Ländern wie Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, wo man die Westbindung eines vereinten Deutschlands wünschte, das die Endgültigkeit seiner Ostgrenzen anerkennt. Die Sowjetunion unterstützte weiterhin die Positionen der SED und setzte auf sozialistische Reformen in einer eigenständigen DDR. Allerdings war die sowjetische Haltung von Ambivalenzen geprägt, die mit inneren Machtkämpfen in Moskau zu tun hatten. In einer für die weitere Entwicklung entscheidenden Situation betrat nun Bundeskanzler Kohl aktiv die politische Bühne. Er offerierte ohne Absprache mit Verbündeten und eigenen Koalitionspartnern einen „Zehn - Punkte - Plan“, der eine deutsche Konföderation vorschlug und damit Perspektiven für einen langfristigen Weg zur staatlichen Einhit aufzeigte. Damit wurde Kohl samt seiner Bundesregierung quasi über Nacht zu einem der maßgeblichen Akteure des weiteren Geschehens. Von nun an war die Bevölkerung mit zwei Hauptalternativen der weiteren Entwicklung konfrontiert. SED, linke Intellektuelle und wichtige ( vor allem Berliner ) Wortführer der Bürgerbewegungen plädierten für eine erneuerte DDR, die Bundesregierung bot ihnen einen gemeinsamen Weg zur Über windung der Teilung Deutschlands an. Von nun an dominierten auf allen Kundgebungen schwarz - rot - goldene Fahnen, und es schien, als sei ein Ende des sozialistischen Regimes absehbar. Ende November zerfiel die DDR - Staatlichkeit immer rasanter. Von Modrow avisierte Ver waltungsreformen entfalteten zunächst kaum Wirkungen. Durch

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Richtungskämpfe

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simulierte Wahlen samt Wahlfälschungen in ihre Funktionen gelangte Abgeordnete und Ratsmitglieder traten unter dem Druck der Demonstrationen in wachsender Zahl zurück. In den Volksvertretungen bildeten sich Fraktionen. Der inzwischen durch nichts als ihre eigene Ideologie begründete Führungsanspruch der Kommunisten wurde auch durch Vertreter der Blockparteien immer häufiger zurückgewiesen. Sie forderten eine größere Rolle im künftigen Sozialismus oder schwenkten bereits auf freiheitlich - demokratische Positionen. Viele Vertreter der Blockparteien stützten freilich weiterhin die SED- Führungsrolle. Parallel zur Krise der Staatlichkeit hatten sich bereits während des November Formen der Kooperation und der Sicherheitspartnerschaft zwischen Vertretern des Partei - und Staatsapparates einerseits und der Demonstranten, neuen Gruppierungen und Kirchen andererseits gebildet. Modrow forderte nun als neuer Ministerpräsident die regionalen und kommunalen Staatsorgane auf, Vertreter der neuen Gruppierungen und der Bevölkerung noch stärker in die Arbeit der Volksvertretungen einzubeziehen und Formen der Kooperation zu unterstützen. Sein Ziel war es, zusätzliche Konfrontationen in diesem Bereich zu vermeiden und Schritte zur Realisierung seines Modells einer sozialistischen Verfassungsstaatlichkeit zu gehen. Entsprechend wurde die Mitarbeit an den sich ab der zweiten Novemberhälfte bildenden kommunalen und regionalen Runden Tischen vom Bekenntnis zum sozialistischen Staat abhängig gemacht. An den Runden Tischen trafen sich nun Vertreter der alten und neuen politischen Kräfte, um auf vorgegebener Grundlage unabhängig von den in die Krise geratenen Volksvertretungen und Räten über die weitere politische Entwicklung und drängende kommunale oder regionale Probleme zu beraten. Vor allem die Blockparteien sahen Ende November in den Runden Tischen eine geeignete Form, die bisherige Arbeit der Parteien gemeinsam fortzusetzen. Ende November beendete die CDU als erste Partei ihre Arbeit im Block und in der Nationalen Front. Auch in den anderen Blockparteien setzten sich die innerparteilichen Erneuerungsprozesse fort, meist freilich noch auf der Grundlage sozialistischer Ziele. Die Parteien, die ja selbst an der Regierung Modrow beteiligt waren, akzeptierten zwar weiterhin die sozialistische Staatlichkeit, nicht aber länger den demokratisch nicht begründeten Führungsanspruch der SED. Angesichts der Entwicklungen im Bereich des Staatsapparates sowie der Blockparteien und Massenorganisationen war es im Sinne der Modrowschen Politik sozialistischer Staatlichkeit für die Volkskammer nur konsequent, am 1. Dezember die führenden Rolle der SED aus der Verfassung zu streichen. Nun musste die SED sich auf andere Weise darum bemühen, einflussreichste Partei im Staate zu bleiben. Mit Modrows Konzept sozialistischer Staatlichkeit stand ihr dafür ein scheinbar geeignetes Instrumentarium zur Verfügung. Die SED passte sich durch den Rücktritt des Politbüros und die Bildung eines Arbeitsausschusses zur Vorbereitung eines Parteitages den „veränderten Klassenkampfbedingungen“ an.

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2.

Polarisierung auf den Straßen – Kooperation an Runden Tischen (4.–13.12.)

2.1

Internationale Diplomatie zwischen Malta und Straßburg (3.–10.12.)

Am 3. Dezember besprachen Bush und Gorbatschow die Lage in Deutschland. Mit dem Treffen auf Malta versuchten beide Super - Mächte, ihr Verhältnis in den Kontext der revolutionären Veränderungen Mittel - und Osteuropas einzuordnen. Gorbatschow erklärte, die Bundesregierung habe in der deutschen Frage ein zu schnelles Tempo vorgelegt. Bush verwies darauf, dass der Zehn Punkte- Plan Kohls keinen Zeitplan vorsehe. Das Tempo der Entwicklung hänge von den Menschen in der DDR ab.1 US - Außenminister Baker forderte eine Vereinigung Deutschlands auf Grundlage westlicher Werte und freier Marktwirtschaft. Ein Deutschland wie in der Zeit vor 1945 sei ausgeschlossen.2 Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zum Abschluss ihres Gipfeltreffens erklärten Bush und Gorbatschow, sie wollten nichts tun, um die Veränderungen in Deutschland künstlich zu beschleunigen. Allerdings wurden von den beiden Politikern auch keine Hürden auf dem Weg zur deutschen Einheit aufgerichtet : „Im Gegenteil !“, so Teltschik, das Signal stand „auf grün“.3 Die beiden deutschen Staaten wurden von beiden Präsidenten als Realität bezeichnet, über deren weitere Entwicklung die Geschichte entscheiden müsse.4 Auf einem NATO - Gipfeltreffen am 4. Dezember in Brüssel mit den Staats und Regierungschefs der 15 Partnerstaaten informierte Bush über das Treffen. Kohl verteidigte hier seinen Zehn - Punkte - Plan und wehrte sich gegen den Vorwurf, er habe sich ungenügend mit den Verbündeten konsultiert. Bei dem Treffen gab es nach Aussagen von James Baker „einige unterschiedliche Ansichten“ zur Frage der Wieder vereinigung. So erklärte Thatcher, eine Änderung der Grenzen in Europa stünde erst in 10 bis 15 Jahren auf der Tagesordnung. Der Frieden könne nur erhalten werden, wenn die Grenzen nicht verändert würden. Ebenso plädierte sie für den Erhalt des Warschauer Paktes. Eine Wiedervereinigung Deutschlands stehe erst zur Debatte, wenn alle Ostblockstaaten, einschließlich der UdSSR, „zur Demokratie gefunden“ hätten.5 Der italienische Ministerpräsident Andreotti verglich die schnelle Entwicklung in Deutschland mit dem Genuss unreifer Früchte. Sein Außenminister, der Sozialist de Michelis, betonte den Vorrang der westeuropäischen Einigung.6 In dieser Situation erinnerte Bush die übrigen Alliierten und NATO - Partner an ihre Verpflichtungen : 1 2 3 4 5 6

Gesprächsprotokoll in Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 93–129. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 62. Vgl. Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 127 f. Teltschik, 329 Tage, S. 67. Amerika Dienst, United States Info. Service. Embassy of the United States of America 44 vom 6. 12. 1989. Vgl. Diemer ( Hg.), Kurze Chronik, S. 131 f. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5. 12. 1989; Herbert Kremp. In : Die Zeit vom 7. 12. 1989. Vgl. Die Welt vom 7. 12. 1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

„Bekanntlich unterstützen wir alle die Wieder vereinigung seit vier Jahrzehnten.“7 Die Westalliierten hatten sich im Deutschlandvertrag von 1954 verpflichtet, mit friedlichen Mitteln ein wiedervereinigtes Deutschland zu verwirklichen. Seitdem hatten sie dieses Bekenntnis, das zugleich Grundlage der Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis war, ständig erneuert und wiederholt.8 Bush nannte vier Prinzipien für eine Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands. Die Wiedervereinigung müsse auf dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen basieren, vom unveränderten Bekenntnis Deutschlands zur NATO und EG ausgehen, die Rechte der Alliierten berücksichtigen und im europäischen Rahmen friedlich, allmählich und schrittweise bei Beachtung der äußeren Grenzen Deutschlands erfolgen. Im Abschlusskommunique der NATO Tagung hieß es schließlich, es bestünden „neue Möglichkeiten, die Trennung Europas und damit Deutschlands und insbesondere auch Berlins zu überwinden“. Die NATO strebe „die Festigung des Zustandes des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.“ Der Prozess müsse sich jedoch „auf friedliche und demokratische Weise, unter Wahrung der einschlägigen Abkommen und Verträge sowie sämtlicher in der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Prinzipien im Kontext des Dialogs und der West - Ost - Zusammenarbeit vollziehen“ und „in die Perspektive der europäischen Integration eingebettet“ sein.9 Zuvor hatte der deutschlandpolitische Sprecher der CDU / CSU - Bundestagsfraktion, Lintner, noch einmal vor den schwerwiegenden Folgen gewarnt, die eine Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen durch westliche Verbündete nach sich ziehen könnte. An die Adressen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Niederlande gerichtet, erklärte er, wer sich mit der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen unbegrenzt Zeit lassen wolle, beschwöre die Gefahr eines tiefgreifenden Zerwürfnisses in der Wertegemeinschaft der westlichen Welt herauf. Er appellierte daher an die Regierungen, sich ohne Wenn und Aber zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen zu bekennen.10 Während in Brüssel die NATO beriet, empfingen Gorbatschow und Ministerpräsident Nikolai Ryshkow am 4. Dezember in Moskau Modrow. Gorbatschow informierte über seine Verhandlungen mit Bush und äußerte sich zur deutschen Einheit „eindeutig ablehnend“.11 Auch gegenüber Genscher bekräftigte er einen Tag später seine Ablehnung des Zehn - Punkte - Plans der Bundesregierung. Die UdSSR betrachte die DDR als „verlässlichen Verbündeten und als wichtigen Garanten von Frieden und Stabilität in Europa“.12 Schewardnadse erklärte, der Plan käme der Erteilung von Anweisungen gleich. Es sei nicht akzeptabel, der DDR vorzuschreiben, wie sie ihre Beziehungen zur Bundesre7 8 9 10 11 12

Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 56. Vgl. Fritsch - Bournazel, Europa, S. 109 f.; Teltschik, 329 Tage, S. 65. Bulletin vom 19. 12. 1989. In : Europa - Archiv, (1990) 6, S. 150–155. Vgl. FAZ vom 7. 12. 1989. Zit. bei Teltschik, 329 Tage, S. 83. Prawda vom 3. und 5. 12. 1989.

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publik gestalte. Genscher betonte demgegenüber, der Plan Kohls sei lediglich als Angebot an die DDR zu verstehen. Es sei Sache der DDR über ihren Weg zu entscheiden.13 Am 6. Dezember besuchte Mitterrand die UdSSR. Einen Tag zuvor hatte Frankreichs Verteidigungsminister Chevènement sich vor der WEU - Versammlung in Paris dazu bekannt, dass „ein durch friedliche Mittel geschaffenes, völlig freies und vereintes Deutschland weiterhin ein wesentliches Ziel der Politik der drei Westmächte“ bleibe. Allerdings müsse sich eine Annäherung friedlich und in den bestehenden Grenzen vollziehen.14 Trotz solcher Signale wurde das Treffen Mitterrands mit Gorbatschow allgemein als Versuch verstanden, die deutsche Einheit zu verhindern.15 Beide warnten in Kiew übereinstimmend vor deutschen Alleingängen bei der Gestaltung ihrer künftigen Beziehungen. Mitterrand betonte, kein Land könne ohne die übrigen europäischen Staaten handeln. Bei jeder Lösung müssten das Gleichgewicht und die historischen Bedingungen berücksichtigt werden. Gorbatschow betonte, für die UdSSR sei der Bestand der Grenzen in Europa ein wesentliches Anliegen.16 Er berief sich auf den KSZE- Prozess, der auf der Zweistaatlichkeit Deutschlands basiere. Änderungen dürften sich ebenfalls nur im Rahmen dieses Prozesses vollziehen. Die Berufung auf Helsinki und das unveränderte Festhalten an den grundsätzlichen Positionen machte deutlich, dass die Teilung Deutschlands weiterhin im sowjetischen Interesse lag und auch eine Lösung des Deutschlandproblems nur im Rahmen eines umfassenden politischen Prozesses gedacht wurde.17 Allerdings konnte sich die sowjetische Führung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr der von Gorbatschow im Gespräch mit Mitterrand formulierten Erkenntnis entziehen, dass es für die UdSSR „kontraproduktiv“ sei, Deutschland weiterhin „zu erniedrigen“.18 In gespannter Atmosphäre trafen sich die Staats - und Regierungschefs der EG am 8./9. Dezember in Straßburg. Auf dem Gipfel herrschte „ein eisiges Klima“, weil viele dachten, die Bundesrepublik werde um der staatlichen Einheit willen die NATO - Mitgliedschaft zur Disposition stellen.19 Das Gipfeltreffen war für Kohl sehr schwierig, weil „seine Partner voller Fragen und Skepsis über die Entwicklung in Deutschland waren, jedenfalls nur von geringer Freude erfüllt“.20 Weiterhin gab es auch deutliche Meinungsunterschiede über das Verhältnis der DDR zur EG.21 Kohl hatte seinerseits vor Beginn der Gipfelkonferenz ein Bekenntnis der elf Partnerstaaten zur Einheit der Deutschen gefordert. 13 Vgl. Bericht über das Treffen Michail Gorbatschows mit Hans - Dietrich Genscher am 5. 12. 1989. In : Gorbatschow, Das gemeinsame Haus, S. 166 f.; Teltschik, 329 Tage, S. 68. 14 Zit. in Die Welt vom 9. 12. 1989. 15 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 9. 12. 1989. 16 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 71. 17 Vgl. Pfeiler, Moskau, S. 189. 18 Nach Informationen von Karl Kaiser. In : Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 61. 19 Interview mit Helmut Kohl. In : Welt am Sonntag vom 27. 9. 1992. 20 Schäuble, Der Vertrag, S. 70 f. 21 Vgl. Claus Schöndube, Protokoll eines aufregenden Jahres. Die Einbindung des vereinigten Deutschlands in die EG. In : Das Parlament vom 14. 12. 1990.

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Deutschland habe für den letzten Krieg bereits mit einem Drittel seines Staatsgebietes bezahlt und sei zu einem Verzicht auf die Selbstbestimmung nicht bereit. Am Rande der Tagung berieten Thatcher und Mitterrand Möglichkeiten einer französisch - britischen Achse gegen Deutschland. Mitterrand war nach Aussage Thatchers sehr besorgt über den Zehn - Punkte - Plan Kohls und hatte wie sie den Willen, „den deutschen Molloch in die Schranken [ zu ] weisen“.22 Thatcher wollte sicherstellen, dass Deutschland Europa nicht beherrsche so wie Japan Asien. Wenn die deutschen Massen die sowjetischen Militärbasen angriffen, wären die Konsequenzen schrecklich. Das vereinte Deutschland werde sich die Ostgebiete wiederholen und die ČSSR dazu. Mitterrand bedauerte, Deutschland gegenüber keine Gewaltmittel zu haben. Man befinde sich in der Situation Frankreichs und Großbritanniens vor dem Zweiten Weltkrieg.23 Portugalow sprach in diesem Zusammenhang von einer „erbärmlichen“ Politik Thatchers, die die sowjetische Führung zu einer Haltung gegen die Wieder vereinigung gedrängt habe, die sie sich als Verbündete selbst nicht getraut habe.24 Der niederländische Ministerpräsident Lubbers erklärte, er halte das „Gerede von Selbstbestimmung für gefährlich“ und sprach sich dagegen aus, von einem deutschen Volk zu sprechen.25 Mitterrand machte ein „Ja“ zur deutschen Vereinigung schließlich von einer Aufgabe der bundesdeutschen Verweigerungshaltung zur europäischen Wirtschafts - und Währungsunion abhängig. Kohl, der den „Junktimscharakter“ erkannte, betonte gegenüber Mitterrand seine Bereitschaft, klare Signale für die Politische Union zu setzen und die Wirtschafts - und Währungsunion vorzubereiten.26 Mitterrand bestätigte im Nachhinein, es habe „in manchen Fragen“ zunächst keine Einigkeit zwischen Paris und Bonn gegeben. In persönlichen Gesprächen seien Differenzen jedoch ausgeräumt worden.27 Erst nach langwierigem diplomatischen Tauziehen zwischen Paris und Bonn, bei dem die Bundesregierung u. a. die Aufgabe der D - Mark und die Einführung einer gemeinsamen Währung akzeptierte, wurde schließlich am 10. Dezember eine Grundsatzerklärung zur Osteuropa - Politik verabschiedet. Hier hieß es nun trotz aller antideutschen Ressentiments wörtlich : „Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk seine Einheit durch freie Selbstbestimmung wieder erlangt. Dieser Prozess muss sich auf demokratische und friedliche Weise unter Wahrung der Abkommen und Verträge auf Grundlage sämtlicher in der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze und im Zusammenhang von Dialog und Ost - West - Kooperation vollziehen. Er muss sich in die Perspektive der europäischen Integration einfügen.“28 22 23 24 25 26 27 28

Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1102 f. Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 140 f. Vgl. ebd., S. 143. Vgl. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1103. Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, S. 24. Zit. in Welt am Sonntag vom 10. 12. 1989. Bulletin vom 19. 12. 1989. Vgl. Europa - Archiv, (1990) 1, S. 13 f. Vgl. Meyer, Die Eingliederung der DDR in die EG, S. 23.

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Der „Fall Schalck - Golodkowski“ und die Bildung von Untersuchungsausschüssen gegen „Korruption und Amtsmissbrauch“

Während die internationale Staatenwelt über die Gefährlichkeit eines vereinten Deutschlands sinnierte, ging die revolutionäre Entwicklung in der DDR weiter. In Kavelstorf bei Rostock verlangten am 25. November Einwohner Zutritt zum Gebäude eines Lagers der IMES - GmbH, in dem Waffen und anderes militärisches Gerät vermutet wurden. Ihnen wurde der Zutritt verwehrt. Zwei Tage später erfuhren Mitarbeiter der Zeitung „Demokrat“, das Lager werde geräumt. Vor Ort wurde ihnen erklärt, im Lager befänden sich Waffen für den Export und zur Devisenbeschaffung.29 Ein Vertreter des Neuen Forums erstattete daraufhin Anzeige wegen des Verdachts des illegalen Waffenhandels. Eine Überprüfung ergab, dass in dem Betrieb Tausende Tonnen Handfeuer waffen und Munition sowie Lastkraftwagen gelagert wurden.30 Die Empörung über den Waffenhandel zugunsten der SED - Parteikasse war groß. Auch in der SED rumorte es. Im Zusammenhang mit der Entdeckung des Waffenlagers drangen immer neue Informationen über den Bereich KoKo an die Öffentlichkeit. Der Untersuchungsausschuss für Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch empfahl Modrow am 27. November, Schalck von seinem Amt zu entbinden. Modrow nahm Schalck daraufhin in Schutz und erklärte, er werde für Verhandlungen mit der Bundesregierung benötigt.31 In der Sitzung des Politbüros der SED am 1. Dezember wurde Schalcks Verhandlungsposition durch Krenz nochmals bestätigt.32 Ihm wurde erklärt, er könne über alles aussagen, nur nicht über seine Verbindungen zum MfS und die verdeckte Finanzierung der Parteiarbeit der DKP und westlicher Betriebe der SED durch die KoKo. Schalck bestand daraufhin darauf, überhaupt nicht aussagen zu müssen, was von Modrow schließlich bestätigt wurde. Gleichzeitig wurde er jedoch praktisch seines Amtes enthoben.33 Um sich nicht mit den KoKo - Vorgängen zu belasten, teilte am 2. Dezember auch Schwanitz Schalck mit, dass es für ihn keinen Schutz mehr durch die staatlichen Organe der DDR gebe. Schwanitz empfahl Schalck, über seine Tätigkeit als OibE Stillschweigen zu bewahren.34 Nachdem die Führungen von SED und AfNS ihn „im Stich gelassen“35 hatten, floh Schalck am Abend des 2. Dezember nach West - Berlin. Noch am selben Tag wurde durch den Generalstaatsan-

29 Vgl. Schmidtbauer, Tage 1, S. 69 f. 30 Vgl. Informationsbrief der Bürgerinitiative Kavelstorf. In : Schmidtbauer, Tage 2, S. 104 f.; Neues Deutschland vom 4. 12. 1989; Waffengeschäfte der IMES GmbH. In : Bahrmann / Fritsch, Sumpf, S. 73–89; Koch, Das geheime Kartell, S. 221–223. 31 Vgl. Klemm, Korruption, S. 39 f. 32 Vgl. Hans Modrow, Ein Staatssekretär als Exempel. In : Die Zeit vom 8. 11. 1991. 33 Vgl. Peter Siebenmorgen. In : ebd. vom 3. 5. 1991. 34 Aussage Alexander Schalck - Goldodkowski vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages. Vgl. FAZ vom 27. 9. 1991. 35 Interview mit Alexander Schalck - Goldodkowski. In : Seiffert / Treutwein, Die Schalck Papiere, S. 79.

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walt der DDR gegen Schalck ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.36 Modrow wurde am 3. Dezember über die Flucht informiert.37 Ein sofort einberufener Arbeitsstab verfügte die Versiegelung der Räume der KoKo, die Annullierung der Unterschriften - Vollmacht Schalcks im Ausland und die Sperrung der Konten in der DDR. Auf Weisung Modrows übernahm Außenhandelsminister Gerhard Beil den Bereich KoKo in die Verantwortung seines Ministeriums.38 Die Vorgänge führten der Öffentlichkeit die enge Verflechtung von SED und MfS vor Augen. Selbst wenn wesentliche Zusammenhänge unklar blieben, stellten die Informationen neben den Vernichtungsaktionen im AfNS neuen Zündstoff dar. Die SED nutzte den allgemeinen Zorn darüber, die Fährte der Verantwortlichkeit in Richtung vermeintlich besonders korrupter Funktionäre zu legen. Es begann eine einseitige Kriminalisierung des MfS, deren Ziel es offensichtlich war, von den Hauptverantwortlichen in der SED - Führung abzulenken. Nach Aussage Berghofers gab es unmittelbar nach dem Weggang von Schalck- Golodkowski ein Gespräch zwischen Modrow, Markus Wolf, Wolfgang Pohl und ihm, bei dem Modrow eine Strategie vorschlug, das MfS ( mit Ausnahme der Auslandsspionage ) als Hauptschuldigen für die Verhältnisse in der DDR zu stigmatisieren, um so die Verantwortung von der SED abzulenken. Vor allem sollte der Volkszorn auf Schalck - Golodkowski gelenkt werden. Die Kampagne begann durch die gezielte Bekanntmachung des Waffenlagers in Kavelstorf. Berghofer nennt Modrows Schachzug genial, weil er bis heute funktioniere : „Schuld an der Misere und dem Untergang der DDR sind scheinbar das MfS und die Figur, die am meisten Unheil angerichtet und auf Kosten des Proletariats in Saus und Braus gelebt hat. Daneben gab es noch ein paar Trottel in der Parteiführung, aber die waren alt und nicht mehr zurechnungsfähig. Die eigentlichen Machtstrukturen sind alle aus dem Bewusstsein verschwunden, niemand kennt sie mehr.“39 Es gelang in der Öffentlichkeit den Anschein zu erwecken, das MfS habe allein Schuld am untergehenden Staat gehabt. „In dem Maße, wie Entwicklung oder Inszenierung dieser Optik gelangen, konnten sich andere aus ihrer Verantwortung stehlen.“40 Noch nach zwei Jahren beschäftigte sich die Öffentlichkeit fast ausschließlich mit dem MfS und seinen Inoffiziellen Mitarbeitern, kaum aber mit den Machenschaften des Politbüros und anderer verantwortlicher SED - Gremien.41 Das MfS wurde zum „Vorzeigebuhmann der Na36 Vgl. Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 3. 12. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 703). 37 Vgl. Arnold, Die ersten hundert Tage, S. 60. 38 Vgl. Hans Modrow, Ein Staatssekretär als Exempel. In : Die Zeit vom 8. 11. 1991. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Richter, Die Staatssicherheit, S. 65–73. 39 Aussage Wolfgang Berghofer. In : Frankfurter Rundschau online vom 12. 4. 2007; Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, S. 409. Modrow nannte die Aussagen Berghofers frei erfunden, Gysi ging mit einer Klage dagegen vor. Vgl. Pressemitteilung der Stiftung Aufarbeitung vom 11. 4. 2007. 40 Stein, Agonie und Auf lösung, S. 23. Modrow nennt Berghofer einen „Wendehals der übelsten Sorte“. Interview mit Hans Modrow. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden, vom 21./22. 4. 2007. 41 Vgl. Inter view mit Joachim Gauck. In : Neue Zeit vom 30. 1. 1993.

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tion“.42 Dazu meinte später ein ehemaliger Offizier des MfS, es habe auf der Hand gelegen, „dass jene politischen Kräfte der alten DDR, die sich in die neue Zeit retten wollten, einen ‚Prügelfisch‘ brauchten“. Die SED brauchte „einen Sündenbock für das Unrecht, das in ihrem Namen begangen wurde“. Das MfS war „eine Art Salami, die man der rasenden Meute vorwarf. Die Bürgerbewegungen wurden schließlich auch von dieser Welle ergriffen und agierten auf der politischen Bühne als ‚Stasi - Auf löser‘. Das war ausgesprochen naiv. Sie verhielten sich wie die Schlange, die in den Stock beißt, der sie quält. Die Hand, die diesen Stock führt, haben sie nicht gesehen.“43 Ähnlich wurde in der Presse auch das Vorgehen gegen Schalck - Golodkowski bewertet und als „Sündenbockkampagne“44 der SED charakterisiert. Während der ersten Wirtschaftskonferenz des Neuen Forums im Berliner Friedrichstadtpalast am 3. Dezember ereilte die Teilnehmer die Nachricht von der Flucht Schalck - Golodkowskis. Daraufhin bildete sich auf Initiative von Wolfgang Schnur eine Arbeitsgruppe Korruption und Amtsmissbrauch, der aus Großhennersdorf Andreas Schönfelder und Matthias Weber angehörten. Sie nahm am nächsten Tag die Arbeit in Schnurs Berliner Büro auf und befasste sich vor allem mit Korruptionsfällen der Regierung, die ihr meist von der Bevölkerung und staatlichen Mitarbeitern anonym mitgeteilt wurden. Ihre Sitzungen fanden wöchentlich mit Vertretern der Modrow - Regierung statt. Der brisanteste Fall, die mutmaßliche Verkollerung von ca. neun Tonnen Akten aus dem Arbeitsbereich NSW - Kaderreisen in der Verkollerungsanlage Lübben, führte zu einer Anzeige von Andreas Schönfelder gegen die Modrow - Regierung. Sie wurde nach anfänglichen Widerständen von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR verfolgt und – wie heute bekannt ist – verschleppt.45 Vor der Volkskammer hatte bereits auch Heinrich Toeplitz ( CDU ) erste Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses für Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch vorgelegt. Danach hatten sich mehrere führende SED - Funktionäre Häuser für ihre Kinder bauen lassen, riesige Jagdgebiete zur privaten Nutzung unterhalten und waren auf mannigfache andere Weise korrupt gewesen.46 Das Luxusleben der führenden Funktionäre erregte den Zorn der Menschen. Am 5. Dezember wurde bekannt, dass der NDPD - Vorsitzende Heinrich Homann ein für den Parteiapparat vorgesehenes Devisenkonto in Höhe von rund 250 000 DM zum großen Teil für persönliche Zwecke benutzte. Er wur-

42 Komitee zur Auf lösung des AfNS : Auskunftsbericht und Ergebnisse zur bisherigen Arbeit sowie darin enthaltene konzeptionelle Gedanken zur weiteren Arbeitsweise, o. D. ( ABL, DZ 15. Januar, Beschlüsse, Runder Tisch, Ministerrat, Komitees ). Vgl. Interview mit Matthias Büchner. In : Horch und Guck, (1992) 2, S. 18. 43 Zit. bei Stein, Agonie und Auf lösung, S. 36. 44 Peter Siebenmorgen. In : Die Zeit vom 3. 5. 1991. 45 Interview mit Andreas Schönfelder am 16. 7. 2008. 46 Vgl. Neues Deutschland vom 2./3. 12. 1989; Lemke, Staatsjagd; Das Stoph - Dossier. In: Chemnitzer Morgenpost vom 24.–30. 5. 1991; DA, 23 (1990), S. 137–141; Klemm, Korruption, S. 36.

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de daraufhin wegen Amtsmissbrauch aus der NDPD ausgeschlossen.47 Kuriere, die wechselseitig nicht voneinander wussten, waren ständig damit beschäftigt, vor allem in West - Berlin, jeden Wunsch der SED - Führung zu erfüllen. Alle Kaufbelege mussten unverzüglich vernichtet werden.48 Wiederholt benutzten Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und ihre Familien Transportflugzeuge und Hubschrauber des MfNV zu Urlaubsflügen. Zu diesen illegalen Nutzungen kamen viele Privilegien der NVA - Führung wie der Erwerb und die Nutzung von Pkw, Kuraufenthalte, Valutamittel sowie die Nutzung von NVA Einrichtungen zu persönlichen Zwecken. Vom VE - Spezialbau Potsdam, der vorrangig mit Sonderbauten für die SED - Führung beschäftigt war, wurden 1977 bis 1989 insgesamt 7,5 Mio. Mark an zusätzlichen Mitteln für Luxus aufgebracht, das waren pro Haus etws 360 000 Mark. Besonders aufwendig gestaltet waren die Häuser von KoKo - Chef Schalck - Golodkowski, des Ehemanns der Sekretärin Honeckers, Martin Kelm, sowie des ZK - Abteilungsleiters Günter Ehrenberger, einem Vertrauten Mittags. Für das Haus von Schalck in der Berliner Manetstraße zahlte KoKo 151 000 Mark. Der Rest der Baukosten in Höhe von 924 000 Mark wurde aus dem Staatshaushalt beglichen. Verteidigungsminister Keßler hatte sich in Strausberg eine Villa bauen lassen. Von den Kosten in Höhe von über einer Mio. Mark waren 278 500 Mark Kosten durch Sonderwünsche verursacht worden. Ähnlich luxuriös waren die Häuser von Streletz und Reinhold. Hinzu kamen zahlreiche Gästehäuser der NVA, die von der Führung der NVA jederzeit billig oder umsonst genutzt wurden. Der Staatssekretär der Staatlichen Plankommission, Heinz Klopfer, kaufte sich ein für ihn gebautes Ferienhaus an der Ostsee im Wert von über 100 000 Mark zum Preis von 40 000 Mark. Werner Eberlein hatte am Rahmer See bei Wandlitz ein Haus für 1150 000 Mark bauen lassen, für das er eine Monatsmiete von 148,– Mark bezahlte. Allein die monatlichen Energiekosten des Projektes beliefen sich jedoch auf 556,– Mark. Ähnlich lag der Fall beim Wochenendheim Erich Mückenbergers in Lindow, das rund zwei Mio. Mark gekostet hatte. Kurt Hager zahlte 300 Mark Miete für ein Haus, dessen Zeitwert 1988 auf 550 000 Mark geschätzt worden war und für das seit 1969 550 000 Mark Reparaturkosten ausgegeben worden waren. In Berlin - Hohenschönhausen hatte das MfS für seine Generäle und Obristen in den achtziger Jahren Einfamilienhäuser im Wert von je 700 000 Mark bauen lassen, deren Mietpreise zwischen 183,– und 286,– Mark schwankten. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung im MfS, Generalmajor Felber, bezahlte für ein Haus im Wert von 800 000 Mark 136,86 Mark Miete. Auch für Mielke stand ein weiteres, anderthalb Jahrzehnte nie genutztes Haus ( Bruttowert 700 000 Mark ohne Inneneinrichtung ) mit acht Wohnräumen, 200 Quadratmetern Wohnfläche und westlicher Einrichtung bereit. Der Bau des Ferienobjekts von Willi Stoph in der Nähe des Müritzsees hatte 4,5 Mio. Mark gekostet. Allein die Heizkosten beliefen sich jährlich auf 220 000 Mark. Die 47 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 51 f.; Informationen des BMB 23 vom 20. 12. 1989, S. 27. 48 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 168 f.

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private Gärtnerei Stophs beschäftigte ständig 20 Personen. Stoph zahlte 164,90 Mark Miete. Der Bau des vorrangig von Honecker und seiner Familie genutzten Gästehauses des Staatsrates in Drewitz im Bezirk Neubrandenburg hatte 25 Mio. Mark gekostet und 1988 Energiekosten von 355 000 Mark verursacht. Hermann Axen verfügte über ein sieben Mio. Mark teures Objekt in Born / Darß, das bei einem jährlichen Energieverbrauch von etwa 40 000 Mark monatlich 271,– Mark Miete kostete. Das Objekt von Konrad Naumann am Parsteiner See bei Eberswalde hatte Baukosten in Höhe von 6,45 Mio. Mark verursacht. Es war von Naumann seit 1986 nicht mehr benutzt worden und stand seitdem – vom MfS ver waltet – leer. Günther Kleiber erholte sich auf einem 1,5 Hektar großen Grundstück am Samoter See im Kreis Waren. Sein Feriendomizil kostete etwa 2,3 Mio. Mark und verursachte jährlich rund 80 000 Mark Energiekosten. Die Miete betrug 214,90 Mark.49 Für besonderen Ärger sorgten die für DDR - Verhältnisse luxuriösen Lebensverhältnisse im Wohngebiet des Politbüros in Wandlitz und die kriminellen Machenschaften der führenden Sozialisten. Bereits seit 1961 wurden vom Zoll beschlagnahmte und eingezogene Konsumartikel nach Wandlitz gebracht und dort für einen symbolischen Preis verkauft. Seit Ende der siebziger Jahre stahl das MfS gezielt Gegenstände aus West - Paketen, die in Wandlitz bzw. der Verkaufsstelle „Zentrum“ des MfS für hohe MfS - Offiziere zu niedrigen Preisen angeboten wurden. Seit 1984 wurde jedes Paket der Bundespost, das irrtümlich in der DDR landete, vom MfS ausgeraubt. Auch aus Briefen wurde regelmäßig Geld gestohlen. Ab 1985 hatten MfS - Mitarbeiter rund sieben Mio. D - Mark aus Briefen und Paketen des innerdeutschen Postverkehrs entnommen.50 Im Wandlitzer Sonderladen durften etwa 260 Personen einkaufen. Dabei handelte es sich in erster Linie um die Mitglieder des Politbüros der SED und deren Familien. Auch hohe MfS - Offiziere wie Markus Wolf und Rudi Mittig nebst Gattinnen durften sich im Laden bedienen. Bis zum 10. November 1989 waren im Laufe des Jahres Waren für 8,2 Mio. D - Mark aus westlichen Ländern importiert worden. Gemessen an den in der DDR üblichen Handelspreisen wurden im Wandlitzer Laden samt Außenstellen 1989 etwa 40 bis 50 Mio. Mark umgesetzt. Die Versorgung und alle Dienstleistungen in Wandlitz lagen in den Händen der MfSFirma „Letex“. Der Führung standen hier ca. 650 Bedienstete zur Verfügung.51 Insgesamt verschlangen die wachsenden Bedürfnisse des „Wandlitzer Hofstaates“ jährlich etwa 6 bis 8 Mio. Valutamark. Die Bediensteten hatten jeden Wunsch der SED - Prominenz zu erfüllen.52 49 Vgl. Abschlussbericht des Ausschusses zur Untersuchung von Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen der DDR vom 15. 3. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37602, Bl. 101–115); Klemm, Korruption, S. 67 f., 75–79. 50 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 150; Welt am Sonntag vom 3. 11. 1991; Die Welt vom 2. 1. 1992. 51 Vgl. Klemm, Korruption, S. 72–74. 52 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 152–155.

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Ein besonderes Vergnügen der sich feudal gebenden SED - Herrschaften war die Jagd. Für ihre 18 Staatsjagdgebiete nahm die SED - Führung 108 000 Hektar Fläche in Beschlag. Die bekanntesten Jagdgebiete waren die „Nossentiner Heide“ und die „Schorfheide“. Die „Nossentiner Heide“ im Kreis Waren wurde vor allem von Honecker, Mittag, Mielke und Kleiber genutzt. In der Schorfheide hatten vor allem Honecker, Mittag und Sindermann Einzeljagdrecht, wobei deren Jagd „mehr mit Wildschlächterei als mit Jagdausübung zu tun“ hatte.53 Das Jagdgebiet Schorfheide verursachte jährliche Kosten zwischen 6 und 8,5 Mio. Mark, die aus dem Verteidigungshaushalt entnommen wurden. Dazu kamen im Zeitraum 1984 bis 1989 12 Mio. Mark aus dem Haushalt des MfNV für Bauleistungen. Neben den Staatsjagden gab es zehn Jagdgebiete der NVA, des MfS und des MdI mit einer Fläche von insgesamt 178 508 Hektar. Dazu kamen 500 000 Hektar Jagdfläche für sowjetische Offiziere und etliche Sonderjagdgebiete führender Partei - und Staatsfunktionäre der Bezirke und Kreise. Seit 1981 fast ausschließlich von Heinz Hoffmann genutzt wurde die Jagdwirtschaft Hintersee, die seit 1966 zum repräsentativen Gästejagdgebiet ausgebaut worden war. 1985 verfügte Hintersee u. a. über ein Jagdhaus mit Trophäenhalle und Versorgungseinrichtungen, einen Fuhrpark von ca. 30 Fahrzeugen, 40 Arbeitskräfte, 15 Jagdhunde, fünf Pferde mit Gespannfahrzeugen, fünf Wohnhäuser, drei Futtersilos, einem Hubschrauberlandeplatz, 50 Hektar beregnete und 118 Hektar unberegnete Wildäcker. 1989 betrug die Fläche 8 456 Hektar. Den Ausgaben in diesem Jahr in Höhe von 3,722 Mio. Mark standen Einnahmen von 386 000 Mark gegenüber. Seit 1986 wurden Haushaltsmittel in Höhe von 39,766 Mio. Mark ohne Bauinvestitionen aus dem Verteidigungshaushalt ausgegeben. Dem standen Einnahmen in Höhe von 3,4 Mio. Mark gegenüber. Seit 1981 bekamen die Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, mit Ausnahme des Chefs des Hauptstabes, Streletz, andere Jagdgebiete zugewiesen. Zur Instandsetzung von Jagdhäusern und Bungalows wurden Haushaltsmittel des MfNV in Höhe von 346 700 und 93 000 Mark ausgegeben. Da die Nutzer weder Miete, Reparaturen, Renovierungen, den Ersatz von Ausstattungen, Heizung, Strom, Wasser oder Raumpflege zu bezahlen brauchten, wurden 1988 54100 Mark und 1989 66100 Mark dafür aufgebracht.54 Das FDGB - Blatt „Tribüne“ berichtete am 6. und 7. Dezember über Mielkes ca. 3 000 Hektar großes Jagdgebiet und das als Wochenend - und Urlaubsdomizil benutzte Jagdschloss in Wolletz ( Angermünde ) : „Flur, vier Zimmer, ein Bad vom Ausmaß eines Wohnzimmers, separate Toilette und Waschgelegenheit am Schlafzimmer waren ganzjährig für den Minister reserviert [...] Im zweitgrößten Appartement des Jagdschlosses war Mielke - Sohn Frank mit Familie zu Gast 53 So der Generalforstmeister der DDR, Rüthnick. In : ebd., S. 160. Vgl. Klemm, Korruption, S. 80 f. 54 Vgl. Abschlussbericht des Ausschusses zur Untersuchung von Fällen von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen der DDR vom 15. 3. 1990 ( BArch Berlin, VA - 1/37602, Bl. 101–115); Klemm, Korruption, S. 75 und 80.

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[...] Alljährlich wurden die prächtigsten Geweihe im Objekt zur Schau gestellt. Die extra dafür errichtete Trophäenhalle hat das Ausmaß einer mittleren Schulturnhalle. Sauna und etliche Garagen, Bettenhaus, Sozialtrakt und Empfangsgebäude komplettieren das Anwesen am bisher teilweise gesperrten See [...] Der Berg, auf dem das Schloss steht, sei selbst bei Stromsperre erleuchtet gewesen, während die Bauern unten im Dorf ein klappriges Notstromaggregat von Stall zu Stall karren mussten.“ Am 2. Dezember informierte die „Ostseezeitung“ über das dem einstigen Staatsjagdgebiet Born ( Darß ) benachbarte 12 000 Quadratmeter große Anwesen von Hermann Axen mit Hauptgebäude, Bedienstetengebäude und Bootshaus im Wert von 4,5 Mio. Mark. Obwohl in den Westmedien seit Jahren ständig über die Korruption der SED berichtet worden war und in der Bevölkerung zahllose Witze über die „SED Bonzen“ aus „Volvograd“ kursierten, taten viele Funktionäre überrascht. Wolfgang Herger erklärte, die „aufrechten, selbstlos arbeitenden“ SED - Mitglieder fühlten sich „getäuscht, belogen und betrogen“.55 Er versuchte so die Tatsache zu vertuschen, dass die allgemeine Korruption sich keinesfalls auf die führende SED - Schicht beschränkte, sondern sich SED - Mitglieder überall gegenseitig Vorteile zuschanzten. Mit dem feudalen Lebensstil der kommunistischen Herrschaften konnten sich die zahlreichen kleinen Nutznießer nicht messen, die nun voller Empörung auf den Kreisdelegiertenkonferenzen der SED reagierten. Nun forderten die Delegierten plötzlich, Amtsmissbrauch, Korruption und persönliche Bereicherung, die ein Markenzeichen der SED auf allen Ebenen war, „auf das härteste zu bestrafen“.56 Sie stimmten in den Chor der berechtigten Forderungen der Bevölkerung ein, die Genugtuung für 40 Jahre SED - Diktatur verlangte. Problematisch war, dass kein Strafgesetz existierte, unter das sich die Machenschaften der SED subsumieren ließen.57 Allerdings nutzten die durchweg der SED angehörenden Staatsanwälte die Gunst der Stunde, sich ebenfalls vom Verhalten der führenden SEDFunktionäre zu distanzieren. „Mit Genugtuung“ verfolgten z. B. die Staatsanwälte im Kreis Zittau den Zusammenbruch „des alten stalinistischen Machtsystems“ und fragten sich, „wofür wir in der Vergangenheit eigentlich gearbeitet haben, wurde doch auch durch unsere Arbeit, durch die konsequente Durchsetzung von Gesetzlichkeit, ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung dieses Machtsystems geleistet.“58 Wesentlich glaubwürdiger waren da Forderungen nach Enteignung und Bestrafung wie etwa durch das Neue Forum Zittau, das die völlige Enteignung der Politbüro - und ZK - Mitglieder forderte und diese von einem „Volkstribunal“ verurteilt sehen wollte.59 55 Neues Deutschland vom 2./3. 12. 1989. 56 SED - BL Frankfurt / Oder vom 3. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). Vgl. SED - KL Freital vom 20. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 57 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 20. 58 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. 12. 1989. 59 Vgl. ebd. vom 5. 12. 1989.

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Anfang Dezember sah sich die Regierung bereits genötigt, 33 Sachverhalte von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung mit insgesamt 39 Verdächtigen zu untersuchen, in vier Fällen war bereits Haftbefehl erlassen worden. Ständig gingen neue Anzeigen gegen Bürgermeister, Betriebsdirektoren und 1. Sekretäre von SED - Kreisleitungen ein.60 Presse und Medien berichteten laufend über neue Fälle und heizten so die Stimmung an. Hauptthemen waren Devisenmanipulationen sowie die Nutzung von Immobilien und Jagdgebieten. Der Generalstaatsanwalt der DDR erwirkte am 2. Dezember Haftbefehle gegen Günter Mittag61 und Harry Tisch. Beide kamen in Untersuchungshaft. Ihnen wurde vorgeworfen, unter Missbrauch ihrer Funktion, die Volkswirtschaft und das Volkseigentum schwer geschädigt zu haben. Aus den gleichen Gründen wurden weitere Funktionäre auf Bezirksebene verhaftet.62 Am 5. Dezember traten der Generalstaatsanwalt der DDR, Günter Wendland, und sein 1. Stellvertreter, Karl - Heinrich Borchert, von ihren Ämtern zurück. Der stellvertretende DDR - Generalstaatsanwalt, Harri Harrland, teilte mit, dass ehemalige Mitglieder des Politbüros, bei denen eine strafrechtliche Untersuchung vorgesehen war, unter Hausarrest gestellt wurden. Gegen Erich Honecker, Erich Mielke63, Willi Stoph, Hermann Axen, Werner Krolikowski und Günter Kleiber wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.64 Am 11. Dezember beschloss die Regierung die Bildung einer zeitweiligen Untersuchungsabteilung für die Aufklärung der Vorgänge von Amtsmissbrauch und Korruption,65 drei Tage später die Einsetzung einer Sonderkommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung.66 Die Waldsiedlung Wandlitz sollte ein Rehabilitationszentrum und das ehemalige MfS - Krankenhaus Teil des Klinikums Buch werden.67 Wie von der SED - Führung um Modrow und Krenz gewünscht, konzentrierte sich die Wut der Bevölkerung nun auf das MfS, Schalck - Golodkowski und andere Spitzenfunktionäre. „Um von der politischen Diskussion abzulenken“ 60 Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Lage. Material für die Sitzung des Ministerrates am 7. 12. 1989, S. 6 ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 61 Vgl. Mittag, Um jeden Preis, S. 11; Janson, Totengräber, S. 262. 62 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 31; Tribüne vom 4. 12. 1989. 63 Vgl. von Lang, Erich Mielke, S. 192 f. 64 Interview mit Jürgen Wetzenstein - Ollenschläger. In : Berliner Zeitung vom 13. 2. 1992. 65 Protokoll der außerordentlichen Sitzung des Ministerrates der DDR vom 11. 12. 1989 (BArch Berlin, C 20 I /3–2878, Bl. 1–11). Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 80. 66 Beschluss des Ministerrates der DDR 6/ I.4.6/89 vom 14. 12. 1989 zur Bildung einer Sonderkommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Bereiches Kommerzielle Koordinierung ( BArch Berlin, C 20 I /3 2882, Bl. 45 f.). 67 Beschluss des Ministerrates der DDR zur weiteren Nutzung der Objekte des Regierungskrankenhauses, des Krankenhauses des ehemaligen AfNS und der Waldsiedlung Wandlitz / Brief von Ministerrat Dr. med. K. Kozew ( MfS - Krankenhaus ) an Hans Modrow vom 12. 12. 1989 und anschließender Briefwechsel ( ebd. 2881, Bl. 1–6 und 14–24).

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und um „die Partei aus der Schusslinie zu bringen“, opferte man, so Harry Tisch, einige besonders korrupte Genossen.68 Der weil überlegten die eilig gewendeten Reformkommunisten mit führenden Vertretern der Bürgergruppen, wie der Sozialismus zu retten sei. Parallel zu den Vorgängen auf zentraler Ebene gingen nun auch in Sachsen Bürger Fällen vermeintlicher oder tatsächlicher Korruption nach. In Radeberg sammelten Mitarbeiter der Möbelfabrik Unterschriften, um vom Staatsanwalt korrupte Machenschaften untersuchen und die Verantwortlichen in Gewahrsam nehmen zu lassen.69 In Bad Elster ( Oelsnitz ) forderten Einwohner Informationen über die Sanatorien für Regierung, Armee, SED und MfS.70 Im Kurort Gohrisch ( Pirna ) in der Sächsischen Schweiz ging es um ein Gästeheim der Regierung, in Graupa wurde eine Untersuchungskommission u. a. wegen des „Weißen Hauses am Borsberghang“, einem mit staatlichen Geldern fertiggestellten Privatbau von Funktionären, gebildet. In Bahratal ( Pirna ) wurde eine Feriensiedlung des „VEB Ifa - Motorenwerk Nordhausen“ wegen des Verdachts der Korruption kontrolliert,71 in Großenhain ging es um das weiträumig abgesperrte Gästehaus des Ministerrates „Haus am See“ im Naturschutzgebiet Zschorna.72 Hinzu kamen, wie z. B. in Kamenz, Fälle regionalen Antikhandels und des Missbrauchs regionaler Jagdlizenzen wie in Königstein ( Pirna ).73 Die durch ständige Presseberichte sensibilisierte Bevölkerung ging nun überall entsprechenden Vermutungen nach und forderte die Einsetzung von Untersuchungskommissionen, die sich im Laufe des Dezember auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen bildeten. Bezirks - und Kreistage sowie Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen bildeten Kommissionen,74 in die meist Vertreter von Bürgerinitiativen einbezogen wurden.75 Neben den Volksvertretungen setzten auch Räte der Bezirke, Kreise und Kommunen entsprechende Kommissionen ein.76 In Bautzen wurde unter Verantwortung des Kreisstaatsanwaltes 68 Interview mit Harry Tisch. In : Extra 25 vom 13. 6. 1991. 69 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 14. 12. 1989. 70 Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 71 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 1., 7., 12. und 14. 12. 1989. 72 Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 30.11., 1. und 6. 12. 1989. 73 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 12. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 12. 12. 1989. 74 Vgl. BT Leipzig vom 14. 12. 1989 : Beschluss 64/ IX /89 ( SächsStAL, BT / RdB, 19046); Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 15. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 16. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 9./10. 12. 1989; Sächsisches Tageblatt vom 20. 12. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 28.12.1989. 75 Vgl. Beschlussprotokoll der Sonderberatung des RdK Freital vom 6. 12. 1989 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA ); Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 6. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 9. 12. 1989. 76 Vgl. Vorsitzender des CDU - KV an RdK Freiberg vom 7. 12. 1989 ( KA Freiberg, Akten, 444); Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 1. 12. 1989; Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 38); RdS Hainichen : Festlegungsprotokoll über die 3. öffentliche Zusammenkunft der zeitweiligen Untersuchungskommission am 12. 12. 1989 ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ).

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eine Kreisarbeitsgruppe zur Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch gebildet, der Staatsanwälte und Kriminalisten angehörten.77 Die meisten Kommissionen bezeichneten sich als unabhängig, auch wenn ihnen neben Vertretern von Parteien und Bürgerbewegungen Funktionäre des Partei - und Staatsapparates, Staatsanwälte, Kriminalpolizisten sowie Mitglieder der ABI angehörten und sie oft von Kreistagen bestätigt wurden.78 Auch die ABI befassten sich mit Korruption, Amtsmissbrauch und Privilegien und stellte oft den Vorsitz Unabhängiger Untersuchungskommissionen.79 Die Bezirkskomitees der ABI waren kurz zuvor den Bezirkstagen als unmittelbare Kontrollorgane unterstellt und um Mitglieder anderer Parteien erweitert worden.80 Hinzu kamen eigenständige Arbeitsgruppen des Neuen Forums81 und der SED / SED - PDS.82 Formen und Zusammensetzungen variierten, was meist weniger gezielter Absicht entsprach als regionalen Besonderheiten wie etwa dem Vorhandensein aktiver Bürgergruppen. Die Arbeitsgruppen und Kommissionen gingen mit Hilfe von Staatsanwälten Hinweisen aus der Bevölkerung nach, erhoben Anzeige und informierten die Öffentlichkeit über Korruptionsfälle. Oft befassten sie sich nicht nur mit Korruptionsfällen, sondern auch mit der Arbeit des MfS.83 Im Kreis Dresden - Land wurde eine „Korruptionshotline“ eingerichtet.84

77 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 8. 12. 1989. 78 Vgl. KAfNS Annaberg vom 5. 12. 1989 : Parteiaustritte ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 46–48); Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 28. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 13. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 5. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 7. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 20. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 6. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. 12. 1989; Sächsisches Tageblatt vom 7. 12. 1989; Die Union vom 14. 12. 1989. 79 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 7. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Karl Marx- Stadt - Land, vom 23. 12. 1989. 80 Vgl. BT Erfurt vom 6. 12. 1989 : Beschluss 73–17/89 ( ThHSTA, BT / RdB Erfurt, 41497). 81 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 13. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 8. 12. 1989. 82 Vgl. SED - BL Leipzig : Für Leipziger Volkszeitung am 8. 12. 1989 : Kann der Runde Tisch gleich rund sein ( SächsStAL, SED - KL, 1815, Bl. 6–7); Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 22. 12. 1989. 83 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 30./31. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 8. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 30. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 21. 12. 1989; Protokoll der Beratung des Ausschusses zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Kreis Kamenz vom 19. 12. 1989 ( Ev. - Luth. Kirche Königsbrück ). 84 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 7. 12. 1989.

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Demonstrationen, Stasi - Besetzungen, Bürgerkomitees und Streiks (4.–6.12.)

Sicherheitspartnerschaften Die Aktion zur Bildung von Menschenketten am 3. Dezember hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Die Menschen waren durch ständige Meldungen über Aktenvernichtungen und Korruption aufgebracht. Der Landessprecherrat des Neuen Forums forderte am 3. Dezember zur Bildung von „Kontrollgruppen“ der Bevölkerung auf, die die Verbringung von Finanz - und Sachwerten ins Ausland und die Vernichtung von Akten verhindern sollten.85 Angesichts der Lage schloss Schwanitz als neuer Stasi - Chef „Terrorhandlungen, Geiselnahmen und ähnliches“ nicht mehr aus. Mit Blick auf den bevorstehenden Demonstrations - Montag am 4. Dezember befahl er volle Bereitschaft aller AfNS - Einheiten und verstärkte Objektsicherung. Nach dem Rücktritt des Politbüros und der Fahndung nach Schalck - Golodkowski sei mit Demonstrationen und Streiks zu rechnen, die „durch feindliche Kräfte bzw. kriminelle Elemente zu gewaltsamen Handlungen und Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit genutzt werden“ könnten.86 Am 28. November hatte das Kollegium einen Entwurf über die Arbeitsweise des AfNS gebilligt, der daraufhin von Krenz und Modrow bestätigt worden war.87 Das Konzept wurde am 3. Dezember von den Leitern der Bezirksämter erörtert88 und am nächsten Tag auf einer zentralen Dienstberatung vorgestellt. Eckpunkte waren die Reduzierung des Mitarbeiterbestandes um mehr als die Hälfte, die Auf lösung zahlreicher Diensteinheiten einschließlich aller Kreisämter, die Konzentrierung der Arbeit auf Spionage, Spionageabwehr, Aufklärung verfassungsfeindlicher Aktivitäten, Terrorabwehr sowie Observation und Ermittlungstätigkeit.89 Zugleich sollte deutlich gemacht werden, dass das AfNS „den Weg der revolutionären Erneuerung des Sozialismus in der DDR mitgestaltet und unterstützt“.90 Am 4. Dezember verabschiedete Schwanitz entsprechende vorläufige Grundsätze des AfNS,91 in denen im Sinne des Modrowschen Sozialismuskonzeptes die Zurückdrängung der Demokratiebewegung als ein wesentliches Ziel benannt wurde. Zwar wurde nun das Wirken als staatliches Organ betont, zahlreiche ideologische Floskeln aber zeigten, dass bei aller angeblichen 85 Vgl. DA, 23 (1990), S. 162. 86 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 3. 12. 1989 ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 704). 87 Vgl. Zur Erläuterung im Kollegium vom 28. 11. 1989 ( ebd., SdM 1997, Bl. 337–346). 88 Vgl. Aufgabe und Struktur des AfNS, [ handschr. Vermerk :] Beratung m. Leitern d. BÄ vom 3. 12. 1989 ( ebd., ZAIG 7528, Bl. 9–24); Süß, Entmachtung, S. 137. 89 Inter view mit Günter Möller. In : Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi. In : VOX, Spiegel TV Special vom 12. 1. 1996 um 22.05–22.45 Uhr. 90 Aufgabe und Struktur des AfNS, [ handschr. Vermerk :] Beratung m. Leitern d. BÄ vom 3. 12. 1989 ( BStU, ZA, ZAIG 7528, Bl. 13 und 23). 91 Vorläufige Grundsätze für Aufgaben und Strukturen des AfNS vom 4. 12. 1989 ( ebd., 103643). Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, Dok. 132, S. 630–644.

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Trennung von Staat und Partei die ideologische Orientierung auf den Sozialismus das bestimmende Element blieb. Wie der Begriff „vorläufige Grundsätze“ andeutete, hatte die beschlossene Struktur nur vorläufigen Charakter. Bereits Ende November hatten Modrow, Wolf, Großmann, Schwanitz und andere beschlossen, das Amt in einem nächsten Schritt in einen Verfassungsschutz und einen zivilen Nachrichtendienst zu trennen.92 Diese internen Beschlüsse hatten keinen Einfluss auf die eskalierenden Proteste. Hauptkristallisationspunkte waren nun Objekte des AfNS. Fast überall in der DDR zogen Demonstranten an den Kreisämtern vorbei und forderten die Auf lösung des AfNS. Angesichts der Ereignisse verhandelten Vertreter der Regierung, darunter Schwanitz, am Vormittag des 4. Dezember mit Vertretern des Neuen Forums, der SDP, der IFM, von DJ und vom DA.93 Dabei einigten sich beide Seiten darauf, künftig Demonstrationen durch die Volkspolizei absichern und unterstützen zu lassen und gemeinsam zur Gewaltlosigkeit aufzufordern. Vereinbart wurde, dass die Regierung die Vernichtung von Akten und Datenträgern beendet und die Opposition dazu beitragen werde, Streiks zu verhindern. Diese „Sicherheitspartnerschaft zwischen Demonstranten und Polizei“94 resultierte seitens der Bürgergruppen aus der Überzeugung, dass die Kontrolle und Zerschlagung der Staatssicherheit auf friedlichem Wege nur in Kooperation mit der Volkspolizei und der Staatsanwaltschaft möglich sei. Es sollte verhindert werden, dass Mitarbeiter des AfNS zur Selbstverteidigung, womöglich mit Waffengewalt, übergingen und es zu Formen der Selbstjustiz kommen würde. Nach dem Treffen wurde ein Aufruf veröffentlicht, in dem zur Bildung von Bürgerkomitees aufgerufen wurde, die in Sicherheitspartnerschaft mit den staatlichen Organen Kontrollaufgaben wahrnehmen, Beweismaterial sichern und bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mitarbeiten sollten.95 Schwanitz befahl nun den Bezirks - und Kreisämtern, „jegliche Vernichtung und jeglichen Transport, einschließlich Kurierfahrten von dienstlichen Unterlagen zu stoppen“ und informierte die Medien. Er regte an, auch in den Bezirken „Gespräche im Interesse einer Sicherheitspartnerschaft stattfinden“ zu lassen. Zugleich befahl er, den Zutritt „unberechtigter Personen“ unbedingt zu verhindern und dazu alle zur Verfügung stehenden Mittel wie Löscheinrichtungen und die „übergebenen speziellen Mittel“ zum Einsatz zu bringen. Untersagt wurde weiterhin jede gezielte Schusswaffenanwendung.96 Generalmajor Coburger notierte in sein Diensttagebuch : „Im Notfall Warnschüsse – keine Zielschüsse.

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Vgl. Siebenmorgen, Staatssicherheit, S. 332. Vgl. Worst, Das Ende, S. 251. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 67. Aufruf der Initiativgruppe vom 4. 12. 1989 ( BStU, ZA, 103648). Vgl. Interview mit Konrad Weiß. In : taz vom 6. 12. 1989; Neues Deutschland vom 5. 12. 1989. 96 AfNS, Schwanitz, an Leiter der BÄfNS und KÄfNS vom 4. 12. 1989 ( BStU, ZA, 103648). In : Pechmann / Vogel ( Hg.), Abgesang, S. 377.

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Reizsprays werden ausgegeben – aber nur, wenn gewaltsam über Mauer.“97 Das AfNS war bereit, seine Dienstobjekte zu verteidigen. Während sich die Staatssicherheit verbarrikadierte, bildeten sich in Bezirks und Kreisstädten Bürgerkomitees, Räte für Volkskontrolle und Kommissionen. Sie setzten sich in der Regel aus Bürgervertretern, Staatsanwälten, Regierungsabgesandten, Volkspolizisten und Mitarbeitern des AfNS zusammen. Sie wurden durch die Regierung legitimiert, zwischen staatlichen Stellen und der Bevölkerung zu vermitteln.98 Diese Legitimierung war mit der Auf lage verbunden, sich an die Verfassung zu halten und an der „Erneuerung des Sozialismus“ mitzuwirken.99 Die Bürgerkomitees entstanden in der Regel spontan aus der revolutionären Situation heraus. Ihre Legitimierung durch den Staat und die sich in ihnen vollziehende Zusammenarbeit gab ihnen jedoch bald eine neue Form. Sie setzten sich nun sowohl aus Vertretern der revoltierenden Bürger als auch der untergehenden Staatsmacht zusammen. Die sich damit in ihnen manifestierende Sicherheitspartnerschaft drückte den Willen beider Seiten aus, Gewalt zu vermeiden, um so die Entwicklung im jeweils eigenen Sinne zu beeinflussen. Sie hatten maßgeblichen Einfluss auf den weitgehend friedlichen Charakter der gesamten weiteren Entwicklung. Der Preis dieser Gewaltlosigkeit war allerdings, dass SED und MfS die Friedlichkeit zum Erhalt ihres Einflusses nutzten. Die Sicherheitspartnerschaft war dadurch „mitverantwortlich dafür, dass große Teile des alten Apparates den geordneten Rückzug antreten und bis zum Sommer 1990 viele Spuren ihres unheilvollen Wirkens löschen konnten“.100 Vielerorts gelang es MfS - Mitarbeitern, sich in die Bürgerkomitees zur Auf lösung des AfNS einzuschleichen. In Dresden z. B. erwies sich nur der Leiter des Komitees als unbelastet.101 Es konnte aber durchaus auch passieren, dass in den Bürgerkomitees die Vertreter des Staates ganz offiziell dominierten. Der hohe Grad der Durchdringung bzw. staatlichen Beeinflussung hatte natürlich auf die Handlungen und öffentlichen Erklärungen der Komitees erheblichen Einfluss. Die Vereinbarungen über eine Sicherheitspartnerschaft sorgten zwar für eine Reduzierung der Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten, konnten aber die Besetzung der Bezirks - und Kreisämter selbst nicht mehr verhindern. In der gesamten DDR drangen aufgebrachte Bürger zu Hunderten in zahlreiche Kreisämter sowie in einige Bezirksämter ein, um unter Einbeziehung von Staatsanwälten die Vernichtung weiterer Beweismittel zu unterbinden. Panzerschränke und Räum-

97 AfNS, Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 11). 98 Vgl. Bürgerkomitee Sachsen - Anhalt e. V. In : Horch und Guck, (1992) 3, S. 40. 99 Ordnung über die Tätigkeit von Bürgerkomitees ( Entwurf ), o. D. ( BStU, ZAIG 7942, Bl. 1–3). 100 Gauck, Die Stasi - Akten, S. 80. 101 Vgl. Schlomann, Die Maulwürfe, S. 69.

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lichkeiten wurden besichtigt und versiegelt.102 Als erstes Bezirksamt wurde das in Erfurt besetzt. Am 5. Dezember ging die Besetzung der Bezirks - und Kreisämter weiter. Nach Meinung Joachim Gaucks handelte es sich bei den Aktionen um „revolutionäre Höhepunkte“ der gesamten Entwicklung.103 Herbert Wagner meinte, dieser Tag sei das Datum gewesen, an dem die Wende unumkehrbar vollzogen wurde.104 Der Führung des AfNS stand das Wasser bis zum Hals. Intern gab es im AfNS Proteste gegen Schwanitz und die unveränderte Leitungshierarchie. Schwanitz sei zum neuen Leiter bestimmt worden, so wurde nun kritisiert, obwohl er noch Anfang Oktober in Berlin gewaltsame Einsätze gegen Demonstranten befehligt hatte.105 Am 5. Dezember forderte der Untersuchungsausschuss für Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch von Modrow seine sofortige Ablösung. Ähnliche Forderungen kamen auch aus den Diensteinheiten. So verlangte z. B. die SED - Grundorganisation des Kreisamtes Leipzig die Absetzung von Schwanitz, eine demokratische Neubesetzung und - strukturierung des AfNS und bot den Bürgerkomitees Hilfe und Unterstützung an. Die AfNS - Mitarbeiter erklärten, sie fühlten sich von ihrer bisherigen Führung „verraten und verkauft“.106 Modrow teilte zwar verbal die Bedenken, bat, um seine Position nicht zu schwächen, aber darum, Schwanitz im Amt zu belassen, da das AfNS ohnehin bald aufgelöst werde und der General damit aus der Regierung verschwinde.107 Damit behielt der frühere Stellvertreter Mielkes mit Hilfe Modrows die Möglichkeit, innerhalb des AfNS weiterhin in seinem Sinne aktiv zu werden. Allerdings kam Modrow nicht mehr umhin, mit personellen Änderungen in der Führung des AfNS zu reagieren. Das Kollegium des AfNS trat daher am 5. Dezember zurück. Zwei der ehemaligen Stellvertreter des Ministers, Rudi Mittig und Gerhard Neiber, sowie 17 Leiter größerer Dienstbereiche des AfNS wurden von ihren Funktionen entbunden und aus dem aktiven Dienst beurlaubt.108 In ihren Ämtern blieben trotz aller Proteste Gerhard Niebling, Edgar Braun und Schwanitz selbst. Zur gleichen Zeit wurden formal sämtliche Kreisämter für Nationale Sicherheit geschlossen und etliche Leiter von Bezirksämtern durch jüngere Nachwuchskader ersetzt. Angesichts der Kontrolle der Kreis - und Bezirksämter setzte Stasi - Chef Schwanitz am 6. Dezember seine Strategie fort, einerseits die Arbeitsfähigkeit

102 Vgl. AfNS vom 4. 12. 1989 : Info über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobjekten von BÄfNS und KÄfNS ( ABL, FVS Dresden, Parteiinform. BV - BL, Min. – SED, MfS an Politbüro ); Berliner Zeitung vom 6. 12. 1989. 103 Aussage Joachim Gauck. In : Am Tag, als die Stasizentrale gestürmt wurde. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.45 Uhr. 104 Vgl. Wagner, Die Novemberrevolution in Dresden, S. 14 f. 105 Vgl. Klemm, Korruption, S. 41. 106 SED - GO des KAfNS Leipzig - Land an das Neue Forum Leipzig vom 5. 12. 1989 ( ABL, H. XI Auf lösung Stasi ). 107 Vgl. Klemm, Korruption, S. 42 f. 108 AfNS, Leiter vom 6. 12. 1989 : Befehl 4896/89 ( BStU, ZA, Sekr. d. Min. 2275, Bl. 12 f.).

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der Ämter zu gewährleisten und diese vor Kontrolle zu sichern sowie andererseits die Vernichtung wichtiger Unterlagen fortzusetzen. In diesem Sinne schlug er eine Gesprächsrunde mit Vertretern des Landessprecherrates des Neuen Forums vor, nannte aber als Voraussetzung, es dürfte „keine Beeinträchtigung der normalen Arbeit meines Amtes“ mehr erfolgen.109 Zu diesem Zeitpunkt waren in zahlreichen Bezirksämtern entweder keine Arbeitsmöglichkeiten mehr gegeben ( Cottbus, Dresden, Rostock und Suhl ) oder sie waren eingeschränkt. Weitgehend ungehindert arbeiteten nur die Bezirksämter in Gera, Karl - Marx Stadt, Magdeburg, Neubrandenburg, Potsdam und Schwerin.110 Vor allem ging es Schwanitz darum, wichtige Staatsgeheimnisse zu schützen. Der Geheimnisschutz wichtiger Unterlagen sollte „unter Ausschöpfung aller dazu geeigneter Möglichkeiten“ sichergestellt werden, Kontrollgruppen waren nur belanglose Unterlagen vorzulegen. Auf jeden Fall sei „mit angemessenen Mitteln zu verhindern, dass unberechtigte Personen Einsicht in Staatsgeheimnisse“ nehmen. Dazu gehörten „in jedem Fall“ IM - Unterlagen, Dokumente zur Aufklärung und Spionageabwehr, Grundlagenbefehle, Materialien über das Datenverbundsystem der Geheimdienste und Sicherheitsorgane sozialistischer Staaten sowie über Operative Vorgänge und Personenkontrollen.111 Auf Weisung Modrows ordnete Innenminister Ahrendt die Sicherung aller Bezirksämter des AfNS und lageabhängig der Kreisämter durch Kräfte der Volkspolizei in Kooperation mit Bürgerkomitees an. Er befahl, den Zugang auf festgelegte Personen zu beschränken, die Vernichtung von Akten zu verhindern und in Zusammenarbeit mit den Räten der Bezirke und der Staatsanwaltschaft „die Tätigkeit der Bürgerkomitees anzuleiten“.112 Ahrendt definierte als politisches Ziel des Ministeriums und der Volkspolizei die „Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR“, wandte sich jedoch gegen „Ausuferungen dieses evolutionären Prozesses“. Es gelte, „alles zu tun, um den Sozialismus zu retten“.113 Die Berliner Führungsgruppe des Neuen Forums begrüßte die Kooperation mit den staatlichen Organen. Der Landessprecherrat erklärte in einem von Bärbel Bohley, Sebastian Pflugbeil, Jens Reich, Reinhard Schult und Klaus Wolfram unterzeichneten Aufruf, die Bürgerkontrolle der Staatssicherheit sei ein wichtiger Schritt zur Demokratisierung der Gesellschaft. Justizorgane und Volkspolizei begännen, mit den Bürgerkomitees zusammenzuarbeiten. Das Neue Forum erklärte seine Unterstützung für die Kontrollaktionen in allen Städ109 Leiter des AfNS, Schwanitz an Sprecherrat des Neuen Forums vom 6. 12. 1989 ( ebd., ZKG 128, Bl. 313). 110 Vgl. AfNS, ZOS vom 6. 12. 1989 : Arbeitsmöglichkeiten der Bezirksämter ( ebd., Bl. 71 f.). 111 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 6. 12. 1989 ( ebd., ZA, SDM 2275, Bl. 166–168). Vgl. Zwei Anweisungen des Leiters des AfNS Berlin an die Leiter der Bezirksämter und Passkontrolleinheiten vom 7. 12. 1989. In : Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst VI, S. 75; Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 54 f.; Worst, Das Ende, S. 27. 112 MdI, Ahrendt, an Chefs der BDVP 1–16 vom 6. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 113 BDVP Leipzig an VPKÄ vom 6. 12. 1989 : Schreiben des Ministers ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840).

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ten und begrüßte die Gewaltlosigkeit auf beiden Seiten.114 So war die Situation am 6. Dezember davon geprägt, dass überall in den Bezirks - und Kreisstädten Vertreter der neuen politischen Kräfte und staatlicher Stellen gemeinsam die Ämter für Nationale Sicherheit kontrollierten, Räume versiegelten und deeskalierend auf Demonstranten einwirkten. Es lag in der Logik der staatlichen Vorgehensweise, dass sich die Vertreter der Ämter für Nationale Sicherheit wenig kooperativ zeigten. In den meisten Fällen nutzten sie die Kooperationsbereitschaft und Gutwilligkeit der Bürgervertreter im Sinne ihrer Verzögerungs - und Verschleierungstaktik aus. Parallel zur Besetzung und Kontrolle vieler Bezirks - und Kreisämter des AfNS spitzte sich die Lage bei den Demonstrationen zu. Die vorgetragenen Meinungen waren polarisiert, der Streit ging für und wider deutsche Einheit. Schwarz - rot - goldene Fahnen bestimmten mehr und mehr das Bild. Mehr als zwei Drittel der Demonstranten setzten sich für die deutsche Einheit ein.115 Während die Bevölkerung von Anhängern eines erneuerten Sozialismus und des Erhalts der DDR als nationalistisch und rechtsextrem beschimpft wurde, stellte diese nun SED und sozialistisch orientierte neue Gruppen gemeinsam in die „rote Ecke“.116 Reformsozialisten wurden ausgepfiffen und als „WandlitzKinder“, „ideologische Klugscheißer“ oder „rote Ratten“ beschimpft.117 Gewaltbereitschaft Die Gewaltbereitschaft von Teilen der Demonstranten gegen die SED, die von ihr gelenkten staatlichen Institutionen bzw. gegen Funktionäre der Partei - und Staatsführung stieg.118 In Löbau wurde z. B. einem Mitarbeiter der SED - Kreisleitung anonym gedroht, ihn und seine ganze Familie nebst Kindern zu erhängen.119 In Leipzig wurde ein SED - Mitglied tätlich angegriffen, das sich um ein Parteitagsmandat beworben hatte. Anonyme Telefonanrufe in Parteileitungen versetzten die dort Beschäftigten Mitarbeiter in Angst und Schrecken.120 Dem Kreiskrankenhauses Wurzen wurde anonym gedroht, die Poliklinik in die Luft zu sprengen.121 In Dresden wurde ein MfS - Mitarbeiter von einer Gruppe von etwa 50 Bürgern aus dem Auto gezerrt und beinahe gelyncht.122 Hier wurden nach Angaben von Schwanitz Wohngebäude von MfS - Mitarbeitern an der 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 55. So Modrow gegenüber Momper. Vgl. Momper, Grenzfall, S. 231. Vgl. Hofmann / Rink, Der Leipziger Aufbruch, S. 120 f. Das deutsche Jahr, S. 10. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 359 f. Vgl. SED - KL Löbau vom 5. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. SED - KL Leipzig - Nordost vom 6. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 204–206). 121 Vgl. MdI, Abteilung Polizeiangelegenheiten : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 138 f.). 122 Vgl. Das Volk vom 15. 12. 1989.

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Bautzner Straße „faktisch umstellt“. Es herrschte „Sippenhaft“ für die Angehörigen.123 Demonstranten riefen : „Kommt raus, ihr roten Schweine“ und warfen Steine in die Fensterscheiben.124 Einzelne MfS - Mitarbeiter begingen Suizid oder endeten in der Nervenklinik.125 Auch Objekte und Einrichtungen der NVA wurden im Raum Dresden Ziele von Übergriffen. Die DDR - Regierung rief am 6. Dezember zu Ruhe und Besonnenheit auf. Die Einrichtungen der NVA würden allein der Verteidigung der DDR dienen.126 Auch Schwanitz forderte die Bevölkerung auf, die Übergriffe einzustellen.127 Umgekehrt gab es auch Morddrohungen gegenüber Vertretern neuer Gruppierungen. In Leipzig wurde einem SDP - Aktivisten anonym gedroht, weil er den Bürgerkrieg wolle, Kommunistenhetze betreibe und mit der SDP „die Klasse aller Werktätigen“ spalte. Auf einem Zettel stand ein unmissverständlicher Hinweis auf den unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Werner Lamberz.128 Angesichts der Gewalteskalation riefen neben dem Neuen Forum auch die SDP129 und die Leitung der Ev. - Luth. Landeskirche in Sachsen zur Gewaltlosigkeit auf. Mit Sorge beobachte man, dass viele Stimmen der Rache laut würden und die Suche nach Schuldigen viele Menschen in Furcht versetze.130 Gewaltbereitschaft gab es natürlich nicht nur in Sachsen. Im RAW „8. Mai“ in Eberswalde war an der Wandzeitung zu lesen, Funktionäre von SED, MfS und FDGB seien Hochverräter, die die Todesstrafe verdienten. Der Kaderabteilung des VEB Chemiefaserwerke Premnitz wurde Gewalt angedroht, wenn weiterhin SED - Funktionäre oder MfS - Mitarbeiter eingestellt würden.131 Die SED - Presse, die gerade noch Gewalt gegen Demonstranten gelobt hatte, zeigte sich nun angesichts der Übergriffe gegen MfS - Mitarbeiter und SED - Funktionäre besorgt. Bezirke und Kreise Bezirk / Stadt Dresden : Bei einer spontanen Protestkundgebung forderten am 4. Dezember in Dresden mehrere Hundert Menschen vom Bezirksstaatsanwalt, die Aktenvernichtung zu verhindern.132 Einen Tag später wurde in der Bezirkshauptstadt das Gebäude des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit in der Bautz-

123 Zit. in taz vom 8. 12. 1989. 124 Der Spiegel vom 18. 12. 1989. 125 Vgl. Markus Wolf, In eigenem Auftrag, S. 300. Zu Suiziden während der friedlichen Revolution generell vgl. Grasshof, „In einem Anfall von Depression ...“, S. 236–245. 126 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 8. 12. 1989. 127 Vgl. Junge Welt vom 8. 12. 1989. 128 Vgl. Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. 129 ADN vom 7. 12. 1989. 130 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 60. 131 Vgl. Das Volk vom 15. 12. 1989. 132 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 5. 12. 1989; Bericht zur Auf lösung des MfS im Bezirk Dresden, o. D. ( PB Hubertus Wolf ).

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ner Straße besetzt.133 Bei einem Gespräch zwischen der Volkspolizei und Dieter Reinfried, Arnold Vaatz vom Neuen Forum sowie Johannes Pohl vom DA am Vormittag des 5. Dezember erwirkten die Vertreter der Opposition eine Anzeige gegen das Bezirksamt für Nationale Sicherheit. Der Leiter der Bezirkskriminalpolizei und der Militärstaatsanwalt wurden eingeschaltet. Mit deren Hilfe begann um 13.00 Uhr im Beisein von Bürgervertretern die Versiegelung der Räume des Bezirksamtes. Nach dem Treffen hatte der 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Karl - Walter Richter, Modrow aufgefordert, sofort Maßnahmen zum Schutz der Unterlagen des Bezirksamtes, der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und der zuständigen Kontroll - und Justizorgane zu veranlassen, da der Verdacht unkontrollierter Vernichtung bestehe. Er wurde ersucht, Vertretern von Bürgerinitiativen, unabhängigen Untersuchungsausschüssen und der Staatsanwaltschaft den Zutritt zu allen Diensträumen des Bezirksamtes und der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei zu gewähren.134 Da das Zutrauen in die Vertreter der Staatsmacht nicht sehr ausgeprägt war, riefen Vaatz und Wagner die Bevölkerung über den Sender Dresden auf, sich ab 17.00 Uhr zu einer gewaltfreien Aktion vor dem Gebäude des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit einzufinden. Im Laufe des Nachmittags wuchs der Druck der Demonstranten vor dem Tor. Demonstranten riefen „Wir wollen rein“, „Aufmachen“, „Lügner“. Auf Plakaten forderten Bürger : „Ich will meine Akte selbst vernichten“. Gegen 17.00 Uhr besetzten ca. 5 000 Bürger das Bezirksamt. Auf Vorschlag von Superintendent Ziemer wurden 50 Bürger ausgewählt, welche die U - Haft besichtigten. Es wurde ein Bürgerkomitee gebildet, das gemeinsam mit der Volkspolizei die Objektsicherung übernahm. Generalmajor Horst Böhm wurde entwaffnet und unter „Hausarrest“ gestellt. Sein Nachfolger wurde der bisherige Stellvertreter Böhms für Aufklärung und Leiter der Abteilung XV, Herbert Köhler. Erst nachdem Vaatz die Losung ausgegeben hatte : „Jeder, der Gewalt anwendet, ist ein Stasi“, konnte ein Blutbad verhindert werden.135 Am Nachmittag wurde auch die Funkstation der Staatssicherheit am Dachsberg besetzt. Hier war das Neue Forum aus Langebrück federführend.136 Auch vor nahegelegenen Objekten des KGB versammelten sich Demonstranten. Hier hielt Geheimdienstoffizier Putin sie von Übergriffen gegen sowjetische Einrichtungen ab.137 Laut Wagner erklärte er dabei „Ich bin Soldat bis zum Tod.“138 Ab 22.00 Uhr wurden Kräfte der Volkspolizei herangeführt, 133 Vgl. Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 180–182; Weinke / Hacke, U - Haft, S. 140–150. Hier auch zur folgenden Auf lösung und zum Umgang mit dem Erbe, S. 151–164. 134 Vgl. RdB Dresden, Vorsitzender, an Hans Modrow, o. D. ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46141, Bl. 18). 135 Vgl. Inter view mit Christoff Andrich am 11. 8.1994. Im Februar 1990 beging Böhm Selbstmord. 136 Vgl. Interview mit Dieter Brandes am 8./9. 8. 1994; Die Union vom 7. 12. 1989. 137 Putin, First Person, S. 76 f. 138 Podiumsdiskussion „Der heiße Herbst 1989“ am 10. 10. 2007 in der Buchhandlung Dresden Buch, Mitschrift d. A.

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die „in Sicherheitspartnerschaft mit den Bürgern“ die weitere Sicherung des Objektes an der Bautzner Straße übernahmen. Alle Mitarbeiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit mussten das Objekt bis zum Morgen des 6. Dezember verlassen. Von nun an stand das Objekt unter Kontrolle der Volkspolizei in Zusammenarbeit mit Bürgervertretern. Am Vormittag des 6. Dezember übernahm eine Bürgerinitiative, bestehend aus Mitgliedern der Gruppe der 20, einer Gruppe der 4 und des Neuen Forums die Objektsicherung. Bei einer Begehung des fast völlig arbeitsunfähigen Bezirksamtes139 verweigerten die zuständigen Offiziere jedoch jede Mitarbeit. Überall zeigten sich Spuren bereits vollzogener Vernichtung von Unterlagen.140 Am Nachmittag fand eine erste Beratung der Bürgervertreter mit der Regierungskommission aus Berlin statt, bei der es um die Bildung einer gemeinsamen Kommission ging.141 Dieter Stein, Beauftragter des Ministerpräsidenten, erklärte, künftig dürften keine Unterlagen mehr verschwinden. Die Arbeit des Amtes müsse wieder in Gang kommen.142 Bautzen : An einer Kundgebung in Bautzen am 4. Dezember beteiligten sich ca. 2 300 Teilnehmer. Auf Transparenten wurden die deutsche Einheit, die Auflösung der Kampfgruppen sowie die Einsetzung einer Kommission gefordert, die im Kreis Fälle von Machtmissbrauch und Korruption untersucht. Ein anschließender Demonstrationszug zog zur StVE Bautzen II und forderte die Freilassung politischer Gefangener.143 Neben dem angrenzenden Gebäude des Kreisamtes für Nationale Sicherheit postierte sich eine Mahnwache. Demonstranten stellten Kerzen auf. Nach immer neuen Meldungen über die Vernichtung von Akten versammelten sich am Nachmittag des 5. Dezember erneut ca. 1 000 Demonstranten vor dem Kreisamt für Nationale Sicherheit. Eine auf Initiative des Neuen Forums gegründete Bürgerinitiative reichte Anzeige wegen des Verdachts der Aktenvernichtung ein, woraufhin einige Personen und der Kreisstaatsanwalt Zutritt erhielten. Man begann mit der Versiegelung von Schränken und Zimmern. Auf Druck der Demonstranten mussten gegen 17.00 Uhr die Tore geöffnet werden und die Demonstranten verteilten sich über einen Großteils des Gebäudes. Im Konferenzsaal wurde eine Gesprächsrunde organisiert. In einigen Räumen fand man verkohlte Papierreste. Auch im Hof von Bautzen II waren noch kurz zuvor große Mengen Aktenmaterial verbrannt worden. Die Volkspolizei übernahm nach Abzug der Demonstranten spät in der Nacht die Sicherung des Gebäudes.144 139 Vgl. MfS, ZOS vom 6.–7. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, XXII 828, Bl. 17–21). 140 Vgl. Verzögert und dummgestellt. In : Die Union vom 8. 12. 1989; Fricke, Zur Abschaffung, S. 60. 141 Vgl. 1. Bericht der gemeinsamen Kommission aus Bürgervertretern und Beauftragten der Regierung der DDR im ehemaligen AfNS, Dresden vom 3. 1. 1990 ( HAIT, KA 7, Auf lösung MfS / AfNS 12/89–10/90). 142 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 7. 12. 1989. 143 Vgl. KAfNS Bautzen vom 4. 12. 1989 : Demonstration im Stadtgebiet Bautzen ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 3, Bl. 7); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 6. 12. 1989. 144 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129).

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Bischofswerda : Bei einer ersten Beratung am Runden Tisch beschlossen in Bischofswerda Vertreter aller Parteien und des Neuen Forums am 4. Dezember, das Gebäude des Kreisamtes für Nationale Sicherheit künftig für kommunale Zwecke zu nutzen. Am Nachmittag des nächsten Tages erhielten einige Mitglieder des Neuen Forums in Anwesenheit des Kreisstaatsanwaltes und von Volkspolizei - Offizieren Zutritt zum Gebäude des AfNS. Die Volkspolizei richtete eine ständige Ein - und Ausfahrkontrolle ein. Bei einem Gespräch mit dem Leiter des Amtes bestritt dieser, dass Akten ausgelagert worden seien. Der Kreisstaatsanwalt versiegelte Behältnisse und Räume, in denen Akten aufbewahrt wurden.145 In Dippoldiswalde wurden von Vertretern des Neuen Forums, Bürgern und der Kriminalpolizei im Kreisamt für Nationale Sicherheit am 6. Dezember Aktenschränke versiegelt bzw. deren Inhalt sichergestellt.146 Freital : In Freital besichtigten am 5. Dezember ein Vertreter der Kreisstaatsanwaltschaft, Angehörige der Volkspolizei, des Rates des Kreises, des Neuen Forums und der Gruppe der 25 wegen des Verdachtes der Aktenvernichtung das Objekt des Kreisamtes für Nationale Sicherheit. Der Leiter der Dienststelle erklärte dabei, es seien in den letzten Tagen nur Kaderakten und Schulungsmaterial ausgelagert und keine Akten vernichtet worden. Allerdings wurden zwei Papierhäcksler und ein Sack mit Papierabfällen gefunden. Schränke und Räume wurden versiegelt. Das Neue Forum und engagierte Bürger organisierten eine Objektbewachung und prüften weitere Hinweise auf Objekte des AfNS und zur Aktenvernichtung. Am 6. Dezember beteiligten sich über 2 000 Einwohner an einer Demonstration des Neuen Forums unter dem Motto „Geheime und freie Wahlen“. Es wurde ein Gegenvorschlag zum Aufruf „Für unser Land“ verlesen, der den Zehn - Punkte - Plan unterstützte und sich für einen Volksentscheid über die Frage der deutschen Einheit aussprach.147 Am selben Tag wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit durch einen Staatsanwalt und Vertreter des Neuen Forums versiegelt und anschließend rund um die Uhr von einem Volkspolizei - Angehörigen und einem Bürgervertreter gesichert.148 Görlitz : 1,80 Meter breit und über sieben Meter lang war die Losung „Die Stasi muss hier raus, macht ein Altersheim daraus“, die Unbekannte am 4. Dezember direkt am Objekt des Kreisamtes für Nationale Sicherheit Görlitz angebracht hatten.149 Das wäre wohl kurz zuvor ebenso undenkbar gewesen wie die Tatsache, dass einen Tag später auch hier Vertreter des Neuen Forums das Objekt besichtigten, um eine Vernichtung von Akten zu verhindern. Wie in fast allen Kreisen nahmen der Kreisstaatsanwalt und Vertreter des Volkspolizeikreis-

145 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 7. 12. 1989; VPKA Bischofswerda vom 5.–6. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsHStA, BDVP, I, I /280 VPKA Bischofswerda ). 146 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 8. 12. 1989. 147 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 8. 12. 1989. 148 Vgl. Revolutionäre Ereignisse auch in Rabenau. In : Ortsblatt Rabenau 11 vom 15. 11. 1994. 149 KDfS Görlitz vom 4. 12. 1989 : Info ( BStU, ASt. Dresden, AKG, 7002, 3, Bl. 5).

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amtes daran teil. Es wurden Panzerschränke und Diensträume versiegelt und die Bürger informiert.150 Großenhain : In Großenhain wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit am 5. Dezember durch den Kreisstaatsanwalt, Vertreter der Großenhainer Bürgerinitiative und des Neuen Forums besichtigt. Zwei Räume mit Nachrichtentechnik durften nicht betreten werden. Alle Panzerschränke wurden versiegelt, und es wurden keine Hinweise auf eine Aktenvernichtung gefunden.151 Am 6. Dezember ging es beim Gespräch mit den Leitern des Volkspolizeikreisamtes und des Kreisamtes für Nationale Sicherheit um die Auflösung der Kampfgruppen, der SED - Grundorganisationen der Volkspolizei, die Schließung des AfNS und die Umwandlung des Hauses der SED - Kreisleitung in ein Kinderheim.152 Am selben Tag forderten in Zabeltitz - Treugeböhla die Einwohner u. a. freie Wahlen und die Bestrafung von Schuldigen.153 Die Lage im Kreis Großenhain war vom „stärker werdenden Ruf von Bürgern, darunter Arbeitern aus der materiellen Produktion aus unserem Kreis nach Wiedervereinigung“ geprägt.154 Auf der Lokalseite der „Sächsischen Zeitung“ wurde über entsprechende Forderungen von Arbeitern des VEB Elmo Großenhain diskutiert.155 Kamenz : In Kamenz konstituierte sich am 1. Dezember ein Bürgerforum.156 Am 4. Dezember demonstrierten hier ca. 600 Personen vorbei an den Gebäuden des Volkspolizeikreisamtes, der SED - Kreisleitung und des Kreisamtes für Nationale Sicherheit. Bei einer Kundgebung stellte sich das neue Sekretariat der Kreisleitung der Diskussion, wurde jedoch durch Sprechchöre wie „Abtreten“ und „Auflösen“ am Sprechen gehindert. „Im Vergleich zu vorangegangenen Montagen“, so die SED - Kreisleitung, „war der Charakter dieser Demonstration aggressiv.“ Die Einladung zu einem Runden Tisch durch die SED - Kreisleitung wurde durch die Bürgerinitiative Kamenz abgelehnt.157 Auch die Volkspolizei registrierte den Trend, „dass die Forderungen aggressiver werden“ und Rufe nach Wiedervereinigung und Abschaffung der „Stasi“ sowie der Kampfgruppen lauter würden. Außerdem nähmen zielgerichtete Angriffe gegen „besonders kategorisierte Objekte“ zu.158 Am 6. Dezember besichtigten Bürger mit der Kreisstaatsanwältin das MfS - Nachrichtenobjekt „Lager Schwosdorf“ sowie ein Waffenlager im Staatsreservelager Schwosdorf.159 150 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 7. 12. 1989. 151 Vgl. Protokoll über die Schließung und Sicherung von Beweismitteln beim AfNS Großenhain vom 5. 12. 1989 ( Großenhain, Archiv Alte Lateinschule ); Großenhain im Aufbruch, S. 63; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 7. 12. 1989. 152 Vgl. SED - KL Großenhain vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 153 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 13. 12. 1989. 154 SED - KL Großenhain vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 155 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 6. 12. 1989. 156 Vgl. Chronik der Stadt Kamenz 1989 ( StA Kamenz ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13. 12. 1989. 157 SED - KL Kamenz vom 5. 12. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 158 PKA Kamenz vom 1.–7. 12. 1989 : Wochenlage ( ebd., I 359). 159 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 6. 12. 1989.

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Löbau : In Löbau kam es am Abend des 4. Dezember vor dem Kreisamt für Nationale Sicherheit „zur Zusammenrottung“ von ca. 20 Personen, die Einlass begehrten. Der Leiter des Amtes ließ drei Personen die Dienststelle betreten.160 Meißen : In Meißen führte die siebte Demonstration am 5. Dezember unter dem Thema „Der Staatsanwalt hat das Wort : Gegen Willkür und Gummiparagraphen“ zum Kreisgericht auf dem Burgberg. Hier stellte sich der Kreisstaatsanwalt den Bürgerfragen. „BRD - Fahnen sowie Einheitsforderungen“ zeigten, so „Die Union“, dass „die Bürgerbewegung in ein neues Stadium getreten“ war. Auf der Domorgel wurde die Nationalhymne der DDR gespielt, wozu die DemoTeilnehmer je nach persönlichen Zukunftserwartungen den DDR- oder BRDText sangen. Eine große Sachsenfahne am Torhaus des Bischofsschlosses demonstrierte den Wunsch nach Wiederherstellung der Länder. Am selben Tag wurden das Kreisamt für Nationale Sicherheit von Staatsanwälten, Vertretern des Volkspolizeikreisamtes und des Neuen Forums besichtigt und eine ständige gemeinsame Kontrolle schriftlich vereinbart.161 Niesky : In Klitten demonstrierten am 6. Dezember nach einem Aufruf der CDU und des Neuen Forums 400 Bürger dagegen, dass das Dorf dem Tagebau weichen muss.162 Pirna : Am 5. Dezember versiegelte der Kreisstaatsanwalt das Kreisamt für Nationale Sicherheit in Pirna, das sogenannte „Objekt Seminarstraße“. Am 6. Dezember erfolgte eine Kontrolle durch eine Bürgerkommission. Seitdem wurde das Gebäude durch die Volkspolizei bewacht und niemand hatte mehr Zutritt.163 Riesa : In Riesa betraten am 5. Dezember zwei Vertreter des Neuen Forums mit dem Kreisstaatsanwalt das Kreisamt für Nationale Sicherheit, um Panzerschränke und Zimmer zu versiegeln. Einsicht in Panzerschränke und der Zutritt in einige Dienstzimmer wurden nicht gewährt. Die Vertreter des Neuen Forums kündigten an, am 7. Dezember nach dem Gottesdienst eine Demonstration zum Kreisamt für Nationale Sicherheit Amtes zu organisieren, bekannten sich aber zugleich zur Sicherheitspartnerschaft.164 Zittau : In Zittau postierte sich am 4. Dezember vor der SED - Kreisleitung eine Mahnwache. Am Abend wurde auf hartnäckiges Drängen von ca. 35 Vertretern des Neuen Forums eine Abordnung im Besucherzimmer des Kreisamtes für Nationale Sicherheit im Beisein des Kreisstaatsanwaltes empfangen. Eine Kontrolle bzw. Besichtigung des Archivmaterials wurde verweigert. Die Vertreter forderten eine Volkskontrolle der Archive und stellten auch hier eine Mahn160 161 162 163 164

Vgl. SED - KL Löbau vom 5. 12. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Die Union, Ausgabe Meißen, vom 5. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 6. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 13. 12. 1989. Vgl. SED - KL Riesa vom 7. 12. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); Flugblatt Neues Forum – Aufruf zum Friedensgebet und zur Demonstration am 7. 12. 1989 (HAIT, Riesa ); Große Kreisstadt Riesa, Oberbürgermeister : Auf listung von Ereignissen, o. D. ( ebd.).

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wache vor dem Objekt auf.165 In der Nacht diskutierte der 1. Sekretär der SEDKreisleitung mit der Mahnwache vor der Kreisleitung über die Akten und eine eventuelle Vernichtung. Auf die Frage der Wiedervereinigung angesprochen lehnten alle Vertreter des Neuen Forums diese ab.166 Am Nachmittag des 5. Dezember fand dann in Zittau eine weitere, von CDU und Neuem Forum organisierte Kundgebung zum Thema „Machenschaften von SED - und Staatssicherheitsfunktionären aufklären !“ statt. Die Teilnehmer stimmten mehrheitlich der Forderung von Pfarrer Lothar Alisch aus Zittau zu, die SED zu verbieten. Pfarrer Heinz Eggert aus Oybin kritisierte den Aufruf „Für unser Land“. Der Kundgebung schloss sich eine Demonstration an, die an der SED - Kreisleitung vorbeiführte. Auf Transparenten wurde „SED - Mafia ins Zuchthaus“ und „Kampfgruppen sofort weg“ gefordert.167 Am 6. Dezember versiegelten der Kreisstaatsanwalt, sechs Vertreter des Neuen Forums, unter ihnen Alisch und Eggert, sowie die Mitarbeiterin für Kirchenfragen beim Rat des Kreises im Kreisamt für Nationale Sicherheit Aktenschränke und Räume. Hier gab es auch eine Mahnwache vor dem Gebäude der SED - Kreisleitung, mit der eine Beseitigung von Akten verhindert werden sollte.168 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : Das Neue Forum Hoyerswerda hatte für den 4. Dezember zu einer Demonstration und abschließender Kundgebung unter dem Motto „Von der Diktatur zur Demokratie – wo stehen wir ?“ aufgerufen.169 Daran nahmen ca. 600 Personen teil. Bei einer Dialogveranstaltung vor der SED- Kreisleitung gab es aggressiv vorgetragene Angriffe gegen SED, MfS und Volkspolizei sowie Aufrufe zum Streik im Gaskombinat Schwarze Pumpe.170 Nachdem in der Bevölkerung Hinweise kursierten, wonach Unterlagen des Kreisamtes für Nationale Sicherheit verbrannt worden waren, forderten am Abend des 5. Dezember ca. 40 Personen vor dem Kreisamt für Nationale Sicherheit eine Besichtigung des Objektes und Maßnahmen zur Verhinderung des Abtransportes und der Vernichtung von Unterlagen. Im Beisein eines Staatsanwaltes konnten nun einige Pfarrer und andere Bürger Teile der Dienststelle besichtigen. Hier fanden sich Hinweise auf einen Transport und die Vernichtung von Unterlagen. Der Leiter erklärte, bis zum 3. Dezember seien auf Weisung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Cottbus Akten vernichtet und in das Bezirksamt verbracht worden. Der Kreisstaatsanwalt versiegelte daraufhin verschiedene nicht zugängliche Räume.171 165 Vgl. MfS, ZOS vom 4.–5. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 271–272); AfNS vom 4. 12. 1989 : Info über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobjekten von BÄfNS und KÄfNS ( ABL, FVS Dresden Parteiinform. BV – BL, Min. – SED, MfS an Politbüro ). 166 Vgl. SED - KL Zittau vom 5. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 167 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 5. und 7. 12. 1989. 168 Vgl. ebd. vom 6. 12. 1989. 169 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 1. 12. 1989. 170 MfS, ZOS vom 4.–5. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 271–272); Lausitzer Rundschau vom 13. 12. 1990. 171 Vgl. MfS - Unterlagen, Protokoll vom 6. 12. 1989, Kreisstaatsanwalt Hoyerswerda vom 6. 12. 1989 ( PB Superintendent Vogel, Hoyerswerda ).

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Weißwasser : In Weißwasser wurde bei einem Friedensgebet am 5. Dezember beschlossen, die Panzerschränke der KANS zu versiegeln. Nach dem Friedensgebet begaben sich mehrere Bürger, darunter Volkskammerabgeordnete der Blockparteien, Vertreter des Neuen Forums, die Kreisstaatsanwältin und zwei Vertreter der Volkspolizei zur Kontrolle in das Kreisamt für Nationale Sicherheit.172 Bezirk / Stadt Leipzig : Zur Montagsdemonstration am 4. Dezember in Leipzig versammelten sich laut Volkspolizei - Angaben ca. 90 000,173 laut ADN rund 150 000 Menschen.174 Der Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei forderte zusätzliche Polizeikräfte der 6. Volkspolizei - Bereitschaft Halle an.175 Der Sprecher des Neuen Forums, Jürgen Tallig, erklärte bei einer Kundgebung, die Revolution sei in ihre zweite Phase eingetreten. Nach der Erkämpfung elementarer Grundrechte stehe nun die Entmachtung der SED auf der Tagesordnung. Die SED habe ihre Existenzberechtigung in einer neuen demokratischen Ordnung verwirkt. Ziel müsse ihre Auflösung sein, denn sie verkörpere Diktatur und Stagnation, egal wie sie sich auch wende. Erst nach Abschluss der Demokratisierung stehe die angestrebte staatliche Einheit auf der Tagesordnung. Gefordert wurde auch die Auflösung der Hilfsorganisationen der SED sowie ein Runder Tisch mit Entscheidungs - und Beschlusskompetenz als Übergangslösung, die Wahl einer verfassungs - und gesetzgebenden Versammlung anstelle der Volkskammer sowie Untersuchungskommissionen. Für den 15. Dezember wurde mit DDR - weiten Streikaktionen gedroht, wenn das AfNS seine Vernichtungsaktion von Unterlagen fortsetze.176 Bei der Demonstration kam es praktisch zu einer Spaltung. Verschiedene Meinungen stießen aufeinander.177 Studenten riefen „Für unser Land“ und beschimpften die Demonstranten, die sich für die deutsche Einheit einsetzten, als Nazis. Diese wiederum riefen „Rote aus den Demos raus“. Es kam zu Tumulten.178 Ein Demonstrant warf den „Wiedervereinigern“ vor, sie trauten sich erst jetzt raus, nachdem „wir“ „die Straße freidemonstriert“ hätten.179 Das suggerierte, die Forderung nach deutscher Einheit käme von Personengruppen, die sich bislang nicht an den Demonstrationen beteiligt hatten. In der SED - Bezirksleitung sah man den „Rechtsruck der Montagsdemonstrationen“ mit Sorge.180

172 173 174 175 176 177 178 179 180

BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 264 und 271–272. BDVP Leipzig vom 4.–5. 12. 1989 : Rapport ( SächsStAL, BDVP, Rapporte ). Vgl. ausführlich Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 591–648. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 89 f.). Rede Jürgen Tallig, Neues Forum Leipzig, Montagsdemonstration am 4. 12. 1989 ( ABL, H. XIX /1). Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Lage, Material zur Sitzung des Ministerrats am 7. 12. 1989 (BArch Berlin, DO 1, 52444). Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 66; Rein, Die protestantische Revolution, S. 305 f. Tetzner, Leipziger Ring, S. 72. SED - SBL Leipzig - Mitte vom 4. 12. 1989 : Tagesinformation ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 182, 185).

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Bild 53: Besetzung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Leipzig am 4.12. 1989.

Die Stimmung bei der Demonstration war so aggressiv, dass eine gewaltsame Stürmung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit möglich schien.181 Noch bevor sich die Demonstranten vor der „Runden Ecke“, dem Bezirkssitz der Staatssicherheit versammelten, begaben sich Vertreter des Bürgerkomitees in das Gebäude, wo sie mit dem Leiter, Hummitzsch, über die Übernahme und Kontrolle des Bezirksamtes verhandelten. Ab 19.00 Uhr versammelten sich erste Menschengruppen vor dem Bezirksamt.182 In seinem Arbeitsbuch notierte Hummitzsch am 4. Dezember : „Türen Fenster so verbarrikadieren, dass keiner reinkommt – grundsätzlich keine Schusswaffen – alle anderen Hilfsmittel – die BdVP – VP - Kräfte von außen – wir müssen diesen Montag überstehen – Ruhe, Besonnenheit, nicht durchdrehen.“183 Gegenüber den Vertretern der Demonstranten zeigten sich Sprecher des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit wenig kooperativ. Erst als das Bürgerkomitee drohte, auf der Montagsdemonstration bekannt zu geben, dass sich das Bezirksamt weigere, das Gebäude an die Bürger zu übergeben, gestatteten sie, einen Staatsanwalt zu holen, weitere Personen in das Gebäude zu lassen und eine Lautsprecheranlage zu installieren. Der Staatsanwalt wurde durch die Bürgervertreter veranlasst, etwa die Hälfte der Diensträume zu versiegeln. Mit sei181 Zur Besetzung des BAfNS in Leipzig vgl. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 117– 128; Hollitzer, Besitzstandswahrung, S. 143–155. 182 Vgl. BDVP Leipzig vom 4.–5. 12. 1989 : Rapport ( SächsStAL, BDVP, Rapporte ). 183 Reprint in Stasi intern, S. 51.

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ner Unterstützung gelang es den Offizieren freilich auch, den Zugang zu wichtigen Dokumenten zu verhindern.184 Noch in der Nacht wurde im Bezirksamt ein unabhängiges „Bürgerkomitee Leipzig zur Auf lösung des ehemaligen MfS / AfNS“ gebildet, das die Kontrolle der Akten und der weiteren Verwendung der Einrichtungen sowie der Entlassung der Mitarbeiter übernahm.185 Bereits am nächsten Tag erlebten die Vertreter des Bürgerkomitees, was die Vereinbarungen in der Praxis wert waren. Trotz Vereinbarungen mit der Regierung kam es im Bezirksamt für Nationale Sicherheit Leipzig in der Nacht zum 5. Dezember zur Vernichtung von Unterlagen und zum Siegelbruch.186 Der Leiter des Bezirksamtes erklärte, er habe die Anweisung erhalten, „alle alten, im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit ver wendeten Schulungs - und Weiterbildungsmaterialien sowie weiteres Material zu vernichten, deren gesetzlich vorgeschriebene Verweilzeit abgelaufen sei“.187 Niemand konnte mehr kontrollieren, welche Unterlagen zerstört worden waren. Das Verwirrspiel der Regierung, das auf eine Lähmung und Kontrolle der Arbeit der Bürgerinitiativen zielte, begann zu wirken. Die Bürgervertreter mussten die Haltung des Amtsleiters unter Protest zur Kenntnis zu nehmen. Täuschungsmanöver waren auch in den Kreisen an der Tagesordnung. In der Nacht zum 6. Dezember übernahm die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei die Bewachung des Gebäudes. Ab Mitternacht wurden auch sämtliche Kreisämter durch die Volkspolizei gesichert.188 Bereits in der Nacht zum 5. Dezember hatten in Leipzig Vertreter von Bürgerkomitees aus verschiedenen Bezirken beschlossen, auch die Unterlagen in den Bezirks - und Kreisleitungen, der SED zu sichern, die Rückschlüsse für eine Anleitung des MfS durch die SED erlaubten. Daraufhin kam es in einigen Städten auch zu Versiegelungsaktionen in Einrichtungen der SED.189 In der Nacht zum 6. Dezember übernahm die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig die Bewachung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit.190 Das Bürgerkomitee Leipzig versuchte am 6. Dezember, Archive und Beweismaterial sicherzustellen und Verschleierungsversuche zu verhindern. Es setzte sich dafür ein, auch die Parteien und den FDGB in die Kontrolle einzubeziehen191 und beschloss zudem, die Militär - und Bezirksstaatsanwaltschaft mit Ermittlungs - und Sicherstellungsmaßnahmen sowie die Volkspolizei mit Wachaufgaben zu betreuen. Im Sinne des zentral ausgehandelten Kompromisses mit staatlichen Vertretern wurde zudem vereinbart, neben der Schließung der 184 Im Diensttagebuch des Leiters der BVfS Leipzig hieß es am 5. 12. 1989 : „Kompliment und Dank an alle – Sicherheit u( nd ) Konspiration der Dokumente gewährleistet.“ In : Stasi intern, S. 51. 185 Vgl. Von Leipzig, S. 39 f.; Sächsisches Tageblatt vom 6. 12. 1989. 186 Vgl. Langner, Zehn Tage, S. 5; Kabus, Auftrag Windrose, S. 79–83; Tetzner, Leipziger Ring, S. 70. 187 Zit. bei Kabus, Auftrag Windrose, S. 79–83. Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 70. 188 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 97). 189 Vgl. Der Beauftragte des Chefs der BdVP Leipzig vom 10. 1. 1990 ( ebd., 52444). 190 Vgl. Langner, Zehn Tage, S. 2. 191 Der Beauftragte des Chefs der BdVP Leipzig vom 10. 1. 1990, III /827–E116 ( BArch Berlin, DO 1, 52444).

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Bezirks - und Kreisämter die Arbeitsfähigkeit von „Bereichen nationaler Sicherheit“ zu gewährleisten.192 Die Mitglieder des Bürgerkomitees Leipzig waren sich einig, die Arbeitsfähigkeit des Bezirksamtes niederzuhalten und die Vernichtung von Akten zu unterbinden, dabei aber die Bereiche Aufklärung und Spionage nicht zu gefährden.193 Dennoch war die Arbeitsfähigkeit des Bezirksamtes so stark eingeschränkt,194 dass dessen Leiter Hummitzsch der Regierung die sofortige Einstellung der Tätigkeit des Amtes vorschlug. Dem wurde wenig später stattgegeben.195 Probleme hatte das Bürgerkomitee Leipzig auch mit etlichen Kreisämtern, die nach ihrer Auf lösung nur einen geringen Teil der Akten an das Bezirksamt lieferten.196 Überall wurde unter Hochdruck an der Aktenvernichtung gearbeitet. Altenburg : Auf Initiative des Neuen Forums erfolgte am 5. Dezember in Altenburg im Beisein des Kreisstaatsanwalts, von Vertretern der Kriminalpolizei und der Kirchen die Versiegelung von Aktenschränken in zwei Objekten des AfNS. Am Abend beteiligten sich an einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration ca. 1 500 Menschen. Sie forderten eine Offenlegung der MfS Tätigkeit sowie einen Unabhängigen Untersuchungsausschuss und riefen in Sprechchören „Deutschland einig Vaterland“.197 Borna : In Borna kontrollierten am 6. Dezember Mitglieder des Neuen Forums und zwei Staatsanwälte das Kreisamt. Der Zugang zu nachrichtentechnischen Räumen wurde verwehrt. In einer schriftlichen Stellungnahme erklärten die Mitarbeiter, man nehme den Zorn des Volkes zur Kenntnis, sehe die Schuld aber bei der verfehlten Sicherheitspolitik der Regierung. Der Leiter des Kreisamtes erklärte, man habe „zur Gewährleistung eines Neuanfanges“ alle Akten aus der Zeit vor dem 4. November im Reißwolf vernichtet.198 Delitzsch : An Friedensandachten beteiligten sich am 4. Dezember in Delitzsch rund 1 300 Personen.199 Döbeln : An einer Montagsdemonstration in Döbeln beteiligten sich am 4. Dezember nach einem Gottesdienst ca. 3 500 Teilnehmer. Ein Sprecher des Neuen Forums forderte ein Verbot der SED. Durch Redner und auf Transparenten wurde die Wiedervereinigung gefordert. Am nächsten Tag verlangten 192 Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich innere Sicherheit vom 6. 12. 1989, 23.00 Uhr ( ABL, H. IV, Bürgerkomitee Leipzig ). 193 Vgl. Langner, Zehn Tage im Dezember, S. 3. 194 Vgl. AfNS, ZOS : Arbeitsmöglichkeiten der Bezirksämter, o. D. ( BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 71). 195 Vgl. BAfS Leipzig vom 24. 1. 1990 : Hauptaufgaben der ehem. BVfS Leipzig ( BAfNS Leipzig ) und der ehem. KDfS ( KÄfNS ), zu deren Durchsetzung notwendige Strukturen sowie zum Stand der Auf lösung ( BStU, ASt. Leipzig, Leitung 744, Bl. 1–16). 196 Vgl. Langner, Zehn Tage, S. 8. 197 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 7. 12. 1989. 198 Neues Forum Borna vom 12. 12. 1989 : Räume inspiziert – Akten vernichtet ( Museum Borna, Herbst 89, Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna, 1999). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 12. 12. 1989. 199 Vgl. Montagsandachten ( StV / Museum Schloss Delitzsch ).

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hier Bürger eine Sicherung des AfNS - Gebäudes und der SED - Kreisleitung. Der Kreisstaatsanwalt verwies auf die Versiegelung und Bewachung des Gebäudes des Kreisamtes für Nationale Sicherheit durch die Volkspolizei. Eine Versiegelung von SED - Räumen sei erst bei konkretem Verdacht auf Verschleierung und Gesetzesverletzung möglich.200 Geithain : Aus Geithain meldete der Leiter des Volkspolizeikreisamtes am 4. Dezember einen geplanten „Angriff auf das Amt für nationale Sicherheit“.201 Oschatz : Im Dezember fanden im Oschatzer Kino zwei Versammlungen statt, die sich mit der Rolle des MfS befassten. Am 4. Dezember war das Kino fast vollständig besetzt. Die Bevölkerung brachte ihre Verbitterung zum Ausdruck. Die meisten Redner forderten, Korruption und Machtmissbrauch schonungslos offen zu legen, die Kampfgruppen und das AfNS aufzulösen, geheime und freie Wahlen durchzuführen und die Betriebsparteiorganisationen der SED zu beseitigen. Immer wieder wurde die Diskussion von Wutausbrüchen einzelner Redner begleitet. Vor dem Gebäude der Staatssicherheit wurde eine Mahnwache aufgestellt. Auf Plakaten hieß es : „Wann zieht die Stasi endlich aus – die Rentner brauchen dieses Haus ! Wir helfen gern beim Ausräumen. Neues Forum“ und „Da wo noch Stasi - Leute sind fordern Christen ein Haus für Mutter und Kind !“ Während der Nacht stellte das Volkspolizeikreisamt „zur Überwachung KDfS wegen Personen - und Kfz - Bewegung bis 5.12. 89 gg. 08 Uhr“ Posten auf. Dieser Hinweis deutet darauf hin, dass die Mitarbeiter der Kreisdienststelle die Nacht vor der angekündigten Begehung und nach dem Ende der Mahnwache nutzten, um mit Billigung der Volkspolizei Unterlagen aus dem Gebäude abzutransportieren. Am 5. Dezember folgte eine Begehung des Gebäudes. Daran waren neben Vertretern der Parteien, der Kreisstaatsanwalt, Vertreter des Neuen Forums und der „Leipziger Volkszeitung“ sowie Pfarrer Berthold Zehme beteiligt. Der Kreisdienststellenleiter erklärte alles sei vernichtet worden, „was unter heutigen Gesichtspunkten nicht mehr unter Staatsfeindlichkeit zu verstehen“ sei. Damit war klar, dass alle belastenden Unterlagen über die Observierung von „Staatsfeinden“ bis in den Herbst 1989 bereits vernichtet worden waren. Nach Auskunft eines Mitarbeiters wurden alle brisanten Unterlagen bereits im November vernichtet. Dafür hätten sich MfS - Mitarbeiter sowjetische Uniformen besorgt, seien so in die sowjetische Kaserne am Dresdner Berg gefahren und hätten in der dortigen Heizung die Unterlagen verbrannt. In der Nacht zum 6. Dezember übernahm die Volkspolizei die Sicherung der Dienststelle. Aus Sicht des Oschatzer Bürgerkomitees sollte sie verhindern, dass Dokumente weggeschafft wurden. Der Volkspolizei - Bericht über die Nacht zuvor zeigte jedoch, dass die Volkspolizei den Abtransport von Unterlagen deckte.202

200 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 6. und 8. 12. 1989. 201 VPKA Geithain vom 4.–5. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458, Bl. 616). 202 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 102–105.

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Torgau : In Torgau gab Pfarrer Sachse, nachdem er erfahren hatte, dass Koffer aus dem Kreisamt für Nationale Sicherheit geschafft wurden, bei der Volkspolizei eine Anzeige auf. Auf Anfrage erhielt auch hier das Volkspolizeikreisamt die Weisung von der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit die Sicherung zu übernehmen und dabei mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen in Form einer Sicherheitspartnerschaft zusammenzuarbeiten. Am 6. Dezember fand eine vom „Torgauer Bürgerforum“ organisierte Demonstration mit anschließender Kundgebung unter dem Motto „Wir pfeifen die SED aus“ statt.203 Wurzen : Am 4. Dezember gingen ca. 5 000 Bürger in Wurzen auf die Straße. Am nächsten Tag wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit von einer Staatsanwältin unter Beteiligung von Bürgerinitiativen wie des Neuen Forums und der „Initiativgruppe Demo“ aufgelöst und versiegelt. Gefunden wurden im Wesentlichen nur leere Aktendeckel und Kampfuniformen in versiegelten Schränken.204 Bezirk / Stadt Karl - Marx - Stadt : Eine Besetzung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit wie in Dresden erfolgte in Karl - Marx - Stadt nicht. Bereits am 29. November konnten Vertreter der Bürgerinitiative des Karl - Marx - Städter Stadtteils Adelsberg einige Räume der dortigen Dienststelle des Bezirksamtes besichtigen.205 Die „Freie Presse“ berichtete darüber. Ungeachtet solchen Entgegenkommens nahm der Druck vor allem auf die Kreisämter für Nationale Sicherheit zu. Überall in den Kreisen vermuteten Mitglieder der Bürgerinitiativen Aktenvernichtungen und begannen die Arbeit der Staatssicherheit zu überwachen.206 Angesichts der Entwicklung fragte Gehlert bei Schwanitz an, was mit den in den Kreisämtern lagernden Waffen geschehen solle,207 versetzte doch der Gedanke eines Zugriffs durch Demonstranten und Mitglieder von Bürgerkomitees einige Mitarbeiter in Panik.208 In Karl - Marx - Stadt forderten am 4. Dezember bei der vom Neuen Forum organisierten Montagsdemonstration rund 60 000 Menschen die Wiedervereinigung, einen Freistaat Sachsen und die Rückbenennung der Stadt in Chemnitz. Die Demonstranten trugen etliche „Fahnen der BRD“.209 203 Vgl. VPKA Torgau vom 4.–5. und 5.–6. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Torgau, 7339, Bl. 488–490). 204 Vgl. Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989 ( HAIT, Wurzen ); Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 138 f. 205 Notiz über die Mitteilung des Obersts Johannes Seifert vom 29. 11. 1989, Arbeitsbuch Oberstleutnant Dieter Ullmann ( BStU, ASt. Chemnitz, II - 282, Bl. 37 f.). Vgl. Horsch, Das kann, S. 50; Freie Presse vom 1. 12. 1989. 206 Vgl. BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 5. 12. 1989 : Aktennotiz und Rapportmeldung ( BStU, ASt. Chemnitz, L 296). 207 Vgl. Leiter des BAfNS Karl - Marx - Stadt an AfNS vom 5. 12. 1989 ( ebd., L 188, Bl. 3). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 50. 208 Mitschnitt der Dienstversammlung des Leiters des BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 4. 12. 1989 ( ebd., Tonband 1130480). 209 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4.–5. 12. 1989 : Info ( ebd., 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 96–106); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 276. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 6. 12. 1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Annaberg : In Oberwiesenthal kam es am 4. Dezember zu einer Kundgebung mit ca. 200 Teilnehmern, die sich mehrheitlich für eine Wiedervereinigung aussprachen und erklärten, die SED habe nur „Schimpf und Schande“ gebracht.210 Auch in Crottendorf gingen rund 200 Personen auf die Straße. In beiden Orten gab es Sprechchöre gegen SED und AfNS sowie für „Deutschland einig Vaterland“. In Annaberg fragten Bürger in der SED - Kreisleitung, beim Volkspolizeikreisamt sowie im Kreisamt für Nationale Sicherheit an, ob Pressemeldungen über eine Aktenvernichtung stimmen. Die Kreisstaatsanwältin wurde aufgefordert, die Panzerschränke im Kreisamt für Nationale Sicherheit zu versiegeln.211 Aue : In Aue berichtete Superintendent Gilbert bei einem Fürbittgottesdienst in der St. Nikolai - Kirche am 4. Dezember, der Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit habe ihn über die bevorstehende Auflösung der Kreisämter informiert. Anschließend demonstrierten rund 5 000 Personen am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei und stellten Kerzen ab. Sprechchöre und Losungen richteten sich gegen SED und AfNS und forderten deutsche Einheit.212 Auch in Zwönitz forderten die Demonstranten am nächsten Tag „Deutschland einig Vaterland“ und trugen schwarz - rot - goldene Fahnen ohne „Spalterwappen“.213 In Aue kontrollierten auf Initiative von NDPD, LDPD und Neuem Forum am 5. Dezember Bürger in Gegenwart der Kreisstaatsanwältin die Tresore des Kreisamtes für Nationale Sicherheit. Auch hier waren die Akten in den letzten Tagen in das Bezirksamt für Nationale Sicherheit nach Karl - Marx - Stadt verbracht worden.214 Flöha : Im Kreisamt für Nationale Sicherheit Flöha und in der SED - Kreisleitung wurden am 6. Dezember Schränke und Räume durch den Kreisstaatsanwalt sichergestellt und versiegelt. Die Volkspolizei übernahm die Kontrolle.215 Glauchau : Am 4. Dezember demonstrierten in Meerane nach einem Fürbittgottesdienst mit ca. 400 Teilnehmern ca. 250 Personen für die Einheit Deutschlands und gegen die Parteiorganisationen der SED in den Betrieben.216 Klingenthal : Am 4. Dezember demonstrierten in Klingenthal ca. 6 000 Bürger für Wiedervereinigung und gegen die SED.217 Am Abend des 5. Dezember besetzten Vertreter der Jungen Gemeinde, der Bürgerinitiative ( BIK ) und Pfarrer Meinel das Kreisamt für Nationale Sicherheit. Anwesend waren der Leiter des Volkspolizeikreisamtes sowie ein Staatsanwalt. Ihnen wurde ein Protestschreiben der Mitarbeiter gegen Erich Honecker und Amtsmissbrauch zur Kenntnis gegeben. Bei einer Kontrolle wurde festgestellt, dass alle Akten entwe210 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4.–5. 12. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 96–106). 211 KAfNS Annaberg vom 5. 12. 1989 : Parteiaustritte ( ebd., AKG 2148, 1, Bl. 46–48). 212 Vgl. KAfNS Aue vom 4. 12. 1989 : Demonstration ( ebd., Bl. 54 f.). 213 Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). 214 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 7. 12. 1989. 215 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 6. 12. 1989. 216 Vgl. BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4.–5. 12. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 96–106); BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 276. 217 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 99, 101, 105).

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der vernichtet oder nach Hartenstein in ein unterirdisches Depot des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit verbracht worden waren. Der Staatsanwalt versiegelte Räume und Panzerschränke, in denen noch Akten waren. Der Leiter des Amtes informierte, das Kreisamt für Nationale Sicherheit werde in den nächsten Tagen aufgelöst.218 In Markneukirchen demonstrierten am 6. Dezember 2 500 Personen für „Deutschland einig Vaterland“ und die Räumung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die SED. Eine Demonstration mit 800 Teilnehmern gab es auch in Schöneck. Hier wurden eine „härtere Gangart des Neuen Forums“ und baldige Wahlen gefordert.219 Oelsnitz : Auf einer Kundgebung forderten am 4. Dezember in Oelsnitz 2 000 Menschen einen Volksentscheid über die Zukunft beider deutscher Staaten. Ein Demonstrationszug marschierte am Kreisamt für Nationale Sicherheit vorbei und skandierte Sprechchöre wie „Faulenzer“ und „Verbrecher“.220 Hier hatte das Neue Forum angekündigt, nach der Demonstration das Kreisamt stürmen zu wollen.221 Am 6. Dezember stellte ein Untersuchungsausschuss die Verbrennung von Material des Kreisamtes für Nationale Sicherheit in Tirschendorf fest. Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft leiteten Ermittlungen ein. Der Leiter des Kreisamtes erklärte, eine Vernichtung sei ausgeschlossen, da alle Unterlagen unter Verschluss und versiegelt seien.222 Stadt Plauen : In Plauen demonstrierten am 5. Dezember Werktätige des VEB Werkzeugmaschinenwerk, des VEB Kabelwerk und des Konsument-Warenhauses mit Forderungen nach Wiedervereinigung und einem Aufruf, jeden Mittwoch zu demonstrieren.223 Reichenbach : In Reichenbach gab es am 6. Dezember eine Kundgebung, bei der sich der amtierende Bürgermeister für die Anweisung im Oktober, die Daten der Einwohner zu erfassen, die Kerzen in Fenster gestellt hatten, entschuldigte.224 Rochlitz : In Penig demonstrierten am 5. Dezember ca. 300 Personen durch den Ort. Dem Demonstrationszug wurde eine schwarz - rot - goldene Fahne vorangetragen. Sprechchöre forderten „SED raus aus den Betrieben“ und „Kampfgruppen weg“. Während der anschließenden Kundgebung sprachen Vertreter des Rates der Stadt zu kommunalen Problemen. Es erfolgte eine klare Distanzierung von Aufrufen zum Generalstreik.225 218 Vgl. Protokoll der Aussage Pfarrer Meinels im Pfarrhaus Schneeberg vom 17. 8. 1998 (Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 8. 12. 1989. 219 Ebd. 220 MfS, ZOS vom 4.–5. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 270–280). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 6. 12. 1989. 221 Vgl. Leiter des BAfNS Karl - Marx - Stadt an Leiter des AfNS vom 4. 12. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, Mappe Herbst 1989). 222 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 8. 12. 1989. 223 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 99, 101, 105). 224 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 8. 12. 1989. 225 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 5.–6. 12. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 103–106).

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Schwarzenberg : In Schwarzenberg fand am 4. Dezember eine Kundgebung mit anschließender Demonstration von ca. 3 000 Teilnehmern statt. Hauptthemen der Kundgebung waren Korruption und Amtsmissbrauch sowie die Zukunft des Landes. SPD - Vertreter sprachen sich für soziale Marktwirtschaft aus. Ein Vertreter des Neuem Forums sprach von „niederschmetternden Sozialismus - Versuchen“ und wurde von „Deutschland, Deutschland“-Rufen unterbrochen. Fünf Personen erhielten anschließend Zutritt zum Kreisamt für Nationale Sicherheit, wo sie Gespräche mit den Mitarbeitern führten und Räume besichtigten. Im Objekt Jagdschänkenstraße des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit konnten am nächsten Morgen Mitglieder der Bürgerbewegung das Dienstgebäude und das Archiv besichtigen.226 Werdau : An einer Kundgebung auf dem Werdauer Markt und einer anschließenden Demonstration nahmen am 4. Dezember rund 6 000 Personen teil. Es gab SED - kritische Transparente und Forderungen nach deutscher Einheit. Vertreter der SED wurden ausgepfiffen. Der 1. Sekretär der SED - Kreisleitung kündigte eine Reduzierung des Apparates und den Rückzug der SED aus den Betrieben an. Die Kampfgruppen sollten künftig nicht mehr unter SED - Befehl stehen und nur noch dem Schutz von Volkseigentum dienen. Ein Vertreter des Volkspolizeikreisamtes entschuldigte sich für den Polizeieinsatz bei Kundgebungen Anfang Oktober. „Diskussionsredner aus dem kirchlichen Raum“ sprachen sich gegen eine Wiedervereinigung aus.227 Am nächsten Tag informierte der Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit Presse und Öffentlichkeit in der „Villa auf dem Berg“ über die Umstrukturierung, die damit zusammenhängende Auslagerung von Akten, die Vernichtung alter Befehle und die bevorstehende Übergabe von Waffen und Munition an das Volkspolizeikreisamt.228 Zschopau : In Zschopau wurden Versiegelungen im Kreisamt für Nationale Sicherheit vorgenommen.229 Zwickau : Nach einem Friedensgebet am 4. Dezember in der ev. - luth. Pauluskirche Zwickau beteiligten sich ca. 5 000 Menschen an einer Demonstration und Kundgebung auf dem Hauptmarkt. Vor der SED - Kreisleitung gab es Sprechchöre gegen die SED. Neben Transparenten wurden eine schwarz - rot goldene Fahne mit der Aufschrift „ Freies Deutschland“ mitgeführt und die Wiedervereinigung gefordert. Es gab Forderungen nach einer Umwandlung der Freitagsgespräche beim Oberbürgermeister in einen Runden Tisch, woraufhin bekannt gegeben wurde, dass in Zwickau am 15. Dezember Gespräche am Runden Tisch beginnen würden.230 226 BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 4.–5. 12. 1989 : Ereignisse ( ebd., AKG 419). Vgl. Horsch, Das kann, S. 50; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 6. 12. 1989. 227 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 4.–5. 12. 1989 : Info ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 96–106). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 6. 12. 1989. 228 Ebd. vom 8. 12. 1989. 229 Vgl. PB Matthias Zwarg : Sachsen 1989 ( HAIT, StKa ); Protokoll der Versiegelung des KAfNS Zschopau vom 6. 12. 1989 ( HAIT, Zschopau C5/ C6); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 8. 12. 1989. 230 Vgl. AfNS Zwickau vom 4. 12. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 52 f.); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 6. 12. 1989.

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Im Kreis Zwickau - Land besichtigten Vertreter der Hartensteiner Bürgerinitiative gemeinsam mit Journalisten der „Freien Presse“ ein ehemaliges Sprengmittellager der SDAG Wismut im Steiner Forst, das vom MfS genutzt worden war.231 Streiks Im Bezirk Karl - Marx - Stadt gab es Anfang Dezember vereinzelte Streiks, die sich jedoch nicht zu flächendeckenden Aktionen ausweiteten. Nach vereinzelten Aufrufen zum Warnstreik Ende November232 rief ein Sprecher des Neuen Forums des Bezirks Karl - Marx - Stadt am 1. Dezember für den 6. Dezember zum Generalstreik auf. Als Grund wurden Versuche der SED genannt, ihre Positionen zu festigen. Die SED wurde ultimativ aufgefordert, ihre Finanzen offen zu legen, das Prinzip der Trennung von Staat und Partei einzuführen, den Parteiapparat zu reduzieren, ihre Kampfgruppen aufzulösen und Fälle von Korruption und Machtmissbrauch zu bestrafen. Am 2. Dezember trafen sich in Berlin die beiden Leitungsgremien des Neuen Forums, der Sprecherrat der Bezirke und die Initiativgruppe um Bärbel Bohley. Von der Sorge geprägt, die Initiative im Lande zu verlieren, sprach sich die Runde gegen einen Generalstreik aus.233 Der Sprecherrat des Neuen Forums des Bezirks Karl - Marx - Stadt, der am Berliner Treffen nicht teilgenommen hatte, erklärte, der geplante Generalstreik werde nicht stattfinden, wenn bis dahin die Forderungen erfüllt seien. Zwei Tage später folgte eine Erklärung, der Aufruf stelle nicht die Auffassung des gesamten Sprecherrates dar, sondern sei das Ergebnis eines Alleingangs des Mitglieds Günter Bartsch. Er habe, einer Aufforderung aus Klingenthal folgend, zum Generalstreik aufgerufen. Der Sprecherrat distanzierte sich davon.234 Der Vorgang trug dazu bei, dass ein Generalstreik nun nur noch mit größter Zurückhaltung diskutiert wurde.235 Auch auf Kreisdelegiertenkonferenzen der SED wurde der Aufruf verurteilt und es wurden Protestkundgebungen angekündigt.236 FDGB - Vorsitzende Annelis Kimmel meinte, Streik dürfe nur das letzte Mittel sein.237 Auch FDGB - Kreisvorstände lehnten einen Generalstreik ab, der, so der Kreisvorstand Zschopau, pro Tag ca. 12,3 Mio. Mark kosten und die ökonomische Situation weiter verschärfen würde.238 In der Bevölkerung fand der Vorschlag, zu streiken, ebenfalls wenig Resonanz, ging man doch davon aus, ein 231 232 233 234 235 236 237 238

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 7. 12. 1989. Vgl. Kap. IV.1.2. Vgl. taz vom 4. 12. 1989. Erklärung des Sprecherrates des Neuen Forums Karl - Marx - Stadt zum Streikaufruf vom 2. 12. 1989. Abgedruckt in Gehrke / Hürtgen ( Hg.), Der betriebliche Aufbruch, S. 462. Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 34 und 49. Vgl. Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 256–258. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 5. 12. 1989. Vgl. Berliner Zeitung vom 2./3. 12. 1989; Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 27 f. Vgl. PB Matthias Zwarg : Sachsen 1989 ( HAIT, StKa ).

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Streik würde die eigene wirtschaftliche Lage weiter verschlechtern.239 Für die SDP wandte sich Markus Meckel gegen einen Generalstreik, kündigte jedoch an, seine Partei werde selbst zu Warnstreiks aufrufen, wenn ihren Forderungen am Runden Tisch nicht entsprochen werde.240 Dennoch war das Thema nicht ganz vom Tisch. Im VEB Plamag Plauen waren bereits am 1. Dezember alle Betriebe zum Streik am 4. Dezember und zum Generalstreik am 11. Dezember aufgerufen worden. Hauptforderungen waren Veränderungen in der Wirtschaft und die Wieder vereinigung.241 Am 5. Dezember bestätigte das Neue Forum Plauen seine Unterstützung von Streikaktionen. In einem Streikaufruf wurden die sofortige Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Anklage und Bestrafung von Machtmissbrauch, die Auf lösung der Kampfgruppen, eine vollständige Trennung von Partei und Betrieben, eine rigorose Reduzierung des SED - Parteiapparates, die Offenlegung des SEDParteivermögens, die Überstellung der Bausubstanzen des MfS an das Volk und der Zugang unabhängiger Gruppierungen zu den Medien ohne Zensur gefordert. Man rief zum Warnstreik, da bislang keiner der Punkte ernsthaft einer Lösung zugeführt worden sei.242 In Dresden bildete sich am 2. Dezember ein „Streikkomitee aller basidemokratischen Gruppen“, das für den 20. Dezember einen Generalstreik ankündigte.243 In Marienberg gab es am 5. Dezember Forderungen des Neuen Forums nach Rücktritt des Rates des Kreises, die mit einem Hinweis auf einen möglichen Warnstreik verbunden waren.244 Bürger versiegelten die Diensträume des Rates des Kreises.245 Der Rat des Kreises schlug daraufhin vor, am 9. Dezember am Runden Tisch über eine Neuformierung des Rates zu beraten.246 Das Neue Forum rief daraufhin zum Warnstreik am 14. Dezember auf, falls der Rat des Kreises nicht zurücktrete. Als Ausweg wurde eine kontrollierte Weiterarbeit unter strenger Kontrolle des Runden Tisches erwogen.247 Der Warnstreik wurde abgeblasen, nachdem der Rat des Kreises am 8. Dezember die Bereitschaft aller Mitglieder zur Aufgabe des Amtes im Zuge einer Neuordnung erklärte.248 Die Bürgerinitiative Klingenthal hatte 239 Vgl. SED - SBL Leipzig - Südwest vom 4. 12. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 192 f.); SED - SBL Leipzig - Mitte vom 4. 12. 1989 : Tagesinformation ( ebd., Bl. 182, 185). 240 ADN vom 7. 12. 1989. 241 Vgl. AfNS, ZOS vom 1.–2. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, XXII 828, Bl. 113–116). 242 Erklärung Neues Forum Plauen vom 5. 12. 1989. In : Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk, S. 68. 243 Erklärung für einen Generalstreik, Dresden vom 2. 12. 1989. Abgedruckt in Gehrke / Hürtgen ( Hg.), Der betriebliche Aufbruch, S. 463 f. 244 PB Herr Köhler ( StA Marienberg ). 245 Vgl. Mitschrift der Dienstversammlung des Leiters des BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 7. 12. 1989 im Arbeitsbuch von Major Bernd Clauß, S. 64 ( BStU, ASt. Chemnitz, M 89). 246 RdK Marienberg an Neues Forum vom 7. 12. 1989 ( PB Herr Köhler, StA Marienberg). 247 Mitteilung des Neuen Forums Marienberg : Warnstreik, o. D. ( PB Herr Köhler, StA Marienberg ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 7. 12. 1989. 248 Vgl. ebd. vom 13. 12. 1989.

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für den 6. Dezember zum zweistündigen Warnstreik aufgerufen. Damit verbundene Forderungen waren die sofortige Streichung des Machtmonopols der SED aus der Verfassung und die Vorlage von Entwürfen für Wahl - , Parteien - und Mediengesetze bis Mitte Dezember, konkrete Schritte zur freien Marktwirtschaft sowie sofortige Anklage und Bestrafung von Machtmissbrauch und Korruption auf allen Ebenen.249 Am 6. Dezember kam es daraufhin in Klingenthal in der Tat zum zweistündigen Warnstreik verbunden mit einer Kundgebung, bei der bis zu 8 000 Teilnehmer gegen eine „schleichende Erstarrung der Erneuerungsbewegung“ und neue Sozialismusexperimente protestierten, Deutschlandfahnen schwenkten und die Wiedervereinigung sowie die Auf lösung der SED forderten.250 Am 6. Dezember kam es auch im VEB Formenbau Schwarzenberg zum Warnstreik. Dem Streikkomitee gehörten u. a. der Vorsitzende des Rates des Kreises und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes an. Am Betriebstor hingen Plakate gegen die „SED - Mafia“.251 Für die weitere Entwicklung war es von Bedeutung, dass das Neue Forum auf seinem Koordinierungstreffen am 9. Dezember in Leipzig ausdrücklich auf die Durchführung eines Generalstreiks verzichtete und dafür plädierte, zunächst die Mittel des Runden Tisches zu nutzen. Erst nach dessen eventuellem Scheitern sollte zum Generalstreik aufgerufen werden.252 Damit war eine Richtungsentscheidung vorgenommen worden, die das „unentschiedene Kräfteverhältnis der Doppelherrschaft zwischen der ersten Modrow - Regierung und der am Runden Tisch gezähmten Opposition zur Folge“ hatte.253 Proteste in den Bautzener Strafvollzugsanstalten Im November griffen die Proteste auch auf die Strafvollzugsanstalten ( StVE ) über. Die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden hatte hier bereits Ende Oktober eine aus der politischen Lage resultierende „sehr hohe Risikobereitschaft der Strafgefangenen“ registriert. Es gab Bestrebungen, den „Dialogprozess auch in den StVE zum Tragen zu bringen“. In vereinzelten Aufrufen forderten Strafgefangene Veränderungen des Strafvollzuges.254 Ihr Unmut wuchs nach einer Amnestie - Entscheidung des Staatsrates vom 27. Oktober, die nur für Republikflüchtlinge galt. Dadurch wurden 2 262 Strafgefangene und 249 Bürgerinitiative Klingenberg vom 6. 12. 1989 : Aufruf zum Warnstreik ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 250 Vgl. PB Pfarrer Meinel ( ebd.); KAfNS Klingenthal vom 6. 12. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 16 und 41); BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 6. 12. 1989: Lage ( ebd., L 296); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 7. 12. 1989. 251 BVfS Karl - Marx - Stadt vom 6.–7. 12. 1989 : Rapport 338 ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 115). 252 DDR - weites Delegiertentreffen des Neuen Forums am 9. 12. 1989 in Leipzig. Abgedruckt in Gehrke / Hürtgen ( Hg.), Der betriebliche Aufbruch, S. 470 f. 253 Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 259. 254 BDVP Dresden vom 26. 10. 1989 : Lage im Monat Oktober 1989 ( ABL, EA 891026_1). Vgl. Fricke / Klewin, Bautzen II, S, 125–133.

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989 Verhaftete entlassen.255 In Bautzen I kamen von rund 2 000 Gefangenen lediglich 150 frei.256 Auch während des November hatten die Gefangenen die politische Entwicklung verfolgt und sehen können, wie die Menschen erstmals frei reisten. Noch immer gingen Reformen an den StVE vorbei. Ermutigt durch die Demonstrationen suchte man die Öffentlichkeit. Am 30. November besuchte ein Kamerateam von RTL Bautzen I, das „Gelbe Elend“. Nachdem ein Häftling eine Unmutserklärung über die Verhältnisse verlesen hatte, kam es zu Arbeitsiederlegungen und ersten Hungerstreiks.257 Die Lage eskalierte ab dem 1. Dezember, nachdem die Presse über Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch führender Funktionäre berichtete.258 In allen StVE legten Gefangene ihre Arbeit nieder und forderten eine Generalamnestie, die Abschaffung politisch motivierter Paragraphen des StGB, eine Wiedereingliederung ohne Auf lagen sowie bessere Haftbedingungen. In den folgenden Tagen kam es zur Bildung von Gefangenenräten, die die Forderungen gegenüber den Leitungen der StVE und der Öffentlichkeit vertraten.259 In Bautzen I beteiligten sich am 1. Dezember ca. 70 Prozent der Insassen am Hungerstreik. Es bildete sich ein Streikkomitee für die gesamte Anstalt, das einen Forderungskatalog formulierte. Verlangt wurden eine Generalamnestie, eine Schulden - und Vorstrafentilgung, die Bestrafung aller Verbrechen des SEDRegimes und die Herstellung von Öffentlichkeit. Der Leiter der Anstalt wandte sich an das Neue Forum Bautzen und bat um Vermittlung. Ullrich Keller vom Neuen Forum Bautzen sprach daraufhin mit dem Gefangenenkomitee.260 Am 2. Dezember besuchten Journalisten und Vertreter der Kirchen das „Gelbe Elend“ und wurden von den Häftlingen stürmisch begrüßt. Das Streikkomitee überreichte seinen Forderungskatalog, dem sich nun auch die Leitung und die Belegschaft der StVE anschloss.261 Presse - und Kirchenvertreter besichtigten dann auch Bautzen II. Angesichts des Zustandes der Häftlinge herrschten Beklommenheit und Wut über das Haftregime.262 In den nächsten Tagen wurde in den Medien über Bautzen I und II berichtet. In Bautzen I ging der Streik am 4. Dezember weiter. Einige Häftlinge drohten mit Selbstmord. Auch in Bautzen II, das direkt vom MfS geführt wurde, streikten die ersten Insassen. Nach Vorbild des „Gelben Elends“ wurde ein Gefangenenrat gebildet, der einen Forderungskatalog ausarbeitete und der Gefängnisleitung übergab. Am 4. Dezem255 Vgl. MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53614, Bl. 33 f.). 256 Vgl. Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ). 257 Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 258 Vgl. MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 259 Vgl. Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53617, Bl. 33). 260 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 261 Vgl. Sächsische Zeitung vom 4. 12. 1989. 262 Vgl. Eckhardt Schwarze / Thomas Ode ( Häftlinge Bautzen I ), Chronik des Arbeits - und Hungerstreiks in der STVE Bautzen I vom 14. 12. 1989. In : Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ).

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ber kam es vor der StVE Bautzen II zu einer Kundgebung von ca. 2 000 Personen für die Freilassung der Inhaftierten.263 Auch vor den Toren des „Gelben Elends“ wurden Kerzen aufgestellt. Hier drohten unterdessen Häftlinge in einer Produktionshalle für Mähdrescherteile Fässer mit explosivem Fahrzeuglack in die Luft zu sprengen. „Die Lunten waren gelegt. Es ging tatsächlich um Leben und Tod“, erinnert sich der amtierende Anstaltsleiter Frank Hiekel. Eine Explosion der Fässer hätte auch benachbarte Wohnhäuser nicht verschont. Das Gefängnis glich am Abend einer belagerten Festung. Weil die Situation außer Kontrolle geriet, zog die Volkspolizei ein Großaufgebot zusammen, um einen Aufstand oder Massenausbruch gewaltsam verhindern zu können. „Wir rechneten damit, dass die Gefangenen Schlösser und Tore zerstören“, beschreibt Hiekel die Situation. Am 5. Dezember wurde die Stahltür, die das Gefängnis Bautzen II mit der Dienststelle des MfS verband, zugeschweißt. Am Abend besetzten Bautzener Bürger das Kreisamt für Nationale Sicherheit und beendeten dessen unheilvolles Wirken. Noch am 5. Dezember forderte Frank Hiekel vom Vorsitzenden des Staatsrates, Manfred Gerlach, eine sofortige Amnestie Entscheidung, und erklärte ansonsten sei Bautzen I „nicht mehr zu halten“.264 Am nächsten Tag gab das Neue Forum bekannt, man habe von der Regierung eine sofortige Überprüfung der Haftbedingungen in Bautzen II gefordert. Erneut besuchten Vertreter des Neuen Forums, der Presse und der CDU Bautzen II. Das Gefangenenkomitee wiederholte seine Forderung nach Generalamnestie und ging mit der Gefängnisleitung eine Sicherheitspartnerschaft ein.265 Am 6. Dezember begaben sich auch die verbliebenen Kommandos Küche, Heizwerk und Medizinischer Dienst in den Hungerstreik, insgesamt waren das nun mehr als zwei Drittel der Häftlinge. Gegenüber Reportern, die Bautzen II besuchten, erklärten Insassen, man werde noch bis zum späten Nachmittag auf eine Amnestie warten, danach mit Gewalt antworten und versuchen, auszubrechen.266 Das Wachpersonal war längst nicht mehr Herr der Lage. Da auch Diabetiker jede Nahrungsaufnahme sowie Insulinspritzen ver weigerten, rechnete die Anstaltsleitung innerhalb der nächsten 24 Stunden mit über zehn Toten, was die Situation weiter angeheizt hätte. Nach Einschätzung der Polizeiführung waren durch den inzwischen sechstägigen Hungerstreik von ca. 1780 Strafgefangenen „akute Gefahren für deren Gesundheit und Leben“ eingetreten.267 Nachdem am späten Nachmittag aus Berlin noch immer keine Signale einer Amnestie kamen, brachen die ersten Inhaftierten aus ihren Zellen aus. Wärter und Streikkomitee verloren endgültig die Kontrolle. 263 Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Lage, Material zur Sitzung des Ministerrats am 7. 12. 1989 (BArch Berlin, DO 1, 52444). 264 Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ). 265 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 9./10. 12. 1989. 266 Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Lage, Material für die Sitzung des Ministerrats am 7. 12. 1989, S. 6 ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 267 MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( ebd.). Vgl. Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53614, Bl. 33 f.).

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Ähnlich wie in Bautzen war die Lage in anderen StVE, wo ab dem 5. Dezember nicht mehr gearbeitet und oft die Nahrungsaufnahme ver weigert wurde. Insgesamt kam es an diesem Tag zu 6 900 Nahrungsverweigerungen.268 Besonders zugespitzt war die Lage in den StVE Brandenburg, Bützow, Rüdersdorf und Regis - Breitingen.269 Während im ganzen Lande Kreisämter für Nationale Sicherheit besetzt wurden, traten in Sachsen nicht nur in Bautzen sondern auch in der JVA Waldheim270 sowie in den StVE Plauen, Karl - Marx - Stadt und Stollberg die meisten Gefangenen in einen Arbeitsstreik und forderten eine umfassende Amnestie. In Stollberg bildete sich ein Gefangenenrat.271 Seitens des AfNS schätzte man die Lage als äußerst kritisch ein und rechnete mit einer Eskalation der Lage, einschließlich gewaltsamer Handlungen von Strafgefangenen.272 In dieser Situation gab der Staatsfunk am 6. Dezember um 17.01 Uhr eine Amnestie bekannt, wodurch die Situation in letzter Minute unter Kontrolle kam. Als am Abend im Fernsehen die Bestimmungen samt Einschränkungen genauer bekannt gegeben wurden, kochte die Stimmung erneut hoch. Es war klar, dass es keine Generalamnestie geben würde. Nur Verurteilte mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren sollten vorzeitig entlassen werden. Betroffen waren davon DDRweit immerhin rund 8 657 Personen,273 in Bautzen 1124. In der StVE Brandenburg kam es zu Krawallen und Ausbruchsversuchen, da hier rund 80 Prozent der Strafgefangenen wegen Verbrechen wie Tötungsdelikte, Raub, oder Sexualverbrechen einsaßen und nicht amnestiert wurden.274 In Bautzen I entspannte die Aussicht, zu Weihnachten zu Hause zu sein, die Lage.275 Allerdings verweigerten ca. 450 Strafgefangene, die nicht von der Amnestie betroffen waren, weiterhin Nahrungsaufnahme und Arbeit.276 Am Morgen des 7. Dezember umstellten eine Einsatzkompanie der OHS Dresden und zwei Einsatzkompanien der 16. VPB aus Cottbus das Gelände, um ein gewaltsames Ausbrechen zu verhindern.277

268 MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( ebd., 52444). 269 Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Lage, Material für die Sitzung des Ministerrats am 7. 12. 1989 ( ebd.). 270 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 6. 12. 1989. 271 KAfNS Stollberg vom 6. 12. 1989 : Bericht der StVE Stollberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 19 f.). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 6. 12. 1989. 272 Vgl. BAfNS Leipzig vom 4. 12. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 584, Bl. 1). 273 GBl. DDR I, 25 vom 22. 12. 1989, S. 266. Vgl. Neues Deutschland vom 7. 12. 1989. 274 Vgl. MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53614, Bl. 33 f.). 275 Vgl. Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ). 276 Vgl. MdI, Abt. Polizeiangelegenheiten : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 106, 108). 277 Vgl. MdI, Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Wagner, an Kommandeur der OHS Berlin, Dresden, Chef der BDVP Cottbus, Chef der BDVP Dresden zur Kenntnis und Veranlassung des Einsatzes von Einheiten 296/89 vom 7. 12. 1989 ( ebd., 52362).

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In Bautzen II traten alle 110 Gefangenen erneut in den Hungerstreik, mussten doch fast alle hinter Gittern bleiben.278 Vor allem „progressive“ Bürger waren besorgt, die Amnestie könne die Lage weiter destabilisieren, wenn „sich die vielen ehemaligen Strafgefangenen noch in die Demos einreihen“.279 Seitens der Anstaltsleitung wurde überlegt, die Anführer zu isolieren und gewaltsam Ruhe zu schaffen. In einem Aufruf forderte der Gefangenenrat von Bautzen II am 7. Dezember eine Generalamnestie sowie die Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Überprüfung aller Urteile sowie aller Menschenrechtsverletzungen im Strafvollzug.280 Auf einer Pressekonferenz formulierte der Gefangenenrat am 7. Dezember einen offenen Brief an die Volkskammer, in dem die Amnestie abgelehnt wurde. Daneben verfasste der Bautzener Pfarrer Eberhard Simmgen ein Telegramm an die Staatsregierung. Darin hieß es, die Amnestie in der jetzigen Form sei „entsetzlich angesichts der vielen Gefangenen in Bautzen II“, deren Urteile „unter dem Druck des Hasses von Herrn Mielke und seiner verbrecherischen Machenschaften zustande gekommen“ seien. Alle Urteile müssten überprüft werden.281 Am selben Tag beriet die Polizeiführung mit dem Streikkomitee über Lösungen und war sich einig, dass eine Amnestie nicht nur für politische Häftlinge, sondern auch für Kleinverbrecher unumgänglich war. Gemeinsam reisten Vertreter des Streikkomitees und der Volkspolizei zum Justizministerium nach Berlin, um über die Lage und die Forderungen der Häftlinge zu berichten. Man erreichte, dass noch am selben Tag mit Entlassungen begonnen wurde, was in Bautzen zur Beruhigung der Lage führte. Wie angespannt die Lage blieb, zeigte sich am 8. Dezember, als in der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden und den StVE Bautzen I und II Einsatzalarm ausgelöst wurde. Auslöser waren Informationen über eine bevorstehende Stürmung und Besetzung der StVE mit Waffen, um Strafgefangene zu befreien, die sich jedoch nicht bestätigten.282 In den nächsten Tagen wurde über eine Wiederaufnahme der Arbeit beraten. Im Gegenzug erklärte die Anstaltsleitung, auch kriminelle Gefangene müssten unter den neuen Bedingungen eine Chance erhalten. Weiterhin wurde über die Zukunft von Bautzen II diskutiert. Das Neue Forum setzte sich am Bautzener Runden Tisch für eine Auf lösung ein. Hier wurde auch über Probleme wie die Wiedereingliederung entlassener Häftlinge und die Wohnungssuche gesprochen. In Bautzen I existierten nun ein Bürgerkomitee, ein Gefangenenrat und ein Runder Tisch. Dieser bestand aus je sieben Vertretern des Bürgerkomitees, des Gefangenenrates und der Leitung. Dem Bürgerkomitee wurde erst durch eine Untersuchungskommission des Innenministeriums unter Leitung Diestels im April 1990 ein Ende gesetzt. Bei einer Gesprächsrunde in Bautzen II wurde 278 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 279 SED - KL Bautzen vom 14. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, A 13555). 280 Solidaritätserklärung der Insassen von Bautzen II mit den Streikenden in Bautzen I vom 7. 12. 1989 ( PB Ronny Heidenreich ). 281 Die Union vom 8. 12. 1989. 282 Vgl. MdI, Abt. Polizeiangelegenheiten : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 105 und 111 f.).

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am 14. Dezember darüber informiert, dass bisher 17 der etwa 110 Inhaftierten freigelassen worden waren. Es wurde die Entlassung aller politischen Gefangenen aus der Bundesrepublik bis zum 21. Dezember und die Auf lösung von Bautzen II bekannt gegeben. Am Abend des 22. Dezember verließen schließlich die letzten bundesdeutschen Häftlinge Bautzen II. Nun befanden sich noch 23 Personen in Haft, darunter sechs kriminelle Schwerverbrecher. Der Rest war durch politisch motivierte Urteile nach Bautzen II gelangt.283 Insgesamt wurden in der DDR bis zum Jahresende 15 586 Personen amnestiert. Am 31. Dezember waren noch 1827 Personen in Haft. Vorübergehend entspannte sich die Situation, die Hungerstreiks wurden beendet und die Arbeit wurde wieder aufgenommen.284 Die Bedeutung der Gefangenenproteste lag darin, dass sie die Diskrepanz zwischen den oft unerheblichen Gründen für die Inhaftierung von politischen Gefangenen und Kleinkriminellen einerseits und der flächendeckenden Korruption der kommunistischen Führung deutlich machten. Teil der moralischen Verkommenheit der SED - Führung war es, dass sie durch Mittler wie Schalck - Golodkowski nicht nur das kulturelle Erbe des Landes gegen Devisen verscheuerte, sondern auch mit den Häftlingen einen schwunghaften Handel betrieb. Wohl auch deswegen waren die Gefängnisse der DDR immer gut gefüllt. 2.4

Machtvergessenheit und ideologische Ausrichtung neuer reformsozialistischer Gruppen sowie Distanz zur Bevölkerung

Angesichts der überall eskalierenden Situation stellte sich die Frage, wie lange sich das SED - Regime noch an der Macht halten würde. Hier nun zeigte sich das Problem, dass sich unter der totalitären Diktatur alternative politische Potentiale kaum hatten ausbilden können. Das machte ein Blick auf die vorhandenen Gruppierungen der DDR deutlich. In den neuen Gruppen, insbesondere den von den Westmedien gehätschelten Berliner Initiativgruppen, wurde die Frage einer revolutionären Machtübernahme kaum gestellt, obwohl, wie Eppelmann erklärte, die Macht auf der Straße lag.285 Weder ein Aufruf vom Neuen Forum Karl - Marx - Stadt zum Generalstreik am 6. Dezember noch die sich allerorts bildenden Bürgerkomitees und Kontrollgruppen wurden genutzt, um alternative Machtstrukturen zu etablieren.286 Stattdessen wurde der Runde Tisch als adäquates Mittel zur Interessendurchsetzung angesehen. Als einer der wenigen drängte Rolf Henrich auf eine Machtübernahme durch die neuen politischen Gruppen und erklärte : „Wir werden verhaften müssen !“ Um politische Ziele zu erreichen, dürfe man nicht über Verfassung, Rechtsstaat, Medien und Pädagogik diskutieren, sondern müsse den Generalstaatsanwalt und den Innenminis283 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 284 Vgl. MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53614). 285 Interview mit Rainer Eppelmann. In : Junge Welt vom 9./10. 12. 1989. 286 Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 27.

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ter übernehmen. Alles andere sei Geschwätz.287 Gerade davor aber schreckten die Wortführer der Bürgerbewegungen auf DDR - Ebene zurück. Unter Westlinken war man ob dieses Verhaltens konsterniert. Momper versuchte Bärbel Bohley, Reinhart Schult, Ibrahim Böhme, Frank Heltzig, Rainer Eppelmann und Michael Barbe am 4. Dezember im Rathaus Schöneberg zu drängen, sofort die Regierung durch die Opposition zu übernehmen, damit die Initiative nicht an die Bundesregierung übergehe. Um die Eigenständigkeit einer sozialistischen DDR zu bewahren, müssten die Oppositionellen im Sinne des Aufrufs „Für unser Land“ jetzt handeln, damit die DDR nicht von der Bundesrepublik „vereinnahmt“ werde. Er musste allerdings konstatieren, dass die Mehrzahl von ihnen das Machtmonopol der SED „faktisch akzeptierte“ und ihre Rolle nur darin sah, „gegen diese Macht Bürgerrechte durchzusetzen“. Während Momper von einem „dritten Weg“ träumte, wollten diese die Staatsmacht der SED nicht prinzipiell in Frage stellen und waren nun überrascht, dass sie plötzlich in sich zusammenfiel. Im Gegensatz zu den Oppositionsgruppen in Polen und der ČSSR waren die Bürgergruppen nicht in der Lage oder willens, die SED von der Macht abzulösen. Wo es um die Existenz des Staates ging, befassten sie sich „mit Räten und basisdemokratischen Strukturen“ und vergaben, so Momper, „die letzte Chance, mit der DDR einen eigenständigen, einen ‚dritten Weg‘ zu gehen“.288 Ulrike Poppe meinte im Nachhinein, man habe „das gestörte Verhältnis zur Macht kultiviert, eine Revolution für unwahrscheinlich gehalten und die Identität rein in der Widerstandsethik gesucht“.289 SeebacherBrandt vertrat die Ansicht, die Bürgerrechtler hätten nie mehr als sich selbst vertreten und wären deshalb nie zu Macht und Einfluss gelangt.290 Weil sie keine Revolution wollten, stellten sie auch die Machtfrage nicht. Sie wollten Reformen, nicht die Macht übernehmen, sondern gleichberechtigte Partner einer reformierten SED werden. Da der Sturz der SED nicht auf ihrem Programm stand, waren sie unvorbereitet, als das SED - Regime unter dem Druck der Massenproteste zusammenbrach. Sie zeigten weder Bereitschaft noch hatten sie programmatische Lösungen für eine Machtübernahme. Stattdessen kooperierten sie überall und auf allen Ebenen mit dem ancien regime und ließen die Revolution von der Modrow - Regierung und den Staatsorganen aller Ebenen widerspruchslos verwalten. Sie richteten ihre ganze Energie auf die Zerschlagung der Staatssicherheit, weil sie in ihr das Grundübel des Sozialismus sahen.291 Zerschlagung des MfS und demokratischer Sozialismus waren nach der Logik der sie treibenden Ideologie zwei Seiten einer Medaille. Allein das verhasste MfS wurde einer Hatz ausgesetzt, die seiner nachgeordneten Rolle im SED - Regime in keiner Weise entsprach und in der angewandten Form eine Entlastung der 287 Zit. in Reich, Rückkehr nach Europa, S. 182. 288 Momper, Grenzfall, S. 215–216. Vgl. Pflugbeil, Das Neue Forum, S. 517. 289 Ulrike Poppe, Warum haben wir die Macht nicht aufgehoben. In : Bündnis 2 000, (1990) 1, S. 3. 290 Brigitte Seebacher - Brandt, Das Leben, ein Aktenberg ? In : FAZ vom 1. 2. 1992. 291 Gern / Opp / Voß, Die volkseigene Revolution, S. 204.

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verantwortlichen SED bedeutete. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die ihre Auswirkungen bis heute entfaltet. Während sich eine gigantische Bundesbehörde mit dem Erbe des SED - Bespitzelungs - und Unterdrückungsapparates befasst, sitzen die Nachfolger der SED in vielen Parlamenten und sind gerade dabei, in den westdeutschen Bundesländern Fuß zu fassen. Unklar bleibt, wie Bohley und andere sich bei der auf sozialistische Kräfte eingeschränkten sozialistischen Demokratie die zwangsläufig notwendige Unterdrückung der nichtsozialistisch - demokratischen Kräfte insbesondere liberal - konservativen Coleurs vorstellten. Im Grunde war im Konzept des demokratisch - sozialistisch ausgerichteten Teils der Bürgerbewegung schon der nächste Unterdrückungsstaat vorprogrammiert. Ihr Konzept erinnerte an die auch häufig zitierte Rosa Luxemburg, die Freiheit nur dem Proletariat und „den Anhängern linker Parteien“ zubilligen wollte.292 Während ein Großteil der Bevölkerung die SED - Führer als Exponenten des sozialistischen Regimes verurteilt sehen wollte, übten viele Vertreter der Bürgergruppen auf DDR - Ebene keine Systemkritik am Sozialismus und, so der Sozialdemokrat Reiner Flügge, entfernten sich nicht vom Sozialismushorizont.293 Sie trugen keine neuen, zündenden Ideen vor, weil sie „Gefangene der sozialistischen Ideologie“ waren.294 Sie wiesen auf Widersprüche bei der Praktizierung des Sozialismus hin und kritisierten die Korruption des Systems, präsentierten aber keine Alternativen. Honecker und Co. galten als Stalinisten, die die Idee des Sozialismus diskreditiert hatten. Die historische Evidenz von dessen Scheitern wurde bestritten und als vermeidbare Fehlentwicklung, als das Ergebnis persönlicher Inkompetenz, Korruptheit und von Machtmissbrauch ausgegeben. Die sich erneuernde SED um Gysi und Modrow nützte diese Herangehensweise ihrer neuen sozialistischen Partner, um sich und ihren nun geplanten demokratischen Sozialismus von dieser Vergangenheit abzugrenzen. Der Wunsch nach demokratischem Sozialismus hatte nach Meinung von Jens Reich auch mit dem Wunsch zu tun, sich von der Bundesrepublik zu unterscheiden. Dahinter vermutete er alte landsmannschaftliche Wettbewerbshaltungen zwischen Sachsen, Preußen und Bayern, „es denen zu zeigen, dass wir auch was können“. Auch Meckel meint, die Vision und die Perspektive von Sozialismus habe etwas mit der Identität der DDR zu tun.295 Diese Haltungen der Gruppen hatten freilich gravierende Auswirkungen auf die weitere Entwicklung, schließlich verloren sie maßgeblich an Einfluss. Während sich die Gruppen mit der „Umgestaltung des Sozialismus im Sinne ihrer thematischen Orientierungen“ befassten,296 suchte das Volk nach anderen Kräften, die für Demokratie und Wiedervereinigung eintraten. Bereits seit Mitte November hatte sich abgezeichnet, dass die Führungsfiguren der größten oppositionellen Sammlungsbewegungen die aufbrechende Meinungsvielfalt ihrer regionalen Gruppen nicht 292 293 294 295 296

Müller, Bolschewismuskritik, S. 42. Vgl. Demokratie Jetzt 3 von November 1989. Gern / Opp / Voß, Die volkseigene Revolution, S. 205. Rein, Die Opposition, S. 32 und 95. Neubert, Protestantische Aufklärung, S. 146.

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mehr abdeckten und ihre sozialistisch - basisdemokratischen Vorstellungen nicht mehr konsensfähig waren. Statt die Meinung der Bevölkerung zu repräsentieren, rückten sie in die Nähe der SED - Reformer und setzten, so Marianne Birthler, „zu sehr auf Verständigung mit den noch an der Macht befindlichen Regierenden“.297 Bald saßen sie „in einem Boot“ mit der SED,298 bei der sie trotz des wirtschaftlichen und finanziellen Desasters in der DDR aus schwer nachvollziehbaren Gründen auch weiterhin die meiste ökonomische Kompetenz vermuteten. Kennzeichen ihrer eigenen ökonomischen Konzepte war die „Inhaltsleere“,299 mit der Forderungen nach Wirtschaftsreformen vorgetragen wurden. In ihrer gesamten Ausrichtung waren die Gruppen nicht auf Zukunft hin ausgerichtet. Schon im Namen war das „prinzipielle Paradoxon ihrer Überlebensfähigkeit“ erkennbar. Namen wie „Demokratie Jetzt“, „Demokratischer Aufbruch“ oder „Bündnis 90“ ließen „keine politischen Zukunftsansprüche in einer gegebenenfalls realisierten Demokratie erkennen“.300 Hinzu kamen Zer würfnisse und eine organisatorische Zersplitterung, durch die sie, so Werner Fischer, nicht in der Lage waren, „die Sache konzeptionell und personell in die Hand zu nehmen“.301 Edgar Dusdal sieht einen Grund darin, dass in der DDR „bloß die zweite Garnitur geblieben“ sei. Niemand von ihnen habe jemals mit dem Gedanken gespielt, Oppositionsführer sein zu wollen. Letztlich hätte man sich in der DDR eingerichtet gehabt, „etabliert in diesen Verhältnissen“.302 Heym beschimpfte die Gruppen deswegen als „politische Dilettanten, die selbst auf ein Mindestprogramm sich nicht einigen können“.303 Statt Wahlen würden sie Zeit zur Vorbereitung fordern : „In einer Revolution wollen sie ein Jahr Zeit haben, bevor sie politisch handeln und aktionsfähig werden.“304 Tatsächlich nannten DA, SDP und das Neue Forum sofortige Wahlen „verhängnisvoll für unser Land“, da die Oppositionsgruppen ihren Klärungs - und Profilierungsprozess noch nicht abgeschlossen hätten.305 Mit diesen Vorstellungen demonstrierten die führenden Köpfe der Bürgergruppen auf DDR - Ebene den tiefen Widerspruch zwischen ihnen und einem Großteil der Bevölkerung. Deren Proteste gegen die SED und Forderungen nach besseren Lebensbedingungen wurde von den Initiatoren der linken Oppositionsgruppen distanziert verfolgt. Der Mitbegründer des DA, Edelbert Richter, sprach von der Bevölkerung als von der „Masse der Unpolitischen“, „die erst ihr Heil im Westen gesucht hatten und nun den Westen herüberholen wollten“, um sich, so Richter, „auch die Mühe der Ausreise noch sparen zu können“.306 297 Inter view mit Marianne Birthler. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 44. 298 So auch Seifert, Deutsche Fragen, S. 13. 299 Ulli Kuhlke / Dietmar Bartz. In : taz vom 12. 11. 1989. 300 Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 1, S. 77. 301 Interview mit Werner Fischer. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 110. 302 Interview mit Edgar Dusdal. In : ebd., S. 72 f. 303 Stefan Heym, Hurra für den Pöbel. In : Der Spiegel vom 6. 11. 1989. 304 Interview mit Stefan Heym. In : Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 11. 1989. 305 Leipziger Volkszeitung vom 12. 12. 1989. 306 Richter, Erlangte Einheit, S. 39.

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Solche Meinungen waren von nun an regelmäßig zu hören. Daher fragte Theo Lechtenberg schon damals, „ob die neue, aus den Gruppen hervorgegangene Linke mit dem Bekenntnis zu Sozialismus und Eigenstaatlichkeit der DDR tatsächlich jene repräsentiert, die zu Hunderttausenden auf die Straße gehen“.307 Der Wille nach Verwirklichung elementarer Lebensbedürfnisse wurde, so Konrad Weiß später, von den Bürgerbewegungen, „die einen ganz und gar idealistischen Ansatz hatten“, ignoriert. Die Bürgerbewegung repräsentierte das Volk nicht und hatte dort „keine breite Basis“. Sie waren „Außenseiter, lebten unter alternativen Verhältnissen oder waren durch ihre intellektuellen Berufe vom Volk isoliert. Ihre Unzufriedenheit war nicht die Unzufriedenheit der Mehrheit, der es zwar auch um Reisefreiheit und Menschenrechte ging, für die aber elementare Bedürfnisse eine viel stärkere Rolle spielten und deren Unzufriedenheit sich auch auf die alltäglichen Dinge richtete.“308 Die oppositionellen Gruppierungen entfernten sich aber auch durch ihre Zersplitterung, ihres nicht auf Parteibildung angelegten Selbstverständnisses und wegen des ambivalenten Verhältnisses zur Macht von der Erwartungshaltung breiter Bevölkerungsteile. „So verloren sie mehr und mehr an Akzeptanz in der ostdeutschen Bevölkerung.“309 2.5

Bildung Runder Tische auf allen Ebenen

Runde Tische in Bezirken, Kreisen und Kommunen Etwa seit dem 20. November hatten, parallel zur Diskussion über die Bildung eines zentralen Runden Tisches der DDR, in verschiedenen sächsischen Kreisen und Kommunen Vorbereitungen zur Bildung Runder Tische begonnen.310 Anfang Dezember verstärkte sich dieser Prozess. Vorbilder waren die Runden Tische in Polen und Ungarn, die ihrerseits auf eine lange Tradition solcher auf Ausgleich orientierten Gremien zurückblicken konnten. Erinnert sei an die britischen Round - Table - Konferenzen in Indien zwischen 1930 und 1932, die auf der im angelsächsischen Raum verbreiteten Tradition runder Tische basiert. Der wohl bekannteste, älteste Runde Tisch ist die sagenumwobene Runde von König Artus, der in der Mitte des 6. Jahrhunderts Vertreter seines Reiches an einen Tisch bat, an dem Rangunterschiede aufgehoben waren. Vor dem Hintergrund vorhandener Modelle gingen die Runden Tische in der DDR aber sehr praktisch und konkret aus den überall stattfindenden Gesprächsrunden zwischen Vertretern der Demonstranten und neuen politischen Gruppen einerseits und Funktionären des Partei - und Staatsapparates andererseits hervor. Mit ihnen sollte für eine gewaltlose Entwicklung gesorgt werden. Während SED und Staatsappa307 Lechtenberg, Von den informellen Gruppen, S. 339 f. 308 Konrad Weiß, Bürgerbewegung als Erinnerungsverein des Deutschen Herbstes ? Die deutsche Einheit und das Dilemma der DDR - Menschenrechtsgruppen. In : Frankfurter Rundschau vom 2./3. 10. 1990. 309 Bericht der Enquete - Kommission, S. 211. 310 Vgl. Kap. IV.1.9.

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rat auf diese Weise hofften, die Entwicklung doch noch in den Griff zu bekommen, favorisierten führende Vertreter von Bürgergruppen und der SDP Runde Tische, weil sie meinten, selbst nicht regierungsfähig zu sein. Sie lehnten baldige Wahlen als „verhängnisvoll für unser Land“311 ab und beanspruchten in einer Zeit sich überschlagender Ereignisse und eines zunehmenden Machtvakuums Zeit, um ihren Klärungs - und Profilierungsprozess abzuschließen. Auch angesichts internationaler Erwartungen an einen friedlichen und gewaltfreien Übergang zur Demokratie, bei dem die DDR - Staatlichkeit nicht in Frage gestellt werden sollte, sahen neben den Akteuren Runder Tische auch die meisten Demonstranten keinen Gegensatz zwischen ihren revolutionären Forderungen und einem Miteinander mit den alten Kräften bei der Regelung der Formen des Übergangs. Man revoltierte gegen das Regime und verhandelte parallel dazu über die Konditionen der Niederlage. Oft ging es auch einfach nur darum, alltägliche Lebensabläufe in Regionen und Kommunen aufrechtzuerhalten. Ziel war keine Anarchie sondern eine effektivere, demokratische Staatlichkeit. Das Ziel bestimmte das Vorgehen. Bezirk Dresden : Schon Anfang Dezember hatte es in Dresden Beratungen zwischen dem Rat des Bezirkes und Vertretern von SDP, DA und Neuem Forum gegeben. Letztere erklärten, sich nicht in Machtstrukturen einbinden lassen zu wollen, aber zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit zu sein. Erstmals wurde über die Installierung eines Runden Tisches beraten,312 wobei die Initiative zur Gründung vom Rat des Bezirkes ausging.313 Am 8. Dezember konstituierte sich der Runde Tisch des Bezirkes Dresden. Teil nahmen ca. 120 Abgesandte von Bürgerinitiativen, Parteien und Organisationen, Angehörige der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, Ratsmitglieder, der Dresdner Bezirks - bzw. Militärstaatsanwalt sowie Betriebs - und Generaldirektoren. Vereinbart wurde eine Zusammensetzung aus je sieben Vertretern etablierter und neuer gesellschaftlicher Kräfte sowie je zwei Vertretern der Wirtschaft und der Kirchen. Die katholische Kirche vertrat Erich Iltgen, die ev. - luth. Kirche Martin Lerchner. Von Anfang an waren auch Vertreter des Rates des Bezirkes beteiligt.314 Die Teilnehmer riefen die Bürger auf, sich gegen „Erscheinungen von Anarchie, Selbstjustiz, Besetzungen und weiteren Störungen des öffentlichen Lebens“ zur Wehr zu setzen und die örtlichen Volksvertretungen und „die Arbeit aller basisdemokratischen Initiativen für unser Land“ zu unterstützen. Von Volkskammer und Regierung wurden Sofortmaßnahmen gefordert, „die eine weitere Eskalation von Anarchie und ungesetzlichen Handlungen verhindern“.315 Am 15. Dezem311 312 313 314

Leipziger Volkszeitung vom 12. 12. 1989. Vgl. Die Union vom 6. 12. 1989. So Erich Iltgen. Zit. bei Lesch, Die CDU - Reformer in Sachsen, S. 39. Erich Iltgen, Bericht – Vorberatung zum Runden Tisch ( am 8. 12. 1989) ( HAIT, Iltgen 3, Programme, Gutachten ). Vgl. Iltgen, Neue Politik, S. 154; Sächsisches Tageblatt vom 11. 12. 1989. 315 Gemeinsamer Aufruf einer Versammlung von Vertretern der Parteien, Bürgerinitiativen, Kirchen, Staats - und Sicherheitsorgane, Dresden vom 8. 12. 1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46123).

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ber trat der Runde Tisch des Bezirkes Dresden im Rat des Bezirkes zur ersten Sitzung zusammen. Beteiligt waren Vertreter von CDU, DBD, LDPD, NDPD, SED, Domowina, Neuem Forum, DA, SDP, Vereinigter Linker, der Aktion Katholische Christen, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Sieber, ein Beauftragter des Generaldirektors für Grundsatzfragen im Kombinat Elektromaschinenbau, der Vorsitzende der Bezirkshandwerkskammer, sowie Iltgen und Lerchner als Vertreter der Kirchen. Dem FDGB wurde der Status eines Beobachters zugesprochen. Es gab Konsens, die Handlungsfähigkeit der örtlichen Volksvertretungen zu erhalten, jegliche Eskalation von Gewalt abzulehnen und „als ein politisches Gremium“ bis zu den vorgesehenen Wahlen am 6. Mai 1990 zu arbeiten.316 Bereits bei der zweiten Beratung am 21. Dezember standen die Bildung des Landes Sachsen und die Auflösung des AfNS im Zentrum der Beratungen. Daneben ging es auf Initiative von Andreas Schönfelder als Vertreter des Neuen Forums u. a. um materielle und räumliche Arbeitsmöglichkeiten für die neuen Gruppen.317 Auch bei der weiteren Arbeit setzte sich der Runde Tisch des Bezirkes Dresden im Wesentlichen zwei Schwerpunkte : die Auflösung der Staatssicherheit und die Herausbildung des Landes Sachsen.318 Bautzen : In Bautzen riefen NDPD und Neues Forum am 5. Dezember zu Gesprächen am Runden Tisch auf.319 Am selben Tag beschlossen Rat des Kreises und SED - Kreisvorstand eine erste Zusammenkunft am 15. Dezember.320 Der Rat des Kreises erklärte seine Bereitschaft, mit Vertretern aller Bewegungen zu sprechen, „die ehrlich die Erneuerung von Staat und Gesellschaft in der DDR wollen“. Auf dieser Grundlage sei der Runde Tisch die geeignete Form, einen Konsens zu finden. Dabei müsse davon ausgegangen werden, dass der Runde Tisch nicht die Arbeit der „gewählten Volksvertretungen und Räte“ ersetzen könne. Seine Funktion sei es, Anregungen und Vorschläge zu geben. Volksvertretungen und Räte müssten in den bestehenden Strukturen unter breiter Einbeziehung basis - demokratischer Kräfte ihre Arbeit bis zu Neuwahlen fortsetzen. Vertreter des Neuen Forums und anderer neuer Parteien und Organisationen sollten in Ständigen Kommissionen des Kreistages, der Stadtverordnetenversammlungen und anderer Volksvertretungen mitwirken. Die Rolle der bisherigen Blockparteien in den Räten müsse gestärkt werden. So werde gesichert, dass die Republik „regierbar“ bleibt.321 Die Haltung des Rates führte im Neuen Forum zu Diskussionen. Zwar sah man die Chance, auf Entscheidungen des Staates Einfluss zu nehmen, es gab aber auch Forderungen, gänzlich mit den alten Strukturen zu brechen und einen Neuanfang zu wagen. Es war schließ316 Protokoll der 1. Sitzung des Runden Tisches Dresden vom 15. 12. 1989 ( PB Matthias Rößler ). 317 Protokoll der 2. Sitzung des Runden Tisches Dresden vom 21. 12. 1989 ( ebd.); Notizen Erich Iltgens : Runder Tisch, S. 4 ( HAIT, Iltgen 1). Vgl. Die Union vom 29. 12. 1989. 318 Vgl. Iltgen, Neue Politik, S. 154. 319 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 5. 12. 1989. 320 Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 36). 321 Vorbereitung des RdK Bautzen für die Diskussion am Runden Tisch am 15. 12. 1989 (PB Ronny Heidenreich ).

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lich die Furcht, die Entwicklung könne im Chaos versinken, die zur eher widerwilligen Zusammenarbeit mit Staat und SED führte.322 Am 15. Dezember trat der Runde Tisch erstmals im Kolpinghaus zusammen. Die Leitung übernahm der katholische Pfarrer Rudolf Kilank. CDU, DBD, LDPD, NDPD, SED - PDS, SDP, Neues Forum und ev. - luth. sowie röm. - kath. Kirche waren mit je zwei stimmberechtigten Mitgliedern vertreten. Auch zwei Vertreter der Domowina waren stimmberechtigt, durften aber keiner Partei angehören. Der FDGB erhielt eine Beobachterrolle. Die Teilnahme von FDJ und NVA wurde abgelehnt. Die Teilnehmer bestätigten die Vorgaben des Rates, wonach der Runde Tisch lediglich eine Kontrollfunktion über die Arbeit des Rates des Kreises und der Stadt hatte. Beide mussten nun Beschlüsse vor dem Runden Tisch rechtfertigen. Für die künftige Arbeit standen vor allem kommunalpolitische Themen wie die Altstadtproblematik, der Umweltschutz sowie die Gefängnisse in Bautzen auf der Agenda.323 Bischofswerda : Eine von SDP und Neuem Forum organisierte Beratung von Vertretern aller Parteien und des Neuen Forums am 4. Dezember in Kreiskulturhaus von Bischofswerda, bei der es vor allem um die künftige Nutzung des Gebäudes der Staatssicherheit ging, gilt als erster Runder Tisch der Stadt. Weitere Themen waren das Bauwesen und eine Standortbesichtigung des NVA Objektes Taucherwald. Am 12. Dezember folgte der zweite Runde Tisch, an dem sich die Ortsvorsitzenden der Parteien und Massenorganisationen sowie Vertreter des Neuen Forums beteiligten. Erneut standen kommunale Probleme im Zentrum der Beratungen. Am 18. Dezember wurde beschlossen, das MfS Gebäude dem DRK zu übergeben. Die SED - PDS wurde aufgefordert, anderen Parteien und Organisationen Räume im Gebäude der Kreisleitung zur Verfügung zu stellen. Am 20. Dezember trafen sich in Bretnig Einwohner zu einer Aussprache im Rahmen der „Demokratischen Bürgerbewegung“. Mit ihr begannen auch hier Treffen am Runden Tisch.324 Am selben Tag konstituierte sich auf Einladung der SED - PDS ein Runder Tisch des Kreises Bischofswerda. An ihm nahmen Vertreter der Parteien, des FDGB, der FDJ, des DFD, des Kulturbundes, beider Konfessionen und des Neuen Forums teil. Es wurden gemeinsame Grundpositionen erarbeitet. Danach traten alle politischen Kräfte für Gewaltfreiheit sowie Recht und Ordnung ein und unterstützten die Sicherheitspartnerschaft. Sie wandten sich gegen Neonazismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, plädierten für eine hohe Kultur der politischen Auseinandersetzung und unterstützten die Demokratiebewegung.325 322 So Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 323 1. Gespräch am Runden Tisch vom 15. 12. 1989 ( PB Ronny Heidenreich ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 19. 12. 1989. 324 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 7., 15., 20. und 29. 12. 1989. 325 SED - KL Bischofswerda vom 21. 12. 1989 : Verbleib der Grundorganisation der SED in den Betrieben (SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 22. und 28. 12. 1989; Große Kreisstadt Bischofswerda – das Tor zur Oberlausitz, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ).

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Dippoldiswalde : In Dippoldiswalde trafen sich auf Einladung des Vorsitzenden des Rates des Kreises am 13. Dezember Vertreter der evangelischen Kirche, des Neuen Forums, von DBD, CDU, NDPD und SED zum Vorgespräch für einen Runden Tisch des Kreises. Eine erste Sitzung wurde für den 4. Januar vorgesehen. Es herrschte Einigkeit, dass der Runde Tisch die örtlichen Volksvertretungen und Räte bis zur freien Wahl bei der Lösung kommunaler Probleme unterstützen sollte.326 Stadt Dresden : In Dresden wurde die Gruppe der 20 Anfang Dezember ebenfalls mit der Frage konfrontiert, ob für die Stadt ein Runder Tisch sinnvoll wäre oder man beim bisherigen Modell bleiben sollte. Berghofer hatte Ziemer die Bildung eines Runden Tisches vorgeschlagen. Man lehnte dies aber ab, weil, so Heitmann, „wir sagten, diese Funktion nehmen in Dresden wir wahr. Wir brauchen keinen Runden Tisch, wo ja die ganzen alten Kräfte verschleiert jetzt plötzlich als selbstständige Kräfte am Runden Tisch saßen. Das war ja die Taktik der SED schon nach 1945 gewesen, indem sie die Massenorganisationen hineinnahm, aber politisch unterwandert hatte. Und so war jetzt dasselbe Bemühen wieder, diesen Kräften ein eigenes Gewicht zu geben. In Wirklichkeit waren sie aber keine eigenen Kräfte, sondern es waren Teile der SED.“327 Auch Vaatz lehnte das Modell des Runden Tisches ab und empfahl stattdessen, darauf hinzuwirken, dass die Stadtverordnetenversammlung sowie der Kreis - und Bezirkstag sich zwar nicht auflösen, „aber zurücknehmen und ungefähr die Hälfte der Plätze den Oppositionsgruppierungen übergeben“. Bei einer „Duplizität, Runder Tisch einerseits und Administration andererseits“ befürchtete er, der Runde Tisch würde zu einer „PR - Veranstaltungen der Administration“ werden, während die Opposition auf Distanz gehalten würde.328 Das Dresdner Kooperationsmodell unterschied sich von Runden Tischen dadurch, dass die Gruppe der 20 mit dem Rat der Stadt verhandelte, während sich am Runden Tisch Vertreter unterschiedlicher Parteien und Gruppierungen trafen. Dies traf hier eher auf die Dresdner Dialoggruppe zu, an der sich freilich nur neue politische Kräfte beteiligten.329 Dresden - Land : Am 19. Dezember fand auf Initiative des Neuen Forums erstmalig eine Beratung des Runden Tisches der Stadt Radeberg statt. Neben dem Neuen Forum beteiligten sich Vertreter von LDPD, NDPD und SED - PDS. Andere eingeladene Partein waren nicht erschienen. Es wurde über die Ziele des Gremiums beraten. Man einigte sich auf dessen beratenden und kontrollierenden Charakter und legte Arbeitsbereiche u. a. für Soziales, Umwelt und regionale Probleme fest. In einem Schreiben an Lothar Späth wurde um Vermittlung einer Partnerstadt in Baden - Württemberg gebeten.330

326 327 328 329 330

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 15. 1. 1989. Interview mit Steffen Heitmann. In : Flach, Der Demokratisierungsprozeß, S. 93. Interview mit Arnold Vaatz. In : ebd., S. 96. Vgl. Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 183–186. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 29. 12. 1989.

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Freital : Nachdem sich in Freital bereits am 29. November ein Runder Tisch des Kreises konstituiert hatte,331 tagte dieser am 19. Dezember zum zweiten Mal. Inzwischen beteiligten sich auch die CDU und der Verband der Freidenker daran. Die Leitung lag beim Vorsitzenden des Rates des Kreises. Es ging um Arbeitsprinzipien und die Geschäftsordnung, die deutsche Einheit und territoriale Probleme des Kreises.332 Der Rat des Kreises beschloss, im Gebäude des Rates ein Büro des Runden Tisches einzurichten.333 Bei einer Einwohnerversammlung in Wilsdruff wurde am 19. Dezember die Bildung eines Runden Tisches der Stadt gefordert. Der Rat der Stadt plante daraufhin für Anfang Januar eine erste Sitzung.334 Stadt / Kreis Görlitz : In Görlitz gab es im Dezember noch keine Runden Tische. Großenhain : In Großenhain luden Superintendent Friedrich Krellner und LDPD Kreissekretär Tom Steinborn am 11. Dezember kirchliche Amtsträger, Bürgerinitiativen und Parteien zum Runden Tisch des Kreises am 13. Dezember ein.335 Einen Tag später tagte der Runde Tisch der Stadt erstmals. Zu ihm hatte am 5. Dezember der Rat der Stadt eingeladen.336 Vertreter des Rates der Stadt, der CDU, DBD, LDPD, NDPD, SED und des Neuen Forums waren sich einig, dass der Runde Tisch die Volksvertretungen nicht ersetzt, wohl aber als Dialogveranstaltung wichtig sei. Es ging um kommunale Themen und den Rückzug der SED aus den Betrieben.337 Am 13. Dezember trat dann in der ev. - meth. Kirche der Runde Tisch des Kreises unter Leitung von Superintendent Krellner zusammen. Anwesend waren hier mit je einer Stimme Vertreter von LDPD, NDPD, CDU, DBD, der ev. - luth., ev. - meth. Kirche und katholischen Kirche, des Neuen Forums, des Rates des Kreises, von SDP, SED und VdgB. Man war sich einig, dass der Runde Tisch als Beratungs - und Kontrollorgan des Kreistages und des Rates des Kreises fungieren sollte. Breiten Raum nahm in diesem Zusammenhang die Frage der Legitimität der Volksvertretungen und ihrer Räte ein. Diese wurden bis zur freien Wahl als Übergangsregierung zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens akzeptiert.338 Nicht überall entstanden Runde Tische. In Rödern bildete sich bei einer Einwohnerversammlung ein Bürger331 Vgl. SED - KL Freital vom 1. 12. 1989 : Beratung der Parteien, Massenorganisationen sowie der neu gegründeten Gruppen und Vereinigungen ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 332 Vgl. SED - KL Freital vom 20. 12. 1989 : Lage ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 23./24. 12. 1989. 333 Vgl. Beschlussprotokoll der 23. Sitzung des RdK Freital vom 28. 12. 1989 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA, RdK Freital, Der Vorsitzende ). 334 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 28. 12. 1989. 335 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 11. 12. 1989. 336 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 6. 12. 1989; Großenhain im Aufbruch, S. 57. 337 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 14. 12. 1989. 338 Vgl. Protokoll der Beratung des RTK Großenhain vom 13. 12. 1989 ( HAIT, Großenhain); SED - KL Großenhain vom 18. 12. 1989 ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 15. 12. 1989.

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komitee, das sich als Beratungs - und Kontrollorgan der Gemeindevertretung verstand und eigenständig über kommunale Fragen beraten sowie Lösungsvorschläge unterbreiten wollte.339 Kamenz : Am 12. Dezember tagte auf Einladung des Gersdorfer Pfarrers Frieder Wendelin erstmals der Runde Tisch des Kreises. Teilnehmer waren Vertreter der Parteien, des Bürgerforums, des Ökologischen Arbeitskreises und der Bürgerinitiative Kamenz, des Neuen Forums Königsbrück und der katholischen Kirche.340 Bei seiner zweiten Sitzung am 18. Dezember wurden als Themen kommender Sitzungenen Medienarbeit, Staatssicherheit, Bildung und Erziehung, Wirtschaft und Umwelt sowie ein Aufruf zur ruhigen Gestaltung des Umgestaltungsprozesses festgelegt. Der LDPD - Kreisvorstand forderte „eine wirkliche Demokratie“.341 Am 28. Dezember gab es die erste Sitzung eines Runden Tisches in Laußnitz.342 Löbau : In Löbau konstituierten sich erst im Januar 1990 Runde Tische. Meißen : Am 21. Dezember trafen sich Vertreter des Neuen Forums, der SPD, von LDPD, DBD, NDPD, sowie von DFD, FDGB und vom Komitee der Volkskontrolle zum Rund - Tischgespräch in der NDPD - Kreisgeschäftsstelle und konstituierten sich als Runder Tisch des Kreises Meißen.343 Niesky : Nach einer Einladung durch die SED - Kreisleitung344 fand am 12. Dezember eine erste Beratung des Runden Tisches des Kreises Niesky statt. Als zentrale Aufgabe wurde hier die „Ausprägung von Geschichtsbewusstsein und Heimatliebe“ genannt und der Erhalt der vom Braunkohletagebau bedrohten Gemeinde Klitten gefordert.345 Am 20. Dezember lud der Vorsitzende des Rates des Kreises Niesky zum zweiten Runden Tisch des Kreises ein,346 der am 2. Januar zusammentrat.347 Pirna : Am 12. Dezember lud der Vorsitzende des Rates der Stadt Pirna, Riedel, Parteien und Kirchen zum Runden Tisch ein. Ziel sei es, über Möglichkeiten der Einflussnahme aller gesellschaftlichen Kräfte auf die Arbeit der Volksvertretungen zu beraten.348 Riesa : Am 15. Dezember fand in Riesa der erste Runde Tisch statt.349 339 Vgl. ebd. vom 22. 12. 1989. 340 Vgl. SED - KL Kamenz vom 13. 12. 1989 : Info ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 341 SED - KL Kamenz vom 19. 12. 1989 : Info ( ebd.). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 22. 12. 1989. 342 Vgl. ebd. vom 28. 12. 1989. 343 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 22. 12. 1989. 344 1. Sekretär der SED - KL Niesky an Sup. Andreas Holzhey vom 7. 12. 1989 ( PB Andreas Holzhey ). 345 Protokoll der 1. Beratung des RTK Niesky vom 12. 12. 1989 ( PB Christine Gar ve Liebig). 346 RdK Niesky vom 20. 12. 1990 : Einladung zum 2. Runden Tisch des Kreises Niesky (ebd.). 347 Handschriftliches Protokoll von Superintendent Holzhey vom 2. Runden Tisch des Kreises Niesky vom 2. 1. 1990 ( PB Andreas Holzhey ). 348 Bürgermeister der Stadt Pirna vom 12. 12. 1989 : Einladung ( StA Pirna, ZA, 2001, 42 Runder Tisch, Bl. 112). 349 Vgl. Große Kreisstadt Riesa : Auf listung von Ereignissen, o. D. ( HAIT, StKa ).

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Sebnitz : Seit dem 5. Dezember gab es in Langburkersdorf einen Runden Tisch, an dem die Blockparteien samt SED vertreten waren. Seine Aufgabe war es, die Gemeindeverwaltung zu unterstützen. Am 29. Dezember konstituierte sich ein Runder Tisch der Stadt Sebnitz.350 Zittau : In Zittau lud der Bürgermeister am 2./3. Dezember Parteien, Organisationen und Bürgergruppierungen zu einem Rundtischgespräch am 8. Dezember in das Rathaus ein. Am 14. Dezember trat der Runde Tisch der Stadt zur zweiten Sitzung zusammen. Am 7. Dezember wurde in der Zeitung zum Treff am „Runden Tisch im Wohnbezirk 9“ eingeladen. Am 8. Dezember fand ein Rundtischgespräch in Hirschfelde statt.351 Am 19. Dezember kam es in Dittelsdorf auf Einladung des Pfarrers zur 1. Beratung des Runden Tisches.352 Am 18. Dezember fand im Rathaus Zittau der erste Runde Tisch für den Kreis statt. Das Neue Forum beantragte eine Überprüfung der Legitimation des Kreistages und der Stadtverordnetenversammlung, konnte aber keine Abstimmung erreichen. Die Mehrheit der Teilnehmer sprach sich für je ein Mandat für Parteien und Gruppierungen am Runden Tisch aus.353 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : In Hoyerswerda rief der Kreisvorstand der LDPD alle Parteien, die Kirchen und neuen Bürgerbewegungen zu einem Runden Tisch am 20. Dezember ins Martin - Luther - King - Haus auf. Dieser sollte als „Koalition der Vernünftigen“ gemeinsam und demokratisch nach politischen Lösungen für den Kreis und die Stadt suchen. Superintendent Vogel übernahm die Gesprächsleitung.354 An der ersten Zusammenkunft nahmen Vertreter von SED - PDS, CDU, NDPD, LDPD, DBD, des Neuen Forums, des Rates des Kreises sowie der ev. - luth. und katholischen Kirche teil. Themen waren die Geschäftsordnung, die Vergabe von Räumen an das Neue Forum und der Umgang mit den Gebäuden des MfS. Es wurde vereinbart, dass der Runde Tisch Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip trifft und den Kreistag oder die Stadtverordnetenversammlung nicht ersetzt. Am Runden Tisch getroffene Entscheidungen sollten für die Volksvertretungen empfehlenden Charakter haben. Der Runde Tisch erhielt aber ein Veto - Recht gegen Beschlussvorlagen des Rates des Kreises, die dem Kreistag zur Beschlussfassung vorgelegt wurden. Massenorganisationen konnten nur beratend und nach Erfordernis am Runden Tisch teilnehmen. Der Vorsitzende des Rates war hingegen stimmberechtigt. Es wurden monatliche Sitzungen beschlossen.355 Die Teilnehmer riefen die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit auf.356

350 351 352 353 354 355

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 16. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. und 8. 12. 1989. Protokoll der Beratung des Runden Tisches Dittelsdorf vom 19. 12. 1989 ( HAIT, Zi - J3). Vgl. SED - KL Zittau vom 19. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Lausitzer Rundschau vom 14. 12. 1989. Protokoll der 1. Zusammenkunft des Rundes Tisches des Kreises Hoyerswerda vom 20. 12. 1989 ( PB Superintendent Vogel ). 356 Vgl. Erster Runder Tisch des Kreises beriet ( ebd.); Lausitzer Rundschau vom 23. 12. 1989.

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Weißwasser : In Weißwasser trat am 4. Dezember auf Einladung des LDPD Kreisvorstandes ein Runder Tisch zusammen. Schwerpunkte der Diskussion waren die Sprachlosigkeit der Führung des Landes, die schleppende Aufdeckung von Straftaten, der Vertrauensbruch zwischen Staatsführung und Volk, die anhaltende Ausreisewelle und der Ruf nach Wiedervereinigung. Der LDPDKreisvorstand schlug einen Sonderkreistag noch im Dezember vor, der sich mit der Auflösung der Kampfgruppen und der hauptamtlichen Parteileitungen in den Betrieben sowie mit der Forderung nach freien Wahlen befassen sollte. Am 7. Dezember kam der Runde Tisch erneut zusammen und begrüßte die Einberufung des Kreistages für den 21. Dezember. Übereinstimmend meinten die Teilnehmer, es gelte Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, und sie lehnten Warnstreiks ab.357 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 14. Dezember konstituierte sich der Runde Tisch des Bezirkes Karl - Marx - Stadt. Vertreten waren CDU, DBD, LDPD, NDPD, SED, DA, Grüne Partei, SPD, Vereinigte Linke und Neues Forum. DFD, FDGB, FDJ, Kulturbund und VdgB sowie zehn Initiativgruppen und Vertreter der Kirche wurden als Beobachter zugelassen. Man einigte sich über die turnusmäßige Leitung und Durchführung des Runden Tisches, über künftige Themenkomplexe und über regelmäßige Information an die Medien.358 Am 21. Dezember trat der Runde Tisch zur zweiten Sitzung zusammen. Eine Aufnahme von FDGB und Nationaler Bürgerbewegung wurde mehrheitlich abgelehnt. Es ging vor allem um das Selbstverständnis des Runden Tisches, Chancengleichheit bei kommenden Wahlen, gleichen Zugang zu den Medien, Rechtsstaatlichkeit und den Umgang mit der deutschen Frage. Einigkeit herrschte, den inneren politischen Frieden wahren zu wollen. Plattform zur Austragung der Interessengegensätze sollte der Runde Tisch sein.359 Annaberg : In Elterlein bildete sich Ende November ein Runder Tisch der Stadt. Den Vorsitz der monatlichen Beratungen teilten sich CDU, DBD, ev. - luth. Kirche und die Naturfreunde. Die SED beteiligte sich nicht. Themen waren u. a. Ordnung und Sicherheit in der Kommune und die Entideologisierung der Schule.360 Aue : Am 9. Dezember kam es in Aue zum ersten Treffen des Runden Tisches des Kreises. Teilnehmer waren Vertreter von Parteien, Neuem Forum, der Handwerkskammer, des Kulturbundes, von VdgB, VKSK, Volkssolidarität und FDJ, der Superintendent und der Vorsitzende des Rates des Kreises. Hauptforderungen waren das Ende der hauptamtlichen Aktivitäten der SED in den Betrieben, die Entfernung von Pionierorganisation und FDJ aus den Schulen sowie die Auflösung der Kampfgruppen.361 In Eibenstock wurde am selben Tag 357 Vgl. ebd. vom 6. und 9. 12. 1989. 358 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 15. 12. 1989. 359 Protokoll des 2. RTB Karl - Marx - Stadt vom 21. 12. 1989 ( SächsStAC, RTB Karl - Marx Stadt, 1); RdB Karl - Marx - Stadt vom 21. 12. 1989 : Aktennotiz zum 2. Runden Tisch (ebd.). Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 29. 12. 1989. 360 Vgl. Chronologie der Wende in Elternlein vom 8. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 361 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 12. 12. 1989.

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zu Gesprächen am Runden Tisch aufgerufen.362 Am 13. Dezember bildete sich ein Runder Tisch der Stadt Aue, der von nun an mit dem Rat der Stadt und der Stadtverordnetenversammlung kooperierte. Themen waren u. a. eine Verringerung der Umweltbelastung, das Bildungswesen, die Vorbereitung freier Wahlen und die zivile Verwendung von Objekten von MfS und NVA.363 In Sosa rief das Neue Forum am selben Tag den Gemeinderat zur Bildung eines Runden Tisches auf.364 Ende Dezember wurde in Lößnitz ein Runder Tisch gebildet, dem u. a. der Bürgermeister und der Kantor der Lößnitzer St. Johanniskirche angehörten.365 Auerbach : In Auerbach tagte am 7. Dezember auf Drängen der Bürgerinitiative des Kreises ( Bika ) und auf Einladung des Vorsitzenden des Rates des Kreises erstmals ein Runder Tisch des Kreises. Teilnehmer waren Vertreter von Altparteien, FDJ, VdgB, Kulturbund, DFD, Nationaler Front, Bürgerinitiative des Kreises und der Kirchen.366 Der Runde Tisch verstand sich als Fortsetzung der bisherigen Rathausgespräche und als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle im Kreis. Beraten wurde die Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Staatsorgane bis zu freien Wahlen und die künftige Entwicklung des Kreises. Hauptanliegen aller Beteiligten war es, „die demokratische Erneuerung zu aktivieren und einen Ausweg aus der bestehenden Krise zu finden“. Zu den verschiedenen Themenfeldern wurden Arbeitsgruppen gebildet.367 In Treuen lud am 18. Dezember der Bürgermeister zum ersten Gespräch am Runden Tisch ein, in Wernesgrün wenig später die Nationale Front.368 Brand - Erbisdorf : In Frauenstein beteiligten sich am ersten Runden Tisch am 18. Dezember Vertreter des Rates der Stadt, von DBD, NDPD, LDPD, SED PDS, CDU sowie der örtlichen Bürgerinitiative.369 Zwei Tage später tagte in Brand - Erbisdorf erstmals ein Runder Tisch der Stadt. Freilich fehlten hier zunächst Vertreter der Kirchen, der FDJ sowie der neuen Parteien und Gruppierungen, die zu den weiteren Sitzungen geladen wurden. Flöha : In Flöha gab es Anfang Dezember auf Einladung des DBD ein erstes Gespräch der Parteien und Massenorganisationen zur Frage der Bildung eines Runden Tisches. Nach Gesprächen von Vertretern des Neuen Forums und des Rates des Kreises am 12. Dezember über die Zukunft des Kreisamtes für Nationale Sicherheit und über Verwaltungsreformen forderte der 1. Sekretär der SED- Kreisleitung am 15. Dezember in der Presse einen Runden Tisch des Kreises. Dieser trat am 18. Dezember erstmals zusammen. Von den neuen Gruppie362 Vgl. Reinhard Klöppel, Gespräche am Runden Tisch Eibenstock vom 9. 12. 1989 ( HAIT, StKa ). 363 Vgl. Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue vom 18. 2. 1999 ( ebd.). 364 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa vom 17. 3. 1999 ( ebd.). 365 Vgl. Chronologie der Wende der Stadt Lößnitz vom 16. 2. 1999 ( ebd.). 366 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 9. 12. 1989. 367 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 9. 12. 1989. 368 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 166 und 172. 369 StV Frauenstein, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ).

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rungen war das Neues Forum vertreten.370 Einen Tag später tagte im Anschluss an die Auflösung der Nationalen Front erstmals ein Runder Tisch der Stadt Flöha.371 Auch in Eppendorf fanden sich auf Initiative des Bürgermeisters Vertreter von CDU, DBD, SED, der evangelische Pfarrer und zwei Mitglieder der Bürgerinitiative Eppendorf ( Neues Forum ) zusammen. Die Runde arbeitete unabhängig von der Gemeindevertretung und verstand sich als Arbeitsgremium für die Behandlung dringender kommunaler Fragen, für die derzeit von staatlichen Stellen keine Antwort erwartet werden konnte.372 Freiberg : Auf Einladung des Rates des Kreises,373 trafen sich am 13. Dezember Vertreter der Parteien und Massenorganisationen, der Freiberger Bürgerinitiativen Neues Forum, Basisgruppe Konkret, Demokratie Jetzt und der SDP, der Kirche, die Volkskammerabgeordneten des Kreises sowie der Leiter des Volkspolizeikreisamtes Freiberg zum Runden Tisch des Kreises. Vertreter neuer Gruppierungen forderten ein Mitspracherecht für Bürgerinitiativen im Kreistag, die Aufklärung der Ereignisse am Freiberger Bahnhof und die Auflösung des AfNS.374 Am 20. Dezember kam der Runde Tisch der Stadt Freiberg zur ersten Sitzung zusammen.375 Glauchau : Der Runde Tisch des Kreises Glauchau konstituierte sich erst im Januar. Am ersten Runden Tisch der Stadt Meerane nahmen am 23. Dezember Vertreter des Neues Forums, der Kirchen, des Arbeitskreises Wahlen, von NDPD, CDU, LDPD, SED - PDS sowie des Rates der Stadt teil. Der Bürgermeister schlug vor, die Leitung in die Hände der Kirche zu legen. Man vereinbarte, sich alle 14 Tage beim Rat der Stadt zu treffen. Alle Parteien und Organisationen der Stadt konnten sich mit je zwei Vertretern beteiligen. Als nächste Themen wurden Ordnung und Sauberkeit der Stadt, Infrastruktur, Öffentlichkeitsarbeit und Städtepartnerschaft benannt.376 Hainichen : Im Kreis Hainichen einigten sich die „Mandatsträger des Kreistages“ mit dem Rat des Kreises auf ein erstes Gespräch am Runden Tisch des Kreises am 19. Dezember.377 Teilnehmer waren Vertreter von DA, SDP, CDU, SED - PDS, DBD, LDPD, Neues Forum, Massenorganisationen und mit beratender Stimme der Kirche. Es gab Forderungen nach einem Unabhängigen Untersuchungsausschuss für Amtsmissbrauch und einer Öffnung der Kreisseite der „Freien Presse“ für alle Parteien im Wahlkampf.378 Hier konstituierte sich 370 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 7., 15. und 20. 12. 1989. 371 Vgl. Referat des RdS Flöha an Abgeordnete vom 30. 1. 1990 ( StA Flöha ); Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 3. 1. 1990. 372 Vgl. 1. Runder Tisch in Eppendorf von Dezember 1989 ( HAIT, StKa ). 373 Vorsitzender des RdK Freiberg an Andreas Schwinger vom 6. 12. 1989 ( KA Freiberg, Akten Nr. 444). 374 Vgl. Presseinformation zum Gespräch am Runden Tisch, o. D. ( ebd.); RdK Freiberg vom 14. 12. 1989 : Weiteres Gespräch am Runden Tisch ( ebd.); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 16. 12. 1989. 375 Vgl. Wilhelm Schlemmer an Sächsische Staatskanzlei vom 7. 7. 1999 ( HAIT, StKa ). 376 Protokoll des 1. Runden Tisches Meerane vom 23. 12. 1989 ( Stadt Meerane ). 377 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 12. 12. 1989. 378 Vgl. ebd. vom 22. 12. 1989.

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jedoch bereits einen Tag zuvor auch ein Runder Tisch für Sicherheitsfragen, zu dem der Leiter des Volkspolizeikreisamtes einlud.379 Hohenstein - Ernstthal : Nach der Konstituierung am 29. November fand am 13. Dezember eine zweite Tagung des Runden Tisches des Kreises statt. Themen waren u. a. die Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch, die künftige Nutzung des Objektes des Kreisamtes für Nationale Sicherheit und der Medienzugang für neue Gruppierungen.380 Karl - Marx - Stadt : Nach Forderungen der Demokratisch - oppositionellen Plattform als dem Bündnis von SDP, DA, VL, NF, Grüne und verschiedener Facharbeitsgruppen von Bürgerinitiativen nach einem Runden Tisch der Stadt am 5. Dezember beschloss die Stadtverordnetenversammlung am 13. Dezember einen Runden Tisch auf Stadtebene ab dem 3. Januar.381 Klingenthal : In Klingenthal beriet der Runde Tisch des Kreises erstmals am 19. Dezember. Die Gesprächsleitung lag bei Diakon Gunter Wetzel. Stimmberechtigt nahmen alle Parteien und Bürgerinitiativen mit je zwei Stimmen teil, nicht stimmberechtigt waren Organisationen, Vertreter der Kirchen und des Rates des Kreises. Es wurde beschlossen, dass der Runde Tisch Vorschläge erarbeitet, die Kreistag und Rat des Kreises in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen haben. Im Fall einer Ablehnung war dies vor dem Runden Tisch zu begründen. Wie an vielen Runden Tischen wurde eine Protestresolution gegen die Repressalien in Rumänien verabschiedet. Der Runde Tisch forderte von der SED - Bezirksleitung die Unterstellung der „Freien Presse“ unter einen paritätisch besetzten Pressebeirat.382 Marienberg : Auf Forderungen des Neuen Forums nach einem Rücktritt des Rates des Kreises und Drohungen mit einem Warnstreik am 5. Dezember383 reagierte der Rat des Kreises Marienberg mit dem Vorschlag, am Runden Tisch über eine Neuformierung des Rates zu beraten.384 Daraufhin kam es am 11. Dezember zu ersten Gesprächen.385 Am 14. Dezember setzte der Kreistag hier einen Runden Tisch als zeitweilige Kommission des Kreistages ein.386 Oelsnitz : Am 2. Dezember lud der Ratsvorsitzende für den 7. Dezember zum Runden Tisch des Kreises ein. Teilnehmer dieser ersten Runde waren Vertreter von SED, Blockparteien, Neuem Forum, der Bürgerinitiativen Oelsnitz und Bad Elster, FDJ, Pionierorganisation, FDGB, ev. - luth. und ev. - meth. Kirchen sowie 379 Vgl. Christoph Körner, Erinnerungen an die Zeit der Runden Tische im Kreis Hainichen und in der DDR ( PB Christoph Körner ). 380 Niederschrift des Runden Tisches Hohenstein - Ernstthal vom 19. 12. 1989 ( KA Chemnitzer Land, 36646). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 15. 12. 1989. 381 Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 6. und 16./17. 2. 1989. 382 Festlegungsprotokoll des 1. RTK Klingenberg vom 19. 12. 1989 ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg, PB Pfarrer Meinel ). Vgl. Kunzmann, Nachwort mit Chronikfragment ( ebd.); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 21. 12. 1989 und 3. 1. 1990. 383 Aufruf zu einem Warnstreik, o. D. ( StA Marienberg, PB Köhler ). 384 RdK Marienberg an Neues Forum vom 7. 12. 1989 ( ebd.). 385 Vgl. Küttler, Protokoll vom 13. 12. 1989 ( ebd., Akte ZA 10249). 386 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 16. 12. 1989.

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der Rat der Stadt Oelsnitz. Vereinbart wurde eine wechselnde Tagungsleitung zwischen alten und neuen Kräften. Je zwei Vertreter einer Organisation hatten zusammen eine Stimme. Es wurden ein Geschäftsordnungsausschuss gebildet und schnellstmögliche Wahlen gefordert. Der Runde Tisch des Kreises musste sich am 21. Dezember mit der zunehmenden Diffamierung von Befürwortern der deutschen Einheit als Neonazis auseinandersetzen.387 Stadt Plauen : In Plauen ging im Dezember der Runde Tisch aus den Rathausgesprächen hervor. Am 8. Dezember lud hier Superintendent Küttler im Auftrag der Gruppe der 20 zum Runden Tisch der Stadt am 14. Dezember.388 An ihm waren je zwei Vertreter der neuen Parteien und der bisherigen Blockparteien sowie des Rates der Stadt und der Gruppe der 20 vertreten. Diese gab die Tagesordnung vor und hatte immer die Leitung inne. Vertreter der Massenorganisationen konnten nicht teilnehmen. Ab Mitte Dezember konnte der Rat der Stadt nicht mehr ohne die Gruppe der 20 arbeiten, hinter der die Bürgerinitiative Plauen als Organisation der Demonstranten stand. Der Runde Tisch stellte hier bis zu den Kommunalwahlen im Mai 1990 die eigentliche Stadtleitung dar.389 Reichenbach : In Reichenbach trat der Runde Tisch auf Kreisebene erstmals am 5. Dezember zusammen. Am 8. Dezember 1989 traf sich der Runde Tisch in Lengenfeld bereits zum zweiten Mal und beschloss die Bildung von Arbeitsgruppen. Am 12. und 19. Dezember tagte der Runde Tisch der Stadt Reichenbach. Er beanspruchte, bis zu Neuwahlen ein Zwischenparlament zu sein, nicht nur Einfluss auf die Stadtpolitik zu nehmen und darüber zu diskutieren, sondern auch Entscheidungen zu treffen und Beschlüsse zu verabschieden.390 Rochlitz : Am ersten Gespräch am Runden Tisch des Kreises, das am 15. Dezember beim Rat des Kreises stattfand,391 nahmen je zwei Vertreter von Blockparteien, SED - PDS, Neuem Forum und der ev. - luth. Kirche teil. „Im Interesse einer auf das Wesentliche konzentrierten Arbeit“ beschloss man, keine weiteren gesellschaftlichen Gruppen hinzuzuziehen, vereinbarte eine Rotation der Moderation und diskutierte kontrovers die Chancengleichheit in den Medien.392 Auch in Penig fand am selben Tag ein erstes Gespräch am Runden Tisch statt, bei dem die Auflösung des Kreistages gefordert wurde.393 Schwarzenberg : Der Runde Tisch des Kreises traf sich erstmals am 12. Dezember. Teilnehmer waren die Altparteien, die SDP und das Neue Forum. Dis387 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 2., 9. und 23. 12. 1989. 388 Einladung der Gruppe der 20 vom 8. 12. 1989 ( StA Plauen, A 648, Bl. 179). 389 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 151 f.; Küttler / Röder ( Hg.), Es war das Volk, S. 15 f. und 77; Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 19. 12. 1989. 390 Vgl. Landratsamt Reichenbach, Wir sind das Volk – Dokumentation über die Herbsttage 1989 in Reichenbach und Umgebung, S. 110 und 115 ( HAIT, Rei - G9); Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfelde, S. 10 ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 22. 12. 1989. 391 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 15. 12. 1989. 392 Ebd. vom 28. 12. 1989. 393 Vgl. ebd. vom 16. 12. 1989.

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kussionen über Tages - und Geschäftsordnung gab es kaum. Stattdessen wurde gefordert, die Diskriminierung von ehemaligen Mitarbeitern von MfS und SED zu beenden und ihnen eine Chance zum Neubeginn zu geben.394 Stollberg : Anfang Dezember lud der Vorsitzende des Rates des Kreises alle „Mandatsträger“, das Neue Forum und die ev. - luth. Kirche zum Runden Tisch des Kreises ein. Auch anderen im Kreis entstehenden Parteien und Bürgerinitiativen erlaubte er die Teilnahme, sofern sie für „demokratischen Sozialismus in der DDR“ eintraten. Damit bestimmte hier die SED über die Zusammensetzung und schloss nichtsozialistische Richtungen aus. Der Runde Tisch des Kreises tagte erstmals am 6. Dezember. Teilnehmer waren SED, CDU, NDPD, DBD, FDGB, VdgB, Kulturbund, Konsum, DFD, SDP, Neues Forum und Superintendent Kreher. Die LDPD lehnte eine Teilnahme zu den Bedingungen der Staatsmacht ab. Bei der 2. Tagung des Runden Tisches kurz vor Weihnachten ging es um wirtschaftliche Probleme. Nun waren auch FDJ und LDPD vertreten. Ratsvorsitzender Dietmar Nestler ( SED ) informierte über die Bildung eines Operativstabes mit den Leitern des Volkspolizeikreisamtes, des Wehrkreiskommandos sowie dem Kreisstaatsanwalt.395 Werdau : Ein erstes Gespräch am Runden Tisch des Kreises fand in Werdau am 1. Dezember statt. Es stand in Kontinuität der Gespräche von Vertretern des Christlichen Friedensseminars und der SED - Kreisleitung in der Gemeindeschwesternstation Königswalde im November. Beteiligt waren je zwei Vertreter von Parteien, Nationaler Front, des DA, des Neuen Forums, des Friedensseminars und der Kirchen. Zu Unstimmigkeiten kam es, weil die SED über die Nationale Front und die CDU über die katholische Kirche überrepräsentiert schienen. Es wurde eine Gruppe zur Vorbereitung einer unabhängigen Tageszeitung gebildet. Die LDPD forderte die SED - Kreisleitung auf, ihren fortdauernden politischen Anspruch zu beenden. Nur eine gleichberechtigte Arbeit sei erfolgversprechend. Die Sitzungen standen unter der Leitung des Friedensseminars. Ab der zweiten Sitzung am 9. Januar wurde der Rat des Kreises einbezogen.396 In der Stadt Werdau bildeten Kritiker Runder Tische wegen der dortigen Dominanz alter Kräfte einen Bürgerrat, dessen Mitglieder demokratisch gewählt wurden. Er sollte ein Korrektiv zum Runden Tisch sein.397 Der Runde Tisch in Crimmitschau versammelte am 13. Dezember erstmals Vertreter des Rates der Stadt sowie alter und neuer Parteien und Organisationen. Es gab Forderungen nach Wiedererrichtung des Landes Sachsen und nach Umwandlung der „Freien Presse“ in eine unabhängige Zeitung.398 Zschopau : Am 19. Dezember fand beim Rat des Kreises die erste Tagung des Runden Tisches des Kreises mit Vertretern von SED, Blockparteien, FDGB, 394 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 14. 12. 1989. 395 Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 20. 12. 1989. 396 Vgl. Georg Meusel, Wunde Punkte ( HAIT, Wer C5); Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 5. 12. 1989. 397 Vgl. Raum für Güte, S. 180 f. 398 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 19. 12. 1989.

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VdgB, Konsum, FDJ, Handwerkskammer, DSF, DTSB und des Neuen Forums statt. Hauptziele waren die Vorbereitung freier Wahlen 1990, die Sicherheitspartnerschaft und die Bekämpfung neofaschistischer sowie ausländerfeindlicher Tendenzen.399 Einen Tag später trat in Thum erstmals ein Runder Tisch zusammen, der nun monatlich bis zu den Kommunalwahlen tagte.400 Stadt / Kreis Zwickau : In Zwickau wurde am 4. Dezember bei einer Kundgebung bekannt gegeben, dass es ab dem 15. Dezember Gespräche am Runden Tisch geben werde.401 Diese begannen schließlich auf Einladung des Rates der Stadt in Übereinstimmung mit Superintendent Mieth am 19. Dezember im Domgemeindehaus. Teilnehmer waren je zwei Vertreter der alten Parteien, von SDP, Neuem Forum, des Konziliaren Prozesses, des FDGB, der ev. - meth., ev. luth. und katholischen Kirche sowie des Rates der Stadt. Eine Teilnahme der FDJ wurde abgelehnt.402 Beim zweiten Runden Tisch am 28. Dezember ging es um den Umweltschutz.403 Bezirk Leipzig : Im Bezirk Leipzig trat auf Initiative der SED - Bezirksleitung am 1. Dezember ein Runder Tisch zusammen.404 Anwesend waren rund 50 Vertreter von SED, CDU, DBD, LDPD, NDPD, SPD, Neuem Forum, DA, der Initiative „Freie Pädagogen“, der VL, der IFM, der Bürgerinitiative Leipzig, des FDGB, des Rates des Bezirks und der Kirchen. Bei dieser wie auch bei einer Beratung am 13. Dezember ging es um eine Verständigung über Standorte und geeignete Verfahrensweisen. Ein Thema war die Bereitstellung eines Gebäudes, das künftig allen Gruppen als Arbeits - und Beratungsstätte dienen sollte. Vertreter der Kirchen wurden um Moderation gebeten, woraufhin die Superintendenten Friedrich Magirius und Johannes Richter diese Funktion ausübten. Der SED - Bezirksleitung ging es bei ihrer Initiative nach eigenem Bekunden um die Schaffung einer Koalition der Vernunft für eine demokratische, freiheitliche Entwicklung in der DDR und die konsequente und grundlegende Erneuerung des Sozialismus auf antifaschistischer Grundlage. Entsprechend hieß es in einer Pressemitteilung, es sei den Teilnehmern u. a. um eine „grundlegende Erneuerung des Sozialismus in unserem Lande auf antifaschistisch - demokratischer Grundlage“ gegangen. Mit Sorge hätten sich die Teilnehmer über wachsende „Tendenzen von Rechtsradikalismus, Neofaschismus, Ausländerfeindlichkeit und Wiedervereinigungsträumen“ geäußert, wie sie neuerdings bei den Montagsdemonstration zu erkennen seien.405 Das die Stimmung tatsächlich eine 399 Vgl. PB Matthias Zwarg : Sachsen 1989 ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 21. 12. 1989. 400 Vgl. Ortschronik Thum ( StV Thum ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 5. 12. 1989. 401 KAfNS Zwickau vom 4. 12. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 52 f.). 402 Vgl. RdS Zwickau vom 12./13. 12. 1989 ( Friedensbibliothek Zwickau ); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 21. 12. 1989. 403 Vgl. RdS Zwickau vom 28. 10. 1989 ( Friedensbibliothek Zwickau ). 404 Zu den Zusammenhängen vgl. Hollitzer / Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren, S. 547– 589. 405 SED - BL Leipzig : Für Leipziger Volkszeitung am 8. 12. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 6 f.). Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 2./3. 12. 1989; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 4. 12. 1989; Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 92 f.

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andere war, zeigte eine Erklärung des DA, der nach dem Treffen im Auftrag aller neuen Gruppierungen kritisierte, die SED - Spitzenfunktionäre des Bezirkes seien nur zögernd bereit gewesen, Forderungen der demokratischen Gruppen zu akzeptieren. Die brisante Lage in Leipzig sei die Folge von Machtmissbrauch und Misswirtschaft. Die SED müsse daher ihre Vermögensverhältnisse offenlegen. Untersuchungsausschüsse müssen die Ereignisse vom 7. bis 9. Oktober sowie Privilegien und Amtsmissbrauch von Funktionären ebenso untersuchen wie den Wahlbetrug vom Mai 1989. Hierzu zeige die SED keine Gesprächsbereitschaft. Das Gespräch habe gezeigt, dass es „der SED einzig darauf ankommt, sich durch die unabhängigen demokratischen Gruppen zu legitimieren, um Zeit zu gewinnen, ihre Sozialismusvorstellung wieder durchzusetzen.“ Das zeige auch ihre Presseerklärung vom 2./3. Dezember, die Konsens zu Themen vorspiegele, die kontrovers geblieben seien. Dies betreffe z. B. die Formulierung „konsequente und grundlegende Erneuerung des Sozialismus“ im Sinne der SED und die unzutreffende Äußerung zur Montagsdemonstration, die Neofaschismus und „Wiedervereinigungsträume“ in einen Topf werfe.406 Wenig später forderten die neuen Gruppen eine Beteiligung der sechs in Leipzig arbeitenden überregionalen oppositionellen Gruppierungen / Parteien SDP, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Neues Forum, DA, VL und Grüne Partei mit je zwei Vertretern. Die etablierten Parteien SED, LDPD, CDU, NDPD und DBD müssten ebenfalls mit je zwei Vertretern teilnehmen. Außerdem sollten sich zwei kirchliche Persönlichkeiten mit Vorschlags - , Rede - und Antragsrecht beteiligen. Als Grundlage für die Weiterarbeit des Runden Tisches erwarte man bis zum 19. Dezember eine Offenlegung des SED - Besitzes, die Erteilung einer Genehmigung zu Herausgabe, Herstellung und Vertrieb von Informationsblättern, Zeitungen und Zeitschriften an die oppositionellen Gruppierungen sowie selbstverantwortete Sendezeiten im Sender Leipzig, die Installierung von Telefonanschlüssen in den Wohnungen der Sprecher und Vorstandsmitglieder der oppositionellen Gruppierungen, die Zuteilung von Räumen, die Einfuhrgenehmigung für Druck - , Heft - und Vervielfältigungsmaschinen, technische Büroausstattung sowie den Zugang zu Strafvollzugseinrichtungen und medizinischen Einrichtungen. Für die Sitzung am 19. Dezember wurden folgende Themen vorgeschlagen : Aufklärung der Ereignisse vom 2. bis 9. Oktober, Untersuchung der Privilegien der Parteifunktionäre im Bezirk Leipzig sowie Offenlegung der Vorgänge zur Vernichtung der Wahlunterlagen.407 In der „Leipziger Volkszeitung“ forderten am 12. Dezember der DA, die SDP und das Neue Forum politische Handlungsfähigkeit der Runden Tische auf zentraler und lokaler Ebene. Sofortige Wahlen wurden als „verhängnisvoll für unser Land“408 bezeichnet, da die 406 Michael Kleinert, DA, im Auftrag aller am Runden Tisch beteiligten unabhängigen demokratischen Gruppen Leipzigs. In : Leipziger Volkszeitung vom 6.12.1989. 407 Neues Forum, SDP, DA, IFM, Grüne Partei, ÖkoLöwe, i. A. [ gez.] Thomas Rudolph, an Vorsitzenden des RdB Leipzig, Opitz, vom 11. 12. 1989 : Einrichtung eines Runden Tisches auf Bezirksebene ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 8 f.). 408 Leipziger Volkszeitung vom 12. 12. 1989.

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Oppositionsgruppen ihren Klärungs - und Profilierungsprozess noch nicht abgeschlossen hätten und nur ungenügende materielle Bedingungen bestünden. Der Leipziger Runde Tisch trat am 19. Dezember erneut zusammen. Die Beratung war von Diskussionen um Geschäftsordnungen, Stimmrechte und Verantwortlichkeiten gekennzeichnet. Es wurde beschlossen, dass der Runde Tisch des Bezirkes seine Arbeit ab dem 2. Januar aufnehmen solle.409 Altenburg : In Altenburg trat der Runde Tisch des Kreises kurz vor Weihnachten erstmals zusammen. Teilnehmer waren Vertreter von SED - PDS, CDU, LDPD, NDPD, DBD, der Massenorganisationen, der Aktion katholischer Christen, der Basisinitiative Umweltschutz, der ev - luth. Kirche, der Friedensgruppe der Kirchgemeinde, des Neuen Forums und des Rates der Stadt. Die Leitung wechselte zwischen den Teilnehmern. Der Vorschlag der SED - PDS, den Rat des Kreises lediglich zu beraten, wurde zurückgewiesen und stattdessen eine mitwirkende Leitung gefordert. Ziel des Runden Tisches sei es, so hieß es im Informationsblatt des Neuen Forums, durch „diese Art des Mitregierens dem immer noch vorhandenen Machtanspruch der SED entgegen“ zu treten. Um die alten SED - Strukturen endgültig zu brechen, bedürfe es der Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte.410 Borna : Am 3. Dezember kam es in Borna zu einer Besprechung über lokale soziale Aufgaben sowie Umweltprobleme. Diese „Vorläuferveranstaltung“ als auch der am 12. Dezember tagende Runde Tisch des Kreises setzten sich aus Vertretern der Altparteien, der Grünen Partei, des Neuen Forums sowie der SDP zusammen. Superintendent Ekkehard Vollbach wurde zum Moderator gewählt. Ihn unterstützte der katholische Pfarrer Thomas Schorcht. Die Ratsvorsitzende Brigitte Beyer sowie ein Vertreter des Neuen Forums fungierten als Beisitzer. Der Superintendent erklärte, der Runde Tisch biete die Chance zur Zusammenarbeit und fördere eine demokratische Streitkultur. Bei der Sitzung ging es, wie Hartmut Rüffert vom Neuen Forum betonte, um die Umweltbelastung, wegen der der Kreis zum Notstandsgebiet erklärt werden müsse. Diskutiert wurde auch über die zivile Verwendung der Gebäude des Kreisamtes für Nationale Sicherheit.411 Auf der Gründungssitzung des Runden Tisches des Kreises wurde auch über die Einrichtung eines Runden Tischs der Stadt Borna beraten. Leiter dieser Runde wurde der ev. - luth. Pfarrer Ernst Scheibe, sein Stellvertreter der katholische Pfarrer Hans - Joachim Kokot. Der Bornaer Runde Tisch

409 Protokoll der Vorbereitungsversammlung zum Runden Tisch des Bezirkes Leipzig vom 19. 12. 1989 ( SächsStAL, BT / RdB 31253, Bl. 5–8). Vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 93; Leipziger Volkszeitung vom 20. 12. 1989. 410 Klaus Gutmann, Informationen zum „Runden Tisch“. In : klartext. Informationsblatt des Neuen Forums Altenburg / Thüringen vom 6. 1. 1990 ( KA Altenburg, RdK, ABG Kultur 77A ). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 20. 12. 1989. 411 Am Runden Tisch von Dezember 1989 : Zunächst Bauprobleme, nun Wahlen ( Museum Borna, Der Anzeiger. Herbst 89, Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna, 1999). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 15. 12. 1989.

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beschäftigte sich in erster Linie mit aktuellen lokalen Aufgaben wie der Abwasserentsorgung, der Nutzung des ehemaligen Gebäudes der SED - Kreisleitung oder dem Bauzustand der Häuser. Später kam die Vorbereitung der Wahlen hinzu.412 Delitzsch : In Delitzsch konstituierte sich der Runde Tisch des Kreises am 19. Dezember in Anwesenheit insbesondere von Vertretern der Altparteien. Das Neue Forum hatte lediglich Beobachterstatus.413 Döbeln : Auf Einladung des Bürgermeisters trat der Runde Tisch der Stadt Döbeln am 12. Dezember zusammen. Teilnehmer waren Pfarrer Tannhäuser sowie Vertreter des Neuen Forums, von CDU, LDPD, NDPD und der Gruppe Katholischer Christen.414 Am 28. Dezember folgte die erste Tagung des Runden Tisches des Kreises. Zuvor war zwischen dem Rat des Kreises und dem Kreistag vereinbart worden, dass Gespräche am Runden Tisch unter Federführung der CDU organisiert werden,415 die auch die Leitung innehatte. Beteiligte waren Vertreter von SED - PDS, LDPD, NDPD, DBD und Neuem Forum. Hauptthemen waren die Übergabe von Häusern der SED - Kreisleitung und des MfS an das Gesundheitswesen.416 Eilenburg : Am 21. Dezember traf sich auf Anregung der ev. - luth. Kirche erstmals der Runde Tisch des Kreises Eilenburg. Anwesend waren Vertreter der Altparteien, des DA, des Neuen Forums sowie von Kulturbund und FDGB. Auf Antrag wurden die VdgB als Vollmitglied, der DFD als Beobachter, die FDJ jedoch nicht zugelassen.417 Geithain : Den Anfang im Kreis Geithain machte am 9. Dezember der Rat der Stadt Frohburg, der Vertreter aller Parteien und Basisgruppen zum Runden Tisch mit dem Bürgermeister einlud. Diese Runde tagte nun regelmäßig 14 tägig.418 Am 18. Dezember tagte erstmals der Runde Tisch des Kreises mit Vertretern der „fünf staatstragenden Parteien“ und der SDP. Das Neue Forum war nicht vertreten. Vereinbart wurde, dass künftig jede Partei oder Gruppierung, die sich an der Wahl beteiligt, mit zwei Vertretern vertreten sein sollte. Gastgeber war der Ratsvorsitzende. Die SDP erklärte, sie sei nicht bereit, bis zu Wahlen Verantwortung für Entscheidungen des Runden Tisches zu übernehmen. Sie

412 Vgl. Museum Borna, Der Anzeiger. Herbst 89, Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna; Ernst Scheibe, Der Runde Tisch in Borna 1989–1990 ( HAIT, BorG1); Gruhn, Die demokratische Revolution im Kreis Borna. 413 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( StV, Museum Schloss Delitzsch ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 23./24. 12. 1989. 414 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 15. 12. 1989. 415 RdK Döbeln vom 5. 12. 1989 : Protokoll der Beratung mit Mandatsträgern des KT (Landratsamt Döbeln, KA, VA, Signatur 19999). 416 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 3. 1. 1990. 417 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 28. 12. 1989. 418 Vgl. Chronologie der Wende. Aus der Sicht des Geithainer Ortsvereins der SPD ( HAIT, StKa ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 9./10. 12. 1989.

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werde nur Kontrollfunktion wahrnehmen. Die SED - PDS bot den anderen Parteien Räume im Haus der Kreisleitung an.419 Grimma : Der Runde Tisch der Stadt Naunhof tagte am 18. Dezember im Rathaus, um über Kommunalpolitik zu beraten. Neben den etablierten Kräften nahm Pfarrer Wagner sowie ein Vertreter des Neuen Forums teil. Beim ersten Meinungsaustausch ging es um die Modalitäten der bevorstehenden Kommunalwahl. Es wurde vereinbart, dass der Rat der Stadt die Verwaltungsgeschäfte bis zur Wahl führt, um so auch die Vorbereitung der Wahl zu gewährleisten.420 Oschatz : Im Kreis kam im Dezember auf Initiative von Superintendent Kupke ein Vorbereitungskreis zusammen, der beschloss, die von der Kirche organisierten Gesprächsrunden Anfang des Jahres 1990 in der Klosterkirche fortzusetzen. Diese „Montagsrunden“ sollten weiterhin in der Kirche und unter kirchlicher Leitung stattfinden. Charakter und Funktion der Runden solle sich allerdings ändern. Es ging nun nicht mehr um Volksaussprachen, vielmehr entsprach die Runde einem Runden Tisch des Kreises. Es wurde nur noch ein begrenzter Kreis von 22 Personen eingeladen, der die alten und neuen politischen Kräfte des Kreises repräsentierte. Je zwei Vertreter sollten die fünf bisherigen Parteien CDU, DBD, LDPD, NDPD und SED stellen, je zwei Vertreter das Neue Forum, die SDP, der Ökokreis sowie die ev. - luth. und katholische Kirche. Andere neue Gruppierungen hatten sich nicht gebildet. Schwerpunktthemen sollten das Gesundheitswesen, Belange der Schule, Baufragen, die öffentliche Versorgung, die Wahlvorbereitung und die deutsche Einheit sein. Angesichts der prekären medizinischen Versorgung im Kreis sollte mit dem Thema „Gesundheitswesen“ begonnen werden. Es wurden aber nicht nur einzelne Sachthemen diskutiert, vielmehr fassten die Stimmberechtigten auch Beschlüsse und gaben Hinweise, die dann von den verantwortlichen Stellen verwirklicht wurden. Besonders wichtig waren die Oschatzer Montagsrunden und Bürgerforen für die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen. Die Montagsrunden entsprachen den Runden Tischen, die zu dieser Zeit überall im Lande entstanden. Man gab der Einrichtung nur einen anderen Namen, um nicht einfach zu kopieren, was es anderweitig schon gab. Auf Kreisebene gingen die wesentlichen Impulse von der Kirche aus, in Kommunen auch von Blockparteien. So entstanden die Runden Tische in Mügeln und Dahlen auf Initiative der NDPD.421 Schmölln : In Schmölln trafen sich Vertreter der Parteien, Kirchen und neuen Kräfte am 14. Dezember am Runden Tisch. Ziel war es, die Regierbarkeit der Stadt zu erhalten. Der Rat der Stadt wurde beauftragt, bis zu Kommunalwahlen weiterzuarbeiten.422 Wurzen : Am 6. Dezember rief der LDPD - Kreisvorstand auf der Kreisseite der „Leipziger Volkszeitung“ zur Bildung eines Runden Tisches des Kreises auf 419 420 421 422

Ebd. vom 20. 12. 1989. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 3. 1. 1990. Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 115–117. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Schmölln, vom 16./17. 12. 1989.

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und lud dazu am 12. Dezember in die Berufsschule ein.423 In der Stadt Wurzen konstituierte sich erst im Februar 1990 ein Runder Tisch. Runde Tische der Jugend : Neben den regionalen bildeten sich ab Dezember auch einige Runde Tische der Jugend. In Görlitz lud der Stadtrat für Jugendfragen, Körperkultur und Sport alle Jugendorganisationen an einen Runden Tisch der Jugend.424 In Großenhain lud die FDJ - Kreisleitung alle Jugendorganisationen des Kreises zum Runden Tisch über Jugendpolitik ein. Teilnehmer waren die Landjugend, die CDU, kirchliche Gruppen und die FDJ, während sich „Julia“ weigerte, am Runden Tisch der Jugend unter dem Dach der FDJ mitzuwirken.425 In Zwickau tagte ein Runder Tisch der Jugend auf Einladung des Jugendsekretärs der ev. - meth. Kirche.426 Bildung des Runden Tisches der DDR und Beschluss zur Auf lösung des AfNS (7.12.) Parallel zur allerorts laufenden Bildung kommunaler und regionaler Runder Tische traf sich am 1. Dezember auch eine Kontaktgruppe zur Vorbereitung eines Runden Tisches der DDR ( Zentraler Runder Tisch ).427 Dieser konstituierte sich am 7. Dezember im Berliner Dietrich - Bonhoeffer - Haus unter der Moderation von Oberkirchenrat Martin Ziegler, Monsignore Karl - Heinz Ducke und Pastor Martin Lange. Teilnehmer waren Vertreter der fünf Regierungsparteien, des FDGB, der Kirchen, des Neuen Forums, des DA, der Grünen Partei, der IFM, der SDP und der VL.428 Die Blockparteien benannten „fast durchgängig“ Vertreter, die schon in den Jahren zuvor als hauptamtliche Funktionäre dem Parteiapparat angehört hatten.429 Bei den ersten Sitzungen gab es Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung. Die in einer „Kontaktgruppe“ zusammengeschlossenen neuen politischen Kräfte bestanden auf einer paritätischen Zusammensetzung der alten und neuen Parteien und Gruppen.430 Da der Zentrale Runde Tisch ebensowenig durch freie Wahlen legitimiert war wie die Volkskammer, stellte sich die Frage seiner Legitimität. In einer Erklärung der oppositionellen Gruppen hieß es, am Runden Tisch würden sich die politischen Kräfte des Landes versammeln, die sämtlich über keine hinreichende Legitimation durch freie Wahlen verfügten. Sie könnten deshalb keine grundlegenden 423 424 425 426 427

Vgl. Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989 ( HAIT, Wur A6). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 7. und 22. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 7. und 14. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 30. 12. 1989. Aktennotiz zur Beratung der Kontaktgruppe vom 1.12.1989 als Vorbereitung für Gespräche am Runden Tisch vom 7. 12. 1989 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). Zum Zentralen Runden Tisch vgl. u. a. Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch; Semtner, Der Runde Tisch; Hahn, Der Runde Tisch; Weiß / Heinrich, Der Runde Tisch; Izeki, Das Erbe, S. 29–51. 428 Teilnehmer am Rundtisch - Gespräch vom 7. 12. 1989 im Dietrich - Bonhoeffer - Haus Berlin ( BArch Berlin, A 3, 1, Bl. 5 f.). 429 Bericht der Enquete - Kommission, S. 210. 430 Vgl. dazu Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 64 f.

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Entscheidungen treffen.431 Man träfe sich aber, so eine Erklärung des Runden Tisches, aus Sorge um „unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung“. Man wolle keine Parlaments- oder Regierungsfunktion ausüben, sondern sich mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit wenden. Man forderte von Volkskammer und Regierung, vor wichtigen Rechts - , Wirtschafts - und finanziellen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden und verstand sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle. Geplant wurde, bis zu freien Wahlen zu wirken. Das Gremium beschloss, den 6. Mai 1990 als Termin für Volkskammer wahlen zu empfehlen. Angekündigt wurde die Bildung von Arbeitsgruppen zur Erarbeitung von Entwürfen einer Verfassung sowie von Wahl - , Parteien - und Vereinigungsgesetzen. Die Teilnehmer forderten die Regierung einstimmig auf, das AfNS aufzulösen.432 Der Zentrale Runde Tisch wollte weder Regierung noch Parlament ersetzen, wohl aber diese kontrollieren. Seine Legitimation leitete sich vor allem daraus ab, dass er in dieser Funktion von der Bevölkerung als Übergangsregelung akzeptiert wurde.433 Er traf sich von nun an wöchentlich. 2.6

Demonstrationen für deutsche Einheit, Sicherheitspartnerschaften und Auf lösung der Bezirks - und Kreisämter für Nationale Sicherheit (7.–13.12.)

Die Forderung des Zentralen Runden Tisches nach einer Auf lösung des AfNS am 7. Dezember veränderte die Situation im Bereich der Staatssicherheit von Grund auf. Die bisherige Annahme der Mitarbeiter, ihre Tätigkeit würde in irgendeiner Form fortgesetzt, war damit in Frage gestellt. Andererseits konnten sie auf eine Weiterbeschäftigung hoffen, forderte doch der Runde Tisch ihre beruf liche Absicherung. Während er tagte, wertete die AfNS - Führung die Lage aus. Die Nachrichten waren auch so beunruhigend genug. Einige Bezirksämter (u. a. in Dresden) waren nicht mehr, andere (u. a. Karl-Marx-Stadt, Leipzig) mehr oder weniger eingeschränkt arbeitsfähig. Oft waren die Akten nicht vor dem Zugriff der Bevölkerung sicher.434 In Leipzig war die Abteilung VIII regelrecht gestürmt worden. Hier, so die Information aus dem Bezirksamt, habe man die Mitarbeiter einfach „weggejagt“.435 Um die Kontrolle zu behalten, entsandte 431 Erklärung der Opposition vom 7. 12. 1989 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). 432 Beschlüsse des Rundtisch - Gespräches vom 7./8. 12. 1989 ( BArch Berlin, A 3, 1, Bl. 1– 4). Abgedruckt in Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 23–26; Neues Deutschland vom 8. 12. 1989. 433 Für Süß ergab sich seine Legitimation auch daraus, „dass die Persönlichkeiten und Organisationen, die an diesem Tisch zusammensaßen, in der Öffentlichkeit Vertrauen genossen“. Süß, Mit Unwillen, S. 472. Im DA, 24 (1991), S. 601, bezeichnet er den Runden Tisch als „plebiszitäres Gremium revolutionär - demokratische( r ) Legitimität“. 434 Vgl. AfNS, ZOS vom 8.–9. 12. 1989 : Rapport ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 247– 253). 435 Zit. bei Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi. In : VOX, Spiegel TV Special vom 12. 1. 1996 um 22.05–22.45 Uhr.

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Modrow Regierungsbevollmächtigte in die Bezirke. Sie waren befugt, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Staats - und Rechtspflegeorganen und Vertretern der Bürgerkomitees, alle mit dem AfNS zusammenhängenden Fragen zu beraten und einer Lösung zuzuführen.436 Sie schalteten sich in die Arbeit der Bürgerkomitees ein und versuchten, diese im Sinne der Regierungspolitik zu lenken. Allen Diensteinheiten wurde befohlen, die „absolute Sicherheit der Dienstobjekte“ zu gewährleisten.437 Außerdem wurde, entgegen aller öffentlichen Bekundungen, die verstärkte Fortsetzung der Aktenvernichtung befohlen.438 Alle Dienststellen des AfNS, aber auch die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei, wurden zur „unverzüglichen“ Vernichtung von „unberechtigt angelegten Dokumenten“ unter Aufsicht der Regierungsbeauftragten, Vertretern der örtlichen Staats - und Rechtspflegeorgane sowie der Öffentlichkeit verpflichtet.439 Nach Erkenntnissen des Neuen Forums Rostock wies Modrow über Telex vor allem die Vernichtung von Akten an, die den Zusammenhang der Befehlsstruktur zwischen SED - , Staats - und Sicherheitsapparat verdeutlichten.440 Später bestritt er dies und erklärte, Schwanitz habe eigenmächtig gehandelt.441 Ein Teil der zur Vernichtung freigegebenen Unterlagen betraf die Kontrolle von Gegnern des Regimes. Parallel dazu wurden Befehle und Weisungen außer Kraft gesetzt, „die auf eine breite Überprüfung und Kontrolle von Personen abzielten“.442 Schwanitz wies an, autorisierten Kontrollgruppen zurückhaltend Zutritt zu gewähren und benannte Dokumente, in die Einsicht gegeben werden sollte.443 Die Bürgerkomitees sahen sich am Abend des 7. Dezember mit der Entscheidung der Regierung zur Aktenvernichtung konfrontiert, sie mussten aber auch Stellung zur Forderung des Zentralen Runden Tisches beziehen, das AfNS aufzulösen. Die Reaktionen waren so vielfältig wie ihre Zusammensetzung. „Gemäßigtere Kreise“ arbeiteten von nun an mit den Regierungsbeauftragten zusammen und setzten sich über Warnungen „revolutionärerer Kreise“ hinweg, die Regierung wolle den Vertretern der Bürgerbewegung nur „Sand in die 436 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 7. 12. 1989 : Persönliche Erklärung des Leiters auf der Pressekonferenz am 7. 12. 1989 ( BStU, ZA, VIII 1829, Bl. 113); Stasi NASI, maschinenschriftliche Notizen, o. D. ( HAIT, Iltgen 1). 437 Leiter des AfNS, gez. i. A. Engelhardt, an Diensteinheiten vom 7. 12. 1989 ( BStU, ZA, VIII 1829, Bl. 115). 438 Joachim Gauck spricht daher von einem Doppelspiel Modrows. Vgl. Am Tag, als die Stasizentrale gestürmt wurde. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.45 Uhr. 439 MdI, Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Wagner, an Chefs der BDVP 1– 15 vom 7. 12. 1989 : Anlage : Fernschreiben an Beauftragte des Vorsitzenden des Ministerrates, gez. Hans Modrow ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 440 Vgl. Protokoll der Sitzung des Landessprecherrates mit Vertretern der Runde - Tische Gruppe des Neuen Forums vom 13. 1. 1990. Zit. bei Schulz, Neues Forum, S. 44. 441 Vgl. Walter Süß, Als der Glaube an den Staat DDR verloren ging. Regierungszeit Modrow : Versuch einer Bilanz. In : Das Parlament vom 22. 3. 1991. 442 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 7. 12. 1989 ( BStU, ZA, SDM 2275, Bl. 188 f.). 443 AfNS an alle BÄfNS und KÄfNS vom 7. 12. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Grimma 264, Bl. 26).

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Augen streuen“. Erst später, so Joachim Gauck, zeigte sich, dass die Befürchtungen gerechtfertigt waren.444 Flankiert wurde das Vorgehen der Regierung durch öffentliche Appelle von Schwanitz, zahlreiche Mitarbeiter des AfNS befänden sich „in höchster Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit“. Es komme zu Gewaltandrohungen gegen sie und ihre Familien. Er appellierte, Gewalttätigkeiten einzustellen.445 Von der Gewalt des MfS gegen protestierende Bürger im Oktober war keine Rede. Die Mitarbeiter des AfNS, so der Stasi - General, wirkten verfassungsgemäß und stünden hinter dem Aufruf „Für unser Land“. Künftig werde man sich nur noch mit Verfassungsfeinden, sprich nicht - sozialistischen Gruppierungen, befassen.446 Derartige Äußerungen verstärkten die Skepsis gegenüber dem AfNS, vertrat doch ein wachsender Teil der Bevölkerung mit Forderungen nach freiheitlicher Demokratie und Wiedervereinigung verfassungsfeindliche Positionen. Auch aus Bezirks - und Kreisämtern kamen vergleichbare Stellungnahmen. Die Mitarbeiter des Bezirksamt für Nationale Sicherheit Cottbus drückten ihre ernste Besorgnis um das Weiterbestehen „unserer sozialistischen“ DDR aus und wandten sich gegen die Auf lösung des AfNS.447 Aus dem Bezirksamt Gera kam ein Aufruf aller nachgeordneten Kreisämter, in dem die SED davor gewarnt wurde, sich die Macht aus der Hand reißen zu lassen. Es gelte, die Anstifter der Unruhen zu paralysieren und die Arbeit des Amtes fortzusetzen.448 Der Aufruf hörte sich wie eine Aufforderung zum militärischen Putsch an.449 Ähnliche Töne waren auch andernorts zu hören. Die Mitarbeiter des Kreisamtes Hoyerswerda erklärten, sie seien „zu jeder Stunde bereit, für die Politik der Erneuerung auf der Basis des Sozialismus“ zu kämpfen und forderten den Schutz des Sozialismus. „Wie lange“, so hieß es, „sollen wir uns noch mit ansehen, wie die ehrliche Arbeit unserer Mitarbeiter mit Füßen getreten wird“. Das Kreisamt Guben erklärte, mit der Abschaffung des AfNS werde „eine grundlegende Garantie“ für die Fortexistenz der DDR „als souveräner, eigenständiger sozialistischer Staat entzogen“. Die Alternative seien Wirtschaftsspionage, Sabotage, Ausverkauf, totaler Ruin der Wirtschaft, neonazistischer Terror und Gewalt, organisiertes Verbrechen, Drogenhandel und Drogentote. Ähnliche Aufrufe kamen aus verschiedenen Ämtern.450 Ihre Intention war klar. Die Mitarbeiter zeigten sich bereit, als geläuterte Geheimpolizei einem erneuerten Sozialismus zu dienen. Sie fanden in der Bevölkerung, die keine wie auch immer geartete sozialistische 444 Am Tag, als die Stasizentrale gestürmt wurde. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.45 Uhr. 445 Leiter des AfNS an Leiter der Diensteinheiten vom 7. 12. 1989 : Persönliche Erklärung des Leiters des AfNS auf der Pressekonferenz am 7. 12. 1989 ( BStU, ZA, VIII 1829, Bl. 113). 446 Interview mit Wolfgang Schwanitz. In : Berliner Zeitung vom 7. 12. 1989. 447 BAfNS Cottbus vom 9. 12. 1989 ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Grimma 264, Bl. 11 f.). 448 6. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 8. 1. 1990 : Info 3 : Fernschreiben vom 9. 12. 1989. Heute wir – morgen ihr. Gez. Das Kollektiv des BAfNS Gera und die Kreisämter ( HAIT, KA 7, Auf lösung MfS / AfNS 12/89–10/90). 449 So Süß, Entmachtung, S. 147. 450 Alle Aufrufe in BStU, ASt. Leipzig, KDfS Grimma 264, Bl. 13–25.

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Neuauf lage wünschte, kaum Resonanz. Zu viele Bürger hatten schlechte Erfahrungen mit der SED - Geheimpolizei gemacht. Auch am 8. Dezember blieb die Lage gespannt. Einige Ämter waren arbeitsunfähig, andere arbeiteten fast normal.451 Der Innenminister nannte die Lage besorgniserregend und schwer beherrschbar. Sie zeige „anarchistische Züge“ und führe „teilweise zur Handlungsunfähigkeit“ der Staatsorgane.452 Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen rief gegen Hass und Rache, zu Gewaltlosigkeit und zum Erhalt der „lebensnotwendigen Ordnungen“ auf.453 Die stellenweise anarchische Situation und die fehlende Koordinierung durch eine Zentrale waren freilich Kennzeichen des revolutionären Prozesses und des ungesteuerten Aufbruchs von unten, den die Regierung Modrow zwecks Lenkung der Entwicklung durch den Erhalt der Staatlichkeit zu steuern und zu bremsen versuchte.454 In der Nacht zum 9. Dezember wandte sich Modrow hilfesuchend an Kohl und bat ihn, beruhigend auf die Massen einzuwirken.455 Schwanitz ordnete an, die Auf lösung der Kreisämter bis zum 12. Dezember abzuschließen,456 alle Nachrichtenverbindungen zu kappen, die Angehörigen zeitweilig zu beurlauben und die Gebäude an die Räte der Kreise zu übergeben. Den Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei und Volkspolizeikreisämtern wurde die Unterstützung des Prozesses befohlen.457 Aus Sicht von Schwanitz war Eile geboten, um eine weitere Eskalation und den Zugriff auf die Unterlagen und die Bewaffnung der Kreisämter zu verhindern. Diese symbolisierten für die Menschen durch ihre flächendeckende und bedrohlich wirkende Präsenz am greifbarsten das verhasste MfS. Trotz der morbiden Bausubstanz vieler Wohngebäude hatte das MfS in vielen Kreisstädten neue Gebäude mit verspiegelten Fenstern, verkleideten Fassaden, Außenkameras, riesigen Antennenanlagen und Sicherungsabsperrungen errichten lassen. Sie wirkten wie Festungen einer fremden Besatzungsmacht und lösten bei vielen Menschen Beklemmungen aus. Wohl auch daher befahl Schwanitz, den politischen Charakter der Auf lösung zu unterstreichen.458 451 Vgl. AfNS, ZOS vom 8.–9. 12. 1989 : Rapport ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 247– 253). 452 MdI vom 8. 12. 1989 : Thesen für die Dienstberatung des Ministers mit den Chefs der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 453 Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR : Presseinformation 43/89 ( ebd., C 20 I/3–2878, Bl. 39 f. ); Erklärung der KEK vom 8. 12. 1989 ( ebd.). Vgl. Die Kirche vom 8. 12. 1989; KiS, 1 (1990), S. 40. 454 Vorsitzender des RdB Leipzig vom 8. 12. 1989 : Weisung zur Gewährleistung des operativen Handelns der Regierung ( SächsStAL, BT / RdB, 22707). 455 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 71 f. 456 AfNS, Befehl Schwanitz vom 9. 12. 1989 ( BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 51 f.). Vgl. Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 13. 12. 1989 : Lage in den Bezirken am 12. 12. 1989 ( ebd., Bl. 22); AfNS, ZOV vom 9. 12. 1989 : Arbeitsmöglichkeiten der Bezirksämter ( ebd., Bl. 59 f.). 457 MdI, Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes an Chefs der BDVP 1–15 vom 10. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52461). Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( ebd., Bl. 118); BDVP Leipzig an VPKÄ vom 10. 12. 1989 ( SächsStAL, BDVP L, 2840 II ). 458 Leiter des AfNS an BÄfNS vom 9. 12. 1989 ( BStU, ZKG 129, Bl. 51 f.).

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Bereits Ende November hatten Modrow, Markus Wolf und Mitglieder des Kollegiums des AfNS grundsätzlich die Weichen in Richtung Umwandlung in einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst gestellt. Angesichts der Besetzung der Dienststellen und der Forderung des Zentralen Runden Tisches nach Auf lösung wurde die Umwandlung nun forciert vorangetrieben. Am 9. Dezember informierte der Stellvertreter von Schwanitz, Gerhard Niebling, die Leiter der Bezirksämter über die bevorstehende Umwandlung.459 Zwei Tage später erfolgte eine erste Instruierung der Leiter der Hauptabteilungen des AfNS. Nachrichtendienst und Verfassungsschutz sollten dem Regierungschef direkt unterstellt und zur Kontrolle der Geheimdienste Kommissionen der Volkskammer gebildet werden.460 Zur Auf lösung und zur Umwandlung der Bezirksämter wurden Kommissionen gebildet. Die Arbeitsfähigkeit der Bezirksämter war zu diesem Zeitpunkt außer im Bezirk Cottbus nicht bzw. nur noch eingeschränkt gegeben. Die Objekte wurden durch die Volkspolizei bewacht, teilweise wie in Leipzig zusammen mit Bürgern. Hier war das Bezirksamt geschlossen und das Bürgerkomitee begann mit der Sichtung von Materialien.461 Am 12. Dezember war kein Bezirksamt mehr arbeitsfähig.462

Bild 54: Demonstranten vor der „Runden Ecke“ in Leipzig am 11.12.1989. 459 Stellvertretender Leiter des AfNS an Leiter der BÄfNS vom 9. 12. 1989 ( ebd., Bl. 102– 104). 460 Vgl. AfNS, Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( ebd., ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 33). 461 Vgl. Ministerrat, Informationszentrum : Tätigkeit der Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates, o. D. ( ebd., ZKG 129, Bl. 69–71). 462 Vgl. AfNS, Lagezentrum vom 12. 12. 1989 ( ebd. 127, Bl. 297).

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Parallel zur Umwandlung befahl Schwanitz der Berliner AfNS - Zentrale, den Bestand an IM - Unterlagen durch „Verkollerung“ weiter zu reduzieren,463 nachdem immer mehr IM dies forderten.464 Generell ging die Aktenvernichtung in großem Stil weiter. Jeder Mitarbeiter beseitigte nach Kräften alle Unterlagen, die ihn belasteten. Ähnlich sah es im Partei - und sonstigen Staatsapparat aus. Für die Diensteinheiten, in denen sich die Vernichtung verzögerte, wies Schwanitz an, unbedingten Quellenschutz zu gewährleisten. Befohlen wurde die „Liquidierung von rund 1 000 Tonnen Papier“.465 Selbst wenn es sich dabei nur um Formulare und Broschüren handelte, waren die Bürgerkomitees vorsichtig. Unter dem Vorwand der Beseitigung überflüssiger Materialien gelangten ständig wichtige Akten in den Reißwolf oder wurden verbrannt. Daher beriet man in den Bürgerkomitees, wie trotz Gewährleistung der Geheimhaltung die Übersicht und Kontrolle behalten werden konnte. In Dresden sprach sich der Runde Tisch des Bezirkes auf seiner 2. Sitzung am 21. Dezember dafür aus, dass vier unabhängige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Akten der MfS - Bezirksstelle ansehen und entscheiden sollten, welche Teile vernichtet werden konnten.466 Ähnlich war die Praxis auch in anderen Bezirksämtern.467 Die Schließung der Kreisämter verzögerte sich. Am angewiesenen 12. Dezember waren erst etwa 70 geschlossen worden.468 Nun wurde der 17. Dezember als neues Datum bestimmt.469 Bis zum 14. Dezember erhöhte sich die Zahl der geräumten Kreisämter auf 203 von insgesamt 209. Da auch die „Ausweichführungspunkte“ der Bezirks - und Kreisämter bevorzugte Ziele von Demonstrationen waren, wies die Regierung an, auch diese aufzulösen und „bürgerfreundliche Lösungen“ für ihre weitere Ver wendung zu finden.470 Bis zum Jahresende wurden 304 Objekte an territoriale Einrichtungen übergeben, darunter 192 Kreisämter und 67 Objekte der Bezirksämter.471

463 AfNS an Abt. XII im Hause : Löschauftrag, o. D. In : Jürgen Fuchs, Landschaften der Lüge ( III ). In : Der Spiegel vom 2. 12. 1991. Vgl. FAZ vom 13. 12. 1991; Die Andere, (1991) 50, S. 11. 464 Vgl. Leiter des BAfNS Karl - Marx - Stadt an Leiter des AfNS vom 5. 12. 1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, L 188, Bl. 3). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 47. 465 AfNS, Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 43). 466 Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des RTB Dresden vom 21. 12. 1989 ( PB Matthias Rößler ). 467 Vgl. Verfassungsschutz der DDR vom 29. 12. 1989 : Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches mit vom Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR ( BStU, ZKG 129, Bl. 176). 468 Vgl. Leiter des AfNS an Leiter der BÄfNS vom 12. 12. 1989 ( ebd., ZA, 103658). 469 Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( ebd., ZKG 129, Bl. 22). 470 Ausführungen von Peter Moreth auf der Beratung des Ministerrates der DDR mit Vorsitzenden der RdB am 14. 12. 1989, Mitschrift des Vorsitzenden des RdB Potsdam, Herbert Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A /3274). 471 Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 1. 1. 1990 : Lage in den Bezirken, Anlage 2 : Übergabe der Objekte und Einrichtungen des MfS / AfNS an andere Nutzer ( BStU, ZKG 128, Bl. 217 f.).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Zwar führte die Auf lösung des AfNS zu einem Rückgang der Proteste, gleichzeitig nahmen aber die Aggressionen zu. Modifizierungen am sozialistischen System, wie von Modrow avisiert, reichten den meisten Menschen nicht mehr und führten eher zu Unmutsäußerungen. „Äußerst massiv“ wurde stattdessen auf Demonstrationen vor allem in Leipzig, Dresden, Karl - Marx - Stadt, Zwickau, Heiligenstadt und Halle die Wiedervereinigung gefordert. Die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Einheit nahmen zu.472 Bezirk Dresden : In Dresden fand am 7. Dezember eine Begehung des Bezirksamtes statt.473 Die zuständigen Offiziere verweigerten dabei jede Mitarbeit, und überall zeigten sich Spuren bereits vollzogener Vernichtung von Unterlagen.474 Die Wut der Bevölkerung machte sich angesichts der Ohnmacht gegenüber dem Verhalten des AfNS auf andere Weise Luft. Vor der Siedlung des AfNS an der Bautzner Straße belagerten aufgebrachte Bürger die Häuser von Stasi - Mitarbeitern und warfen Steine in die Fensterscheiben.475 Das Neue Forum rief dazu auf, Fälle von Vernichtung von Akten, sowie Absetzbewegungen und Amtsmissbrauch sofort der Polizei zu melden.476 Wie gespannt die Lage war, zeigte sich, als am 8. Dezember wegen einer befürchteten Stürmung und Besetzung für die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden und die StVE Bautzen I und II Einsatzalarm ausgelöst wurde. In Bautzen sollte nach Hinweisen aus Betrieben die StVE II angegriffen werden, um Strafgefangene zu befreien. Die Aktion wurde abgeblasen, da alles ruhig blieb.477 Am selben Tag berieten Vertreter der Parteien und neuen Gruppierungen, der Kirchen, des Rates des Bezirkes und der „Sicherheitsorgane“. Sie warnten vor Generalstreik, Anarchie, Selbstjustiz sowie Besetzungen und forderten die Bevölkerung auf, sowohl Volksvertretungen als auch basisdemokratische Initiativen zu unterstützen.478 Zwischen den neuen politischen Kräfte und der Volkspolizei wurden „Sicherheitspartnerschaften“ in gemeinsamen Kommissionen vereinbart, die sich von nun an überall konstituierten und für die von Staatsseite die Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei und der Volkspolizeikreisämter zuständig waren. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Auflösung des AfNS.479

472 Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( ebd. 129, Bl. 20 f.). 473 Vgl. AfNS, ZOS vom 6.–7. 12. 1989 : Lage ( ebd., ZA, XXII 828, Bl. 17–21). 474 Vgl. Die Union vom 8. 12. 1989; Fricke, Zur Abschaffung, S. 60. 475 Vgl. Der Spiegel vom 18. 12. 1989. 476 Sächsische Zeitung vom 7. 12. 1989. 477 MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 111 f.). In Schwerin gab es Hinweise auf eine Besetzung der 8. Mot - Schützendivision, um in den Besitz von Waffen zu kommen. Die Aktion wurde friedlich verhindert. Vgl. AfNS, ZOS vom 11.–12. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZKG 129, Bl. 100). 478 Aufruf : Für die Sicherung des täglichen Lebens, o. D. ( SächsStAD, BT / RdB 47116/3, Bl. 129). 479 Vgl. 1. Bericht der gemeinsamen Kommission der Bürger vertreter / Beauftragten der Regierung im ehem. BAfNS Dresden vom 3. 1. 1990, gez. Reinfried und Stein ( HAIT, KA 7 Auf lösung MfS / AfNS 12/89–10/90).

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Polarisierung auf den Straßen

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Bild 55: Montagsdemonstration am 11.12.1989 am Altmarkt in Dresden.

Nach einer Montagsdemonstration in Dresden am 11. Dezember begann am nächsten Tag im Bezirk Dresden die Auf lösung der Kreisämter. Ausrüstungen und Dokumente wurden unter Aufsicht von Volkspolizei und Bürgerkomitees in das Bezirksamt für Nationale Sicherheit transportiert. An diesem Tag wurde in Dresden „äußerst massiv“ die Wiedervereinigung gefordert.480 Bautzen : In Bautzen wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit am 7. Dezember vom Militärstaatsanwalt kontrolliert. Wenig später nahm die Bürgerinitiative erstmals Einsicht in die Akten und stellte fest, dass wichtige Unterlagen fehlten. Es folgten Untersuchungen über das Wirken des MfS im Kreis, u. a. bei der Post und in anderen Einrichtungen.481 Am 11. Dezember demonstrierten einige Hundert Bürger unter dem Motto „Rettet unsere Altstadt“ in Bautzen.482 Auch hier gab es erste Deutschlandfahnen und Deutschland - Rufe, was beim Neuen Forum auf Bestürzung und Unverständnis stieß. Hier wünschte man einen demokratischen Sozialismus in einer souveränen DDR, was zum schnellen Bedeutungsverlust führte. Am 12. Dezember wurde das Kreisamt endgültig

480 Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 20 f.). 481 Vgl. Sächsische Zeitung vom 9./10. 12. 1989; Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 482 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 13. 12. 1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

von der Volkspolizei übernommen, Waffen und Nachrichtentechnik wurden ins Kriminalhauptamt, verbliebene Akten nach Dresden gebracht.483 Bischofswerda : In Bischofswerda wurde das Kreisamt durch eine Bürgerinitiative zusammen mit der Volkspolizei am 12. Dezember geräumt. Funktechnik, Waffen und Munition wurden im Volkspolizeikreisamt deponiert.484 Im Amt gab es 22 Schnellfeuerwaffen mit Munition, 37 Pistolen, 2 Panzerbüchsen, 20 Handgranaten, Schlagstöcke und Führungsketten. Noch vorhandene Akten wurden in Säcken, Bündeln oder lose auf Fahrzeuge der Volkspolizei verladen. Akten über Kirchenbespitzelungen waren vernichtet. Am Abend rollte ein Transport mit Papieren nach Dresden, wo aus allen Ämtern Lastwagen eintrafen. Hier wurden sie in Einzelhaftzellen gelagert.485 Nach abgelehnten Forderungen nach Akteneinsicht ( z. B. in Unterlagen über die Kirchen ) erhielten Mitglieder des Bürgerkomitees anonyme Drohungen.486 Am Abend fand in der Nikolaikirche von Pulsnitz ein Fürbittgottesdienst statt, bei dem aufgerufen wurde, gegen neonazistische Tendenzen vorzugehen und ehemaligen MfS - Mitarbeitern einen Neuanfang zu ermöglichen.487 Dippoldiswalde : Am 12. Dezember wurde das Kreisamt in Dippoldiswalde durch die Volkspolizei im Beisein des Kreisstaatsanwaltes, des Leiters des Volkspolizeikreisamtes und von Mitgliedern des Neuen Forums aufgelöst.488 Einigen der ca. 80 Mitarbeiter konnte bald ein Arbeitsplatz in der Landwirtschaft vermittelt werden.489 Freital : Am 12. Dezember wurde das Kreisamt in Freital unter Aufsicht des Kreisstaatsanwaltes und im Beisein von Bürgervertretern aufgelöst. Beteiligt waren ein Militärstaatsanwalt, der Leiter des Volkspolizeikreisamtes, Waffenexperten der Volkspolizei und Vertreter des Neuen Forums. Die ca. 40 Mitarbeiter waren im Speiseraum versammelt, den sie nur mit Erlaubnis verlassen durften. Während der Aktion wurde das Objekt von bewaffneten Volkspolizei Angehörigen gesichert. Etwa 3 000 Aktenordner wurden in Säcke gefüllt und unter Aufsicht auf Lkw verladen. Niemand durfte in Unterlagen Einsicht nehmen. Neben den Arbeitsräumen wurden auch die Waffenkammer und die gesamte Funk - und Nachrichtentechnik beräumt.490 Görlitz : In Görlitz wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit am 7. Dezember versiegelt und der Volkspolizei zur Kontrolle übergeben. Am 12. Dezember 483 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 39). 484 Vgl. Große Kreisstadt Bischofswerda : Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 14. 12. 1989. 485 Vgl. Hubertus Wolf an Aust vom 24. 7. 1990 : Untersuchungsausschuss über die Auf lösung des MfS, Anlage : Ablichtung des „Schiebocker Forums“ ( PB Hubertus Wolf ). 486 Vgl. Ekkehard Hopf, Was will und kann das Neue Forum ?, von Februar 1990 ( ebd.); Geschichte der Stadt Bischofswerda 1227–1997 ( StA Bischofswerda ). 487 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 16./17. 12. 1989. 488 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 14. 12. 1989. 489 Herrmann, Die Anfänge, S. 89–92. 490 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 15. 12. 1989; Klaus Werner, Revolutionäre Ereignisse auch in Rabenau. In : Ortsblatt Rabenau, Amtliches Mitteilungsblatt 11 vom 15. 11. 1994.

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Polarisierung auf den Straßen

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wurde das Amt im Beisein des Neuen Forums und der SDP aufgelöst. Waffen und Akten wurden durch die Volkspolizei sichergestellt. Am folgenden Tag wurden Versiegelungen auf das gesamte Gebäude ausgedehnt. Seit dem Abend des 14. Dezember hielt sich kein Mitarbeiter mehr in den Gebäuden auf. Das Volkspolizeikreisamt Görlitz übernahm die Sicherung.491 Großenhain : In Großenhain konstatierte die SED - Kreisleitung, dass es bei einer Demonstration am 7. Dezember „einen inhaltlichen Wandel“ gegeben habe. Es gab mehrere Losungen für die Wiedervereinigung und mehrere deutsche Fahnen. Bei einer Kundgebung unter dem Motto der Trennung von Partei, Staat und Wirtschaft wurde dem Zehn - Punkte - Plan von Bundeskanzler Kohl mehrheitlich zugestimmt und der Aufruf „Für unser Land“ als „untauglich und als Unterschriftenschwindel“ zurückgewiesen.492 Am selben Tag bestätigte der Kreisstaatsanwalt die Schließung des Kreisamtes für Nationale Sicherheit. Bei einem Einwohnerforum in Skäßchen am 9. Dezember forderten Bewohner der Ortsteile Skaupen und Uebigau den Anschluss an die Trinkwasserleitung, Straßenbaumaßnahmen, geringere Wasserpreise, sichere Stromversorgung, längere Öffnungszeiten bei Geschäften und der Post sowie mehr Urlaubsplätze.493 In einem Aufruf des Demonstrationskomitees Großenhain vom 11. Dezember hieß es, man wolle unter den sächsischen Farben, dem Großenhainer Stadtwappen und in einem vereinten Deutschland trotz Enttäuschung und Abscheu über das Geschehene auch Verbundenheit zur Heimat und zur Stadt dokumentieren. Die Bürger wurden aufgerufen, gegen Chaos, Anarchie und Lynchjustiz aufzutreten.494 Am 12. Dezember wurde das Kreisamt in Großenhain im Beisein des Leiters des Volkspolizeikreisamtes, von Staatsanwälten, Kreisfunktionären, Vertretern des Neuen Forums und der Bürgerinitiative aufgelöst. Nachrichtentechnik und Waffen wurden dem Volkspolizeikreisamt übergeben, sämtliche Unterlagen nach Dresden geschickt.495 Kamenz : In Kamenz wurde das Kreisamt am 7. Dezember vom Volkspolizeikreisamt unter Kontrolle genommen. Nach einem Aufruf des Bürgerforums Kamenz demonstrierten am 11. Dezember rund 850 Personen mit schwarz - rotgoldenen Fahnen und Transparenten für „Deutschland einig Vaterland“. Superintendent Schlage rief zum Gewaltverzicht und zur friedlichen Neugestaltung auf. Einen Tag später wurde auch hier das Kreisamt geräumt.496

491 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 9./10. und 13. 12. 1989; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 13. 12. 1989. 492 SED - KL Großenhain vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 493 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 9./10. 12. 1989. 494 Aufruf des Demonstrationskomitees vom 11. 12. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 495 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 13. 12. 1989. 496 Vgl. VPKA Kamenz vom 1.–7. 12. 1989 : Wochenlage ( SächsHStA, I 359); SED - KL Kamenz vom 12. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10.,12.12. und 15. 12. 1989.

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Löbau : In Löbau versuchte der Leiter des Kreisamtes „die sicherheitspartnerschaftlichen Beziehungen zu stabilisieren“ und sprach mit Vertretern des Neuen Forums, nachdem diese ultimativ ein Gespräch gefordert hatten.497 Meißen : In Meißen riefen der Kreisstaatsanwalt und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes öffentlich dazu auf, Selbstjustiz und Gewaltanwendung zu unterbinden. Am 7. Dezember stellte das Kreisamt seine Tätigkeit ein. Es wurde versiegelt und dem Volkspolizeikreisamt zur Sicherung übergeben. Einen Tag später riefen der Kreisstaatsanwalt und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes zur Sicherheitspartnerschaft und zur Verhinderung von Selbstjustiz und Gewaltanwendung auf. Unter dem Motto „Für unser Volk“ verlief am 12. Dezember die achte Meißner Demonstration. Beim Forum vor dem Rat des Kreises stellte sich die SDP vor. Es handelte sich um die letzte Demonstration, die mit einem Marsch durch die Stadt verbunden war. Unter Aufsicht des Kreisstaatsanwaltes sowie des Stellvertretenden Superintendenten Pfarrer Kestel wurde das Kreisamt von Vertretern des Neuen Forums und der Volkspolizei aufgelöst. Das Schriftgut ging zur Verfügung des Untersuchungsauschusses in das Bezirksamt für Nationale Sicherheit nach Dresden, Waffen und Technik wurden in das Volkspolizeikreisamt überführt.498 Niesky : In Niesky folgten am 7. Dezember ca. 400 Bürger einem Demonstrationsaufruf des Neuen Forums „Für sofortige Veränderung ohne Gewalt“. Sie marschierten am Kreisamt für Nationale Sicherheit und der SED - Kreisleitung vorbei und stellten Kerzen auf.499 Pirna : In Pirna, wo Bürger am 7. Dezember eine Überprüfung des Postfernmeldeamtes wegen Briefkontrollen und dem Abhören von Telefongesprächen durch das MfS durchsetzten, riefen einen Tag später Vertreter der Parteien, des Neuen Forums, der Kirche und des Volkspolizeikreisamtes sowie der Ratsvorsitzende des Kreises und der Bürgermeister die Bürger auf, keine Gewalt zuzulassen. Sie informierten über die Bildung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses. Die Kriminalpolizei wandte sich gegen die „Führungsclique, welche sich vom Volk entfernt hat“ und forderte zur Sicherheitspartnerschaft gegen „Anarchie, Selbstjustiz und Vandalismus“ auf.500 Am 9. Dezember folgten rund 300 Personen einem Aufruf des Neuen Forums zur Demonstration mit Kundgebung.501 Die Auflösung des Kreisamtes folgte am 12. Dezember dem gleichen Muster wie in allen Kreisstädten. Der Einsatz wurde vom Chef des Volkspolizeikreisamtes unter Aufsicht des Kreisstaatsanwaltes geleitet. Etwa 70 Polizisten und einige Mitglieder der ständigen Kommission sicherten den Vorgang. Eine Einsichtnahme in die Unterlagen war nicht gestattet. Insgesamt wur497 SED - KL Löbau vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 498 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 7., 8. und 12. 12. 1989. 499 Vgl. VPKA Niesky : Rapportberichte 35–73/89, o. D. ( SächsHStA, VPKA Niesky, 990, Abt. Stab, Referat / Sachgebiet DDH, 1212); Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 6. 12. 1989. 500 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 9. 12. 1989. 501 Vgl. SED - KL Pirna vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555).

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Bild 56: Demonstration in Zittau am 10.12.1989.

den über 300 Säcke in Begleitung von Mitgliedern der Kommmission zum Bezirksamt Dresden transportiert.502 Riesa : In Riesa fand am 7. Dezember eine Demonstration statt, zu der das Neue Forum aufgerufen hatte. Am Zug zum Kreisamt für Nationale Sicherheit nahmen ca. 1 000 Personen teil.503 Sebnitz : In Sebnitz fand am 7. Dezember eine „Donnerstagsdemonstration“ statt.504 Zittau : Auch in Zittau wurde eine „Partnerschaft zur Sicherheit“ gebildet und am 8. Dezember das Kreisamt für Nationale Sicherheit versiegelt.505 Am 10. Dezember gab es eine Demonstration für die Einhaltung der Menschenrechte. Bezirk Cottbus / Hoyerswerda : Am 11. Dezember fand in Wittichenau die siebte Demonstration seit dem 30. Oktober statt. 1 000 Menschen forderten freie Wahlen, die Bestrafung der alten Partei - und Staatsführung sowie die Wiedervereinigung. Die Bürgerinitiative Wittichenau erklärte sich zur Mitarbeit bei den Verwaltungsarbeiten bereit. Es wurde aufgefordert, auch künftig nur friedlich zu protestieren.506 502 503 504 505 506

Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 16./17. 12. 1989. Vgl. SED - KL Riesa vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 9./10. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 8. und 12. 12. 1989. Vgl. Lausitzer Rundschau vom 13. 12. 1989.

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Weißwasser : Am 7. Dezember wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit Weißwasser durch die Bürgerbewegung gesichert und ein privater Bungalow des Leiters des Kreisamtes wegen des Verdachts der Auslagerung von Akten durchsucht.507 Während in der Kreisstadt das Kreisamt für Nationale Sicherheit am 12. Dezember aufgelöst wurde, fand in Weißkeißel eine Bürgeraussprache des Neuen Forums zur Perspektive des Ortes statt. Schwerpunkte der Aussprache waren die Wirksamkeit der Volksvertretung, der Umweltschutz und die Bergbauentwicklung.508 Hier ging es wie schon andernorts nicht mehr nur um den Sturz des alten Regimes, sondern um die selbstbestimmte Zukunftsgestaltung vor Ort. Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 7. Dezember wurde der Leiter des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Karl - Marx - Stadt, Gehlert, abgelöst. Sein Stellvertreter, Oberst Schaufuß, übernahm die Funktion.509 Von nun an ging es in allen Ämtern nur noch um Abwicklung. Nach dem Beschluss über deren Auflösung am 10. Dezember wurden die meisten Kreisämter gesichert und versiegelt.510 Am 10. Dezember demonstrierten in Karl - Marx - Stadt rund 15 000 Menschen, einen Tag später gingen etwa 40 000 Personen auf die Straße. „Äußerst massiv“511 wurden die Wiedervereinigung, die Auflösung der Kampfgruppen und die Entfernung der SED aus den Betrieben gefordert. Gleichzeitig kontrollierten etwa 70 Personen im Beisein eines Staatsanwaltes die SED - Bezirksleitung,512 was unter Partei - und Staatsfunktionären zu Beunruhigung führte. Angesichts der Stimmung gegen MfS - Mitarbeiter befürchtete man hier, in absehbarer Zukunft könne ihnen gleiches widerfahren.513 Annaberg : Das Kreisamt für Nationale Sicherheit wurde am 12. Dezember aufgelöst und das Objekt an den Rat des Kreises übergeben. Am selben Tag forderten in Annaberg - Buchholz Tausende Teilnehmer die Einheit Deutschlands.514 Auerbach : In Auerbach fand am 8. Dezember eine Demonstration mit Tausenden Bürgern für Wiedervereinigung statt. Auf einer Kundgebung unterbreitete die Basisgruppe der SPD ein 5–Punkte - Programm zur Erlangung der deutschen Einheit.515 Flöha : In Eppendorf demonstrierten am 8. Dezember ca. 150 Teilnehmer für eine deutsche Konföderation und gegen die Staatssicherheit.516 507 Vgl. AfNS, ZOS vom 7.–8. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, XXII 828, Bl. 21–41). 508 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 13. 12. 1989. 509 Vgl. Leiter des BAfNS Karl - Marx - Stadt an Leiter der Diensteinheiten vom 8. 12. 1989 (BStU, ASt. Chemnitz, XXVI 54). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 51. 510 Akte Versiegelung, o. D. ( ebd., L 297). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 51. 511 Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 20 f.). 512 Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 7 f.; MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 121); Sächsisches Tageblatt vom 12. 12. 1989; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 121. 513 Vgl. BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 20–23. 514 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 12. und 14. 12. 1989. 515 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 9. 12. 1989. 516 Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ).

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Hainichen : In Frankenberg nahmen am 11. Dezember etwa 1 500 Personen an einer Demonstration des Neuen Forums teil.517 Hohenstein - Ernstthal : Die Auflösung des Kreisamtes für Nationale Sicherheit erfolgte hier am 11. Dezember. Der Rat des Kreises übernahm die Gebäude.518 Karl - Marx - Stadt - Land : Mitglieder des Neuen Forums, Bürger und Journalisten der „Freien Presse“ besichtigten am 12. Dezember die MfS - Nachrichtenzentrale Dittersdorfer Höhe, die zuvor von der Volkspolizei übernommen worden war.519 Klingenthal : In Klingenthal wurde am 7. Dezember die Waffenkammer des Kreisamtes für Nationale Sicherheit unter Aufsicht der Bürgerbewegung geräumt.520 Am nächsten Tag folgten ein Warnstreik und eine Kundgebung, auf der die Einheit Deutschlands gefordert wurde.521 In Markneukirchen nahmen am 13. Dezember an der letzten Demonstration des Jahres 2 500 Menschen teil.522 Marienberg : In Marienberg wurde am 6. Dezember ein Teil der Waffen des Kreisamtes für Nationale Sicherheit unter Bürgerkontrolle übergeben, sechs Tage später mussten die Mitarbeiter auch ihre persönlichen Waffen an das Volkspolizeikreisamt abgeben. Das Kreisamt war am Abend des 12. Dezember nicht mehr existent.523 Oelsnitz : In Oelsnitz gab es am 7. Dezember eine Demonstration mit anschließendem Forum in der Kirche. Bei der Montagsdemonstration am 11. Dezember wurde die deutsche Einheit gefordert und die 1. Strophe der DDR- Nationalhymne gesungen. Einen Tag später traf sich die Bürgerinitiative zur Vorbereitung weiterer Demonstrationen.524 Plauen : In Plauen wurden den AfNS - Mitarbeitern am 7. Dezember Waffen und Dienstausweise abgenommen.525 An einer Demonstration mit Kundgebung am 10. Dezember nahmen 8 000 Personen teil. Reden, Transparente und Sprechchöre richteten sich vorwiegend gegen die SED. Gefordert wurden die Wiedervereinigung und die Aufklärung von Amtsanmaßung und Vertrauensmissbrauch. Es gab zahlreiche schwarz - rot - goldene Fahnen. Die SED - Kreisleitung schrieb an Gregor Gysi, die Demonstrationen hätten „an Aggressivität der

517 518 519 520 521 522 523 524 525

Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 7 f. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 15. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt Land, vom 12. 12. 1989. Vgl. Nachwort mit Chronikfragment ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg, PB Pfarrer Meinel ). Vgl. AfNS, ZOS vom 8.–9. 12. 1989 : Rapport ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1672, Bl. 251). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 15. 12. 1989. Vgl. Protokoll der Beratung des RTS Marienberg vom 24. 1. 1990 ( StA Marienberg, ZA 10249). Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 13. 12. 1989. Vgl. Protokoll der Aussage Pfarrer Meinels im Pfarrhaus Schneeberg vom 17. 8. 1998 (Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Massen zugenommen“ und würden sich fast ausschließlich der Forderung nach Wiedervereinigung widmen.526 Rochlitz : Am 12. Dezember wurde das Kreisamt für Nationale Sicherheit durch Kreisstaatsanwalt, Sprecher des Neuen Forums und weitere Bürger kontrolliert. Der Amtsleiter erklärte, die Akten seien bereits Ende November nach Karl - Marx - Stadt verlagert worden.527 In Penig sah man an diesem Tag Transparente und Fahnen für die Wiedervereinigung. Schwarzenberg : Die letzte Kundgebung des Jahres in Schwarzenberg vereinte am 11. Dezember Tausende Teilnehmer. Gefordert wurden eine Fortsetzung der Demokratisierung, die Verfolgung von Amtsmissbrauch, ein Ende des SED - Führungsanspruchs und die deutsche Einheit.528 Zschopau : Im Kreis Zschopau kontrollierten Bürger am 7. Dezember Objekte in Gornau, Wilischau und Herold, bei denen der Verdacht bestand, es handele sich um Stasi - Objekte. Zwei Tage später besichtigten sie gemeinsam mit Bürgern aus dem Nachbarlandkreis Karl - Marx - Stadt das MfS - Objekt Dittersdorfer Höhe. Am 11. Dezember wurde das Kreisamt aufgelöst und an den Rat des Kreises übergeben. Alle Unterlagen waren bereits „sichergestellt“. Die Waffen wurden von der Volkspolizei übernommen. Bei einer Demonstration der Unabhängigen Bürgerinitiative war die Resonanz gering und es überwogen Forderungen nach Wiedervereinigung.529 Zwickau : Am 11. Dezember fand nach einem Aufruf des Neuen Forums in der Zwickauer Lutherkirche ein Friedensgebet mit anschließender Demonstration statt, an der sich ca. 10 000 Menschen beteiligten. Es gab Forderungen nach Öffnung des Hauses der SED für andere Parteien und Gruppen sowie Medienfreiheit.530 Auch hier registrierte die Regierung eine Zunahme der Aggressionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Einheit und „äußerst massive“ Forderungen nach Wiedervereinigung.531 Bezirk Leipzig : In Leipzig war die Arbeitsfähigkeit des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit am 7. Dezember leicht eingeschränkt. Vertreter der Bürgerinitiative hielten sich im Objekt auf.532 Ab dem 12. Dezember wurde in Leipzig eine Kommission aus Vertretern des AfNS, der Militärstaatsanwaltschaft und des Bürgerkomitees tätig, die Dokumente des MfS sichten sollte.533 In den meisten Kreisen wurden die Kreisämter bis zum 12. Dezember geschlossen.

526 527 528 529 530 531 532 533

SED - KL Plauen an Gregor Gysi vom 11. 12. 1989 ( BArch Berlin, C 20, 11949). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 14. 12. 1989. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 13. 12. 1989. Vgl. PB Matthias Zwarg : Sachsen 1989 ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 12. und 15. 12. 1989. Vgl. SächStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 7 f.; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 12. 12. 1989. Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 20 f.). Vgl. AfNS, ZOS : Lage, o. D. ( ebd. 128, Bl. 67). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 11. 12. 1989.

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Polarisierung auf den Straßen

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Bild 57: Montagsdemonstration in Leipzig am 11.12.1989.

Am 11. Dezember versammelten sich nach Gottesdiensten in sieben Kirchen und einer Kundgebung ca. 60 000 Menschen zur zehnten Montagsdemonstration,534 die am Bezirksamt für Nationale Sicherheit vorbeiführte. Das Objekt wurde durch Kräfte der Volkspolizei gesichert. Vertreter des Bürgerkomitees beruhigten die Demonstranten, so dass Übergriffe vermieden wurden. Transparente richteten sich gegen die SED. Erstmals dominierten auch hier massiv vorgetragene Forderungen nach Wiedervereinigung und schwarz - rot - goldene Fahnen. Mehr als zwei Drittel der Demonstranten setzten sich für die deutsche Einheit ein. Die Montagsdemonstrationen waren dadurch polarisiert. Wer für eine reformierte sozialistische DDR eintrat, musste damit rechnen ausgepfiffen 534 Vgl. Nach AfNS - Angaben 50 000 : AfNS, Lagezentrum vom 12. 12. 1989 : Lagebericht (BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 296 f.). Nach MdI - Angaben 60 000 : MdI : Lagefilm, o. D. (BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 121, 124).

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und beschimpft zu werden.535 Umgekehrt organisierten Studenten eine „Demo gegen rechts“. Mit DDR - Fahnen und Transparenten „Für unser Land“ zogen sie vor die Oper, wo andere Demonstranten die deutsche Einheit forderten. Mit Sprüchen wie „Großdeutschland ist abgebrannt“, „Nazis raus“, „Wider Vereinigung“ und „DDR nur Kohlgarten hinterm Haus Europa ?“ provozierten sie Demonstranten, die sich für Wiedervereinigung einsetzten. Diese riefen nun ihrerseits Parolen wie „Rote raus aus der Demo“. Auf diese Weise standen sich Tausende „wie zwei mächtige Chöre“ gegenüber. Wieder kam es zu tumultartigen Szenen, die nur durch den Beginn der offiziellen Kundgebung nicht zu Auseinandersetzungen führten. Magirius rief erneut zu Gewaltlosigkeit auf und schlug vor, die Demonstrationen in Leipzig mit dem nächsten Montag vorerst zu beenden. Beim Umzug auf dem Ring kam es vor der Runden Ecke erneut zu Konflikten zwischen den Demonstrantengruppen, als Studenten der „Demo gegen rechts“ „Für unser Land“ und „Wir wollen unser eigenes Land“ skandierten.536 Altenburg : In Altenburg kontrollierten Vertreter des Neuen Forums die Schließung des Kreisamtes für Nationale Sicherheit.537 Borna : In Borna wurden am 12. Dezember die Waffen an das Volkspolizeikreisamt übergeben. Hier wurde auch die Übernahme eines Chemielagers des MfS durch die NVA vorbereitet.538 Delitzsch : Das Kreisamt für Nationale Sicherheit Delitzsch wurde am 11. Dezember unter Kontrolle des Neuen Forums, des DA, des Kreisstaatsanwaltes, des Volkspolizeikreisamtes und einer Untersuchungskommission des Kreistages geräumt.539 Am nächsten Tag wurden die Akten nach Leipzig gebracht.540 Döbeln : Nach einem Fürbittgottesdienst in der Döbelner Nikolaikirche demonstrierten ca. 500 Bürger durch die Innenstadt. Es dominierten Forderungen nach deutscher Einheit und Deutschlandfahnen. Vor der SED - Kreisleitung informierte der 1. Sekretär über den Rückzug der hauptamtlichen Parteisekretäre aus den Betrieben zum 1. Januar und bot den neuen Gruppen Büroräume an.541 Auch hier wurde das Kreisamt am 12. Dezember aufgelöst und die am 5. Dezember gesicherten Akten unter Überwachung von Bürgerkomitee und der Volkspolizei in das Leipziger Bezirksamt gebracht.542 535 Vgl. AfNS vom 11.–12. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 310); Sekretariat des Ministerrates, Informationszentrum vom 12. 12. 1989 : Lage in den Bezirken ( ebd. ZKG 129, Bl. 20 f.). So Modrow gegenüber Momper. Vgl. Momper, Grenzfall, S. 231; Hübner, Die Vereinigung, S. 89. 536 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 72 f. 537 Vgl. VPKA Altenburg vom 12.–13. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Altenburg, unverzeichnet ). 538 Vgl. Lagezentrum des AfNS vom 13. 12. 1989 ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 71–85); Museum Borna, Herbst 89. Ausstellung – Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna. 539 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 16./17. 12. 1989. 540 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( StV Delitzsch, Museum Schloss Delitzsch ). 541 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 13. 12. 1989. 542 Vgl. KDfS Döbeln vom 10.–11. 12. 1989 : Tagesrapport ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Döbeln 228, Bl. 1–5) ; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 16./17. 12. 1989.

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Geithain : In Geithain wurden versiegelte Räume und Behälter am 10. Dezember im Beisein des Kreisstaatsanwaltes, des Neuen Forums und eines Unabhängigen Untersuchungsausschusses des Kreises geöffnet und für den Transport nach Leipzig verpackt. Der Bürgermeister informierte, dass das Gebäude des Kreisamtes für Nationale Sicherheit dem Rat des Kreises übergeben werde.543 Oschatz : In Oschatz transportierte am 11. Dezember ein Kleinbus „Barkas“ die verbliebenen Unterlagen in das Bezirksamt nach Leipzig. Sämtliches Schriftgut wurde in Säcke und Koffer gepackt. Am nächsten Tag folgte die Auslagerung von Waffen und Munition im Beisein von Bürgervertretern. Die Nachrichtentechnik wurde sichergestellt. Am 14. Dezember wurde das Objekt durch den amtierenden Leiter an den Rat des Kreises übergeben. Mit Wirkung dieses Tages ging auch die Rechtsträgerschaft auf den Rat des Kreises über. Die durchgehenden Sicherungsmaßnahmen durch Angehörige der Volkspolizei wurden aufgehoben. Am 13. Dezember informierte die SED - Kreisleitung, in der Partei werde mit Angst zur Kenntnis genommen, dass die Ämter für Nationale Sicherheit aufgelöst und die Kampfgruppen entwaffnet würden. Viele Parteimitglieder hätten Angst.544 Schmölln : In Gößnitz demonstrierten am 10. Dezember ca. 300 Personen. Sie trugen Losungen wie „Deutschland einig Vaterland“, „Wir sind das Volk !“ und „SED – tut weh“.545 2.7

SED : Auf lösen oder Umbenennen ?

SED vor dem Sonderparteitag Die Enthüllungen von Amtsmissbrauch, Korruption und verschiedener Vergehen führender Partei - und Staatsfunktionäre verschärften die Krise der SED weiter. Bei Demonstrationen gab es aggressiv vorgetragene verbale Angriffe auf SED und AfNS.546 Die SED - Stadtbezirksleitung Leipzig - Mitte berichtete, viele Mitglieder könnten die Last der „auf die Partei überkommene[n] Schuld“ nicht mehr tragen. Der Zusammenbruch von Idealen führe zu Tragödien, die sich angesichts weiter verschärfender Angriffe von „sogenannten demokratischen Bewegungen“ bis zur Unerträglichkeit steigerten.547 In Leserbriefen bekannten sich einzelne SED - Mitglieder zur Mitschuld. In einem Leserbrief aus Berggießhübel ( Pirna ) hieß es, die Führung habe Wirtschaft, Kultur, Umwelt, Sport und Versorgung sabotiert. Unterstützt worden sei sie „von Verblendeten auf allen 543 Vgl. VPKA Geithain vom 10.–11. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Geithain, 4458); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 14. 12. 1989. 544 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 107 f. 545 VPKA Schmölln vom 10.–11. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, Abt. Stab – ODH, 7149). 546 Vgl. KAfNS Annaberg vom 5. 12. 1989 : Lage der Parteiaustritte ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2148, 1, Bl. 46–48). 547 SED - SBL Leipzig - Mitte vom 4. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 182, 185).

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Ebenen, auch von mir.“ Es sei schwer damit fertig zu werden, 30 Jahre „bewusst verkehrt gelebt und gearbeitet“ zu haben.548 Bei ihrem Parteiaustritt verglichen Mitglieder einer LPG im Kreis Großenhain Honecker mit Hitler : „So etwas im gleichen Stil machten bereits die Nazis.“549 Bei öffentlichen Foren oder Gesprächen mit Kollegen kamen SED - Mitglieder oft nicht mehr zu Wort. Verbale Attacken häuften sich, vereinzelt gab es tätliche Angriffe. Vor allem gab es Aufforderungen, aus der SED auszutreten.550 Die Folge war eine weitere, sprunghafte Zunahme von Austritten. Immer mehr Grundorganisationen lösten sich auf.551 Viele Kommunisten zogen sich, so ein Bericht aus Löbau, „in die Illegalität zurück“.552 Auch Absetzungen und Parteiausschlüsse von Funktionären gingen weiter.553 In einzelnen Kreisen, wie in Reichenbach, traten Sekretariat und Kreisleitung geschlossen zurück.554 Rücktritt von Krenz, Verhaftung von Mielke und Stoph Am 6. Dezember trat Egon Krenz von seinen Ämtern als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates zurück. Drei Tage zuvor hatte er schon seine Funktion als Generalsekretär der SED niederlegen und mit dem gesamten Politbüro zurücktreten müssen. Nochmals warnte er vor „antisozialistischen Kräften“, die „den Stolz unseres Volkes brechen und die Arbeit von Generationen zum Ausverkauf anbieten“ wollten.555 Zum amtierenden Staatsratsvorsitzenden wurde nun zur Freude des KGB LDPD - Chef Gerlach gewählt, dessen reformsozialistischer Stern längst im Sinken begriffen war.556 Mit der Absetzung von Krenz wuchs aber zugleich auch der Einfluss der vom Kreml unterstützten Reformgruppe um Modrow und Wolf.557 Seit Mitte November hatte der Kreml auf die Absetzung von Krenz hingearbeitet,558 ging man in Moskau doch davon aus, dass ein Überleben der SED und der DDR mit ihm nicht möglich war.559 Am 7. Dezember wurden Erich Mielke, Willi Stoph, Günther Kleiber und Werner Krolikowski verhaftet. Gegen sie sowie gegen die kurz 548 Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 7. 12. 1989. 549 SED - KL Großenhain vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 550 Vgl. SED - KL Leipzig - Nordost vom 6. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 204–206). 551 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4. 12. 1989 : Lage ( ebd. 889, Bl. 153 f.); SED - KL Löbau vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); SED - KL Großenhain vom 7. 12. 1989 ( ebd.); SED - KL Freital vom 7. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 552 SED - KL Löbau vom 5. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 553 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 8. 12. 1989. 554 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 6. 12. 1989. 555 Zit. in Informationen des BMB 23 vom 20. 12. 1989, S. 8. 556 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 345. 557 Inter view mit Günther Nollau ( Chef des BfV ). In : Frankfurter Rundschau vom 9. 12. 1989. 558 Aussage Valentin Falin. In : Kuhn, Der Tag der Entscheidung, S. 161. Vgl. Aussage Egon Krenz. In : ebd., S. 157. 559 Vgl. ebd., S. 159 f.; Markus Wolf, In eigenem Auftrag, S. 243.

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zuvor verhafteten Mittag, Tisch, Honecker und Axen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.560 In den SED - Kreisorganisationen setzte man sich nun endgültig von der bisherigen Führung ab und orientierte auf Modrow und Gysi.561 Auf Versammlungen und in Leserbriefen betrieb man Vergangenheitsbewältigung und versuchte eine Neuorientierung. Amtsmissbrauch und Korruption in der Parteispitze wurden als Folge der Organisations - und Arbeitsprinzipien der SED angesehen, die sich in der „Machtkonzentration auf Einzelpersonen und der systematischen Unterdrückung der Meinungsvielfalt in der Partei“ ausdrückte. Informationen über die reale Lage und die Erneuerungsprozesse in anderen sozialistischen Ländern seien negiert, demokratische Basisbewegungen diffamiert worden. Die Parteibasis sei mitverantwortlich, weil sie diesen Kurs mitgetragen habe. Nun gehe es um den „Aufbau eines wahrhaft demokratischen, modernen Sozialismus“.562 Die SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt erklärte, da man mitverantwortlich sei, breche man „ehrlich und unwiderruf lich mit einer Gesellschaftsmoral und einem System, die sich nicht auf demokratische Weise ihre Legitimierung durch das Volk erwarben“. Die einfachen Parteimitglieder seien unschuldig. Eine Erneuerung der SED sei Voraussetzung zur Mitwirkung an der Erneuerung des Sozialismus als der Vision einer wirklich freien Gesellschaft als Alternative zum Kapitalismus. Man sei bereit zur gleichberechtigten Zusammenarbeit mit allen Kräften, die „auf dem Boden des Sozialismus“ stünden. Um dessen Schutz zu gewährleisten, sei allerdings auch weiterhin eine Nachfolgeeinrichtung des MfS notwendig.563 Ähnliche Positionen vertraten die meisten SED - Kreisleitungen.564 Unter breiten Bevölkerungsteilen stieß die SED mit ihrem Festhalten an sozialistischen Varianten auf offen geäußerte Ablehnung. Beschimpfungen, Gewaltandrohungen und Übergriffe gegen Funktionäre, Mitarbeiter des AfNS, der Volkspolizei, der NVA und des Staatsapparates nahmen Mitte Dezember schnell zu.565 Auf Kundgebungen wurde ein Verbot der SED gefordert. In Bischofswerda kam es zu „Schmierereien an Wohnungstüren“ von Mitgliedern. „Zunehmend ist auch Angst zu verzeichnen.“566 Die SED - Kreisleitung Kamenz berichtete über Angst vor Übergriffen auf Familien von Funktionären, Arbeitslosigkeit und drohender Gewalt.567 Die SED - Kreisleitung Großenhain informierte über „regelrechte Angstgefühle“ bezüglich ihrer persönlichen und sozia-

560 561 562 563 564 565 566 567

Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 22. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 7. 12. 1989. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. 12. 1989. Positionspapier der SED - BL Karl - Marx - Stadt zur Diskussion mit den Bürgern vom 7. 12. 1989 ( SächsStAC, 115856). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 8. 12. 1989. Vgl. Ministerrat der DDR vom 15. 12. 1989 : Einschätzung der Lage in den Bezirken (BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 184). SED - KL Bischofswerda vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). Vgl. SED - KL Kamenz vom 13. 12. 1989 : Lage ( ebd.).

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len Sicherheit.568 Die SED - Kreisleitung Bischofswerda zitierte Parteisekretäre mit den Worten : „Was sollen wir den Genossen, den Werktätigen noch sagen ? Wir können niemandem mehr in die Augen sehen, weil wir als Mitglieder der SED nicht mehr akzeptiert werden. Wenn unsere Leute aus dem Westen kommen, fragen sie, ob sie denn die ganzen Jahre umsonst gearbeitet hätten. Unter großen Anstrengungen haben wir den Plan erfüllt und zum Teil überboten – das Angebot in den Geschäften wurde aber immer weniger, weil diese Verbrecher da oben alles verscheuert oder selbst verbraucht haben.“569 Von einer Neuformierung der SED, so die SED - Kreisleitung Bischofswerda, könne nicht gesprochen werden. Nach wie vor seien vor allem „Bitternis, Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, auch Resignation“ zu verzeichnen.570 Der Sinn der bisherigen SED - Mitgliedschaft wurde angezweifelt. Stattdessen gab es nun „Enttäuschung darüber, ein Leben für die Partei gegeben zu haben und die Erkenntnis, eine falsche Politik auch in der Öffentlichkeit vertreten zu haben“.571 Im Kreis Bautzen zweifelten viele Mitglieder an einer „echten Wende“ im Sinne der SED. Die zunehmenden Forderungen nach Wiedervereinigung machten ihnen Angst. Die Lage schien vielen kaum noch beherrschbar.572 Die Folge der Lage war eine wahre Austrittsflut.573 Die SED - Kreisleitung Großenhain informierte, dass sich 30 Grundorganisationen (18 % der Kreisorganisation ) aufgelöst hätten.574 Im Kreis Dippoldiswalde war wegen des Wechsels etlicher Mitglieder in die SDP die Rede von einer „Spaltung der SED“.575 Zunehmend traten nun auch Mitarbeiter des Staatsapparates aus, z. B. allein am 5. Dezember 23 Mitarbeiter des Rates des Kreises Bischofswerda. Grundorganisationen in Räten von Kommunen lösten sich auf. Neben einfachen Mitgliedern verließen nun auch Betriebsdirektoren und Gewerkschaftsvorsitzende das sinkende Schiff. Mitte Dezember verstärkte sich auch der SED - Austritt von Mitgliedern der Schutz - und Sicherheitsorgane.576 In dieser Situation richtete sich die Hoffnung vieler überzeugter Kommunisten an der SED - Basis auf den bevorstehenden Sonderparteitag, von dem „echte Signale für die neue Bewegung, für die Umgestaltung in allen Bereichen“ ausgehen müssten.577 Die Bildung des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des Parteitages wurde allgemein begrüßt.578 Im Konsultations - und Informations568 569 570 571 572 573 574 575 576

SED - KL Großenhain vom 10. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Bischofswerda vom 5. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Bischofswerda vom 7. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Kamenz vom 13. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Bautzen vom 7. 12. 1989 : Lage ( ebd.). Vgl. SED - KL Riesa vom 10. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Großenhain vom 10. 12. 1989 : Lage ( ebd.). SED - KL Dippoldiswalde : Lage, o. D. ( ebd.). Vgl. SED - BL Frankfurt / Oder vom 10. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, IV E - 775). 577 SED - KL Bischofswerda vom 5. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 578 Vgl. SED - SBL Leipzig - Südwest vom 4. 12. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 192 f.); SED - SBL Leipzig - Mitte vom 4. 12. 1989 : Info ( ebd., Bl. 182, 185); SED - KL Schmölln vom 4. 12. 1989 : Lage ( ebd., 889, Bl. 153 f.).

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zentrum beim ZK und beim Politbüro ging eine Flut von Resolutionen und Briefen der Basis ein.579 Vom Parteitag wurde erwartet, „alle schuldigen Genossen“ zur Verantwortung zu ziehen und zu prüfen, ob man nicht auch selbst ungerechtfertigte Privilegien genossen habe. An der Basis gab es Forderungen, die Partei durch Parteiwahlen von unten nach oben zu erneuern.580 Man forderte „eine neue, ehrliche kommunistische Partei“581 und eine Reduzierung des Apparates.582 Viele Mitglieder meinten, es gehe nicht um eine Umbenennung oder Neugründung, sondern um eine „Reinigung in den Reihen der SED“. Andere plädierten für eine Auf lösung und Neuformierung.583 Nach einer Meinungsumfrage unter Mitgliedern in sechs Bezirken erwarteten 83,5 Prozent die Wahrung der Einheitlichkeit der Partei. Unterschiede zeigten sich bei den Erwartungen über ihren künftigen Charakter. Während 30,1 Prozent für eine marxistische Massenpartei votierten, wünschten 28,1 Prozent eine sozialistische Volkspartei, 25,1 Prozent eine kommunistische Partei und 23 Prozent eine marxistische Arbeiterpartei.584 Sollte, so Stimmen aus Bautzen, nichts Konstruktives beim Sonderparteitag herauskommen, werde es keine SED mehr geben.585 Ende der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ Seit ihrem Einsatz gegen die demonstrierende Bevölkerung im September und Oktober 1989 waren Forderungen nach einem Ende der SED - Kampfmiliz, auch aus den eigenen Reihen, nicht mehr abgerissen.586 Die Kampfgruppen, die nach der Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 von der SED zur Bekämpfung systemkritischer Teile der Bevölkerung aufgestellt worden waren, unterstanden bis zuletzt den SED - Bezirks - und Kreisleitungen. Noch Ende November hatte sich Krenz bei ihnen für bisherige Einsätze bedankt und erklärt, ihr Dienst bleibe auch weiterhin eine Form der „Mitverantwortung für den 579 Vgl. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 213. 580 SED - BL / SL vom 4. 12. 1989 : Lage und Einschätzung der Delegiertenkonferenz der Stadtbezirksparteiorganisation Leipzig - West zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitags ( SächStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 194 f.). 581 SED - SBL Leipzig - Nordost vom 6. 12. 1989 : Info ( ebd., Bl. 204–206). 582 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4. 12. 1989 : Lage ( ebd. 889, Bl. 153 f.). 583 SED - KL Bischofswerda vom 5. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 584 Offenbar waren Mehrfachnennungen möglich. Vgl. Neues Deutschland vom 9./10. 12. 1989. 585 Vgl. SED - KL Bautzen vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 586 Vgl. KDfS Freiberg vom 3. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 533, 1, Bl. 9– 11); KDfS Schwarzenberg vom 2. 11. 1989 : Über Meinungsäußerungen von Angehörigen der Schutz - und Sicherheitsorgane ( ebd. 471, Bl. 170–174); KDfS Annaberg vom 13. 11. 1989 : Lage im VEB Kraftverkehr Annaberg und Angriffe gegen das MfS sowie ehemalige Funktionäre ( ebd. 529, 1, Bl. 1); SED - KL Sebnitz vom 7. 11. 1989 : Lage (SächsHStA, SED - KL Sebnitz, IV / E /4/14/060); SED - KL Bischofswerda vom 20. 11. 1989 : Lage ( ebd., SED - BL Dresden, 13554); KDfS Görlitz vom 8. 11. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Dresden, LBV, 11000, Bl. 1–7); BVfS Dresden vom 31. 10. 1989 : Info ( ebd., AKG 7002, 1, Bl. 371).

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Schutz des Sozialismus“. Er nannte die Kampfgruppe „ein Schutzorgan der führenden politischen Kraft unserer Gesellschaft, der Arbeiterklasse“. Dennoch hatte er angewiesen, die Mitglieder sollten künftig nicht mehr geloben, „die Weisungen der Partei zu erfüllen“, sondern „meine sozialistische Heimat jederzeit mit der Waffe in der Hand zu schützen und mein Leben für sie einzusetzen“.587 So kurz wie die Führungszeit von Krenz so kurz war die Geltungsdauer solcher Anweisungen. Solche Durchhalteparolen beschleunigten den Verfall der Kampfgruppen eher noch. Wie schon seit dem Sommer weigerten sich Kämpfer weiterhin, an Einsätzen gegen Demonstranten oder überhaupt noch an Einsätzen und Übungen teilzunehmen.588 Vor allem ab Mitte November gab es massive Austritte aus den Kampfgruppen. Einzelne Einheiten lösten sich, wie z. B. die Kampfgruppenhundertschaft „Sepp Dirnberger“ in Werdau, selbst auf.589 Anfang Dezember nahm der Verfall, parallel zu Angriffen auf die Kampfgruppen wegen ihres Einsatzes gegen Demonstranten, neue Formen an.590 Anfang Dezember sah sich die SED veranlasst, sich von den Kampfgruppen zu trennen. Dass dies noch kein Beschluss zur Auf lösung war, zeigte eine Stellungnahme der SED am 7. Dezember in der „Sächsischen Zeitung“. Hier erklärte die Bezirksleitung Dresden die Trennung der Partei von den Kampfgruppen. Die SED habe „das moralische und politische Recht zur Führung der Kampfgruppen verloren“. Bis zu einer zentralen Entscheidung zu ihrer Auf lösung wurde den Einheiten des Bezirkes die unverzügliche Einstellung ihrer Tätigkeit empfohlen. Die Bezirksleitung wollte sich dafür einsetzen, dass im Falle der Auf lösung alle Angehörigen „ihnen zustehende moralische und finanzielle Anerkennung erhalten“.591 Vorschläge zur Umwandlung der Kampfgruppen z. B. in einen Havarieschutz592 oder „in ehrenamtliche Schutzkräfte, die den demokratischen Kräften zugeordnet sind“, hatten in dieser Situation keine Aussicht auf Realisierung.593 Stattdessen liefen ab dem 5. Dezember Entwaffnung und Auf lösung. Schützenpanzer, Granatwerfer, rückstoßfreie Geschütze und Zwillingsflaks wurden vom Innenministerium übernommen,594 Gewehre in den Volkspolizeikreisämtern eingelagert. Bei der Entscheidung dürfte die 587 Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 28. 11. 1989, Anlage 7 : Brief von Egon Krenz an die Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( SAPMO - BArch, SED, J IV 2/2/2365); Fernschreiben Egon Krenz, o. D. ( BStU, ASt. Leipzig, KDfS Geithain 82/1, Bl. 12–15). 588 Vgl. KDfS Aue vom 1. 11. 1989 : Reaktionen ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 1805, Bl. 9– 12); KDfS Aue vom 3. 11. 1989 : Berichterstattung ( ebd. 531, 1, Bl. 6–8); KDfS Görlitz vom 8. 11. 1989 : Neues Forum ( ebd., LBV 11000, Bl. 1–7); KDfS Löbau vom 8. 11. 1989: Reaktion ( ebd. 10923, Bl. 1–4). 589 HAIT, Werdau F1. 590 MdI vom 5. 12. 1989 : Material für die Sitzung des Ministerrates am 7. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52444, Bl. 6). 591 Sächsische Zeitung vom 7. 12. 1989. 592 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 15. 12. 1989. 593 Gespräch mit Dr. Reitmann und Vertretern des RdK Borna am 21. 11. 1989 ( Superintendentur Borna ). 594 Vgl. MdI vom 5. 12. 1989 : Material für die Sitzung des Ministerrates am 7. 12. 1989 (BArch Berlin, DO 1, 52444, Bl. 6).

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Befürchtung eine Rolle gespielt haben, die beträchtlichen Waffenvorräte könnten in die Hände der zu diesem Zeitpunkt doch recht aggressiven Bevölkerung fallen. Parallel zur Kontrolle der Ämter für Nationale Sicherheit wurde auch die Auf lösung der Kampgruppen und die Übergabe von Waffen und Munition in den Kreisen überwiegend von Bürgerkomitees im Beisein von Staatsanwälten und Volkspolizei - Verantwortlichen kontrolliert.595 Neben dem Ende der Stasi - Trutzburgen in den Kreisstädten führte die Entwaffnung in der SED zur zusätzlichen Verunsicherung.596 Sie stieß in Teilen der Partei auf Ablehnung und wurde als „Entmachtung der Arbeiterklasse“ bewertet.597 Hier wusste man sehr genau, dass die Privilegien schaffende und ideologische Träume umsetzende Diktatur ohne bewaffneten Schutz vor der eigenen Bevölkerung nicht überleben konnte. Nie hatte sich irgendeine demokratische Mehrheit für die kommunistische Alleinherrschaft ausgesprochen. Die besonders reformfeindliche SED - Kreisleitung Dippoldiswalde zitierte Mitglieder, die fragten, „wo gab es in der Geschichte ein Beispiel, dass, wenn die Arbeiterklasse die Waffen gestreckt hatte, sie als Sieger hervorging ? [...] Darüber sind die Genossen beunruhigt. Ob dies richtig durchdacht ist.“598 Die Vereinigte Linke Berlin rief die Kampfgruppen zur Besetzung der Betriebe auf : „Angehörige der Kampfgruppen, tut, wofür man Euch einst gerufen hatte : Schützt Eure Betriebe vor dem Zugriff der Konkursverwalter und der in - und ausländischen Kapitalisten!“599 „Unter altgedienten Kämpfern“ löste die Auf lösung auch deswegen Unzufriedenheit aus, weil sie befürchteten, ihre Kampfgruppen - Rente zu verlieren.600 Dennoch wurde sie mit einem gewissen Fatalismus hingenommen, denn, so ein Kommandeur in Löbau, „wenn wir nun einmal verspielt haben, dann haben wir verspielt, dann brauchen wir nicht mehr zu diskutieren.“601 In einigen Kreisen vollzog sich die Auf lösung schnell, in anderen Kreisen weigerten sich Verbände, die Auf lösung zu vollziehen und wollten weiter Krieg spielen. Waffen und Munition befanden sich jedoch inzwischen durchweg in den Händen der Volkspolizei. Die Auslagerung und Übergabe der Waffen und Munition wurde überwiegend durch Bürgerkomitees kontrolliert.602 Die Volkspolizei des Kreises Bautzen informierte schon am 9. Dezember : „Die Kampfgruppen des 595 Vgl. MfIA vom 15. 12. 1989 : Protokoll der Arbeitsberatung des Leiters der HA Kampfgruppen mit den Leitern der Abteilungen Kampfgruppen der BDVP ( ebd., 10199); Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 7. und 9./10. 12. 1989. 596 Vgl. SED - BL Frankfurt / Oder vom 7. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, IV E - 775). 597 SED - BL Frankfurt / Oder vom 14. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 598 SED - KL Dippoldiswalde vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 599 Initiative Vereinigte Linke Berlin : Wichtig ! An alle !, o. D. ( MDA, Wende III ). 600 SED - KL Großenhain vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); SED - KL Bischofswerda vom 7. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 601 SED - KL Löbau vom 7. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 602 MfIA vom 15. 12. 1989 : Protokoll der Arbeitsberatung des Leiters der HA Kampfgruppen mit den Leitern der Abteilungen Kampfgruppen der BDVP ( BArch Berlin, DO 1, 10199).

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Kreises Bautzen haben ihre Tätigkeit eingestellt. Die Bewaffnung wurde durch die Deutsche Volkspolizei übernommen. Die Rückführung der Bekleidung und Ausrüstung ist festgelegt.“603 Am 14. Dezember folgte der formale Beschluss des Ministerrates, die Tätigkeit der ca. 400 000 Mann ( Dresden 16 893, Leipzig 14 988, Karl - Marx - Stadt 20 252) starken „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ bis zum 30. Juni 1990 zu beenden.604 Nun liefen überall der Auf lösungsprozess und oft auch der Streit um Hinterlassenschaften.605 In Langburkersdorf ( Sebnitz ) forderte die Freiwillige Feuer wehr z. B., ihr die Wattekombinationen, Handschuhe sowie Lederstiefel und eine Motorkettensäge zur Verfügung zu stellen.606 Streit gab es, als bekannt wurde, dass in einzelnen Betrieben durch Kampfgruppenkommandeure Prämien an die Mitglieder der Kampfgruppen gezahlt wurden.607 Auf lösung der SED - Betriebsstrukturen Aber nicht nur die Betriebskampfgruppen der SED wurden aufgelöst. Es häuften sich auch die Forderungen nach einem völligen Rückzug der SED - Organisation aus den Betrieben.608 Die Atmosphäre in vielen Betrieben war gereizt. Ein Miteinander von Belegschaft und Leitung war, wie z. B. im VEB Phonotechnik Pirna, deswegen oft nicht mehr möglich.609 Gleichzeitig sträubten sich zahlreiche Arbeitskollektive gegen das Einstellen ehemaliger Parteifunktionäre.610 Noch vor dem Sonderparteitag lösten sich daher immer mehr APO auf, die SED- Mitglieder wurden in ihre WPO umgemeldet.611 Im Kreis Großenhain wurden alle hauptamtlichen Parteisekretäre aus Industriebetrieben und anderen Einrichtungen abberufen und parteiliche Bestrafungsmaßnahmen zurückgenommen.612 In der Schuhfabrik Meißen wurde die „Straße der Besten“ und das 603 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 9./10. 12. 1989. 604 Beschluss des Ministerrates der DDR 6/2/89 vom 14. 12. 1989 über die Beendigung der Tätigkeit der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ( BArch Berlin, C 20 I /3–2879, Bl. 41– 45). Vgl. MfIA vom 14. 12. 1989 : Befehl 121/89 des Ministers für Innere Angelegenheiten über die planmäßige Beendigung der Tätigkeit der Kampfgruppen der Arbeiterklasse der DDR ( BArch Berlin, DO 1, Befehle ). 605 Vgl. Chronik des MdI vom 1.1.–31. 12. 1989 ( ebd., 53614, Bl. 52). 606 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 3. 1. 1990. 607 Vgl. Thüringer Allgemeine vom 18. 1. 1990. 608 Vgl. Ministerrat, Informationszentrum vom 9. 12. 1989 : Tätigkeit der Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates / Inhalte der Meldungen der Vorsitzenden der RdB (BStU, ZKG 129, Bl. 73); SED - KL Bautzen vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED BL Dresden, 13555). 609 Bericht der ABI über einen Kontrolleinsatz im VEB Phonotechnik Pirna vom 29. 12. 1989 ( KA Pirna, ZA, Bericht über einen Kontrolleinsatz am 29. 12. 1989 des ABI Bezirkskomitees Dresden ). 610 SED - KL Bautzen vom 14. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 611 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4. 12. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED - BL Leipzig, 889, Bl. 153 f.). 612 Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung der SED - KL Großenhain vom 13. 12. 1989 (SächsHStA, SED - KL Großenhain, IV / E - 407 140).

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hauptamtlich besetzte Parteibüro geschlossen. Eine Vertrauensleute - Vollversammlung der Bahnmeisterei Coswig beschloss die Rückgabe des am 27. September von ZK der SED, Ministerrat und FDGB - Bezirksvorstand überreichten Ehrenbanners.613 Im VEB Messgerätewerk Zwönitz ( Aue ) vernagelten Arbeiter die Tür der SED - Parteileitung.614 In Hohenstein - Ernstthal forderte das Neue Forum den Rückzug der SED aus den Betrieben und wurde dabei von den Blockparteien unterstützt.615 Statt von der SED zu immer neuen Höchstleistungen aufgefordert zu werden, drängten die Arbeiter nach mehr Selbstbestimmung und nach Durchsetzung eigener Interessen. Deswegen fiel der Aufruf des Bürgerkomitees Leipzig zur Neuwahl von Betriebsräten vom 6. Dezember auf fruchtbaren Boden.616 Am 22. Dezember bildete sich im Betriebsteil Schwertransport des VEB Kraftverkehr Leipzig der erste gewählte Betriebsrat der DDR.617 Der Prozess betrieblicher Mitbestimmung statt ideologischer Gängelei setzte sich nun immer mehr fort, auch wenn er längerfristig nichts an der weiterhin dominierenden Rolle von SED - Kadern in den Betrieben änderte. SED - Sonderparteitag (1. Session 8./9.12.) Während sich die Kampfgruppen auf lösten und sich die SED aus den Betrieben zurückziehen musste, begann am Abend des 8. Dezember in der Berliner Dynamo - Sporthalle die erste Session des außerordentlichen Parteitages der SED.618 „Um die Delegierten durch Erschöpfung zu beruhigen“619 hatte Berghofer eine Nachtsitzung geplant. Zu Beginn schilderte Modrow am Abend des 8. Dezember die prekäre Lage der DDR, warnte vor Racheakten und Selbstjustiz und sprach sich gegen die Wiedervereinigung, für den Erhalt des Sozialismus und für die Einheit der SED aus. „Wenn“, so Modrow, „bei der Schärfe des Angriffs auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht, dann tragen wir alle die Verantwortung dafür, wenn dieses Land untergeht !“ Viele Kommunisten in der UdSSR würden erwarten, dass die SED die DDR rette. Gorbatschow lasse ausrichten, dass das Schicksal der Perestroika am Überleben der DDR und der SED hänge. Modrow warnte vor einem „Ausverkauf an die BRD“. Die Wiedervereinigung sei ein „Anachronis-

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Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 5. 12. 1989. Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 6. 12. 1989. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 6. 12. 1989; Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 8. 12. 1989. 617 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 118. 618 Vgl. Dokumentation zum letzten Parteitag der SED; Dokumentation : Der Außerordentliche Parteitag der SED im Dezember 1989. In : DA, 23 (1990), S. 288–316; Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 259–288; Moreau, PDS, S. 23–50. 619 So Wolfgang Berghofer. Zit. in Gysi / Falkner, Sturm, S. 100.

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mus“, der „berechtigte Bedenken, ja Ängste, vor großdeutschem Chauvinismus“ wecke.620 Gregor Gysi forderte einen neuen dritten sozialistischen Weg „jenseits von stalinistischem Sozialismus und Herrschaft transnationaler Monopole“. Er prangerte die Korruption und Privilegienwirtschaft in der SED an, sprach sich aber gegen eine allgemeine Abrechnung aus. Deutlich plädierte er hingegen für eine Auf lösung des AfNS und der Kampfgruppen. Als neue Namen für die SED schlug er „Partei des demokratischen Sozialismus“, „Deutsche Sozialistische Partei“ oder „Sozialistische Volkspartei“ vor.621 Obwohl vor dem Parteitag viele Mitglieder für die Auf lösung plädiert hatten, sprachen sich die Delegierten nach einer emotionsgeladenen Debatte mehrheitlich gegen eine Auf lösung aus, befürworteten einen neuen Parteinamen sowie ein neues Statut und Programm. Die Auf lösung der SED wäre, so Hermann Weber, „das politisch klarste Zeichen für die Überwindung des Stalinismus“ gewesen,622 aber offensichtlich vertraten selbst Reformer die Meinung, dadurch würde die materielle Grundlage der Partei in Frage gestellt. Indem sie sich beim Volk für die Politik der SED - Führung entschuldigten, die „unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt“ habe, folgten sie der Linie von Krenz, nicht die SED an sich, sondern die Führung für die verfehlte Politik verantwortlich zu machen. Neben den Schuldzuweisungen an die Clique um Honecker kam eine glaubwürdige Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit ebenso wenig zustande wie eine klare programmatische und konzeptionelle Zukunftsorientierung. In einem „Beitrag zur Programmdiskussion“ unter dem Titel „Für einen menschlichen, demokratischen Sozialismus in der DDR“ hatten Rolf Reißig und Frank Adler von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften ( beim ZK der SED ) auf strukturelle Ursachen der Krise hingewiesen und einer Delegierung der Mitschuld kleiner Funktionäre und Mitglieder ausschließlich an die SED - Führung entgegengewirkt. Derartige Papiere, die als Grundlage einer grundsätzlichen Diskussion hätten dienen können, spielten auf dem Parteitag kaum eine Rolle. Die Delegierten wollten offenkundig etwas anderes : Sie wollten „Dampf ablassen“623 und die alleinige Schuld „denen da oben“ geben, von den sie meinten, sie hätten sie in ihre unbequeme Lage gebracht. Auch der einzige ernstzunehmende – wenn auch halbherzige Versuch – einer glaubwürdigen Vergangenheitsbewältigung, den der Babelsberger Staatsrechtlers Michael Schumann in seinem Referat „Wir brechen unwiderruf lich mit dem Stalinismus des Systems“ versuchte, wurde nicht einmal diskutiert. Vergangenheitsbewältigung und Selbstkritik war unter den Delegierten kaum angesagt. An die Stelle der bisherigen Führungsgremien trat ein Parteipräsidium und ein 100 - köpfiger Parteivorstand. Zum neuen Parteivorsitzenden wurde mit 95,3 Prozent der Stimmen der eng mit dem MfS 620 Materialien zum Außerordentlichen Parteitag der SED / PDS, S. 31. Vgl. DA, 23 (1990), S. 623. 621 Neues Deutschland vom 9. 12. 1989. 622 Weber, Aufbau und Fall, S. 178. 623 Analysen, S. 104.

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kooperierende Gregor Gysi gewählt. Seine Stellvertreter wurden Hans Modrow, Wolfgang Berghofer und der SED - Chef des Bezirkes Magdeburg, Wolfgang Pohl. Am 13. Dezember veröffentlichte „Neues Deutschland“ den Entwurf eines Parteistatuts, in dem die SED auf jeden Führungsanspruch verzichtete und erklärte, gleichberechtigt neben den anderen Parteien wirken zu wollen. An der SED - Basis waren die Reaktionen nach der 1. Session meist positiv. In Dippoldiswalde hieß es zu den Referaten Gysis und Modrows, das schonungslose Aufzeigen der komplizierten Situation sei von den Genossen des Kreises erwartet worden. Nur so könne der weitere Zerfall aufgehalten werden.624 Dennoch gingen die Austritte weiter. Auch der Wechsel an der Spitze der SED - Kreisleitungen dauerte an. In Sebnitz wurde der 1. Sekretär, Helmut Geyer, abgelöst. Hier wie andernorts beauftragte die Kreisleitung einen Arbeitsausschuss mit der Durchführung von Parteiwahlen und der Vorbereitung der Kreisdelegiertenkonferenz.625 Die Kreisleitungen wurden nun in Kreisvorstände umbenannt. In Großenhain musste der 1. Sekretär, Gottfried Reinisch, seinen Hut nehmen. Hier war die Kreisparteiorganisation bereits um 36,4 Prozent geschrumpft.626 Recht einheitlich war die Ablehnung der deutschen Einheit an der Basis. Mit „Beunruhigung und Empörung“ wies diese in der Regel Forderungen nach deutscher Einheit zurück und forderte, solchen Tendenzen energischer zu begegnen.627 Entsprechende Forderungen auf Demonstrationen führten zur Beunruhigung. Mitglieder äußerten die Sorge, dass eine stärker werdende SDP Marktwirtschaft und „Einverleibung der DDR“ vorantreiben würde.628 Nicht nur die SED - Basis lehnte die deutsche Einheit mehrheitlich ab. Beim Gespräch des neuen SED Vorsitzenden Gysi mit dem Mitglied des Politbüros der KPdSU, Alexander Jakowlew, am 14. Dezember erklärte der Gorbatschow - Vertraute, der Erhalt der Souveränität der DDR sei für den Bau des europäischen Hauses und die europäische Stabilität unabdingbar.629 Noch am nächsten Tag forderte Gysi die USA auf, der Herstellung der deutschen Einheit entgegenzuwirken. Erst in einem vereinten Europa dürften die Deutschen einen gemeinsamen Platz finden.630 Die Verhinderung der Wiedervereinigung auf freiheitlich - demokratischer Grundlage stand nun auf der politischen Agenda der SED.

624 SED - KL Dippoldiswalde vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 625 Vgl. SED - KL Sebnitz vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 13. 12. 1989. 626 Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung der SED - KL Großenhain vom 13. 12. 1989 (SächsHStA, SED - KL Großenhain, IV / E - 407 140); SED - Großenhain vom 14. 12. 1989: Lage ( ebd., SED - BL Dresden, 13555). 627 SED - BL Frankfurt / Oder vom 17. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, IV E775). 628 SED - KL Sebnitz vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - KL Sebnitz ). 629 Prawda vom 17. 12. 1989. Vgl. Moreau, PDS, S. 38. 630 Interview mit Gregor Gysi. In : New York Times vom 15. 12. 1989. Vgl. Neues Deutschland vom 16./17. 12. 1989.

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Treffen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges am 11. Dezember in Berlin

Vergleicht man die Politik Modrows und Gysis mit der sowjetischen Haltung Anfang Dezember, dann fällt sofort die Übereinstimmung der Positionen auf. Gorbatschow unterstrich am 9. Dezember, unmittelbar vor dem Treffen der Alliierten des Zweiten Weltkrieges, noch einmal „mit aller Entschiedenheit“, man werde „die DDR nicht zu Schaden kommen lassen“. Sie sei strategischer Bündnispartner und Mitglied des Warschauer Vertrages. Es sei notwendig, von der Existenz zweier souveräner deutscher Staaten auszugehen, ansonsten drohe eine Destabilisierung in Europa. Bei der Entwicklung in der DDR handele es sich um eine „Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus“. Gorbatschow betonte aber auch, die UdSSR werde sich nicht in die innere Entwicklung der Staaten des Warschauer Vertrages einmischen.631 Diese Haltung bestätigte Gorbatschow in einem Telefonat gegenüber Gysi am 10. Dezember. Er versprach, Berater zu schicken, um die SED zu unterstützen.632 Die US - amerikanische Haltung zur deutschen Frage umriss Präsident Bush nach einem Treffen mit NATO - Generalsekretär Manfred Wörner : Die deutsche Selbstbestimmung müsse ungeachtet des Ergebnisses akzeptiert werden. Keine Option sollte ausgeschlossen werden. Eine mögliche deutsche Einheit sollte im Rahmen der anhaltenden Verpflichtungen der Bundesrepublik gegenüber der NATO, einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft und unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der alliierten Mächte erfolgen. Die Wiederherstellung der Einheit müsse im Interesse der europäischen Stabilität friedlich und schrittweise erfolgen.633 Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Auffassungen trafen sich Vertreter der vier Kriegsalliierten des Zweiten Weltkrieges nach mehr als 18 Jahren am 11. Dezember auf sowjetischen Vorschlag erstmals wieder im Gebäude des ehemaligen Alliierten Kontrollrates in Berlin, um über die „geschaffenen Kontrollmechanismen der ehemaligen Alliierten der Anti - Hitler - Koalition“ zu beraten.634 Es handelte sich um die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs in der Bundesrepublik, Vernon Walters, Christopher Mallaby und Serge Boidevaix, sowie den Botschafter der UdSSR in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow. Der sowjetischen Regierung ging es um die Reaktivierung und demonstrativen Hervorkehrung ihrer alliierten Siegerrechte über Deutschland, um so eine Kontrolle über die Entwicklung in Deutschland ausüben zu können. Dabei zielte die sowjetische Regierung auf Absprachen mit den westlichen Alliierten über eine Festigung der Teilung Deutschlands, während diese nur an

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Michail S. Gorbatschow, Rede vor dem ZK der KPdSU. In : Prawda vom 10. 11. 1989. Vgl. Moreau, PDS, S. 38. Vgl. Walters, Der amerikanische Standpunkt, S. 13. TASS vom 12. 12. 1989.

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Absprachen über Berlin interessiert waren.635 Die sowjetische Regierung sah in den Konsultationen zudem ein „wichtiges Forum zur Abstimmung der Positionen zur deutschen Frage“.636 Die westlichen Botschafter Boidevaix, Mallaby und Walters erklärten gemeinsam, dass sie nur bereit seien, über Berlin zu sprechen. Es entsprach der Abstimmung zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten, keinen Gesprächen auf Viermächteebene über Deutschland zuzustimmen. Die drei westlichen Botschafter praktizierten dies gegenüber Kotschemassow kommentarlos.637 Die Regierung der UdSSR musste zur Kenntnis nehmen, dass die westlichen Staaten nicht bereit waren, über die Köpfe der Deutschen hinweg deren Angelegenheiten zu beraten. Damit erfuhr die seit Jahrzehnten praktizierte, anmaßende sowjetische Haltung gegenüber Deutschland eine Niederlage. Die sowjetische Führung meinte auch Jahrzehnte nach Kriegsende, weiterhin Entscheidungen über Deutschland treffen zu können, die gegen die deutsche Souveränität gerichtet waren. Selbst eine Konföderation beider deutscher Staaten wurde von der sowjetischen Regierung abgelehnt. Dennoch erklärten sich die Botschafter Walters, Mallaby und Boidevaix mit dem Vorschlag Kotschemassows einverstanden, sich vor dem Gebäude des Kontrollrates gemeinsam fotografieren zu lassen. Diese überhebliche, anachronistische Geste, die dem politischen Wunschdenken Gorbatschows entsprach, löste in der Bundesregierung und in der deutschen Öffentlichkeit Unmut und Proteste aus. Vor dem Hintergrund ablehnender ( Großbritannien ) oder ambivalenter ( Frankreich ) Haltungen westlicher Verbündeter der Bundesrepublik gegenüber der deutschen Einheit schien es freilich weniger abwegig. Walters nannte das Bild hingegen später „das schlimmste Bild des Jahres“,638 entsprach es doch nicht der Haltung der US - Regierung, die die Bundesrepublik bzw. das vereinte Deutschland als „partner in leadership“ gewinnen wollte. Der deutsche Außenminister erklärte, das Auftreten habe „die Würde unseres Volkes“ verletzt und entspreche nicht der deutschen Mitgliedschaft in NATO und EG. Er gehe davon aus, dass es „das letzte Treffen dieser Art“ war.639 Der Vorgang förderte in Bonn den Willen, die deutsche Vereinigung fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, nicht zur ausschließlichen Angelegenheit ausländischer Mächte werden zu lassen, sondern eine gleichberechtigte Teilnahme der Deutschen zu fordern.640 Für die Bundesregierung war klar, dass es für Deutschland keinen Sonderstatus, keine Singularisierung oder neuerliche Diskriminierung nach dem Muster des Versailler Friedensvertrages geben durfte. Nach der Konferenz wandte sich Bundeskanzler Kohl mit der Bitte an US Präsident Bush, sich bei der sowjetischen Regierung für die deutsche Haltung 635 So auch Gerhard Wettig : Die Neugestaltung der deutsch - sowjetischen Beziehungen 1989–1990 und die Wieder vereinigung Deutschlands. Referat auf der Wissenschaftlichen Fachtagung des Göttinger Arbeitskreises am 26. 9. 1991, Mitschrift d. A. 636 TASS vom 12. 12. 1989. 637 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 75. 638 Kiesssler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 73 f. 639 Zit. in ebd., S. 75. 640 Vgl. ebd., S. 74.

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einzusetzen. Es war fast ausschließlich den nun folgenden amerikanischen Vorstößen zu verdanken, dass die Regierung der UdSSR von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der deutschen Einheit Schritt für Schritt abrückte.641 In einer Grundsatzrede vor dem Berliner Presseclub erklärte US - Außenminister James Baker am 12. Dezember, es müsse als Teil der Überwindung der Teilung Europas einen Weg geben, die Teilung Deutschlands und Europas in Freiheit und Frieden zu überwinden. Die neue Architektur Europas müsse widerspiegeln, dass die Sicherheit Amerikas politisch, militärisch und wirtschaftlich an die europäische Sicherheit gebunden bleibt. Die Bündnistreue der Bundesrepublik zur NATO und zur EG seien Bedingungen der Wiedervereinigung.642 Auf Grundlage dieser Postulate sicherte US - Außenminister Baker Kohl am selben Tag die volle Unterstützung des Einigungsprozesses zu, machte aber darauf aufmerksam, dass in den Regierungen der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs angesichts der Entwicklung in Deutschland „ein hoher Grad an Nervosität“ herrsche. Daher sei ein friedlicher Verlauf des Einigungsprozesses unabdingbar.643 Um Gorbatschows Position im innersowjetischen Machtkampf zu stärken,644 traf Baker am 12. Dezember in Potsdam mit Modrow zusammen. Baker erklärte, in den USA gebe es „eine breite Unterstützung für die demokratische Reformentwicklung in der DDR“. Der US - Regierung liege viel daran, dass der Prozess auf „friedliche und stabile Weise“ vor sich gehe. Baker äußerte seine „Genugtuung darüber, dass bei den Gesprächen am Runden Tisch in der DDR Einigung über einen Zeitpunkt für demokratische, freie und geheime Wahlen unter Beteiligung mehrerer Parteien erzielt“ worden sei.645 Vor der französischen Nationalversammlung nannte Außenminister Roland Dumas am selben Tag zwei Prinzipien für eine „dauerhafte Lösung“ der deutschen Frage : das Recht der Deutschen, „in voller Freiheit die Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen“ und die Bereitschaft der anderen westeuropäischen Staaten, diese Entscheidung zu akzeptieren. Deutlich sprach er sich zugleich für die Unantastbarkeit der polnischen Grenze aus.646 Diese Haltung unterstrich auch das Europäische Parlament in Straßburg, das die Bundesregierung am 14. Dezember mehrheitlich aufforderte, die Oder - Neiße - Grenze „unverzüglich und unzweideutig“ anzuerkennen.647

641 Gerhard Wettig : Die Neugestaltung der deutsch - sowjetischen Beziehungen 1989–1990 und die Wiedervereinigung Deutschlands. Referat am 26. 10. 1991, Mitschrift d. A. 642 Amerika Dienst. United States Info. Service. Embassy of the United States of America 44 vom 13. 12. 1989. 643 Teltschik, 329 Tage, S. 77. 644 So Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, S. 92. 645 Berliner Zeitung vom 12. 12. 1989. Vgl. Informationen des BMB 23 vom 20. 12. 1989, S. 7. 646 Journal Officiel, Assembléé Nationale, 2e séance du 12 décembre 1989, S. 6379. Deutsche Übersetzung in Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 173–175. 647 Das Volk vom 15. 12. 1989.

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Bonner Positionen : Die Bevölkerung der DDR entscheidet

In West - Berlin folgten am 9. Dezember Tausende Demonstranten unter dem Motto „Unheilbares Deutschland“ einem Aufruf des Landesbezirkes Berlin des DGB, der Alternativen Liste und anderer linker Friedens - und Menschenrechtsgruppen gegen die deutsche Einheit. Rechtsanwalt Klaus Croissant von der Alternativen Liste, Einflussagent des MfS, appellierte unter Beifall, nicht hinzunehmen, dass der DDR das bundesdeutsche Gesellschaftsmodell „aufgedrückt“ werde.648 Im Wochenblatt „Die Zeit“, indem noch im Sommer über die Verehrung Honeckers durch die DDR - Bevölkerung sinniert worden war, kritisierte Carl - Christian Kaiser am selben Tag die „reaktionäre Mentalität“ der „Phantasten“, die die deutsche Einheit anstrebten.649 Auch in der SPD - Führung gab es Anfang Dezember starke Kräfte, die der Wieder vereinigungseuphorie ablehnend gegenüberstanden. Ihr wichtigster Repräsentant war der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine. Er setzte sich im SPD - Vorstand gerade zu dem Zeitpunkt besonders dafür ein, die DDR - Staatsbürgerschaft anzuerkennen und Übersiedler nicht mehr als Bundesbürger zu behandeln,650 als die Bevölkerungsmehrheit in der DDR zweifelsfrei ihren Willen zur Auf lösung des SED - Staates bekundete. Öffentlich erklärte er, vorrangig seien nicht Konföderation oder Wiedervereinigung, sondern „die mit Aus - und Übersiedlern überfüllten Turnhallen und Container“. Jeder Übersiedler verschärfe die Probleme am Arbeits - und Wohnungsmarkt. Die Wiedervereinigung sei für ihn „nie ein Problem“, sondern immer der europäischen Einigung untergeordnet gewesen.651 Im Parteipräsidium der SPD wurden die Äußerungen Lafontaines am 10. Dezember kritisiert. Mit seinen Argumenten baue er eine innere Mauer gegen Übersiedler auf. Von elf Präsidiumsmitgliedern unterstützte nur Gerhard Schröder seine Position. Einstimmig wurde hier schließlich beschlossen, auf jegliche Art von gesetzlichen Hürden gegen Übersiedler zu verzichten. Das SPD Präsidium einigte sich, mit der Stimme Lafontaines, auf einen Text zur Deutschlandpolitik, in dem die SPD sich zu einer Konföderation beider deutscher Staaten als Vorstufe der staatlichen Einheit bekannte.652 Damit entsprach das Präsidium der Stimmung in der Partei, wo eine Mehrheit eine deutsche Einheit auf den Weg über den Artikel 146 des Grundgesetzes anstrebte. Mit Hilfe einer neuen Verfassung und auf der Grundlage einer stabilen Mehrheit im vereinten Deutschland wollte die SPD „zu einem qualitativen Sprung“653 in der Gestaltung der deutschen Demokratie im Sinne des „demokratischen Sozialismus“ als programmatischer Orientierung der SPD kommen. 648 649 650 651 652

Frankfurter Rundschau vom 11. 12. 1989. Carl - Christian Kaiser, Keine Zeit für Phantasten. In : Die Zeit vom 9. 12. 1989. Momper, Grenzfall, S. 200. Interview mit Oskar Lafontaine. In : Frankfurter Rundschau vom 9. 12. 1989. SPD, Deutschlandpolitische Erklärung ( Auszüge ). In : Süddeutsche Zeitung vom 12. 12. 1989. Vgl. Schützsack, Exodus, S. 47 f. 653 So Heidemarie Wieczorek - Zeul. Zit. bei Momper, Grenzfall, S. 331 f.

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Ungeachtet seiner Zustimmung im Präsidium forderte Lafontaine unmittelbar nach der Sitzung, Rentnern aus der DDR in der Bundesrepublik keine Rente mehr zu zahlen. Friedhelm Farthmann, Fraktionschef der SPD in Düsseldorf kommentierte das mit den Worten : „Hier demontiert sich einer der Hoffnungsträger unserer Partei.“654 Wie unüberlegt die Äußerungen Lafontaines waren, zeigte sich daran, dass die von ihm geforderte Rentenregelung auch zu einer Kürzung der Renten im Saarland, das erst seit 1957 zur Bundesrepublik gehörte, geführt hätte.655 In der SPD wuchs der Unmut über die Äußerungen Lafontaines, mit denen er die Chancen der SPD in der DDR unterminierte.656 Öffentlich sprach das SPD - Präsidium am 11. Dezember von einer Vertragsgemeinschaft als Vorstufe zu einer Konföderation und davon, eine Währungsunion vorzubereiten. Gedacht war dabei an ein Stützen der DDR - Mark durch die Bundesbank.657 Johannes Rau erklärte, Lafontaine habe im SPD - Präsidium keine Mehrheit für seine Haltung. Es könne „ja auch kein Mensch jahrzehntelang das Ende der Mauer fordern, um dann eine neue, und sei es nur eine mit Paragraphen, aufzubauen“. Am selben Tag erklärte auch das Vorstandsmitglied der SPD - Landtagsfraktion in Düsseldorf, Reinhold Trinius, Lafontaine habe „jede deutschlandpolitische Kompetenz verloren“.658 Im „Handelsblatt“ wurde konstatiert, Lafontaines Äußerungen hätten „Stammtischniveau“.659 Deutlich wurden die Meinungsdifferenzen in der SPD bei den Reden Brandts und Lafontaines auf dem Programmparteitag am 18./19. Dezember, wo Brandt die Einheit der Nation beschwor, während Lafontaine sein Missfallen an der Entwicklung zum Ausdruck brachte. „Noch so große Schuld einer Nation“, so Brandt, „kann nicht durch zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden.“660 Während Brandt Zustimmung fand, sorgten die Äußerungen des SPD - Kanzlerkandidaten in der DDR dafür, dass es gar nicht erst zu einem größeren Zulauf zur SDP kam. Hier hörte man lieber Worte wie die von Bundeskanzler und CDU - Chef Helmut Kohl, der sich am 11. Dezember auf dem „kleinen Parteitag“ der CDU in West - Berlin an die Bevölkerung der DDR wandte und erklärte : „Ihr steht nicht allein. Wir sind ein Volk. Wir gehören zusammen.“661 Allein die Deutschen in der DDR würden über Tempo und Richtung der Entwicklung bestimmen. Jeder in Ost und West müsse ihre Entscheidungen respektieren. Ziel der CDU sei die „Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands“.662 Im DDR Fernsehen erklärte Bundespräsident von Weizsäcker, Deutschland sei eine 654 Herles, Lausitzer Rundschau, S. 108. 655 So in einem Bericht des „Handelsblattes“. Zit. in Frankfurter Rundschau vom 16. 12. 1989. 656 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 13. 12. 1989. 657 Vgl. FAZ vom 12. 12. 1989. 658 Die Welt vom 12. 12. 1989. 659 Handelsblatt vom 28. 11. 1989. 660 Zit. bei Mike Schmeitzner, Die SPD zwischen Generationenstreit und Einheit. In : Dresdner Neueste Nachrichten vom 25./26. 12. 1999. 661 Zit. bei Teltschik, 329 Tage, S. 74. 662 CDU, Deutschlandpolitische Erklärung ( Auszüge ). In : Sächsische Zeitung vom 12. 12. 1989.

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Nation und werde wieder zusammenwachsen. Es dürfe jedoch „nicht der Versuch gemacht werden, dass es zusammenwuchert“.663 Der Aufruf des Bundespräsidenten erfolgte auf Wunsch Modrows, der von Weizsäcker um eine Erklärung gebeten hatte, die die Lage in der DDR beruhigte.664 Am 15. Dezember erläuterte Kohl im DDR - Fernsehen den Zehn - Punkte - Plan der Bundesregierung. Es handele sich dabei nicht um einen Kalender. Der Prozess könne nicht nach Tagen, Wochen oder Jahren abgestrichen werden. Die Deutschen müssten Geduld haben. Die Sicherheitsinteressen der Weltmächte seien „ganz unmittelbar“ mit in Betracht zu ziehen, damit es ein „ruhiger Weg in die Zukunft“ werde.665 Dies war eine deutliche Aufforderung, überlegt zu handeln, um die Weltmächte nicht zu provozieren. Aber die Botschaft aus Bonn war auch sonst klar: Es lag allein an der Bevölkerung in der DDR, wohin die Entwicklung gehen würde. Insofern klagte Kotschemassow die bundesdeutschen Parteiführer zu Recht dessen an, „was in der DDR geschehen ist“ und bezichtigte sie einer „unmittelbaren Beteiligung an den Ereignissen im Herbst 1989“.666 2.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Anfang Dezember setzten sich die internationalen Auseinandersetzungen über die deutsche Frage fort. Die Sowjetunion unterstützte weiterhin den Kurs der SED und Modrows und sprach sich gegen eine Vereinigung aus. Allerdings waren die Töne inzwischen moderater, und Moskau warnte vor allem vor übereilten Schritten. Die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschland zum westlichen Verteidigungsbündnis wurde jedoch kategorisch abgelehnt. Im Westen drängte Kohl die Verbündeten, seinen Kurs einer deutschen Konföderation zu unterstützen und war dafür auch bereit, bislang verweigerte Schritte in Richtung einer westeuropäischen Wirtschafts - und Währungsunion zu gehen. Die Unterstützung eines vereinten Deutschland war nur um den Preis der Aufgabe wichtiger Bereiche nationaler Souveränität wie der D - Mark und großer Schritte in Richtung einer politischen Union zu haben. Wichtig ist aber vor allem die Feststellung, dass sich ohne einen Fortgang der Revolte in der DDR international wohl wenig bewegt hätte. Es waren die Menschen auf den Straßen mit ihren Forderungen nach einem Ende der SED - Diktatur und deutscher Einheit, die die internationalen Akteure veranlassten, darüber nachzudenken, ob es knapp ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende immer noch opportun sei, den Deutschen in Ost und West zu verweigern, gemeinsam in einem Staat zu leben. Zwar nahm die Zahl der Proteste Anfang Dezember weiter ab, umso deutlicher aber waren die Forderungen nach deutscher Einheit. Sie erlebten Anfang Dezember ihren absoluten Höhepunkt. Die kurze Mobili663 664 665 666

Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung 143 vom 15. 12. 1989. Vgl. Arnold, Die ersten hundert Tage, S. 14 f. Zit. bei Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 308. Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 167.

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Diagramm 16: Parolen für DDR und für deutsche Einheit ( prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche ).

sierungswelle zugunsten des Erhalts der DDR in der Initiative „Für unser Land“ sorgte eher dafür, dass die Befürworter der deutschen Einheit ihre Forderungen nun umso intensiver vortrugen. Die Ausrichtung der friedlichen Revolution am Ziel der deutschen Einheit geriet als national - demokratische Wende, anders als gelegentlich behauptet, nicht in Konflikt mit dem Streben nach Demokratisierung und Liberalisierung. Vielmehr flossen die dominanten positiven Forderungen nach Freiheit und Demokratie in die Sammelforderung nach staatlicher Einheit ein. Parallel dazu beschäftigte die Menschen Korruption und Amtsmissbrauch von Partei - und Staatsfunktionären. Überall bildeten sich entsprechende Untersuchungsausschüsse und kam es zu Protesten. Der SED kam dies entgegen, lenkte es doch von den strukturellen Defiziten des sozialistischen Systems ab. Vor allem aber kam es Anfang Dezember überall zur Besetzung von Bezirks und Kreisämtern der Staatssicherheit. Die massenhafte Aktenvernichtung mobilisierte die Menschen zusätzlich. Erneut gab es vereinzelt Streikaktionen. In vielen Städten erzwangen Bürger die Kontrolle der verhassten Hochburgen des MfS und bemühten sich, die Kontrolle über die Objekte zu übernehmen. Die Gewaltbereitschaft stieg. Auch in den Haftanstalten kam es zu Unruhen. Angesichts des bekannt werdenden Amtsmissbrauchs sahen es die Häftlinge nicht mehr ein, von einer korrupten Führung verhängte Strafen abzusitzen. Um Übergriffe zu vermeiden, wurde das System der Sicherheitspartnerschaften ausgebaut, das vor allem der Volkspolizei die Gelegenheit gab, sich im Sinne der neuen Entwicklung zu profilieren und ihr Image als Handlanger der SED abzustreifen.

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Hätte es einen Zeitpunkt gegeben, der SED die Macht aus der Hand zu nehmen, so wäre dieser wohl am meisten geeignet gewesen. Dazu aber hätte es Akteure bedurft, die bereit waren, Macht und Verantwortung zu übernehmen. Diese aber waren nicht in Sicht. Die Blockparteien waren, wenn auch weiterhin deklassiert, an der Regierung und am Staatsapparat aller Ebenen beteiligt und erklärten noch immer, sich an der Erneuerung des Sozialismus beteiligen zu wollen. Die führenden Köpfe der Bürgerbewegungen zeigten ebenfalls kein Interesse daran, der SED die Macht aus der Hand zu schlagen. Wie die Blockparteien wollten sie die Gesellschaft gemeinsam mit ihr erneuern. Sie waren zwar nicht in die überkommenden Strukturen involviert, beteiligten sich aber an den neuen Formen der Kooperation wie Komitees, Runde Tische oder Sicherheitspartnerschaften. Gemeinsames Ziel war es, durch Konsenslösungen zu freien Wahlen und zu einer Demokratisierung der Gesellschaft zu kommen. Nicht immer war klar, ob diese demokratisch - sozialistisch oder freiheitlich demokratisch werden sollte. Auch in dieser Phase vertraten die sächsischen Bürgerbewegungen eher freiheitlich - demokratische Positionen, konnten sich aber in den inzwischen DDR - weiten Organisationsstrukturen nur bedingt durchsetzen. Damit fehlten der demonstrierenden Bevölkerung Wortführer, die ihre Forderungen nach einem schnellen Ende der SED - Herrschaft und nach deutscher Einheit umsetzten. Diese fanden die Menschen noch am ehesten in bundesdeutschen Politikern, vornehmlich aus dem Regierungslager. Angesichts des fehlenden Führungspersonals außerhalb der SED erhöhten bundesdeutsche Akteure, allen voran der Bundeskanzler, ihren Druck auf mögliche Partner in der DDR, die Kooperation mit der SED zu beenden und die DDR auf freiheitlich - demokratischen, sprich Vereinigungskurs zu bringen. Von Zurückhaltung wie im Oktober war keine Rede mehr. In Bonn ging man zu operativen Formen der Politikgestaltung mittels der Parteien in der DDR über, ohne die formalen Regeln staatlicher Nichteinmischung zu verletzen. Die sich seit November abzeichnende Distanz zwischen dem auf Demonstrationen handelnden Teil der Bevölkerung und möglichen neuen Führungseliten führte ab Ende November zur Dualität von Demonstrationen und Runden Tischen. Die weitere Entwicklung ist nur zu verstehen, wenn man beide Handlungsformen in Relation zu einander sieht. Während die Demonstrationen konfrontativ blieben, verhandelten Akteure alter und neuer Parteien und Gruppierungen an Runden Tischen und in vergleichbaren Gremien über die weitere Entwicklung. Von einer revolutionär - demokratischen Legitimierung konnte nur bedingt die Rede sein, gab es doch in der Bevölkerung trotz aller grundsätzlichen Akzeptanz der Runden Tische eine verbreitete Skepsis gegen das dortige „Gerede“. Hört man sich nachträglich manche mitgeschnittenen Geschäftsordnungsdebatten an, weiß man, was gemeint war. Die weitere Entwicklung verlief im Wechselspiel von Konfrontation und Kooperation, was wesentlich zur Friedlichkeit der Ereignisse beitrug. Allerdings verbanden sich mit den beiden Handlungsebenen Demonstrationen und Run-

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den Tischen auch zwei unterschiedliche Tendenzen inhaltlicher Ausrichtung. Während ab Dezember die Befürworter einer schnellen SED - Entmachtung und einer baldigen deutschen Einheit auf den Straßen dominierten, sprachen sich Mehrheiten an Runden Tischen eher für DDR - interne Lösungen aus, die allerdings auch nicht immer demokratisch - sozialistisch sein mussten. Angesichts dieser Konstellation verwunderte es nicht, dass Modrow die Runden Tische unterstützte und die Staatsorgane aller Ebenen selbst zu deren Bildung aufrief. Allerdings machte er klar, dass sie die in seinen Händen liegende sozialistische Staatsmacht nicht in Frage stellen durften. Er sah in den Runden Tischen geeignete Instrumente, die lädierte Staatsmacht durch neue Formen demokratisch - sozialistischer Mitbestimmung, freilich ohne Stimmrecht, flankierend einzubinden. Forderungen wie z. B. die des einladenden Vorsitzenden des Rates des Kreises Stollberg, die Teilnahme am Runden Tisch vom sozialistischen Bekenntnis abhängig zu machen, hatten allerdings kaum noch Chancen, akzeptiert zu werden. Da Sozialismus nicht das Ziel aller Akteure an den Runden Tischen war, wuchsen auch hier die Konflikte. Runde Tische bildeten sich nun in vielen Orten und Kreisen, allerdings keinesfalls flächendeckend. Oft ging die Initiative von Vertretern neuer Gruppierungen oder der Kirchen aus, meist allerdings von Staatsfunktionären. Vereinzelt fungierten sie, wie z. B. in Marienberg als zeitweilige Kommissionen des Kreistages. Völlig neu war, dass man hier mit Vertretern der SED ungestraft über Probleme reden konnte, was nicht hieß, dass die SED darauf verzichtete, ihre neuen Partner intensiv zu bespitzeln und repressive Maßnahmen für den Fall der Wiedererringung der Macht vorzubereiten. Mehr als einen halben Monat, nachdem die ersten regionalen Runden Tische entstanden waren, bildete sich in Berlin ein zentraler Runder Tisch für die gesamte DDR, der die Vorbereitung freier Wahlen zu seinem Ziel erklärte. Wie die regionalen und kommunalen Tische verstand er sich zunächst als ein Kontrollorgan der Staates und der Volkskammer, ohne den Anspruch zu erheben, direkt in die Regierungsgeschäfte einzugreifen. Das sollte sich im Januar ändern. An den Runden Tischen der Bezirke, Kreise und Kommunen wurden von Anfang an auch regionale und kommunale Themen behandelt. Daneben ging es überall um die Auf lösung des MfS, um Sicherheitspartnerschaften und den Umgang miteinander. Immer wieder wurde gefordert, zivilisiert miteinander umzugehen, immerhin sei das Ziel Demokratie. Ob das von allen Vertretern der SED so gesehen wurde, scheint angesichts der neo - sozialistischen Ziele fraglich. Überall wurde die Frage der Legitimität der Volksvertretungen diskutiert und fast durchweg deren Weiterarbeit bis zu freien Wahlen akzeptiert. Nur selten übernahmen Runde Tische wie in Plauen oder Leipzig die eigentliche Stadtleitung. Die Runden Tische verstanden sich fast durchweg als Übergangsgremien bis zu kommenden Wahlen und als Ersatz für fehlende parlamentarisch- demokratische Gremien, nicht aber als Interessenvertretungen einer pluralistischen Gesellschaft.

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In der SED spitzte sich die Krise weiter zu. Verbreitet kam es zu persönlichen Anfeindungen und Drohungen. Die Zeitungen veröffentlichten Schuldbekenntnisse von Mitgliedern, die sich von ihrer Führung distanzierten. Die Zahl der Austritte stieg weiter. Unter Druck aus Moskau übergab Krenz am 6. Dezember seine Staatsämter an den LDPD - Vorsitzenden Gerlach. Einen Tag darauf wurden Mielke, Stoph und andere SED - Größen verhaftet. In den Betrieben begann die Auf lösung der SED - Betriebsstrukturen samt „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“. An der Parteibasis setzte man sich nun endgültig von der bisherigen Führung ab und orientierte auf die neue Führungsriege um Modrow und Gysi. Diese bekräftigten ihren Kurs, die SED zu erneuern, um gemeinsam mit anderen sozialistischen Kräften eine neue DDR zu schaffen. Von einem Bekenntnis zu freiheitlich - parlamentarischer Demokratie konnte dagegen keine Rede sein. Alle Hoffnungen richteten sich nun auf den Mitte Dezember stattfindenden Parteitag, der den neuen Kurs mit einer Umbenennung der Partei in SED - PDS bekräftigte und einen neuen Kurs jenseits von Stalinismus und Kapitalismus propagierte. Gregor Gysi bestätigte die Linie, die bisherige Führung und nicht Systemdefizite seien für die bisherigen Zustände verantwortlich. Weiterhin gab es eine deutliche Übereinstimmung der neuen Linie unter Parteichef Gysi und der KPdSU unter Gorbatschow. Für die sowjetische Führung war es ein Erfolg, die drei westlichen Kriegsalliierten des Zweiten Weltkrieges am 11. Dezember zu einer Konferenz der Alliierten nach Berlin zu holen. Das Treffen über die Köpfe der Deutschen hinweg, das aus sowjetischer Sicht der Festigung der deutschen Teilung diente, löste heftige Proteste der Bundesregierung aus und veranlasste Bundeskanzler Kohl, die US - amerikanische Regierung zu bitten, sich noch deutlicher für die staatliche Einheit einzusetzen. In Bonn vertrat man weiterhin die Auffassung, die Deutschen in der DDR müssten das Recht haben, demokratisch über eine Wiedervereinigung zu entscheiden.

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3.

Modrows Kampf um den Erhalt der sozialistischen Staatsmacht – Demokratisierung der Parteienlandschaft (13.–22.12.)

3.1

Regionale Proteste und Warnstreiks vor Weihnachten

Nach den Beschlüssen über die Umwandlung des AfNS in neue Dienste, statt die Staatssicherheit aufzulösen, entlud sich in Betrieben und auf den Straßen eine neuerliche „Welle der Wut“ gegen die SED.1 Am 15. Dezember stellte die Regierung im Bezirk Karl - Marx - Stadt „Erscheinungen von Anarchie“ fest. Die Tendenz zu kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen und Streikandrohungen wuchs. Es gab Beschimpfungen, Gewaltandrohungen und Übergriffe gegen Funktionäre und Gebäude des Partei - und Staatsapparates, gegen ehemalige Stasi - Angehörige, Mitarbeiter der Volkspolizei, der NVA und der Justizorgane sowie deren Familienangehörige. Die Forderungen nach Wiedervereinigung nahmen schnell zu, insbesondere in den südlichen Bezirken Dresden und Karl - Marx - Stadt.2 Am 18. Dezember registrierte die Staatssicherheit ein weiteres Anwachsen der Gewaltbereitschaft, der Aggressivität und eine Häufung von Morddrohungen, Raubüberfällen und Androhungen gegenüber dem AfNS.3 SED - Mitgliedern wurden von ihren Kollegen die Versuche der SED - und Staatsführung zur Rettung der Machtverhältnisse zur Last gelegt. Auf diese Weise trug die Politik Modrows dazu bei, dass die SED weiter zusammenschmolz. Der Trend, sich von der SED zu distanzieren, wuchs weiter. Im Süden der DDR erklärten sich erste Dörfer zu SED - freien Gemeinden. Bezirk Dresden : Angesichts der Entwicklung äußerte u. a. die SED - Kreisleitung Bautzen die Besorgnis, die Entwicklung könne über eine Vertragsgemeinschaft doch zur Wiedervereinigung führen. „Immer härter“ würde dies auf Demonstrationen gefordert. In Bautzen gebe es „einen harten Kern“, der dies „mit BRD - Fahnen und mit DDR - Fahnen mit herausgeschnittenem Ährenkranz lautstark“ fordere. Selbst der neugewählte LDPD - Kreisvorsitzende unterstütze dies. Progressive Bürger seien besorgt wegen neofaschistischer Tendenzen und der Forderung nach Wiedervereinigung.4 Bei einer Jahresabschlussdemonstration am 14. Dezember in Großenhain, zu der die CDU aufgerufen hatte, ging es freilich friedlicher zu als in den Horrorszenarien der SED, und selbst der Bürgermeister und der Vorsitzende des Rates des Kreises reihten sich ein. Zum Abschluss fand ein Schweigemarsch mit brennenden Kerzen unter dem Motto „Für Wahrheit und Recht“ statt, mit dem an die Opfer des Stalinismus erinnert werden sollte. An einer Kundgebung nahmen etwa 3 000 Einwohner teil.5 Am 1 2 3 4 5

Falkner, Von der SED zur PDS, S. 44. Vgl. Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 183–186). Vgl. Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( ebd., HA VIII, AKG 1616, Bl. 49). SED - KL Bautzen vom 14. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, A 13555). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 14., 16./17., 20. und 23./24. 12. 1989.

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selben Tag fanden auch Demonstrationen in Königsbrück und Kamenz statt. In Königsbrück wurden „sechs BRD - Fahnen“ mitgeführt.6 Auch in Sebnitz demonstrierten über Tausend Bürger mit schwarz - rot - goldenen Fahnen. Auf einer Losung war zu lesen „Wir grüßen Helmut Kohl – nur die Einheit tut uns wohl.“7 In Sebnitz folgte am 21. Dezember eine weitere Kundgebung mit ca. 600 Teilnehmern. Sprecher des Neuen Forums forderten die Beseitigung der SED und die Wiedervereinigung. In „aggressiver und nationalistisch - aufgeputschter Atmosphäre“, so die SED - Kreisleitung, wurde eine Abstimmung durchgeführt, bei der sich nur zwei Teilnehmer gegen die Wiedervereinigung aussprachen.8 Am 15. Dezember wurde im Spinnereibetrieb VEB Lautex Ebersbach im Kreis Löbau gestreikt. Die Arbeiter forderten höhere Löhne. Sie fühlten sich von der Betriebsleitung vernachlässigt, da bisher keine Gesprächsbereitschaft bestand.9 Am 18. Dezember fand in Ostritz ( Görlitz ) eine Demonstration statt, zu der die Bürgerinitiative des Ortes aufgerufen hatte. Über 200 Einwohner gedachten der Opfer des Stalinismus.10 Bezirk Cottbus : Am 18. Dezember trafen sich in Wittichenau ( Hoyerswerda ) im Anschluss an das traditionelle Friedensgebet in der Kreuzkirche mehr als 1 000 Wittichenauer zu einer Demonstration in Form eines Schweigemarsches mit brennenden Kerzen.11 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Oelsnitz stellten sich nach einer Demonstration am 14. Dezember bei einem Forum Vertreter des Wehrkreiskommandos, der Grenztruppen und der Volkspolizei den Fragen der Bürger.12 In Auerbach fand die letzte Demonstration des Jahres am 15. Dezember statt, ebenso in Eppendorf ( Flöha ). Vor 150 Teilnehmern wurde ein Flugblatt „Für ein deutsches Vaterland“ verlesen. Anschließend fand eine Unterschriftensammlung für einen Volksentscheid zur deutschen Einheit statt.13 Bei einer Podiumsdiskussion in Zschopau stellte das Neue Forum die Rechtmäßigkeit des SED - Besitzes an Gebäuden, Betrieben und Presseorganen in Frage.14 In Plauen kam es in der Woche vor dem 11. Dezember in einigen Betrieben zu Warnstreiks „mit der Forderung nach einem Volksentscheid über Konföderation mit der BRD bis hin zu Wiedervereinigungsgedanken“. Nach einem Aufruf des MLK Werk Plauen fanden in fast allen Betrieben Streikurabstimmungen statt, die vom Kreisvorstand des FDGB mitgetragen wurden. 56 Prozent der Beschäftigten sprachen sich für 6 7 8

PKA Kamenz vom 8.–15. 12. 1989 : Wochenlage ( SächsHStA, PKA Kamenz, I 359). Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 16./17. 12. 1989. SED - KL Sebnitz vom 21. 12. 1989 : Lage in der KPO ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555, Bl. 1–3). 9 Vgl. Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 183 f.); Info über einen Streik ( BArch Berlin, DC 20, 11950). 10 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 28. 12. 1989. 11 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 20. 12. 1989. 12 Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). 13 Vgl. Chronik der Demonstration in Eppendorf ( ebd.). 14 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 20. 12. 1989.

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einen Streik aus. Die SED befürchtete eine Signalwirkung.15 Am Mittag des 15. Dezember traten in Plauen bis zu 10 000 Beschäftigte des VEB Metallleichtbaukombinat, des VEB elgawa, des VEB Stadtbau, des VEB Plamag - Giesserei, des VEB vowotext sowie des VEB Plauener Gardine in einen politisch motivierten Warnstreik für die Wiedervereinigung Deutschlands. Zuvor hatte die Belegschaft in einem Brief an die Volkskammer vergeblich einen Volksentscheid über die weitere Entwicklung der DDR gefordert.16 Die streikenden Betriebe verpflichteten sich – dies ist wohl ein Novum in der Streikgeschichte – die zweistündige Streikzeit nachzuarbeiten.17 Anschließend folgte eine Demonstration durch das Stadtzentrum. Der Zug startete am Metallleichtbaukombinat und führte an den anderen Betrieben vorbei, wo sich die Beschäftigten anschlossen. Ca. 10 000 Teilnehmer forderten vor allem die Wiedervereinigung. Auch ein zweiter Demonstrationszug forderte einen Volksentscheid über die Einheit Deutschlands. Superintendent Küttler forderte die Aufgabe der Zweistaatlichkeit und einen Volksentscheid.18 Er erinnert sich, man habe in Plauen den Eindruck gehabt, der übrigen DDR „immer ein bisschen voraus“ zu sein. Das gelte auch für das Ende der SED, die bei einer Demonstration am 16. Dezember unter großem Jubel samt herausgeschnittenem DDR - Emblem der Fahne in einem entsprechend beschrifteten Sarg symbolisch beerdigt wurde.19 Am nächsten Tag demonstrierten hier erneut ca. 8 000 Personen.20 In Freiberg hatten für denselben Tag die Vereinigte Linke und Studenten der Bergakademie zur Gegendemonstration aufgerufen. Sie sangen die Internationale und riefen „Zickezacke, zickezacke, links, links, links ! Zickezacke zickezacke ! Rechts da stinkt’s !“ Sprecher forderten eine souveräne sozialistische DDR mit einem demokratischen Sozialismus. Die Bürgerinitiativen wurden aufgerufen, sich zu einer „Volksfront“ zusammenzuschließen. Andere Redner forderten den Einsatz von Machtmitteln, um Ordnung und Sicherheit wieder herzustellen. Die Initiativgruppe Freiberg des DA rief auf, sich gegen die Wiedervereinigung zu wehren.21 In Zwickau forderten ca. 6 000 Demonstranten am 16. Dezember vor allem die deutsche Einheit. Die LDPD forderte die Umgestaltung des Ehrenhaines der Sozialisten zugunsten der Opfer des Stalinismus. Zwei Tage später forderten erneut ca. 4 000 Teilnehmer ein Gedenken an die Stalinismusopfer und die deut15 Vgl. SED - KL Plauen an Gregor Gysi vom 11. 12. 1989 ( BArchB, DC 20, 11949); FDGBKreisvorstand Plauen an Hans Modrow vom 13. 12. 1989 ( ebd., 11950). 16 Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 183 f.); MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 133–135); Axel Vornbäumen, Im Vogtland denkt man erstmal deutsch. In : Frankfurter Rundschau vom 23. 12. 1989. 17 Vgl. Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 183–186). 18 Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 10; Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 19. 12. 1989. 19 Küttler, Die Wende in Plauen, S. 153. 20 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11950. 21 Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 15. 12. 1989.

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sche Einheit.22 Bei einer Demonstration in Lichtenstein ( Hohenstein - Ernstthal ) am 16. Dezember ging es vor allem um den Machtmissbrauch und die Korruption in der SED.23 Bei einer Demonstration in Oelsnitz am 18. Dezember forderten mehrere Hundert Teilnehmer die deutsche Einheit.24 Bei der Montagsdemonstration in Aue spaltete sich der Zug in Mitglieder des Neuen Forums, die gegen, und in eine Mehrheit der Teilnehmer, die für eine baldige deutsche Einheit plädierten. Es gab heftige Debatten zwischen beiden Gruppen.25 Bei einer Demonstration am nächsten Tag in Zwönitz ( Aue ) wurde die SDP mit Jubel begrüßt.26 In Karl - Marx - Stadt demonstrierten rund 30 000 Menschen für die Wiedervereinigung, gegen die SED und „für eine neue DDR“.27 In Bad Elster ( Oelsnitz ) fand am 21. Dezember die letzte Demonstration des Jahres statt.28 Bezirk Leipzig : In Altenburg und Geithain wurden die Objekte des Kreisamtes für Nationale Sicherheit am 14. bzw. 15. Dezember an den Rat der Stadt übergeben und durch die Volkspolizei gesichert.29 Streikandrohungen kamen Mitte Dezember aus dem VEB Chemieanlagenbau Leipzig in Grimma.30 In Eula ( Borna ) besichtigten am 16. Dezember Mitglieder des Neuen Forums im Beisein von Staatsanwälten und Volkspolizei - Angehörigen einen Bunker, der sich als Ausweichführungsstelle der NVA erwies.31 In Delitzsch nahmen am 17. Dezember 500 Teilnehmer an einer Demonstration des Neuen Forums gegen Rechtsradikalismus teil. Auf Losungen hieß es : „Lasst Euch nicht BeeRDigen“ und „Lieber links mühen, statt rechts zittern“.32 An diesem Tag besuchte Bundesaußenminister Genscher Leipzig.33 Hier gedachten am nächsten Tag Tausende Menschen mit einem Schweigemarsch der Opfer von Gewalt und Unterdrückung im SED - Staat. Unter dem Geläut von Kirchenglocken zogen sie mit Kerzen über den Leipziger Ring. Der Zug war ruhig und führte wenig Transparente und Fahnen mit sich. Noch einmal wurde die Gemeinsamkeit in der Ablehnung des SED - Regimes, der kleinste gemeinsame Nenner aller politischen Richtungen, beschworen. Nur auf dem Opernplatz forderten kleinere Gruppen von rechten und linken Demonstranten eine schnelle Wiedervereinigung bzw. eine eigenständige sozialistische DDR.34 Am 18. Dezember forderte das Bürgerkomi22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 19. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 19. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 20. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 20. 12. 1989. Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 20. 12. 1989. Vgl. Bürgermeister von Bad Elster an Sächsische Staatskanzlei vom 17. 2. 1999 ( HAIT, StKa ). Vgl. VPKA Altenburg vom 14.–15. 12. 1989 : Rapporte ( SächsStAL, VPKA Altenburg, Rapporte ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 19. und 20. 12. 1989. Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 183 f.). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 4. 1. 1990. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 19. 12. 1989. Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 128). Vgl. BDVP Leipzig vom 23. 12. 1989 : Lage ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2840 II ); Sächsisches Tageblatt vom 19. 12. 1989; Tetzner, Leipziger Ring, S. 77–80.

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tee, alle Mitarbeiter müssten das Bezirksamt verlassen. Das Kreisamt Leipzig wurde aufgelöst.35 In Döbeln fand ein Fürbittgottesdienst mit politischen Inhalten statt. Bei einem anschließenden Schweigemarsch mit Kerzen und Fackeln wurde der Opfer von Stalinismus und Gesinnungsterror in der DDR gedacht. Anschließend stellte sich der DA im Stadttheater vor.36 Am 22. Dezember organisierte das Neue Forum eine Demonstration in Schmölln. An einer Kundgebung, bei der sich SDP und DA vorstellten, beteiligten sich 700 Personen. Danach zogen die Menschen mit Fahnen durch die Stadt. Am nächsten Tag folgten eine Schweigedemonstration und eine Menschenkette mit ca. 170 Personen.37 In den meisten Orten fanden über Weihnachten keine Demonstrationen statt. Nur in Karl - Marx - Stadt fanden sich zur Montagsdemonstration am 26. Dezember rund 700 Menschen zusammen.38 Proteste und Forderungen an Schulen Auch im Dezember blieben Jugendliche und junge Erwachsene eine wesentliche Triebkraft der revolutionären Entwicklung. Neben ihrer Rolle bei den Demonstrationen und der Ausreise zeigte sich dies auch in der Schule. Vielerorts kam es Mitte Dezember zu Schülerstreiks für eine Bildungsreform und eine Aussetzung des Polytechnik-, Staatsbürgerkunde - und Russisch - Unterrichts. An vielen Schulen wurden Klassensprecher gewählt und Schülerräte gebildet.39 In Beierfeld ( Schwarzenberg ) forderten die Schüler der neunten Klasse am 6. Dezember eine Demokratisierung des Schulalltags, die Gleichberechtigung aller Schüler, die Wahl eines Klassensprechers unabhängig von seiner Weltanschauung, eine vollständige Entmilitarisierung des Unterrichts samt Abschaffung des Kommandos „Achtung“ am Stundenbeginn und eine Entschuldigung der Schulleitung bei bisher diskriminierten Schülern.40 Überall wurde über eine Umwandlung der Pioniere und der FDJ in unabhängige und freiwillige Organisationen diskutiert, die unabhängig von der Schule wirken sollten. Der Alleinvertretungsanspruch der FDJ wurde zurückgewiesen.41 In Delitzsch fand am 2. Dezember 35 Vgl. AfNS, Lagezentrum : Lage im Zusammenhang mit der Auf lösung der KÄfNS und BÄfNS, o. D. ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 167 f.). 36 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 20. 12. 1989; Plate, Döbelner Herbst ’89. 37 Vgl. VPKA Schmölln vom 22.–23. und 23.–24. 12. 1989 : Lagefilm ( SächsStAL, VPKA Schmölln, ODH, 7149). 38 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 27. 12. 1989. 39 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 22. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 14. 12. 1989. 40 Vgl. Gemeinde Beierfeld / Schwarzenberg, Erlebnisbericht des Wendejahres 1989 (HAIT, StKa ). 41 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 21. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 28. 12. 1989.

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eine Schüler - Demonstration für die Einführung der 5–Tage - Schulwoche statt.42 In Olbernau ( Marienberg ) verließen die Schüler der 9. und 10. Klassen der drei Oberschulen der Stadt am 14. Dezember demonstrativ den Unterricht und demonstrierten durch das Stadtgebiet.43 Aber auch die jüngeren Alterstufen waren vom Umbruch betroffen. Die politischen Auseinandersetzungen unter Lehrern und Eltern beeinflussten den Unterricht. Die SED beklagte ein „anmaßendes Auftreten von Eltern und Schülern gegenüber Kindern von Funktionären“ und eine „verstärkte Einflussnahme von anderen Parteien und der Kirche auf den Schulalltag“.44 Viele Lehrer begrüßten den Umbruch. Sie bildeten Gesprächs - sowie Initiativgruppen und trafen sich bei Lehrerversammlungen, um Veränderungen zu diskutieren. Lehrer bildeten Personalräte, um die Interessen der Lehrerschaft gegenüber der Abteilung Volksbildung bei den Räten der Kreise zu vertreten und trugen zum Rücktritt von Kreisschulräten bei.45 Auch das Neue Forum hatte in den meisten Kommunen eine Erneuerung des Bildungswesens im Programm und bildete entsprechende Arbeitsgruppen.46 In Niesky forderte es u. a. die Achtung der Individualität der Schüler, Gewissensfreiheit und pädagogische Handlungsspielräume für Lehrer, ein Ende der Wehrerziehung und des kommunistischen Unterrichtes an den Schulen, freie Schülervertretungen etc.47 In Marienberg forderte es eine Entfernung von FDJ und Pionieren aus den Schulen.48 Demokratiebestrebungen bei den Sorben Bei der nationalen Minderheit der Sorben handelt es sich um das kleinste slawische Volk. Die Sprache ist dem Westslawischen zugehörig. Sie sind der Rest slawischer Volksstämme, die um das Jahr 600 den Osten des späteren Deutschlands besiedelten. Traditionelles Siedlungsgebiet ist die Ober - und Niederlausitz. Die Mehrzahl der Sorben ist evangelisch, doch hat sich zwischen Bautzen, Hoyerswerda und Kamenz ein annähernd geschlossenes katholisches Siedlungsgebiet erhalten. Seit Jahrhunderten unterliegt das sorbische Volk einem Assimilierungsdruck, dem sich bisher nur die katholischen Sorben entziehen konnten. Nach 1949 wurden sie in das politische System der DDR integriert und erhielten den Status einer kulturell geförderten Minderheit. Die Domowina, der seit 42 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( StV Delitzsch, Museum Schloss Delitzsch ). 43 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 131 f.). 44 SED - KL Großenhain vom 7. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 45 Vgl. Lothar Walther, Ereignisse der Wende in Aue ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10. 12. 1989. 46 Vgl. Superintendent i. R. Reinhard Leue ( Rothenburg ) an Sächsische Staatskanzlei vom 10. 3. 1999 ( HAIT, StKa ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 21. 12. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 21. 12. 1989. 47 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 1. 12. 1989. 48 Vgl. PB Dr. Straube und Herr Köhler ( StA Marienberg ).

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1912 bestehende Dachverband der Sorben, war seit 1950 politisch von der SED abhängig. In der DDR ging die Beherrschung der sorbischen Sprache weiter zurück. 1990 gab es etwa 60 000 sorbischsprachige Einwohner, von denen mit Ausnahme der katholischen Sorben die Mehrzahl der älteren Generation angehörte.49 Auch Teile der sorbischen Bevölkerung nahmen aktiv am revolutionären Geschehen in der Lausitz teil, ohne dass sich ihr genauer Anteil bestimmen ließe. Auswirkungen hatte die Entwicklung allerdings auch auf ihre eigenen Organisations - und Leitungsstrukturen. Bereits am 23. Oktober hatte die Domowina - Gruppe des Deutsch - Sorbischen Volkstheaters in Bautzen eine Erneuerung und Verjüngung der Domowina verlangt. Es sei an der Zeit, die nationale Organisation der Sorben zu demokratisieren und mit der Vorherrschaft von SED - Funktionären zu brechen. Dazu luden sie „national gesinnte und kritische sorbische Künstler, Literaten, Kulturfunktionäre und Studenten“ zum „Nachtdialog auf sorbische Art – über Fragen unseres nationalen Seins“ am 17. November in das Foyer des Volkstheaters ein.50 Am 25. November traten katholische sorbische Geistliche mit Forderungen nach einer umfassenden Demokratisierung an die Öffentlichkeit. Sie forderten, die Domowina müsse künftig unabhängig von ideologischen Vorgaben wirken und dürfe sich nicht mehr an den Richtlinien der SED orientieren. Der Passus im Statut, wonach es sich um eine „sozialistische“ nationale Organisation handele, müsse gestrichen werden. Auch die Zusammensetzung der Führung müsse sich ändern. Zu diesem Zeitpunkt waren 53 von 76 Mitgliedern des Bundesvorstandes SED - Mitglieder. Nötig seien eine Statutenänderung, freie Wahlen der Vorstände und die Gründung einer von der FDJ unabhängigen sorbischen Jugendorganisation.51 Anfang November forderte das Bautzener Mitglied der Domowina, Mato Solta, die Unabhängigkeit der Domowina und der Sorben von der SED und ihren Organisationen, eine eigene Volkskammerfraktion sowie Meinungs - und Pressefreiheit für die sorbischen Zeitungen.52 In der sorbische Zeitung „Nowa Doba“ lud am 10. November eine Initiativgruppe eine „Sorbische nationale Versammlung“ für den nächsten Tag ins Kolping - Haus in Bautzen ein. Hier sollten Grundsatzfragen sorbischer Existenz und u. a. darüber diskutiert werden, wie aus der Domowina ein „echter Vertreter des ganzen sorbischen Volkes“ werden könne. Gefordert wurden die Wiedereinführung der Funktion eines Vorsitzenden der Domowina, die Wahl aller Funktionen und die Gründung einer „sorbischen Jugend“.53 An 49 Vgl. Die Zukunft der Sorben in der Gesellschaft. Entwurf eines sorbischen Programms vom 3. 1. 1990 ( PB Ronny Heidenreich ). 50 Domowina Gruppe DSVT vom 23. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7002, 2, Bl. 103 f.). 51 Erwartung und Forderungen an die offizielle Vertretung in unserer Gesellschaft vom 25. 10. 1989 ( PB Ronny Heidenreich ). 52 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 18); Sächsische Zeitung vom 3. 11. 1989. 53 SED - BL Dresden vom 10. 11. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Dresden, AKG 7001, Bl. 39 und 46).

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der ersten Sorbischen Volksversammlung beteiligten sich daraufhin am nächsten Tag rund 200 Personen.54 Die Domowina rief ihrerseits alle Mitglieder und interessierte Bürger zu Gesprächen im Haus der Sorben am 16. November auf.55 Der Bundesvorstand der Domowina beriet am 20. November, wie man sich den veränderten politischen Gegebenheiten anpassen könne. Der 1. Sekretär des Vorstandes, Jurij Grós, räumte Fehler ein und erklärte, die bisherigen politischen Verhältnisse in der DDR hätten eine andere Politik verhindert.56 Die undemokratische Struktur des Verbandes sei auf „stalinistische Einflüsse“ zurückzuführen. Die Pflege der Kultur und Muttersprache müssten von nun an im Vordergrund stehen. Der Vorschlag, die Domowina in einen freien und unabhängigen Verband zu verwandeln, löste heftige Diskussionen aus.57 Am 28. November wurde der Rücktritt des Sekretariats der Domowina vom Bundesvorstand mit fünf Gegenstimmen angenommen. Jurij Grós wurde bevollmächtigt, dem Bundesvorstand den Vorschlag für einen Arbeitsausschuss vorzulegen, der der Vorbereitung eines Sonderkongresses diente.58 Am 7. Dezember konstituierte sich die „Sorbische Volksversammlung“ auf ihrer zweiten Zusammenkunft zu einer festen Gruppierung.59 Parallel diskutierten in Bautzen auch die Vertreter der Domowina weiter über die Nationalitätenpolitik und über Vorschläge der „Sorbischen Volksversammlung“, einen Sorbischen Runden Tisch zu bilden.60 Am 19. Dezember trat dieser auf Initiative der „Sorbischen Volksversammlung“ im Haus der Sorben zusammen und beschloss, gegenüber der Domowina beratende und unterstützende Funktion zu fordern.61 Die Domowina musste sich derweil weiter mit Vorwürfen auseinandersetzen, unter der SEDHerrschaft zu wenig für das Sorbentum getan zu haben.62 In der „Sächsischen Zeitung“ erklärte der Parteisekretär der SED / PDS im Institut für sorbische Volksforschung, Ludwig Ela ( Elle ), Ende Dezember, die Domowina sei bisher stark auf die Durchsetzung der Politik der SED ausgerichtet gewesen und habe nur in diesem Rahmen die Interessen des sorbischen Volkes artikulieren können. Nun gehe es um mehr Selbstbestimmung. Bereits kursierende Autonomiebestrebungen nannte er illusorisch. Erreichbare Ziele seien mehr Mitsprache in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen sowie eine verstärkte Förderung des sorbischen Unterrichts an den Schulen.63

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 27. 11. 1989. Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 22). Vgl. Sächsische Zeitung vom 21. 11. 1989. Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 26). Vgl. Zu einigen aktuellen Fragen in der Domowina und im sorbischen Volk. In : Nowa Doba ( Sonderbeilage in deutscher Sprache ) vom 13. 1. 1990. Sächsische Zeitung vom 7. 12. 1989. Vgl. Ronny Heidenreich Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 8). Vgl. Sorbischer Runder Tisch arbeitet. In : Nowa Doba vom 20. 1. 1990. Vgl. Jurij Grós, Antworten auf unsere Sorgen. In : Nowa Doba ( Sonderbeilage in deutscher Sprache ) vom 13. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 28. 12. 1989.

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Reiseverkehr, ständige Ausreise, neue Grenzübergänge und Städtepartnerschaften

Nicht nur die Demonstrationen und die bereits erreichte politische Liberalisierung veränderten die Stimmung in der DDR, auch die offenen Grenzen sorgten für ein völlig neues Lebensgefühl. Anfang Dezember reisten täglich über 500 000 Bewohner der DDR und Ost - Berlins in die Bundesrepublik bzw. nach West - Berlin. An den Wochenenden waren es über 700 000.64 Seiters und Modrow vereinbarten am 5. Dezember visafreies Reisen ohne Zwangsumtausch für Bundesdeutsche und West - Berliner sowie einen Devisenfonds in Höhe von 2,9 Mrd. DM. Daraus konnte jeder Reisende aus der DDR jährlich 200 DDR Mark in 200 DM umtauschen.65 Schon zu Weihnachten trat der visafreie Reiseverkehr in die DDR in Kraft, die Meldepflicht wurde aufgehoben.66 Mehr als eine Million Bundesdeutsche und West - Berliner weilten daraufhin über Weihnachten zu Besuch in der DDR und in Ost - Berlin. Umgekehrt waren es etwa 2,5 Millionen.67 Seither riss der Reisestrom nicht mehr ab. Zwischen dem 29. Dezember und dem 1. Januar reisten 1780 940 Bewohner der DDR und Ost - Berlins in Richtung Westen. Zur gleichen Zeit besuchten 1807181 Bundesdeutsche und WestBerliner den Osten.68 Fast überall gab es Wiedersehensfeste. Die Ostdeutschen wurden im Westen überwiegend freundlich empfangen, in der DDR hingen an der Autobahn Schilder wie „Freuen auf Deutschland“ und „Grüß Gott BRD“.69 Vor allem für die Bahn bedeutete der Reiseverkehr schon Mitte Dezember eine enorme Herausforderung. Züge aus Dresden nach Bayern waren zu 300 Prozent ausgelastet. Es wurden zahlreiche zusätzliche Sonderzüge eingesetzt, wodurch Loks für den Güterverkehr fehlten.70 Problematischer als der kaum zu bewältigende Reiseansturm waren für beide Staaten die zahlreichen Übersiedler. 1989 kamen nach Angaben des Bundesinnenministeriums insgesamt 343 854 Übersiedler aus der DDR und Ost - Berlin in den deutschen Westen, 1988 waren es nur 39 832 und 1987 18 958 gewesen.71 Da ein Ende des Stromes nicht absehbar war, setzte dies beide deutsche Regierungen unter erheblichen Handlungszwang.

64 Vgl. Thesen für Dienstberatung des Ministers für Innere Angelegenheiten mit Chefs der BDVP am 8. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52444); BAfNS Karl - Marx - Stadt vom 6. 12. 1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, 1. Stellv. Operativ 1, Bl. 66). 65 Vgl. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung 138 vom 7. 12. 1989; Neues Deutschland vom 6. 12. 1989; John, Seiters, S. 132–140. 66 GBl. DDR I, 26 vom 29. 12. 1989, S. 271 f. Vgl. Neues Deutschland vom 22. 12. 1989. 67 Diemer ( Hg.), Kurze Chronik, S. 137. 68 Vgl. MdI vom 2. 1. 1990 : Gewährleistung öffentlicher Ordnung und Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 69 Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 138. 70 Vgl. MdI : Lagefilm, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 2.1, 52461, Bl. 134). 71 Vgl. Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach, S. 341.

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Bild 58: Gemeinde Stahmeln begrüßt die Bundesbürger.

Flankiert wurde die neue Reisefreiheit von zahlreichen Aktionen entlang der innerdeutschen Grenze gegen Sperranlagen. In mehreren Grenzgemeinden kam es zu massiven Forderungen nach ständigen Grenzübergangsstellen und zu erzwungenen Grenzöffnungen. Dabei kooperierten die Bürger von beiden Seiten der Grenze.72 So fand u. a. am 10. Dezember in der Grenzgemeinde Posseck eine Demonstration von 250 Personen statt, die die Öffnung eines Grenzübergangs nach Nentschau verlangten, auf westlicher Seite versammelten sich ca. 150 Personen.73 Angesichts der unkoordinierten Einrichtung von Grenzübergangsstellen betonte Modrow die Kompetenz seiner Regierung in Fragen des Grenzregimes, forderte die Räte der Kreise auf, ihre diesbezüglichen Kompetenzen nicht zu überschreiten74 und eng mit den zentralen Staatsorganen der 72 Vgl. Thesen für die Dienstberatung des Ministers für Innere Angelegenheiten mit Chefs der BDVP vom 8. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 1, 52444). 73 Vgl. RdK Oelsnitz vom 11. 12. 1989 ( SächsStAC, 126406). 74 Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für örtliche Staatsorgane vom 1. 12. 1989 : Verantwortung der Vorsitzenden der RdB und der Vorsitzenden der Räte von Grenzkreisen zur BRD bei Verhandlungen mit BRD - Behörden ( ThHSTA, 42208).

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DDR zusammenzuarbeiten, um die zahlreichen Kontakte an der Grenze „in geregelte Bahnen zu bringen“.75 Ungeachtet dessen ging der Abbau der Grenzanlagen und Grenzkontrollstellen weiter.76 Bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November hatte es 58 innerdeutsche Städtepartnerschaften gegeben, sechs weitere hatten sich in Vorbereitung befunden. Nach der Grenzöffnung stieg die Zahl sprunghaft an und ließ sich bald nicht mehr ermitteln.77 Es entstand ein neues System dezentraler Kontakte zwischen den Menschen in Ost und West, das die Kommunisten mit Mauer und Selbstschussanlagen über Jahrzehnte unterbunden hatten. Im politischen Bereich nutzten vor allem oppositionelle Gruppen und Parteien, aber auch Staatsvertreter auf allen Ebenen, kommunale Kontakte, um sich in Fragen der Selbstverwaltung unterstützen zu lassen. Die bundesdeutschen Partner stellten Satzungen, Gemeindeordnungen, Wahlzettel, Informationen über eine Bürgerbeteiligung bei der Planung kommunaler Projekte sowie technische Hilfsmittel zur Verfügung.78 3.3

Bemühungen Modrows um Erhalt und Entwicklungen im Bereich der Staatsmacht

Am 9./10. Dezember versammelte in Leipzig eine Landesdelegiertenkonferenz des Neuen Forums Vertreter aus elf Bezirken. Angesichts der Vernichtung möglicherweise strafrechtlich relevanter Akten stellte die Versammlung Strafantrag wegen des Verdachtes der Verdunkelung. Der Generalstreik wurde als legitimes, aber letztes Mittel des politischen Kampfes bezeichnet. Der Zentrale Runde Tisch wurde aufgefordert, Kampfgruppen und AfNS aufzulösen, andere Organisationen zu entmilitarisieren und die Logistik der SED an die Wirtschaft abzugeben. Die Abgeordneten aller Volksvertretungen seien politisch nicht legitimiert und genössen kein Vertrauen, im kommunalen Bereich beginne der Staatsapparat auseinander zu fallen. Für eine Übergangszeit bis zu freien Wahlen müssten daher Bürgerräte und Runde Tische mit Entscheidungs - und Beschlusskompetenz ausgestattet werden.79 Auch Rainer Eppelmann erklärte, die Regierung sei vom Volk nicht legitimiert und schlug die Bildung einer Übergangsregierung aus allgemein anerkannten Persönlichkeiten vor.80 Unterstüt75 Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für örtliche Staatsorgane an Vorsitzenden des RdB Erfurt vom 22. 12. 1989 ( ebd.). 76 VPKA Plauen vom 28. 12. 1989 : Vorschlag zum weiteren Abbau von materiellen Mitteln aus dem Bereich des VPGP - Weichschlitz ( SächsStAC, PKA Plauen Stab, 348). 77 Vgl. u. a. Jörg Lötzsch / Andreas Demmler, Chronik der Wende ( HAIT, StKa ); Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 41–43); Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 16./17. 12. 1989; Die Union, Ausgabe Meißen, vom 16. 12. 1989. 78 Vgl. Weizsäcker, Verschwisterung, S. 79 und 94. 79 DDR - weites Delegiertentreffen des Neuen Forums am 9./10. 12. 1989 in Leipzig ( ABL, H. XIX /1). 80 Vgl. Das Volk vom 14. 12. 1989.

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zung erhielt er vom SPD - Bundestagsabgeordneten Horst Niggemeier, der die Forderung „mehr als berechtigt“ nannte und erklärte, sie solle auf Bezirke, Kreise und Kommunen ausgedehnt werden. Dort seien die Machtstrukturen der SED ebenfalls noch weitgehend unangetastet.81 Das waren Kampfansagen an die Regierung Modrow, deren wichtigstes Ziel es war, die Staatsmacht der DDR zu wahren und den revolutionären Prozess abzubremsen, der sich mehr und mehr in Richtung deutsche Einheit bewegte. Je länger es ihm gelang, die DDR - Staatlichkeit in der bisherigen Form zu erhalten, umso größer waren die Chancen seiner Partei, in den kommenden Prozessen eine entscheidende Rolle zu spielen. Um die DDR - Staatsmacht zu stabilisieren, wies Modrow am 13. Dezember in allen Bezirken die Bildung von Operativstäben aus den Vorsitzenden der Räte, den Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei, den Leitern der Bezirksämter für Nationale Sicherheit, den Chefs der Wehrbezirkskommandos der NVA und den Bezirksstaatsanwälten an.82 In ihrer Zusammensetzung erinnerten sie an die Bezirkseinsatzleitungen und wurden wohl von einigen Mitwirkenden auch so gesehen. So meldete der Dresdner Regierungsbeauftragte, Dieter Stein, noch am 9. Januar 1990 der Regierung über die Arbeit des dortigen Operativstabes : „Mit der Bezirkseinsatzleitung wurden Maßnahmen zur Gewährleistung von Ruhe und Ordnung eingeleitet.“83 Noch immer galt die Lage also als Spannungsperiode. Deswegen sollten die Räte der Bezirke und Kreise enger mit den Bürgerkomitees zusammenarbeiten.84 Überall bemühten sich Staatsfunktionäre nun um den weiteren Ausbau der Sicherheitspartnerschaft mit neuen Gruppen und Parteien bei Demonstrationen, bei der Aufdeckung von Korruption und bei der Auf lösung des AfNS. Von einer direkten Mitwirkung an den Operativstäben blieben die neuen politischen Kräfte und Bürgerkomitees jedoch ausgeschlossen. Die Politik der Stabilisierung bestimmte auch die „Koalitionsrunde“ am Abend des 13. Dezember. Unter dem dominanten Einfluss der SED beschloss sie, Volkskammer und Staatsrat bis zur Wahl am 6. Mai strukturell und personell nicht zu verändern.85 Am nächsten Tag forderte Modrow die Vorsitzenden der Räte der Bezirke angesichts der Verschärfung der Lage auf, für eine gewaltfreie Entwicklung zu sorgen. Zwar sank bei den Demonstrationen die Zahl der Teilnehmer, die Aggressivität gegen die Staatsmacht aber nahm zu. Immer mehr Räten wurde die Legitimation abgesprochen. Modrow erklärte, es gebe Kräfte, die den Staat „lahm legen“ wollen. Sein Konzept : „Wir müssen handeln, wir 81 Die SPD im Deutschen Bundestag, 2971 vom 13. 12. 1989. Niggemeier : Forderung nach einer „Regierung der moralischen Legitimation“ in der DDR mehr als berechtigt ( ABL, H. IV, SPD ). 82 Vgl. Protokoll der Beratung des Operativstabes des RdB Karl - Marx - Stadt vom 14. 12. 1989 ( SächsStAC, BT / RdB, 128707). 83 Meldung des Herrn Stein aus Dresden vom 19. 01. 1990 ( BArch Berlin, DC 20, 11350). 84 Vgl. Minister für Innere Angelegenheiten an Chefs der BDVP 1–15 vom 13. 12. 1989 (ebd., DO 1, 52461); Modrow an Vorsitzende der RdB und OB Berlin vom 13. 12. 1989 ( ThSTAM, 1078). 85 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 359.

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dürfen uns nicht selber aufgeben, op. Arbeit so gestalten, dass wir alles weiter zusammenhalten“.86 Die Räte sollten die Runden Tische unterstützen und die Arbeit der staatlichen Leitung auf allen Ebenen gewährleisten. Die Bürgerkomitees sollten als „ernsthafte Partner“ in die Verantwortung genommen werden. Auf Kreis - und Gemeindeebene seien „Sicherheitspartnerschaften“ zwischen den Komitees und den staatlichen Organen anzustreben.87 Auch im Bereich der Verwaltung musste Modrow Vorschläge machen, wollte er nicht die Initiative aus der Hand geben und von der Entwicklung hinweggefegt werden. Er setzte eine „Regierungskommission zur Vorbereitung und Durchführung der Verwaltungsreform“ ein. Überflüssige Leitungen im Staatsaufbau sollten abgebaut und die Zweckmäßigkeit der Neubildung von Ländern geprüft werden. Die Kommission empfahl die Vorbereitung eines Gesetzes über eine Veränderung des Staatsaufbaus bis 1991.88 Am 15. Dezember erläuterte Modrow die Ziele der Verwaltungsreform und informierte über die Konstituierung der Regierungskommission am 18. Dezember. Es gehe darum, die Verwaltung demokratischer zu gestalten und den Verwaltungsaufwand zu senken. Prämissen der künftigen Arbeit seien die kommunale Selbstver waltung, eine Veränderung der territorialen Planung sowie die Schaffung von „Strukturen, die kollektive Leitung festigen, Verantwortung der Ratsmitglieder ausprägen und Doppelarbeit beseitigen“. Bei der Besprechung sah sich Modrow erstmals auch seitens der Ratsvorsitzenden mit Forderungen zur Bildung von Landesregierungen konfrontiert. Den SED - Bezirksbürokraten dämmerte, in welche Richtung die Entwicklung gehen könnte, und so versuchten sie nun, sich durch die Überleitung der Staatsapparate auf Bezirksebene in die neuen Länderverwaltungen ihren Einfluss auf den weiteren Verlauf der Dinge zu sichern.89 Der Ratsvorsitzende von Karl - Marx - Stadt forderte zur Vorbereitung der Bildung Sachsens eine baldige Zusammenkunft mit seinen Kollegen aus Leipzig und Dresden.90 Die Sorgen um die Zukunft der Bezirksapparate formulierte der Leipziger Ratsvorsitzende. Unter den Mitarbeitern des Staatsapparates sei durch die angekündigte, aber bisher nicht klar definierte Verwaltungsreform Unruhe eingetreten, weil Entlassungen wie im übrigen Partei - und Staatsapparat befürchtet würden.91

86 Ausführungen von Modrow auf der Beratung des Ministerrates mit den Vorsitzenden der RdB vom 14. 12. 1989, Mitschrift Herbert Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A/3274). 87 Ausführungen von Peter Moreth auf der Beratung des Ministerrates mit den Vorsitzenden der RdB vom 14. 12. 1989, Mitschrift Herbert Tzschoppe ( ebd.). 88 Regierungskommission zur Vorbereitung und Durchführung der Ver waltungsreform vom 11. 12. 1989 : Grundsätze und Maßnahmen zur Durchführung einer Verwaltungsreform in der DDR sowie Vorschläge zur Rang - und Reihenfolge ihrer rechtlichen Ausgestaltung, Entwurf ( BArch Berlin, DO 5, 134). 89 Vgl. Jestaedt, Zur Geschichte, S. 39 f. 90 Vgl. RdB Dresden vom 15. 12. 1989 : Info zur Beratung Modrows mit den Vorsitzenden der RdB ( SächsHStA, BT / RdB, 46150). 91 Vgl. Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 15. 12. 1989 ( SächsStAL, BT / RdB, 22265).

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Unterstützung regionaler sowie lokaler Räte und Volksvertretungen Am 14. Dezember beauftragte der Bezirkstag den Rat des Bezirkes Dresden, ein Konzept für die demokratische Erneuerung im Bezirk auszuarbeiten92 und wählte Wolfgang Sieber ( SED ) als Nachfolger von Günther Witteck ( SED ) zum neuen Ratsvorsitzenden. Neuer Präsident des Bezirkstages wurde Manfred Rentsch. Eine neue Geschäftsordnung wurde beschlossen und ein Ausschuss zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch gebildet, an dem sich neben den alten Parteien und Massenorganisationen auch Vertreter des Neuen Forums, des DA, der Gruppe der 20, der Initiative „Demokratische Erneuerung“, der Kirche und der SDP beteiligten.93 An der Tagung des Bezirkstages Karl - Marx - Stadt am 20. Dezember nahmen Vertreter neuer Parteien und Bürgervereinigungen teil. Das erste Mal tagte das Gremium in Fraktionen. Ratsvorsitzender Lothar Fichtner gab die politische Linie im Sinne Modrows vor. Er sprach von der „vom Volk der Deutschen Demokratischen Republik ausgegangenen und von ihm weitergetragenen revolutionären Umwälzung in unserem Land“, die das Ziel habe, „einen wahrhaft demokratischen Sozialismus zu schaffen“. Dabei gelte es, der „krisenhaften und teilweisen anarchischen Entwicklung“ Herr zu werden und Erscheinungen der Gewaltanwendung sowie des „Neonazismus und Antikommunismus“ sowie Forderungen nach Wiedervereinigung zurückzuweisen. Die Eigenstaatlichkeit der DDR dürfe nicht verspielt werden.94 In Leipzig beriet der Bezirkstag am 14. Dezember ein Aktionsprogramm. Die Abgeordneten beschlossen die Wahl eines Präsidenten des Bezirkstages. Erst im zweiten Wahlgang setzte sich Eva Firesch gegen Henning Buchheim durch.95 Amtierender Vorsitzender des Rates des Bezirkes Leipzig blieb Joachim Draber ( SED ), der am 21. Dezember zum neuen Ratsvorsitzenden gewählt wurde. Er löste Rolf Opitz ( SED ) ab, der am 15. Dezember wegen des Verdachts der Untreue im schweren Fall zum Nachteil sozialistischen Eigentums, verhaftet wurde.96 Die Fraktionen der CDU und der LDPD forderten am 14. Dezember, inaktive Abgeordnete und Nachfolgekandidaten abzuberufen und durch Vertreter neuer Parteien und Gruppierungen zu ersetzen. Bei einer Abstimmung wurde der Vorschlag mit 83 gegen 64 Stimmen bei vier Enthaltungen angenommen. Die SED befürchtete durch diese Demokratisierung des Bezirkstages eine „Kettenreaktion“ seitens der örtlichen Volksvertretungen, statt sie, wie in Halle,

92 Beschlussprotokoll der 16. Tagung des BT Dresden vom 14. 12. 1989 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46070). 93 BT Dresden vom 14. 12. 1989 : Beschluss 105–16/89 : Bildung des unabhängigen Ausschusses zur Untersuchung von Amts - und Machtmissbrauch ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46070, Bl. 91). 94 Protokoll der 16. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 20. 12. 1989 ( ebd., 127933). 95 15. Tagung des BT Leipzig vom 14. und 21. 12. 1989 : Protokoll über die Wahl des Präsidenten ( SächsStAL, 19046). 96 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 16./17. und 22. 12. 1989.

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zu begrüßen.97 Es gelang der SED jedoch in der Folgezeit, eine gleichberechtigte Einbeziehung oppositioneller Parteien und Gruppierungen zu verhindern.98 Der Bezirkstag beschloss die Bildung einer Kontroll - und Rechtskommission sowie einer Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption.99 Kreise und Kommunen : Im Laufe des Dezembers fanden überall Sitzungen der Kreistage und kommunalen Volksvertretungen statt, bei denen die Parteien erstmals in Fraktionen auftraten und Tagesleitungen wählten. Dazu musste aus den Geschäftsordnungen die führende Rolle der SED gestrichen werden. In vielen Fällen wurde Vertretern des Neuen Forums oder anderer neuer Kräfte ein Mitspracherecht ohne Stimmrecht eingeräumt. Ohnehin war ihre Mitarbeit in Kommissionen und Arbeitsgruppen gefragt, wirkten hier doch weiterhin fast nur Vertreter der Altparteien mit.100 Vereinzelt weigerten sich Gruppen wie das Neue Forum aber auch – z. B. in Zittau –, in staatlichen Gremien mitzuarbeiten.101 Überall wurden Kommissionen zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption gewählt. Vereinzelt stellten Blockparteien die Vertrauensfrage, den Räten wurde jedoch meist das Vertrauen ausgesprochen. Einzelne Funktionäre mussten allerdings überall ihren Hut nehmen. In einigen Kreistagen, wie etwa in Hohenstein - Ernstthal, profilierten sich bisherige Blockparteien, wie hier die CDU, schon unverkennbar. Nachdem das Referat des amtierenden Vorsitzenden des Kreistages nicht bestätigt worden war, forderte hier der CDU - Fraktionsvorsitzende, Albrecht Buttolo, eine Überarbeitung der Geschäftsordnung, öffentliche Kreistagssitzungen, Koalitionsgespräche zwischen Mandatsträgern und eine strikte Trennung von Staat und Parteien.102 Trotzdem auf den Straßen Forderungen nach der deutschen Einheit zu dominieren begannen, kam es in den Volksvertretungen Mitte Dezember noch immer einem Sakrileg gleich, wenn sich Abgeordnete, wie z. B. im Kreistag von Dippoldiswalde, für Wiedervereinigung aussprachen. Hier widersprachen die meisten Abgeordneten sogar noch dem Ausbau einer Gaststätte durch eine bundesdeutsche Firma, weil sie darin den „Beginn eines Verkaufs unseres Landes“ sahen.103 In Großenhain machte es sich der Rat des Kreises gar zur Aufgabe, die Eigenstaatlichkeit der DDR zu bewahren und „dem Ausverkauf entgegenzuwirken“.104 Eine Ausnahme stellte weiterhin die Stadt Dresden da, wo am 97 Vorsitzender des RdB Leipzig an Modrow, Maleuda und Gerlach, o. D. ( SächsStAL, 38212). 98 Vgl. Vorsitzender des RdB Leipzig an Modrow vom 4. 1. 1990 : Stellung der politischen Gruppen zu den Volksvertretungen ( ebd.). 99 BT Leipzig vom 14. und 21. 12. 1989 : Beschluss 64/ IX /89 vom 14. 12. 1989 ( ebd., 19046). 100 Politische Zusammensetzung der Ständigen Kommissionen der StVV Großenhain vom 21. 12. 1989 ( StV Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 101 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 5. 12. 1989. 102 Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 8. 12. 1989. 103 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 22. 12. 1989. 104 Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 3. 1. 1990.

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20. Dezember bereits die Bildung einer basisdemokratischen Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung auf dem Programm der Gruppe der 20 stand. Am 27. Dezember legte diese bereits deren personelle Sitzverteilung fest.105 Zum Eklat kam es in Marienberg, wo das Neue Forum am 5. Dezember die Diensträume des Rates des Kreises versiegelte, dessen geschlossenen Rücktritt forderte und mit Warnstreik drohte.106 Am 14. Dezember wurde Ratsvorsitzender Fritz Ullmann samt einigen Stellvertretern abberufen und Gunter Siegert zum amtierenden Ratsvorsitzenden gewählt. Gleichzeitig bestätigte der Kreistag eine Sitzungsteilnahme des Neuen Forums und der SDP mit Sprechergruppen und setzte einen Runden Tisch als zeitweilige Kommission des Kreistages ein.107 Auch in anderen Kreisen mussten Ratsvorsitzende des Kreises zurücktreten. Im Kreistag Altenburg wurde am 8. Dezember Gerhard Keppler ( SED ) zum neuen Ratsvorsitzenden gewählt. Von seinen zwölf Stellvertretern kamen gerade einmal je einer aus der CDU und LDPD.108 Der Kreistag Auerbach wählte am 14. Dezember einen neuen Rat. Vorsitzender wurde der bisher amtierende Vorsitzende, Hermann Heinke ( SED ). Auch hier waren die bisherigen Blockparteien bei den Stellvertreterpositionen völlig unterrepräsentiert.109 Der Kreistag Großenhain wählte am 21. Dezember Andreas Lang zum neuen Ratsvorsitzenden.110 Nicht nur bei der Wahl von SED - Funktionären zu neuen Ratsvorsitzenden wurden Zweifel an der Legitimität der Kreistage sowie kommunalen Volksvertretungen zurückgewiesen. Als z. B. das Neue Forum in Zittau den Kreistag als demokratisch nicht legitimiert bezeichnete, weil die Kommunalwahlen im Mai ungültig und annulliert seien,111 wurde dies ebenso zurückgewiesen wie etwa die Erklärung der LDPD - Fraktion im Werdauer Kreistag, die Arbeit der Abgeordneten könne bis zur Neuwahl nur als Provisorium betrachtet werden.112 Im Kreistag Görlitz - Land bezweifelte selbst die CDU - Fraktion die Legitimation des Kreistages und forderte schnellstmögliche Neuwahlen. Vor der Stadtverordnetenversammlung Görlitz wies der Oberbürgermeister Zweifel an der Legitimität der Stadtverordneten zurück.113 In den meisten Volksvertretungen sprachen die in der Tat von niemandem abgeordneten Delegierten den nie ge105 Vgl. Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 185 f. 106 Vgl. RdK Marienberg an Neues Forum vom 7. 12. 1989 ( StA Marienberg, PB Herr Köhler ); Mitschrift von der Dienstversammlung des Leiters des BAfNS Karl - Marx - Stadt Oberst Schaufuß vom 7. 12. 1989 im Arbeitsbuch von Major Bernd Clauß ( BStU, ASt. Chemnitz, M 89, Bl. 64). Zit. bei Horsch, Das kann, S. 49; Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 7. 12. 1989. 107 Vgl. ebd. vom 15. und 16. 12. 1989. 108 Vgl. Niederschrift der 4. Sitzung des KT Altenburg vom 14. 12. 1989 ( KA Altenburg, RdK, ABG KT 1804 und KT 1769); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 12. 12. 1989. 109 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 15. 12. 1989. 110 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 22. 12. 1989. 111 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 13. 12. 1989. 112 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 16. 12. 1989. 113 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 28. und 30./31. 12. 1989.

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wählten Räten mehrheitlich ihr Vertrauen aus.114 Argumenten des Bürgerforums Kamenz etwa, der Rat des Kreises sei demokratisch nicht legitimiert,115 wurde entgegengehalten, man bleibe nur bis zu Wahlen im Amt. Dies sei nötig, um das regionale und kommunale Leben sowie Funktionieren der staatlichen Verwaltung im Interesse der Bürger und der Wirtschaft aufrechtzuerhalten.116 Kein Zweifel bestand aber auch auf Seiten des Staates daran, dass die Vorwürfe den politischen Druck auf Staatsfunktionäre erhöhten und die Arbeit der Volksvertretungen samt Räten erschwerten.117 Auch die Kreistage bezeichneten sich nur noch als Übergangsgremien, deren Ziel es sei, das Alltagsleben ( medizinische und soziale Betreuung, Energiestabilität, allgemeine Versorgung u.s.w.) bis zu Neuwahlen aufrechtzuerhalten.118 Während solche Begründungen durchaus breite Akzeptanz fanden, gab es immer wieder auch Kritik am Beharrungsvermögen der SED und dem von ihr weiterhin dominierten Staatsapparat. Das Neue Forum Radebeul etwa erklärte, die „abgehalfterte Staatspartei“ betreibe die Abrechnung mit der Vergangenheit mangelhaft. Die örtlichen Kräfte der Verwaltungshierarchie würden weiter so wirtschaften, als sei nichts passiert. So würden neue politische Kräfte von Untersuchungskommissionen und vom Runden Tisch ausgegrenzt. Die etablierten Parteien würden über Papier und Druckgenehmigungen verfügen, die neuen Kräfte nicht. Tatsache sei, dass der alte Machtapparat mit seinen Strukturen nach wie vor bestehe. Mit allen Mitteln werde die Erteilung von Druckgenehmigungen, Möglichkeiten zur freien Darstellung in den Medien und in der Presse verzögert und sogar verhindert. Noch immer verweigere die Abteilung Inneres des Rates des Kreises Dresden - Land dem Neuen Forum Radebeul eine Druckgenehmigung.119 Aktivitäten von Ex - Blockparteien und Räten der Bezirke zur Länderbildung Angesichts der allgemeinen Staatskrise wurde der Ruf nach Rückkehr zur Länderstruktur immer lauter. Hierbei geriet Modrow nicht nur seitens der Räte der Bezirke unter Druck, sondern von den Partnern seiner „Koalitionsregierung“. Angesichts der allgemeinen Forderungen nach Wiedervereinigung und Föderalisierung auf den Demonstrationen, versuchten sich als erste NDPD und CDU entsprechend zu profilieren. Bereits in der Aussprache zur Regierungserklärung Modrows hatten beide der Volkskammer den Vorschlag gemacht, über die Wiedergründung von Ländern nachzudenken. Am 9. Dezember sprach sich NDPD114 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 14. 12. 1989. 115 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10. 12. 1989. 116 Vgl. Arbeitsprogramm des RdK Borna vom 14. 12. 1989 ( KA Leipziger Land, RdK Borna ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 22. 12. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 15. 12. 1989. 117 Vgl. Lothar Fichtner an Hans Modrow vom 1. 12. 1989 ( SächsStAC, 126416). 118 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 3. 1. 1990. 119 Vgl. Loessnitz - Rundschau. Informationsdienst Neues Forum Radebeul, Nr. 1 Ausgabe Weihnachten 1989 ( HAIT, Iltgen 2).

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Chef Hartmann für die Schaffung von Ländern, „Freien Städten“ sowie einer Länderkammer aus.120 Ziel war zu diesem Zeitpunkt eine Länderstruktur auf der Grundlage eines „demokratischen, zutiefst menschlichen Sozialismus“.121 Am 18. Dezember konstituierte sich unter Leitung der NDPD - Bezirksvorsitzenden von Karl - Marx - Stadt, Dresden und Leipzig, Karl Blau, Christian Schmidt und Siegfried Krause, ein Initiativausschuss zur Gründung des Landes Sachsen, dessen erklärte Ziele die Bildung einer Länderkammer, Veränderungen der administrativen Strukturen, ein Volksentscheid über die Bildung Sachsens mit Landtag in Dresden, die Rückbenennung von Karl - Marx - Stadt in Chemnitz und die Bildung von Regierungsbezirken waren.122 Im NDPD - Wahlprogramm vom 1. Januar votierte die Partei für einen Bund zweier unabhängiger Staaten deutscher Nation mit unterschiedlichen sozialen Ordnungen, die Wiederherstellung der Länder sowie die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden.123 Immer wieder fand die Problematik auch im NDPD - Zentralorgan „National Zeitung“ ihren Niederschlag.124 Am 24. November hatte erstmals auch das CDU - Blatt „Neue Zeit“ angeregt, „im Interesse der Rationalisierung auf allen Gebieten wie auch zur Ausprägung des Heimatbewusstseins“ sowie unter dem Aspekt einer Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik über die Wiedereinführung der Länder nachzudenken.125 In ihren „Grundsätzen für das Programm der CDU“ von Mitte Dezember hieß es, die CDU trete ein „für Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, die unter Auf lösung der Bezirke die bis 1952 vorhandenen Länder wiederherstellt“.126 Neben einer Länderkammer wurden territoriale Strukturen gefordert, die Heimatbewusstsein und demokratische Selbstständigkeit gegenüber zentralen Organen fördern würden.127 Auch die LDPD in Leipzig verteilte bereits am 24. November Flugblätter, auf denen sie sich für die Wiederherstellung der Länder einsetzte.128 Die LDPD auf DDR - Ebene favorisierte die Länderbildung seit Dezember.129 Am 18. Januar setzte sich der LDPD - Kreisvorstand Dresden dafür ein, dass das Land Sachsen als selbstständiges Verwaltungsgebiet wieder hergestellt und Dresden Landeshauptstadt wird.130 Länger brauchte die DBD, die sich 120 Inter view mit Günter Hartmann. In : Brandenburgische Neueste Nachrichten vom 9./10. 12. 1990. Vgl. National Zeitung vom 14. 12. 1989. 121 Was die NDPD will [ Flugschrift ] ( HAIT, Plakate und Flugschriften der friedlichen Revolution ). 122 NDPD - Bezirksverband an Rechtsausschuss der Volkskammer vom 18. 12. 1989 ( BArch Berlin, DO 5, 142). Vgl. Länderreform, Notiz von Erich Iltgen, o. D. ( HAIT, Iltgen, 1); Sächsische Neueste Nachrichten vom 19. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 21. 12. 1989. 123 Vgl. Fischbach, DDR - Almanach, S. 317. 124 Vgl. National Zeitung vom 18. 1. 1990. 125 Neue Zeit vom 24. 11. 1989. Vgl. Thüringer Tageblatt vom 28. 11. 1989. 126 Grundsätze für das Programm der CDU. Vgl. Neue Zeit vom 16./17. 12. 1989. 127 Erneuerung und Zukunft. Positionen vom CDU - Sonderparteitag am 15. und 16. 12. 1989 in Berlin ( ACDP, VII - 011–3911). 128 Vgl. Interview mit Johannes Richter. Abgedruckt in Rein, Die Opposition, S. 185. 129 Vgl. Der Morgen, Sonderausgabe vom 12. 12. 1989. 130 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 18. 1. 1990.

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auf einem außerordentlichen Parteitag am 27./28. Januar für die Schaffung der deutschen Einheit und die Wiederherstellung der Länder aussprach.131 Neben den Blockparteien trieben auch einige Räte der Bezirke, insbesondere der in Dresden, das Projekt der Länderbildung voran. In Dresden beauftragte der Bezirkstag den Rat des Bezirkes, ein eigenes Konzept für die demokratische Erneuerung auszuarbeiten.132 Noch im Dezember legte der Rat Grundsätze zur Verwaltungsreform vor, die „von unten nach oben in einem einheitlichen Rahmen, z. B. Gemeinde / Stadt – Kreis – Bezirke / Länder – Republik“ durchgeführt werden und historisch gewachsene Strukturen und die Identifikation der Bürger mit dem Territorium beachten sollte. Erstmals wurden die Bezirke als „Übergangsform zur Bildung einer Landesregierung mit wesentlich vereinfachter Struktur und reduziertem Mitarbeiterbestand“ bezeichnet.133 Die Vorschläge gingen, wie alle entsprechenden Aktivitäten von Räten der Bezirke, grundsätzlich von der Kontinuität der Verwaltung und des Mitarbeiterstammes aus. Auf Grundlage der neuen Orientierung des Rates wurden noch im Dezember in einzelnen Vorschlägen der Abteilungen Überlegungen hinsichtlich einer Länderstruktur bzw. Landesgesetzgebung angestellt.134 In Leipzig verharrten zu diesem Zeitpunkt Arbeitsaufträge des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Joachim Draber, an die Ratsmitglieder „zur Vorbereitung und Durchführung der Verwaltungsreform im Verantwortungsbereich des Rates des Bezirkes“ noch „in den Planungs - , Kontroll - und Berechnungsmodellen der staatlichen und wirtschaftsleitenden Ver waltungsstrukturen“.135 Damit übernahm der Rat des Bezirkes Dresden hinsichtlich der Länderbildung DDR - weit eine Vorreiterrolle. Treibende Kraft war hier der Stellvertreter des Vorsitzenden für Kultur, Klaus Schumann, später Leiter der Arbeitsgruppe des Rates für Länderbildung. Die Staatsfunktionäre im Rat des Bezirkes hatten den Trend zur Länderbildung erkannt und „sahen darin eine Chance, ihre Macht, die ja in Berlin zunehmend zu bröckeln begann, auf dieser Ebene zu festigen und zu sichern“.136 Das bestätigte im Nachhinein Heidrun Lotze, damals Mitarbeiterin beim Rat des Bezirkes. Sie habe im Dezember „miterleben können, wie der Rat des Bezirkes die Straße beobachtet und darauf reagiert hat und sich mit inneren eigenen Maßnahmen des Aufgreifens der Idee ‚Land Sachsen, Verwaltungsreform‘ bereits im Dezember begonnen hat zu beschäftigen“. Der Rat des Bezirkes begann, „mit 131 Vgl. Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990. 132 Beschlussprotokoll der 16. Tagung des BT Dresden vom 14. 12. 1989 ( SächsHStA, BT/ RdB, 46070). 133 RdB Dresden : Arbeitsgrundlage für die Vorbereitung von Maßnahmen zur Verwaltungsreform im Bezirk Dresden, o. D. ( SächsHStA, BT / RdB, 46150). 134 Vgl. RdB Dresden, Abteilung Wismutangelegenheiten / Sektor Bergbau vom 20. 12. 1989: Gegenwärtig dringende Aufgaben der Staatsorgane auf dem Gebiet des Bergbaus ( HAIT, KA, 55). 135 Beschlüsse des BT Leipzig vom 21. 12. 1989 : Abberufung von Rolf Opitz und Wahl von Joachim Draber als Vorsitzenden des Rates des Bezirkes. Zitiert bei Welzel, Verwaltung und Management, S. 148. 136 Steffen Heitmann. In : Reden zum 4. Jahrestag der Gründung des Koordinierungsausschusses, S. 23.

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einem eigenen Arbeitsstab Ver waltungsstrukturen für die Zukunft zu entwickeln, wo jeder sein Pöstchen suchte“ und „sich einbaute“.137 Nachdem die SED- Herrschaft wankte, tat sich hier bereits das Feld der Auseinandersetzungen um das Erbe der kommunistischen Diktatur auf. Der Kampf um die personelle Dominanz in den kommenden Ver waltungen bestimmte in der Zeit bis zum Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 den revolutionären Umgestaltungsprozess.138 Umwandlung des AfNS in Verfassungsschutz und Nachrichtendienst (13. /14.12.) Zentraler Bestandteil seines mit der Moskauer Führung abgestimmten Ziels, die Staatlichkeit einer reform - sozialistischen DDR zu erhalten, war der Beschluss von Modrows Regierung vom 14. Dezember, aus dem Apparat des MfS bis zum 20. Juni 1990 einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst hervorgehen zu lassen. Mit Wirkung vom 14. Dezember wurde das AfNS samt Bezirksämtern aufgelöst. Der Prozess sollte bis Juni 1990 abgeschlossen sein.139 Damit entsprach Modrow zwar formal der Forderung des Zentralen Runden Tisches nach einer Auf lösung des AfNS, konterkarierte diese aber zugleich mit dem Beschluss zur Bildung neuer Geheimdienste. Über Jahrzehnte hatte der Staatssicherheitsapparat vor allem die Funktion gehabt, die totalitäre Diktatur vor freiheitlich - demokratischen Anfeindungen zu schützen. Es sagt viel über Modrows Zukunftserwartungen aus, dass er mit diesem Apparat und seinen im Klassenkampf erprobten „Tschekisten“ nun den neuen humanistischeren und demokratischen Sozialismus schützen wollte. Der Beschluss fiel ohne vorherige Konsultation mit dem Zentralen Runden Tisch. Mit der Bildung und Leitung des Nachrichtendienstes wurden der bisherige Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS, Generaloberst Werner Großmann, mit der Leitung des Verfassungsschutzes der bisherige 1. Stellvertreter von Schwanitz, Generalmajor Heinz Engelhardt, beauftragt.140 Die Benennung der beiden langjährigen MfS Generäle machte die personelle Kontinuität vom MfS deutlich, auch wenn Großmann durchaus zu den Reformkräften in der SED gezählt werden konnte. Der Nachrichtendienst sollte insgesamt etwa 4 000, der Verfassungsschutz 10 000 Mitarbeiter umfassen.141 Zum Verfassungsschutz sollte eine Diensteinheit für Terrorabwehr gehören, die sich mit Rechts - nicht aber mit Linksterro137 138 139 140 141

Heidrun Lotze beim HAIT - Workshop vom 15. 6. 2002. Vgl. dazu ausführlich Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Vgl. BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 257. Vgl. Leiter des AfNS an Diensteinheiten vom 14. 12. 1989 ( BStU, ZA, 103659). Beschluss des Ministerrates der DDR 6/18.a /89 vom 14. 12. 1989 über die Bildung des Nachrichtendienstes der DDR und des Verfassungsschutzes der DDR ( BArch Berlin, C 20, I /3–2881, Bl. 118–126). Vgl. Fricke, Zur Abschaffung, S. 59–62; Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 203.

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rismus zu befassen hatte.142 Das Konzept für die Bildung der Dienste basierte auf einer Beschlussvorlage des AfNS, auch die Besetzung der Personalstellen erfolgte mit Zustimmung der Leitung des AfNS.143 Damit lag die Umwandlung in neue Dienste vollständig in der Hand alter Kader.144 Sie entschieden über den Personen - und Datenschutz, entließen Mitarbeiter und manipulierten bzw. vernichteten Akten.145 Wichtigste Aufgabe des neuen Verfassungsschutzes war die Bekämpfung verfassungsfeindlicher Handlungen.146 Alte MfS - Kader sollten eine Verfassung schützen, nach der eine modifizierte sozialistische Gesellschaft Grundlage politischen Handelns gewesen wäre. Das warf die Frage auf, warum die Übergangsregierung Modrow einen Verfassungsschutz installierte, mit dem politische Vorentscheidungen zugunsten des Erhalts einer reformsozialistischen DDR gesichert werden sollten, obwohl ein wachsender Teil der Bevölkerung die deutsche Einheit forderte. Nichts schien aus der Sicht der Bevölkerung überflüssiger als ein Organ, das die Verfassung in ihrer gegenwärtigen Form schützte. Die Bildung eines Verfassungsschutzes richtete sich somit direkt gegen den demokratischen Entscheidungswillen der Bevölkerung. Seine Hauptaufgabe war der Ausschluss nichtsozialistischer Kräfte vom kommenden politischen Entscheidungsprozess, egal ob es sich um Demokraten oder um Rechtsradikale handelte. In diesem Punkt erkannte Modrow aus jahrzehntelanger Erfahrung als SED Funktionär klarer als die neuen sozialistischen Reformkräfte, dass ein dem Erhalt des sozialistischen Systems verpflichtetes semidemokratisches Regime zur Unterdrückung und Kontrolle nichtsozialistischer Kräfte auf einen starken Repressionsapparat angewiesen blieb. Wie sonst hätten Sozialdemokraten, Konservative, Liberale und andere Gegner einer sozialistischen Prädefinition von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft daran gehindert werden können, das sozialistische System in ihrem Sinne mit den Mitteln der Demokratie auszuhebeln ? Zwar gab es auch unter den Wortführern neuer Gruppierungen Stimmen für eine Weiterarbeit des MfS als Verfassungsschutz,147 mehrheitlich aber wurde der Vorstoß Modrows an den Runden Tischen und von der Bevölkerung als Provokation empfunden und als Versuch zur Restauration der SED - Macht gewertet.148 Hier gab es eher Bestrebungen, die Inoffiziellen Mitarbeiter zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen.149 Angesichts der noch andauernden Auf142 Vgl. AfNS, Leiter der HA XXII vom 13. 12. 1989 : Vorschlag zur Strukturierung einer Operativen Diensteinheit Terrorabwehr ( BStU, ZA, XXII 5619, Bl. 117 f.). 143 Vgl. Briefe von Schwanitz an Möbis vom 12. und 13. 12. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3– 2881, Bl. 162 und 164). 144 Vgl. Hans Schwenke, Mielkes Befehl 6/86 und die Überlebensordnung des MfS. In : Neues Deutschland vom 9./10. 6. 1990. 145 Vgl. Komitee zur Auf lösung der Staatssicherheit, o. D. ( ABL, DZ 15. Januar, Beschlüsse, Runder Tisch, Ministerrat, Komitee ). 146 Beschluss über die Verantwortung und Aufgaben des Verfassungsschutzes der DDR, Entwurf, o. D. ( BStU, ZA, RS 18, Bl. 9). 147 Vgl. AfNS, Lagezentrum : Bericht über die Lage im Zusammenhang mit der Auf lösung der KÄfNS und BÄfNS vom 22. 12. 1989 ( ebd., ZKG 127, Bl. 92). 148 Vgl. Falkner, Von der SED zur PDS, S. 44. 149 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 14. 12. 1989.

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deckung zahlreicher Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption stießen auch die Verordnungen der Regierung zur privilegierten sozialen Sicherstellung entlassener Mitarbeiter des MfS / AfNS auf entschiedenen Widerspruch.150 Ärger löste auch die Einsetzung einer Arbeitsgruppe mit der Aufgabe aus, ausscheidenden Mitarbeitern des Staatsdienstes – dabei handelte es sich in erster Linie um Mitarbeiter des MfS / AfNS – neue Arbeitsplätze, vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Versorgung, zu verschaffen.151 Mit den Regelungen wollte Modrow nach eigenem Bekunden verhindern, „dass ein Protestpotenzial in komplizierter Zeit entsteht“.152 Modrows Ziel war es, das riesige Potenzial entlassener MfS - Mitarbeiter in die neu entstehenden Strukturen einzubinden,153 und zwar auch deswegen, weil er darin politisch Gleichgesinnte sah, die es zu schützen und für zukünftige Zwecke zu erhalten galt. In der Tat trug seine Politik, die der Staatssicherheit berechtigte Hoffnungen auf die Wahrung ihrer Struktur und Besitzstände machte, zunächst dazu bei, deren Gewaltpotenzial zu bändigen. Am 15. Dezember begann die Umwandlung der Bezirksämter in Außenstellen des Verfassungsschutzes.154 Am 19. Dezember wurde Peter Koch zum Regierungsbeauftragten für die personelle und materielle Auf lösung des AfNS ernannt und ein Arbeitsstab gebildet.155 Rechts - und Geheimdienstexperten aus allen Bezirken berieten, wie die Dienste in Kooperation mit dem KGB möglichst bald arbeitsfähig werden würden.156 Am 18. Dezember konkretisierten die Leiter der Diensteinheiten des Verfassungsschutzes dessen Aufgaben. Schwanitz informierte über die Absicht Modrows, „schnell Ordnung“ zu schaffen und über dessen Zusage, die Arbeit des Amtes fortzusetzen. Wichtigste Aufgabe sei die „Verhinderung chaotischer Verhältnisse“.157 Diese für Modrow typische Begriff lichkeit veranschaulicht sein Verständnis vom revolutionären Umbruch als einer Gefahr für das Regime.

150 Beschluss des Ministerrates der DDR 6/18.c /89 vom 14. 12. 1989 über Festlegungen zur sozialen Sicherstellung von Angehörigen des AfNS ( BArch Berlin, C 20, I /3–2881, Bl. 149–153, 160 f.). Vgl. National Zeitung vom 10. 1. 1990; Freie Presse vom 25. 4. 1990. 151 Beschluss des Ministerrates der DDR 6/ I.7/89 vom 14. 12. 1989 über die Festlegungen zum Beschluss des Ministerrates vom 30. 11. 1989 über die Bildung einer AG zur Arbeitsplatzvermittlung von Mitarbeitern, die aus dem Staatsdienst ausscheiden ( BArch Berlin, C 20, I /3–2882, Bl. 76 f.). 152 Neues Deutschland vom 12. 1. 1990. 153 So Modrow gegenüber Momper. Vgl. Momper, Grenzfall, S. 261. 154 Vgl. Regierung der DDR, Verfassungsschutz, vom 15. 12. 1989, gez. Engelhardt, amt. Leiter ( MDA, AfNS Konzeption Unterlagen ). 155 Beschluss des Ministerrates der DDR 7/ I.6/89 vom 19. 12. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2885, Bl. 123 f.). Vgl. Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 179. 156 Vgl. AfNS : Für die Sicherheit unseres Landes ( Entwurf ), o. D. ( BStU, ZA, ZKG 128, Bl. 221); Das Volk vom 21. 12. 1989. 157 Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( ebd., HA VIII, AKG 1616, Bl. 40 f. ).

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In der Weihnachtszeit ging die Auf lösung der Kreisämter weiter. Die Objekte wurden meist einer zivilen Nutzung zugeführt.158 Trotz der überall gleichen Struktur und Arbeitsweise des MfS / AfNS war die Situation bei der Auf lösung uneinheitlich. Sowohl Umfang und Art der Kontrollen durch die Bürgerkomitees als auch deren Zusammensetzung und Motivation wie auch das Verhalten der Mitarbeiter unterschieden sich. Bei der Vorgehensweise der Bürgerkomitees reichte das Spektrum von „massiven Forderungen und Behinderungen der eingeleiteten Maßnahmen bis zu oberflächlichen bzw. teilweise ausbleibenden Kontrollhandlungen“.159 Da die Mitglieder der Bürgerkomitees nicht wussten, wie das MfS funktionierte und wie eine kommunistische Geheimpolizei aufzulösen sei, wurde dies meist dilatorisch und dilettantisch betrieben.160 So übergab man Waffen und andere Grundmittel ohne lückenlosen Nachweis und Inventarlisten an die Volkspolizei, so dass angesichts der engen Verbindung beider Apparate der Entnahme von Waffen und anderem Inventar Tür und Tor geöffnet war. Schwierigkeiten hatten die Bürgerkomitees auch bei der Aufdeckung von Verbindungen zwischen dem MfS und der Volkspolizei sowie mit der Zugehörigkeit von MdI - Objekten zum MfS. Hier erhielten die Bürgerkomitees auch von Seiten der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei falsche Informationen.161 Joachim Gauck bestätigte später aus genauer Kenntnis der Akten, dass die Volkspolizei die Arbeit der Bürgerkomitees in vielfacher Weise behinderte. So wurden u. a. Anzeigen gegen Firmen der Staatssicherheit von Volkspolizei Mitarbeitern niedergeschlagen, die später als OibE enttarnt wurden.162 Zusätzlich behindert wurde die Arbeit auch durch die oft wechselnde Zusammensetzung zahlreicher Bürgerkomitees. Lage bei Volkspolizei und NVA Volkspolizei : Mitte Dezember konstatierte man seitens des Staates, dass sich die Sicherheitspartnerschaft zwischen Volkspolizei und Bürgerbewegungen bei der Auflösung der Kreisämter und der Einstellung der Tätigkeit der Bezirksämter meist bewährt habe.163 Noch immer bildeten sich Kooperationsformen, wie z. B. 158 Vgl. Verfassungsschutz der DDR, Lagezentrum, o. D. ( ebd., ZGK 127, Bl. 18); Beschluss des RdK Döbeln vom 22. 12. 1989 ( Landratsamt Döbeln, KA, Bestand VA, 19995); Neues Forum an KT Marienberg und die Volkskammer der DDR vom 21. 12. 1989 : Vernichtung Waffen und Munition der Stasi ( StA Marienberg, PB Straube und Köhler); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 28. 12. 1989. 159 AfNS, Lagezentrum vom 11.–12. 12. 1989 : Auf lösung der Kreisämter AfNS ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 300). 160 Vgl. Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 71. 161 Vgl. Abschlussbericht des Regierungsbeauftragten zur Auf lösung des BAfNS und der KÄfNS im Bezirk Magdeburg vom 15. 3. 1990 ( HDZBK SA, Hefter Auf lösung ). 162 Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst II, S. 26 und III, S. 89. Neue Zeit vom 28. 9. 1990. 163 Vgl. Protokoll der 16. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 20. 12. 1989 ( SächsStAC, 127933).

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in Karl - Marx - Stadt ein Sicherheitsaktiv.164 Zur Entspannung trug auch bei, wenn Volkspolizei - Mitarbeiter erklärten, künftig gebe es keine SED - Führungsrolle bei der Volkspolizei mehr und wenn sie SED - Grundorganisationen in den eigenen Reihen auflösten.165 Andererseits sorgten neue Enthüllungen über gewaltsame Übergriffe gegen demonstrierende Bürger um den 40. Jahrestag – wie z. B. am Runden Tisch für Sicherheitsfragen in Hainichen166 – für neue Aversionen gegen die Volkspolizei. Obwohl damals verurteilte Bürger meist amnestiert wurden,167 heizten immer neue Berichte von Untersuchungsausschüssen zu Übergriffen von Volkspolizei und MfS gegen protestierende Bürger Anfang Oktober die Stimmung an.168 Von einem großen Teil der Bevölkerung wurde die Arbeit der Volkspolizei trotz Sicherheitspartnerschaft Mitte Dezember offen in Frage gestellt.169 NVA : Ähnlich wie bei der Volkspolizei gab es Anfang Dezember auch von verschiedenen NVA - Einheiten Erklärungen zugunsten einer Militärreform, zur Bereitschaft einer „Neubestimmung des Platzes der Streitkräfte in der demokratisch erneuerten Gesellschaft“170 und für einen Wandel zur „Armee des Volkes“.171 Dem standen freilich Versuche systemtreuer Kräfte im Offizierskorps der NVA entgegen, die Reste des alten Regimes zu stabilisieren.172 Seit dem Einsatz der NVA gegen die Bevölkerung Anfang Oktober gab es aber erhebliche Ressentiments. Daran änderten auch Erklärungen wie die der Angehörigen der Offiziershochschule „Franz Mehring“ nicht viel, von der ehemaligen Partei - und Staatsführung „schamlos betrogen und missbraucht worden“ zu sein. Hier zeigten sich die in der Regel ideologietreuen Offiziersschüler plötzlich „entsetzt, dass im Oktober die Absicht bestand, die NVA auf Grundlage einer falschen und willkürlichen politischen Orientierung gegen das eigene Volk einzusetzen“.173 Hätte sich der politische Wind nicht gedreht, wären sie möglicherweise die Ersten gewesen, die eine chinesische Lösung begrüßt hätten. So gab es, z. B. 164 Vgl. Leiter des VPKA Karl - Marx - Stadt an Kontaktbüro Bürgerinitiativen vom 21. 12. 1989. In : Reum / Geißler, Auferstanden, S. 128. 165 Vgl. SED - KL Großenhain vom 14. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 166 Vgl. Christoph Körner, Erinnerungen an die Zeit der Runden Tische im Kreis Hainichen und in der DDR ( PB Christoph Körner ). 167 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 22. 12. 1989. 168 Vgl. Protokoll der 16. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 20. 12. 1989 ( SächsStAC, 127933); Bericht der Unabhängigen Untersuchungskommission zu Vorfällen am 4./5. 10. 1989 ( Landratsamt Reichenbach, Wir sind das Volk. Dokumentation über die Herbsttage 1989 in Reichenbach und Umgebung, S. 37); Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 21. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgaben Dippoldiswalde, vom 9./10., 13. und 16./17. 12. 1989. 169 Vgl. Ministerrat der DDR, Informationszentrum vom 15. 12. 1989 : Lage ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 184). 170 Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 6. 12. 1989. 171 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 8. 12. 1989. Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 33). 172 So auch Weber, Gläubigkeit, S. 61. 173 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 8. 12. 1989.

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im Raum Dresden, Übergriffe auf Objekte der NVA, die die DDR - Regierung veranlassten, zu Ruhe und Besonnenheit aufzurufen. Handlungen gegen Einrichtungen der NVA sollten unterlassen werden, da diese einzig und allein der Verteidigung der DDR diene.174 Trotzdem kam es immer wieder zu Konflikten wie etwa einer Schlägerei zwischen der Bevölkerung und Offizierschülern in Beeskow.175 Häufiger als gewaltsame Auseinandersetzungen waren friedliche Proteste gegen NVA - Objekte und deren Kontrolle durch Bürgerkomitees. In Eula ( Borna ) z. B. kontrollierte das Neue Forum einen NVA - Bunker.176 In Lengenfeld ( Reichenbach ) wurde bei einer Bürgerversammlung die Öffnung eines NVA - Objektes in den ehemaligen Produktionshallen einer Baumwollspinnerei gefordert.177 Im Kreis Kamenz wollten sich Bürger über eine NVA - Baustelle informieren.178 In Ostritz ( Görlitz ) besichtigten Bürger eine NVA - Dienststelle, nachdem das Gerücht kursierte, das sich dort Staatsreserven befänden.179 In Lampertswalde ( Großenhain ) protestierte die CDU - Ortsgruppe gegen den Bau eines geheimen militärischen Objektes im Raschützwald. Sie forderte dessen zivile Nutzung und sammelte über 3 300 Unterschriften. Hier sollte nach dem Willen der SED - Führung ein Fliegerabwehrraketenstützpunkt entstehen. Nach einer Demonstration von ca. 2 000 Menschen am 16. Dezember ließ die Regierung erklären, das Objekt werde künftig zivil genutzt.180 In Weixdorf / Hermsdorf ( Dippoldiswalde ) rief das Neue Forum zu einer Besichtigung der „Grauen Post“ in Ottendorf - Okrilla auf, einem Objekt der Deutschen Post, das von der NVA genutzt wurde.181 In Litten ( Bautzen ) gab es am 17. Dezember Proteste gegen den Bau eines Flugplatzes der NVA.182 Bei den Protesten ging es oft um den Unwillen, militärische Objekte in der Nähe des eigenen Lebensraumes zu haben, es kamen aber auch unterdrückte pazifistische Positionen zum Ausdruck. Schon vor der Wende hatte es wie in Werdau von der Kirche organisierte Spielzeugumtauschaktionen für Kinder gegeben, bei denen Kriegsspielzeug gegen anderes Spielzeug eingetauscht werden konnte.183 Ab Dezember kam es auch immer häufiger zum zivilen Einsatz von Soldaten.184 Angesichts der zunehmenden öffentlichen Angriffe auf die NVA und die Grenztruppen war der poli174 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 8. 12. 1989. 175 Vgl. RdB Frankfurt / Oder : Aktenvermerk über die Dienstbesprechung mit dem OB und Vorsitzenden des RdK am 12. 1. 1990 ( Brandenburg. LHA, Rep. 601, Nr. 49816). 176 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 4. 1. 1990. 177 Vgl. Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfelde, S. 8 f. ( HAIT, StKa ). 178 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 12. 12. 1989. 179 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21. 12. 1989. 180 Vgl. Protestresolution der CDU - OG Lampertswalde vom 7. 12. 1989 ( PB Suse Mittelstädt ); Kein Geschütz in den Raschütz ! ( ebd.); Unterschriften und Protestdemonstration gegen Waffen vom 16. 12. 1989 ( ebd.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 5., 8., 9./10., 18. und 19. 12. 1989. 181 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 12. 12. 1989. 182 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 39 f.); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 12, 19. und 22. 12. 1989. 183 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 22. 12. 1989. 184 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 6. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 30./31. 12. 1989.

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tisch - moralische Zustand der Führungsorgane Mitte Dezember destabil. Die Atmosphäre war durch Demoralisierung, Perspektivlosigkeit und bei den Berufssoldaten durch Existenzangst gekennzeichnet. An der Offiziershochschule „Ernst Thälmann“ gab es bis zum 13. Dezember 665 Entpflichtungsgesuche. Soldaten des 2. und 3. Diensthalbjahres zeigten offenes Desinteresse am Dienst. Überall gab es Tendenzen zur Bildung von Interessengemeinschaften. In der 8. Motschützendivision existierten Mitte Dezember bereits in fast jedem Truppenteil Soldatenräte.185 Eher systemtreue Soldaten schlossen sich dem „Verband der Berufssoldaten der DDR“ an, dessen Gründung am 6. Dezember beantragt wurde. Er trat ein „für eine sozialistische DDR, für die Sicherheit aller Bürger, für Abrüstung und Frieden“, solidarisierte sich mit dem AfNS und stand auch dessen Mitarbeitern offen. Die Gründung wurde für den 20. Januar 1990 geplant.186 In Folge entstanden in einzelnen Kasernen Basisgruppen des Verbandes.187 Die NVA - Führung reagierte auf die Entwicklung mit Reformen. Am 7. Dezember befahl der Minister für Nationale Verteidigung die Bildung einer „Kommission Militärreform der DDR“.188 Gleichzeitig wurde ein Ausschuss zur Untersuchung der Fälle von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen gebildet.189 Die Mitsprache der Parteien und Organisationen sollte durch einen Konsultativrat beim Minister für Nationale Verteidigung erreicht werden.190 Als solcher konstituierte sich am 18. Dezember ein „Runder Tisch Militärreform“.191 Es entstand als ständige Einrichtung mit einem eigenen Sekretariat ein Runder Tisch „als beratendes und beschließendes Gremium zu Fragen der Militärpolitik und Militärreform“. Er arbeitete bis zum 20. März 1990.192 Hier sprach die Militärführung weiter von der Angriffsbereitschaft der NATO und begründete damit die Notwendigkeit einer eigenen Armee der DDR.193 Am 21. Dezember beschloss der Ministerrat 185 Lage in der NVA, Stand vom 13. 12. 1989 ( BArch Berlin, VA - 01/37612, Bl. 23 f.). 186 Initiative zur Bildung des Verbandes der Berufssoldaten der DDR, o. D. ( BStU, ZA, XXII 5619, Bl. 84). 187 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 14. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 15. 12. 1989. 188 MFNV vom 7. 12. 1989 : Befehl 135/89 über die Bildung und Arbeit der „Kommission Militärreform der DDR“ ( BArch Berlin, VA - 1/37612, Bl. 1–4). 189 Vgl. Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses Amtsmissbrauch, Korruption und persönliche Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen vom 15. 3. 1990 ( ebd. 1/37602, Bl. 101–115). 190 Vgl. Hoffmann, Zur nicht - vollendeten Militärreform, S. 111. 191 Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 22. 192 Inhalte und Ergebnisse der Beratungen des Runden Tisches beim Minister für Nationale Verteidigung. Vgl. Beratung des Runden Tisches beim Minister für Nationale Verteidigung vom 18. 12. 1989/ Theodor Hoffmann an die Vorsitzenden der Parteien / gesellschaftlichen Organisationen vom 12. 12. 1989 ( BArch Berlin, VA - 1/37601, Bl. 2–7 und 11–59). 193 Einleitende Ausführungen des Ministers für Nationale Verteidigung zur Diskussion mit Vertretern von Parteien, Organisationen und Bewegungen der DDR über Fragen unserer Militärdoktrin in Berlin - Grünau ( MPHS ) am 18. 12. 1989 ( Entwurf ) ( ebd., Bl. 18).

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die Einsetzung einer Regierungskommission „Militärreform der DDR“ und die Einrichtung einer „Militärabwehr“194 als Nachfolgeeinrichtung des AfNS. Der Ministerrat und das Ministerium für Nationale Verteidigung verfolgten mit der Diskussion einer Militärreform vor allem das Ziel, Besitzstandswahrung und Minimalanpassung mit den sich verändernden politischen Bedingungen in Einklang zu bringen. Die Haltung Modrows war in dieser Frage ähnlich lavierend wie bei der Umwandlung des MfS / AfNS. Aus Sicht Hoffmanns bestand das Ziel der Militärreform in der Umwandlung der NVA aus einer Parteiarmee der SED zur demokratischen Armee. Dazu wurden folgende Grundsätze genannt : Unterstellung unter die Volkskammer, gleichberechtigter Zugang aller Parteien und Organisationen zur politischen Betätigung in der NVA und Anerkennung des mündigen Staatsbürgers in Uniform als Grundprinzip für Demokratie und Leben in der Armee.195 Als Teil der Reform wurden die SED - Parteiorganisationen in der NVA aufgelöst und die Abschaffung der Politischen Hauptverwaltung im Ministerium für Nationale Verteidigung und der Politorgane auf allen Ebenen bis zum 15. Februar 1990 beschlossen.196 Im Dezember erschien erstmals die neue Zeitung „Militärreform der DDR“. Damit schuf sich Minister Hoffmann ein Führungsinstrument, mit dem er die Strausberger Bürokratie und die Zwischeninstanzen überspielen wollte. Das Blatt wurde in der ganzen NVA gelesen und von einzelnen Kommandeuren verboten und konfisziert.197 Nun zeigte sich, dass sich im Prozess der Umsetzung der Militärreform in der NVA Vertreter der Reform und ihre Gegner gegenüber standen.198 Wie beim MfS stellt sich daher die Frage, warum sich die NVA nicht gegen die Entwicklung wehrte. Der Hauptgrund dürfte wohl darin liegen, dass die Armee, die über Jahrzehnte der kommunistischen Ideologie verpflichtet gewesen war, parallel zum Wegfall der SED - Alleinherrschaft delegitimiert wurde und einen Prozess der „ideologischen und professionellen Destabilisierung“ durchmachte.199 Gleichzeitig setzten sich Kräfte durch, die die NVA zu einer auf den Staat und die ihn tragenden Kräfte orientierten Armee ohne ideologischen Auftrag wandeln wollten. 3.4

SED - Sonderparteitag : Umbenennung in SED - PDS (2. Session 16.–17.12.)

Zentraler Faktor für die Entwicklung und Haltung aller Teile des bisherigen Herrschaftssystems blieb die SED, die während der zweiten Session ihres Sonderparteitages den Parteinamen um den Zusatz „Partei des demokratischen 194 Beschluss des Ministerrates der DDR 7/15/89 vom 21. 12. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2884, Bl. 189 f.). 195 Vgl. Koop / Schössler, Erbe NVA, S. 299. 196 Teilbeitrag zum Gesamtbericht des Ministers zum Abschnitt : Ziel und Inhalt der Militärreform, o. D. ( BArch Berlin, VA - 1/37614, Bl. 2). 197 Vgl. Kutz, Demokratisierung der NVA ?, S. 96. 198 Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 28. 199 Kutz, Demokratisierung der NVA ?, S. 87.

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Sozialismus“ ( PDS ) ergänzte. Nachdem der Untertitel des „Neuen Deutschland“ Anfang Dezember in „Zentralorgan der SED“ umgewandelt worden war, folgte nun eine weitere Umbenennung in „Sozialistische Tageszeitung“. Entsprechend wurde bei den „Organen der Bezirksleitungen“ verfahren. Die Umbenennung in SED - PDS diente primär dem besonders von Gysi angestrebten Ziel, das von der SED zusammengetragene Vermögen zu behalten. Mit dieser Begründung verwandelte sich ihre historische Niederlage in einen Bankrott.200 Erneut zeigte sich, dass die Delegierten die Ursache für die Probleme der DDR nicht in der Diktatur selbst sahen, sondern in „stalinistischen Abweichungen“ von der richtigen Art sozialistischer Herrschaft. Entsprechend stand auch nicht etwa eine freiheitliche Demokratie auf dem Programm. Die gewendete SED bekannte sich in ihrer neuen Satzung vielmehr zu „sozialistischen, antifaschistischen, pazifistischen und internationalen linken Traditionen, besonders denen Lenins“201 und setzte sich für „sozialistischen Pluralismus“ und einen demokratischen Sozialismus in einer erneuerten DDR ein.202 SED - Chef Gysi forderte den Erhalt der Eigenständigkeit der DDR und malte, wie dies vor ihm schon Honecker und Krenz getan hatten, erneut das Gespenst eines bundesdeutschen Revanchismus an die Wand.203 Statt zu versuchen, sich an die Spitze der Demokratisierung zu stellen, beharrte die Partei erneut auf sozialistischen Positionen und traf mit der Beibehaltung des überwiegenden Teils des SED - Besitzes eine Entscheidung, die sie bald eher als korrupte „Immobilienverwaltung“, denn als ernstzunehmende politische Kraft erscheinen ließ.204 Es war aber nicht zu übersehen, dass es vielen Delegierten auch so schon schwer fiel, die neuen Wertungen und Aufgaben zu erfassen.205 Zudem zeigten die teilweise konfusen Debatten, dass „unter der Last der von oben verordneten, völligen Einmütigkeit der Ansichten in der Partei eine Atomisierung stattgefunden hatte“. Die SED - Mitglieder hatten bis dahin in den „von oben durchinszenierten und von der Schere im Kopf zusätzlich begradigten Parteiversammlungen die Sichten der anderen nie erfahren“ und waren nun erschrocken darüber, wie weit man sich voneinander entfernt hatte.206 In der Öffentlichkeit brachte der Parteitag keinen Stimmungsumschwung. Die Ernsthaftigkeit der Erneuerung wurde in Zweifel gezogen und die eingeleiteten Schritte als unzureichend kritisiert.207 Nach dem Parteitag nannten sich die Kreisleitungen in Kreisvorstände um. Die Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter wurde reduziert. Die Kontrollkommissionen beendeten ihre Arbeit. Freiwerdende Räume wurden anderen Organisationen wie dem Neuen Forum zur Nutzung angeboten. Die Kreisvorstände 200 201 202 203 204 205

Hartung, Neunzehnhundertneunundachtzig, S. 83. Neues Deutschland vom 19. 12. 1989. Ebd. vom 18. 12. 1989. Vgl. Schneider, Der letzte Parteitag, S. 6. Hartung, Der große Radwechsel, S. 168. Vgl. SED - BL Frankfurt / Oder vom 17. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 206 Falkner, Die letzten Tage der SED, S. 1759. 207 Vgl. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 289.

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begannen mit der Vorbereitung von Parteiwahlen 1990.208 In Görlitz informierte der SED - PDS - Kreisvorstand die Mitglieder darüber, der Parteitag habe festgestellt, dass es keine Kollektivschuld gebe. Außerdem solle keiner die Oberhand gewinnen, der „eine Einvernahme durch die BRD“ anstrebe.209 Die Kreisvorstände bemühten sich nun, Optimismus zu verbreiten. Aus Bischofswerda hieß es, der Parteitag habe Prämissen gesetzt, um die Partei neu zu formieren. Man sei optimistisch, dass mit neuem Statut und Programm der Erneuerungsprozess nun beginnen werde und man mit dem neuen Parteivorstand wieder Vertrauen in der Bevölkerung gewinnen könne.210 In Großenhain sah man im Parteitag die Grundlage „für einen realistischen und zielstrebigen Neubeginn unserer Partei“. Daher würden sich „erste Tendenzen des Optimismus und der Erleichterung“ zeigen. Hingegen habe die Absage an den Sozialismus in der DDR auf dem Gründungsparteitag des DA und zum Teil bei der CDU bei vielen Mitgliedern große Besorgnis ausgelöst.211 Ende des Jahres wurde der aus hauptamtlichen Funktionären bestehende Parteiapparat, der bislang ca. 15 000 Personen beschäftigt hatte, erheblich reduziert. Der etwa 2 000 Personen starke ZK - Apparat wurde aufgelöst. Die rund 30 Abteilungen des ZK, die bislang die Fachressorts der Ministerien angeleitet hatten, wurden durch neun Kommissionen ersetzt.212 Ungeachtet dessen funktionierte der überwiegende Teil des Apparates weiter in alten Strukturen und Denkweisen. Die auf dem Parteitag erhobene Forderung nach einer Erneuerung der Partei von der Basis aus erwies sich als unreal.213 Die Stimmung verbesserte sich vorübergehend, die Zahl der Parteiaustritte ging zum Jahresende zurück. Die „Erkenntnis, dass ohne die SED - PDS eine weitere gesellschaftliche Entwicklung in der DDR nicht möglich ist“,214 setzte sich innerhalb der Partei immer breiter durch und stärkte das Selbstvertrauen. Auch die extreme Linke in der Partei witterte Morgenluft und konstituierte sich am 30. Dezember innerhalb der SED - PDS als „Kommunistische Plattform“.215 Das Vermögen der Partei belief sich zur Jahreswende auf rund 6,1 Mrd. Mark.216

208 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 21. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 23./24. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 20. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz - Land, vom 21. 12. 1989; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 22. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 22. 12. 1989. 209 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 21. 12. 1989. 210 Vgl. SED - KV Bischofswerda vom 21. 12. 1989 : Verbleib der GO in den Betrieben (SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 211 SED - KL Großenhain vom 18. 12. 1989 : Lage ( ebd.). 212 Neues Deutschland vom 2.1.1990. Vgl. Informationen des BMB 1 vom 12.1.1990, S. 4. 213 So Markus Wolf, In eigenem Auftrag, S. 325. 214 SED - PDS - BL Frankfurt / Oder vom 28. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775). 215 Neues Deutschland vom 3. 1. 1990. 216 Der Polizeipräsident in Berlin. Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs - und Vereinigungskriminalität ( ZERV ) : Sachstandsbericht vom 1. 11. 1994, S. 16.

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1070 3.5

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SDP auf dem Weg zur SPD und zur deutschen Einheit

Während die SED - PDS ihren antinationalen Kurs bestätigte, verabschiedete der Vorstand der SDP am 3. Dezember unter dem Druck der Basis und nach heftigen Diskussionen eine Erklärung, in der sich die Partei zur Einheit der deutschen Nation in konföderativen Strukturen bekannte. Zugleich sprach sie sich gegen eine schnelle Wiedervereinigung aus. Damit vollzog sie einen Kurswechsel weg von der bislang favorisierten Zweistaatlichkeit.217 Hatte sich die Partei mit ihrem Namen „SDP“ bislang von der SPD unterscheiden wollen, setzte nun auch hier ein Umdenken ein. Auslöser waren Überlegungen, die im Vorfeld des Sonderparteitages in der SED angestellt wurden. Hier gab es Diskussionen über eine Wiedergründung der SPD aus der SED heraus. So waren von Reformkräften Vorbereitungen für eine Initiative zur Wiedergründung von SPD und KPD auf dem Sonderparteitag getroffen worden. Das Audimax der Humboldt - Universität war bereits angemietet, eine Liste noch lebender SPD - Genossen erstellt sowie der Entwurf eines „Appells der Konferenz zur Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der DDR“218 verfasst worden. Daneben kursierten Gerüchte, die SED wolle sich in „Sozialistische Partei Deutschlands“ mit der Abkürzung „SPD“ umbenennen. Diese Initiativen führten in der SDP wie in der SPD zu Gegenreaktionen. Ein großer Teil der SPD lehnte ein Wiedererstehen der SPD aus der SED ab. Zum einen schreckte der Gedanke „linkslastiger ostdeutscher Landesverbände“,219 zum anderen wäre die SPD damit in die Nähe der SED gerückt worden. Eine neue, unbelastete SDP, die aus den Bürgergruppen hervorgegangen war, kam der Bonner SPD mehr entgegen. Um die Abkürzung „SPD“ in der DDR zu schützen, beschloss der SDP - Vorstand am 12. Dezember die Umbenennung in SPD für den Januar 1990. Bereits vor der offiziellen Umbenennung hatten sich einzelne Ortsvereine „SPD“ genannt.220 In Rostock war es Willy Brandt gewesen, der dort der SDP am 23. November empfohlen hatte, sich in SPD umzubenennen. Im SDP - Vorstand sah man dies zunächst skeptisch und befürchtete eine Einflussnahme durch die SPD. In einer Gesprächsrunde mit Gert Weisskirchen fiel schließlich die Vorentscheidung für die Umbenennung,221 was nun von der SPD im Westen begrüßt und unterstützt wurde.222 Die SED - Führung um Gregor Gysi plante freilich gar nicht, die Abkürzung „SPD“ zu ver wenden.223 In der Nachtsitzung des Parteitages vom 217 SDP zur deutschen Frage vom 3. 12. 1989 ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 2839). Vgl. Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 67 f.; Elmer, Ein sozial - demokratisches Deutschland, S. 17. 218 Abgedruckt in DA, 24 (1991), S. 850 f. 219 Niemann, Eine Episode, S. 849. 220 Vgl. Mühlen, Die Gründungsgeschichte, S. 55; Weißgerber, Von der friedlichen Revolution, S. 8 f. 221 Vgl. Inter view mit Stephan Hilsberg. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 149. 222 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 10./11. 12. 1989. 223 Interview mit Gregor Gysi. In : Der Stern vom 14. 12. 1989.

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8. zum 9. Dezember verhinderte Modrow den Antrag auf Gründung von KPD und SPD aus der SED heraus und forderte eindringlich auf, die SED samt Besitz zu erhalten und als SED - PDS zu erneuern. Nachdem die SDP - Akteure aus der SPD zunächst sehr gespaltene Reaktionen auf ihre Gründung erfahren hatten – so hatte Walter Momper sie zum Eintritt in die SED aufgefordert, um dort vorhandene „Reformkräfte“ zu stärken224 – setzte die SPD ab Dezember immer stärker auf die SDP als Partnerin in der DDR. Hans - Jochen Vogel vereinbarte mit Ibrahim Böhme die Bildung eines paritätisch besetzten Kontaktausschusses beider Parteien. Vogel erklärte, die SPD sehe in der SDP ihren Partner und sei bereit, sie im Wahlkampf zu unterstützen.225 Damit brach die SPD mit ihrer Politik einseitiger Beziehungen zur SED und wies das von Gysi formulierte Ansinnen zur Fortsetzung der Zusammenarbeit beider Parteien zurück.226 Böhme erklärte nach dem Gespräch, eine Koalition der SDP mit der SED nach den Wahlen komme nicht in Frage.227 Noch kurz zuvor hatte er SED - Mitglieder, die sich an den Grundwerten der SDP orientierten, aufgefordert, in die SDP einzutreten.228 Nun legte die SPD für die 15 Bezirke ihrer Schwesterpartei in der DDR bundesdeutsche Patenbezirke fest. Im Rahmen dieser Patenschaften leistete die SPD von nun an intensive Wahlhilfe und betreute die SDP umfassend.229 Ziel war die Übernahme der Regierungsgeschäfte in der DDR 1990, dem Jahr der nächsten Bundestagswahlen. Bezirk Dresden : Vor allem in der zweiten Dezemberhälfte ging auch in Sachsen die Bildung von Orts - , Kreis - und Bezirksverbänden, wenn auch mühsam, voran. Überall wechselten, wie z. B. im VEB „Ferdinand Kunert“ Schmiedeberg ( Dippoldiswalde ), Mitglieder der SED in die SDP, wo sich Ende Dezember eine SDP - Basisgruppe bildete und einen Kreisverband aufbaute.230 Am 16. Dezember stellte sich eine Initiativgruppe zur Gründung der SDP im Kreis Bautzen vor,231 und am 9. Dezember führte die SDP Bischofswerda eine Informationsveranstaltung durch.232 Mitte Dezember fand in Dresden eine erste Mitgliederversammlung der SDP statt,233 am 20. Dezember konstituierte sich die SPD in Großenhain.234 Nachdem bereits am 5. Dezember die erste SDP - Ortsgruppe im Kreis Meißen in Coswig gegründet worden war, folgte am 18. Dezember ein 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234

Vgl. Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. Vgl. Berliner Zeitung vom 14. 12. 1989. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 14. 12. 1989. Vgl. Neues Deutschland vom 14. 12. 1989. Interview mit Ibrahim Böhme. In : taz vom 8. 12. 1989. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 21. 12. 1989. Vgl. SED - KL Dippoldiswalde : Lage [ nach 5. 12. 1989] ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 29. 12. 1989. Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 40); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 19. 12. 1989. Vgl. ebd. vom 15. 12. 1989. Vgl. Die Union vom 14. 12. 1989. Ereignisse in der Stadt Großenhain, Konstituierung der SPD vom 20. 12. 1989 ( HAIT, StKa ).

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SPD - Ortsverband Meißen.235 In Pirna gab es am 5. Dezember einen ersten Informationsabend der SDP, bei dem sich bereits mehrere Mitglieder einschrieben.236 In Riesa erfolgte die Gründung eines Ortsverbandes aus den Reihen des Neuen Forums heraus.237 In Zittau konstituierte sich am 1. Dezember ein SDPKreisverband mit zunächst provisorischen Führungsstrukturen.238 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Zwönitz ( Aue ) wurde am 18. Dezember eine Ortsgruppe gegründet,239 einen Tag später konstituierte sich in Aue ein SDP - Kreisverband.240 In Auerbach trat am 6. Dezember ein SDP - Ortsverband ins Leben, der sich bereits nach zwei Tagen auf einer Demonstration in SPD umbenannte.241 Die erste öffentliche Versammlung der SDP in Freiberg fand am 7. Dezember im Festsaal der „Alten Mensa“ statt, dem Ort, an dem 1946 die Zwangsvereinigung erfolgt war.242 In Plauen traf sich der Ortsverband am 3. Dezember bereits mit Vertretern der SPD aus Hof, der Partnerstadt von Plauen. Bei der zweiten öffentlichen Versammlung am 14. Dezember ging es um Grundsätze und Ziele sowie um die Umbenennung der Partei in SPD.243 In Lengenfeld ( Reichenbach ) konstituierte sich am 7. Dezember ein Ortsverband der SDP,244 wenig später auch in Erlau ein erster Ortsverband im Kreis Rochlitz.245 In Schwarzenberg wurde am 14. Dezember ein Kreisverband gegründet,246 wenig später auch in Zwickau - Stadt und - Land.247 Eine Basisgruppe bildete sich am 28. Dezember für den Raum Werdau.248 Bezirk Leipzig : Im Dezember beriet im „Haus der Demokratie“ in Leipzig ein Vorbereitungskomitee zur Gründung der SDP im Bezirk mit Vertretern aus den Kreisen.249 Im Bezirk entwickelte sich eine rege Diskussion über die künftige Organisationsstruktur. Karl - August Kamilli favorisierte Bezirksverbände, angelehnt an die Bezirksstrukturen der DDR, Nikolaus Voss die sofortige Bildung eines Landesverbandes Sachsen. Am Ende wurde ein Regionalverband Sachsen - West gegründet.250 Unterdessen ging auch hier die Bildung von Orts und Kreisverbänden weiter. Am 19. Dezember gründete sich die SDP in Dö235 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 19. 12. 1989. 236 Vgl. Fiedler, Die Anfänge, S. 93–97; Sächsische Zeitung, Ausgabe Pirna, vom 7. 12. 1989. 237 Vgl. SED - KL Riesa vom 19. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 238 Vgl. Müller, Ein neuer Anfang, S. 106–110. 239 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz ( HAIT, StKa ). 240 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 22. 12. 1989. 241 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 132. 242 Vgl. Lersow, Von der Bürgerbewegung in die Parteistruktur, S. 27–40. 243 Vgl. Kätzel, Die SPD im Vogtland, S. 128–131. 244 Vgl. Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfelde, S. 8 f. ( HAIT, StKa ). 245 Vgl. Raubold, Die Anfänge der SPD im Kreis Rochlitz, S. 132–137. 246 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 29. 12. 1989. 247 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 22. 12. 1989. 248 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 9. 1. 1990. 249 Vgl. SPD - Ortsverein Wurzen : Neuaufbau der SPD im Raum Wurzen - Grimma - Oschatz, o. D. ( HAIT, Wu - A5). 250 Vgl. Voss, Aufbruch und Stagnation, S. 178–181.

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beln,251 am 10. Dezember in Geithain,252 am 20. Dezember fand eine konstituierende Sitzung der SPD in Grimma statt.253 In einigen Leipziger Betrieben war die SDP bereits seit Längerem aktiv und warb um SED - Mitglieder.254 3.6

Blockparteien im Dezember

Austritt aus Block und Nationaler Front Nachdem die CDU Ende November den Block verlassen hatte, erklärten am 4. Dezember auch die Präsidien von LDPD und DBD, entgegen ihren Bekundungen in der letzten Sitzung des Zentralen Blocks vom 28. November,255 ihre Mitarbeit im „Demokratischen Block“ für beendet. Sie forderten den Rücktritt des gesamten Staatsrates mit dessen Vorsitzenden Egon Krenz. Auch das CDUPräsidium forderte den Rücktritt von Krenz und plädierte für eine gemeinsame Arbeit am Runden Tisch. Es solle verfassungs - und gesetzgeberische Voraussetzungen für baldige freie Wahlen schaffen.256 Überall in den Kreisen beendeten nun peu à peu Blockparteien ihre Mitarbeit in den Ausschüssen der Nationalen Front und traten aus dem Block aus. Meist plädierten sie für eine Weiterarbeit an Runden Tischen oder in unabhängigen Bürgerkomitees. In einigen Kreisen plädierten Funktionäre der Nationalen Front für die Bildung eines neuen „Demokratischen Zentrums“ als Nachfolgeeinrichtung.257 Lothar Kolditz erklärte am 7. Dezember seinen Rücktritt von der Funktion des Präsidenten des Nationalrates der Nationalen Front der DDR. Am selben Tag erfolgte die Ankündigung von Volkskammerwahlen am 6. Mai 1990. Der Nationalrat der Nationalen Front beschloss daraufhin, sich in eine unabhängige Bürgerbewegung zu wandeln.258 Im Bezirkstag Karl - Marx - Stadt unterstützten die „Mandatsträger“, „die Kraft der ehrenamtlichen Mitglieder der bisherigen Ausschüsse der Nationalen Front in einer nationalen Bürgerbewegung für einen besseren Sozialismus einzubringen und in den städtischen und ländlichen Wohngebieten Bürgerkomitees zu schaffen“, die eng mit den örtlichen Volksvertretungen und ihren Organen zusammenarbeiten sollten.259 In einzelnen Kreisen begann daraufhin die Um-

251 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 252 Vgl. Chronologie der Wende – Aus der Sicht des Geithainer Ortsvereins der SPD (HAIT, StKa ). 253 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 28. 12. 1989. 254 Vgl. SED - KL Leipzig - Nordost vom 1. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 145 f.); SED - KL Leipzig - Nordost vom 6. 12. 1989 : Info ( ebd., Bl. 204–206). 255 Vgl. Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 2, S. 287. 256 Vgl. Neue Zeit vom 5. 12. 1989. 257 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10. 12. 1989. 258 Vgl. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 407. 259 Protokoll der 16. Tagung des BT Karl - Marx - Stadt vom 20. 12. 1989 ( SächsStAC, 127933).

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wandlung von Wohngebietsausschüssen der Nationalen Front in staatlich inszenierte und somit simulierte „Bürgerkomitees“.260 CDU - Sonderparteitag (15. /16.12.) Parallel zum Austritt aus Block und Nationaler Front bemühten sich die Ex Blockparteien weiter um Profilierung und wurden angesichts des herrschenden Machtvakuums aus Sicht der Bevölkerung, trotz des nahezu unveränderten Funktionärsapparates, oft als neue politische Kräfte auch akzeptiert.261 Das wiederum sorgte in den SED - Reihen für Ärger darüber, dass insbesondere CDU und LDPD versuchten, „sich auf Kosten der Vorfälle in der SED zu profilieren und politisches Kapital zu schlagen“.262 In mehreren Kreisen wurden allerdings Vorsitzende und Sekretäre mit zu großer Systemnähe abgewählt, jedoch nicht überall, wie das Beispiel Delitzsch zeigte. Der CDU - Kreisverband Eilenburg sprach sich für eine umfassende Erneuerung der Gesellschaft und der Partei aus.263 Die CDU in Geithain diskutierte ein Positionspapier des Kreisvorstandes, in dem es darum ging, ob die CDU noch eine sozialistische Perspektive habe und für die Einheit Deutschlands sei.264 Etliche Ortsgruppen traten bereits deutlich für eine Wiedervereinigung Deutschlands ein.265 In Zittau forderte eine CDU - Kreiskonferenz ein Ende der SED - Herrschaft und freie Wahlen.266 In den Kreisen bildeten sich Strukturen einer „Christlich - Demokratischen Jugend“ (CDJ ) als der Jugendorganisation der CDU.267 Zwar versuchten Einflussagenten der Staatssicherheit wie der SDP - Geschäftsführer Ibrahim Böhme die Blockparteien durch die Behauptung zu diskreditieren, diese hätten „genau soviel Schuld“ an der Diktatur wie die SED.268 Diese Deutung der SED - Diktatur wurde allerdings auch dadurch nicht richtiger, dass sie von Funktionären wie dem CDU - Kreissekretär von Sebnitz, Eckmar Hähnel,269 dem Kreisvorsitzenden von Auerbach, Wolfram Haller,270 und selbst von de Maizière in ähnlicher Weise wiederholt wurden. Hier sprachen Funktionäre aus der Sicht in der Tat mitverantwortlicher Funktionäre, nicht aber aus der von Mitgliedern, denen wegen ihrer Mitgliedschaft kaum Vorwürfe zu machen waren. 260 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 23. 12. 1989; Freie Presse, Ausgabe Zwickau- Stadt, vom 9. 12. 1989. 261 Vgl. Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 142. 262 SED - SBL Leipzig - Mitte vom 4. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 182, 185). 263 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 14. 12. 1989. 264 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 9./10. 12. 1989. 265 Vgl. KDfS Marienberg vom 11. 11. 1989 : Demonstration in Marienberg ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 1, Bl. 59). 266 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 7. 12. 1989. 267 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgaben Görlitz - Land und Großenhain, vom 14. 12. 1989. 268 Interview mit Ibrahim Böhme. In : taz vom 8. 12. 1989. 269 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 8. 12. 1989. 270 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 111 f.

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„Die entscheidende Zäsur“271 in der CDU - Entwicklung stellte ihr Sonderparteitag am 15./16. Dezember dar. In Urwahlen demokratisch gewählte 800 Delegierte beschlossen eine neue Satzung und wählten einen neuen Parteivorstand. Unter dem Druck der Mitglieder, die zum überwiegenden Teil jede Form eines Sozialismus ablehnten, aber auch um die CDU im Parteienspektrum nicht weiter links als die SDP erscheinen zu lassen,272 revidierte de Maizière auf dem Parteitag sein Bekenntnis zum Sozialismus und strich unter tosendem Beifall den Sozialismus als „leere Hülse“273 aus dem Vokabular der CDU. Stattdessen bekannte sich die CDU nun zu einer ökologisch - sozialen Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und deutscher Einheit. Binnen weniger Wochen und Monate hatte die CDU die ihr aufgezwungene Rolle als Blockpartei und Transmissionsinstrument der SED - Diktatur abgeschüttelt, die alte, SED - hörige Führung weitgehend entmachtet und sich in einem Prozess innerparteilicher Demokratisierung, organisatorischer Umstrukturierung und programmatischer Profilierung von der Basis her erneuert. Getragen wurde dieser Prozess von den Mitgliedern, die ihre politischen Überzeugungen in der Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse seit Jahren und Jahrzehnten „gewissermaßen geparkt und quasi stillgelegt hatten“274 und die nun die Möglichkeit der friedlichen Revolution nutzten, ihre unterschiedlichen christdemokratischen Grundüberzeugungen zu reaktivieren. Möglich wurde die Erneuerung der Partei dadurch, dass sich unter den Mitgliedern seit der Gleichschaltung der CDU ein kritisches Potenzial erhalten hatte, das die SED - Diktatur ablehnte und seit Beginn der Gorbatschow’schen Reformpolitik begann, die Eigenständigkeit der CDU durch kritische Diskussionen und programmatische Überlegungen vorzubereiten. Die damit einhergehende Entmachtung der alten, SED - hörigen Führungsclique um Gerald Götting im Verlauf des Herbstes aber war ein wichtiger Bestandteil der Zerschlagung der SED - Diktatur. In der SED konstatierte man nach dem CDUParteitag, dass er „nichts konstruktives gebracht“ habe „im Sinne des Sozialismus“. Zum Glück aber hätten Parteien wie die CDU den führenden Persönlichkeiten der SED „schon von der Person wenig entgegenzusetzen, ganz zu schweigen von den verkündeten Absichten“.275 Für die Regierung hatte der Parteitag mit seinem Bekenntnis gegen Sozialismus und für deutsche Einheit insofern Bedeutung, als sich nun zwischen Ministerpräsident Modrow und seinem Stellvertreter de Maizière politische Gräben auftaten, die keine tragfähige Grundlage für eine Politik der Erhaltung einer erneuerten sozialistischen DDR waren.

271 272 273 274 275

Schmidt, Transformation einer Volkspartei, S. 48. Vgl. Suckut, Vom Blocksystem, S. 131. Union teilt mit, (1990) 1, S. 2. So Peter Joachim Lapp. In : Materialien der Enquete Kommission, Band II, 1, S. 295. SED - KL Riesa vom 19. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555).

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LDPD : Abkehr vom Sozialismus Die LDPD hatte sich schon länger als die anderen Blockparteien als Kraft einer sozialistischen Erneuerung profiliert. Anfang Dezember, nach dem Austritt aus dem Block, setzte sich dieser Prozess fort, allerdings entwickelten sich in dieser Frage nun immer stärkere Gegensätze. Am 5. Dezember forderte der LDPD Vorstand in einem „Fünf - Punkte - Programm“ u. a. die Auf lösung der Nationalen Front und erklärte sich bereit, größere Verantwortung in Staat und Gesellschaft zu übernehmen. Die LDPD verabschiedete neue Leitsätze ihrer Politik, die noch immer von einer Weiterentwicklung des Sozialismus ausgingen. Die Lösung der deutschen Frage wurde im Rahmen einer Konföderation gesehen.276 In den Kreisverbänden gab es, wie in Marienberg, Forderungen nach dem Rücktritt des Rates des Kreises und baldigen Wahlen,277 nach Entfernung der hauptamtlichen SED - Parteisekretäre aus den Betrieben und gleichem Recht für alle Parteien.278 In einzelnen Kreisen bildeten sich Gliederungen des neuen LDPDJugendverbandes „Jungliberale Alternative“ ( Julia ).279 Die sächsischen Bezirksvorstände erneuerten sich teilweise – so wurde in Leipzig Wolfgang Görne neuer LDPD - Bezirksvorsitzender – und forderten vom Zentralvorstand am 7. Dezember die Einberufung eines Sonderparteitages, klare Definitionen zu neuen Gesellschaftsstrukturen, zur sozialen Marktwirtschaft und zur Lösung der nationalen Frage in einem europäischen Haus.280 Hier war bereits ein Widerspruch gegen den sozialistischen Kurs Gerlachs erkennbar, der sich auch darin zeigte, dass Vertreter des Bezirksvorstandes wenig später mit den FDP Politikern Hans Dietrich Genscher, Gerhart Baum und Burkhard Hirsch über die Zukunft der LDPD diskutierten.281 Am 12. Dezember verabschiedete der Politische Ausschuss nach heftigen Debatten ein „Fünf - Punkte - Programm für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und soziale Gerechtigkeit“, womit jedem Konzept eines dritten Weges sozialistischer Prägung eine Absage erteilt wurde. Die LDPD bekannte sich zur parlamentarischen Demokratie, einer am Markt orientierten Wirtschaft und zur staatlichen Einheit. Die Diskussion zeigte aber, dass der völlige Bruch mit jeder Art Sozialismus noch nicht vollzogen war. So nannte Kurt Wünsche den Sozialismus weiterhin eine Alternative zum bundesdeutschen System.282 Gerlach erklärte am 13. Dezember, die LDPD sei unter Umständen für die Einheit Deutschlands in Etappen und bei Wahrung der Inte-

276 Forderung der LDPD. Für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. In : Der Morgen vom 5. 12. 1989; Leitsätze liberal - demokratischer Politik heute. In : ebd. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 342 f. 277 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 1. 12. 1989. 278 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 6. 12. 1989. 279 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 9./10. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 16./17. 12. 1989. 280 Vgl. ebd. vom 7. 12. 1989. 281 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 19. 12. 1989. 282 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 355–357.

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ressen beider Staaten.283 Beim Empfang Mitterrands erklärte er, in der DDR werde nun ein demokratischer Sozialismus gestaltet.284 Vor dem Zentralvorstand der LDPD meinte er am 20. Dezember, mit der LDPD sei ein Ausverkauf der DDR und Antikommunismus nicht machbar. Die widersprüchlichen Darlegungen Gerlachs zeugten von dessen Konzeptionslosigkeit. Er lobte den Sozialismus, erklärte aber, die Marktwirtschaft anzustreben. Er bekannte sich zur deutschen Nation, wies aber die Forderung nach einer baldigen Vereinigung als kontraproduktiv zurück. Als denkbar bezeichnete er einen Deutschen Bund.285 Nach den verschwommenen Erklärungen Gerlachs und anschließenden Diskussionen signalisierte die LDPD am 22. Dezember einen Neuansatz ihrer Politik. Sie gehe vom Menschen als Persönlichkeit aus und wolle keine neuen Modelle des Sozialismus mehr, sondern freiheitliche Demokratie, Marktwirtschaft und staatliche Einheit in den Grenzen von 1989.286 Damit verabschiedete sich die LDPD als zweite Blockpartei nach der CDU vom Sozialismus und wandelte sich nun in eine demokratische Partei. Profilierungsprobleme bei NDPD und DBD Hatte die NDPD bislang versucht, sich durch eine Mischung aus sozialistischen und nationalen bzw. regionalen Positionen zu profilieren, änderten sich im Dezember ihre Positionen und zeigten die Profilierungsprobleme der nationalen, sozialistischen Demokraten. Oft waren hier vorgetragene Entwürfe von populistischer Beliebigkeit und fehlender programmatischer Stringenz geprägt. In Grimma forderte die NDPD einen demokratisch kontrollierten Rechtsstaat und Verbesserungen im Gesundheits - und Umweltschutz.287 In Brand - Erbisdorf plädierte die Partei für die Wiedereinführung der Länder von 1952 und die Rückbenennung von Chemnitz.288 Im Kreis Freital forderte sie einen Volksentscheid in beiden deutschen Staaten über eine Konföderation bei Anerkennung der Oder - Neiße - Grenze und im Zusammenhang des langwierigen Prozesses der europäischen Konföderation.289 Nach Weihnachten gab der NDPD - Vorstand Richtlinien für den künftigen Kurs aus. Darin hieß es, die Partei löse sich aus den Fesseln eines diskreditierten Sozialismus und verstehe sich in antifaschistischer Haltung nun als politische Kraft der Mitte. Länger als CDU und LDPD hatte die NDPD am Sozialismus festgehalten; nun stellte sie ein Wahlprogramm vor, in dem sie sich dem „Ideal der freien Individualität“ verpflichtet zeigte und

283 284 285 286 287 288 289

Vgl. Berliner Zeitung vom 14. 12. 1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 372. Der Morgen vom 21. 12. 1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 365 f. Der Morgen vom 22. 12. 1989. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 28. 12. 1989. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 21. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 28. 12. 1989.

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für Konföderation, Gewaltenteilung und eine am Markt orientierte Wirtschaft eintrat.290 Auch die Bauernpartei ( DBD ) brauchte bis Ende Dezember, um sich vom Sozialismus zu verabschieden. Die Kreisverbände betonten im Laufe des Dezembers immer deutlicher ihre unabhängige Position bei der gesellschaftlichen Erneuerung der DDR und verzichteten auf sozialistische Bekenntnisse.291 3.7

Erneuerung des FDGB oder neue Gewerkschaften

Seit Anfang November war auch der FDGB unter wachsenden politischen Druck geraten. Immer mehr BGL - Vorsitzende in den Betrieben traten aus der SED aus, um so Unabhängigkeit zu dokumentieren.292 In Konkurrenz zur kommunistischen Massenorganisation FDGB rief am 15. November eine „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ zur Bildung einer „Gewerkschaft von unten“ auf.293 Annelis Kimmel kündigte den Rücktritt des FDGB - Bundesvorstandes am 29. November an. Am 28. November musste der FDGB - Bundesvorstand Informationen bestätigen, wonach Gelder des FDGB für die Durchführung eines FDJ- Pfingsttreffens zur Verfügung gestellt worden waren. Bei den Mitteln handelte es sich meist um Solidaritätsspenden der FDGB - Mitglieder für die Dritte Welt. Daraufhin forderten Teile des FDGB - Bundesvorstandes den sofortigen Ausschluss des Vorsitzenden, Harry Tisch. Auf der 11. Tagung des Bundesvorstandes des FDGB wurde er wegen Amtsmissbrauchs aus dem FDGB ausgeschlossen. Nach dem Rücktritt des Präsidiums und des Sekretariats wählte der Bundesvorstand ein Arbeitssekretariat als neues Führungsorgan. Vorsitzende wurde Annelis Kimmel. Zur Vorbereitung eines außerordentlichen Kongresses Ende Januar 1990 wurde eine neue Satzung ohne führende Rolle der SED vorgelegt. Die Delegierten erklärten, zukünftig aktiv an der Erneuerung des Sozialismus mitarbeiten zu wollen. Aber auch Kimmel blieb nur kurz im Amt. Am 6. Dezember wurde im Büro des Bundesvorstandes eine schwarze Kasse mit zwei Millionen Valutamark gefunden und an die Staatsanwaltschaft übergeben. Vor dem Prunkbau des FDGB an der Berliner Jannowitzbrücke forderten daraufhin Hunderte Demonstranten den Rücktritt des Bundesvorstandes und das Aufdecken von Korruption und Veruntreuung.294 Am 9. Dezember traten der gesamte Bundesvorstand und das von Annelis Kimmel geleitete Arbeitssekretariat zurück. Damit war der Versuch der alten SED - FDGB - Funktionäre 290 National - Zeitung vom 27. und 30./31. 12. 1989. 291 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 21. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 29. 12. 1989. 292 Vgl. SED - BL Potsdam vom 8. 11. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 530, Nr. 432/433). 293 Flugschrift : Für eine unabhängige Interessenvertretung der Werktätigen vom 15. 11. 1989. In : Schüddekopf ( Hg.), Wir sind das Volk, S. 224–226. 294 Vgl. Neues Deutschland vom 28. 11. 1989; Tribüne vom 1., 7. und 8. 12. 1989.

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gescheitert, den Bestand der Massenorganisation und ihre Macht ohne Bruch mit der Vergangenheit und ohne Neubeginn an der Basis zu sichern. In ihrer Abschiedsrede bekannte Kimmel, dass es ihr nicht gelungen war, den FDGB zu erneuern.295 Auch an der Basis mussten FDGB - Funktionäre ihren Hut nehmen. Mitglieder weigerten sich, weiterhin Solidaritäts - Beiträge zu zahlen, forderten eine Bestrafung der Verantwortlichen,296 die Bildung echter Gewerkschaften, die „Schaffung einer Leistungsgesellschaft“ und Streikrecht.297 Nach dem Rücktritt des Bundesvorstandes bildete der FDGB ein Vorbereitungskomitee unter Leitung des Chefs der IG Druck und Papier, Werner Peplowski, das den FDGB bis zu einem außerordentlichen Gewerkschaftskongress Ende Januar 1990 leiten sollte.298 Am 13. Dezember konstituierte sich das Komitee299 und verabschiedete eine „Erklärung für eine grundlegende Erneuerung des FDGB als Gewerkschaftsbund freier, unabhängiger Industriegewerkschaften und Gewerkschaften in der DDR“. In der Erklärung wurde die Bindung der FDGB - Vorstände an die Leitungen der SED kritisiert. Der FDGB habe „abwartend und handlungsunfähig am Rand des Geschehens“ gestanden und sich nur zögernd aus dem zentralistischen System des bisherigen Sozialismus herausgelöst. Ziele seien nun die Bildung starker und selbstständiger Einzelgewerkschaften, die Koordinierung der Einzelgewerkschaften im FDGB als Dachorganisation und der Schutz der Gewerkschaftsrechte einschließlich des Arbeitskampfrechts in einem Gewerkschaftsgesetz.300 So sollte aus der Massenorganisation eine freie Gewerkschaft werden. Tatsächlich verlief die Umwandlung äußerst schleppend. In den Apparaten herrschte angesichts zu erwartender Konsequenzen für die SED - Funktionäre eher Abbruch - als Aufbruchstimmung. Umgekehrt blieb der Druck der Basis gering. Die Neigung war größer, neue Gewerkschaften zu gründen oder eine Interessenvertretung in Form von Betriebsräten aufzubauen. Am 22. Dezember bildete sich im VEB Kraftverkehr Leipzig der erste gewählte Betriebsrat der DDR.301 Am 20. Dezember führte die „Initiative zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften“ ( IUG ) eine Tagung mit Vertreter aus 40 Betrieben durch. Da ihrer Ansicht nach der FDGB nicht reformierbar sei, riefen sie dazu auf, „gewerkschaftliche Basisgruppen“ zu bilden. Die Initiative verlief im Sande, weil die „basisdemokratisch“ orientierten Akteure es ablehnten, „einen

295 Annelis Kimmel auf der 12. Bundesvorstandstagung des FDGB, S. 1–3. Zit. bei Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 35 f. 296 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 6.11., 2./3. und 7. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 1. 12. 1989; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9./10. 12. 1989. 297 VEB Werkzeugmaschinenfabrik Johanngeorgenstadt vom 7. 12. 1989 : Standpunkt der Gewerkschaftsgruppe ( PB Dieter Vollert ). 298 Vgl. Tribüne vom 11. 12. 1989. 299 Protokoll der Sitzung des Komitees zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses des FDGB am 13. 12. 1989. Zit. bei Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 38. 300 Tribüne vom 11. 12. 1989. 301 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik 3, S. 118.

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neuen Apparat aufzubauen und den Arbeitnehmern überzustülpen“.302 Damit stellte die Initiative keine Alternative zum FDGB mit seinem ausgebauten Apparat dar. Vom FDGB wurde die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft als Spaltung der Einheitsgewerkschaft bezeichnet.303 Das FDGB - Vorbereitungskomitee versuchte, eine Wirkung der IUG zu verhindern und forderte die BGL Vorsitzenden auf, die Aktivisten in die Arbeit des FDGB einzubinden. Außerdem wirkte sich die Haltung des DGB, der weiterhin auf eine enge Zusammenarbeit mit dem FDGB setzte, hemmend auf die Bildung unabhängiger und demokratischer Gewerkschaften aus. Eine andere Entwicklung sollte sich für den weiteren Fortgang als wesentlich gravierender herausstellen : Angesichts zunehmender Kooperationen der Betriebe mit Westfirmen orientierten sich zudem viele Arbeitnehmer bereits auf eine baldige Übernahme des DGB. Seit Mitte November begannen auch im DGB selbst Diskussionen über die Folgen der Veränderungen in der DDR.304 Am 16. November sprach die Vorsitzende des Bundesvorstandes des FDGB, Annelis Kimmel, mit DGB - Chef Ernst Breit,305 der in der staatlichen Einheit Deutschlands jedoch „kein aktuelles Ziel bundesdeutscher Politik“ sah.306 Am 22. November verabschiedete die IG Metall in Frankfurt am Main eine Resolution, in der die Entwicklung in der DDR begrüßt wurde. Am 6. Dezember verabschiedeten der Vorsitzende der IG Metall des DGB, Franz Steinkühler, und der Vorsitzende der IG Metall des FDGB, Hartwig Bugiel, ein Sofortprogramm, in dem u. a. Betriebspartnerschaften, Schulungen und ein Expertenaustausch vereinbart wurden.307 Dieses Konzept der „reeducation“308 ging von der Reformierbarkeit und Reformfähigkeit des FDGB - Apparates aus. Auch im Dezember „rechneten es sich der DGB, aber auch linke Gewerkschaftsgruppen in der Bundesrepublik noch als staatsmännische Leistung an, sich nicht in die inneren Verhältnisse der DDR einzumischen“.309 Führende Funktionäre des DGB sahen angesichts des Umbruchs in der DDR keine Veranlassung, über Konsequenzen der „Gewerkschaftsarbeit“ in der DDR nachzudenken.310 Das führte de facto zu einer Stabilisierung des FDGB und behinderte demokratische Gewerkschaftsinitiativen.311 Entsprechend stieß die Haltung der SED - freundlichen west302 Gründungsaufruf der Initiative für unabhängige Gewerkschaften vom 20. 12. 1989. In : Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 143 f. Vgl. Berliner Zeitung vom 30./31. 12. 1989. 303 Neues Deutschland vom 23./24. 12. 1989. 304 Vgl. Kölner Stadt - Anzeiger vom 16. 11. 1989. 305 Vgl. Tribüne vom 17. 11. 1989. 306 Breit, Die deutschen Gemeinsamkeiten, S. 75. 307 Vgl. Metall, (1990) 25/26, S. 5; IG Metall Frankfurt a. M./ Berlin vom 6. 12. 1989 : Sofortprogramm. Zit. bei Beyme, Aspekte, S. 334. 308 So Theo Pirker. In : Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 87. 309 Ebd., S. 43 f. 310 Vgl. Blessing, Die Wirklichkeit, S. 2. Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 85, meinen, die Haltung des DGB zeuge von politischer Naivität. 311 Vgl. Seideneck, Die soziale Einheit gestalten, S. 5.

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lichen Gewerkschaftsverbände auf harsche Kritik durch Vertreter der Bürgerbewegung in der DDR.312 3.8

Neues Forum – Partei oder Bürgerbewegung : Weg ins politische Abseits

Während sich das Neue Forum in den sächsischen Bezirken noch im Aufbau befand und programmatisch wenig festgelegt war, versuchten Akteure wie Bärbel Bohley und Reinhard Schult, ihre Positionen entgegen neuen Mehrheitsmeinungen im Neuen Forum durchzusetzen. Diese waren nicht das Ergebnis eines demokratischen Meinungsbildungsprozesses. Das ursprüngliche Konzept, keine Programme zu diktieren, sondern ein Forum für alle Bürger zu sein, wurde durch alternativ - basisdemokratische Konzepte einiger Intellektueller verdrängt. Dadurch verkümmerte die bedeutendste Bürgerbewegung zur bürgerfremden, linksalternativen Polit - Sekte. Richard Schröder analysierte später, Bürgerrechtlern wie Bohley sei es ebenso entgangen, „dass sie wieder einmal an einem deutschen Sonderweg bastelten und die Welt am deutschen Wesen genesen lassen wollten“ wie das ökonomische Desaster, in dem sich die DDR befand. Auch hätten sie nicht begriffen, dass sich „weder die westlichen noch die östlichen Nachbarn der DDR noch die westlichen Siegermächte für eine gesellschaftspolitische Spielwiese im Herzen Europas begeistern ließen. Die östlichen Nachbarn wollten zur europäischen Union.“313 Aber auch die Bevölkerung ließ sich nicht vor den Karren weltfremder politischer Ziele spannen. Zustimmung fand die Berliner Gruppe insbesondere in den Südbezirken immer weniger. Kurz vor Weihnachten registrierte der DDR - Verfassungsschutz auch DDR- weit eine wachsende „Ablehnung des ‚NF‘ unter Jugendlichen“, da dieses sich immer mehr verzettele und gegen die Wiedervereinigung eintrete.314 Kritische Stimmen wie die von Joachim Gauck konnten sich nicht durchsetzen. Dieser hatte bereits am 13. Dezember gefordert, den Einheitswillen der Bevölkerung nicht länger zu diskreditieren. Das Neue Forum sei nicht Lehrer, sondern Teil des Volkes.315 Stattdessen stellten Personen wie Bohley, Köppe und Schult die Weichen in Richtung Bedeutungslosigkeit der Bürgerbewegung, bevor diese in den Regionen überhaupt Tritt fassen konnte. Am 18. Dezember wandte sich der Berliner Sprecherrat des Neuen Forums mit einer Erklärung zur „Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates“ gegen eine schnelle Vereinigung Deutschlands. Diese bedeute, neben schnellem Wohlstand für einige, für viele „Arbeitslosigkeit, Verzicht auf Mitbestimmung, Mietwucher und darüber hinaus Legalisierung rechtsextremer und neofaschistischer Parteien und Organisationen“. Voraussetzung der Vereinigung sei die Gleichberechtigung beider Staaten auf der Grund312 Vgl. Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 84 f. 313 Schröder, Die wichtigsten Irrtümer, S. 81 f. 314 Verfassungsschutz der DDR vom 23.–24. 12. 1989 : Lagefilm ( BStU, ZA, ZKG 127, Bl. 20). 315 Zit. in Schmidtbauer, Tage 2, S. 84.

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lage der totalen Entmilitarisierung und Neutralisierung sowie Möglichkeiten des Einflusses auf die Gestaltung des vereinten Deutschlands im Sinne basisdemokratisch - sozialistischer Vorstellungen.316 Neben dieser nicht mehrheitsfähigen politischen Ausrichtung verstärkte auch die Entscheidung, keine Partei zu werden, den Weg ins politische Aus. Die Programmgruppe und Statutenkommission, die auf dem Koordinierungstreffen am 11. November gewählt worden waren, legten am 18. Dezember Entwürfe für ein Programm und ein Statut vor, in dem das Neue Forum endgültig als basisdemokratische Bewegung festgeschrieben werden sollte. Parteipolitik wurde abgelehnt, da sie Interessen auf Wahlkampfparolen reduziere und die Bevölkerung in Wahlblöcke einteile.317 Die Bildung von Neue - Forum - Parteien in Thüringen, Sachsen und Hellersdorf wurden als „eigenmächtige Anmaßungen einzelner“ zurückgewiesen.318 Am 28. Dezember definierte sich das Neue Forum in einem Programmentwurf als „politische Plattform für alle Bürger, die den bestehenden Parteien die Durchsetzung einer konsequenten und basisorientierten Demokratisierung nicht zutrauen“.319 Wesentlich differenzierter als die Initiativgruppe vermuten ließ, aber ohne dass dies das Medieninteresse gefunden hätte, verlief die Entwicklung des Neuen Forums in Sachsen. Hier profilierte es sich vor allem als Sprachrohr veränderungswilliger Bevölkerungsteile vor Ort und als Selbstorganisation der Demonstranten. Dazu bediente man sich des Logos „Neues Forum“, ohne deswegen den ideologischen Vorgaben aus Berlin unbedingt zu folgen. Bezirk Dresden : Im Bezirk Dresden war das Neue Forum im Dezember noch im organisatorischen Aufbau begriffen. In Zittau gab es eine Vollversammlung,320 im Kreis Riesa wurde auf einer ersten Mitgliederversammlung ein neuer Sprecherrat und eine Koordinierungsgruppe für den Kreis gewählt,321 in Königsbrück ( Kamenz ) fand eine erste Informationsveranstaltung statt,322 im Kreis Niesky wurden Kontaktpersonen bestimmt,323 und in Radeburg324 sowie in Radebeul ( Dresden - Land ) schlossen sich die Unterzeichner des Neuen Forums gerade erst zu Gruppen zusammen, die sich als „offen für jeden unabhängig von weltanschaulichen und parteilichen Bindungen“ bezeichneten.325 316 Neues Forum - Berlin zur Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates. Für den Berliner Sprecherrat : Ingrid Köppe, Uwe Radloff, Gabriele Kleiner, Reinhard Schult, Ingrid Brandenburg, Julia Hamburger, Martin Gaber, Bernd Albani, Klaus Brandenburg, Marianne Tietze, o. D. ( MDA Neues Forum ). Vgl. Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 63 f. 317 Entwürfe zu Programm und Statut, Berlin vom 18. 12. 1989. In : Neues Forum, (1989) 3, S. 1 ( ABL, H. XIX /1). 318 Grundsatzpapier vom 16. 12. 1989. Für den Ausschuss des Landessprecherrates : Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Andreas Schönfelder, Reinhard Schult, Luise Schramm, Ilona Weber ( ebd.). 319 Neues Deutschland vom 29. 12. 1989. 320 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 14. 12. 1989. 321 Protokoll des Neuen Forums Riesa vom 21. 12. 1989 ( PB Andreas Näther ). 322 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 14. 12. 1989. 323 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Niesky, vom 2./3. 12. 1989. 324 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 6. 12. 1989. 325 Sächsisches Tageblatt vom 2. 1. 1990.

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Seit Anfang Dezember erhielt das Neue Forum von den Räten erstmals Räume zur Verfügung gestellt.326 Bevor man hier richtig durchstarten konnte, warfen die Berliner Richtungs - und Organisationsentscheidungen das Neue Forum aber auch in den sächsischen Regionen wieder aus der Bahn, zumal dort, wo man, wohl wegen verinnerlichter zentralistischer Gewohnheiten, meinte, sich den Berliner Vorgaben beugen zu müssen. Süffisant berichtete die SED - Kreisleitung Riesa am 10. Dezember, das Neue Forum stelle zwar alles in Frage, sei aber „selbst nicht in der Lage [...], konkrete Konzeptionen auf den Tisch zu legen oder selbst Verantwortung zu übernehmen“.327 Auch in Bautzen, wo sich das Neue Forum stärker an Bohley orientierte, war der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn Anfang Dezember bereits überschritten. Angesichts des fehlenden Machtanspruchs und der links - alternativen Ausrichtung setzte die Bevölkerung mehr und mehr auf Politiker aus der Bundesrepublik, die wie Helmut Kohl einen klaren Weg in Richtung deutsche Einheit wiesen.328 Dabei gab es im Bezirk Dresden durchaus Gruppen des Neuen Forums, die sich für Wiedervereinigung und Marktwirtschaft aussprachen. In Zittau wollte man zunächst eine „eigene Identität finden“,329 in Sebnitz gab es ein klares Bekenntnis für Wiedervereinigung und Marktwirtschaft.330 Das Neue Forum Rabenau (Freital ) sprach sich für eine sozial - ökologische Marktwirtschaft, die Förderung des privaten Eigentums und den Zehn - Punkte - Plan Kohls aus.331 Für das Dresdner Neue Forum erklärte dessen Sprecher Arnold Vaatz, Ziel sei ein zügiger Weg zur deutschen Einheit im Sinne einer Konföderation bei Austritt aus den Blöcken und einer Neutralisierung Deutschlands.332 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Auch im Bezirk Karl - Marx - Stadt befand sich das Neue Forum im Dezember noch im organisatorischen Aufbau. In Crottendorf ( Annaberg - Buchholz ) stellte sich das Neue Forum am 5. Dezember erstmals öffentlich vor.333 Im Kreis Zwickau - Land konstituierte sich am 13. Dezember ein Kreisverband mit einem amtierenden Sprecherrat.334 Hier verfügte das Neue Forum, so z. B. im VEB Sachsenring, auch über Betriebsgruppen.335 Am 16. Dezember beteiligten sich gewählte Vertreter aus fast allen Kreisen an der ersten Bezirksdelegiertenkonferenz. Jeder Kreis war mit drei stimmberechtigten Delegierten vertreten. Nach einer Krise um die Frage eines Generalstreiks Anfang 326 Vgl. Beschlussprotokoll der Sonderberatung des RdK Freital vom 6. 12. 1989 ( Landratsamt Weißeritzkreis, KA, RdK Freital, der Vorsitzende ). 327 SED - KL Riesa vom 10. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). 328 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 329 Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 21. 12. 1989. 330 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 19. 12. 1989. 331 Vgl. Revolutionäre Ereignisse auch in Rabenau. In : Ortsblatt Rabenau 11 vom 15. 11.1994. 332 Vgl. Erblast und Chance. Das Neue Forum Dresden zur deutschen Frage. In : Sächsische Zeitung vom 16./17. 12. 1989. 333 Neues Forum Crottendorf stellt sich vor, vom 5. 12. 1989 ( HAIT, StKa ). 334 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 5. 1. 1990. 335 Vgl. Protokoll der 4. Beratung der AG Neues Forum Sachsenring, o. D. ( HAIT, Zwickau E 2).

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Dezember wurde der bisherige provisorische durch einen neuen Bezirkssprecherrat ersetzt. Die Beschlüsse der Versammlung machten deutlich, dass es im Neuen Forum weniger um die künftige politische Ausrichtung ging, als vielmehr um aktuelle Auseinandersetzungen. Themen waren die Auflösung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit, die Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch oder die Arbeit der Volkspolizei und der Räte der Kreise. Für die kommenden Wahlen wurde ein Bündnis der neuen Kräfte angestrebt.336 Anders als in Berlin gab es auch im Neuen Forum des Bezirkes eine Mehrheit für die Wieder vereinigung. Der Sprecherrat des Neuen Forums im VEB Sachsenring forderte, die Einheit Deutschlands „mit Ruhe“ anzugehen und mehr als in Berlin „auf die Leute an der Basis ( zu ) hören“.337 In Zschopau wurde auf einer Podiumsdiskussion die Wieder vereinigung über eine Vertragsgemeinschaft begrüßt.338 Das Neue Forum Crottendorf verlangte, die Vereinigung Deutschlands in einer sozialen Demokratie langfristig vorzubereiten, so dass man sich als gleichberechtigte Partner gegenüberstehen könne.339 Es gab aber auch Stimmen, die, wie in Freiberg, eher auf einen „Umbau der sozialistischen Gesellschaft“ durch freie Wahlen und Parteien setzten.340 Ungeachtet aller regionalen Unterschiede im Bezirk war das Neue Forum aber auch hier wie in den Nachbarbezirken mit der Tatsache konfrontiert, dass viele Bürger die Bürgerbewegung vor allem mit der Berliner Initiativgruppe identifizierten. So hatte sich z. B. das Neue Forum Zwönitz ( Aue ) bei einer Bürgeraussprache mit dem Argument auseinanderzusetzen, „dass sich die links zuneigende Berliner Führung vom Mehrheitswillen des Volkes entfernt“, was sich besonders in der nationalen Frage und der Diskussion zeige, ob das Neue Forum eine Partei werden solle.341 Die Frage einer Parteibildung spielte im Bezirk eine besondere Rolle. Hier hatte es im Kreis Annaberg bereits in der ersten Oktoberhälfte Bestrebungen zur Gründung einer „Forumpartei“ gegeben.342 Am 13. Dezember erging durch Mitglieder im Bezirk ein Aufruf zur Gründung einer „Partei Neues Forum“.343 Auf der Bezirksdelegiertenversammlung am 16. Dezember wurde die Parteigründung kontrovers diskutiert. Die Mehrheit der Delegierten forderte die Ini336 Vgl. Protokoll der Delegiertenversammlung des Neuen Forums des Bezirkes Karl - MarxStadt vom 16. 12. 1989 ( Friedensbibliothek Zwickau ); Neues Forum konstituierte sich im Bezirk Karl - Marx - Stadt zur ersten Bezirksdelegiertenkonferenz, o. D. ( SächsStAC, 126405). 337 Erklärung des Sprecherrates Sachsenring, gez. i. A. Anders, o. D. ( Friedensbibliothek Zwickau ). 338 Vgl. PB Matthias Zwarg ( HAIT, StKa ). 339 Neues Forum Crottendorf stellt sich vor, vom 5. 12. 1989 ( ebd.). 340 Forderungskatalog des Neuen Forums Freiberg vom 6. 12. 1989 ( KA Freiberg, Akten Nr. 444). 341 Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). 342 Vgl. KDfS Annaberg vom 12. 10. 1989 : Neues Forum ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 3078, 2, Bl. 53–57). 343 Gründungsaufruf der Partei Neues Forum. Abgedruckt in Reum / Geißler, Auferstanden, S. 125 f. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 23. 12. 1989.

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tiatoren auf, sich einen anderen Namen zu geben und sprach sich für die Weiterarbeit als Vereinigung mit Übernahme politischer Verantwortung einschließlich der Übernahme von Mandaten in Volksvertretungen aus. 21,7 Prozent der Delegierten plädierten für die Umwandlung in eine Partei.344 Ungeachtet dessen wurde die „Partei Neues Forum“ am 21. Dezember für den Bezirk Karl - Marx - Stadt angemeldet. Im Gründungsaufruf hieß es, das Ziel des Neuen Forums als Demokratische Plattform sei erfüllt, der Demokratisierungsprozess eingeleitet. Nun gehe es um die Wahrnehmung politischer Verantwortung in Form einer Partei. Die Programmpunkte wiesen die neue Partei als eher liberal aus. Gefordert wurde Demokratie, soziale Sicherheit durch eine starke Wirtschaft, Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit auf einem Mindestniveau, Chancengleichheit und Leistungsanerkennung, die „aktive Einbeziehung der fähigsten Kräfte in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“, Rechtsstaatlichkeit, Umweltschutz, weitgehende Selbstständigkeit der Kommunen und Wirtschaftseinheiten, deutsche Einheit auf konföderativer Grundlage sowie Bündnisfreiheit und Abrüstung.345 Am 29. Dezember konstituierte sich in KarlMarx - Stadt der Gründungsausschuss für eine „Deutsche Forumpartei“ ( DFP ). Vorsitzender wurde Jürgen Schmieder.346 Einen Tag später distanzierte sich neben der Berliner Initiativgruppe auch der Landessprecherrat. Die Parteigründung spalte die Bewegung und stärke die SED - PDS. Die Bildung von Neue - Forum - Parteien seien „eigenmächtige Anmaßungen einzelner“. Wer eine Partei gründen wolle, müsse dies außerhalb des Neuen Forums tun, denn das Neue Forum könne als Vereinigung rechtlich keine Partei sein.347 Das Neue Forum im Bezirk veröffentlichte am 30. Dezember einen Programmentwurf samt Statut, in dem die Wiedervereinigung abgelehnt wurde. Ziel sei vielmehr eine Konföderation beider Staaten, in die beide ihre Vorteile einbringen sollten. Die Zweistaatlichkeit Deutschlands stelle „für uns eine Chance demokratischer Selbstver wirklichung“ dar. Wie bei der Berliner Initiativgruppe wurde auch hier die Einbindung der nationalen Entwicklung in globale Prozesse betont. Die Menschheit sei durch einen ökologischen Zusammenbruch, maßlose Aufrüstung und den schwelenden Nord - Süd - Konflikt bedroht. Deutschland sei mitschuldig und mitbetroffen. Deshalb gehe es eher um Fragen der Abrüstung, eine neue solidarische Weltwirtschaftsordnung, den verantwortungsbewussten Umgang mit Wissenschaft und Technik unter Schonung der Ressourcen und Beachtung der sozialen und ökologischen Auswirkungen. Staatlichem Wirken wurde dazu ein Programm entgegengesetzt, „das den 344 Protokoll der Delegiertenversammlung des Neuen Forums des Bezirkes Karl - Marx Stadt vom 16. 12. 1989 ( Friedensbibliothek Zwickau ); Neues Forum konstituierte sich im Bezirk Karl - Marx - Stadt zur ersten Bezirksdelegiertenkonferenz, o. D. ( SächsStAC, 126405). 345 Initiativgruppe Neues Forum an RdB Karl - Marx - Stadt vom 21. 12. 1989 ( ebd., 121520). 346 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 374. 347 Für den Ausschuss des Landessprecherrates : Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Andreas Schönfelder, Reinhard Schult, Luise Schramm, Ilona Weber vom 16. 12. 1989 ( SächsStAC, 126405). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 130.

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Schwerpunkt auf die Mobilisierung des einzelnen und der Basisgruppe setzt, in der jeder den anderen kennt und keine Verantwortung wegdelegiert werden kann. Demokratie ist für uns tägliches Verhalten, nicht nur ein Wahlsystem.“ Deswegen plädiere man dafür, das Neue Forum als Bürgerbewegung und Plattform für alle Bürger zu erhalten, „die den bestehenden Parteien die Durchsetzung einer konsequenten und basisorientierten Demokratisierung nicht zutrauen“ und sich gesellschaftlich engagieren wollten. Im aktuellen politischen Prozess forderte man, dass die Regierung grundsätzliche politische und wirtschaftliche Entscheidungen nur noch nach Konsultation und Zustimmung der Oppositionsgruppen treffen dürfe. Es müsse eine neue Verfassung der DDR geschaffen und müssten Kommunalwahlen noch vor der Volkskammer wahl durchgeführt sowie rechtliche Grundlagen zur Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in die Arbeit kommunaler Parlamente geschaffen werden. Dazu gehöre auch die Anerkennung der Bürgerräte in Städten und Gemeinden, die sich gebildet haben. Das Neue Forum werde dafür kämpfen, dass es, auch ohne sich zur Partei zu bilden, zur Wahl zugelassen werde.348 Bezirk Leipzig : Nachdem das Neue Forum im Bezirk Leipzig besonders auch in den Betrieben viele Anhänger fand, wo es sich meist für Wiedervereinigung aussprach,349 sank das Interesse am Neuen Forum im Laufe des Dezembers. Versammlungen wie in Grimma am 28. Dezember lockten kaum noch Teilnehmer an.350 Auch hier war die programmatische Anpassung an die Positionen der Berliner Initiativgruppe für den Rückgang verantwortlich. Ablehnungen der Wiedervereinigung,351 Demonstrationen des Neuen Forums und Losungen wie „Lasst Euch nicht BeeRDigen“ und „Lieber links mühen, statt rechts zittern“, wie in Delitzsch, waren nicht das, was die meisten Menschen wollten.352 Auch der Streit um die Frage Partei oder Bürgerbewegung wie beim Neuen Forum Altenburg,353 Leipzig - Grünau354 oder in Wurzen sorgte dafür, dass das „Vertrauen zu schwinden“ begann.355 Auch ungewohnte Aufforderungen wie die des Neuen Forums in Torgau, dass Erneuerung bei jedem selbst beginne und „selbstständiges Handeln ohne Anweisung gefragt“ sei, mehrten die Zahl der Anhänger nicht.356 Die Bevölkerung orientierte eher auf repräsentativ - demokratische 348 Programmerklärung des Neuen Forums des Bezirkes Karl - Marx - Stadt ( Entwurf ) vom 30. 12. 1989 ( SächsStAC, 126405). 349 Vgl. SED - KL Leipzig - Nordost vom 6. 12. 1989 : Info ( SächsStAL, SED Leipzig, 891, Bl. 204–206). 350 Vgl. R. Scheibner, Chronologie der Wende. In : Info - Blatt Nr. 9 vom 6. 1. 1990 ( HAIT, StKa ). 351 Wendepunkt. Rundschreiben des Neuen Forums des Kreises Torgau, Nr. 2 von Dezember 1989 ( HAIT, Torgau ). 352 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 19. 12. 1989. 353 Vgl. Klartext 2 vom 20. 12. 1989. 354 Neues Forum, Regionalzentrum Leipzig - Grünau vom 4. 12. 1989 : Unsere Existenz ist bedroht ! ( ABL, H. XIX /1). 355 Koordinationsgruppe Neues Forum Wurzen vom 8. 12. 1989 : Positionsbestimmung (ebd.). 356 Wendepunkt. Rundschreiben des Neuen Forums des Kreises Torgau, Nr. 1 von Dezember 1989 ( HAIT, Torgau ).

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Strukturen. Wegen des Unwillens, sich zur Partei zu wandeln, begann in Delitzsch sogar noch vor Weihnachten die Auflösung des Neuen Forums.357 3.9

Gründungsparteitag des Demokratischen Aufbruchs (16. /17.12.) und Bildung neuer liberal - konservativer Parteien

Die neuen politischen Kräfte sahen Anfang Dezember Probleme, nach der Macht zu greifen. Ihre teilweise sozialistischen Ausrichtungen ließen es ihnen sinnvoll erscheinen, die Entwicklung gemeinsam mit den sozialistischen Reformkräften der SED an Runden Tischen oder in Bürgerkomitees zu lenken. Baldige Wahlen sahen sie als „verhängnisvoll für unser Land“ an,358 da die Oppositionsgruppen ihren Klärungs - und Profilierungsprozess noch nicht abgeschlossen hätten und ihre materielle Ausstattung für den Wahlkampf unzureichend sei. An einzelnen Orten gab es, wie z. B. in Werdau, Initiativen zum „zeitlich begrenzten Zusammenschluss aller Bürgerbewegungen“.359 In Leipzig wurde Ende Dezember zu einem Wahlbündnis der neuen politischen Kräfte mit den bisherigen Blockparteien aufgerufen, um so die völlige Entmachtung der SED bei den kommenden Wahlen zu sichern.360 Mehr politische Wirksamkeit entwickelte eine Initiative neuer politischer Gruppierungen, sich zum „Wahlbündnis 90“ zusammenzuschließen.361 Konrad Weiß erklärte, damit wolle man nicht nur gegen die SED antreten, sondern auch gegen die CDU, die sich „durch ihre nationalistischen und nationalen Tendenzen zu sehr im Aufwind“ befinde.362 Die neuen Gruppierungen hatten das Problem, dass sie alle ähnliche Positionen vertraten, die aber nicht von relevanten Bevölkerungsgruppen geteilt wurden. Inzwischen begannen die bisherigen Blockparteien, allen voran die CDU, sich unter westlicher Anleitung als deren Sprachrohr zu profilieren und von sozialistischen Positionen zu verabschieden. In dieser Situation setzte sich der Mitbegründer des DA, Rainer Eppelmann, der selbst gerade noch für eine sozialistische Entwicklung plädiert hatte, dafür ein, den DA gegen den Widerstand des starken linken Flügels als Sammelbecken für die Bevölkerungsgruppen wählbar zu machen, die auf den Demonstrationen mit Plakaten wie „Nie wieder Sozialismus“ auf sich aufmerksam machten. Dieses Bemühen wurde von west-

357 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( StV Delitzsch, Museum Schloss Delitzsch ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 28. 12. 1989. 358 Leipziger Volkszeitung vom 21. 12. 1989. 359 Georg Meusel, Wunde Punkte – Wendepunkte ( HAIT, Werdau ). Vgl. Flugschrift : Der Demokratische Aufbruch und Demokratie jetzt in Magdeburg haben ein Arbeits - und Aktionsbündnis geschlossen, o. D. ( PB Gerhard Ruden ). 360 Für ein Wahlbündnis aller demokratischen Kräfte der Mitte in der DDR, gez. Volkmar Munder, Gunter Böhnke, Leipzig vom 31. 12. 1989 ( ABL, H. I ). 361 Vgl. Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 318. 362 Interview mit Konrad Weiß. In : taz vom 5. 1. 1990.

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lichen Parteien honoriert. Der DA wurde schnell zum beliebten Ansprechpartner der Bonner Parteiprominenz. Von den bisherigen neuen Bürgerbewegungen wechselte der DA als erste ins nichtsozialistische Parteienlager und konstituierte sich auf einem Gründungsparteitag am 16./17. Dezember in Leipzig zur Partei „Demokratischer Aufbruch – sozial und ökologisch“.363 In Anwesenheit bundesdeutscher Politiker (Norbert Blüm CDU, Rita Süssmuth CDU, Herta Däubler - Gmelin SPD, Gert Weiskirchen SPD, Tobias Pflüger Die Grünen, Erwin Huber CSU und Hans Dietrich Genscher FDP )364 rief der Leipziger Bezirksvorsitzende der CDU, Rolf Rau, zur Einheit der politischen Mitte auf und erklärte die Bereitschaft der CDU zur Zusammenarbeit.365 In einer Kampfabstimmung setzte sich Wolfgang Schnur durch und wurde Parteivorsitzender. In seiner Dankesrede bezeichnete er sich als „Vertreter einer Spannbreite, die sozialdemokratisch, sozialistisch, christlich und sozialökologisch denkt und handelt“. Tatsächlich bearbeitete Schnur diese Spannbreite als Mitarbeiter der Staatssicherheit und lieferte noch in der Nacht einen ausführlichen Bericht an das AfNS. Durch die Bespitzelung im Auftrag der Modrow - Regierung war man hier genau über Interna aus den nur angeblich gleichberechtigten Parteien und Bürgergruppen informiert.366 Überraschend votierten die Delegierten gegen Eppelmann als Pressesprecher, nachdem er kurz zuvor den Rücktritt der Regierung Modrow und die Bildung einer Übergangsregierung gefordert hatte. Die Leipziger Delegierten wiesen dies mit Bestürzung zurück. Nichts wäre derzeit gefährlicher, so hieß es aus Leipzig, als die relativ stabile Regierung Modrow zu demontieren.367 Anders als in ersten Grundsatzerklärungen vom Oktober und November dominierten auf dem Gründungsparteitag Vorstellungen einer sozialen Marktwirtschaft und der Einheit Deutschlands. Vorangegangen waren heftige Richtungskämpfe. Mitgliederstarke Gruppen aus Thüringen und Dresden setzten sich dabei gegen Gruppen aus Leipzig, Halle und Berlin durch, die ein alternatives Konzept zu Marktund Planwirtschaft befürworteten. Friedrich Schorlemmer bekundete deswegen bereits während des Parteitages seine Absicht, den DA zu verlassen.368 Der „linke“ Flügel um Christiane Ziller und Friedrich Schorlemmer trat kurze Zeit später aus dem DA aus.369 Im „Leipziger Programm“ tauchte der Begriff „Sozialismus“ nicht mehr auf.370 Meckel erklärte, der DA habe ein sozialdemokratisches 363 Unterlagen des Parteitages, o. D. ( ABL, H. IV, Demokratischer Aufbruch ); Statut des DA, o. D. ( Archiv Bürgerkomitee Sachsen - Anhalt, Neue Bewegungen, Wende ’89). Vgl. Neubert, Der Demokratische Aufbruch, S. 549–551. 364 Vgl. Informationen des BMB 1 vom 12. 1. 1990, S. 13–15. 365 Vgl. Von Leipzig, S. 41. 366 Vgl. Kögler, Von der Wende, S. 53. 367 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 18. 12. 1989. 368 Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 40 f. 369 Vgl. Interview mit Friedrich Schorlemmer. In : DA, 23 (1990), S. 1936 f. 370 Programm des Demokratischen Aufbruchs – sozial + ökologisch. Beschlossen auf dem Gründungsparteitag in Leipzig am 17. 12. 1989. Abgedruckt in Dokumentation zur Entwicklung der neuen Parteien, S. 118–129.

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Programm. Es wäre sinnvoll, schnell Vereinigungsverhandlungen mit der SPD aufzunehmen, um nicht die gemeinsame Klientel zu spalten.371 Im DA wurde der weitere Weg nach dem Parteitag heftig diskutiert. Auf einer Vorstandssitzung Ende Dezember sah Sonja Schröter ( Leipzig ) die „rot - grünen Ideen“ des DA verraten und beantragte eine Umorientierung von der CDU zur SPD. Andere Mitglieder verwahrten sich dagegen, den DA als „rot - grün“ zu bezeichnen. Edelbert Richter sah den DA in einem „objektiven Zwang als Partner von CDU aus Finanzgründen“ und plädierte ebenfalls für Kontakte zur SDP und zur SPD. Er berichtete, die Suhler DA - Gruppe sei geschlossen zur SDP übergetreten. Auch Erhart Neubert plädierte für ein Wahlbündnis mit der SDP. Günter Nooke wandte sich ebenfalls dagegen, bevorzugter CDU - Partner zu werden. Schnur verwahrte sich jedoch gegen die Ausrichtung des DA in Richtung rot - grün und plädierte für „Kontakte mit allen“, wahrscheinlich um den DA so im Auftrag des AfNS zu schwächen. Die Debatte über die Partnersuche verlief dadurch kontrovers und ohne Ergebnis.372 Die weiterhin sozialistische oder basisdemokratische Ausrichtung vieler Bürgergruppen sowie die nur bedächtige Art der Führungen der Blockparteien, sich vom ideologischen Ballast sozialistischer Indoktrination zu lösen und die christliche, konservative oder liberale Wählerklientel zu bedienen, führte ab Dezember vor allem im Süden der DDR zu einer Gründungswelle neuer politischer Parteien. Vor allem die zunächst noch sozialistische Ausrichtung der Führung unter de Maizère und von Teilen der Mitglieder der Ost - CDU führte nicht nur dazu, dass sich die West - CDU weigerte, die Ost - CDU als Schwesterorganisation zu akzeptieren. Sie provozierte die Bildung neuer Parteien, die sich mehrheitlich an der CDU / CSU orientierten und sich als „neue Union“ verstanden. Sie gingen oft aus dem Neuen Forum oder anderen Bürgerinitiativen hervor, lehnten die linksorientierten Oppositionsgruppen aber ebenso ab wie die Blockparteien und verstanden sich oft von Anfang an als DDR - Ableger bundesdeutscher Parteien. Sie stellten für die SED - PDS und anderen sozialistischen Kräfte insofern eine Provokation dar, als sie den angestrebten demokratischen Sozialismus offen in Frage stellten. Nicht umsonst stellte sich bei ihrer Gründung die Frage, ob ihnen „im gegenwärtigen Demokratisierungsprozess überhaupt ein Platz eingeräumt wird“.373 Vertreter der Linken wie Erhart Neubert sprachen in ihrem Zusammenhang von „bisherigen Opportunisten und sehr spät Aufgebrochenen“374 und übersahen dabei, dass liberal - konservative Parteien im besonderen Maße der Gefahr einer Kriminalisierung durch die SED und linke Bürgerbewegungen ausgesetzt waren. Insofern kam es ihnen entgegen, dass seit Mitte

371 Vgl. Inter view mit Markus Meckel. In : Herzberg / Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang, S. 123. 372 DA, Protokoll der Vorstandssitzung am 28. 12. 1989 ( ACDP, Demokratischer Aufbruch). 373 Mechtenberg, Von den informellen Gruppen, S. 340. 374 Neubert, Die Revolution, S. 41.

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Dezember auch die Ost - CDU, deren zögerliche Haltung selbst ein Grund der Bildung neuer Parteien war, auf diesen Kurs umschwenkte.375 Volksunion Sachsen : In Dresden hatte sich im Oktober 1989 um den Zahntechniker Norbert Koch eine „Volksunion Sachsen“ ( VUS ) gebildet, die sich frühzeitig für die deutsche Einheit einsetzte.376 Christlich - Soziale Partei Deutschlands ( CSPD ) : Bereits am 7. Dezember gründeten Pfarrer Hans Wilhelm Ebeling und Rechtsanwalt Peter - Michael Diestel in Leipzig die „Christlich - Soziale Partei Deutschlands“ ( CSPD ). Ihr Vorsitzender, Ebeling, bezeichnete die CSDP als „nachgeborenen Zwilling“ der CSU und als Schwesterpartei von CSU und CDU in der Bundesrepublik.377 Im Deutschlandfunk erklärte er, die CSPD unterstütze den Zehn - Punkte - Plan Kohls. Ziel seiner Partei seien die Verhinderung einer Neuauflage des Sozialismus, Marktwirtschaft und die Einheit der Nation.378 Bereits am 15. Dezember berieten beide mit den bayerischen CSU - Politikern Max Streibl, Erwin Huber, Jürgen Warnke und dem Geschäftsführer der Hanns - Seidel - Stiftung, Otto Wiesheu, über den Ausbau der Kontakte.379 Anders als in der Bonner CDU - Führung lehnte man in der CSU Kontakte zur Ost - CDU generell ab und setzte auf die Bildung neuer, der Union nahestehender Parteien. Christlich - Soziale Union ( CSU ) : Bereits im November wurde der erste Ortsverband der CSU in der DDR gegründet.380 Nach Erkenntnissen des MfS plante der Chefredakteur der Zeitschrift „DDR heute“ mit Vertretern einer Leipziger Initiativgruppe die Bildung einer „CSU - Sachsen“ mit dem Ziel, eine „sächsischbayerische Bruderpartei“ zu schaffen.381 Ende Dezember gab es in der bayerischen CSU Überlegungen, über eine Unterstützung konservativer Parteien in Sachsen und Thüringen zu einer späteren Ausdehnung über die ganze DDR und nach der Vereinigung in ganz Deutschland zu kommen.382 Unterstützt wurden diese Ideen vor allem von Edmund Stoiber und Peter Gauweiler. Später wurde dementiert, dabei an eine Ausdehnung der CSU gedacht zu haben, hätte dies doch den Einzug der CDU in Bayern und den Verlust des bayerischen Lokalkolorits der CSU bedeutet.383 Im Dezember kam es in Auerbach zum Versuch der Gründung einer Partei aus CDU und CSU mit dem Namen „Christliche Deutsche Soziale Union“ ( CDSU ). Diese Partei hatte keinen Bestand, ihre Gründer nahmen aber am 20. Januar in Leipzig an der Gründung der DSU teil.384 375 Vgl. Müller, Die Konziliare Bewegung, S. 60. 376 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 365–370. 377 Aufruf der CSPD ( SLUB, 1 D 145 Mappe CSPD, Christliche Liga, FVP, Gewerkschaft). Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 50. Vgl. Weilemann, Parteien, S. 33. 378 DLF vom 15. 12. 1989. 379 Vgl. Jäger / Walter, Die Allianz, S. 153. 380 Vgl. Welt am Sonntag vom 24. 6. 1990. 381 BAfNS Leipzig vom 27. 11. 1989 : Neue Aktivitäten des Chefredakteurs der DDR - feindlichen Zeitschrift „DDR heute“ ( BStU, ASt. Leipzig, XX 1904, Bl. 10). 382 Vgl. Der Spiegel vom 1. 1. 1990; Leersch, Die CSU, S. 24. 383 Vgl. Werner Kaltefleiter. In : Münchner Merkur vom 28. 6. 1990. 384 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 120.

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Freie Demokratische Partei ( FDP ) : Ende Dezember bildete sich in Ost - Berlin ein Gründungsausschuss für eine „Freie Demokratische Partei“ ( FDP ). In einem Gründungsaufruf und einem vorläufigen Programm hieß es, die FDP verstehe sich als Kraft der Mitte und trete gegen totalitäre und diktatorische Bestrebungen für eine moderne und ideologiefreie Politik ein.385 3.10 Zweite Sitzung des Zentralen Runden Tisches (18.12.) Am 18. Dezember ging es bei der zweiten Tagung des Zentralen Runden Tisches u. a. um die Frage der Berechtigung zur Teilnahme. Über eine demokratische Legitimierung verfügten weder die Parteien und Gruppierungen, die bereits am Runden Tisch saßen, noch die, die eine Teilnahme anstrebten. Die bereits am Tisch Versammelten entschieden nach Gutdünken, wen sie für geeignet hielten. Wenige Chancen hatten Massenorganisationen. Wichtig war die Wahrung der Parität zwischen alten und neuen politischen Kräften, ebenso bedeutend war die politische Ausrichtung. So wurde den wichtigen neuen Parteien „Deutsche Forumpartei“ ( DFP ) und später auch der „Deutschen Sozialen Union“ ( DSU ) eine Teilnahme verweigert. Beteiligen durfte sich dagegen die „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe“ ( VdgB ). Den Beobachterstatus erhielten die FDJ, der DFD, der DKB, der Konsum, eine katholische Laienbewegung und die Volkssolidarität Berlin - Treptow. Die FDJ griff die Teilnehmer des Runden Tisches an, weil sie nicht direkt beteiligt wurde.386 Bis zur Auf lösung saßen sich nun alte und neue Parteien und Gruppen mit je 19 Vertretern gegenüber, was bis in den Januar tatsächlich ein Gegenüber von neuen und alten Kräften bedeutete.387 Durch die Neuausrichtung der Blockparteien und Massenorganisationen kam es dann zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Die Teilnehmer bildeten Arbeitsgruppen und verabschiedeten eine Stellungnahme zum bevorstehenden Besuch Helmut Kohls in Dresden.388 Die Erklärung, die in Diktion und Tendenz die bisherige SED - Politik fortsetzte, rechtfertigte die Existenz der DDR mit der Stabilität der Nachkriegsordnung und vertrat bruchlos die bisherige Staatspolitik der SED. Von einer staatlichen Einheit Deutschlands wurde nicht gesprochen. Stattdessen wurde die Perspektive des Verhältnisses beider Staaten in der gesamteuropäischen Entwicklung in Richtung der Überwindung der Teilung Europas eingeordnet. Die Übertragung der von der SED übernommenen „Friedensrhetorik“ stellte eine „anachronistische Absurdität“ dar, die mit dem 385 Programmatische Erklärung der F.D.P. von Dezember 1989. Vgl. Fieber / Preußler (Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 60; Neues Deutschland vom 5. 1. 1990. 386 Beschlüsse der 2. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 18. 12. 1989 ( BArch Berlin, A - 3 2, Bl. 1–5). Abgedruckt in Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 27–31. Vgl. Neues Deutschland vom 19. 12. 1989; Junge Welt vom 20. 12. 1989; Vgl. Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 78. 387 Vgl. Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 66. 388 Stellungnahme des Runden Tisches zum Besuch von BRD - Kanzler Helmut Kohl, o. D. ( ABL, DZ 15. Januar, 171505).

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Satz „Von deutschem Boden darf heute keine Destabilisierung für Europa und damit die Welt ausgehen“, die politische Unbedarftheit der Beteiligten zeigte.389 Der Runde Tisch gab seine Absicht bekannt, bald mit Modrow über die Zusammenarbeit des Runden Tisches mit der Regierung zu beraten.390 Das Neue Forum erklärte dazu, da die Regierung nicht legitimiert sei, müsse sie zur Übergangsregierung erklärt werden. Als solche sei sie nicht berechtigt, das Land vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Regierung Modrow missbrauche die Unorganisiertheit der Opposition, um ohne Kontrolle ihre Ziele durchzusetzen. Das Neue Forum forderte daher ein Kontroll - und Vetorecht des Runden Tisches und die Kontrolle der Regierung durch die Teilnahme von Vertretern der Oppositionskräfte an den Sitzungen des Ministerrates,391 was vom Stellvertretenden Ministerpräsidenten Lothar de Maizière als „Entmündigung der Regierung“392 und mit der Begründung zurückgewiesen wurde, der Runde Tisch verfüge ebenfalls über keine demokratische Legitimation. Tatsächlich hätte ein Vetorecht in die „volle und augenblicklich einzugehende Verantwortung des Runden Tisches für die Geschicke der DDR“ münden müssen.393 Das Neue Forum zog seine Veto - Forderung jedoch zurück und gab der Modrow - Regierung somit weiterhin die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Politik der staatlichen Beeinflussung der revolutionären Entwicklung. Mit dieser Entscheidung stellte der Zentrale Runde Tisch zugleich die Weichen in Richtung einer Entfremdung des Gremiums von der breiten Volksbewegung für den Sturz des SED - Regimes und für die deutsche Einheit. Regierung unterstützt Runde Tische und neue Gruppierungen (21.12.) Ziel der Regierung war es, die staatliche Tätigkeit so lange als möglich unbehelligt von Einflüssen der neuen Kräfte durchführen zu können und diese in Gremien wie Bürgerkomitees, Volksvertretungen und Runde Tische abzudrängen. Hier waren sie für die SED - PDS durch ihre eigene Beteiligung kontrollierbar, und aus Sicht der Bevölkerung verwischte sich der Unterschied zwischen bisherigen systemtragenden Kräften und neuen politischen Gruppierungen. Andererseits waren die neuen Gruppierungen mit ihren teilweise reformsozialistischen Vorstellungen für die Regierung, genauso wie die sie vor allem tragende SED PDS, unerlässlich zur Durchsetzung ihrer Interessen. Angesichts der wachsenden Forderungen nach deutscher Einheit konnte man es sich nicht leisten, die Bürgerbewegungen, die der deutschen Einheit ebenfalls teilweise skeptisch gegenüberstanden, zu verärgern. Daher beschloss das Präsidium der Volkskam389 Rühl, Zeitenwende, S. 354 f. 390 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 100–105. 391 Standpunkte des Neuen Forums für den Runden Tisch vom 18. 12. 1989 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). 392 FAZ vom 29. 12. 1989. 393 Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wer war das Volk ? 2, S. 260.

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mer am 20. Dezember, dem Zentralen Runden Tisch vorzuschlagen, jeweils einen Vertreter der neuen Gruppierungen und Parteien in die Diskussion grundlegender Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen einzubeziehen.394 Auch in den Regionen diente die Einbeziehung der neuen Gruppierungen in die Arbeit der Volksvertretungen dem Ziel, diese und die Räte weiterhin am politischen Prozess zu beteiligen.395 Vor allem Modrow erkannte in den neuen Gruppen immer deutlicher mögliche Bündnispartner einer künftigen demokratisch - sozialistischen Ordnung in der DDR. Die Regierung beschloss daher am 21. Dezember weitgehende Maßnahmen zur Unterstützung neuer Gruppen und Runder Tische aller Ebenen. Diese wurden noch am selben Tag von den Räten der Bezirken umgesetzt und an die nachgeordneten Staatsorgane weitergereicht. Die Räte stellten nun für Treffen an Runden Tischen Räume zur Verfügung. Neue Parteien und politische Gruppen erhielten Pkws, ihre Vertreter wurden für die Teilnahme an den Runden Tischen von beruf licher Tätigkeit freigestellt und erhielten Aufwandsentschädigungen sowie Lohausgleichszahlungen. Ihnen standen Papierkontingente, Druckkapazitäten und Lizenzierungen sowie das Recht auf eigene Publikationen zu. Für Druckerzeugnisse wie Broschüren, Plakate, Handzettel u. ä. waren keine Genehmigungen mehr erforderlich. Die Post stellte ihnen Fernsprech - , Telex - und Fernkopieranschlüsse zur Verfügung.396 Unverhohlenes Ziel der Regierung war der Erhalt der sozialistischen Staatlichkeit durch Einbeziehung neuer politischer Kräfte. Ergänzt wurde der Beschluss durch eine am selben Tag verabschiedete zeitweilige Ordnung für die Tätigkeit der Bürgerkomitees und deren Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen.397 Hintergrund war die Tatsache, dass sich vor allem im Zusammenhang mit der Besetzung der Dienststellen des MfS / AfNS, zur Überprüfung von Korruption und Amtsmissbrauch, aber auch zur allgemeinen Durchsetzung von Bürgerinteressen überall spontan Bürgerkomitees gebildet hatten, die sich der Kontrolle des Staates weitgehend entzogen. Oft waren Funktionäre explizit von einer Mitwirkung ausgeschlossen.398 Daher zielten Vorschläge wie der des Kreisvorstandes der SED - PDS Leipzig darauf, Bürgerkomitee zu öffentlichen, für alle Bürger zugängliche Foren ohne Statut und Geschäftsordnung zu wandeln, die sich „niemals gegen einzelne Bürger richten bzw. zu deren Ausgrenzung führen“ dürften. Hier müssten „alle gleichberechtigt“ mitarbeiten. Als politische Ausrichtung diente der bisherige ideologische Schlag394 Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 3, S. 116. 395 SED - KL Leipzig vom 18. 12. 1989 ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 13). 396 Beschluss des Ministerrates der DDR 7.1/1.b /89 vom 21. 12. 1989 zur Unterstützung der Arbeit des Runden Tisches ( BArch Berlin, C 20 I /3–2882, Bl. 76–84). Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 156–163. 397 Protokoll der außerordentlichen (5.) Sitzung des Ministerrates der DDR vom 21. 12. 1989 ( ebd. 2878, Bl. 1–11). 398 Vgl. SED - KL Schmölln vom 4. 12. 1989 : Lage ( SächsStAL, SED Leipzig, 889, Bl. 153 f.); Schlegelmilch, Die politische Wende, S. 143; Wolfgang Ebert, Stadtchronik Wurzen 1989, S. 22 ( HAIT, StKa ); BGL - Vorsitzender der VEB Werkzeugmaschinenfabrik an RdS Johanngeorgenstadt vom 19. 12. 1989 ( PB Dieter Vollert ).

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wortkatalog der SED wie „Antifaschismus“, „Frieden“, „Humanismus“ und „Demokratie“.399 Ende Dezember hatte sich der Aufstand gegen die SED auf zwei Ebenen aufgespalten : Die protestierende Bevölkerung forderte auf Demonstrationen und bei Kundgebungen die endgültige Entmachtung der SED und die baldige deutsche Einheit. Am Runden Tisch beschloss die Mehrheit, eine domestizierte SED solle bis zu freien Wahlen weiter die Staatsgeschäfte führen. Dieses Abbremsen des revolutionären Elans durch den Zentralen Runden Tisch eröffnete der SEDPDS und der Regierung Modrow einmalige Chancen politischer Gestaltung. 3.11 Nationale und internationale Handlungsebene Treffen Kohl - Modrow in Dresden : Vertragsgemeinschaft oder Konföderation (19.12.) Am 19./20. Dezember traf sich Bundeskanzler Kohl mit Ministerpräsident Modrow in Dresden. Der Ort war auf Bitte der Bundesregierung festgelegt worden. Während Kohl sich weigerte, Modrow in Ost - Berlin zu treffen, kam Leipzig für Modrow nicht in Frage.400 Zwei Tage zuvor hatte Modrow von der Bundesregierung gefordert, die DDR sofort finanziell zu unterstützen und davor gewarnt, seine Regierung durch die Verzögerung von Hilfen zu schwächen.401 Nach eigenem Bekunden erwartete Modrow von vornherein keine gute Zusammenarbeit mit Kohl, was auch an seinen ideologischen Scheuklappen lag : „Ich lebte damals noch mit einem klassenmäßigen Denken.“402 Der Besuch wurde flankiert vom Auftritt anderer Politgrößen aus Bonn. Am 17. Dezember bekannte sich Bundesaußenminister Genscher auf dem Marktplatz von Halle zur deutschen Einheit in einer europäischen Friedensordnung und machte die weitere Entwicklung in Deutschland vom Votum der Deutschen in der DDR abhängig.403 Parallel zum Kohl - Besuch sprach Willy Brandt am 19. Dezember bei einer Kundgebung der SDP in Magdeburg. Beim Treffen mit Kohl äußerte sich Modrow besorgt. Die Diskussion über die Wieder vereinigung nehme exzentrische Züge an, es würden Gewalttätigkeiten drohen. Er beklagte sich über die bundesdeutsche Einmischung und forderte von der Bundesrepublik zugleich einen „Lastenausgleich“ in Höhe von fünfzehn Mrd. D - Mark für 1990/91, was Kohl ablehnte.404 Vereinbart wurde jedoch ein Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft mit dem Ziel 399 SED - KL Leipzig vom 28. 12. 1989 : Positionspapier des Bürgerkomitees ( SächsStAL, SED - KL, 1815, Bl. 36–40). 400 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 96. 401 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 18. 12. 1989. 402 Interview mit Hans Modrow. In : Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden, vom 26./27. 1. 2008. 403 Rede in Halle, Marktkirche, vom 17. 12. 1989. In : Genscher, Zukunftsverantwortung, S. 117. 404 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 88 f.

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einer Vertragsgemeinschaft. In einer gemeinsamen Erklärung hieß es, beide seien sich einig gewesen, „dass diese Beziehungen untrennbar mit den West - Ost Beziehungen verknüpft und in den gesamteuropäischen Prozess eingebettet sind“.405 Die von Modrow bereits in seiner Regierungserklärung vorgeschlagene Vertragsgemeinschaft diente nach seiner Vorstellung der Rekonsolidierung der DDR um den Preis einer Öffnung zur Bundesrepublik. Nach dem Vorbild eines Staatenbundes sollten gemeinsame Institutionen eine lockere Klammer bilden. Hinter dem Konzept Modrows stand Gorbatschow, der auf diese Weise fundamentalen Veränderungen im Zentrum Europas gegensteuern wollte. Modrow vertrat mit dem Konzept der Vertragsgemeinschaft „die erste der drei nacheinander eingenommenen Positionen Gorbatschows für eine Regelung der deutschen Frage : Erhaltung des territorialen Status quo in Deutschland durch Festigung der DDR mit Hilfe der Bundesrepublik und der westlichen Mächte“. Modrows Vertragsgemeinschaft öffnete zwar langfristige Perspektiven für die deutsche Einheit, diente aber aktuell der Zementierung der staatlichen Teilung. Grundlage des Konzepts war die Anerkennung eines eigenen, reformsozialistischen Weges der DDR. Hier aber lag die Schwachstelle des Konzepts. Angesichts von Massenflucht und Einheitsforderungen entsprach es nicht mehr den politischen Gegebenheiten. Der Prozess der Demokratisierung und daraus resultierend der Drang nach Wiedervereinigung war auf diese Weise kaum aufzuhalten.406 Kohl ging zwar auf Modrows „Vertragsgemeinschaft“ ein, gab dem Konzept aber die Dimension einer künftigen staatlichen Wiedervereinigung, ohne dafür freilich einen strukturierten Wieder vereinigungsplan vorzulegen. Beide Regierungschefs gaben bekannt, dass Westdeutsche und -Berliner ab dem 24. Dezember ohne Visum und Mindestumtausch in die DDR und nach Ost - Berlin reisen könnten. Bis dahin sollten auch alle politischen Gefangenen entlassen werden. Ab dem 1. Januar 1990 gelte ein offizieller Umtauschsatz von 1: 3. Nach dem Treffen mit Modrow sprach Kohl vor etwa 100 000 Menschen an der Ruine der Frauenkirche. Er bedankte sich für die friedliche Revolution. „Wir erleben“, so der Kanzler, „dass eine solche Umwälzung sich zum ersten Mal in der deutschen Geschichte so gewaltlos, mit so großem Ernst und im Geist der Solidarität vollzieht.“ Sein Ziel bleibe „– wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation“. Kohl : „Ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können, und dass diese Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten.“407 Die Bevölkerung bereitete dem Bundeskanzler einen triumphalen Empfang. Bei der Kundgebung wurden zahlreiche schwarz - rot - goldene Fahnen geschwenkt und die deutsche Einheit gefordert. Die Menge skandierte „Deutschland, Deutschland“, „Helmut, Helmut“ und „Wir sind ein Volk“. Immer wieder wurde Kohl von Applausstürmen, Jubel und Sprechchören unterbrochen. Ein „hochkonzentrierter Kanzler“ formulierte bei seiner Ansprache mit höchster 405 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 20. 12. 1989. 406 Vgl. Rühl, Zeitenwende, S. 338 f. 407 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 22. 12. 1989.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Bild 59: Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl vor der Frauenkirche in Dresden.

Bild 60: Beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden.

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diplomatischer Vorsicht. Wiederholt benutzte er Begriffe wie Geduld, Besonnenheit und Augenmaß. Deutlich war das Ziel erkennbar, die nationalen Emotionen nicht zusätzlich anzuheizen. Schon die Anrede „Landsleute“ reichte aus, „um einen Ozean schwarzrotgoldener Fahnen in stürmische Aufwallung zu versetzen“.408 Dagegen weckte der Begriff Europa keine Emotionen. Der Kanzler beendete seine Ansprache mit den Worten : „Gott segne unser deutsches Vaterland“. Dabei war er emotional so bewegt, dass er den Satz nur mit Mühe aussprechen konnte.409 Am Rande der Kundgebung kam es zu Protesten gegen eine Kundgebung von sieben Volkspolizisten in Zivil, die mit DDR - Fahnen gegen die Kohl - Visite protestierten.410 Am 20. Dezember empfing der Kanzler Bischöfe und Vertreter der Opposition, weigerte sich aber, mit dem Vorsitzenden der OstCDU, de Maizière, zusammenzutreffen.411 Der Besuch Helmut Kohls bestimmte von nun an die Diskussionen. „Erschreckend wurde“ in der SED - PDS „aufgenommen, wie in Dresden von Bevölkerungsgruppen auf Wiedervereinigung gedrängt wurde“. Das Fehlen entgegengesetzter Haltungen machte hier „mutlos“ und führte zu weiteren Austritten. So erklärten nach dem Besuch sämtliche Genossen der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Sebnitz geschlossen ihren Austritt aus der SED - PDS.412 Für die weitere Entwicklung waren vor allem die sowjetischen Reaktionen wichtig. Vor seinem Besuch in Dresden hatte Ungarns Ministerpräsident Németh Kohl empfohlen, Gorbatschow mit großzügigen Warenlieferungen zu unterstützen. Kohl überlegte, ob er ihm ein befristetes Stillhalteabkommen in der deutschen Frage anbieten sollte.413 Der sowjetische Präsident musste in seiner Deutschlandpolitik die Forderungen systemkonservativer Kreise in der sowjetischen Führung berücksichtigen, deren zentrale Forderung der Erhalt der DDR als sozialistischer Staat und als Mitglied des Warschauer Paktes war. Hier gab es Vorschläge, die Bundesregierung zu umgehen und gesonderte Regelungen mit der SPD zu suchen, um die DDR zu retten.414 So war es wohl auch dem Willen zum eigenen Machterhalt geschuldet, dass Gorbatschow gegenüber Kohl nach dessen Auftritt in Dresden erklärte, er werde alles unternehmen, um eine Einmischung der Bundesregierung in die inneren Angelegenheiten der DDR zu „neutralisieren“. Die DDR sei ein „strategischer Verbündeter“ und Mitglied des Warschauer Vertrages. Daher sei von gewachsenen Realitäten und der Existenz zweier deutscher Staaten auszugehen. Der Brief löste im Bundeskanzleramt zwar „Enttäuschung aus, aber weder Sorge noch Angst“. Hier war man sich darüber im Klaren, dass die Entwicklung zur deutschen Einheit auch von der 408 409 410 411 412

Herles, Nationalrausch, S. 101. Vgl. Klein, Es begann im Kaukasus, S. 163. Vgl. Weber, Alltag, S. 63–65. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 93. SED - KPO Sebnitz vom 21. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555, Bl. 1–3). 413 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 83 f. 414 Nach Aussagen Kwizinskis. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 71.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Bild 61: Beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden.

Bild 62: Beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden.

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UdSSR nicht mehr aufzuhalten war.415 Beim ersten Besuch eines sowjetischen Außenministers bei der NATO in Brüssel warnte auch Schewardnadse vor einer zu schnellen Wiedervereinigung. Es gebe keine Garantie, dass die deutsche Einheit nicht die Sicherheit anderer Länder bedrohe. Für die UdSSR komme ohnehin nur ein neutraler Status Deutschlands in Frage.416 Vor dem Politischen Ausschuss des Europäischen Parlaments bezog Schewardnadse am 19. Dezember Selbstbestimmung nicht auf das deutsche Volk, sondern auf den Staat DDR : „Außerdem versteht sich der Begriff ‚Selbstbestimmung‘ selbst so, dass jeder Druck von außen auf einen Staat ausgeschlossen wird.“417 Hier formulierte er Bedingungen einer deutschen Annäherung.418 Danach dürfte u. a. die deutsche Einheit nicht die Sicherheit anderer Staaten gefährden. Die bestehenden Grenzen und die Bündniszugehörigkeit beider Staaten müssten anerkannt und Deutschland demilitarisiert und neutralisiert werden. Schewardnadse sprach den Wunsch aus, dass ein Gipfeltreffen der KSZE - Staaten Ende 1990 angesichts der komplexen Situation in Europa Lösungen erarbeiten könnte. Vor dem Hintergrund der sowjetischen Positionen formulierte die Modrow - Regierung am 21. Dezember Richtlinien für die DDR - Außenpolitik. Diese war „am Sozialismus orientiert“ und zielte darauf, „die günstigsten äußeren Bedingungen für die Überwindung der Existenz - und Legitimationskrise der DDR für die Erhaltung und Entwicklung der sozialistischen deutschen Alternative zu schaffen“. Dazu gehörte für Modrow die Absicherung der Existenz der DDR als einer Alternative „sowohl zu kapitalistischen als auch zu deformierten sozialistischen gesellschaftlichen Strukturen“. Die Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt wurde als unverzichtbar angesehen, die UdSSR als Hauptverbündeter bezeichnet. Vor diesem Hintergrund wurde eine Konföderation mit der Bundesrepublik „als zweite Macht im Imperialismus“ auf der Grundlage der einheitlichen Nation und strikter Zweistaatlichkeit angestrebt. Eine Vereinigung beider deutscher Staaten war demnach „keine Frage der aktuellen Politik“.419 Modrow nutzte die ihm von den reformsozialistischen Kräften am Zentralen Runden Tisch eingeräumten Möglichkeiten offensiv, um an der Errichtung eines neuen, reformsozialistischen Regimes in einer auch weiterhin eigenständigen DDR zu arbeiten.

415 Teltschik, 329 Tage, S. 85. 416 Vgl. Diemer ( Hg.), Kurze Chronik, S. 136. Später erklärte er, bereits 1989 der Ansicht gewesen zu sein, die DDR müsse der Bundesrepublik angeschlossen und Mitglied der NATO werden. Allerdings hätten er und Gorbatschow, vor allem in öffentlichen Reden, „noch mächtig lavieren“ müssen. Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Der Spiegel vom 13. 4. 1992. 417 Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 69. 418 Prawda vom 20. 12. 1989. Deutsche Übersetzung in Europa - Archiv, 45 (1990) 5, S. D 127–136. 419 Beschluss des Ministerrates 7/2/89 vom 21. 12. 1989 zur konzeptionellen Orientierung zur Umsetzung der Regierungserklärung vom 17. 11. 1989 auf dem Gebiet der Außenpolitik im Prozess der Erneuerung des Sozialismus in der DDR ( BArch Berlin, C 20 I /3–2883).

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Mitterrand in Ost - Berlin (20. /22.12.) Dazu suchte er auch im Westen Verbündete. Noch während Kohl in Dresden weilte, begann der französische Präsident, der Sozialist Francois Mitterrand, nach einem Besuch Gorbatschows in Kiew am 20. Dezember einen Staatsbesuch in Ost - Berlin. Der Chef des Elysée war der erste Staatschef der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, der die DDR besuchte. Hier nannte er das Streben nach Einheit „zuerst eine Angelegenheit der Deutschen, die frei bestimmen sollen, was ihr Schicksal sein soll“. Dabei sei der einzige Weg, der offen stehe, weil es auch eine Angelegenheit der Nachbarn sei, ein demokratischer und friedlicher. Wichtig sei vor allem die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen. Frankreich werde sich einer Vereinigung nicht widersetzen, wenn die Deutschen sie wünschten.420 Zum Abschluss seines Staatsbesuches erklärte er, zwar könne man die Deutschen nicht so behandeln, „als stünden sie unter Vormundschaft“, aber wenn es sich um den Status Europas handele, dann beträfe das auch Frankreich. Daher müsse die französische Regierung darauf achten, „dass kein Ungleichgewicht entsteht, das letztlich in einer Wiederherstellung des Europas der Kriege enden würde“.421 Die Bewertung des Besuches und der französischen Haltung in dieser Phase waren von Anfang an umstritten. Im Bundeskanzleramt war man nicht besonders erfreut, und auch der deutsche Botschafter in Paris, Franz Pfeffer, meinte, es sei offen, ob Frankreich den deutschen Einigungsprozess konstruktiv begleiten oder sich ihm entgegenstellen werde. Es sei zu befürchten, dass die deutschfranzösischen Beziehungen unter Umständen auf längere Sicht belastet würden.422 Ärger löste in Bonn die Erklärung Mitterrands gegenüber Modrow aus, Frankreich sei „bereit zu jedem Vertrag, der für Ihr Land nützlich ist und unseren gegenseitigen Interessen entspricht“.423 Wollte Mitterrand mit seinem Besuch Gorbatschows in Kiew und Modrows in Ost - Berlin die Entwicklung in Deutschland aufhalten oder verzögern ?424 Wollte er „offensichtlich die deutsche Zweistaatlichkeit unterstreichen“425 und die DDR stabilisieren ? Tatsächlich war die französische Diplomatie angesichts der rasanten Entwicklung im Ostblock von „Kurzatmigkeit“ geprägt.426 Auch demonstrierten die Besuche Mitterrands in Kiew und Ost - Berlin eher die Grenzen als die Möglichkeiten französischen Einflusses. Auf bilateraler Ebene hatte die französische Politik kaum Möglich-

420 Vgl. Mitterrand zu Besuch in der DDR. In : Informationen des BMB 1 vom 12. 1. 1990, S. 3. 421 Pressekonferenz des französischen Präsidenten zum Abschluss seines Staatsbesuches in der DDR am 22. 12. 1989. In : Bulletin d’ Informations ( Französische Botschaft in Bonn) Nr. 249 vom 28. 12. 1989. Zit. bei Fritsch - Bournazel, Europa, S. 111. 422 Vgl. FAZ vom 4. 1. 1990; Teltschik, 329 Tage, S. 98. 423 Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 60. 424 Rühl, Zeitenwende, S. 388. 425 Gerlach, Mitverantwortlich, S. 372. 426 Manfrass, Das deutsch - französische Verhältnis, S. 15.

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keiten, die Entwicklung in Deutschland zu beeinflussen.427 Mit der Stärkung der DDR wollte Frankreich wohl kaum die Wieder vereinigung verhindern. Vielmehr wollte man in Paris dafür sorgen, dass sie auf der Grundlage der Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit und bei Wahrung der Interessen der europäischen Mächte einschließlich der Sowjetunion schrittweise erfolgte. An einer Infragestellung der europäischen Nachkriegsordnung durch ein mächtiges Deutschland, das kaum nach den Interessen seiner Nachbarn fragte, war man nicht interessiert. Zwar konnte die Bundesregierung dem Besuch Mitterrands nicht viel abgewinnen, aber auch für Modrows Ziele einer reformsozialistischen DDR hielt sich der Nutzen in Grenzen. Dafür sorgte die protestierende Bevölkerung der DDR, die sich wenig um die internationalen Probleme scherte und weiterhin den Sturz der SED und die deutsche Einheit forderte. Entwicklungen in den „Bruderstaaten“ Schon im Vorfeld der Wende hatte die DDR - Bevölkerung die Entwicklung in den sozialistischen Nachbarstaaten aufmerksam verfolgt. Neben der dominanten Rolle von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion hatte insbesondere die Entwicklung in Polen und Ungarn direkte Auswirkungen auf die DDR. Auch im November und Dezember galt dortigen Entwicklungen ungeteilte Aufmerksamkeit. Polen : In Polen schlug das ZK der PVAP am 6. November vor, den Begriff „Diktatur des Proletariats“ zu eliminieren und die parlamentarische Demokratie als Staatsform zu etablieren. Am 29. Dezember wurde die „führende Rolle“ der PVAP bei einer Gegenstimme aus der Verfassung gestrichen und die Staatsbezeichnung „Republik“ eingeführt. ČSSR: Seit Ende Oktober kam es in Prag und Brünn zu Demonstrationen und Aktionen der Bürgerrechtsbewegung, die in der DDR vereinzelt, wie z. B. in der Kreuzkirche Seifhennersdorf, durch Friedensgebete unterstützt wurden.428 Höhepunkt der „samtenen Revolution“ war eine Kundgebung am 17. November zum Gedenken des 50. Jahrestages der Ermordung des Prager Studenten Jan Opletal durch die deutschen Nationalsozialisten. Hier wurden die Freilassung politischer Häftlinge und das Ende der kommunistischen Herrschaft gefordert. Die Polizei knüppelte die Kundgebung nieder. Dies steigerte die Studentendemonstrationen zum Massenprotest und zum Generalstreik. Die Regierung musste einlenken. Das ZK der KPČ sprach sich am 19. November für den Dialog aus. Am 20. November trat das Politbüro, am 24. November das ZK der KPČ zurück. Überall kam es nun zu Protestaktionen, oft vermittelt durch Studenten, so z. B. am 26. November in Cheb ( Eger ). Die DDR - Bevölkerung verfolgte die Entwicklung beim südlichen Nachbarn aufmerksam. Die Mei427 Vgl. Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 67. 428 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 5. 12. 1989.

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nung war verbreitet, „dass die ČSSR die Erfahrungen der DDR schnell genutzt und richtig reagiert hat“. In vielen Fragen sei man im Nachbarland „den Entwicklungen der DDR voraus“, da es dort wegen bereits vollzogener Änderungen in der Wirtschaft keine so tiefe ökonomische Krise gebe wie in der DDR.429 Am 7. Dezember legte auch Ministerpräsident Ladislav Adamec ( KPČ ) sein Amt nieder. Am 29. Dezember strich das Parlament den Führungsanspruch der KPČ aus der Verfassung. Staatspräsident Husák trat zurück. Das Parlament wählte einstimmig Václav Havel zum neuen Präsidenten. Einen Tag zuvor war Alexander Dubček zum Parlamentspräsidenten gewählt worden. Rumänien : In Rumänien lösten die von der ungarischen Minderheit getragenen und blutig niedergeschlagenen Aufstände in Temesvar und Arad am 16. und 17. Dezember eine Massenerhebung aus. Teile der Armee stellten sich auf die Seite der Demonstranten. Am 21. Dezember kam es in Bukarest zu Straßenkämpfen mit der kommunistischen Geheimpolizei Securitate. Insgesamt starben bei den Aufständen über eintausend Menschen. Aus Protest gegen den blutigen Terror in Rumänien veranstaltete das Neue Forum in Zittau eine Mahnwache.430 Am 22. Dezember wurde Ceauşescu von einer parteiinternen Gegenelite gestürzt und am 25. Dezember von einem Militärgericht verurteilt und sofort hingerichtet. Die ebenfalls kommunistisch dominierte „Front der Nationalen Rettung“ fungierte als neue Regierung und ernannte am 26. Dezember den Putschistenführer und Reformkommunisten Ion Iliescu zum provisorischen Staatspräsidenten. Am selben Tag entzündeten nach einem Aufruf der Meißner Initiativgruppe des Neuen Forums in Meißen Anhänger der Bürgerbewegung auf dem Marktplatz in Meißen ein „Licht der Hoffnung“ für Rumänien. Eine spontane Solidaritätsspende erbrachte fast 2 000 Mark.431 Während der Weihnachtsfeiertage wurden, wie in Zittau, überall Geld - und Sachspenden für die rumänische Bevölkerung gesammelt.432 Schon Ende November hatte es, wie z. B. nach einem Aufruf der Bürgerinitiative Klingenthal, Sammlungen von Hilfsgütern für Rumänien gegeben,433 die in der DDR, vor allem in den Kirchen, auf eine längere Tradition zurückblicken konnten. Insgesamt vermittelten die parallelen Entwicklungen in den „Bruderstaaten“ der DDR - Bevölkerung das Gefühl, mit den eigenen Veränderungsforderungen im allgemeinen Trend zu liegen. Die gewaltsame Entwicklung in Rumänien wirkte abstoßend und stärkte das Bewusstsein, mit der Friedlichkeit der revolutionären Veränderungen den richtigen Weg gewählt zu haben.

429 430 431 432 433

SED - KL Bautzen vom 29. 11. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, A 13555). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 22. 12. 1989. Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 27. 12. 1989. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 28. 12. 1989. Vgl. Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg, PB Pfarrer Meinel.

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3.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Während Modrow und Gysi gemeinsam die Weichen in Richtung Erhalt der sozialistischen Staatlichkeit stellten, dauerten die Bevölkerungsproteste gegen die SED und ihre Entscheidung, das MfS als neue, nun auf den sozialistischen Staat verpflichtete Geheimpolizei zu erhalten, an. Überall beteiligten sich Bürger an der Besetzung und Kontrolle von MfS - Objekten. Neu bei den abklingenden Demonstrationen in der Vorweihnachtszeit war, dass vielerorts der Opfer von Gewalt und Unterdrückung im SED - Staat gedacht wurde. Dies diente vor allem der Delegitimierung der SED, die sich nun verstärkt als neue demokratisch - sozialistische Kraft gerierte, ohne sich auch nur ansatzweise mit ihrem bisherigen Tun auseinandergesetzt zu haben. Vor allem aber wurde Mitte Dezember in einem Umfang die deutsche Einheit gefordert, wie zuvor und später nicht (siehe Diagramm 17).

Diagramm 17: Parolen für die deutsche Einheit.

Parallel dazu sorgte die Reisefreiheit für ein neues Lebensgefühl, wie es dies in der DDR so noch nie gegeben hatte. Die Menschen besuchten die Bundesrepublik und andere westliche Länder und merkten, welche Lebensqualität ihnen die Kommunisten bislang vorenthalten hatten. In vielen bundesdeutschen Städten gab es Wiedersehensfeste. Umgekehrt besuchten allein über Weihnachten über eine Million Bundesbürger und West - Berliner die DDR und den Ostteil Berlins. Auch die Übersiedlerwelle verharrte auf hohem Niveau, war doch klar, dass das Lebensniveau im Osten Deutschlands infolge der SED - Politik für lange Zeit wesentlich niedriger bleiben würde als im Westen. Zwar forderte die demonstrierende Bevölkerung allerorts ein Ende der SEDHerrschaft, und auch einzelne Persönlichkeiten wie Rainer Eppelmann setzten sich für die Bildung einer neuen Regierung aus bekannten Persönlichkeiten und

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Vertretern neuer Gruppierungen und der Blockparteien ein. Im Westen machte sich vor allem CDU - Generalsekretär Rühe für eine solche Lösung stark. Die entscheidenden Gruppen und Parteien aber, die dies stellvertretend hätten realisieren müssen, lehnten ab und plädierten dafür, den Staat bis zu freien Wahlen in den Händen der SED zu belassen, wenn auch laienhaft kontrolliert von anderen politischen Kräften. Auseinandersetzung in Kooperation war das bevorzugte Modell, das den Vorteil hatte, sowjetischen Erwartungen zu entsprechen. Der Nachteil lag freilich darin, dass es der SED so gelang, einen Teil ihrer Macht und Einflussstrukturen in die kommenden Verhältnisse überführen zu können. Vor allem nutzten Modrow und Gysi das Entgegenkommen für den Versuch, statt der geforderten freiheitlichen Demokratie doch noch eine sozialistische Semi - Demokratie zu installieren, in der der SED automatisch eine überdurchschnittliche Bedeutung zugefallen wäre. In Kooperation mit der Spitze der Staatssicherheit und in Rücksprache mit der sowjetischen Führung wurde dieses Konzept in der Weihnachtspause genauer konzipiert und seine Umsetzung eingeleitet. Grundlage dafür war eine stärkere Einbeziehung neuer Kräfte in die staatliche Verantwortung und eine deutlichere Unterstützung der Runden Tische, waren doch hier mehr Kräfte versammelt, die sich eher als die Demonstranten für eine Erneuerung im Rahmen der DDR - Staatlichkeit stark machten. Wichtig war aus Sicht der SED der Erhalt und die Erneuerung der Staatlichkeit, wofür Modrow auch auf das Konzept der Bezirkseinsatzleitungen zurückgriff, die nun Operativstäbe genannt wurden und an denen wie gehabt alle wichtigen Vertreter des Staatsapparates und der militärischen Organe beteiligt wurden. Modrow griff auch Forderungen nach einer Rückkehr zur Länderstruktur auf und kündigte Verwaltungsreformen an. Zentraler Aspekt seines Plans der Rettung einer modifizierten sozialistischen Staatlichkeit aber war der Erhalt des MfS. Als führender SED - Funktionär wusste Modrow, dass eine Bevölkerungsmehrheit seine sozialistischen Pläne nicht mittragen würde. Der neue war wie der alte Sozialismus nur gegen Bevölkerungsmehrheiten durchsetzbar. Daher war weiterhin eine Geheimpolizei zur Maßregelung der nichtsozialistischen Kräfte notwendig, die auf den Straßen und in Betrieben die deutsche Einheit und eine endgültige Abkehr von allen sozialistischen Experimenten forderten. Dazu beschloss er in der Weihnachtszeit, in der die Demonstrationen vereinbarungsgemäß ruhten, die Umwandlung des MfS in einen DDR - Verfassungsschutz und einen Auslandsspionagedienst. Die internen Besprechungen dazu zeigen deutlich, dass die neuen Dienste auf den Erhalt des Sozialismus verpflichtet wurden, nun allerdings auf eine verfassungsmäßig verankerte sozialistische Staatlichkeit und nicht mehr auf die führende Rolle einer Partei. Der Vorgang macht deutlich, dass sich die SED auch zu diesem Zeitpunkt nicht von ihren ideologischen Grundzielen verabschiedete und bereit war, dafür staatliche Gewalt gegen nichtsozialistische Kräfte anzuwenden. Es sollte sich aber zeigen, dass die anderen Parteien den Vertrauensmissbrauch Modrows aus verschiedenen Gründen nicht hinnahmen. Dem Ministerpräsidenten war die Aufgabe übertragen worden, bis zu freien Wahlen eine

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Übergangsregierung zu bilden, um durch den Erhalt der Staatlichkeit anarchische Zustände zu verhindern. Statt sich dieser Aufgabe zu stellen, nutzte er die ihm anvertraute Macht dazu, den Einfluss seiner Partei durch neue sozialistische Strukturen zu retten. Deutlicher hätte die SED ihren demokratiefeindlichen Charakter nicht zeigen können. Zudem hatte er in alter Gewohnheit andere politische Kräfte nicht in sein Kalkül einbezogen und war, was für seinen fehlenden Realitätsbezug steht, davon ausgegangen, dass sich die anderen Parteien auch langfristig in ein neues sozialistische System einfügen würden, in dem die SED unter anderem Namen mittels einer von ihr neu geschaffenen Geheimpolizei bestimmen würde, was erlaubt sein würde und was nicht. Nun setzten aber vor allem im Dezember in den anderen Parteien Entwicklungen ein, die Modrows und Gysis Pläne zum Scheitern verurteilten. Die SDP, die sich schon bislang am deutlichsten gegen die SED ausgesprochen hatte, verabschiedete sich von ihrem DDR - Bezug, orientierte unter dem Einfluss westdeutscher Parteifreunde auf deutsche Einheit und beschloss die Umbenennung in SPD. Nach dem faktischen Ende des „Demokratischen Blocks“ Ende November beschleunigten sich im Dezember die programmatischen Neuausrichtungsprozesse in den bisherigen Blockparteien. Die CDU verabschiedete sich auf einem Sonderparteitag von ihrer bisherigen sozialistischen Orientierung und sprach sich für einen Weg zur deutschen Einheit aus. Gegen den Widerstand Gerlachs vollzog auch die LDPD eine Abkehr vom Sozialismus, ähnliche Prozesse liefen bei NDPD und DBD ab. Damit trat für die Regierung Modrow die neue Situation ein, dass sich Regierungspartner gegen den vom Ministerpräsidenten festgelegten Kurs sozialistischer Erneuerung in Rahmen der DDR - Staatlichkeit aussprachen. Hier waren Konflikte vorprogrammiert. Im Neuen Forum, das trotz seiner weiteren organisatorischen Ausbreitung seinen Bedeutungszenit längst überschritten hatte, bereiteten Richtungskämpfe unter dem Meinungsdiktat der Berliner Führungsgruppe den Weg in die politische Bedeutungslosigkeit vor. Während die Berliner um Bärbel Bohley für Dritte- Wege - Konzepte und eine Neutralisierung Deutschlands plädierten, votierten viele sächsische Verbände für freiheitliche Demokratie und deutsche Einheit. Innere Zerwürfnisse wurden auch durch den Streit darüber befördert, ob sich das Neue Forum als Partei konstituieren oder eine basisdemokratische Bürgerbewegung bleiben sollte. Ähnliche Differenzierungsprozesse liefen auch im Demokratischen Aufbruch ab, der sich Mitte Dezember als Partei konstituierte und sich politisch auf die CDU / CSU zu bewegte. Die Folge war hier der Austritt sozialdemokratischer und grüner Kräfte. Gleichzeitig bildeten sich nun verschiedene, kleinere liberal - konservative Parteien. Ende Dezember lagen die politischen Angebote in der DDR weiter auseinander als je zuvor. Deutlich wurde dies auch beim Besuch von Bundeskanzler Kohl bei Modrow in Dresden. Hoffte Modrow realitätsfern auf umfangreiche Geldmittel aus Bonn, um sein Konzept einer neuen sozialistischen DDR auf den Grundlagen des maroden SED - Staates finanzieren zu können, plädierte Kohl mit der gebotenen diploma-

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tischen Zurückhaltung für einen Weg zur deutschen Einheit über die Schaffung konföderativer Strukturen. Der Jubel der Bevölkerung musste aber auch ihm deutlich machen, dass die Bevölkerung in der DDR nicht mehr lange auf die Einheit warten wollte. Sie setzte sich über alle internationalen Bedenken hinweg und forderte die volle staatliche Einheit möglichst bald. Den Druck, den die Bevölkerungsreaktionen international erzeugten, konnten auch diplomatische Bemühungen um eine Entschleunigung des Prozesses nicht mehr stoppen, wie sie etwa Frankreichs sozialistischer Präsident Mitterrand mit einem Besuch in der DDR unternahm.

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4.

Kampf dem Restaurationskurs der SED - PDS (17.12.–14.1.)

4.1

SED - PDS „gegen rechts“ und deutsche Einheit sowie für einen Verfassungsschutz (17.–31.12.)

Nach ihrem Sonderparteitag stand die in SED - PDS umbenannte Partei mit dem Rücken zur Wand. Überall forderten Demonstranten die deutsche Einheit und ein Ende des Sozialismus. Redner aus der Bundesrepublik wurden auf Kundgebungen gefeiert. Der Modrow - Regierung samt Staatsapparat wurde deutlich erklärt, dass man sie nur als Übergangsregierung bis zu freien Wahlen dulde. Nun war der SED nicht erst seit 1989 klar, dass sie unter freiheitlich - demokratischen Bedingungen keine Chance haben würde, weiterhin die Weichen im Lande zu stellen. Andererseits war ihr Machtanspruch ungebrochen. Seit dem Sonderparteitag war es die gängige Meinung in der Partei, man müsse an der Macht bleiben und dürfe sie bestenfalls teilen. Vorschläge, in die Opposition zu gehen, stießen auf Unverständnis und Ablehnung. Krenz hoffte öffentlich, das „Volk der DDR“ sei so „politisch vorgebildet“, dass es bei kommenden freien Wahlen „nicht das Chaos wählen, sondern sich für Kompetenz entscheiden“ werde. Davon habe die SED „am meisten zu bieten“.1 Ihr Konzept bestand deshalb in der Schaffung einer neuen sozialistischen Ordnung, in der verschiedene sozialistische Richtungen um den richtigen Weg ringen sollten. Unabdingbare Voraussetzung für diesen „demokratischen Sozialismus“ war der Erhalt der Staatlichkeit der DDR. Voraussetzungen dafür schienen aus Sicht der SED - PDS gegeben, unterstützten doch auch sozialistische Kräfte aus den Blockparteien und den Bürgerbewegungen eine solche Entwicklung unter Einbeziehung der SED - PDS. Allein unter dieser Konstellation sah man in der SED - PDS - Führung um Gregor Gysi eine Chance, den politischen Einfluss dauerhaft zu sichern. Wie aber sollte man die Ausschaltung der demokratischen Kräfte aus dem politischen Wettbewerb rechtfertigen, die sich aus liberaler, christdemokratischer, sozialdemokratischer oder konservativer Gesinnung für einen freiheitlich - demokratischen Rechtsstaat und eine soziale Marktwirtschaft in einem vereinten Deutschland einsetzten ? Dazu zauberten Gysi und Modrow aus der Mottenkiste des kommunistischen Klassenkampfes ihr Totschlagargument des Kampfes gegen den Faschismus hervor und deklarierten kurzerhand die Anhänger der deutschen Einheit zu „Rechten“ und „Faschisten“. Angesichts der spezifischen Situation in Deutschland hofften sie dafür auch bei der bundesdeutschen Linken und im Ausland Verständnis zu finden. In der DDR konnten sie auf die Naivität der Anhänger eines linken dritten Weges setzen, die sich wünschten, die DDR als „Naturschutzpark eines sozial und ökonomisch verträumten Gestern zu bewahren“. Diese Illusion der politischen Linken entstammte einer „Lehrer - , Pädagogen - und Pastorenge1

Süddeutsche Zeitung vom 23. 12. 1989. Vgl. Egon Krenz über seine Vergangenheit und Zukunft. In : Informationen des BMB 1 vom 12. 1. 1990, S. 6.

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sinnung, deren Kompetenz in einem noch immer penetrant bevormundenden Humanismus“ lag.2 Sie war aus Sicht der SED - PDS aber geeignet für einen demokratischen Sozialismus, wie man ihn sich in der kommunistischen Reformgruppe um Markus Wolf, Gregor Gysi und Hans Modrow vorstellte. Welcher Denkungsart die sozialistischen Kräfte waren, auf welche die SED - PDS setzte, zeigte der „Appell der 89“, mit dem Intellektuelle im Januar 1990 eine totale militärische Abrüstung der DDR bis zum Jahr 2000 forderten. In Anlehnung an die Bolschewiki bei der Machteroberung in Russland und unter völliger Ausschaltung der politischen Realitäten in Europa forderten sie die Abgeordneten der Volkskammer auf, ihren Appell zum „Dekret Nr. 1“, zum „Dekret des Friedens“ zu machen.3 Angesichts von so vielen neuen Bündnispartner war also aus Sicht der SEDPDS noch nicht alles verloren. Modrow war natürlich Politiker genug, seine Ziele nicht offen auszuposaunen. Allerdings haben sie ihren Niederschlag in den Akten gefunden. Bei einer Dienstberatung der Leiter der Diensteinheiten des Verfassungsschutzes am 18. Dezember, bei der konstatiert wurde, dass sich „Teile des Staatsapparates in Auf lösung“ befänden und sich überall im Lande Bürgerkomitees bildeten, informierte Schwanitz über Modrows politische Ziele. Demnach galt auch für den Verfassungsschutz, in der DDR „schnell Ordnung (zu ) schaffen“. Ziel sei die „Verhinderung chaotischer Verhältnisse“. Vor allem sei es wichtig, die „Wieder vereinigungskräfte zurückzudrängen“. Dafür versprach Modrow den Leitern des Verfassungsschutzes, dass die Arbeit des Amtes fortgesetzt werde, was dieser denn auch prompt und im Sinne der SED - PDS tat. So observierte man nicht nur die ehemaligen Bündnis - und jetzigen Regierungspartner weiterhin, sondern spionierte auch die neuen politischen Kräfte mit Hilfe des fast vollständig erhaltenen IM - Apparates weiter aus. Auch hier sind die meisten Unterlagen vernichtet. Fragmente aber zeigen die Tendenz deutlich genug. So notierte der Leiter der Hauptabteilung für Beobachtung und Ermittlung, Generalmajor Karli Coburger, am 18. Dezember in sein Diensttagebuch die intern gewonnene Erkenntnis : „Bohley und Klein haben im Neuen Forum nichts mehr zu sagen.“4 Aber auch andere Gruppen und neue Parteien wurden, wie z. B. die Deutsche Forum Partei, vom Modrowschen Verfassungsschutz bis in den Januar hinein nicht nur observiert,5 sondern durch IM in ihrer Politik beeinflusst. Es war unverkennbar : Wie zuvor MfS und AfNS der SED treu gedient hatten, so taten dies nun auch Verfassungsschutz und Nachrichten2 3

4 5

Karl Heinz Bohrer. In : FAZ vom 13. 1. 1990. Appell der 89. Unterzeichner u. a. : Rosemarie Schuder, Heinrich Fink, Peter Schreier, Bärbel Bohley, Katja Havemann, Günther Drefahl, Michael Brie, Christa Wolf, Wolfgang Schnur, Albrecht Schönherr, Joachim Garstecki, Friedrich Schorlemmer, Stefan Heym, Rainer Eppelmann, Carl Ordnung, Werner Tübke, André Brie, Gregor Gysi, Hans - Jürgen Fischbeck, Günter Wirth, Günter de Bruyn. Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 40 f. und 50). Vgl. Verfassungsschutz, Lagezentrum vom 30.–31. 12. 1989 : Lagefilm ( ebd., ZKG 128, Bl. 253).

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dienst. Wie eng die Bindung des Verfassungsschutzes an die SED - PDS war, zeigte sich auch daran, dass hier Ende Dezember und Anfang Januar noch immer die parteiinterne Anrede „Genosse“ üblich war.6 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Anfrage einer Bezirksstelle des Verfassungsschutzes vom 22. Dezember in der Berliner Zentrale, ob es denn noch immer unbedingt notwendig sei, „dass im Verfassungsschutz nur Mitglieder der SED tätig sein müssen ? Reicht es nicht aus, wenn es sich um potenzielle Wähler handelt ?“ Vorgeschlagen wurde, dass ein Teil der Mitarbeiter aus der SED austritt und Mitglieder des Neuen Forums, der SDP und Parteilose gewonnen werden.7 Gemäß dem Konzept, die SED - PDS - Herrschaft durch eine größere Bandbreite sozialistischer Kräfte zu erweitern, ohne die Dominanz der SED - PDS in Frage zu stellen, wurde hier über eine entsprechende Verankerung anderer politischer Kräfte im Verfassungsschutz nachgedacht, um so die Akzeptanz im Kampf gegen „rechts“ zu vergrößern. Derartige Vorschläge scheiterten nicht nur an der Rasanz der revolutionären Entwicklung, sondern vor allem an den neuen politischen Kräften, die kein Interesse hatten, sich vom MfS - Nachfolger instrumentalisieren zu lassen. Deutlicher Ausdruck der gegen „rechts“ gerichteten Aktivitäten des Verfassungsschutzes war die Obser vierung von Parteien wie Republikaner, NDPD, LDPD und CDU, über welche die Außenstellen des Verfassungsschutz den „Genossen“ in der Berliner Zentrale gleichermaßen berichteten.8 Angesichts der Aktenvernichtungen sind leider auch hier nur Fragmente erhalten, die jedoch für sich aussagekräftig genug sind. So berichtete der Verfassungsschutz z. B. am 27. Dezember, von der West - Berliner CDU würden „den Republikanern finanzielle Mittel für ihre politischen Aktionen in der DDR in unbekannter Höhe zur Verfügung gestellt“. Außerdem bestünden enge Kontakte zwischen der ( an der Modrow - Regierung beteiligten ) DDR - CDU und den Republikanern in West - Berlin.9 Solche Falschmeldungen kamen Modrow gerade zu pass. Wissenschaftlich untermauern ließ er sie von SED - Vordenkern wie dem Forschungsbereichsleiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Manfred Lötsch. Dieser meinte, die angebliche Stimmungsverlagerung zugunsten der Republikaner und der CDU stelle „im bedrückenden Sinne eine Parallele“ zu der Entwicklung dar, „die 1928/29 begann und 1932/33 endete“.10 Zentrales Element der Machtsicherungsstrategie der SED - PDS war der nicht demokratische, sondern antikapitalistisch - marxistische „Antifaschismus“, der bereits Jahrzehnte zur Legitimierung der SED - Diktatur benutzt worden war. Es war gut zwei Monate her, dass die SED am „großen letzten Massaker“11 gera6

Vgl. Verfassungsschutz, Lagezentrum vom 27. 12. 1989 : Einfluss der Republikaner ( ebd. 129, Bl. 1). 7 Verfassungsschutz, Lagezentrum vom 21.–22. 12. 1989 : Lagefilm ( ebd. 127, Bl. 116). 8 Vgl. Bezirksstelle Verfassungsschutz Frankfurt / Oder vom 2. 1. 1990 : Lage ( ebd. 128, Bl. 162 f.). 9 Vgl. Verfassungsschutz, Lagezentrum vom 27. 12. 1989 : Einfluss der Republikaner ( ebd. 129, Bl. 1). 10 Zit. bei Klinger, Das Scheitern, S. 5. 11 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 159.

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de noch gehindert worden war. Eben noch hatte sie die Gewaltanwendung der chinesischen Kommunisten und und des rumänischen Diktators Ceauşescu gefeiert, jetzt versuchte sie plötzlich den Eindruck zu erwecken, als ginge alle Gefahr von „rechts“ aus. Zwar gab es in der DDR rechtsextreme Potenziale, und auch auf den Demonstrationen versuchten neonazistische Rattenfänger ihre menschenverachtende Ideologie unters Volks zu bringen, insgesamt aber stellten nicht Rechtsextreme, sondern stellte die SED eine Gefahr für den Weg zum freiheitlich - demokratischen Rechtsstaat dar. Tatsächlich steckte hinter Gysis und Modrows Strategie, ein rechtes Schreckgespenst an die Wand zu malen, zum einen das Bestreben, durch das Schüren von Ängsten vor einer neuen nationalsozialistischen Gefahr von der eigenen Verantwortung für die Vergangenheit abzulenken und so den eigenen Masseneinfluss zu stabilisieren.12 Zum anderen versuchte die SED - PDS damit und dem damit untrennbar verbunden Konzept eines „demokratischen Sozialismus“ die Ungleichheit der Wahlchancen festzuschreiben und die Reste des MfS weiterarbeiten zu lassen.13 Schließlich sollte die Kampagne „gegen rechts“ dazu dienen, die Reihen alter und neuer Bündnispartner enger um die SED - PDS zu schließen. Schon 1945 waren die neuen Parteien unter der Zielsetzung einer „antifaschistisch - demokratischen Umwälzung“ getäuscht und zu Instrumenten der SED - Diktatur transformiert worden. Nun sollte der „Antifaschismus“ noch einmal helfen, die unter dem Druck der Volksbewegung wankende Diktatur vor einer revolutionären Veränderung in Richtung freiheitliche Demokratie, soziale Marktwirtschaft und deutsche Einheit zu schützen.14 Nur gab es eben verhältnismäßig wenig Neonazis in der DDR, auch wenn jeder von ihnen einer zuviel war. Hier nun bedienten sich die geschulten Demagogen der SED - PDS - Führung einer tendenziellen Gleichsetzung rechtsradikaler Strömungen und des Willens der revoltierenden Bevölkerung, den revolutionären Prozess in Richtung Wiedervereinigung zu lenken, um so dem SED - Staat für immer den Garaus zu machen. Sollte die neue Kampagne Erfolg haben, brauchte Modrow zunächst Erkenntnisse, die seine These von einer neonazistischen Gefahr untermauerten. Schwanitz erklärte den Leitern der Diensteinheiten des Verfassungsschutzes daher etwas doppeldeutig, Modrow sei „an neofasch. Erkenntnissen interessiert“.15 Auch die Leiter der Bezirksstellen und anderer Diensteinheiten erhielten durch den „Genossen Modrow persönlich“ die Aufgabe, alle „neofaschistischen Erscheinungen“ in der DDR zu registrieren.16 In der Presse von SED PDS und FDJ wurde nach alter Machart eine Kampagne „gegen rechts“ gestartet.17 Dabei wurde noch einmal klar gefordert, Zweistaatlichkeit und Sozialis12 13 14 15

Vgl. Kallabis, Ade, S. 98. Vgl. Oldenburg, Vom realen Sozialismus, S. 32. Vgl. Knütter, Antifaschismus, S. 22–24. Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 44). 16 Leiter des Verfassungsschutzes der DDR an Leiter der Diensteinheiten / Bezirksstellen vom 20. 12. 1989 ( ebd., 103661). 17 Neues Deutschland vom 16./17. 12. 1989; Junge Welt vom 18. 12. 1989.

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mus auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln zu erhalten. Erlaubt werden dürften nur sozialistische Parteien.18 Auch andere sozialistische Kräfte stimmten nun ein. In Berlin beteiligten sich am 19. Dezember u. a. Vertreter der SED-PDS, der „Kirche von Unten“, der Grünen Partei, des Berliner Neuen Forums, der VL und der Lila Offensive an einer Demonstration „für eine souveräne DDR, gegen Wiedervereinigung und Ausverkauf des Landes“.19 Auf Plakaten hieß es : „Lieber Dr. Modrow als Dr. Oetker“, „Nie wieder Deutschland“ und „Rheinländer raus, Ausländer rein“. Gysi erklärte, man dürfe keinen nationalen Taumel zulassen. André Türpe informierte, dass 880 438 Bürger den Appell „Für unser Land“ unterzeichnet hätten. Ein Redner von Demokratie Jetzt, der Schritte zur Herstellung der deutschen Einheit unterbreiten wollte, wurde ausgepfiffen.20 Auch in Rostock nahmen rund 3 000 Personen an einer „Antifa - Demo“ gegen die deutsche Einheit teil. Auf Plakaten war zu lesen: „Wir wollen keine BeeRDigung“ und „Kohlsuppe auf das heiße Feuer der Perestroika – Nein, Danke“. Die Demonstranten riefen das von SED - Kundgebungen bekannte „DDR – unser Vaterland !“.21 Auch in den Kreisen begann die SED - PDS mobil zu machen. In Freital forderte die SED - PDS in einem Atemzug „wirksame Maßnahmen der Regierung gegen die Radikalisierung der Situation durch faschistische und neofaschistische Elemente“, „Faschismusimport“ und „Wahlkampf der BRD - Parteien auf DDR - Territorium“.22 In Bischofswerda zeigte sich der Kreisvorstand besorgt über „Bestrebungen faschistischer Gruppierungen, in der DDR Stützpunkte einzurichten“. Im gleichen Atemzug fragte man, ob die offene Grenze nicht die politische Stabilität der DDR gefährde und „die BRD uns stückchenweise einverleiben wird“.23 Während die Kampagne langsam anrollte, war der Parteivorstand der SED - PDS damit beschäftigt, das Parteivermögen der SED zu sichern. Dies erfolgte vor allem durch die Vergabe von Krediten an zuverlässige Funktionäre, die sich oft verpflichten mussten, ihnen als Kredit überlassene Gelder im Sinne der Partei zu ver walten.24 „Neues Deutschland“ startete unterdessen eine Kampagne „Angetreten gegen rechts“.25 In Schwerin mobilisierte die SED - PDS am 26. Dezember etwa 1 500 Personen, die eine Beibehaltung der Teilung Deutschlands forderten. In der „Sächsischen Zeitung“ drückte eine „Bürgerinitiative Wider Vereinigung“ ihre Vorstellungen von der drohenden bundesdeutschen Realität sarkastisch und in Anlehnung an die Agitprop - Art Karl - Eduard von Schnitzlers 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd. vom 12. 12. 1989. Neues Deutschland vom 20. 12. 1989 spricht von 50 000 Teilnehmern. Vgl. Junge Welt vom 21. 12. 1989. ADN spricht von 3 000 Teilnehmern. Schmidtbauer, Tage 1, S. 91, spricht von 8 000 Teilnehmern. SED - KL Freital vom 20. 12. 1989 : Lage ( SächsHStA, SED - BL Dresden, 13555). SED - KV Bischofswerda : Verbleib der GO in den Betrieben vom 21. 12. 1989 ( ebd.). Unterlagen des Parteipräsidiums der SED - PDS vom 21. 12. 1989. Informationen der „Unabhängigen Kommission Parteivermögen“. Vgl. FAZ vom 4. 8. 1994. SED - BL Frankfurt / Oder vom 28. 12. 1989 : Lage ( Brandenburg. LHA, Rep. 730, Nr. IV E - 775).

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so aus : „Dann kann ich auch mit denen abrechnen, die ich nicht leiden kann. Im Land, aber auch anderswo. Deshalb will ich endlich Freiheit – auch in neuen ( alten ) Grenzen. Eine Frau kaufen, wenn mir danach ist und Hasch rauchen oder so etwas. Und mein Sohn kann Heroin spritzen, in der Freiheit. Und wenn ich arbeitslos bin, schicke ich meine Tochter auf’n Strich, oder meine Frau. Und wenn sie Aids hat, nehme ich ein Westkondom, die sind sowieso besser. Auch die Straßen sind sauberer, man kann sogar auf ihnen wohnen. Machen ja auch viele. Mittagessen hole ich mir bei der Heilsarmee oder ich geh betteln, oder ich knack ’ne Bank. Und dann geht’s aufwärts. Und selbst im Knast ist’s besser, natürlich in der Freiheit. Wiedervereinigung ist prima !“26 Am sowjetischen Kriegerdenkmal in Berlin - Treptow wurden am 28. Dezember Schmierereien mit antisowjetischen und rechtsradikalen Inhalten entdeckt, die wahrscheinlich von Mitarbeitern des MfS angebracht worden waren.27 Bei allen bisherigen Demonstrationen hatte es keinerlei antisowjetische Parolen gegeben.28 Das galt auch für die Zeit, in der stärker nationale Forderungen erhoben wurden. Vor diesem Hintergrund wirkten die Schmierereien künstlich und aufgesetzt, was die Vermutung verstärkte, die SED - PDS bzw. der Verfassungsschutz hätten die Parolen selbst angebracht. In Zwickau rief die SED - PDS zur Demonstration „gegen rechts“ im Januar auf.29 Im „Neuen Deutschland“ griff Klaus Steiniger die westlichen Wahlkampfberater und „‚Heim ins Reich‘ - Schreier“ an und erklärte die neue Volksfrontpolitik. „Die von rechts drohende Gefahr“ sei „der wichtigste Integrationsfaktor auf der Linken, die Parteilose, Mitglieder der etablierten Parteien und Anhänger des Neuen Forums, der Grünen Partei, der Vereinigten Linken, der SDP, der ‚Spartakisten‘ und andere ebenso wenig ausklammert wie den Ossietzky - Preisträger Pfarrer Friedrich Schorlemmer“. Links seien für die SED - PDS alle, die für Sozialismus und Eigenstaatlichkeit der DDR kämpften.30 Deutlicher konnte der Zusammenhang zwischen der Kampagne „gegen rechts“, dem Ziel eines „demokratischen Sozialismus“ und der Weiterarbeit einer modifizierten Staatssicherheit unter neuem Namen kaum ausgedrückt werden. Am nächsten Tag kam es in Ost - Berlin Unter den Linden und vor dem sowjetischen Ehrenmal in Treptow zu Kundgebungen gegen neonazistische Tendenzen, die vom DFD und anderen linken Gruppierungen organisiert wurden.31

26 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 28. 12. 1989. 27 Der Verdacht wurde durch ein Telex Modrows, das in Rostock gefunden wurde, erhärtet. Vgl. Protokoll der Sitzung des Landessprecherrates mit Vertretern der Rund - TischeGruppe des Neuen Forums vom 13. 1. 1990. Zit. bei Schulz, Neues Forum, S. 44. 28 Vgl. Zwahr, Die Revolution, S. 128. 29 Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, am 29. 12. 1989. 30 Neues Deutschland vom 29. 12. 1989. 31 Vgl. MdI vom 2. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445).

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4.2

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Zentraler Runder Tisch gegen Verfassungsschutz – Unstimmigkeiten in der „Koalitionsregierung“ Ende Dezember

Für das Verhältnis zwischen neuen politischen Kräften und der SED - PDS - dominierten Modrow - Regierung war die 4. Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 27. Dezember, der nicht mehr im Bonhoeffer - Haus, sondern erstmals im Schloss Niederschönhausen tagte,32 in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen forderte das Neue Forum, das Gremium stärker in alle wichtigen rechts - , wirtschafts - und finanzpolitischen Entscheidungen einzubeziehen, zum anderen, die Arbeit des Verfassungsschutzes einzustellen. Es wurde beschlossen, vor freien Wahlen keine neuen Dienste zu bilden. Die SED - PDS kritisierte daraufhin, die Teilnehmer würden zwar eine Teilnahme an der Arbeit der Volkskammerausschüsse ablehnen, sich stattdessen aber mit ihrer Forderung nach einem Veto - Recht zu einer Art „Ober - Regierung“ erklären.33 Damit deutete sich erstmals an, dass das Konzept Gysis und Modrows nicht aufgehen würde. Eher im Sinn der SED - PDS war dagegen die Verabschiedung einer „Erklärung zu neofaschistischen Tendenzen in der DDR“, in der Sorge über „Auftritte neofaschistischer Kräfte“ geäußert wurden. Grund zur Freude konnte man in der SED - PDS allerdings nicht haben, denn zwar wurde damit die eigene Kampagne gegen rechts und deutsche Einheit gestärkt, andererseits die daraus abgeleitete Forderung zurückgewiesen, zur Sicherung des neuen Sozialismus einen Verfassungsschutz aus dem MfS zu bilden. Nicht nur für die Stasi - Mitarbeiter hatte die Forderung entscheidenden Impulscharakter. Sie führte auch zur Meinungsänderung bei jenen Bürgerinitiativen, die sich bislang für die Bildung des Verfassungsschutzes ausgesprochen hatten.34 Ein Auslöser für die Forderung war ein Treffen der bis dahin auf sich gestellten Bürgerkomitees mehrerer Bezirke über Weihnachten in Schwerin gewesen,35 wo u. a. die sofortige Beendigung der Vernichtung von Akten, die Offenlegung der Verbindungen von MfS und SED und die Aussetzung der Weisung Modrows zur Bildung eines Verfassungsschutzes verlangt worden waren.36 Freilich dachte die Regierung nicht daran, sich vom Zentralen Runden Tisch in der für sie mit dem Umbau des Sozialismus verbundenen Machtfrage Vorschriften machen zu lassen. Am 29. Dezember trafen sich die Leiter der Haupt32 Beschlüsse der 4. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 27. 12. 1989 ( ebd., A - 3 4, Bl. 1–3). Abgedruckt in Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 34–36. 33 Neues Deutschland vom 29. 12. 1989. 34 Vgl. Verfassungsschutz der DDR, Lagezentrum vom 29. 12. 1989 : Lage im Zusammenhang mit der Auf lösung der KÄfNS und BÄfNS ( BStU, ZKG 128, Bl. 297). 35 Vgl. Verfassungsschutz der DDR, Lagezentrum vom 2.–3. 1. 1990 : Lagefilm ( ebd., Bl. 158); Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 41. 36 Vgl. Staatssicherheit – und wie weiter ? Meinungsbildung von Mitgliedern von Bürgerinitiativen der Bezirke Magdeburg, Potsdam, Rostock und Schwerin zur Vorbereitung eines DDR - weiten Treffens aller Bürgerinitiativen zur Sicherung der Akten des ehemaligen MfS bzw. Amtes für Nationale Sicherheit, Schwerin vom 25. 12. 1989 ( HAIT, KA 7 Auf lösung MfS / AfNS 12/89–10/90).

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abteilungen des AfNS, die mit der Bildung des Verfassungsschutzes und des Nachrichtendienstes in den Bezirken betraut waren sowie die vom Verfassungsschutz entsandten Mitarbeiter der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten bei einer im Auftrag Modrows von Markus Wolf vorbereiteten Aussprache.37 Wieder waren die Mitglieder der SED - PDS unter sich. „Genosse Niebling“ forderte auf, die Bildung des Verfassungsschutzes „unbeirrt, zielstrebig und entschlossen durchzusetzen“ und die Rechtskraft der Entscheidung der Regierung in der Öffentlichkeit zu unterstreichen. Die Regierung und ihre Beauftragten wurden aufgefordert, die Bildung des Verfassungsschutzes und die Auf lösung der Bezirksämter des AfNS organisatorisch und personell zu trennen. Als Kernproblem bei der Auf lösung der Bezirksämter bezeichnete Niebling die Vernichtung operativen Schriftgutes der Kategorie „Quellenschutz“. Seit einem halben Monat stagniere die Vernichtung, da das Mitrauen der Bürgerkomitees wieder gewachsen sei. Dessen ungeachtet müsse sie jedoch mit neuer Intensität fortgesetzt werden, da das Problem die Bildung des Verfassungsschutzes blockiere.38 Informiert wurde über die Auf lösung der SED - PDS im Verfassungsschutz bis zum März und die alternative Bildung einer Arbeitsgemeinschaft SED - PDS ab Januar 1990. Allen Mitarbeitern wurde empfohlen, sich im Interessenverband Berufssoldaten eintragen zu lassen.39 Die Empfehlung stand im Widerspruch zum angeblich zivilen Charakter der geplanten Dienste. Bereits einen Tag nach der Erklärung des Zentralen Runden Tisches wies der amtierende Leiter des Verfassungsschutzes an, die „festgelegten Maßnahmen zur Bildung des Verfassungsschutzes der DDR unbeirrt, zielstrebig und entschlossen durchzusetzen“. Die Leiter der Diensteinheiten erhielten eine von Modrow bestätigte Argumentation, in der es hieß, ein Verzicht auf den Verfassungsschutz hieße, imperialistischen Geheimdiensten und ihren Spionen freien Lauf zu lassen, den Kampf gegen rechte Kräfte zu behindern und die Sicherheit der DDR in Frage zu stellen. Mit Blick auf Forderungen nach deutscher Einheit hieß es, die Entwicklung berge „reale Gefahren ihres Missbrauchs durch restaurative Kräfte und Personen“ in sich, „die nur ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollen“.40 Trotz der Ignorierung des politischen Willens der am Zentralen Runden Tisch versammelten Kräfte konnten die Generäle jedoch nicht verhindern, dass die Forderungen zur „Unsicherheit der Leiter in der Realisierung angewiesener Aufgaben zur Schaffung der Strukturen des Verfassungsschutzes“, zur „weiteren Verunsicherung von Mitarbeitern“ und außerdem dazu führten, dass die Bereitschaft im Verfassungsschutz überhaupt mitarbeiten zu wollen, rapide sank. Angesichts der Aussicht auf freie Wahlen konnte sich jeder realistisch den37 Vgl. Wolf, In eigenem Auftrag, S. 324. 38 Verfassungsschutz der DDR vom 29. 12. 1989 : Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches mit vom Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR ( BStU, ZKG 129, Bl. 174–177). 39 Vgl. Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( ebd., HA VIII, AKG 1616, Bl. 52 f.). 40 Verfassungsschutz der DDR, Amtierender Leiter, gez. i. V. Niebling, an Leiter der Diensteinheiten vom 28. 12. 1989, BdL /379/89 und Anlagen ( ebd., 103659).

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kende Mensch ausrechnen, dass die Tage der SED - Herrschaft und ihres Sicherheitsapparates gezählt waren. Nur eine Verhinderung freier Wahlen bot der SED- PDS überhaupt eine Chance, ihr modifiziertes Sozialismusmodell zu realisieren. Schien vielen Mitarbeitern eine Anstellung beim Verfassungsschutz oder Nachrichtendienst zunächst erstrebenswert, schwanden die Aussichten auf eine zukunftsträchtige Beschäftigung im ehemaligen Repressions - und Spitzelapparat der SED Ende Dezember immer mehr. Selbst die Mitarbeiter, die noch beschäftigt waren, fühlten sich Ende Dezember verraten und vom Staat im Stich gelassen.41 Nach entsprechenden Weisungen der Führung wurde nach Weihnachten die Aktenvernichtung noch einmal forciert. Nicht nur Stasi - Unterlagen, auch Aktenbestände, die im Gebäudekomplex des ZK der SED lagerten, sowie Akten untergeordneter Ebenen wurden nun in möglichst großen Mengen vernichtet. Dabei handelte es sich in erster Linie um strafrechtlich relevantes Material und um Einschätzungen von Personen.42 Auch beim Verfassungsschutz ging es bei der Vernichtung vor allem um die Kategorie „Quellenschutz“, wobei sich die StasiMitarbeiter von den Bürgerkomitees gestört fühlten.43 In Dresden sprach sich der Runde Tisch des Bezirkes am 21. Dezember dafür aus, dass vier unabhängige Persönlichkeiten die Akten der MfS - Bezirksstelle ansehen und entscheiden sollten, welche Teile vernichtet werden könnten.44 Ähnlich war die Praxis auch in anderen Bezirksämtern. Die Sichtung der Materialien durch Vertreter der Bürgerkomitees oder bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens diente aber auch anderen Zwecken. Der Verfassungsschutz registrierte, dass verschiedene Personen die Akteneinsicht nutzten, um Erkenntnisse über beruf liche und andere Benachteiligungen durch das MfS zu sammeln, die der Einleitung gerichtlicher Schritte gegen Mitarbeiter des MfS dienten.45 Für die Mitarbeiter war dies ein weiterer Grund, den Aktenbestand möglichst schnell und weitgehend zu reduzieren. Ein zentrales Anliegen der Regierung blieb angesichts der massenhaften Freisetzung von MfS - Mitarbeitern deren beruf liche und soziale Absicherung. Bei der Vermittlung entlassener Mitarbeiter ergaben sich erhebliche Probleme. Von den bis zum 20. Dezember ausgeschiedenen 14 573 Mitarbeitern nahmen 10 552 eine Tätigkeit in der Wirtschaft auf, 1138 wurden vom Zoll und 2 883 von den DDR - Grenztruppen übernommen. Aber hier, wie vor allem auch im 41 42 43 44 45

Vgl. Verfassungsschutz der DDR vom 29. 12. 1989 : Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches mit vom Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR ( ebd., ZKG 129, Bl. 177). Aussage von Mitarbeitern des Zentralen Parteiarchivs. Zit. bei Mitter, Die Aufarbeitung, S. 370 f. Verfassungsschutz der DDR vom 29. 12. 1989 : Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches mit dem Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR ( BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 174–176). Vgl. Protokoll der 2. Sitzung des RTB Dresden vom 21. 12. 1989 ( PB Matthias Rößler). Vgl. Verfassungsschutz der DDR vom 29. 12. 1989 : Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches mit vom Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR ( BStU, ZA, ZKG 129, Bl. 176).

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Bereich der Wirtschaft, war die Bereitschaft gering, sie anzustellen. Überall lehnte man sie als Kollegen ab.46 Angesichts der Probleme beschloss die Modrow Regierung am 21. Dezember die Bildung einer zentralen Arbeitsgruppe, die das Ausscheiden aus dem Dienst und den Wiedereinsatz der Mitarbeiter von Staatsorganen, Parteien und gesellschaftlichen Organisationen sowie von Schutz - und Sicherheitsorganen regeln sollte. Parallel wurden Kommissionen auf Bezirks und Kreisebene eingerichtet47 und die Räte der Bezirke verpflichtet, für die Weiterbeschäftigung zu sorgen. Für nicht wieder verwendbare Mitarbeiter des MfS / AfNS stellte die Regierung Mittel zur finanziellen Unterstützung bereit.48 Überall in den Bezirken wurden nun die geforderten Umschulungen und der Neueinsatz der aus dem AfNS und dem sonstigen Staatsapparat freigesetzten Mitarbeiter bevorzugt durchgeführt. Während angesichts der kritischen wirtschaftlichen Situation auch unter der Bevölkerung die Sorgen um den Verlust des Arbeitsplatzes wuchsen, erhielten ehemalige MfS - Militärs recht schnell neue Stellen. Nicht nur am Runden Tisch wuchs der Ärger über die unverhohlenen Versuche von Modrow, Gysi und Wolf, die politische Entwicklung im Sinne einer Machtstabilisierung der SED - PDS zu beeinflussen. Im Laufe des Dezember wandelten sich die bisherigen Blockparteien durch innerparteiliche Demokratisierungsprozesse immer mehr zu eigenständigen politischen und demokratischen Kräften, die sich damit zwangsläufig vom Ziel einer Erneuerung des Sozialismus in der DDR distanzierten. Damit fielen sie nach der noch gängigen Lesart der SED - PDS aus dem Spektrum der im demokratischen Sozialismus akzeptierten Kräfte heraus und wurden zu Gegnern des Sozialismus. Es war vor diesem Hintergrund nur eine Frage der Zeit, bis es zu Konflikten um den Kurs Modrows kommen würde. Am 30. Dezember berieten Vertreter der Koalitionsparteien mit Modrow und Wissenschaftlern in Märkisch - Buchholz über die Modalitäten der kommenden Wahlen. Hier kam es zum offenen Schlagabtausch. De Maizière und Gerlach protestierten scharf gegen die Vormacht der SED - PDS, die Zurücksetzung von CDU und LDPD und gegen von der SED PDS lancierte, manipulierte Meinungsumfragen, die der SED - PDS eine hohe Wählergunst einräumten, CDU und LDPD hingegen ins Abseits stellten. Schon zuvor hatten die Ex - Blockparteien den ungebrochenen Einfluss der SED - PDS auf die elektronischen Medien kritisiert. Die Auswahl der Einspielungen zur Sendung „Wahl 90“ im Ersten Programm, so die „Neue Zeit“, erinnere an die Praxis des Schwarzen Kanals. Das Blatt forderte eigene Sendezeiten für die Parteien im Wahlkampf. Es gehe nicht an, die unterschiedliche politische Programmatik der Parteien „aus der Sicht von SED - PDS - Mitgliedern und klassenkämp46 Vgl. Verfassungsschutz der DDR, Lagezentrum vom 21. 12. 1989 : Bericht über die Lage im Zusammenhang mit der Auf lösung der KÄfNS und BÄfNS ( ebd., Bl. 7). 47 Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst III, S. 73. 48 Vgl. Beschluss des Ministerrates der DDR 7/3/89 vom 21. 12. 1989 über Maßnahmen zum Einsatz und zu notwendigen Umschulungen freigesetzter Mitarbeiter aus dem Staatsapparat und gesellschaftlichen Organisationen ( BArch Berlin, C 20 I /3–2883, Bl. 140–146).

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ferisch erzogenen Journalisten“ bewerten zu lassen.49 Die LDPD beklagte am selben Tag : „Wir haben als Parteien kaum Möglichkeiten der Selbstdarstellung.“50 In Märkisch - Buchholz wurde nun beschlossen, die Volkskammer - und Kommunalwahlen getrennt durchzuführen. Erst nachdem de Maizière und Gerlach mit dem Austritt aus der Regierung gedroht hatten, erreichten sie, dass zu den Wahlen nur Parteien zugelassen wurden. Der Versuch der SED - PDS, ihre Stimmenanteile erneut durch die Einbeziehung der von ihr gesteuerten Massenorganisationen zu vergrößern, war damit gescheitert. Auch die Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts konnte gegen den Willen der SED - PDS erst durch die Koalitionsfrage von CDU und LDPD gesichert werden. Gysi lehnte die Vorschläge kategorisch ab, bis zum 4. Januar die Finanzen der Parteien offen zu legen und rechtmäßiges Eigentum der Parteien nur zweckgebunden zu verwenden. Die SED - PDS sei nicht bereit, ihre Valutamittel offen zu legen. Er verwies darauf, dass seine Partei etwa 50 zum Teil illegal arbeitende Parteien unterstütze, deren Finanzierung man weder offen legen noch einstellen werde.51 4.3

Kundgebung „gegen rechts“ und deutsche Einheit in Berlin - Treptow (3.1.)

Anfang Januar ging die Auf lösung der Kreis - und Bezirksämter der Staatssicherheit weiter. In Leipzig wurden Waffen und Munition durch die Volkspolizei übernommen.52 Das Bürgerkomitee ver weigerte hier die Auslagerung von Akten ins Staatsarchiv.53 In Borna übernahm nach einer Kontrolle durch das Neue Forum, die SDP und den Superintendenten der Rat des Kreises die Gebäude.54 In Karl - Marx - Stadt, wo bis Anfang Januar noch Treffs zwischen Führungsoffizieren und IM nachweisbar sind,55 wurde seit dem 5. Januar das Bezirksamt für Nationale Sicherheit entwaffnet und somit arbeitsunfähig gemacht.56 In Meißen erfolgte am 4. Januar unter Leitung des Volkspolizeikreisamtes und im Beisein von Vertretern des Neuen Forums, des Kreisstaatsanwal-

49 50 51 52 53 54 55 56

Neue Zeit vom 21. 12. 1989. Der Morgen vom 21. 12. 1989. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 375–380. BAfS Leipzig vom 24. 1. 1990 : Hauptaufgaben der ehem. BVfS Leipzig ( BAfN Leipzig) und der ehem. KDfS ( KÄfNS ), zu deren Durchsetzung notwendige Strukturen sowie zum Stand der Auf lösung ( BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 744, Bl. 1–16). Vgl. Lagezentrum vom 9.–10. 1. 1990 : Lagefilm 9/90 ( BStU, ZKG 129, Bl. 122). Vgl. RdK Borna vom 9. 1. 1990 : Protokoll der Begehung des Gebäudes des ehemaligen ANS ( PB Hartmut Rüffert ); Herbst 89, Ausstellung, Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna ( Museum Borna ). Operativgeldabrechnungen, Abteilung XX 1989–1990 ( BStU, ASt. C, Abteilung Finanzen ). Telefonische Mitteilungen am 5. 1. 1990 ( BStU, ZKG 129, Bl. 129, 285–287).

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tes und eines Beauftragten der Untersuchungskommission Dresden die Räumung der Gebäude des Kreisamtes.57 Unterdessen verstärkte die SED - PDS ihre Kampagne „gegen rechts“, bei der rechtsradikale Tendenzen mit Bemühungen um deutsche Einheit tendenziell gleichgesetzt wurden. Am 1. Januar wurde publik, dass Unbekannte das Ehrenmal für im Zweiten Weltkrieg gefallene sowjetische Soldaten in Berlin - Treptow geschändet hatten.58 Obwohl dieses regelmäßig von Volkspolizei - Streifen kontrolliert wurde, waren fast alle Steine mit umfangreichen Texten beschmiert, die nicht so aussahen, als seien sie schnell angebracht worden. Eher sah es so aus, als sei „eine ganze Kolonne von Malern“ am Werk gewesen.59 In der Nacht zum 2. Januar kam es auch in Pirna, Klötze und Görlitz zu neonazistischen Schmierereien.60 Schnell kursierten Gerüchte, die Staatssicherheit stecke selber hinter den Aktionen, waren antisowjetische Aktionen doch untypisch für den bisherigen Verlauf der Proteste. Selbst aus Sicht von Neonazis ergab es keinen Sinn, die UdSSR zu provozieren, hielt diese doch den Schlüssel zur staatlichen Einheit in der Hand. Noch am selben Tag riefen SED - PDS, DSF, Vereinigte Linke, das „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“ sowie Vertreter der Initiativen „Für unser Land“ zu einer „Einheitsfront gegen rechts“ und zur Demonstration gegen Neofaschismus am sowjetischen Ehrenmal in Berlin - Treptow auf.61 Modrow wies gegenüber Vertretern des Zentralen Runden Tisches auf die Gefahr hin, durch ein „Anheizen der Lage durch Kräfte der Opposition und das Ausnutzen dieser Situation für Gewalttätigkeiten durch nationalistische Elemente“ könnte das Land in ein Chaos stürzen. Hier wurde ein Zusammenhang zwischen Opposition und Rechtsradikalismus postuliert, der für das Neue Forum ein Grund war, einer Beratung mit Modrow am 2. Januar fernzubleiben.62 Modrow drohte den Oppositionellen damit, in der Volkskammer die Vertrauensfrage zu stellen, wenn man ihn weiter in die Enge treibe und die Regierung handlungsunfähig zu machen versuche oder wenn die Opposition den Zentralen Runden Tisch platzen lasse.63 Die Folge wären Wahlen mit ungewissem Ausgang und eine weitere Destabilisierung der DDR. Die Regierung forderte schnell neue Geheimdienste, was die meisten Teilnehmer am 3. Januar jedoch erneut zurückwiesen. Der Beschluss vom 27. Dezember, vor dem 6. Mai 1990 keine neuen Dienste einzurichten, müsse eingehalten werden. Die Regierung wurde aufgefordert, bis zum 8. Januar einen Nachweis über die tatsächliche Entwaff57 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 5. 1. 1990. 58 MdI vom 2. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 59 Der Spiegel vom 8. 1. 1990. 60 Vgl. MdI vom 3. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (ebd.); Die Union vom 4. 1. 1990. 61 Vgl. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 291 f. 62 Vgl. Neues Forum vom 3. 1. 1990 : Protokoll des 5. Runden Tisches ( ABL, DZ 15. Januar, Nr. 171505); Modrow, Aufbruch und Ende, S. 70 f. 63 Aussage Sebastian Pflugbeil. In : Frankfurter Rundschau vom 11. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung vom 11. 1. 1990.

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nung der ehemaligen Mitarbeiter des MfS / AfNS zu liefern. Für den Fall, dass die Regierung die Waffenabgabe nicht bis zu diesem Datum realisiere, drohten die Oppositionsgruppen und die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB ), den Zentralen Runden Tisch zu verlassen und damit ihrerseits die Stabilität der Lage in Frage zu stellen.64 Um die Auf lösung des AfNS begleiten und kontrollieren zu können, beschloss der Zentrale Runde Tisch mehrheitlich, eine eigene „Arbeitsgruppe Sicherheit“ zu bilden, die unter Beteiligung der Bürgerkomitees den Prozess der Auf lösung des AfNS vorantreiben und kontrollieren sollte.65 Nach dem für die SED - PDS ungünstigen Ergebnis beriet Modrow noch am selben Tag mit dem Innenminister, dem Verteidigungsminister und dem designierten Leiter des Verfassungsschutzes. Dieser redete Klartext. Eine zentrale Aufgabe seines Amtes sei der Kampf gegen alle Kampagnen, deren Ziel es sei, „eine Zurückgewinnung und Stabilisierung des Einflusses der SED - PDS sowie eine Formierung von Kräften, die für eine Erneuerung des Sozialismus eintreten, zu verhindern“. Um nicht zuzulassen, „das, was in 40 Jahren an Positivem geschaffen wurde, zu liquidieren und die DDR der BRD zu überlassen“, bestand Einigkeit über die Notwendigkeit der baldigen Schaffung eines Verfassungsschutzes.66 Damit war klar, dass Modrow, der gern den Allparteiencharakter seiner Regierung betonte, die neuen Dienste weiterhin als Instrumente zur Sicherung der Macht der SED - PDS ansah. Er forderte, die neuen politischen Kräfte und Bürgerkomitees stärker zu unterwandern, um sie im Sinne der Politik der SED - PDS beeinflussen zu können. Generalmajor Karli Coburger notierte in sein Diensttagebuch : „Bürgerinitiativen auch von uns ausbauen“.67 Ohne Zweifel plante Modrow, den Verfassungsschutz als Organ der SED - PDS zur Steuerung des politischen Gegners zu nutzen. Der Pressesprecher des AfNS erklärte nach dem Treffen, die Forderung des Zentralen Runden Tisches, die Bildung eines Verfassungsschutzes auszusetzen, bedeute, den Kampf gegen „rechtsextremistische Kräfte“ zu schwächen.68 Tatsächlich trug der Beschluss des Runden Tisches zur weiteren Destabilisierung der Staatssicherheit bei. Die Bezirksämter meldeten, dass es angesichts der Situation „große Schwierigkeiten geben wird, die erforderliche Anzahl geeigneter Genossen für eine Tätigkeit im Verfassungsschutz zu gewinnen“.69

64 Beschlüsse der 5. Sitzung des Rundtischgespräches vom 3. 1. 1990 ( BArch Berlin, A 3 5, Bl. 1–10). Abgedruckt in Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 37–47. 65 Bericht der AG Sicherheit vor dem Zentralen Runden Tisch, Berichterstatter Werner Fischer, vom 12. 3. 1990 ( ABL, H. XI Auf lösung Stasi ). 66 Ausführungen ( Engelhardt ) auf der Beratung bei Modrow vom 3. 1. 1990 ( MDA, AfNS Konzeption Unterlagen ). 67 Diensttagebuch des Leiters der HA VIII, Karli Coburger, o. D. ( BStU, ZA, HA VIII, AKG 1616, Bl. 54 und 58). 68 BZ am Abend vom 3. 1. 1990. 69 Verfassungsschutz der DDR, Lagezentrum vom 3.–4. 1. 1990 : Lagefilm 3/90 ( ebd., ZKG 128, Bl. 139).

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Um die Forderung nach Weiterarbeit des MfS als Verfassungsschutz zu unterstützen, hatten SED - PDS und andere Gruppen für den Abend des 3. Januar zu einer Kundgebung am Treptower Ehrenmal aufgerufen. An dieser „Zusammenrottung Partei - und Stasi - naher Kreise“70 nahmen nach ADN - Angaben 250 000 Personen teil.71 CDU, SPD, Neues Forum, DA und DJ hatten eine Teilnahme ver weigert. Dagegen beteiligten sich Vertreter von LDPD, DBD und NDPD ebenso wie von der Vereinigten Linken, einer „Trotzkistischen Liga Deutschlands“ sowie des FDGB, der FDJ und der SEW.72 Zu den Kundgebungsteilnehmern gehörten Manfred Gerlach, Oskar Fischer, Gregor Gysi, Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Kotschemassow und Vertreter der sowjetischen Weststreitkräfte. Die Kulisse dieser „Versammlung der Gleichgesinnten in feindlicher Umgebung“73 erinnerte an „Aufmärsche vergangener FDJ - Zeiten“.74 Für Berghofer war die Kundgebung „der letzte organisierte Versuch der Gestrigen, das Ganze noch einmal umzudrehen“.75 Gysi sprach sich gegen die deutsche Einheit aus und erklärte : „Unser Land ist in Gefahr, und zwar von rechts. Wir müssen diese Gefahr bannen, sonst brauchen wir über demokratischen Meinungsstreit und anderes gar nicht erst zu diskutieren.“ Die Bildung einer „Einheitsfront gegen rechts“, eines starken Verfassungsschutzes und „antifaschistischer Basisgruppen“ seien die derzeit wichtigsten Aufgaben.76 Damit machte er nochmals deutlich, dass seine Partei keine Demokratisierung, sondern eine Neuauf lage linker Aktionsbündnisse zum Erhalt einer sozialistischen DDR wünschte. Nach Gysis Worten „Allein mit Worten ist es nicht getan !“ skandierten die Demonstranten, unter ihnen zahlreiche Uniformierte, immer wieder „Nazis raus“, „Verfassungsschutz, Verfassungsschutz“ und „Einheitsfront“. Neben den Rednern forderte auch ein Mädchen in der Uniform der ThälmannPioniere mit der Bitte, „auch mal an uns Kinder“ zu denken, im Namen der Kinder die Bildung eines Verfassungsschutzes. Auf Plakaten hieß es „Für eine starke SED - PDS, die größte antifaschistische Kraft der DDR“, „Rotfront gegen rechts“ und „Nieder mit der NATO – verteidigt die Sowjetunion“.77 Für den künftig zu erwartenden Umgang mit abweichenden Meinungen lieferten die Kundgebungsteilnehmer gleich entsprechende Beispiele. Als sich der LDPD - Vertreter und potenzielle Nachfolger Manfred Gerlachs, Hans - Dieter Raspe, gegen linken und rechten Radikalismus sowie die Ausgrenzung Andersdenkender aussprach, erntete er Buh - Rufe und Pfiffe.78 Auch Gerlach wurde 70 Gauck, Die Stasi - Akten, S. 82. 71 Vgl. Knütter, Antifaschismus, S. 22–24. Nach VP - Angaben beteiligten sich ca. 120 000 Personen. Vgl. MdI vom 4. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 72 Gerlach meint fälschlich, die CDU habe sich beteiligt. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 381. 73 So Hans Modrow über die Kundgebung. Zit. bei Momper, Grenzfall, S. 264. 74 Gysi / Falkner, Sturm, S. 113. 75 Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 418. 76 Neues Deutschland / Junge Welt vom 4. 1. 1990. 77 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 5. 1. 1990; Gauck, Die Stasi - Akten, S. 82. 78 Vgl. Falkner, Von der SED, S. 41; Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 292.

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von den Demonstranten ausgepfiffen, was Gysi veranlasste, sich zu entschuldigen. Für ihn musste es unangenehm sein, dass seine Basis - Genossen nicht so geschickt taktierten, wie man es von ihm gewohnt war. Die LDPD - Vertreter standen nach der vom DDR - Fernsehen übertragenen Kundgebung unter Kritik aus den Reihen der FDP und der eigenen Partei. Die Teilnahme Raspes zwang diesen, von seiner Kandidatur für den Parteivorsitz zurückzutreten.79 „Blanke Stimmungsmache“80 richtete sich gegen die CDU, die sich geweigert hatte, teilzunehmen. Am nächsten Tag wiederholte Gysi seine politische Grundauffassung: Man dürfe nicht zulassen, „dass uns die Rechten die Chance auf einen demokratischen Sozialismus in der DDR kaputtmachen“.81 Die FDJ - Zeitung „Junge Welt“ hieb in dieselbe Kerbe : „Geht die Revolution weiter oder verkommt sie zur Konterrevolution ? So klar steht die Frage, und so klar müssen wir alle unsere Antworten darauf geben. Und wer da von antifaschistischer Hysterie spricht, hat entweder die Zeichen der Zeit nicht verstanden oder er hat andere Gründe für die blauäugige Verniedlichung rechter Gefahr.“ Das Blatt lobte unter der Überschrift „Ehrenmalschänder noch unbekannt – nationalistische Plakate aus der BRD gefunden“ zugleich die bisherige Arbeit des MfS, das bei der Abwehr rechter Gefahren gute Arbeit geleistet habe.82 Auch die Modrow- Regierung kündigte Maßnahmen gegen die „Gefahren neonazistischer Umtriebe“ an. Man werde ungeachtet aller Widerstände noch vor freien Wahlen einen Verfassungsschutz bilden.83 Um ihre Ziele durchzusetzen, organisierte die SED - PDS von nun an auch in Kreisen und Kommunen Veranstaltungen gegen rechts und für eine Weiterarbeit der Staatssicherheit. In Freital riefen die SED - PDS, das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und die DSF zu einer Kundgebung unter dem Motto : „Perestroika ja – Nazis nein“ auf.84 In Bautzen forderte das Volkspolizeikreisamt die Einwohner auf, sich gegen neonazistische und chauvinistische Umtriebe zu stellen und bedauerte die Auf lösung des MfS.85 4.4

Stärkung der Staatsorgane durch Einbeziehung neuer Kräfte und Umwandlung der Nationalen Front in eine „nationale Bürgerbewegung“ (4.1.)

Anfang Januar verschärfte sich die Krise der Staatlichkeit weiter. Während Räte und „Volksvertretungen“ an Bedeutung verloren, nahm der Einfluss Runder Tische auf allen Ebenen zu. Am 4./5. Januar gab die Regierung den örtlichen Staatsorganen Empfehlungen für den Umgang mit Bürgergruppen und Runden 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 382. Gysi / Falkner, Sturm, S. 113. Neues Deutschland vom 4. 1. 1990. Junge Welt vom 4. und 5. 1. 1990. Zit. in Frankfurter Rundschau vom 5. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 6./7. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 6./7. 1. 1990.

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Tischen. Um die Stellung der Volksvertretungen und das Funktionieren der Räte zu sichern, sollten Vertreter neuer Gruppen für Arbeitsgruppen und Kommissionen gewonnen werden, möglichst nach dem Dresdner Modell der Zusammenarbeit mit der Gruppe der 20. Die neuen Kräfte sollten in die staatliche Arbeit eingebunden werden, die Runden Tische die Staatsorgane stärken. Um passfähige Runde Tische zu erhalten, nahmen staatliche Stellen nun sogar selbst Einfluss auf deren Bildung. Sie wurden oft durch die Räte ins Leben gerufen und waren in diesen Fällen kaum mehr als Legitimationsorgane staatlicher Institutionen. Obwohl die Volksvertretungen aller Ebenen demokratisch nicht legitimiert waren, wollte Modrow sie erhalten und drängte den Einfluss Runder Tische auf ihre Arbeit zurück. Zwar stellte die Regierung selbst fest, dass zahlreiche Volksvertretungen, darunter auch Bezirkstage wie z. B. der in Karl - Marx - Stadt, nur noch bedingt handlungsfähig waren und ihre Legitimation nicht mehr anerkannt werde, dennoch lehnte sie ein Nachrücken neuer politischer Kräfte als „gesetzeswidrig“ ab und betonte die Notwendigkeit, sie in ihrer bisherigen Zusammensetzung bis zu Wahlen funktionsfähig zu halten. Die neuen politischen Kräfte wurden lediglich zur Mitarbeit als Fraktionen ohne Stimmrecht eingeladen. Es gab kein Vetorecht, die „Koalition der Vernunft“ diente ausschließlich dazu, die Handlungsfähigkeit der Regierung sowie der Räte zu sichern und bedeutete „keine Doppelherrschaft“.86 Der Potsdamer Ratsvorsitzende, Herbert Tzschoppe, notierte, dass Modrow die Lage als gespannt bezeichnete. Sie wirke ruhiger als sie „unter der Decke“ sei. Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung sei politisch aktiv : „Opp. Abwehr bis Kontra“, der größte Teil aber sitze zu Hause. Er betonte, dass es Modrow „immer wieder um die Frage geht, dass nichts überstürzt werden soll“.87 Modrows Absicht, die Staatsgewalt möglichst lange in den Händen seiner Partei zu sichern, drückte sich auch im Versuch der Schaffung einer simulierten Bürgerbewegung aus. Ende November / Anfang Dezember hatten die bisherigen Blockparteien das SED - Joch abgeschüttelt und die Nationale Front sowie den Block verlassen. Ungeachtet der so eingeleiteten Demokratisierung der Parteienlandschaft hatte eine Konferenz ehrenamtlicher Vorsitzender von örtlichen Ausschüssen der Nationalen Front am 13. Dezember ein Aktionsprogramm zur Umwandlung der Ausschüsse in eine nationale Bürgerbewegung beschlossen.88 Da in sämtlichen Bezirks - , Kreis - und Stadtbezirksdienststellen der Nationalen Front SED - Kader saßen und nun als „Koordinatoren“ firmierten, kritisierte der 86 Empfehlungen für die Zusammenarbeit der örtlichen Staatsorgane mit basisdemokratischen Gruppen und Bürgerinitiativen vom 4. 1. 1990 ( SächsStAL, RdB / BT, 38212); Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 12. 1. 1990 : Auswertung der Dienstberatung beim Vorsitzenden des Ministerrates am 5. 1. 1990 ( ebd., 21318). 87 Zit. in Ausführungen Modrows auf der Beratung des Ministerrates mit den Vorsitzenden der RdB am 5. 1. 1990, Mitschrift Herbert Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A /3274). 88 Aktionsprogramm für die Erneuerung der Arbeit der Ausschüsse der Nationalen Front und die Bildung einer nationalen Bürgerbewegung vom 13. 12. 1989 ( BArch Berlin, A 3 5, Bl. 41–43).

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Bezirksverband Halle der LDPD die Umwandlung als untauglichen Versuch der SED - PDS, „den verfassungsmäßig revidierten Führungsanspruch zu restaurieren“. Die Geschäftsstellen der Nationalen Front seien nichts anderes als „getarnte Wahlkampfzentren der SED - PDS, die noch dazu aus dem Staatshaushalt finanziert werden“. Die LDPD forderte deren sofortige Auf lösung und die Übergabe der Mittel an neue Parteien und Bewegungen.89 Trotz solcher Proteste wurde das Aktionsprogramm dem Ministerrat vorgelegt, der am 4. Januar beschloss, die Erneuerung der Ausschüsse der Nationalen Front und die Herausbildung einer „nationalen Bürgerbewegung“ zu fördern. Sie sollte auch an den Runden Tischen Platz finden.90 Anstatt die neuen Parteien und Gruppen zu unterstützen und sich selbst in die Front der aktiven demokratischen Erneuerer einzureihen, versuchte Modrow, die Nationale Front zur staatlich inszenierten und gesteuerten „Bürgerbewegung“ umzuformen. Deutlicher konnte er sein gebrochenes Verhältnis zum Demokratisierungsprozess nicht unter Beweis stellen. Hier wurde der Versuch unternommen, für das angestrebte neosozialistische Regime Strukturen zu schaffen, mit denen die SED - PDS ihre Vormacht trotz Wahlen sichern konnte. Seine Regierung plante, auf Bezirks - und Kreisebene hauptamtliche Geschäftsstellen der „von oben“ ins Leben gerufenen „Bürgerbewegung“ zu installieren. Modrow wies die Ratsvorsitzenden der Bezirke am 5. Januar persönlich an, die Arbeit der „Nationalen Front“ zu unterstützen.91 Diese wiederum gaben die Anweisungen an die Staatsorgane in Städten und Gemeinden weiter.92 Einen Tag später beriet die Initiativgruppe zur Herausbildung einer nationalen Bürgerbewegung der DDR in Berlin deren Bildung und Tätigkeit und forderte eine Beteiligung am Runden Tisch.93 Auf Anweisung der Regierung ließen die Räte der Bezirke in allen Kreisen Geschäftsstellen bilden.94 In Kreisen und Orten trafen sich nun die bisherigen Funktionäre der Nationalen Front, um die Ortsausschüsse in „Bürgerkomitees“ umzubilden.95 Der SED89 LDPD - BV Halle : Nationale Front oder nationale Bürgerbewegung ?, o. D. ( ABR Halle, 20989). 90 Beschluss des Ministerrates der DDR 8/14/90 vom 4. 1. 1990 zur Unterstützung der Erneuerung der Arbeit der Nationalen Front und zur Herausbildung einer nationalen Bürgerbewegung ( BArch Berlin, C 20 I /3–2889, Bl. 108–115). 91 Ausführungen von Hans Modrow und Moreth Moreth auf der Beratung des Ministerrates mit den Vorsitzenden der RdB am 5. 1. 1990, Mitschrift Herbert Tzschoppe ( Brandenburg. LHA, A /3274); Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 12. 1. 1990 : Auswertung der Dienstberatung beim Vorsitzenden des Ministerrates am 5. 1. 1990 vom 15. 1. 1990 ( SächsStAL, 21318). 92 Beschlussprotokoll der 106. Sitzung des RdB Erfurt vom 8. 1. 1990 ( ThHSTA, 042044); RdB Erfurt, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden vom 17. 1. 1990 : Fragen der Erneuerung der Arbeit der bisherigen Ausschüsse der Nationalen Front der DDR und ihre Umwandlung in eine Nationale Bürgerbewegung ( ebd., 042025). 93 Vgl. Berliner Zeitung vom 8. 1. 1990. 94 Vgl. Ausführungen des Vorsitzenden des RdB Potsdam, Herbert Tzschoppe, zur Beratung mit den Vorsitzenden der RdK und Städte Potsdam und Brandenburg vom 12. 1. 1990 ( Brandenburg. LHA, A /3271). 95 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 13./14. 1. 1990; Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 16. und 25. 1. 1990.

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PDS ging es vor allem darum, dass die staatlich gesteuerten „Bürgerkomitees“ an den Runden Tischen Platz fanden, um die Mehrheiten zugunsten der SED PDS zu verändern.96 Das Vorgehen entsprach einer bewährten Strategie, mit der die SED schon in der Zeit nach 1946 mit sowjetischer Unterstützung die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten manipuliert hatte. An einem 1. Kongress der „Nationalen Bürgerbewegungen“ beteiligten sich Vertreter von 2 200 Bürgerkomitees der DDR und wählten die Schauspielerin Annekathrin Bürger zur Vorsitzenden. Nicht nur wegen der gleichzeitigen Benachteiligung der neuen Bürgerbewegungen blieb Kritik am allzu offensichtlichen Manöver Modrows nicht aus. Der Runde Tisch des Bezirkes Leipzig bewertete die Einrichtung einer Bürgerbewegung per Regierungsbeschluss am 18. Januar als eine Provokation, die die Grundlage der Arbeit der Runden Tische untergrabe.97 Der Protest wurde hier übrigens auch vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Draber, mitgetragen, der den Staatscoup eigentlich hätte unterstützen sollen. Umso heftiger war die Reaktion der Funktionäre, die durch die staatlich gelenkte „Bürgerbewegung“ auf eine beruf liche Zukunft hofften. „In einer Zeit,“ so ihre Entgegnung, „da Ökonomie und Rechtsstaatlichkeit an Wert verlieren, Toleranz und Humanismus zunehmend plakativen Charakter erhalten“, spreche der Runde Tisch „engagierten Bürgern das Recht ab, sich für Bürgerwohl und Mitverantwortung“ einzusetzen. Es gebe Medienfreiheit und Chancengleichheit de facto in unserem Land „schon wieder nicht mehr“, da wolle man auch noch „der sich entwickelnden nationalen Bürgerbewegung“ den Garaus machen.98 Derartige Erklärungen zeigten, welch Geistes Kind die „nationalen Bürgerbewegungen“ waren und verstärkten die Proteste gegen sie noch.99 Für Ärger sorgten auch Fälle wie der in Grimma, wo sich Bürger freuten, dass es endlich eine Bürgerbewegung wie in anderen Kreisen gab, dann aber feststellen mussten, dass es sich um die altbekannte Nationale Front handelte.100 Mit der weiteren Demokratisierung löste sich das Problem der Nachfolgestrukturen der Nationalen Front bald von selbst. Vereinzelt dümpelten sie noch bis zum Frühsommer vor sich hin, ihr Auf lösungsprozess setzte aber bereits im Februar ein.101 Immerhin hatten sie, neben der 96 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 25. 1. 1990. 97 Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990, Anlage 3 : Draber an Modrow ( SächsStAL, BT / RdB, 31255, Bl. 1–10). Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 20. 1. 1990. 98 Initiativgruppe für die Erneuerung der Arbeit der Ausschüsse der Nationalen Front und ihre Umwandlung in eine nationale Bürgerbewegung vom 24. 1. 1990 : Erklärung – Wider der Vernunft ? ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 170). 99 Vgl. Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Suhl vom 1. 2. 1990 ( ThSTAM, 2761); Beschlussprotokoll des RTB Potsdam vom 14.2.90 ( Brandenburg. LHA, Bez. Pdm. Rep. 401, BT / RdB Potsdam, II /279). 100 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 8. 3. 1990. 101 Vgl. Nationale Front der DDR, WBA III Schmölln, o. D. ( KA Altenburg, RdK, SLN Nationale Front 8); Protokoll des RTS Borna vom 10. 4. 1990 ( StV Borna ); Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 7. 3. 1990; Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 3. 5. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 9. 5. 1990.

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versuchten Installierung eines Verfassungsschutzes, geholfen, eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich Modrow unter demokratischem Sozialismus vorstellte. 4.5

Volksvertretungen, Runde Tische, Bürgerkomitees

Runde Tische der Bezirke : In Dresden hatte der Runde Tisch des Bezirkes am 4. Januar, dem Tag der neuen Richtlinien Modrows, die Integration basisdemokratischer Gruppen in den Bezirkstag mit Diskussions - und Antragsrecht gefordert. Sonstige Themen waren die Wirtschaft, die Auflösung des MfS und die Benachteiligung neuer Gruppen in den Medien.102 Der Präsident des Bezirkstages, Rentsch, schlug den basisdemokratischen Gruppen und Parteien vor, je zwei Mitglieder mit beratender Stimme, aber ohne Stimmrecht, zu benennen.103 DA, SDP und Grüne Partei machten davon Gebrauch. Im Statut, das der Runde Tisch des Bezirkes am 11. Januar beschloss, wurde die von Modrow geforderte Dominanz der Staatsorgane akzeptiert. Aufgabe des Runden Tisches war es demnach lediglich, Empfehlungen, Anfragen und Forderungen an die örtlichen Staatsorgane zu stellen. Dazu sei der Runde Tisch „legitimiert durch den Willen des Volkes, das auf der Straße gewaltfrei den Weg zur Demokratie erzwungen hat“. Er sei Ausdruck des Demokratisierungsprozesses und ein Angebot an alle politischen Kräfte zum Gedankenaustausch über die Zukunft des Landes. Durch Dialogbereitschaft aller demokratischen Kräfte sollten Voraussetzungen für freie Wahlen geschaffen werden.104 In Karl - Marx - Stadt tagte der Runde Tisch des Bezirkes am 5. Januar zum dritten Mal. Der Regierungsbeauftragte informierte über den Stand der MfS Auf lösung, ein BDVP - Vertreter über die Lage bei der Volkspolizei. Dann wurden Wirtschaftsentwicklung und Medienpolitik beraten. Streit gab es um Platz für die neuen Gruppen in der „Freien Presse“.105 Vor dem Runden Tisch des Bezirkes Leipzig berichtete der Ratsvorsitzende am 2. Januar über seine Tätigkeit. Anfragen des Runden Tisches wurden vom Rat schriftlich beantwortet. In Umsetzung der Anweisungen Modrows beschloss der Rat Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeit des Runden Tisches. Am Runden Tisch wurde vereinbart, künftig bei Montagsdemonstrationen auf Kundgebungen zu verzichten, da diese inzwischen zu unkonstruktiv seien. Die Parteien sollten künftig eigene Wahlveranstaltungen durchführen. Angesichts der Kampagne der SED - PDS, die oppositionellen Gruppen „zu verunglimpfen und sich selbst unangemessen breit und einseitig in den Vordergrund zu schieben“, 102 Protokoll der 3. Sitzung des RTB Dresden vom 4. 1. 1990 ( PB Matthias Rößler ). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 9. 1. 1990. 103 Kommunique über die Beratung des Präsidiums des BT Dresden vom 9. 1. 1990 (SächsHStA, BT / RdB, 46123, Bl. 168 f.). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 10. 1. 1990. 104 Statut des RTB Dresden vom 11. 1. 1990 ( HAIT, Iltgen 3, Programme, Gutachten ). 105 Protokoll des 3. RTB Karl - Marx - Stadt vom 5. 1. 1990 ( SächsStAC, RTB Karl - Marx Stadt, 2).

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Diagramm 18: Anzahl Runder Tische pro Woche.

beschlossen SDP, IFM und Neues Forum jedoch, weiterhin Kundgebungen zur Publizierung ihrer Auffassungen durchzuführen.106 Kommunale Runde Tische : Unterdessen bildeten sich in immer mehr Kommunen Runde Tische, die sich gegenüber den örtlichen Staatsorganen als beratende und kontrollierende Institutionen verstanden. Oft lud der Bürgermeister dazu ein, oder die Parteien einigten sich darauf. Neben kommunalen Themen standen meist die Arbeit des MfS, der Umgang mit ehemaligen Mitarbeitern und die Politik der SED auf der Agenda. Im Bezirk Dresden bildeten sich kommunale Runde Tische ( soweit bekannt ) am 3. Januar in Radebeul ( Dresden Land),107 am 4. Januar in Sohland ( Bautzen ),108 Radeburg ( Dresden - Land )109 und Niederoderwitz ( Löbau ),110 am 9. Januar in Schmiedeberg ( Dippoldiswalde ), am 10. Januar in Hermsdorf ( Dippoldiswalde ),111 Elstra ( Kamenz )112 und Großschönau ( Zittau )113 sowie am 11. Januar in Neukirch ( Bischofswerda ),114 106 Protokoll des RTB Leipzig vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31254, Bl. 1–10); Erklärung oppositioneller Gruppen zur Montagsdemonstration, o. D. ( ABL, H. I ); Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 5. 1. 1990 ( SächsStAL, 21319). Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 4. und 5. 1. 1990. 107 Vgl. Die Union vom 12. 1. 1990. 108 Vgl. PB Ronny Heidenreich. 109 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 12. 1. 1990. 110 Konstituierung des Runden Tisches Niederoderwitz, 1. Beratung, o. D. ( HAIT, StKa ); Zur Chronologie der Geschehnisse in Niederoderwitz ( ebd.). 111 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 13./14. und 31. 1. 1990. 112 Protokoll Nr. 1 des Runden Tisches in Elstra vom 10. 1. 1990 ( HAIT, StKa ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13./14. 1. 1990. 113 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 10. 1. 1990. 114 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 17. 1. 1990.

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Wilsdruff ( Freital )115 und Neustadt ( Sebnitz ).116 Vorbereitungen gab es in Oybin ( Zittau )117 und in in Demitz - Thumitz ( Bischofswerda ).118 Im Bezirk Karl - MarxStadt entstanden kommunale Runde Tische am 2. Januar in Reichenbach,119 am 3. Januar in Karl - Marx - Stadt,120 am 4. Januar in Sosa ( Aue )121 und am 11. Januar in Oberlungwitz ( Hohenstein - Ernstthal ).122 In Oberlauterbach ( Auerbach ) setzte sich der vom Pfarrer unter Teilnahme der Parteien gebildete Runde Tisch über die Direktiven Modrows hinweg und setzte die Gemeindevertretung außer Kraft.123 Im Bezirk Leipzig bildeten sich kommunale Runde Tische am 3. Januar in Colditz ( Grimma )124 und später auch in Roßwein ( Döbeln )125 sowie in Altenburg,126 wo es bereits einen Runden Tisch des Kreises gab. Nicht überall bildeten sich Runde Tische. In Dresden übernahm die Gruppe der 20 eine vergleichbare Funktion, in Oschatz gab es eine von der Kirche geführte Montagsrunde, die am 15. Januar erstmals offiziell zusammentrat und sich mit dem Thema „Gesundheitswesen“ befasste. Die Montagsrunde war auf Initiative aller Parteien unter Ausschluss der SED - PDS beschlossen worden und entsprach der Idee Runder Tische. Allerdings sollten mit der besonderen Form Versuche der SED - Kreisleitung zurückgewiesen werden, einen Runden Tisch nach eigenen Prämissen zu etablieren. So entstand Dank der Initiative von Superintendent Kupke ein Runder Tisch des Kreises, der nicht unter dem Einfluss des Partei - und Staatsapparates statt. Dennoch berieten hier nicht nur neue Parteien und Gruppierungen, sondern auch die Vertreter des bisherigen Parteiund Staatsapparates. Bei der Runde handelte es sich weder um ein vorparlamentarisches noch um ein exekutives Gremium. Allerdings fanden ihre Vorschläge im Rat der Stadt oder dem Kreistag Beachtung.127 In Blankenstein ( Freital )128 und Herrnhut ( Löbau ) gab es Einwohnerversammlungen, bei denen die kommunalen Probleme beraten wurden.129 In Neustadt ( Auerbach ) gab es statt eines Runden Tisches eine erweiterte Gemeindevertreterversammlung und von der CDU organisierte Bürgerforen. Auch in Rebesgrün ( Auerbach ) gab es kei115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 20./21. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 13./14. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 23. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 6./7. 1. 1990. Vgl. Landratsamt Reichenbach, Wir sind das Volk, S. 117. Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 6./7. 1. 1990. Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa vom 17. 3. 1999 ( HAIT, StKa ). Vgl. Die Ereignisse der politischen Wende in Oberlungwitz ( HAIT, Hoh - I 6). Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 157. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 12. 1. 1990. Vgl. Runder Tisch tagte in Roßwein von Januar 1990 ( HAIT, StKa ); Personen des Vertrauens zur Teilnahme am Runden Tisch in Roßwein von Januar 1990 ( ebd.). Vgl. Klaus Gutmann, Informationen zum „Runden Tisch“. In : klartext. Informationsblatt des Neuen Forums Altenburg / Thüringen vom 6. 1. 1990 ( KA Altenburg, RdK ABG Kultur 77A ). Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 121 f. und 157. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 25. 1. 1990. Vgl. Chronologie der Wende in Herrnhut und die Abraham Dürninger Stiftung ( HAIT, StKa ).

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nen Runden Tisch.130 Auf Beschluss des Runden Tisches des Bezirkes Leipzig wurde in Leipzig ein Bürgerkomitee tätig.131 Runde Tische der Kreise : Im Bezirk Dresden konstituierten sich Runde Tische der Kreise am 4. Januar in Dippoldiswalde132 und Görlitz,133 am 5. Januar in Löbau134 und Pirna135 sowie am 11. Januar in Dresden - Land,136 im Bezirk KarlMarx - Stadt am 3. Januar in Zwickau - Land,137 am 9. Januar in Hainichen138 und am 10. Januar in Glauchau.139 Bei kreisfreien Städten fungierten sie entweder als Runder Tisch vom Stadt und Landkreis wie in Görlitz oder nur für den Landkreis wie in Dresden, wo es wegen der anderen Struktur mit der Gruppe der 20 auf Stadtkreisebene keinen Runden Tisch gab. Aber auch bei Kreisstädten gab es oft eine Doppelfunktion. Themen der laufenden Arbeit kommunaler bzw. Runder Tische der Kreise waren neben umfänglichen Geschäftsordnungsdebatten und Fragen der Zusammensetzung eine Vielzahl kommunaler Probleme wie etwa der Altstadtsanierung, des Gesundheitswesens, Fragen der Organisation sowie der Rolle Runder Tische im Verhältnis zu den Staatsorganen, der Umgang mit der Kampagne der SED - PDS „gegen rechts und deutsche Einheit“ sowie mit bisherigen Staats - und Parteifunktionären, die Auf lösung des MfS samt Umgang mit dessen Mitarbeitern, die Auf lösung der Kampfgruppen, SED - Parteifinanzen, Ordnung und Sicherheit, Volkspolizei, die Eingliederung ehemaliger Funktionäre, Partnerschaftsbeziehungen mit bundesdeutschen Städten, eine Demokratisierung der Presselandschaft und Wahlvorbereitungen sowie die Volksbildung. Strittig diskutiert wurde die von der SED - PDS vorgeschlagene Aufnahme der Nationalen Front. Bürgerinitiativen / Bürgerkomitees: Neben den Runden Tischen bildeten sich auch im Januar in Kommunen und Kreisen weitere Bürgerinitiativen. Sie befassten sich vor allem mit der MfS - Auflösung, mit Korruption und Amtsmissbrauch und forderten ein Ende des Einflusses der SED - PDS. Daneben bildeten sich aber auch Initiativen und Komitees zu kommunalen Problemen. Die Bürgerinitiativen organisierten sich oft auf Kreisebene.

130 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 155–157. 131 Vgl. Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31254, Bl. 1–10). 132 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 6./7. 1. 1990. 133 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 9. und 11. 1. 1989; Lausitzer Rundschau vom 11. 1. 1990. 134 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 9. 1. 1990. 135 Vgl. Teilnehmer des RTS Pirna vom 5. 1. 1990 ( StA Pirna, ZA, 2001, 42 Runder Tisch, Bl. 1). 136 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 13./14. 1. 1990. 137 Protokoll des 1. RTK Zwickau - Land, o. D. ( Friedensbibliothek Zwickau ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 5. 1. 1990. 138 Vgl. Christoph Körner, Erinnerungen an die Zeit der Runden Tische ( PB Christoph Körner ). 139 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 12. 1. 1990.

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Bezirk Dresden: Am 2. Januar fand in Königsbrück ( Kamenz ) eine Beratung der Bürgerinitiativen des Kreises statt, bei der gefordert wurde, alle Beschlussvorlagen des Kreistages dem Runden Tisch vorzulegen. „Mit Entsetzen“ wurde registriert, dass seitens der SED - PDS „demokratische Kräfte als rechtsradikale Elemente bezeichnet werden“. Bürgerinitiativen und Parteien wurden aufgerufen, die „alten Machtstrukturen ein für allemal zu beseitigen“.140 Am 5. Januar erging ein Aufruf an „alle Gemeinden des Kreises Kamenz“ zur Bildung unabhängiger Bürgerinitiativen unter dem Motto: „Schützt euch vor den Wendehälsen !“141 In Kleinopitz ( Freital ) organisierte ein Bürgerkomitee eine Willensbekundung gegen den Bau eines Rinderstalls in der Nähe von Wohnhäusern.142 In Cunewalde ( Löbau ) konstituierte sich eine Bürgerinitiative Ökologie.143 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Böhrigen ( Hainichen ) bildete sich eine Bürgerinitiative, weil man meinte, „dass der allgemeine Aufbruch in unserem Land an den Dörfern vorbeigegangen war und deren Einwohner in einer Art Lethargie dahin lebten“. Ziel war es, die neugebildeten Parteien und Organisationen vorzustellen, um die Entscheidung bei der freien Wahl zu erleichtern.144 Die Bürgerinitiative Markneukirchen verstand sich als Vereinigung verschiedener politischer Strömungen zur Wahrung demokratischer Interessen. Sie forderte einen freien Medienzugang und die Länderbildung, befasste sich aber auch mit der Umweltsituation, der Ver - und Entsorgung und der Vorbereitung der Wahlen.145 In Werdau wurde zur Wahl eines Bürgerrates für den südlichen Teil des Kreises aufgerufen, der eine „basisdemokratisch gewählte Ergänzung zu bisherigen Gremien“ und ein „revolutionäres Kontrollgremium“ sein sollte.146 Der Bürgerrat wurde am 18. Januar von 205 Werdauern gewählt. Vertreten waren DA, Friedensseminar, röm. - kath. und ev. - luth. Kirche, LDPD, Neues Forum und Unabhängige. Vertreter der Bauernpartei und der SED - PDS wurden nicht gewählt. CDU und SPD hatten, weil sie kein konkurrierendes Gremium zum Runden Tisch wünschten, keine Kandidaten aufgestellt. Arbeitsgebiete waren Wohnungsangelegenheiten, unrechtmäßiger Hauserwerb sowie Volkspolizei und MfS.147 Im Kreis Brand - Erbisdorf gründete sich ein Arbeitskreis Demokratie zur Durchsetzung der demokratischen Erneuerung.148 In Kürbitz ( Plauen ) bildete sich Anfang Januar eine Bürgerinitiative.149 In Zwönitz ( Aue ) scheiterten Bemühungen, angesichts der Unregierbarkeit der Stadt einen Rat unabhängiger und angesehener Persönlichkeiten auf die Beine zu stellen.150 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150

Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 11. 1. 1990. Ebd. vom 5. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 31. 1. 1990. Niederschrift des Anrufes von Pfarrer Groß in Cunewalde ( bei Bautzen ) vom 11. 3. 1999 ( HAIT, StKa ). Böhrigen – Bürgerinitiative gebildet ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 534, 1). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 13. 1. 1990. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 17. 1. 1990. Vgl. Meusel, Wunde Punkte – Wendepunkte, S. 32. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 18. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 26. 1. 1990. Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II vom 31. 10. 1989 ( HAIT, StKa).

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Bezirk Leipzig : Im Bürgerkomitee Leipzig wirkten Vertreter neuer Parteien und Gruppierungen, des Rates der Stadt und der Ex - Blockparteien mit. Hier wurde Anfang Januar beschlossen, keinen Runden Tisch wie auf der Ebene des Bezirkes zu bilden. Der Runde Tisch des Bezirkes bestätigte die Ziele und Arbeitsgrundsätze des Bürgerkomitees, dessen Ziel die demokratische Umgestaltung sowie die Funktionstüchtigkeit des Territoriums war. Es stand allen Parteien und demokratischen Gruppen sowie Konfessionen zur Mitwirkung offen. Der Runde Tisch des Bezirkes empfahl, in den Stadtbezirken „Bürgergruppen“ analog zu bilden und Bürgerinitiativen zu konstituieren.151 In den Kreisen gab es vereinzelt Bürgerinitiativen. Eine demokratische Bürgerinitiative bildete sich am 10. Januar in Strelln ( Eilenburg ).152 In Gersdorf ( Döbeln ) entstand Ende Januar eine Bürgerinitiative für die Zeit bis zur Wahl eines demokratisch gewählten Gemeinderates.153 In Grimma rief Ende Januar eine Initiativgruppe zur Bildung eines Bürgerkomitees auf, die eine „Alternative zum stalinistischen Machtapparat in der DDR und zur Scheindemokratie in der BRD“ schaffen wollte.154 In Bad Düben ( Eilenburg ) konstituierte sich am 4. Januar eine Antragskommission aus Vertretern der Ex - Blockparteien, der Kirche und verschiedener Organisationen. Ziel war die Erarbeitung praktikabler kommunalpolitischer Lösungen auf der Grundlage von Vorschlägen der Bürger, die dem Rat der Stadt zur Entscheidungsfindung vorgelegt werden sollten.155 Die unterschiedlichen Gremien, die sich neben Runden Tischen oder statt ihrer bildeten, waren Ausdruck einer ungesteuerten Demokratisierung von unten. Mit ihnen gelang es besser, kommunale und regionale Probleme unter den Bedingungen der Transformation zu behandeln als in den Volksvertretungen, die in Struktur und Besetzung die untergehende diktatorische Struktur verkörperten. Stadtverordnetenversammlungen / Kreistage : Dennoch arbeiteten auch sie mehr recht als schlecht weiter. Bei Stadtverordnetenversammlungen und Sitzungen der Räte der Kommunen ging es neben kommunalen Problemen meist um Kaderfragen, Abberufungen, Misstrauensanträge oder Chancengleichheit der Parteien im bereits einsetzenden Wahlkampf.156 Von einer sachgerechten Arbeit konnte kaum noch die Rede sein. Typisch war ein Zeitungskommentar zur Stadtverordnetenversammlung Kamenz : „Viel geredet, aber kaum Ergebnisse“.157 Nicht anders war die Lage in den Kreistagen und bei Ratssitzungen. Oft 151 Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31254, Bl. 1–10); Geschäftsordnung des Bürgerkomitees Leipzig, o. D. ( ebd., Bl. 63–65); SEDPDS - Stadtvorstand Leipzig vom 2. 1. 1990 : Zum Bürgerkomitee der Stadt Leipzig ( ebd., SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 42). 152 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 16. 1. 1990. 153 Vgl. Gemeindeverwaltung Gersdorf an Sächsische Staatskanzlei vom 25. 3. 1999 ( HAIT, Döbeln B2). 154 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 30. 1. 1990. 155 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 18. 1. 1990. 156 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 9. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 6./7. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 16. 1. 1990; Sächsisches Tageblatt vom 9. 1. 1990. 157 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13./14. 1. 1990.

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musste erst einmal geprüft werden, ob genügend Abgeordnete für Abstimmungen anwesend waren. Es gab Debatten über neue Geschäftsordnungen.158 Die regionale Sacharbeit war weniger ideologisch ausgerichtet als zuvor.159 Bei der Kreistagssitzung in Reichenbach am 11. Januar bildeten CDU, LDPD und NDPD eine Wahlplattform. Die Abgeordneten dieser Parteien erklärten, sie fühlten sich vom Volk nicht legitimiert und gaben ihre Mandate zurück.160 Auch in Sosa ( Aue ) sprach der Runde Tisch der Bürgermeisterin und dem Gemeinderat die Anerkennung ab, da sie nicht nach demokratischen Prinzipien gewählt worden seien, und forderte sie auf, ihre Mandate niederzulegen, um Neuwahlen auf kommunaler Ebene zu ermöglichen.161 4.6

Proteste Anfang Januar

Nach der Weihnachtspause setzten Anfang Januar neue Proteste ein. Die Positionen der SED - PDS zur nationalen Frage, zum Erhalt einer reformsozialistischen DDR und zur Weiterarbeit der Staatssicherheit führten vor allem im Süden der DDR zu einer Radikalisierung bei den Demonstrationen. Überall gab es Befürchtungen vor einer erneuten Machtergreifung durch die SED - PDS. Bezirk Dresden : In Rothenburg ( Niesky ) waren am 1. Januar die Losungen „Kommunisten raus“, „Kommunisten ins Museum“ und „Deutschland – Wiedervereinigung“ zu lesen.162 Die 9. Meißner Demonstration am 2. Januar forderte „Mitbestimmung statt Machtmissbrauch in Betrieben Kommunen und im Kreis“.163 Bei einem ersten Treffen in Königsbrück am 2. Januar protestierten die Bürgerinitiativen des Kreises Kamenz dagegen, dass „demokratische Kräfte als rechtsradikale Elemente bezeichnet werden“. Alle Bürgerinitiativen und Parteien, die eine wirkliche Wende wollten, müssten zusammenzuarbeiten, um die alten Machtstrukturen ein für allemal zu beseitigen.164 Am 4. Januar protestierte der Runde Tisch des Bezirkes Dresden gegen die Überbrückungsgelder und beantragte eine Überprüfung der Regelung.165 Zu kleineren Demonstrationen kam es in verschiedenen Orten des Bezirkes.166 In Sebnitz forderten 500 158 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 16. 1. 1990. 159 Vgl. Beschlussprotokoll der 20. Sitzung des RdK Sebnitz vom 4. 1. 1990 ( Landratsamt Sächsische Schweiz, KA Pirna, 173, Bl. 2); Protokoll der Sitzung des RdK Zittau vom 15. 1. 1990 ( KA Zittau, 4790). 160 Landratsamt Reichenbach, Wir sind das Volk, S. 118. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 13. 1. 1990. 161 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa ( HAIT, StKa ). 162 Polizeiamt Niesky vom 1.–2. 1. 1990 : Lagefilm zum Rapport 1/90 ( SächsHStA, VPKA Niesky, 989). 163 Die Union, Ausgabe Meißen, vom 3. 1. 1990. 164 Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 11. 1. 1990. 165 Vgl. Informationszentrum vom 9.–10.1.1990: Lage in den Bezirken (BStU, ZKG 129, Bl. 106); Protokoll der 3. Sitzung des RTB Dresden vom 4.1.1990 (PB Matthias Rößler). 166 Vgl. MdI vom 5. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Demonstranten die Wiedervereinigung, die Bekanntgabe aller MfS - Mitarbeiter und protestierten gegen eine Abfindung für MfS - Angehörige und die SED - PDSKampagne gegen rechts.167 In Niesky demonstrierten am selben Tag ca. 200 Menschen.168 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Die Bürgerinitiative Eppendorf und Großwaltersdorf ( Flöha ) wandte sich am 1. Januar gegen neue Sozialismusversuche. Vierzig Jahre hätten die Kommunisten die Chance gehabt, einen wahrhaften Sozialismus zu gestalten, tatsächlich aber habe sich eine „rote Mafia“ gebildet, die derzeit versuche, die Befürworter der deutschen Einheit als Neofaschisten zu diffamieren. Deswegen müsse weiter demonstriert werden.169 In Annaberg-Buchholz protestierten am 1. Januar 250 Demonstranten gegen fortbestehende SED - Strukturen in Betrieben und Einrichtungen.170 Die Ortsgruppe Hohenstein - Ernstthal des Neuen Forums rief zu einer Aktion „Für ein Land Sachsen“ per Hissen der Sachsen - Fahne auf.171 In Karl - Marx - Stadt forderte die SDP auf einer Kundgebung am 1. Januar die Rückbenennung in Chemnitz und die deutsche Einheit.172 Am 2. Januar setzten auch in Zwönitz ( Aue ) die wöchentlichen Demonstrationen wieder ein. Hauptforderung war die Abschaffung des MfS.173 Im Zusammenhang mit der beschlossenen Zahlung von Übergangsgeldern an MfS - Mitarbeiter kam es im VEB Germania und VEB Schraubenwerk Karl - Marx - Stadt zu Streikandrohungen.174 Auf einer Kundgebung der Deutschen Forumpartei in Limbach - Oberfrohna ( Karl - Marx - Stadt - Land ) am 3. Januar mit 3 000 Teilnehmern gab es Forderungen nach Wiedervereinigung, der Bildung von Ländern und der Rückbenennung von Karl - Marx - Stadt in Chemnitz. Sprecher der DFP protestierten gegen den politischen Missbrauch rechter Tendenzen zur Weiterarbeit der Staatssicherheit und riefen zum Wahlbündnis der oppositionellen Gruppen gegen SED - PDS und Blockparteien auf.175 Am 4. Januar kam es in verschiedenen Orten des Bezirkes Karl - Marx - Stadt zu kleineren Demonstrationen.176 In Thum ( Zschopau ) forderte am 4. Januar eine Bürgerinitiativgruppe 167 Vgl. BDVP Dresden vom 4.1.–10. 1. 1990 : Lage ( SächsHStA, BDVP I /73). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 6./7. 1. 1990. 168 Vgl. Polizeiamt Niesky vom 4.–5. 1. 1990 : Lagefilm zum Rapport 1/90 ( ebd., VPKA Niesky, 989). 169 Bürgerinitiative Eppendorf und Großwaltersdorf vom 1. 1. 1990 : Start oder Fehlstart, Vertrauen für wen ? ( HAIT, StKa ). 170 Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 13. 171 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 28. 12. 1989. 172 Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 13. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 3. 1. 1990. 173 Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). 174 Vgl. Informationszentrum vom 4.–5. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 105 f. und 109). 175 Vgl. MdI vom 4. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445); Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 6. 1. 1990. 176 Vgl. MdI vom 5. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445).

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Kampf dem Restaurationskurs der SED-PDS

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einen Volksentscheid über eine Konföderation.177 Am Runden Tisch des Kreises Oelsnitz wurden die Vertreter der SED - PDS mit Vorwürfen gegen die Neofaschismus - Kampagne und Überbrückungsgelder an ehemalige MfS - Mitarbeiter konfrontiert.178 In Hohenstein - Ernsthal wurde am 5. Januar mit Warnstreiks gegen Übergangszahlungen an frühere Mitarbeiter des MfS und Staatsfunktionäre gedroht. In Olbernhau ( Marienberg ) beteiligten sich etwa 300 Menschen an einer Kundgebung des Neuen Forums.179 In Auerbach beteiligten sich nach einem Aufruf der „Bürgerinitiative im Kreis Auerbach“ ( BIKA ) ca. 12 000 Teilnehmer an einem Schweigemarsch „Gegen SED“ und „Für Wiedervereinigung“. An einer Kundgebung nahmen zum ersten Mal bundesdeutsche Gäste teil, erstmals wurde die Vogtlandhymne gesungen.180 Bezirk Leipzig : Ruhiger blieb es im Bezirk Leipzig, wo der Runde Tisch des Bezirkes am 2. Januar eine Aussetzung der Kundgebungen an den Montagabenden beschloss.181 4.7

Tagung der Bürgerkomitees der Bezirke am 5. Januar und Lage in den Bezirksämtern der Staatssicherheit

Am 5. Januar fand ein erstes Koordinierungstreffen von Beauftragten aller Bürgerkomitees der DDR in Leipzig statt. Auf einer Pressekonferenz in der „Runden Ecke“ warfen sie der SED - PDS vor, sie nutze neonazistische Erscheinungen im parteipolitischen Interesse und um „undemokratische Machtinstrumente zu rekonstruieren“. Auch die geplante Umwandlung des AfNS in einen Verfassungsschutz ziele in diese Richtung. Die Bürgerkomitees beschlossen, die Abteilungen Sicherheit der SED in die Arbeit ihrer Untersuchungskommissionen einzubeziehen und auch die Unterlagen in den Bezirks - und Kreisvorständen der SED zu sichern, da das verfassungswidrige Wirken des MfS im direkten Auftrag der SED erfolgt sei. Daraufhin kam es in zahlreichen Städten zu Versiegelungsaktionen in Einrichtungen der SED. Die Beauftragten der Bürgerkomitees der Bezirke forderten die völlige Auf lösung des AfNS und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die für das MfS / AfNS verantwortliche SED - PDS wegen des Verdachts verfassungswidriger Aktivitäten. Gefordert wurde die Sicherung und Offenlegung der Archive der SED - PDS, die Stillegung der von ihr weiterhin benutzten Sondertelefon - , Fernschreib - und Richtfunkverbindungen, ein Verbot von Grundorganisationen der SED - PDS in den Betrieben, die 177 Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1. 11. 1989–30. 3. 1990 ( StA Zschopau). 178 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 6. 1. 1990. 179 Vgl. MdI vom 6. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445). 180 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 75, 77–79; Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 6. 1. 1990. 181 Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31254, Bl. 1–10).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Einstellung aller Sonderzahlungen an Mitarbeiter des ehemaligen MfS und die Aussetzung der Umwandlung in einen Verfassungsschutz bis in die Zeit nach den freien Wahlen. Bis dahin forderten die Bürgerkomitees für alle Bezirke Freistellungen von Mitarbeitern der Bürgerkomitees.182 Auch dieses Treffen wurde vom Verfassungsschutz observiert, der den „Genossen Modrow“ direkt informierte.183 Die Lage in den Bezirksämtern war zum Zeitpunkt des Treffens der Bürgerkomitees am 5. Januar uneinheitlich. Am Morgen ordnete das Ministerium für Innere Angelegenheiten die Übernahme der polizeilichen Ausrüstung der Kreisund Bezirksämter durch die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei an. Ein Teil der Waffen und Munition wurden der NVA übergeben.184 Die Mehrzahl der Ämter war entwaffnet. Unterschiede gab es hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit. Einige Bezirksämter waren mit Ausnahme des Bereichs Aufklärung nicht, andere beschränkt arbeitsfähig. Da die Aktenvernichtung weiterging, wurden die Zugänge zum Archiv in einigen Ämtern versperrt. Die Bezirksämter Dresden und Leipzig waren, mit Ausnahme der Mitarbeiter der Abteilung XV ( Aufklärung ), seit dem 4. Januar ohne Waffen.185 In Leipzig gab es seitens des Bürgerkomitees „eine Verhärtung hinsichtlich der generellen Ablehnung einer Vernichtung operativen Schriftgutes“.186 Seit dem 5. Januar war auch die Bezirksstelle Karl - Marx - Stadt nicht mehr arbeitsfähig. Die Bezirksstelle Cottbus war als eine der wenigen zwar entwaffnet, aber „mit den notwendigen Materialien“ voll funktionsfähig.187

182 Vgl. Der Beauftragte des Chefs der BdVP Leipzig, III /827–E116, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52444); Telefonische Mitteilung von Hopfer, Leipzig vom 5. 1. 1990 ( BStU, ZKG 128, Bl. 126); Presseerklärung des Beauftragten des Bürgerkomitees der Bezirke vom 4./5. 1. 1990 ( ebd. 129, Bl. 254 f.); Bericht über die DDR - Sitzung der Bürgerkomitees vom 5. 1. 1990. In : Tagebuch von Gerhard Ruden vom 5. 1. 1990 ( PB Gerhard Ruden); Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 41 f.; Die Union / Neues Deutschland vom 6./ 7. 1. 1990. 183 Lagezentrum an Modrow, persönlich, vom 5. 1. 1990 ( BStU, ZKG 129, Bl. 172 f.). 184 Vgl. MdI, Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes, Grüning, an Chefs der BDVP 1–15 vom 5. 1. 1990 : Gewährleistung der Sicherheit der Bewaffnung, Munition und speziellen polizeilichen Ausrüstung des AfNS ( BArch Berlin, DO 1, 52461). 185 Vgl. Bezirksstelle Dresden vom 5. 1. 1990 : Telefonische Mitteilung von Hillenhaben (BStU, ZKG 129, Bl. 278). 186 Tel. Bezirksstelle Leipzig vom 5. 1. 1990 : Meldung von Eppisch, ( ebd., Bl. 266). 187 Bezirksstelle Cottbus vom 5. 1. 1990 : Telefonische Mitteilung von Henschel ( ebd., Bl. 277).

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Kampf dem Restaurationskurs der SED-PDS

4.8

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Lage bei NVA und Volkspolizei

Versuchten Gysi und Modrow Anfang Januar die Staatssicherheit als Faktor der Stabilisierung der eigenen Machtstrukturen und des angestrebten neuen sozialistischen Regimes zu erhalten, so stellte sich vor diesem Hintergrund auch die Frage nach diesbezüglichen Potenzialen in anderen militärischen Einrichtungen. Wie war es mit der Armee, der Volkspolizei oder den Kampfgruppen der SED? Schließlich hatten sich diese noch im Oktober am Versuch der gewaltsamen Zerschlagung der Bevölkerungsproteste beteiligt. Wie beim MfS, dem „Schild und Schwert der Partei“, gab es aber auch in der NVA und bei der Volkspolizei in der Zeit des Jahreswechsels wenig Neigung zu unbotmäßigem Verhalten. Vielmehr schwankte man zwischen dem neo - sozialistischen Kurs Modrows und Gysis und der Unterstützung einer demokratischen Entwicklung. Im AfNS verstanden viele Mitarbeiter nicht, warum sich der geballte Volkszorn gegen die Staatssicherheit richtete, während Volkspolizisten und Berufssoldaten relativ glimpf lich davon kamen. Sie waren doch ebenfalls ideologisch motivierte Stützen des SED - Regimes gewesen, wenn auch mit anderen Aufgabenfeldern. Die aus MfS - Sicht nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung beurteilte der ehemalige Offizier einer Kreisdienststelle des MfS im Bezirk Erfurt später so : „Die Polizei war, wenn sie so wollen, genauso ein Unterdrückungsinstrument wie die Staatssicherheit. Im Herbst 89 verhielt sie sich ebenso wie alle anderen Kräfte der DDR - Gesellschaft, die überwintern wollten : Flucht nach vorn. Unsere Arbeit war im konspirativen Bereich. Wir konnten nicht demonstrativ den Straßenverkehr sperren. Wir waren eine Art ‚schwarzer Mann‘, und es bot sich darüber hinaus an, die Stasi für unpopuläre Dinge verantwortlich zu machen, die die Polizei selbst zu verantworten hatte.“188 Angesichts der verschiedenen Aufgabenbereiche gab es natürlich Unterschiede zwischen dem Wirken der Volkspolizei und dem des MfS. Dennoch stellt sich angesichts der ebenso vorhandenen Gemeinsamkeiten die Frage, warum sich die Protestaktionen in so zugespitzter Form und allein auf das MfS konzentrierten, während es gleichzeitig sogar zur Zusammenarbeit mit der Volkspolizei in Form der „Sicherheitspartnerschaft“ kam. Ein Grund war, dass die Auf lösung des Staatssicherheitsapparates nur mit Hilfe des Staatsapparates erfolgreich durchgeführt werden konnte. Es schien unrealistisch und wenig pragmatisch, mit dem MfS / AfNS zugleich die Volkspolizei, das Justizsystem sowie die NVA auf lösen und dabei auch noch die wichtigste Regierungspartei, die SED, von diesem Prozess fernhalten zu wollen. Das verbot sowohl die innen - als auch die außenpolitische Situation der DDR. Die ohnehin demotivierte Volkspolizei schien ebenso wie der Justizapparat nötig, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die NVA war Mitglied des Warschauer Vertrages und stand schon angesichts der fortbestehenden Bündnisverpflichtungen nicht zur Disposition. Völlig überflüssig und die Entwicklung störend war lediglich der MfS - Apparat, dessen wesentliche 188 Zit. bei Stein, Agonie und Auf lösung, S. 36.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Funktion immer in der Absicherung der SED - Diktatur vor allen demokratischen Anfeindungen und in der Bespitzelung der Bürger bestanden hatte. Nun wollten Gysi und Modrow ihn weiterverwenden, um ihre reformsozialistischen Ziele vor freiheitlich - demokratischen Anfeindungen zu schützen. Aus Sicht der protestierenden Bevölkerung galt es zunächst vorrangig und endgültig, ihn zu eliminieren, um den Weg für weitere Schritte bei der Zerschlagung des gesamten alten Machtapparates frei zu machen. Nationale Volksarmee : Die NVA befand sich Anfang 1990 in einem labilen Zustand. Es kam zur Zersetzung der politisch - moralischen Orientierung, zu Befehlsverweigerungen, unerlaubten Entfernungen und Desertionen.189 Das Vertrauen in die SED war weitgehend verlorengegangen, die Armee selber vereinzelt Angriffen durch die Bevölkerung ausgesetzt. Vor allem gab es Proteste gegen NVA - Objekte, und es wurden Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption in der NVA kritisiert.190 Als Fanal der Reform der NVA wirkte der am 1. Januar beginnende Protest in der Kaserne Beelitz. Dort trugen ca. 300 Armeeangehörige Forderungen zur schnelleren Durchsetzung einer Militärreform vor und sammelten 378 Unterschriften für eine Resolution. Hauptforderungen waren die sofortige Entlassung der Soldaten, eine Verkürzung der Wehrdienstzeit auf zwölf Monate, die Schaffung eines Wehrersatzdienstes, die Verbesserung der Dienst - und Lebensbedingungen und ein öffentlicher Zugang zu allen Militärobjekten.191 Der Protest der Soldaten entzündete sich auch an der „rigiden Kommissigkeit“ der NVA, dem rüden Umgangston, unnötigen Einschränkungen persönlicher Bewegungsfreiheit und am allgemeinen Militarismus.192 Die Soldaten erklärten, dass sie erst nach konkreten Zusagen in die Kaserne zurückzukehren würden.193 Bei einem Gespräch Minister Hoffmanns mit den Soldaten wurde klar, dass die Militärbürokratie im alten Stil weitergemacht hatte.194 Nachdem die Beelitzer Forderungen am Abend des 2. Januar im DDR - Fernsehen vorgestellt worden waren, schlossen sich weitere Standorte an.195 In Dresden demonstrierten am 2. Januar ca. 60 NVA - Angehörige in Uniform für eine Verkürzung der Wehrdienstzeit.196 Generalleutnant Süß meinte, die „missliche Situation“ in der DDR habe voll auf die NVA durchgeschlagen. Es gebe ein „ausgeprägtes Misstrauen gegen jegliche Führung, Existenzangst, Unverständnis und Motivationskrise zur Aufgabener189 Vgl. Gießmann, Das unliebsame Erbe, S. 38. 190 Vgl. Ablaß, Zapfenstreich, S. 29 f.; Hoffmann, Zur nicht - vollendeten Militärreform, S. 108 f. 191 An alle ! An alle Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere ! Schließt Euch an (2. 1. 1990). Vgl. Kutz, Demokratisierung der NVA, S. 96; Ehlert, Zwischen Mauerfall, S. 443–446. 192 Kutz, Demokratisierung der NVA, S. 96. 193 Vgl. Informationszentrum vom 1.–2. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 213); Hoffmann, Das letzte Kommando, S. 91. 194 Vgl. Kutz, Demokratisierung der NVA, S. 96. 195 Vgl. Beratung der Expertengruppe der Militärreform vom 3. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA01/37599, Bl. 134 f.). 196 Vgl. MdI vom 3. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (ebd., DO 1, 52445).

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füllung der NVA“. Er forderte schnell tiefgreifende Veränderungen.197 Am 3. Januar rückten Delegationen von Truppenteilen aus allen Teilstreitkräften im Hauptquartier in Strausberg an, um Forderungen zu überbringen.198 Die Proteste in der NVA griffen auch auf mehrere Kasernen der BePo, u. a. in Dresden, über.199 Admiral Hoffmann wies als Sofortmaßnahmen die sofortige Ausarbeitung eines neuen Wehrdienstgesetzes mit einer zwölfmonatigen Dienstzeit und einer schnellen Entlassung der dritten Diensthalbjahre an. Abgeschafft wurden u. a. die Anrede als „Genosse“ und das Verbot der freien Freizeitgestaltung nach Feierabend.200 Am 5. Januar informierte Generalleutnant Baarß den Minister darüber, dass Meutereien und Truppenauf lösungen nun auch auf Berufssoldaten übergriffen,201 die zudem begannen, sich in einem „Verband der Berufssoldaten“ zu organisieren.202 Am 16. Januar wurde die „staatsbürgerliche Arbeit“ in der NVA formal auf pluralistische Grundlage gestellt, jedoch weiterhin von kommunistischen Politoffizieren durchgeführt. Am selben Tag konstituierte sich die im Dezember beschlossene Regierungskommission „Militärreform der DDR“.203 In der zweiten Januarhälfte gab es an mehreren Standorten Proteste gegen militärische oder Bauaktivitäten, die so bislang nicht denkbar gewesen wären.204 In Sachsen betraf dies den Militärflugplatz in Litten ( Bautzen ),205 ein NVA - Objekt im Raschütz, von dem negative Auswirkungen auf die Natur befürchtet wurden,206 eine Unteroffiziersschule in Delitzsch, deren Schließung gefordert wurde,207 sowie ein Objekt in Wolfgangsmaßen ( Aue ), zu dem es am 6. Januar einen Sternmarsch von 7 000 Menschen gab.208 Vereinzelt gab es auch Proteste gegen Kasernen der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, so z. B. Ende Januar gegen ein Raketenobjekt im Kreis Bischofswerda ( Taucherwald / Taschendorf ).209 Ende Januar gab es überall Forderungen oppositioneller Parteien, Gruppierungen und Bürgerkomitees, Objekte der NVA und Grenztruppen durch Kommunen und andere zivile Nutzer zu übernehmen und militäri197 Beratung der Expertengruppe der Militärreform vom 2. 1. 1990 ( ebd., VA - 01/37599, Bl. 121 f.). 198 Vgl. Hoffmann, Das letzte Kommando, S. 95 f. 199 Vgl. MdI vom 3. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 9. 1. 1990. 200 Admiral Hoffmann vom 3. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37599, Bl. 153–155). Vgl. Hoffmann, Das letzte Kommando, S. 96 f. 201 Baarß an Hoffmann vom 4. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37604, Bl. 156). 202 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 13./14. 1. 1990; Ablaß, Zapfenstreich, S. 22. 203 Vgl. Hoffmann, Zur nicht - vollendeten Militärreform, S. 109. 204 Protokoll der Sitzung der Regierungskommission „Militärreform der DDR“ vom 20. 2. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37598, Bl. 67). 205 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 46–53). 206 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 20./21. 1. 1990; Leipziger Volkszeitung vom 23. 1. 1990. 207 Runder Tisch Delitzsch an Ministerrat der DDR vom 26. 1. 1990 : Antrag bezüglich des Armeegeländes Benndorf ( StV / Museum Schloss Delitzsch ). 208 Vgl. MdI vom 7. 1. 1990, Sign. III /917–E119 ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 209 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 27./28. und 31. 1. 1990.

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sche Übungen einzustellen.210 Im Bezirk Leipzig forderten die Bürger mehrerer Kreis ultimativ die Auf lösung der Wehrkreiskommandos.211 In welchem Umbruch sich auch die NVA befand, zeigte sich Mitte Januar, als der Ministerrat auf der einen Seite Maßnahmen zur Gewährleistung einer „hinlänglichen Verteidigungsfähigkeit der DDR und der Erfüllung der Bündnisverpflichtungen im Warschauer Vertrag“ beschloss,212 andererseits die Militärspionage gegen die Bundesrepublik einstellte213 und begann, mit der Bundeswehr über eine Zusammenarbeit beider Armeen zu beraten.214 Am 26. Januar wurde die Stärke der NVA auf rund 100 000 Mann reduziert.215 Die Entwicklung führte unter den Berufssoldaten zu gravierenden Orientierungsproblemen. Ende Januar schätzte die NVA - Führung die militärische Ordnung als „besorgniserregend“ ein. Überall traten Berufssoldaten aus der SED PDS aus und wurde eine Auf lösung der Partei in der NVA gefordert. Dennoch versorgte diese NVA und Grenztruppen weiter mit kommunistischem Propagandamaterial.216 Vielfach wurden Befehle der Vorgesetzten durch Wehrdienstleistende mit Streik - und Demonstrationsandrohungen unwirksam gemacht. Auch die Motivation der Berufssoldaten sank rapide. Angesichts der Situation war in der Opposition die Meinung verbreitet, die NVA könne, wenn nicht bald eine Militärreform durchgesetzt werde, zum „Hemmnis für die Wende“ werden.217 Als die „Bild - Zeitung“ Spekulationen über einen möglichen Militärputsch in der DDR verbreitete, gab es, wie z. B. von den Grenztruppen im Bereich Zinnwald ( Dippoldiswalde ) öffentliche Bekenntnisse zu den Veränderungen in der DDR und gegen Versuche, die alten Machtstrukturen wieder auf leben zu lassen.218 Der Chef der Volksmarine, Vizeadmiral Hendrik Born, gab am 27. Januar die Auf lösung der Politorgane und die Beseitigung der SED - und FDJ - Strukturen in den Dienststellen der NVA bekannt. Weit über fünfzig Prozent der Kommandeure seien aus der SED ausgetreten. Die Volksmarine tue alles, um mit der eingeleiteten Militärreform den friedlichen revolutionären Prozess zu unterstützen und werde sich gegenüber jeder frei gewählten Regierung der DDR loyal verhalten.219 210 Vgl. Meldung zur Lage in der NVA vom 30. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37606, Bl. 98–100). 211 Vgl. Informationszentrum ( NVA ) vom 30. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( ebd.). 212 Beschluss des Ministerrates der DDR 9/ I.14/90 vom 12. 1. 1990 über die weitere Gewährleistung von Aufgaben der Landesverteidigung ( ebd., C 20, I /3–2896, Bl. 61– 63). 213 Vgl. Berliner Zeitung vom 13. 8. 1992. 214 Vgl. Überlegungen zur Sicherheitskonzeption für die Sitzung des Runden Tisches beim Minister für Nationale Verteidigung vom 22. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37601, Bl. 144–148); Hoffmann, Zur nicht - vollendeten Militärreform, S. 113. 215 Protokoll der Beratung des RdB mit dem OB der Stadt Schwerin und Vorsitzenden des RdK vom 10. 1. 1990 ( MLHA, RdB Schwerin Z 26/91, 36659). 216 Vgl. Meldung zur Lage in der NVA vom 31. 1. 1990 ( BArch Berlin, VA - 01/37606, Bl. 118). 217 Meldung zur Lage in der NVA vom 26. 1. 1990 ( ebd., Bl. 71–73). 218 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 24. 1. 1990. 219 Vgl. Ostsee - Zeitung vom 27. 1. 1990; Informationen des BMB 4 vom 23. 2. 1990, S. 6.

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Volkspolizei : Noch bis in den Dezember war bei der Volkspolizei die Stimmung vorherrschend gewesen, man habe sich während der Übergriffe im Oktober korrekt verhalten und nur die Befehle der Partei umgesetzt. Wie in der NVA zeichnete sich im Januar auch hier eine neue Haltung ab, welche die militärisch organisierte Polizei als Stabilisator des SED - Regimes unbrauchbar machte und erkennen ließ, dass sie künftig als Polizei des gesamten Volkes verstanden werden wollte. Am Runden Tisch des Bezirkes Leipzig wurde festgestellt, dass bei der Volkspolizei, nach ihrem politischen Missbrauch durch die SED bis zum Herbst 1989, eine Konsolidierung feststellbar sei. Die Angehörigen würden sich wieder stärker der Gewährleistung der öffentlichen Ordnung bzw. Sicherheit zuwenden und der Sicherheitspartnerschaft sowie der Zurückgewinnung des Ansehens und Vertrauens große Bedeutung beimessen.220 Am Runden Tisch Hoyerswerda informierte das Volkspolizeikreisamt über seine Arbeit und distanzierte sich von früheren politischen Aufträgen der SED, wie dem, Personen zu erfassen und gegebenenfalls zuzuführen, die sich an der Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ und vergleichbaren Aktivitäten beteiligt hatten. Man war sich einig, dass es nun darum gehe, die Polizei zu befähigen, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten.221 Eine zentrale Rolle bei der Neubestimmung der Rolle der Volkspolizei spielte deren Verhältnis zu den Übergriffen gegenüber Demonstranten Anfang Oktober. Noch Anfang Januar gab es immer wieder Proteste gegen staatliche Hindernisse bei der Arbeit von Untersuchungsausschüssen regionaler Volksvertretungen. Material wurde vernichtet und Volkspolizei - Angehörige wurden angewiesen, keine Aussagen zu machen.222 Am 7. Januar berichtete sogar der neue Generalstaatsanwalt von Ost - Berlin, Klaus Voss, der für die Aufklärung der Übergriffe von Volkspolizei und MfS am 7. und 8. Oktober zuständig war, von Morddrohungen und massiven Behinderungen seiner Arbeit. Bei den Sicherheitskräften treffe er auf eine „Wand des Schweigens“. Auch vom General - und vom Militärstaatsanwalt werde die Arbeit der „Zeitweiligen Kommission“ zur Aufklärung der Übergriffe „massiv behindert“. Voss meinte, es habe sich der Verdacht erhärtet, dass damals Gewalt absichtlich provoziert worden sei und auf ein Interesse an einer „chinesischen Lösung“ schließen lasse.223 Dies war keine geeignete Grundlage, um Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zu schaffen. Andererseits sorgte die überall praktizierte Sicherheitspartnerschaft

220 Vgl. Vorsitzender des RdB Leipzig vom 12. 1. 1990 : Entwurf der Informationsberichte zur Beantwortung der Anfragen des RTB vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 21318). 221 Protokoll der 3. Beratung des Runden Tisches vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel, Hoyerswerda ). 222 Vgl. Erklärung des Zeitweiligen Untersuchungsausschusses der Stadtverordnetenversammlung von Berlin vom 6. 1. 1990. In : Dokumentation zur politischen Justiz VI, S. 54; Festlegungsprotokoll der Zusammenkunft der Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen am 7./8. 10. 1989 vom 16. 1. 1990 ( PB Pfarrer Lorenz, Hainichen ). 223 Zit. in taz vom 8. 1. 1990.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Bild 63: Transportpolizei vor dem Leipziger Hauptbahnhof am 24.1.1990.

bei Demonstrationen für eine Verbesserung des Klimas.224 Am 24. Januar demonstrierten in Leipzig Schutzpolizisten, Angehörige des Strafvollzuges sowie der Transportpolizei und signalisierten ihre Bereitschaft zur Sicherheitspartnerschaft mit allen demokratischen Gruppen. Eine Forderung lautete: „Sicherheitspartner sein und nicht der Buh - Mann“.225 Langsam setzte sich bei der Volkspolizei die Einsicht durch, dass eine Distanzierung vom Oktobereinsatz – ungeachtet der tatsächlichen Bewertung – für die künftige Arbeit sinnvoll sei. Nachdem sogar die entsprechenden Untersuchungskommissionen bei den örtlichen Volksvertretungen durch die Volkskammer am 29. Januar auf eine rechtliche Grundlage gestellt und ihre Kompetenzen erweitert worden waren,226 nahm die Zahl der Entschuldigungen zu. In Reichenbach entschuldigte sich der Leiter des Volkspolizeikreisamtes bei betroffenen Bürgern in offener Runde für den Volkspolizei - Einsatz im Oktober, für persönliches physisches und psychisches Leid und die damalige falsche 224 Vgl. Leiter des VPKA Bischofswerda vom 23. 1. 1990 : Lage ( SächsHStA, I /756, BDVP Dresden, Stab - Informationen ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 12. 1. 1990; Die Union, Ausgabe Meißen, vom 11. 1. 1990. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 27. 1. 1990; Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 25. 1. 1990. 225 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 25. 1. 1990. 226 GBl. DDR I, 6 vom 8. 2. 1990, S. 33.

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Sicherheitspolitik,227 und auch in Dippoldiswalde entschuldigte sich der Leiter des Volkspolizeikreisamtes für die Unangemessenheit des Vorgehens am 7. Oktober.228 Diese Haltung wurde nun zur unterschiedlich belastbaren Grundlage eines konstruktiven Miteinanders. 4.9

Die „rechte Gefahr“

Worum es der SED - PDS und der Modrow - Regierung Anfang Januar mit ihrer Kampagne gegen rechts und deutsche Einheit ging, formulierte Innenminister Lothar Ahrendt am 9. Januar gegenüber den Leitern der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei. Es müsse „erst einmal gründlich geprüft werden“, ob das, „was an die Stelle des in Jahrzehnten Bewährten treten soll, besser und zweckmäßiger“ sei. Dann sei zu entscheiden, ob dem künftigen Parlament und der künftigen Regierung durch das MfIA „Gelegenheit zu geben“ sei, ihre Politik umzusetzen.229 Damit schloss Ahrendt ein gewaltsames Eingreifen der militärisch organisierten Volkspolizei gegen eine künftige Regierung, einen Putsch, also nicht aus, wenn diese nicht seinen realsozialistischen Vorstellungen entsprach. Modrow ging es, wie auch seine sonstigen Aktivitäten zeigten, darum, auf jeden Fall eine modifizierte sozialistische Entwicklung im Rahmen der DDRStaatlichkeit zu sichern. Angesichts solcher Prämissen lag es auf der Hand, dass Modrow nicht auf die Weiterarbeit der Staatssicherheit unter neuem Logo verzichten wollte. Entsprechend rollte nun eine Kampagne gegen rechts und deutsche Einheit sowie für die Weiterarbeit der Staatssicherheit als Verfassungsschutz in Kreisen und Kommunen an. Für Diskussionen sorgte in diesem Zusammenhang ein Vorfall in Bautzen. Hier fand die Volkspolizei einen Zettel mit einem angeblichen Aufruf der Republikaner, der mit Hakenkreuzen und SS - Runen versehen war und zur Ermordung aller „Roten“ aufrief. Die „Sächsische Zeitung“ und andere SED - PDS - Blätter informierten am 9. Januar auf der Titelseite darüber. Wie bei den Schmierereien Anfang Januar kursierten sofort Gerüchte, es handle sich wieder um eine Propagandaaktion der SED - PDS. Noch am selben Tag rief das Bautzener Neue Forum zur Montagsdemo unter der Losung „Kein Geheimdienst vor den Wahlen“ auf. Die AG „Rechtsstaatlichkeit“ des Neuen Forums untersuchte den Vorfall. Die Recherche ergab, dass die Meldung vom Innenminister an die Presse lanciert worden war. Bei einer Gesprächsrunde des Volkspolizeikreisamtes Bautzen mit dem Neuen Forum bestätigte die Volkspolizei, dass die Anzahl rechtsextremistischer Vorfälle „nicht drastisch angestiegen“ sei, der des Vorjahreszeitraums entspreche und „im Rahmen des Üblichen“ liege. Die Volkspolizei räumte ein, die Berichterstattung sei „nicht angemessen“. Vor dem Runden 227 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 3. 2. 1990. 228 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 27./28. 1. 1990. 229 Ausführungen des Ministers für Innere Angelegenheiten auf der Arbeitstagung am 9. 1. 1990 ( BArch Berlin, DO 1, 52444, Bl. 5).

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Tisch informierte die Volkspolizei nochmals, es handele sich um einen einmaligen Vorfall, der Verfasser des Zettels sei 15 Jahre alt.230 Tatsächlich gab es in den sächsischen Bezirken vereinzelt Aktivitäten, die auf rechtsextreme Einstellungen hinwiesen. Im Bezirk Dresden registrierte die Kriminalpolizei bis zum 10. Januar insgesamt zehn „Handlungen mit neofaschistischem Gedankengut“ : In einem Buswartehäuschen in Kleinnaundorf ( Freital ) wurden faschistische Symbole festgestellt. In Arnsdorf sowie Radeberg ( Dresden - Land ) wurden Losungen wie „Einigkeit, Recht, Freiheit“, „Deutschland einig Vaterland“, „Rote raus“ und „REP“ an Hauswände und Fensterscheiben gesprüht. Sie alle wurden von der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei unter der Rubrik „rechts“ subsumiert. In Pirna machte ein Bürger gegenüber Hausbewohnern „Äußerungen faschistischen Inhalts“. In einem Hausflur in Bautzen wurde ein handgeschriebener Zettel „mit faschistischem Inhalt“ gefunden.231 Im Kreis Freital brachte ein Bürger aus Kreischa an einem Fenster des Rathauses ein selbstgemaltes Plakat an, dessen Inhalt sich, so das Innenministerium, gegen Ausländer richtete und den Faschismus verherrlichte.232 In Görlitz wurden das VVN - Ehrendenkmal, eine Gedenktafel an der Görlitzer Synagoge und der sowjetische Ehrenfriedhof in Rauschwalde beschmiert.233 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt gab es z. B. in Frankenberg ( Hainichen ) in der Nähe eines Wohnheims für Vietnamesen eine Parole „Ausländer raus aus Deutschland“. In Johanngeorgenstadt ( Schwarzenberg ) wurden Informationszettel der Republikaner mit dem Inhalt „Deutschland – einig Vaterland – endlich unser Ziel erkannt“ in Briefkästen eingeworfen.234 In den meisten Kreisen gab es, wie z. B. in Karl - Marx - Stadt - Land, nach Auskunft des Volkspolizeikreisamtes, jedoch keine Anzeichen für Neofaschismus und Rechtsradikalismus.235 Auch der Runde Tisch Zwickau konstatierte Anfang Februar, es gebe „keine ernsthaften Anzeichen von Neofaschismus“.236 Im Bezirk Leipzig waren der Volkspolizei um den 10. Januar vier Gruppierungen und 17 Einzelpersonen bekannt, die der Skinheadszene zuzurechnen waren, sich mit neonazistischem und nationalistischem Gedankengut befassten oder sich als „Faschos“ bekannten. Die Gruppierungen aus jeweils etwa zehn bis zwanzig Personen im Alter von 14 bis 20 Jahren waren ausschließlich im Bereich des Stadt - und Landkreises Leipzig aktiv. Der Kriminalpolizei waren

230 Hauptmann Merkner des VPKA Bautzen, o. D. Zit. bei Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 231 BDVP Dresden vom 4.–10. 1. 1990 : Lage ( SächsHStA, BDVP I /73). 232 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350. 233 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 17. 1. 1990. 234 BArch Berlin, DC 20, 11350. 235 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 25. 1. 1990. 236 Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 8. 2. 1990.

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drei Raubdelikte und zwei Körperverletzungen aus der rechtsradikalen Szene bekannt.237 DDR - weit waren der Kriminalpolizei Mitte Januar 1148 Personen bekannt, die neonazistischen Gruppierungen angehörten. Davon lebten die meisten im Bezirk Potsdam (28 %), gefolgt von Ost - Berlin (27 %), Dresden (8,2 %) und Leipzig (6,3 %). In der Mehrzahl (84,1 %) handelte es sich um Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren; 30 Prozent wurden als aktive Skinheads eingestuft.238 Im Bezirk Leipzig waren insgesamt etwa 70 bis 80 Neonazis registriert. Das AfNS verfügte Anfang Januar 1990 hingegen noch über 65 000 Hauptamtliche Mitarbeiter,239 die über wiegend linksextremem Gedankengut verpflichtet waren. Allerdings wurden vor allem seit Mitte Januar zunehmend die bundesdeutschen Parteien Republikaner, NPD und DVU aktiv und verteilten insbesondere im Bezirk Leipzig Wahlkampfmaterial. Die Volkspolizei beschlagnahmte in Leipzig 5 000 Flugblätter, 2 000 Handzettel, ca. 900 Aufkleber, 500 Zeitungen, 150 Plakate und weiteres Material der Republikaner. Häufiger wurden an der Grenze einreisende Skinheads registriert, die zwecks Kontaktaufnahme in die DDR einreisten und teilweise bewaffnet waren. Zu rechtsradikalen Aktivitäten wurden auch Zettel gezählt, auf denen der ehemalige kommunistische Geheimdienst Rumäniens „Securitate“ verherrlicht wurde.240 Am 15. Januar fand die Transportpolizei am Leipziger Hauptbahnhof Werbematerialien der Republikaner mit folgendem Inhalt : „Friedensvertrag und Wiedervereinigung in Freiheit“, „Wiedervereinigung jetzt“ und „Wir Republikaner fordern Einigkeit und Realisierung der Freiheit für alle Deutschen“.241 Auf dem Bahnsteig des Haltepunktes Großdeuben / Leipzig wurde ein Werbeplakat der Republikaner festgestellt, auf dem „Wieder vereinigung – Volksabstimmung in Ost und West“ stand.242 Auch am Bahnhof in Groitsch klebte ein Plakat der Republikaner mit der Aufforderung zur Wiedervereinigung und zu einer Volksabstimmung. Das Plakat wurde „entfernt und sichergestellt“.243 Hintergrund der Plakatierungen war eine Propagandainitiative der Republikaner, die angesichts der Wiedervereinigungseuphorie hofften, in der DDR Fuß zu fassen. Ca. 15 Mitglieder aus Oberbayern und München verteilten insgesamt 15 000 Druckschriften sowie anderes Werbematerial, u. a. bei der Leipziger Montagsdemonstration am 8. Januar. Nach einem Eigenbericht der Republikaner fand ihr Werbematerial reißenden Absatz, so dass man in der Münchner Parteizentrale schlussfolgerte, die Republikaner stünden „bei der mitteldeutschen Bevölkerung in hohem Ansehen“. Es sei „die 237 Vorsitzender des RdB Leipzig vom 12. 1. 1990 : Entwurf der Informationsberichte zur Beantwortung der Anfragen des RTB vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 21318). 238 Vgl. MdI vom 8. 1. 1990 : Lage ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 239 Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst III, S. 74. 240 Vorsitzender des RdB Leipzig vom 12. 1. 1990 : Entwurf der Informationsberichte zur Beantwortung der Anfragen des RTB vom 2. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 21318). 241 BDVP Leipzig vom 15.–16. 1. 1990 : Lagefilm ( ebd., BDVP Leipzig, 1451, Bl. 2). 242 BArch Berlin, DC 20, 11350. 243 BDVP Leipzig vom 12.–15. 1. 1990 : Lagefilm ( SächsStAL, BDVP Leipzig, 1451, Bl. 5).

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Stunde der Republikaner“, der „Einsatz in Mitteldeutschland“ müsse „bis an die Grenzen des uns möglichen gesteigert werden“. Das Potenzial der Partei bei freien Wahlen wurde auf 15 bis 30 Prozent geschätzt. Neben dem Thema der Wiedervereinigung sei die Ausländerthematik überaus aktuell, die Bevölkerung lehne den „Import“ von Asiaten und Afrikanern als Arbeitskräfte mit großer Mehrheit ab. Völlige Ablehnung bestehe auch gegenüber einer „primitiv - kapitalistischen Lebensart, die bei uns zunehmend aus den USA übernommen wird“.244 In Leipzig entstand im Januar ein Kreisverband der Republikaner,245 hier wurde am 10. Januar auch die 137 Mitglieder umfassende Partei „Mitteldeutsche Nationaldemokraten“ ( MND ) und deren Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ gegründet.246 In Leipzig traten bei der Montagsdemonstration am 22. Januar erneut Mitglieder der Republikaner, der NPD und der DVU in Erscheinung. Skinheads schwenkten deutsche Reichskriegsflaggen aus dem Ersten Weltkrieg und

Bild 64: Anhänger der Republikaner am 14. 2.1990 in Leipzig. 244 Die Republikaner, Landeswahlkampf leiter Bayern, Reinhard Rade vom 12. 1. 1990 : Kurzbericht über die Aktivitäten der Republikaner in Leipzig ( Mitteldeutschland ) (SächsStAL, BT / RdB, 22381). 245 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Von Leipzig, S. 63. 246 Vgl. ebd., S. 53.

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schrien: „Rotfront verrecke !“, „Kannaken raus !“ und „Gysi, Modrow an die Wand, Deutschland einig Vaterland !“247 Trotz der Aktivitäten einheimischer Neonazis und bundesdeutscher Parteien ging von diesen für die aktuelle Entwicklung keine wirkliche Gefahr aus. In der Bevölkerung und bei den neuen politischen Kräften gab es auch kaum Zweifel darüber, dass sich die Aktion nicht gegen die relativ wenigen Neonazis richtete, sondern gegen die Richtung und die Dynamik der revolutionären Entwicklung. Aktionen gegen rechtsradikale Tendenzen waren insoweit begrüßenswert, solange nicht Rechtsextremismus und Forderungen nach Demokratie und deutscher Einheit in einen Topf geworfen wurden. Genau diese Differenzierung aber fehlte meist auf entsprechenden Veranstaltungen aus dem Umfeld der SED - PDS. Stattdessen wurde für die Weiterarbeit der Staatssicherheit geworben. In Stollberg rief die SED - PDS zum Bekenntnis gegen rechts auf. Hier hieß es : „Überschattet von der Angst, dass dieser Prozess durch Neonazismus gestoppt und ins Gegenteil umschlägt. Wir teilen diese Angst ! Deshalb brauchen wir eine Einheitsfront gegen rechts !“ Die Arbeit eines Verfassungsschutzes sei „unbedingt erforderlich“.248 In Karl - Marx - Stadt rief das Kreiskomitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer zur Kundgebung gegen rechts auf,249 in Freiberg gab es einen Aufruf der Vereinigten Linken zur Demonstration gegen rechts.250 Das Zwickauer Schauspielensemble veranstaltete eine „Lesung gegen Rechts“, die SED - PDS rief zur Kundgebung gegen Neonazismus auf.251 In Görlitz fand am 11. Januar eine „Antifa - Demo gegen rechts“ statt. Ungeachtet dessen trugen die meisten Demonstranten Transparente mit Aufschriften wie: „Nie wieder Diktatur“, „Nieder mit der SED“ und „Freiheit“. Redner forderten eine schnelle Wiedervereinigung, andere sprachen angesichts der antifaschistischen Aktionen von Panikmache und billiger SED - PDS - Wahlpropaganda. Einige Redner forderten die restlose Beseitigung des Kommunismus und die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des Stalinismus. Die Bürger sollten sich nicht von Modrow und Gysi einwickeln lassen.252 Bei einer Demonstration der SED - PDS „gegen Neonazismus und Ausverkauf unserer DDR“ gab es eine Parallelkundgebung für deutsche Einheit und gegen den Versuch, alte Machtstrukturen unter Ausnutzen antifaschistischen Gedankengutes zu retten.253 Trotz erkennbarer Widerstände setzten SED - PDS und andere linke Gruppen ihre Aktivitäten fort. Zum 14. Januar rief die SED - PDS in Dresden zu einer Demonstration gegen neonazistische Tendenzen auf,254 in Leipzig versammelten sich am selben Tag mehrere Tausend Mitglieder der Vereinigten Linken, der 247 248 249 250 251

Vgl. Schomers, Deutschland ganz rechts, S. 202–204; Von Leipzig, S. 62. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 10. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 10. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 12. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 6. 1. 1990; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 9. 1. 1990. 252 Vgl. BArchB, DC 20, 11350; Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 13./14. 1. 1990. 253 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 14. 1. 1990. 254 Vgl. Weber, Alltag, S. 76.

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SED - PDS sowie anderer antifaschistischer Parteien und Gruppen,255 die sich freilich teils auch antidemokratisch gaben. In einer Situation, in der die Zerschlagung des Staatssicherheitsapparates noch nicht abgeschlossen war, die Mehrzahl der Bevölkerung Befürchtungen vor einer Restauration der Macht der SED hegte und die revolutionäre Entwicklung sich immer mehr in Richtung deutsche Einheit bewegte, wirkten die Aktionen gegen eine angebliche rechte Bedrohung konstruiert. Hinter dem Versuch, ein rechtes Schreckgespenst an die Wand zu malen, steckte auch nach Meinung vieler SED - PDS - Mitglieder das Bestreben von Kräften der eben erst gestürzten Ordnung, unter antifaschistischen Losungen und durch das Schüren von Ängsten vor einer neuen nationalsozialistischen Gefahr von der eigenen Verantwortung für die Vergangenheit abzulenken und den eigenen Masseneinfluss erneut zu stabilisieren.256 Der Rückgriff auf den „Antifaschismus“ als dem letzten angeblichen Legitimationsgrund für die Existenz der DDR zeigte, wie weit die SED bereits mit dem Rücken an der Wand stand. Dabei gab es selbst in Parteikreisen kaum Zweifel daran, dass es nicht um die relativ wenigen Neonazis, sondern um die Entwicklung hin zur deutschen Einheit ging. Jeder, der diese Entwicklung unterstützte, wurde als „Rechter“ abqualifiziert. Die Kampagne resultierte aber auch aus dem Willen, einen „demokratischen Sozialismus“ zu errichten. Bei diesem Modell mussten sich die Anhänger einer auf Sozialismus festgelegten Semi - Demokratie von allen nichtsozialistischen, „rechten“ Kräften distanzieren und diese mit Hilfe eines sozialistischen Verfassungsschutzes überwachen. Das sah die SED - PDS deutlicher als all die anderen „demokratischen Sozialisten“, die über entsprechende Konsequenzen ihres Konzepts kaum Rechenschaft ablegten. Tatsächlich ging die eigentliche Gefährdung des Demokratisierungsprozesses aber weiterhin von der SED - PDS aus. Nicht so recht ins Bild einer rechten Gefahr passte die Tatsache, dass die Zentralleitung des „Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“ nach einer „äußerst kritischen Bewertung“ der eigenen Tätigkeit ihre Arbeit im Januar beendete. Die Zentralleitung hatte über Jahrzehnte kein Problem damit gehabt, die SED - Diktatur zu unterstützen und den nichtkommunistischen Widerstand gegen das Naziregime klein zu reden. Nun bereitete ein neugewählter Vorstand unter Peter Florin die Gründung eines neuen „Bundes der Antifaschisten“ vor.257 Von Bedeutung für die Richtung der Auseinandersetzung war, dass die Vorsitzenden der Evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten am 16. Januar eine „Loccumer Erklärung“ abgaben, in der sie die deutsche Einheit begrüßten und mit der sie sich freiwillig in die von der SED - PDS so behauptete, vermeintlich rechte Front von Befür worten der deutschen Einheit einreihten. Hier hieß es unmissverständlich : „Wir wollen, dass beide Staaten zusammenwachsen.“ Die „besondere Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in 255 Vgl. Von Leipzig, S. 61. 256 Vgl. Kallabis, Ade, DDR !, S. 98. 257 Vgl. Berliner Zeitung vom 26. 1. 1990; Junge Welt vom 27./28. 1. 1990.

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Deutschland“ sei trotz der Spaltung des Landes und der organisatorischen Trennung der Kirche lebendig geblieben.258 Erneut setzten die evangelischen Kirchen damit ein deutliches Zeichen, was den neuen katholischen Bischof für Berlin, Georg Sterzinsky, veranlasste, eine Bedeutung der evangelischen Kirche für die friedliche Revolution anzuerkennen, die der katholischen Kirche so nicht zukäme.259 Freilich fand die Initiative auch innerkirchliche Gegner, die freilich nicht so weit gingen, die Loccumer Erklärung in eine rechtsextreme Ecke zu stellen. Propst Heino Falcke meinte aber, die Kirche sollte lieber dem Versuch widerstehen, „Kapitalismus und Sozialismus“ als Alternativen anzusehen und stattdessen einen dritten Weg befürworten. Falcke und der Referent des DDR Kirchenbundes, Joachim Garstecki, brachten eine „Berliner Erklärung“ von Theologen aus beiden deutschen Staaten auf den Weg, die sich gegen eine baldige Vereinigung Deutschlands richtete.260 4.10 Proteste gegen den Restaurationskurs der SED - PDS (6.–14.1.) Demonstrationen und Warnstreiks Womit die SED - PDS und Ministerpräsident Modrow wohl nicht gerechnet hatten, war, dass es einen breiten, parteiübergreifenden Widerstand gegen ihre Kampagne „gegen rechts“ gab. Stattdessen geriet sie nun selber wieder ins Visier der Kräfte, die an einer Demokratisierung, egal ob gesamtdeutsch oder in der DDR, interessiert waren. Das Klima schlug um. Statt die überall vorhandene Kooperationsbereitschaft für eine konstruktive Zusammenarbeit zu nutzen, hatte die SED - PDS diese wieder einmal nur für den Versuch genutzt, ihren Einfluss zu stabilisieren und mit Hilfe der Staatssicherheit ein Comeback vorzubereiten. Die Gutwilligkeit der neuen politischen Kräfte erschöpfte sich nun schnell, und die Auseinandersetzungen mit der Regierung spitzten sich zu. Von zentraler Bedeutung für die weitere Entwicklung war der erneut einsetzende Bevölkerungsprotest gegen den Kurs Modrows. Ohne ihn wären sowohl die Proteste der Bürgerkomitees als auch die der verschiedenen Parteien ohne Erfolg geblieben. Streiks breiteten sich aus, und die Demonstrationen wurden aggressiver. Der Zorn der Massen richtete sich erneut gegen die SED - PDS, deren neuer Zusatz als „Partei der Stasi“ übersetzt wurde. Die zweite Welle der Revolte gegen die SED - PDS setzte ein. Am 6. Januar gab es erste regionale Proteste. Im Bezirk Dresden rief in Reinhardtsgrimma ( Dippoldiswalde ) eine Initiativgruppe zur Demonstration gegen Versuche einer Wiederbelebung alter SED - Machtstrukturen auf.261 In Bischofswerda forderte das Neue Forum einen Volksentscheid zum Thema „Vereini258 Vgl. epd vom 17. 1. 1990; epd Dokumentation 12 1990 vom 12. 3. 1990; Hartmann, Offene Fragen, S. 528. 259 Die Welt vom 1. 2. 1990. Vgl. März, Aus langem Winterschlaf, S. 119. 260 Frankfurter Rundschau vom 16. 2. 1990. 261 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 9. 1. 1990.

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gung – ja oder nein“.262 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt war erneut Plauen das Zentrum der Proteste. Etwa 30 000 bis 40 000 Menschen demonstrierten im Beisein bayerischer Gäste dagegen, Befürworter der deutschen Einheit mit Neofaschisten in einen Topf zu werfen.263 Der FDP - Vorsitzende von Oberfranken warnte vor der Gefahr der Neuformierung der SED - PDS, von der aus wahltaktischen Gründen die Gefahr des „Neofaschismus“ geschürt werde.264 Die Teilnehmer forderten eine Koalition von Liberalen, Sozialdemokraten und Christen gegen die SED - PDS.265 Wenig Besucher folgten hingegen einen Tag später der Einladung Plauener Künstler zur Theatermatinee gegen Neofaschismus und Rechtsextremismus.266 In Wolfgangsmaßen ( Aue ) beteiligten sich nach einem Aufruf des Neuen Forums etwa 7 000 Menschen an einem Sternmarsch zu einem NVA- Objekt.267 In einem Brief an die Volkskammer protestierte die Bürgerinitiative Thum ( Zschopau ) gegen das Manöver der SED - PDS, nazistische und nationalistische Schmierereien zum Anlass zu nehmen, freie Wahlen in Frage zu stellen. „Wir sind“, so hieß es, „für die Einheit Deutschlands, gegen Radikalismus ( rechts und links !) und haben Angst, durch die geschilderte SED - PDS - Taktik ein zweites Rumänien zu werden !“268 Bezirk Leipzig : In Altenburg verständigten sich die demokratischen Kräfte am Runden Tisch darauf, nicht beratend, wie die SED - PDS forderte, sondern mitwirkend an der Leitung auf kommunaler Ebene zu arbeiten. Nur so könne dem immer noch vorhandenen Machtanspruch der SED entgegengewirkt werden. Um die alten Strukturen endgültig zu brechen, bedürfe es der breiten Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte : „Nachdem der Versuch der Unterdrückung der sich neu formierenden demokratischen Parteien und Vereinigungen gescheitert ist, wird von Seiten der SED unter Ausnutzung ihres nach wie vor funktionierenden Apparates die Zersplitterung der entstehenden Opposition angestrebt. Dem gilt es zu wehren !“269 Wichtigstes Ergebnis der SED - PDS - Kampagne war es, dass sich, beginnend ab dem 6. Januar, alle Parteien gegen eine Zusammenarbeit mit der SED - PDS nach den ersten freien Wahlen aussprachen. Das war eine klare Antwort auf die Versuche der SED - PDS, ihre Macht zu sichern und sich als bestimmende Kraft im avisierten „demokratischen Sozialismus“ zu profilieren. Den Beginn machte der DA, dessen Vorstand am 6. Januar besorgt eine rückläufige Tendenz bei der Demokratisierung registrierte. Die SED - PDS baue ihre Stellung in den Medien 262 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 6./7. 1. 1990. 263 Vgl. MdI vom 7. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445); Küttler, Die Wende in Plauen, S. 151. 264 Vgl. Informationszentrum vom 7. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 215). 265 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 8. 1. 1990. 266 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 9. 1. 1990. 267 Vgl. MdI vom 7. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 268 Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1. 11. 1989–30. 3. 1990 ( StA Zschopau). 269 Klaus Gutmann, Informationen zum „Runden Tisch“. In : klartext. Informationsblatt des Neuen Forums Altenburg / Thüringen vom 6. 1. 1990 ( KA Altenburg, RdK ABG Kultur 77A ).

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wieder aus und propagiere ihr Feindbild, das der Abqualifizierung und Spaltung der Opposition diene. Hinter diesen Versuchen stehe ein altbewährtes Konzept stalinistischer Politik : Die SED teile die Gesellschaft in Links - und Rechtskräfte, wobei die Rechten die neuen Feinde seien. Das neue Feindbild der „Rechten“ werde benutzt, um alle abzuqualifizieren, die gegen die SED seien.270 Am selben Tag erklärte auch die Ost - CDU, vor freien Wahlen brauche man keinen neuen Verfassungsschutz, der unter Leitung der SED - PDS die neuen Bewegungen und alten Parteien kontrolliere und in dem „Stasi - Rentner“, die ehemaligen „Werkzeuge stalinistischen Terrors“, sich im „gutbezahlten Ruhestand auf einen kommenden Staatsstreich vorbereiten“ könnten. Die CDU kritisierte die Kampagne der SED - PDS zur Schaffung einer neuen Einheitsfront“, bei der die, die zum „nichtchauvinistischen Nationalismus“ stehen, mit „Faschisten“ auf eine Stufe gestellt würden. Der CDU - Vorstand sprach sich gegen eine Fortsetzung der Regierungskoalition mit der SED - PDS nach freien Wahlen und dafür aus, Wahlhilfe aus der Bundesrepublik anzunehmen.271 In Rostock erklärte Pastor Joachim Gauck vom Neuen Forum, zur Zeit gehe von rechten Kräften im Lande keine Gefahr für die politische Gesamtentwicklung aus. Die Bevölkerung habe eher Angst, dass sich die stalinistischen Strukturen nicht veränderten. Die „Angstpolitik“ Gysis und der SED - PDS sei ein „überaus gefährliches und überaus ablehnenswertes Zeichen von politischer Arbeit“. Die SED - PDS schaffe sich die Szene selbst, und Gysi müsse sich fragen, ob er seine Haltung vor der Geschichte verantworten könne.272 Im Zusammenhang mit der Ablehnung der Weiterarbeit des MfS unter neuem Namen gab es Anfang Januar auch überall Proteste gegen die vom Ministerrat „in nicht demokratischer Weise und unter Missachtung der Meinung großer Teile der Bevölkerung“ beschlossene Zahlung von Übergangsgeldern an MfS Mitarbeiter. Auch von Seiten oppositioneller Kräfte wurden die Beschlüsse als ernsthafte Belastungsprobe für „das sich herausbildende Vertrauensverhältnis“ bezeichnet.273 In Flöha protestierte der Runde Tisch des Kreises gegen die Überbrückungsgelder und plädierte für ein teilweise eingeschränktes Recht ehemaliger MfS - Angestellter zur Arbeitsaufnahme.274 In Löbau wandte sich das Neue Forum dagegen, das ehemalige MfS - Mitarbeiter unter Modrow „Treueprämien“ erhielten.275 Im Zusammenhang mit den Übergangsgeldern kam es Anfang Januar zu ersten Streikandrohungen, so im VEB Germania und im VEB Schraubenwerk Karl - Marx - Stadt, im VEB IFA - Motorenwerke Nordhausen, im VEB Gum-

270 Demokratischer Aufbruch – sozial + ökologisch. Vorstand, Berlin vom 6. 1. 1990. An alle DA - Gruppen und Verbände ! ( ABL, H. IV, DA ). Vgl. Berliner Zeitung vom 8. 1. 1990. 271 Neue Zeit vom 6. 1. 1990. 272 Vgl. Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 6./7. 1. 1990. 273 Informationszentrum vom 4. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 105 f. und 109). 274 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 10. 1. 1990. 275 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 5. 1. 1990.

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miwerke Berlin, Betriebsteil Schwerin und im Bahnbetriebswerk Cottbus.276 Am 3. Januar legten im VEB Fahrzeug - und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ in Suhl fünfzig Beschäftigte die Arbeit für eine knappe Stunde nieder, um gegen die soziale Absicherung für ehemalige Angestellte des MfS zu protestieren.277 Wenig Widerspruch gab es zu diesem Zeitpunkt gegen eine Einstellung von MfS - Mitarbeitern in Wirtschaftsbetrieben.278 Bonner Interventionen Wie weit sich die Kräfteverhältnisse bereits verschoben hatten, zeigte sich daran, dass inzwischen Bundesregierung und Bonner Parteien zunehmend als Akteure auftraten und die Demokratiebewegung in der DR offen unterstützten. Die Bundesregierung erklärte am 5. Januar, die angestrebte enge Zusammenarbeit mit der DDR und die Bildung einer „Vertragsgemeinschaft“ stehe unter dem Vorbehalt, dass am 6. Mai freie Wahlen stattfänden. Von einer Chancengleichheit als Voraussetzung dafür könne derzeit nicht gesprochen werden. Sie warnte die Modrow - Regierung, ihr Machtmonopol weiterhin zum Nachteil der Opposition auszuspielen. Die Bundesregierung stand unter dem Druck der SPD, die ihr vorwarf, durch Abmachungen mit Modrow massive Wahlhilfe für die SED PDS und die mit ihr kooperierenden Ex - Blockparteien zu geben. Diese war auch ein Grund dafür, dass die CDU de Maizière aufforderte, die von der SED - PDS völlig dominierte Regierung, in der die anderen Parteien lediglich eine Alibi Funktion hatten, zu verlassen. Am 6. Januar forderte die SPD Kohl auf, die für Anfang Februar geplanten Verhandlungen mit Modrow abzusagen, falls der Opposition bis dahin nicht Chancengleichheit im Wahlkampf zugesichert werde. Man müsse der SED - PDS ein „deutliches Warnsignal“ geben, da diese den Druck auf die oppositionellen Gruppen verschärfe und ihnen vor allem an der Basis praktisch jede Entfaltungsmöglichkeit vorenthalte. So müsse weiterhin jedes Flugblatt von den SED - beherrschten Behörden genehmigt werden, was meist entweder abgelehnt oder lange hinausgezögert werde. Für Anzeigen in der dominierenden SED - Presse würden von den mittelosen Gruppen bis zu 2 000 Mark verlangt. Gefordert wurde eine „Allianz der Demokraten“ in der Bundesrepublik gegen die unlauteren Methoden der SED - PDS zur Sicherung ihrer Macht. Auch FDP - Vorsitzender Genscher äußerte sich besorgt über die durch die SED - PDS betriebene Machtstabilisierung.279 Aus der DDR forderte Konrad Weiß ( DJ ) Kohl auf, mit Modrow keine Vertragsgemeinschaft zu schließen, da dessen Regierung nicht demokratisch legitimiert, sondern eine Über276 Vgl. Informationszentrum vom 4. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 105 f. und 109). 277 Vgl. MdI vom 4. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 278 Vgl. Herbst 89, Ausstellung, Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna ( Museum Borna ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 9. 1. 1990. 279 Vgl. Der Tagesspiegel vom 7. 1. 1990; Neue Zürcher Zeitung vom 7./8. 1. 1990.

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gangsregierung sei, die nicht befugt und nicht beauftragt sei, Entscheidungen für die Zukunft des Landes zu treffen.280 Die Bundesregierung erklärte am 8. Januar noch einmal, die Chancengleichheit aller politischen Gruppierungen sowie die Gewährleistung freier Wahlen seien unabdingbare Voraussetzungen für eine intensivere Zusammenarbeit. Das FDP - Präsidium sprach sich gegen eine Vertragsgemeinschaft vor freien Wahlen aus. FDP - Chef Otto Graf Lambsdorff nannte den geplanten Besuch Modrows in Bonn wenig sinnvoll.281 Am 10. Januar bekam die Bundesregierung den Entwurf des DDR - Wahlgesetzes zugespielt, der die Chancen der Oppositionsgruppen gegenüber der SED - PDS deutlich beeinträchtigte. Das Ziel freier Wahlen war aus Sicht der Bundesregierung gefährdet.282 Kohl wiederholte zwar seine Absicht, mit Modrow zusammenzutreffen, verlangte nun aber eine Beteiligung der Opposition. Eine Vertragsgemeinschaft machte er von deren Zustimmung abhängig und formulierte Bedenken über das geplante Wahlrecht als auch gegen den Versuch, das MfS unter neuem Namen weiter arbeiten zu lassen.283 Die SED - PDS wolle die DDR politisch destabilisieren, die Beteiligung de Maizières an der Modrow - Regierung sei falsch.284 Auch finanziell erhöhte Bonn den Druck. Am 12. Januar informierte Bundesfinanzminister Waigel Modrow, dass „es die erhofften Zahlungen aus Bonn an die DDR nicht geben werde“.285 Zentraler Runder Tisch und Regierungsparteien gehen auf Distanz zur SED-PDS Am 7. Januar konzentrierten sich die Proteste auf sonntägliche Gottesdienste.286 In der St. Johanniskirche von Crimmitschau ( Werdau ) wurde ein Ende weiterer sozialistischer Experimente und Parteienpluralismus gefordert. Alles andere führe zu einem weiteren Anwachsen der Ausreisewelle.287 Auf einem Landesdelegiertentreffen des Neuen Forums am 7. Januar in Leipzig wurde Modrow aufgefordert, politische Entscheidungen bis zu den Wahlen nur nach Konsultationen der Oppositionsgruppen zu treffen. Die Delegierten riefen DDR - weit für den 15. Januar zu einer Demonstration gegen die Restaurationspolitik der SED und ihres Sicherheitsapparates auf.288 Am 8. Januar trat der Zentrale Runde Tisch zur 6. Sitzung zusammen. Der Regierungsbeauftragte für die Auf lösung des AfNS, Peter Koch, erstattete Bericht. Danach waren bislang 25 965 der mehr als 85 000 MfS - Mitarbeiter 280 281 282 283 284 285 286

Offener Brief von Konrad Weiß an Bundeskanzler Helmut Kohl. In : taz vom 6. 1. 1990. Vgl. FAZ vom 9. 1. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 104 f. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. 1. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 105. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 104. Vgl. Herbst 89, Ausstellung, Erinnerung – Gespräche in der Stadt Borna ( Museum Borna ). 287 Vgl. HAIT, Wer E5. 288 Vgl. FAZ vom 8. 1. 1990.

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entlassen und alle 216 Kreisämter geräumt worden. Bei den Teilnehmern verstärkte der Auftritt den Eindruck des Unwillens der Regierung zum konsequenten Abbau des MfS - Apparates. Die Vertreter der neuen politischen Kräfte sprachen Koch ihr Misstrauen aus, unterbrachen die Sitzung und stellten der Regierung Modrow ein auf zwei Stunden befristetes Ultimatum, mit dem sie den Fortbestand des Zentralen Runden Tisches in Frage stellten. Markus Meckel erklärte unter dem Beifall der Opposition : „Die Opposition muss jetzt neuen Druck auf der Straße organisieren, und zwar mit Warnstreiks und Demonstrationen.“289 Freilich warteten die Menschen auf den Straßen nicht darauf, ihre Proteste von den Bürgerrechtlern organisiert zu bekommen und gingen von sich aus auf die Straße. Am Runden Tisch forderte Ingrid Köppe ein Ende des bisherigen Umgangs mit der Staatssicherheit und verlangte von Modrow kategorisch, dem Runden Tisch noch am selben Tag einen Bericht über die innere Sicherheit zu geben.290 Es musste Modrow zu denken geben, dass sich auch die an der Regierung beteiligten Ex - Blockparteien anschlossen.291 Der Runde Tisch verlangte bis zum 15. Januar einen Zwischenbericht zum Stand der Auf lösung des AfNS. Die Regierungsparteien übten nach der Sitzung Druck auf Modrow aus, vor den ersten freien Wahlen auf den MfS - Nachfolgeapparat zu verzichten.292 Diese Haltung der Koalitionsparteien am Zentralen Runden Tisch während der „entscheidenden Machtprobe seit den Herbstereignissen“293 war auf den Prozess der Verselbstständigung der Parteien und den Profilierungsdruck angesichts der bereits begonnenen Parteienkonkurrenz zurückzuführen. Die Abkehr der sich demokratisierenden Ex - Blockparteien stellte Modrows und Gysis Konzept eines reformierten Sozialismus radikal in Frage. Aus Sicht der SED - PDS liefen sie damit auf die Seite der Feinde über, die es mit Hilfe der Staatssicherheit zu bekämpfen galt. In dieser Situation hatten die Parteien keine Veranlassung mehr, einen auf SED - Linie liegenden Verfassungsschutz zu unterstützen, der nicht nur die neuen politischen Kräfte, sondern auch sie selbst observierte und durch Inoffizielle Mitarbeiter beeinflusste. Zu ihrer ablehnenden Haltung wurden die Parteien durch die Regierung direkt gezwungen, weil diese die Gremien der Kooperation zu offensichtlich zur Stabilisierung der eigenen Macht nutzte. Selbst unter den Vertretern der SED - PDS am Runden Tisch gab es Proteste gegen den Kurs Modrows, da dieser dem Ansehen der SED - PDS erheblichen Schaden zufüge. Modrow, der auf dem Weg zu einer Sitzung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe war, wurde unter wegs über das Ultimatum informiert, wollte sich aber „nicht so unter Druck setzen lassen“. Er könne nicht 289 Zit. bei Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 262. 290 Vgl. Runder Tisch vom 8. 1. 1990 : 6. Sitzung, Vorlage 11 : Erklärung der oppositionellen Gruppe ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). Vgl. Herles / Rose ( Hg.), Vom Runden Tisch, S. 48; Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 70 f. 291 Vgl. Runder Tisch vom 8. 1. 1990 : 6. Sitzung, Info Nr. 8 : Erklärung ( ABL, DZ 15. Januar, 171505); Thaysen, Der Runde Tisch 1, S. 99. 292 Vgl. Der Tagesspiegel vom 11. 1. 1990; Süddeutsche Zeitung vom 13. 1. 1990. 293 Ullmann, Der gemeinsame Boden, S. 88.

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erscheinen, da er bereits in Sofia weile.294 Auch hier waren die Nachrichten für ihn schlecht, beschloss der RGW doch die Anlehnung an den Weltmarkt auf der Grundlage von Verrechnung in frei konvertierbarer Währung.295 Die hinhaltenden Stellungnahmen der SED - PDS wurden nun zum Nährboden für ernsthafte Spannungen zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Zentralen Runden Tisch. Die Versuche Modrows, sich dessen Zugriff zu entziehen, wurden von diesem als Ausdruck des Bestrebens bewertet, alte Machtpositionen der SED wiederherzustellen. Längst aber hatten sich die Machtverhältnisse in der DDR gewandelt. Der Zentrale Runde Tisch forderte Einfluss auf alle wesentlichen Regierungsentscheidungen und ließ sich von der Durchsetzung seiner Forderungen und Beschlüsse nicht mehr abbringen. Das Aktionsbündnis der Opposition forderte unmittelbar nach der Sitzung zur Teilnahme an einer Demonstration in Berlin am 11. Januar auf. In dem Aufruf hieß es : „Es reicht ! Der Machtapparat der SED behindert erschreckend die Demokratisierung des Landes. Tendenziöse Berichterstattung und Verunglimpfung der Opposition bestimmen weitgehend die Medien. Diese sind noch voll in der Hand der Parteien, die das Land in den Abgrund geführt haben.“296 Nach der Tagung des Zentralen Runden Tisches setzte sich nicht nur die Streik - und Demonstrationswelle mit neuer Intensität fort, die Regierung musste auch „eine deutliche Verhärtung der Positionen bei den Vertretern der Bürgerkomitees“ konstatieren. In allen Bezirksämtern wurden die bereits ausgehandelten Verfahrensweisen beim Umgang mit dem operativen Schriftgut entsprechend der neuen Orientierung durch die Tagung der Bürgerkomitees am 5. Januar in Leipzig in Frage gestellt und veränderte Regelungen gefordert. In Leipzig verweigerte das Bürgerkomitee nach der Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 8. Januar die Auslagerung von Material des MfS ins Staatsarchiv Leipzig, da dort zu viele SED - Mitglieder arbeiteten und ungewiss war, was mit den Unterlagen passieren würde.297 Auch die LDPD betonte am 8. Januar ihre „deutliche Abgrenzung zur SED - PDS“ und erklärte, die Partei werde nach der Wahl „keiner Regierung beitreten, der auch die SED - PDS angehört“. Die Partei wandte sich gegen den Versuch, alle nichtsozialistischen Kräfte durch die Gleichsetzung von rechts und rechtsradikal zu diffamieren.298 Es war bezeichnend für die Machtverteilung und Arbeitsweise im Ministerrat, dass die Regierungspartner der SED - PDS öffentlich gegen Beschlüsse des Ministerpräsidenten protestieren mussten. Von einem gemeinsamen Prozess der Entscheidungsfindung wie in Kabinetten gewählter Regierungen konnte keine Rede sein. Nachdem Ost CDU und LDPD erklärt hatten, nach freien Wahlen nicht mehr mit der SED PDS zu koalieren, forderte Rühe die Ost - CDU am 9. Januar auf, die Regierung 294 Modrow, Aufbruch und Ende, S. 71. Vgl. Süß, Mit Unwillen, S. 473, Anm. 18; Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 71. 295 Vgl. von Plato, Die Vereinigung, S. 155. 296 Das Volk vom 10. 1. 1990. 297 Vgl. Lagezentrum vom 9.–10. 1. 1990 : Lagefilm ( BStU, ZKG 129, Bl. 122). 298 Vgl. Der Morgen vom 10. 1. 1990.

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Modrow sofort zu verlassen, „einen Schlussstrich gegenüber der SED“ zu ziehen und sich an die Seite der Opposition zu stellen. Tatsächlich stabilisierte die Ost - CDU die Regierung und trug als Koalitionspartner de facto alle restaurativen Beschlüsse Modrows und der SED - PDS mit. Seine Partei, so Rühe daher, werde im Wahlkampf vor allem Oppositionsgruppen unterstützen.299 „Der eigentliche Kampf um die Durchsetzung der Demokratie in der DDR“, so zwei Tage später, habe erst begonnen. Alle nichtkommunistischen DDR - Parteien sollten ein Bündnis gegen die SED - PDS bilden. Nochmals legte er de Maizière nahe, die Regierung zu verlassen. In diesem Falle könne sie mit Unterstützung durch die West - CDU rechnen.300 Lothar de Maizière wies diese Offerte jedoch zurück. Demonstrationen und Streiks Von zentraler Bedeutung für den weiteren Verlauf waren vor allem die Proteste der Bevölkerung, die auf einen neuen Höhepunkt Mitte Januar zusteuerten. Am 8. Januar ( Montag ) trat die Demontage der Staatspartei ins Zentrum des Demonstrationsgeschehens.301 Bezirk Dresden : In Dresden forderten am 8. Januar rund 10 000 Bürger „Deutschland einig Vaterland“ und „Weg mit der SED“. Sie schwenkten schwarz - rot - goldene und weiß -grüne Fahnen.302 In Bautzen wurde zur Demonstration am 15. Januar aufgerufen. Erneut, so hieß es, unternehme die SEDPDS unter Führung Gysis den Versuch, die Staatssicherheit als Verfassungsschutz zu restaurieren. Mit Kampagnen werde suggeriert, nur die SED - PDS könne die Menschen vor der „Auferstehung des deutschen Faschismus“ retten. Man dulde es aber nicht, dass unter dem Vorwand „Ermittlung gegen rechts“ demokratische Kräfte observiert und repressiert werden.303 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Karl - Marx - Stadt demonstrierten am 8. Januar 50 000 Personen u. a. für freie Gewerkschaften und Streikrecht. Veranstalter war die „Demokratisch - oppositionelle Plattform Karl - Marx - Stadt“. Auf einem Transparent war zu lesen: „Gysi und Verfassungsschutz – alte Fassade mit neuem Putz“.304 In Aue und Zwickau gingen je 7 000 Personen auf die Straße, in Oelsnitz 3 000, in Marienberg 1 500, in Hartenstein ( Zwickau ) 400, in Lengenfeld ( Reichenbach ) 250.305 In Crottendorf ( Annaberg ) demonstrierten 1 200 Menschen, viele von ihnen aus den Nachbargemeinden Neudorf, Scheibenberg und Walthersdorf. Da die ev. - meth. Kirche die vielen Menschen nicht fassen 299 300 301 302 303 304

Die Welt vom 9. 1. 1990. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 12. 1. 1990. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 217. Vgl. MdI vom 9. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445). Kein Geheimdienst vor den Wahlen ! Bautzen vom 8. 1. 1990 ( UB Grohedo ). Informationszentrum vom 9. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 108). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 136. 305 MdI vom 7. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445); Informationszentrum vom 7. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 215).

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konnte, wurden die Reden per Lautsprecher nach außen übertragen. Bei späteren Demonstrationen wurde hier zum Schluss regelmäßig das Lied von Anton Günther „Deutsch un frei woll’n mir sei !“ gesungen.306 In einem Aufruf des Neuen Forums in Sosa ( Aue ) hieß es, ungerechtfertigte Übergangszahlungen an ausgeschiedene Staats - und Parteidiener sowie MfS - Mitarbeiter würden zeigen, wie die SED- PDS mit „unserem Vertrauensvorschuss“ umgehe. Man sei gegen Faschismus und Radikalismus von rechts wie von links. Die „Demagogie von Faschismus, die unsere Regierung jetzt betreibt“, sei eine Gefahr für die Demokratie. Viele Schmierereien seien keine Taten von Faschisten, sondern von Mitgliedern der „Terrororganisation der SED“. Erneut lasse die SED - PDS mit Wörtern wie „braune Pest“ Hass - und Feindbilder entstehen. Noch seien die Machtstrukturen der SED nicht gebrochen. Die SED - PDS sei „nicht gewillt, ihre Vergangenheit offen und schonungslos zu verarbeiten“.307 In Oelsnitz wandten sich mehrere Redner gegen den wachsenden Rechtsradikalismus, aber auch gegen dessen Nutzung für wahltaktische Manöver der SED - PDS, die Behinderung der Opposition durch die SED - PDS - Medien und deren Verschleierungstaktik bei der Auflösung des AfNS.308 In Schwarzenberg warnten Sprecher des Neuen Forums vor 1 000 Teilnehmern vor der Meinung, die Revolution sei bereits realisiert. Es gab Kritik an den Übergangsgeldern für MfS - Angehörige. Ein CDU - Vertreter verwahrte sich gegen die Ausnutzung des Rechtsradikalismus für den SED - PDS- Wahlkampf.309 Bezirk Leipzig : An der ersten Demonstration des Jahres in Leipzig nahmen am 8. Januar rund 100 000 Personen teil.310 Ihr Protest richtete sich in erster Linie gegen die SED - PDS.311 Der Platz vor der Oper war mit Fahnen und Transparenten übersät. Zehntausende riefen: „Nieder mit der SED“, „Gysi weg“. Auf Transparenten hieß es: „Zwei Montage nicht auf der Straße, schon hebt die SED die Nase“ und „Warnstreik oder die Revolution geht verloren“.312 Die Einrichtung eines Verfassungsschutzes vor freien Wahlen und einer neuen Verfassung, die Hakenkreuzschmierereien, die viele dem MfS anlasteten, die Warnung der SED gelenkten Medien vor einer Gefahr von rechts hatten die Menschen verärgert. In Leipzig waren keine DDR - Fahnen oder Sprechchöre der FDJ - Studentengruppen „Für unser Land“ mehr zu registrieren.313 Statt dessen verteilten nun auch die Republikaner ihre Flugblätter.314 Die Demonstranten stellten Kerzen vor die 306 Jörg Lötzsch / Andreas Demmler, Chronik der Wende in Crottendorf ( HAIT, StKa ). 307 Aufruf der Bürgerinitiative Neues Forum Sosa. In : Frank Reißmann, Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa vom 17. 3. 1999 ( ebd.). 308 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 10. 1. 1990. 309 Vgl. MdI, Informationen : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445); Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 10. 1. 1990. 310 Sächsisches Tageblatt vom 9. 1. 1990 spricht von 200 000 Teilnehmern. 311 Vgl. MdI vom 9. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445 Stab Information ). 312 Vgl. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 131, 157 und 159. 313 Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 85. 314 Vgl. Schomers, Deutschland ganz rechts, S. 176 f.

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Bild 65: Am 8.1.1990 am Neuen Rathaus Leipzig.

Runde Ecke und wandten sich in Sprechchören gegen das AfNS. In Döbeln demonstrierten am 8. Januar nach einem Fürbittgottesdienst 2 500 Personen gegen die SED - PDS.315 In Oschatz fand am 8. Januar in der Klosterkirche ein erstes Bürgerforum mit 600 Teilnehmern statt. Vertreter des Rates des Kreises und der Stadt Oschatz nahmen nicht teil und organisierten eigene Dialogrunden, zu denen jedoch kaum jemand erschien. Kupke kritisierte den Missbrauch der Kampagne gegen Rechtsradikalismus durch die SED - PDS und rief auf, wachsam zu bleiben. Es wurde beschlossen, eine Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit und in den Schulen Schülerräte zu bilden, von den Montagsrunden Videoaufnahmen zu machen, eine freie Zeitung zu gründen, in Oschatz eine Litfaßsäule für Informationen der Montagsrunde aufzustellen und in den Betrieben die Schwarzen Bretter der SED - Agitatoren für alle nutzbar zu machen. Thematisiert wurden auch die Rechte und die demokratische Legitimierung des Oschatzer Bürgerkomitees. Spontan wurden 385 Unterschriften zur Legitimierung des Komitees abgegeben, das daraufhin am 9. Januar erstmals offiziell zusammenkam.316 Auch am 9. Januar rissen die Proteste nicht ab. Die Regierung erhielt Meldungen über ein schnelles Anwachsen politischer Spannungen. Immer mehr 315 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 316 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 117–119.

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Betriebsbelegschaften protestierten gegen die Überbrückungsgelder für MfS Mitarbeiter und drohten mit Arbeitsniederlegungen.317 Auf den Demonstrationen am 9. Januar „kristallisierte sich zunehmend als Hauptforderung heraus : – die Abschaffung der SED - PDS, – der Aufruf zur Nichtwahl der SED - PDS am 6. 5.1990, – die Wiedervereinigung Deutschlands“.318 Etwa 500 Einwohner von Pulsnitz ( Bischofswerda ) wandten sich beim Fürbittgottesdienst mit einem Appell an Modrow, in dem gegen den Versuch der SED - PDS protestiert wurde, Macht und Posten zu retten. Die Bürger wurden aufgefordert, sich an den Montagsdemonstrationen in Dresden zu beteiligen.319 In Reinhardtsgrimma ( Dippoldiswalde ) beteiligten sich mehrere Hundert Einwohner an einer Demonstration, die sich u. a. gegen das Pressemonopol der SED - PDS und deren Hinhaltepolitik richtete.320 Unter der Forderung „Rettet Meißen !“ wandte sich die 10. Meißner „Doppel - Demo“ mit ca. 1 500 Teilnehmern gegen den baulichen Verfall der Stadt, aber auch gegen die Absicht der Modrow - Regierung, ehemalige MfS - Mitarbeiter durch Überbrückungsgelder zu privilegieren und alte Stasi - Strukturen zu retten.321 In Karl - Marx - Stadt gingen 50 000 Menschen auf die Straße.322 In Borna protestierte das Neue Forum gegen die sich „gravierend abzeichnende Restaurationspolitik der SED - PDS“ und ihres Sicherheitsapparates.323 Am 10. Januar traten DDR - weit zahlreiche Betriebsbelegschaften massiv gegen die Entscheidungen der Modrow - Regierung auf.324 Überall gab es mit Streikandrohungen versehene Proteste gegen die Zahlung von Übergangsgeldern und den restaurativen Kurs der SED - PDS. Der DDR - Verfassungsschutz konstatierte : „Es mehren sich Anzeichen, in Betrieben und Einrichtungen gezielte Aktionen gegen die SED - PDS durchzuführen.“325 Am Zentralen Runden Tisch konstatierte Ingrid Köppe für das Neue Forum eine Verhärtung der Beziehungen zwischen Opposition und SED - PDS. Noch vor einiger Zeit sei die SED bereit gewesen, die Opposition anzuhören, inzwischen werde diese in den Medien nur noch durch die SED dargestellt und komme selbst kaum zu Wort. Das Neue Forum werde den Zentralen Runden Tisch verlassen, wenn die Regierung Modrow auf Einrichtung eines Verfassungsschutzes vor den Wahlen bestehe, der angesichts mangelnder Alternativen zwangsläufig aus der Staatssicherheit hervorgehen würde.326 Präventiv wurde für den 317 Vgl. Informationszentrum vom 9. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 106); MdI vom 10. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 318 Informationszentrum vom 9. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 107). 319 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 13./14. 1. 1990. 320 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 12. 1. 1990. 321 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 10. 1. 1990. 322 Vgl. Informationszentrum vom 9. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 107). 323 Neues Forum Borna an Vorsitzenden des RdK Borna, Beyer, vom 9. 1. 1990 ( PB Hartmut Rüffert ). 324 Vgl. RdB Suhl vom 10. 1. 1990 : Lage ( ThSTAM, 2647). 325 Informationszentrum vom 10. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 164). 326 Interview mit Ingrid Köppe. In : taz vom 10. 1. 1990.

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15. Januar zu landesweiten Protestdemonstrationen gegen die restaurative Politik Gysis und Modrows bzw. der SED - PDS aufgerufen. Gleichzeitig riefen mehrere Bürgerbewegungen für den 11. bzw. 12. Januar zur Blockade der Volkskammer durch eine Menschenkette auf und bereiteten in zahlreichen Orten Warnstreiks vor. Bezirk Dresden : An einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration beteiligten sich in Freital am 10. Januar etwa 1 500 Einwohner. Eine Forderung war die Wiederherstellung des Landes Sachsen. Der Sprecher des Neuen Forums forderte Streikbereitschaft, falls der Zentrale Runde Tisch wegen der Haltung der SED - PDS auseinanderfallen sollte. Redner der SDP und des Neuen Forums verurteilten die neofaschistischen Schmierereien, die wahrscheinlich von MfS - Mitarbeitern angebracht worden seien, ebenso wie ihren Missbrauch.327 In Pirna forderten Abgeordnete und Mitglieder verschiedener Parteien und des Neuen Forums, die Arbeitsweise des MfS / AfNS und seine Verbindung zur SED zu „entlarven“ und zu „paralysieren“ sowie alle Mitarbeiter des MfS / AfNS aus dem Staatsdienst zu entlassen. Für sie war eine Arbeitsbeschaffungsprogramm und eine kontrollierte ideologische Umschulung vorgesehen.328 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Marienberg demonstrierten am 10. Januar 5 000 Menschen gegen die SED und für die deutsche Einheit. Proteste gab es auch hier wegen der Kampagne der SED - PDS gegen Neonazismus und deutsche Einheit.329 In Lengefeld ( Marienberg ) folgten erneut ca. 350 Personen einem Aufruf des Neuen Forums zur Demonstration gegen die SED - PDS und für Wiedervereinigung.330 In Limbach - Oberfrohna ( Karl - Marx - Stadt - Land ) forderten auf einer von SDP, DA und DFP organisierten Demonstration 9 000 bis 15 000 Bürger die Überführung eines Gästehauses der SED - Bezirksleitung in „Volkseigentum“.331 In Zwickau kam es zum Streik.332 Bezirk Leipzig : In Eilenburg demonstrierten am 10. Januar 5 000 Bürger des Kreises nach einem Aufruf des Neuen Forums mit Transparenten und Sprechchören gegen die SED - PDS und die Regierung. Redner wandten sich auf einer Kundgebung gegen weitere sozialistische Experimente und die Aufhebung des Hausarrestes von Erich Honecker. Sie forderten Marktwirtschaft und ein geeintes Deutschland. Zum Schluss wurde die Nationalhymne der DDR gesungen.333

327 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 12. 1. 1990. 328 Ständige Kommission zur Kontrolle der Schutz - und Sicherheitsorgane Pirna vom 10. 1. 1990 : Offener Brief und konstruktiver Protest zum Rundschreiben des BAfNS Gera vom 9. 12. 1989 ( ABL, H. 17, Info - Blatt 1, Neues Forum Region Pirna ). 329 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 10. 1. 1990. 330 Vgl. SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 14. 331 BArch Berlin, DC 20, 11350. 332 Vgl. Informationszentrum vom 10. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 164 f.). 333 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 12. 1. 1990.

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Volkskammertagung und Proteste am 11. Januar In angespannter Lage trat am 11. Januar die Volkskammer zusammen. Auf den Tischen der Abgeordneten lag die „Berliner Zeitung“ mit einem öffentlichen Protest der SDP : „Die SED hat noch immer den kompletten Apparat. Wir haben nicht einmal ein Telefon ! Die SED beherrscht fast alle Zeitungen im Land. Wir müssen um ein paar Spalten kämpfen ! Die Staatssicherheit arbeitet einfach weiter. Die friedliche Revolution unseres Volkes muss endlich auch in den Amtsstuben und Betriebsleitungen wirken ! Uns reicht’s jetzt ! Darum gehen wir auf die Straße !“ Vor der Volkskammertagung warnten Vertreter der Oppositionsgruppen Modrow davor, wie am 2. Januar angedroht, in der Volkskammersitzung die Vertrauensfrage zu stellen und damit baldige Neuwahlen herbeizuführen. Die Verschärfung der Krise würde in diesem Fall voll der Regierung anzulasten sein.334 Die Volkskammertagung wurde von wieder zunehmenden Protesten in der gesamten DDR flankiert (siehe Diagramm 8 auf S. 610 und Diagramm 15 auf S. 930). In Berlin demonstrierten während der Tagung etwa 20 000 Menschen gegen den neuen Verfassungsschutz. Mehrere Hundert Bauarbeiter forderten in einem Warnstreik die sofortige Auf lösung des AfNS, die Abschaffung der Überbrückungsgelder für ehemalige Mitarbeiter des MfS, eine schnellere Demokratisierung und die Wieder vereinigung Deutschlands.335 Während ihrer Arbeitszeit zogen sie mit Werkhelmen auf dem Kopf zur Volkskammer, wo am selben Tag auch Tausende Anhänger oppositioneller Parteien und Gruppierungen für demokratische Veränderungen demonstrierten. Auf dem Marx - Engels Platz vor der Volkskammer wurde die Staatsfahne vom Mast geholt und das DDR - Emblem herausgerissen. Die Situation erinnerte an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Überall in der DDR gab es Warnstreiks und Demonstrationen gegen die Restaurationspolitik Modrows und die Weiterarbeit des MfS / AfNS unter neuem Firmenschild.336 Unmissverständlich wurde die Argumentation der SED - PDS zurückgewiesen, die Bildung des Verfassungsschutzes sei wegen der angeblich von rechts drohenden Gefahr notwendig. Mobilisiert wurden inzwischen auch Schichten der Bevölkerung, die sich normalerweise weniger für die Fragen der Politik interessierten, denen aber nicht einsichtig war, warum ehemals privilegierte SED - Kader und MfS - Mitarbeiter im Gegensatz zur normalen Bevölkerung nach ihrer Entlassung Überbrückungsgelder erhalten sollten. Ihre Proteste machten sich daher vor allem am Beschluss des Ministerrates fest, im Zusammenhang mit den Überleitungsverträgen von ehemaligen MfS - Angehörigen Überbrückungsgelder für die Dauer von bis zu drei Jahren zu bezahlen. Immer neue Betriebe und Arbeitskollektive drohten in den folgenden Tagen mit Streik oder legten die Arbeit nieder.337 334 335 336 337

Vgl. Frankfurter Rundschau vom 11. 1. 1990. Vgl. Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst III, S. 74. Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 45. Vgl. Lagezentrum vom 10. 1. 1990 : Tagesbericht 7, Anlage 1 ( BStU, ZKG 129, Bl. 42 f.).

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Bezirke Dresden / Cottbus : In Hoyerswerda drohten am 11. Januar Mitarbeiter des HT Cottbus, Betriebsteil Hoyerswerda, in einem Brief an Modrow mit Warnstreiks, wenn keine Chancengleichheit für alle politischen Gruppen und Parteien geschaffen werde.338 In der Brauerei Löbau streikten zahlreiche Kraftfahrer für eine Lohnerhöhung.339 In Großenhain gingen 6 000 Bürger des Kreises auf die Straße. Auf Transparenten hieß es u. a.: „Wählt die SED - PDS und das Licht geht aus“ und „Gysi raus“. Ein Sprechchor lautete: „8, 9, 10, die SED muss gehen“. Auf einer Kundgebung wurden u. a. Chancengleichheit im Wahlkampf, das Offenlegen der SED - PDS - Finanzen, die Wiederherstellung der Länder und ein Ende der Staatssicherheit gefordert. Das Neue Forum Großenhain verwahrte sich gegen die Medienkampagne der SED - PDS gegen den „Neofaschismus“. Damit würden nur Ängste geschürt, um einen Verfassungsschutz durchzusetzen, der dem MfS sehr ähnlich und nur wieder ein Machtinstrument der SED - PDS wäre.340 In Niesky demonstrierten 400 Personen mit Plakaten und Sprechchören für Wiedervereinigung und forderten: „SED muss weg“.341 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 11. Januar kündigten Mitarbeiter des Städtischen Nahverkehrsbetriebes Plauen gegenüber Modrow einen Streik an, falls es weiterhin Überbrückungsgelder für ehemalige Angehörige des MfS geben sollte.342 In Schöneck ( Klingenthal ) forderten 2 000 Menschen nach einem Friedensgebet eine unabhängige Presse, die Rückgabe des SED - Betriebseigentums und eine Auflösung des MfS. In Markneukirchen ( Klingenthal ) demonstrierten 4 500 Personen nach einem Aufruf der örtlichen Bürgerinitiative mit Losungen wie: „Stoppt die SED“, „Wer die SED wählt – wählt den Bürgerkrieg“, „Friedliches Zusammenwachsen Deutschlands“ und „Gegen Extremismus von rechts und links“.343 Am Runden Tisch in Oelsnitz gab es Proteste gegen die mangelhafte Auflösung des AfNS.344 In Freiberg protestierten auf einer SDP - Veranstaltung mehr als 5 000 Menschen gegen die SED - PDS, die Staatssicherheit sowie Modrow und Gysi und forderten die Wiedervereinigung sowie eine soziale und ökologische Marktwirtschaft.345 In Zwickau warf der SDP - Vorstand der SED PDS wegen ihrer Kampagne „gegen rechts“ das Schüren von Angst und Hysterie vor. Damit solle nur von den Verbrechen der 40 Jahre SED - Herrschaft abgelenkt werden. Laut Bezirksstaatsanwalt sei der Rechtsradikalismus aber 338 BGL HAT Cottbus, BT Hoyerswerda, an Hans Modrow vom 11. 1. 1990 ( BArch Berlin, DC 20, 11350). 339 Vgl. BDVP Dresden vom 12. 1. 1990 : Lageinformation ( ebd.). 340 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 11. und 13./14. 1. 1990. 341 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350. 342 Vgl. RdB an Chef der BDVP Karl - Marx - Stadt vom 11. 1. 1990 ( SächsStAC, BDVP KarlMarx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 14). 343 MdI vom 11. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DC 20, 11350). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 12. 1. 1990. 344 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 13. 1. 1990. 345 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350; Michael Lersow, Von der Bürgerbewegung in die Parteistruktur der SPD ( unveröff. Manuskript ); Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 13. 1. 1990.

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überhaupt keine Massenerscheinung und verfüge auch nicht über feste Strukturen.346 In dieser Situation gab Modrow vor der Volkskammer eine Regierungserklärung ab, in der er sich zur Zusammenarbeit mit dem Zentralen Runden Tisch bekannte. Schlecht beraten sei allerdings, wer meine, „ein Ministerpräsident und sein Kabinett könnten unter dem Vetorecht einer politischen Gruppe arbeiten“; gleiches gelte auch „für ultimative Forderungen, wann und wo ich binnen einer Stunde zu erscheinen hätte“. Den Vor wurf der mangelnden Legitimität seiner Regierung konterte er mit der Erklärung, er könne „sich nicht entsinnen, durch einen Staatsstreich Ministerpräsident geworden zu sein“. Zum wiederholten Male bekräftigte Modrow seine Ablehnung einer Wieder vereinigung. Nicht nur die Regierung der DDR sei der Auffassung, dass „eine Vereinigung von DDR und BRD nicht auf der Tagesordnung“ stehe. Die Perspektiven des Verhältnisses der deutschen Staaten sei eine Frage der Zukunft. Jede Antwort müsse in die gesamteuropäische Entwicklung eingeordnet sein.347 Die Volkskammer verabschiedete ein Reisegesetz, das erstmalig die rechtliche Grundlage für freies Reisen schuf.348 26 Abgeordnete schieden aus, darunter Egon Krenz, Werner Jarowinsky und Günter Schabowski.349 Außerdem berief die Volkskammer mehrere Minister ab, unter ihnen den Leiter des AfNS, Schwanitz ( SED PDS ), Justizminister Heusinger ( LDPD ), den Minister für Umweltschutz und Wasser wirtschaft, Reichelt ( DBD ) und den Leiter der staatlichen Plankommission, Schürer ( SED ). Auf Unverständnis stieß die Berufung Kurt Wünsches (LDPD ) zum neuen Justizminister. Modrow kündigte an, die Plankommission durch ein Wirtschaftskomitee zu ersetzen, das die Regierung beraten und ihre Wirtschaftspolitik koordinieren sollte. Ihm würden auch vom Zentralen Runden Tisch benannte Experten angehören. Klare Äußerungen zu den überall erhobenen Forderungen hörte man auf der Volkskammertagung von Modrow vergebens. Die Folge war ein Fortgang der DDR - weiten Proteste. In Sachsen betraf dies am 12. Januar vor allem den Bezirk Karl - Marx - Stadt. In Eppendorf ( Flöha ) folgten über 1 000 Teilnehmer einem Aufruf der Bürgerinitiativen Eppendorf und Großwaltersdorf zur Demonstration gegen die SED - PDS und einen neuen Sozialismusversuch sowie für deutsche Einheit.350 In Olbernhau ( Marienberg ) demonstrierten 3 000 Menschen gegen ein Erstarken der SED und die Reorganisation der Staatssicherheit,351 in Klingenthal gingen 8 000 Personen gegen SED, MfS und für die deutsche Einheit auf die Straße. Es wurden ausschließlich deutsche Fahnen ohne Emblem getragen. Auf einem Transparent hieß es : „Wir sind ein Volk BRDDR“. Die 346 347 348 349 350

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 11. 1. 1990. Vgl. Neues Deutschland vom 12. 1. 1990; Modrow, Aufbruch und Ende, S. 72 f. GBl. DDR, I 3 vom 26. 1. 1990, S. 8 f. Vgl. Informationen des BMB 2 vom 26. 1. 1990, S. 8–11 und 19 f. Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 9. und 17. 1. 1990. 351 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 16. 1. 1990.

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Bevölkerung wurde aufgerufen, bis zur nächsten Demonstration überall deutsche Fahnen zu hissen.352 Regierung beschließt Aussetzung der Bildung von Geheimdiensten (12.1.) Die andauernden Proteste, flankiert durch die Ankündigung der neuen politischen Kräfte, die Kooperation am Zentralen Runden Tisch und in anderen gemeinsamen Gremien zu beenden und die DDR in einen Generalstreik zu führen, zwangen Modrow, nachzugeben. Am 12. Januar sagte er in der bereits erwähnten Volkskammersitzung zu, vor freien Wahlen keine neuen Dienste zu bilden. Die Regierung ordnete die Einstellung aller Aktivitäten zur Bildung eines Nachrichtendienstes und eines Verfassungsschutzes an und untersagte entsprechende politisch - operative Aktivitäten.353 Schon zuvor waren am 10. Januar die Nachrichtenverbindungen zwischen der Berliner Zentrale des Verfassungsschutzes und den Bezirksämtern abgeschaltet worden. Die Benutzung war nur noch im Zusammenhang mit der Auf lösung des AfNS „sowie zur Realisierung ausgewählter internationaler Aufgaben“ möglich.354 Die Leiter der Diensteinheiten mussten Vollzug melden, dass „alle für Wach - und Sicherungsaufgaben benötigten Waffen geschlossen in gesicherten Räumen untergebracht sind“.355 Der Beschluss der Regierung bedeutete, dass es selbst für den Fall, dass nach den freien Wahlen die Bildung neuer DDR - Geheimdienste demokratisch beschlossen worden wäre, es keine Kontinuität vom Apparat des MfS / AfNS zu diesen Diensten geben würde. Insofern beinhaltete die Modrow abgetrotzte Entscheidung im Kern vor allem das endgültige Aus für das MfS / AfNS und die bereits im Entstehen begriffenen, aus dem MfS / AfNS hervorgehenden Geheimdienste. Vielleicht begann die Regierung Modrow auch aus diesem Grund erst am 8. Februar systematisch und noch immer zögerlich mit der Auf lösung des Amtes,356 dessen innere Planungen zur Schaffung von Nachfolgestrukturen zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weit fortgeschritten gewesen waren. Der Ministerrat beschloss außerdem, die Festlegungen über die soziale Sicherung von ausscheidenden Mitarbeitern des AfNS vom 14. Dezember zu ändern und die auf drei Jahre festgelegte Zahlung von Übergangsgeldern auf zwölf Monate zu begrenzen.357 352 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 16. 1. 1990. 353 Vgl. An Leiter der Diensteinheiten vom 12. 1. 1990, gez. Heydel ( BStU, ASt. Berlin, A 1286, Bl. 8 f.). 354 Lagezentrum vom 10. 1. 1990 : Tagesbericht 7, Anlage 1 ( BStU, ZKG 129, Bl. 40). 355 Verfassungsschutz, Stellvertreter des Leiters, an Leiter der Diensteinheiten vom 9. 1. 1990 ( BStU, ZA, RS 583). 356 Vgl. Fricke, Entmachtung und Erblast, S. 1886. 357 Ministerrat der DDR vom 13. 1. 1990 : Beschluss zur Änderung des Beschlusses vom 14. 12. 1989 über Festlegungen zur sozialen Sicherstellung von Angehörigen des AfNS, die im Zusammenhang mit der Auf lösung desselben aus dem Dienst ausscheiden (BArch Berlin, C 20, I /3–2894, Bl. 32–34).

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Der Beschluss der Regierung beförderte die resignative Stimmung, die sich bereits seit November im MfS breitgemacht hatte. Schon damals hatte mit dem Zugeständnis der gerichtlichen Verfolgung von Übergriffen der Sicherheitskräfte eine politische Demotivierung bei den Einheiten des MfS begonnen. Auch Mitte Januar wurde die Auf lösung des Staatssicherheitsapparates und die Reduzierung sozialer Ansprüche im Wesentlichen unwidersprochen hingenommen. Vor allem die neuen politischen Kräfte und die in den Bürgerkomitees mit der Auf lösung des MfS / AfNS befassten Personen fragten sich, warum sich kein Widerstand gegen die schrittweise Zerschlagung der Strukturen rege. Nicht umsonst kursierten Gerüchte über angebliche Putschabsichten ehemaliger MfS - Mitarbeiter. Sie widerspiegelten die Erwartungen und Befürchtungen der Bevölkerung. Im Herbst 1989 hatten die Gründe für die passive Akzeptanz aller Veränderungen zunächst vor allem darin gelegen, dass die Entwicklung im Sinne einer Reformentwicklung verstanden wurde, deren Ziel der Erhalt der DDR auf der Grundlage eines erneuerten Sozialismus war. Hinzu war die wachsende Diskrepanz zwischen Führung und Mitarbeiterschaft gekommen, die sich mit den von der Führung durchgeführten Massenentlassungen konfrontiert sah. Das passive Verhalten machte erneut deutlich, in welcher Abhängigkeit sich das MfS / AfNS vom Zustand der SED befunden hatte. Als „Schild und Schwert der Partei“ war es ein Teil des Parteikörpers der SED gewesen und ohne diesen nicht lebenswillig.358 Die Krise der SED wurde daher unmittelbar zur Krise der Staatssicherheit. Mit der schrittweisen Entmachtung der Partei verlor auch das MfS / AfNS die Motivation und Orientierung. Nicht nur für die „Tschekisten“, auch für die neuen politischen Kräfte und Bürgerkomitees ergab sich mit der Erklärung Modrows und angesichts der Hinnahme der Entscheidung durch den Staatssicherheitsapparat eine veränderte Situation. Sie fand ihren Niederschlag bei einem zweiten Erfahrungsaustausch der Bürgerkomitees aller Bezirke in Berlin. Die Bürgerkomitees bezeichneten es am 12. Januar als ihre wichtigste Aufgabe, die Reststrukturen des MfS endgültig zu zerschlagen und auch in der MfS - Zentrale in der Normannenstraße, die noch immer selbstständig wirke und unter der Leitung von Generalmajor Heinz Engelhardt ver waltet und aufgelöst wurde, ein Bürgerkomitee ins Leben zu rufen.359 Der Ministerrat beschloss am 13. Januar Maßnahmen zur Umsetzung des Auf lösungsbeschlusses. Modrow bestätigte seine Bereitschaft, das AfNS „mit größerer Konsequenz, als das bisher der Fall war“, aufzulösen und bis zum 6. Mai keinen Verfassungsschutz zu bilden. Dem Regierungsbeauftragten und der Kommission für die Auf lösung des AfNS wurde die Missbilligung der Regierung ausgesprochen und der Regierungsbeauftragte von seiner Funktion ent-

358 Vgl. Fricke, MfS intern, S. 74. Apologetisch argumentiert Knauer, Innere Opposition, S. 726. 359 Vgl. Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 42; Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 184.

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bunden.360 Verbunden mit dem Beschluss wurden die Voraussetzungen für die Übernahme einiger Hundert technischer Mitarbeiter des MfS in das Innenministerium geschaffen.361 Auch am 13. Januar konzentrierten sich in Sachsen die Proteste auf den Bezirk Karl - Marx - Stadt. Nach einem Aufruf des Neuen Forums demonstrierten in Plauen bis zu 40 000 Menschen. Es wurden ca. 300 schwarz - rot - goldene Fahnen und 100 Plakate mit Losungen gegen die SED - PDS und für eine Wiedervereinigung Deutschlands mitgeführt. Redner plädierten u. a. für ein Wahlbündnis gegen die SED - PDS, die Einführung der Marktwirtschaft, eine Entfernung der SED - PDS aus allen Positionen, die Wiedererrichtung Sachsens und eine Aburteilung Honeckers.362 Auf Initiative von Mitarbeitern der Kreispoliklinik und des Kreisvorstand der LDPD fand in Rochlitz die erste Demonstration überhaupt statt. Die Proteste richteten sich gegen die SED - PDS und die Staatssicherheit.363 Am selben Tag beteiligten sich in Penig ( Rochlitz ) ca. 1 500 Personen an einer Kundgebung des Neuen Forums. Redner forderten die deutsche Einheit, die Abwahl der SED - PDS, Klarheit über die Auf lösung des MfS und eine Wahl der CDU am 6. Mai.364 Am 14. Januar demonstrierten in Frauenstein (Brand - Erbisdorf ) 400 Personen gegen die SED - PDS und forderten eine radikale Auf lösung der Staatssicherheit.365 In Grimma bei Leipzig wandte sich der DA gegen die Kampagne der SED - PDS „gegen rechts“ und erklärte, Neonazis habe es schon vor der Wende gegeben. Sie seien „eine Reaktion von Unreifen und Verblendeten auf ein gewalttätiges Regime“ gewesen. Stalinismus und Neofaschismus würden sich gegenseitig begünstigen, weil sie auf der gemeinsamen Vorstellung beruhten, die Gesellschaft mit Gewaltmitteln beherrschen zu können. Jetzt gehe es der SED - PDS darum, sich als „Retter der Nation“ aufzuspielen, um so die verlorene Führungsrolle zurückzugewinnen. Der DA lasse sich nicht in eine „rechte“ Ecke stellen, sondern verweise vielmehr auf die „konservative kommunistische Strategie der SED, die ihre gewalttätige Vergangenheit und die jahrzehntelange Verfolgung von Demokraten vergessen lassen möchte“. „Rechts“ sei, wer gewalttätig sei, und das sei die SED.366

360 Beschluss 9/1.b /90 des Ministerrates der DDR vom 13. 1. 1990 zur weiteren konstruktiven Zusammenarbeit der Regierung mit dem Runden Tisch ( BArch Berlin, C 20 I /3– 2892, Bl. 8–10 und 43–45). 361 Beschluss 9/19/90 des Ministerrates der DDR vom 13. 1. 1990 über die Übernahme von Aufgaben zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes bei der Übertragung von Informationen mit technischen Nachrichtenmitteln durch das MfIA ( ebd. I /3–2894, Bl. 144–149). 362 Vgl. MdI Führungsgruppe vom 13. 1. 1990 ( SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 19/20). 363 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 17. 1. 1990. 364 Vgl. MdI Führungsgruppe vom 13. 1. 1990 ( SächsStAC, BDVP Karl - Marx - Stadt, Chef BDVP I /351, Bl. 19/20). 365 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 18. 1. 1990. 366 DA Grimma vom 13./14. 1. 1990 : Hier spricht die Opposition ( HAIT, Grim - B5).

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4.11 Der 15. Januar Demonstrationen und Streiks Am 15. Januar begann unter Leitung des Stellvertretenden Innenministers der DDR, Generalinspekteur Karl - Heinz Schmalfuß, die Auf lösung des Wachregiments des MfS „Feliks E. Dzierzynski“, das zu diesem Zeitpunkt über 10 992 Angehörige verfügte.367 Am selben Tag wurden formal die meisten Bestände der Bezirks - und Kreisämter des AfNS und anderer Objekte durch das MfIA übernommen.368 Für diesen Tag hatte das Neue Forum landesweit zu Demonstrationen gegen die Restaurationspolitik der SED - PDS und ihres Sicherheitsapparates aufgerufen, da die SED - PDS an ihrer Machtposition festhalte und versuche, ihre Privilegien zu sichern.369 In allen Kreisen hatte das Neue Forum, teilweise gemeinsam mit anderen Gruppen, intensiv für eine Teilnahme geworben. Typisch war der Aufruf des Neuen Forums Zittau. Hier hieß es : „Jahrzehntelang haben diese Stasi - Leute auf unsere Kosten recht gut gelebt. Nun also sollen sie wieder installiert werden ! Als Vor wand dafür wurde am 28.12.1989 plötzlich der Neofaschismus entdeckt. Damit muss endgültig Schluss sein ! Wir fordern : Keine neue Stasi ! Sonst ist unsere Revolution im Eimer, bevor überhaupt Früchte wachsen konnten. [...] Bringt Kerzen mit ! Wenn wir jetzt zu Hause bleiben, verspielen wir vielleicht endgültig die Chance zur Demokratie. Unser ganzes Land geht an diesem Tag auf die Straße, wir aus dem Kreis Zittau auch ! Bei jedem Wetter ! Das Motto der Demonstration : Gegen die Restaurationspolitik der SED und ihres Sicherheitsapparates.“370 Insgesamt wurden dem MfIA an diesem Tag 153 Demonstrationen und Kundgebungen mit etwa 1,5 Millionen Teilnehmern gemeldet.371 Für den Fall eines Eklats zwischen Regierung und Opposition liefen in einigen Bezirken, so auch in Karl - Marx - Stadt, Vorbereitungen für einen flächendeckenden Generalstreik.372 Vor allem in den Südbezirken riefen meist Vertreter des Neuen Forums, des DA, der SDP oder andere Bürgergruppen zum Streik auf.373 Tatsächlich kam es am 15. Januar in Berlin und den Bezirken Gera, Erfurt, Suhl, Cottbus, Karl - Marx - Stadt und Rostock zu Warnstreiks, die teilweise mit Demonstrationen verbunden waren.374 Die Streikwelle hielt bis Ende Januar an. Am 25. Januar gab es in 25 Städten Warnstreiks, am 30. Januar in 20 Städten. Sie richteten sich gegen die Etablierung eines neuen Geheimdiens367 Vgl. Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 216. 368 Maßnahmen der DVP mit Beginn der Auf lösung des AfNS, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52461, Bl. 2). 369 Neues Forum – Aufruf, o. D. ( HAIT, Wer E6). 370 Flugblatt Neues Forum Zittau : Aufruf zur Demonstration am 15. 1. 1990 ( UB Grohedo). 371 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445. 372 Das Volk / Frankfurter Rundschau vom 13. 1. 1990. 373 Vgl. RdB Gera, der Vorsitzende, an Hans Modrow vom 11. 1. 1990 ( ThSTAR, 31543). 374 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Berliner Zeitung / Thüringer Allgemeine vom 16. 1. 1990.

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tes und Überbrückungsgelder an ausscheidende MfS - Mitarbeiter. Es handelte sich um kleine, unkoordinierte Streiks ohne den Charakter tarif licher Auseinandersetzungen. Auch wenn es sich zu diesem Zeitpunkt durchweg um politische Streiks handelte, waren sie bereits mit sozialen Forderungen, wie der Verhinderung der Zahlung von Sondergeldern an MfS - Mitarbeitern verbunden. Erst der Anstieg der sozialen Probleme im Frühjahr 1990 entlud sich in einer Welle von Warnstreiks, in denen soziale Forderungen dominierten. Im Januar handelte es sich mehr um Teststreiks, die zeigten, dass es kaum Kenntnisse über deren Ziele und Methoden gab. Meist blieb es bei „Drohgebährden“.375 Auffällig war, dass es kaum zu Streiks von Industriearbeitern und Genossenschaftsbauern kam.376 Bezirk Dresden : In Bautzen versammelten sich zwischen 10 000 und 20 000 Menschen zur bis dahin größten Montagsdemonstration. Das Neue Forum warnte vor Rechts - und Linksradikalismus und rief die Bevölkerung dazu auf, die SED - PDS mit friedlichen und demokratischen Mitteln zu entmachten. Vor dem Gebäude der ehemaligen SED - Kreisleitung gab es Rufe gegen die SEDPDS und für die Wiedervereinigung.377 Erstmalig fand in Wilthen ( Bautzen ) eine Demonstration statt, an der sich etwa 2 800 Bürger beteiligten. Dazu aufgerufen hatte ein Bürgerkomitee.378 In Dippoldiswalde nahmen 3 000 Bürger an der Montagsdemonstration teil. Bei einer Kundgebung vor dem Rathaus wurden Sachsen - und Deutschlandfahnen geschwungen. Die Demonstranten protestierten gegen die Hinhaltepolitik der SED - PDS. Vor dem Gebäude der ehemaligen SED - Kreisleitung wurde „Gysi weg“ und „Nieder mit der SED“ gerufen.379 In Dresden nahmen etwa 150 000 Personen an Demonstrationen teil. Die „Montagsdemo“ richtete sich gegen die „Aushöhlung unserer erkämpften Demokratie“ und in bisher nicht bekannter Schärfe gegen die SED.380 In Görlitz nahmen 20 000 Personen an der Demonstration teil, die damit die größte Demonstration in der Stadt seit dem 17. Juni 1953 war.381 Es gab viele schwarz - rot - goldene Fahnen und Transparente, auf denen die Wiedervereinigung gefordert wurde. Ständig wurde „Deutschland einig Vaterland“ gesungen.382 In Kamenz folgten 800 Teilnehmer dem Aufruf des Neuen Forums.383 Eine Großdemonstration in Löbau stand unter dem Motto „Gegen alte Stasi und SED - Machtstrukturen“. Tausende Demonstranten forderten „Nieder mit der SED !“ und „Deutschland einig Vaterland !“ Ein Sprecher des Neuen Forums erklärte, die SED - PDS halte immer noch Schlüsselpositionen besetzt, die Stasi sei noch immer aktiv. Die Aus375 Vgl. Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 262 f., 266 und 269. 376 Demonstration und Streiks, o. D. ( BArch Berlin, VA - 01/37606). 377 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 48); MdI, Informationen, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 17. 1. 1990. 378 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 23. 1. 1990. 379 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 17. 1. 1990. 380 Vgl. Die Union vom 17. 1. 1990; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 144. 381 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 20./21. 1. 1990. 382 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 17. 1. 1990. 383 Aufruf der Aktionsgruppe Neues Forum, Leipzig vom 7. 1. 1990 ( StV Königsbrück, StA); Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13./14. 1. 1990.

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einandersetzung müsse sich gegen Links - wie Rechtsradikalismus richten. Der Kreisvorsitzende der CDU plädierte für „Freiheit in der Einheit des deutschen Vaterlandes“, auch um so den gleichen Lebensstandard wie in der Bundesrepublik zu erreichen.384 Die 11. Meißner Demonstration richtete sich wie die in Coswig gegen den Versuch der SED - PDS, das Weiterbestehen des MfS mit einer faschistischen Gefahr zu begründen. Die Coswiger wandten sich besonders gegen die noch immer ausgeprägte Vormachtstellung der SED - PDS in den Betrieben und Ämtern. Etwa 5 000 Bürger zogen mit Kerzen und Transparenten durch die Stadt. Zum Zeichen des Aufbruchs erhielt die Moritzburger Straße ihren alten Namen zurück.385 In Sebnitz demonstrierten Tausende für die deutsche Einheit. Deutsche und Sachsenfahnen dominierten das Bild. In Sprechchören hieß es: „Nieder mit der SED !“ Der LDPD - Kreisvorsitzende forderte die Brechung des Machtmonopols der SED - PDS, Sprecher des Neuen Forums betonten die Rolle der „Macht der Straße“. Es gelte, die alten Machtstrukturen ein für allemal zu zerschlagen.386 Neben Zittau gab es auch in Großschönau (Zittau ) eine Demonstration.387 Bezirk Karl - Marx - Stadt : In Annaberg demonstrierten 10 000 Menschen,388 in Aue folgten 20 000 Teilnehmer einem gemeinsamen Aufruf durch CDU, NDPD, LDPD, SDP und Neuem Forum.389 In Werdau demonstrierten nach einem Friedensgebet in der überfüllten Marienkirche Tausende für die völlige Entmachtung von SED - PDS und MfS.390 Auch in Glauchau, Meerane und Waldenburg gingen Tausende auf die Straße.391 In Hohenstein - Ernstthal forderte Buttolo im Auftrag des Runden Tisches von Modrow die völlige Auflösung des MfS und die Sicherung der Unterlagen.392 Tausende demonstrierten in Marienberg mit Deutschland - und Sachsen - Fahnen.393 In Karl - Marx - Stadt nahmen zwischen 80 000394 und 150 000 Bürger an Demonstrationen teil.395 Redner forderten die Vereinigung beider deutscher Staaten.396 In Oelsnitz gingen mehrere Tausend Bürger „gegen SED - und Stasi - Restauration“ auf die Straße,397 ebenso in Plauen.398 Das Neue Forum forderte hier ein breites Wahlbündnis gegen die SED 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398

Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 17. 1. 1990. Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 16. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 17. 1. 1990. Vgl. Redemanuskript, o. D. ( HAIT, Zi - E7). Vgl. MdI, Informationen : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 17. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 17. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 17. 1. 1990. Resolution an den Ministerrat, o. D. ( KA Chemnitzer Land, 36646). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 17. 1. 1990. Vgl. MdI, Informationen : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445). Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 144. Vgl. Die Union vom 17. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 17. 1. 1990. MdI, Informationen : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52445).

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PDS.399 Mit einem zweistündigen Warnstreik forderten Werktätige des Zwickauer Betriebes III im Metallleichtbaukombinat Plauen eine Volksabstimmung über die Zukunft der DDR.400 In Schwarzenberg sprach sich der SDP - Vertreter vor ca. 10 000 Teilnehmern für die Zusammenarbeit von SDP und Neuem Forum mit den ehemaligen Blockparteien aus.401 20 000 Teilnehmer an der dritten Demonstration in Stollberg riefen „Nieder mit der SED“ sowie „Deutschland einig Vaterland“ und trugen deutsche und sächsische Fahnen. Forderungen aller Redner waren die Einheit Deutschlands, die Auflösung des MfS und die Verweigerung von Wahlbündnissen mit der SED - PDS wegen deren Kampagne „gegen rechts“. Auch in Thalheim ( Stollberg ) nahmen Tausende an einer Demonstration teil, bei der ein Wahlbündnis der Parteien gegen die SED- PDS bekannt gegeben wurde.402 In Zschopau demonstrierten ca. 2 000 Menschen für die völlige Auflösung des MfS, die Entbindung der Stasi - Mitarbeiter von der Schweigepflicht, starke Gewerkschaften und gegen Überbrückungsgelder.403 In Zwickau gingen nach einem Friedensgebet 5 000 Teilnehmer auf die Straße.404 In Thum ( Zschopau ) nahmen ca. 6 000 Menschen an einer Kundgebung teil.405 Bezirk Leipzig : In Altenburg fand die bisher machtvollste Demonstration mit Tausenden Teilnehmern statt.406 In Döbeln demonstrierten 4 500 Menschen. Anschließend ehrten Vertreter von SPD und Neuem Forum gemeinsam mit der SED - PDS Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.407 In Leipzig demonstrierten rund 150 000 Menschen mehrheitlich für die Vereinigung beider deutscher Staaten und gegen die SED - PDS. Die Stimmung war aggressiver als bei vorherigen Demonstrationen. Die Menschen riefen: „Nieder mit der SED“ und „Deutschland – einig Vaterland“. Ganze Betriebsbelegschaften reisten inzwischen zu den Montagsdemonstrationen an, bei denen inzwischen immer häufiger Parteivertreter Flugblätter verteilten. Wahlkampf begann das Geschehen zu bestimmen. Transparente warben mehrheitlich für CDU oder SPD und wandten sich gegen links - oder rechtsradikale Parteien.408

399 400 401 402 403 404 405 406 407 408

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 17. 1. 1990. Vgl. Die Union vom 16. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 17. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 17. und 19. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 17. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 16. 1. 1990; Die Union, Ausgabe Karl Marx - Stadt, vom 19. 1. 1990. Vgl. Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1. 11. 1989–30. 3. 1990 ( StA Zschopau ); Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 19. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 17. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 16. und 17. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Tetzner, Leipziger Ring, S. 86 f. Das Sächsische Tageblatt vom 9. 1. 1990 spricht von 200 000 Teilnehmern.

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Sitzung des Zentralen Runden Tisches In dieser Situation trat am 15. Januar der Zentrale Runde Tisch unter Teilnahme von Vertretern der Bürgerkomitees aus den Bezirken zusammen.409 Diese hatten eine Stellungnahme ausgearbeitet, mit der sie protestierten, dass im Gegensatz zu den Kreis - und Bezirksämtern die Auf lösung des zentralen Amtes des AfNS in der Berliner Normannenstraße noch nicht begonnen habe. Die Stasi- Zentrale sei voll funktionsfähig und unterliege keiner Kontrolle in „Sicherheitspartnerschaft durch Bürgerkomitees, VP und Staatsanwaltschaft“. Damit werde der Ministerratsbeschluss für diesen Bereich unterlaufen, was „die Gefahr einer DDR - weiten Reorganisation des MfS / AfNS“ in sich berge, eine massive Beunruhigung der Bevölkerung auslöse und zu unabsehbaren Folgen führen könne. Die Bürgervertreter verwiesen auf die „Verbindung zwischen dem Apparat der SED und der verfassungswidrigen Tätigkeit des MfS / AfNS“ und forderten die sofortige Auf lösung der Zentrale unter Leitung eines Stabes mit Vertretern der Bürgerkomitees, der Staatsanwaltschaft, der Volkspolizei und des AfNS.410 Auch das Neue Forum ging mit einem vorbereiteten Antrag in die Sitzung und forderte von Modrow, die Staatssicherheit nicht umzuwandeln, sondern zur verfassungsfeindlichen Organisation zu erklären. Außerdem konterkarierte es Modrows Pläne, indem es die SED - PDS für die „verfassungswidrige Tätigkeit des MfS“ verantwortlich machte und drohte, wegen des Verdachtes verfassungswidriger Aktivitäten auch gegen die SED - PDS zu ermitteln.411 Verbunden waren die Forderungen mit der Drohung, den DDR - weiten Demonstrationen an diesem Tag als nächstes einen Generalstreik folgen zu lassen und die Zusammenarbeit am Zentralen Runden Tisches zu beenden.412 Nicht der Kurs der Reform des Sozialismus stieß bei vielen Vertretern neuer Gruppen auf Widerstand, sondern Modrows Festhalten am verhassten MfS - Apparat und die damit einhergehende, fortgesetzte Diskriminierung aller anderen Parteien und Gruppen. Damit hatten sie den Bogen überspannt. Angesichts der Lage blieb Modrow keine Wahl, als am Zentralen Runden Tisch zu erscheinen, wozu er sich erst in der Nacht durchrang.413 Die Sitzung begann mit einer Erklärung Modrows,414 die einer Kapitulation glich.415 Er 409 Vgl. Unterlagen der 7. Sitzung des Runden Tisches, o. D. ( ACDP, VII 012–3524). 410 Stellungnahme der Bürgerkomitees „Auf lösung der Kreis - und Bezirksämter des ehemaligen MfS / AfNS“ zur Vorlage der AG des Zentralen Runden Tisches „Auf lösung des AfNS der DDR“ für die Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 15. 1. 1990 vom 14. 1. 1990 ( ebd.). Vgl. Arbeitsberichte über die Auf lösung, S. 42 f. 411 Neues Forum vom 15. 1. 1990 : Antrag an den Zentralen Runden Tisch, 7. Sitzung, Vorlage 5a : Wir fordern die Regierung der DDR auf [...] ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). 412 Vgl. Kallabis, Ade, DDR !, S. 108. 413 Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 72 f.; Thayssen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 71. 414 Ergebnisse der 7. Sitzung des Rundtischgespräches vom 15. 1. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 54–59; Erklärung Hans Modrows vor den Teilnehmern am Runden Tisch vom 15. 1. 1990 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 163–168. 415 So Süß, Mit Unwillen zur Macht, S. 473.

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setzte sich nun für eine gemeinsame Lösung aller Probleme ein und schlug den Teilnehmern eine unmittelbare und verantwortliche Teilnahme an der Regierungsarbeit vor. Modrow konnte nur noch durch eine Einbeziehung der Oppositionskräfte hoffen, eine breitere Legitimationsbasis für seinen Kurs deutscher Zweistaatlichkeit mit sozialistischer Perspektive für die DDR zu gewinnen. Nach einem Bericht von Innenminister Lothar Ahrendt über Sicherheit und Ordnung416 informierte der stellvertretende Leiter des Sekretariats des Ministerrats, Manfred Sauer, über die Lage beim AfNS. Von 85 000 Mitarbeiter waren bis dato 30 000 entlassen worden.417 Der Bericht zeigte den Willen der Regierung, nun ernsthafter an die Auf lösung des MfS / AfNS zu gehen, und die Atmosphäre entspannte sich „fast schlagartig“.418 Das Entgegenkommen in der Frage der MfS - Auf lösung war Teil einer veränderten Strategie der Regierung gegenüber dem Zentralen Runden Tisch. Mit der so eingeleiteten Kooperation, die wenig später zur Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ unter symbolischer Einbeziehung von Vertretern der neuen politischen Kräfte führte, wurde die Transformation des Zentralen Runden Tisches „aus einem plebiszitären Kontrollorgan in eine Art Nebenregierung“ eingeleitet.419 In den nun beginnenden Verhandlungen über Modrows Angebot zeigte sich auch, dass der alte Machtkampf zwischen neuen und alten Kräften zum Teil obsolet war. Die Ex - Blockparteien waren endgültig auf Distanz zur SED - PDS gegangen, die CDU drohte sogar mit dem Austritt aus der Regierung. Auf der Seite der neuen Kräfte hatte sich die Situation dadurch verändert, dass die SPD inzwischen bemüht war, sich durch eine stärkere Abgrenzung von den Bürgerbewegungen als eigenständige politische Kraft zu profilieren. Insgesamt kam es in der Parteienlandschaft zu einer Differenzierung zwischen den Kräften, die nach bundesdeutschem Vorbild daran gingen, um die politische Macht zu konkurrieren und jenen Gruppen, die zwar die SED und den auf sie zugeschnittenen Staatsapparat entmachten, sich selbst aber nicht am kommenden parlamentarisch - demokratischen Wettstreit um die politische Verantwortung im Staat beteiligen wollten. Besetzung der Stasi - Zentrale in Berlin - Lichtenberg Nachdem die Bürgerkomitees der Bezirke am Morgen des 15. Januar dem Zentralen Runden Tisch ihre Forderung nach einer Auf lösung der MfS - Zentrale in der Berliner Normannenstraße vorgetragen hatten, versuchte eine Abordnung 416 Protokoll der 9. Sitzung des Ministerrates der DDR vom 13. 1. 1990, Anlage 1 : Bericht zur inneren Sicherheit für die Beratung mit dem Runden Tisch am 15. 1. 1990 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2892, Bl. 53–58). 417 Zwischenbericht des Regierungsbeauftragten zur Auf lösung des AfNS vor dem Runden Tisch vom 15. 1. 1990 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2892, Bl. 59–69). 418 Süß, Bilanz einer Gratwanderung, S. 604. 419 Süß, Mit Unwillen zur Macht, S. 473.

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von ihnen die Zentrale zu besetzen und wurde eingelassen.420 Nun begannen Verhandlungen für die am Nachmittag geplante Demonstration. Die Besprechungen am Zentralen Runden Tisch gingen unterdessen weiter. Es wurde vereinbart, dass die Mehrzahl der Mitarbeiter den Komplex verlassen und die Eingangstore durch Ordner des Neuen Forums gesichert werden sollten. Für die Sicherung des Innengeländes sei die Volkspolizei zuständig. Vor dem Runden Tisch beantragte das Neue Forum gegen 16.00 Uhr, die Beratungen zu beenden und zur Normannenstraße zu fahren, was abgelehnt wurde. Unabhängig davon versammelten sich wenig später vor dem Haupteingang Normannenstraße die ersten Menschen. Um 16.45 Uhr begannen Bauarbeiter im Auftrag des Neuen Forums damit, die Eingänge zuzumauern. Gegen 17.00 Uhr versammelten sich zirka 50 000 Personen vor dem Objekt, binnen einer halben Stunde waren es 100 000. Weder die Bürgerkomitees noch die Volkspolizei hatten mit einem derartigen Ansturm gerechnet. Die Demonstranten riefen: „Stasi raus, Stasi raus !“ Einige Teilnehmer begannen, das Eingangstor zu überklettern. Vertreter der Bürgerkomitees teilten den Demonstranten daraufhin über Megaphon mit, dass die Zentrale bereits durch Vertreter der Bürgerkomitees der Bezirke symbolisch übernommen worden sei und Verhandlungen über die vollständige Übernahme aufgenommen worden wären. Ziel der Information war es, die Demonstration vor den Toren zu belassen. Als sich zeigte, dass eine Besetzung dennoch nicht zu verhindern war, wurden die Tore geöffnet. Unklar ist, welcher Grund zu der Öffnung der Tore führte. Das Neue Forum hatte nicht zur Erstürmung aufgefordert, wollte vielmehr damit beginnen, die Eingänge zuzumauern. Die Besetzung widersprach den Interessen und Zielen der Bürgerkomitees und des Neuen Forums eher. Augenzeugen berichteten, dass sich einzelne Personen vor den Toren in besonderer Weise um eine Öffnung bemühten und gegenteilige Aufforderungen von Ordnern der Bürgerkomitees ignorierten. Ihre Aktionen heizten die Stimmung an. Es bleibt unklar, ob es sich um Demonstranten oder Mitarbeiter des AfNS bzw. fremder Geheimdienste handelte. Zehntausende Demonstranten stürmten nun „auf wundersame Weise“ den unwichtigsten Gebäudetrakt.421 Der Bürgerrechtler Michael Schreiber berichtet : „Vorn bildete sich gleich eine Gruppe, die lenkte den Zug.“ Leute wären dabei gewesen, die gar nicht vor dem Tor gestanden, sondern sich bereits im Objekt befunden hätten.422 Wolfgang Templin nennt die Abläufe eine „Mischung aus Chaos und Organisation“. Bestimmte Türen, so Templin, wären immer offen.423 Nachdem auch das Eingangstor in der Normannenstraße durch Teilnehmer der Demonstration von innen geöffnet worden war drangen nach Polizeiangaben dort ebenfalls mehrere Tausend Personen in das Objekt ein. Die hier eingeteilten Ordner 420 Zu den Einzelheiten der Besetzung vgl. Richter, Die Staatssicherheit, S. 153–168. 421 Fricke, Macht und Entmachtung, S. 123. 422 Interview mit Michael Schreiber. In : Titus Richter / Jens Stubenrauch, Fall der letzten Festung. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.15–20.45 Uhr. 423 Interview mit Wolfgang Templin. In : Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi. In : VOX, Spiegel TV Special vom 12. 1. 1996 um 22.05–22.45 Uhr.

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des Neuen Forums wurden durch die Aktion völlig überrascht. Bündelt man alle Hinweise und Indizien, so drängt sich der Eindruck auf, dass eine von der Staatssicherheit gut vorbereitete und gelenkte Aktion ablief.424 Zu den erhellenden Einzelheiten gehört auch, dass eine Kompanie des MfSWachregiments „Feliks E. Dzierzynski“ in Zivilkleidung eingesetzt war, die sich unter die Demonstranten mischte, diese von den wichtigen Gebäuden fernhielt und zum Versorgungstrakt lenkte, wo westliche Lebensmittel lagerten. Es kam zu Randalen und Zerstörungen. Die Mehrheit der Besetzer aber verhielt sich, so Reinhard Schult, „sehr gesittet, sehr zivilisiert“. Eher gingen die Menschen durch die Gebäude „wie durch ein Gruselkabinett“.425 Vertreter ausländischer Geheimdienste nutzten die Besetzung, um in die Hauptabteilung II ( Spionageabwehr ) einzudringen und Unterlagen wegzuschaffen. Die Hauptabteilung XX ( Staatsapparat, Kunst, Kultur, Untergrund ), die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA ) sowie das Archiv des MfS, in dem die Daten über die Bürger lagerten, wurden hingegen nicht angetastet. Die Vorgänge erhärteten den Verdacht, dass Mitarbeiter des AfNS den Sturm auf die Normannenstraße „selbst in Szene setzten, damit sie oder ein anderer Geheimdienst die unübersichtliche Situation während der Protestaktion für ihre Zwecke nutzen konnten“.426 Vertreter der Bürgergruppen versuchten während der gesamten Besetzung vergeblich, durch Aufrufe zur Gewaltlosigkeit und Ruhe, durch das Aufstellen von Kerzen und durch Mahnwachen, die Menschen von Randalen und Zerstörungen abzuhalten. Die Situation wurde so kritisch, dass Modrow und Innenminister Ahrendt in der Normannenstraße erschienen und die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit aufforderten. Um 18.50 Uhr berichtete das DDR - Fernsehen in einer Sondersendung über die Ereignisse. „Unverantwortliche Kräfte“, so der Sprecher der „Aktuellen Kamera“, hätten die Zentrale der Staatssicherheit gestürmt, um sie „zu besetzen und zu ver wüsten“. Modrow forderte die Bevölkerung „in dieser schweren Stunde“ auf, Ruhe und Besonnenheit zu bewahren. Die Demokratie, die sich gerade beginne zu entwickeln, sei in höchster Gefahr. Die Art der Besetzung und die Reaktionen der Regierung hinterließen bei Vertretern der Bürgerbewegung den Eindruck, bei der Besetzung habe es sich um einen letzten Versuch der Modrow - Regierung gehandelt, die Stimmungslage doch noch zu kippen und die Bildung neuer Dienste zu erreichen.427 Nach dem Ende der Erstürmung etablierte sich das Bürgerkomitee Normannenstraße, das sich bemühte, die Sicherung und Kontrolle der Gebäude zu übernehmen. Eine Arbeitsgruppe der Bürgerkomitees aller Bezirke begann mit der Sichtung der riesigen Aktenbestände. Auch die Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches benannte Sachverständige zur Sichtung der Unterlagen. Am 17. Januar konstituierte sich das Bürgerkomitee Normannenstraße offiziell. 424 Vgl. Fricke, MfS intern, S. 73; Kögler, Von der Wende S. 54. 425 Interview mit Reinhard Schult. In : Titus Richter / Jens Stubenrauch, Fall der letzten Festung. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.15–20.45 Uhr. 426 Gauck, Die Stasi - Akten, S. 80. Vgl. Fricke, Macht und Entmachtung, S. 123. 427 Vgl. Interview mit Hans Schwenke. In : Titus Richter / Jens Stubenrauch, Fall der letzten Festung. In : ORB vom 20. 1. 1996 um 20.15–20.45 Uhr.

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Auf lösung des AfNS Die DDR - weiten Proteste und der Beginn der Kontrolle über die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin machten auch Modrow klar, dass das MfS samt seiner Nachfolgeinstitutionen „am Ende“ war. Die Aktion, so Modrow, versetzte der Staatssicherheit den „Todesstoß“.428 Nachdem die Arbeitsgruppe „Auf lösung des AfNS der DDR“ am 18. Januar nochmals forderte, das AfNS als „institutionalisierte und personelle Nachfolgeeinrichtung“ des MfS ersatzlos aufzulösen,429 gab Modrow dem designierten Leiter des Verfassungsschutzes, Heinz Engelhardt, am selben Tag die Vollmacht dazu.430 Der ehemalige Chef des Stabes der Landstreitkräfte der NVA und spätere Chef der Zivilverteidigung, Generaloberst a. D. Fritz Peter, wurde neuer Regierungsbeauftragter zur Auf lösung des MfS / AfNS.431 Der Ministerrat beschloss außerdem, die Festlegungen über die soziale Sicherstellung entlassener Mitarbeiter des MfS / AfNS vom 14. Dezember 1989 aufzuheben.432 Allerdings wurden trotz dieses Beschlusses Überbrückungsgelder, nun ausgewiesen als „Übergangsgebührnisse“, ausgezahlt.433 Wo diese Praxis bekannt wurde, gingen Bürgerkomitees dagegen vor. So untersagte das Bürgerkomitee Karl - Marx - Stadt die Auszahlung jeglicher Abfindungssummen an ausscheidende Mitarbeiter des AfNS.434 Am 19. Januar tagte erstmals ein Gremium, das sich die Aufgabe stellte, die Auf lösung der Staatssicherheit zentral zu koordinieren. Es setzte sich aus Vertretern der Bürgerkomitees, der Regierung, aber auch aus Mitarbeitern des ehemaligen MfS / AfNS zusammen.435 Unabhängig von der Arbeit dieses Gremiums entwickelten die Bürgerkomitees der Zentrale und der Bezirke ihre Kooperation zum Zweck der Koordinierung der Vorgehensweise und trafen sich bis zum Juni 1990 regelmäßig. Zur Leitung der Auf lösung des MfS / AfNS beschloss aber auch der Zentrale Runde Tisch am 22. Januar die Bildung einer Dreiergruppe aus Vertretern des Zentralen Runden Tisches, die gleichberechtigt mit einem Regierungsvertreter die weitere Auf lösung des AfNS zentral lenken sollte. Die Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen Runden Tisches, deren Bildung bereits am 3. Januar beschlossen worden war, übernahm die Funktion eines Arbeitssta428 Interview mit Hans Modrow. In : Wolfgang Brinkschulte / Thomas Heise, Das Ende der Stasi. In : VOX, Spiegel TV Special vom 12. 1. 1996 um 22.05–22.45 Uhr. 429 Zentraler Runder Tisch vom 18. 1. 1990 : 8. Sitzung, Vorlage 5 ( zu Vorlage 5 vom 15. 1. 1990) : Beschlussvorlage der AG Auf lösung des AfNS für die Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 18. 1. 1990 ( ALD, LDPD, 31829). 430 Vgl. Engelhardt, Die Geschichte des MfS, S. 4 und 7. 431 Vgl. Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 193. 432 Beschluss des Ministerrates der DDR 10/1.a /90 vom 18. 1. 1990 zur Änderung des Beschlusses vom 14. 12. 1989 über Festlegungen zur sozialen Sicherstellung von Angehörigen des AfNS ( BArch Berlin, C 20, I /3–2997, Bl. 81 f.). 433 Komitee zur Auf lösung der Staatssicherheit, o. D. ( ABL, DZ 15. Januar, Beschlüsse, Runder Tisch, Ministerrat ). 434 Vgl. Informationszentrum ( NVA ) vom 30. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BArch Berlin, VA - 01/37606). 435 Vgl. Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 187.

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bes der Dreiergruppe für Kontroll - und Koordinierungsaufgaben. Mit Unterstützung der Arbeitsgruppe Sicherheit und einer Beratergruppe aus Vertretern der Opposition sowie in Absprache mit dem Regierungsvertreter leitete Werner Fischer von der Bürgerrechtsgruppe „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ im Auftrag des Zentralen Runden Tisches Maßnahmen zur Schaffung einer einheitlichen Arbeitsstruktur auf DDR - Ebene ein. Die Gruppe aus den vom Zentralen Runden Tisch und der Regierung Beauftragten traf sich am 29. Januar zur ersten Arbeitsberatung. Zur Aufdeckung noch arbeitsfähiger Objekte und konspirativer Treffpunkte bildete sie am 24. Januar eine operative Gruppe, die Hinweisen aus der Bevölkerung auf fortbestehende Aktivitäten nachging. Gegenüber Modrow erklärte Fischer am 24. Januar, dass es ebenso dringlich sei, die Strukturen des Apparates, die Verflechtungen mit der SED sowie mit anderen Organisationen und staatlichen Stellen aufzudecken und der Öffentlichkeit bekannt zu machen.436 Obwohl der Stand der Auf lösung der Ämter für Nationale Sicherheit in den Bezirken unterschiedlich war, wurde prinzipiell beschlossen, auch dort nach dem Vorbild des Zentralen Runden Tisches Dreiergruppen einzurichten, denen jeweils ein Regierungsvertreter zugeordnet war und die unmittelbar mit den Runden Tischen der Bezirke zusammenarbeiteten. Damit sollten die Strukturen in den Bezirken zum Zwecke der besseren Koordinierung der Arbeit vereinheitlicht werden.437 Die Strukturen der Gremien, die sich mit der Auf lösung befassten, schienen für Außenstehende konfus und blieben auch für die meisten Akteure schwer durchschaubar. Für die Öffentlichkeit war es Ende Januar kaum nachvollziehbar, wer eigentlich mit der Auf lösung des AfNS beauftragt oder befasst war. Eine Ursache für die unübersichtliche Situation lag in der dezentralen, ungesteuerten Entwicklung der Initiativen und Substrukturen. Andererseits überkreuzten sich die Aktivitäten der Bürgerkomitees, der Runden Tische der verschiedenen Ebenen und der Regierung bzw. der ihr nachgeordneten staatlichen Stellen. Außerdem war trotz der verschiedenen Initiativen erkennbar, dass die geschaffenen Gremien, ungeachtet ihres erheblichen Engagements, nicht in der Lage waren, die vielgestaltigen Aufgaben bei der Auf lösung des riesigen Apparates zu lösen. Das galt für die Bürgerkomitees ebenso wie für die Regierungsbeauftragten zur Auf lösung des AfNS, und dies, obwohl Letztere über einen eigenen Arbeitsstab verfügten und ihnen in den Bezirken Regierungsvertreter zugeordnet waren, die ihrerseits unmittelbar mit den Leitern der Bezirksämter für Nationale Sicherheit kooperierten. Durch die mehrgleisig verlaufende, in ihrer politischen Zielstellung aber äußerst unterschiedlich ausgerichtete Tätigkeit der staatlichen Stellen, der Runden Tische und der Bürgerkomitees gab es erhebliche Reibungsverluste. So war zum Beispiel eine Kontrolle 436 Vgl. Bericht Werner Fischers an den Zentralen Runden Tisch vom 5. 2. 1990. In : Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 193 f. 437 1. Bericht der gemeinsamen Kommission aus Bürgervertretern und Beauftragten der Regierung der DDR im ehemaligen AfNS, Dresden vom 3. 1. 1990 ( HAIT, KA 7). Vgl. Bericht Werner Fischers an den Zentralen Runden Tisch vom 5. 2. 1990. Zit. in Gill / Schröter, Das Ministerium, S. 194.

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der Berichte der Regierungsvertreter durch die Bürgerkomitees in den Bezirken kaum möglich. Da die Bürgerkomitees ihrerseits den Regierungsbeauftragten in den Bezirken wenig Vertrauen entgegenbrachten, gelangten wichtige Erkenntnisse der Bürgerkomitees nicht bis zu den zuständigen Regierungsstellen. Nach dem Beispiel der Bezirke438 erfolgte die Auf lösung in den Kreisen unter Anleitung der Räte, die an den Runden Tischen über den Stand informierten.439 Ebenso legten führende Vertreter der Kreisämter hier Rechenschaft ab. Sofern die Entwaffnung nicht bereits abgeschlossen war, wurde sie unterschiedlich schnell in der zweiten Januarhälfte beendet. Trotz Forderungen nach einer völligen Vernichtung der Bestände blieb der weitaus größere Teil der Waffen erhalten und wurde lediglich ausgelagert. Vereinzelt gab es Forderungen wie die des Runden Tisches des Bezirkes Dresden zur Vernichtung der bei NVA und Volkspolizei eingelagerten Waffen und Munition des MfS / AfNS.440 Aber auch die daraufhin durchgeführten Vernichtungsaktionen hatten eher symbolische Bedeutung und betrafen bei weitem nicht die gesamten Waffenarsenale. In der Regel wurden die Waffen, inklusive der Schlagstöcke, chemischen Reizmittel und Führungsketten durch das Ministerium für Innere Angelegenheiten übernommen. Der gesamte Vorgang der Entwaffnung war nach Volkspolizei - Angaben am 25. Januar im Wesentlichen abgeschlossen.441 Zu Auseinandersetzungen kam es wegen der fortbestehenden Bewaffnung der Passkontrolleinheiten (PKE ) an den Grenzübergangsstellen der DDR, die bislang dem MfS / AfNS unterstanden hatten. Sie waren nach der Auf lösung der Kreisämter und angesichts des sprunghaft angestiegenen Reiseverkehrs an den neuen Grenzübergangsstellen zur Bundesrepublik mit zahlreichen ehemaligen MfS - Mitarbeitern aufgestockt worden.442 Die Objekte und das Mobiliar wurden von den Räten der Kreise bzw. Städte übernommen und oft dem Gesundheitswesen übergeben.443 In einigen Fällen kam es wie in Dresden zu erbitterten Auseinandersetzungen um die Immobilien. Hier stritten sich der Rat der Stadt und des Bezirkes um besonders lukrative Objekte.444 Immer wieder forderten Bürger die Überprüfung von Objekten, bei denen eine Nutzung durch das MfS vermutete wurde. Computertechnik 438 Protokoll der Sonderberatung des RTB Leipzig vom 24. 1. 1990 ( SächsStAL, SED - KL Leipzig, 1815, Bl. 151–156). 439 Protokoll der 3. Gesprächsrunde des RT Delitzsch vom 24. 1. 1990 ( HAIT, StKa ). 440 Vgl. Protokoll der 7. Beratung des RTB Dresden vom 1. 2. 1990 ( PB Matthias Rößler ). 441 Vgl. Maßnahmen der DVP mit Beginn der Auf lösung des AfNS, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52461, Bl. 2); VPKA Freiberg vom 18. 1. 1990 : Übernahme von Waffen, Munition und Geräten der ehemaligen KDfS ( StA Freiberg ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 2. 2. 1990. 442 Vgl. Vogel, Magdeburg, S. 39; RTB Magdeburg vom 24. 1. 1990 : Tagebuch Gerhard Ruden ( PB Gerhard Ruden ); Beschlussprotokoll des RTB Potsdam vom 31.1.90 ( Brandenburg. LHA, Bez. Pdm. Rep. 401, BT / RdB Potsdam, II /279). 443 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 20./21. 1. 1990; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 17. 1. 1990; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 31. 1. 1990. 444 Vgl. StA Dresden, StVV - Protokolle [1953–1990], 157.

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war – zum Glück für die Bürger – in der Regel in den Kreisdienststellen noch nicht vorhanden. Andere Bürogeräte wie Schreibmaschinen und Thermokopiergeräte wurden auch an Parteien und Organisationen übergeben. Fahrzeuge wurden zunächst an die Bezirksämter überführt und von dort an Betriebe, das Gesundheitswesen bzw. den Veterinärbereich weitergegeben. Telefonanlagen wurden zum Teil abgebaut, zum Teil von Nachnutzern übernommen.445 In Hoyerswerda bildete der Runde Tisch eine eigene Arbeitsgruppe, die über die Vergabe der begehrten Telefonanschlüsse entschied.446 Vertreter der Deutschen Post mussten vor Runden Tischen über das Abhören von Telefonaten und die Verletzung des Briefgeheimnisses Rechenschaft ablegen.447 Strittig war oft der Umgang mit den Akten. Oft wurden Beschlüsse, wie der des Runden Tisches des Bezirkes Dresden zur Vernichtung von neutralem Schriftgut wie Schulungsmaterialien und leeren Formularen unter Bürgerkontrolle,448 genutzt, um auch andere Unterlagen zu beseitigen. Wo eine Vernichtung wegen der Kontrolle durch die Bürgerkomitees nicht möglich war, wurden immer wieder Akten aus den Objekten geschafft und an anderer Stelle deponiert bzw. zerstört.449 Ebenso strittig war der Umgang mit IM - Akten. So forderte das Neue Forum Großenhain eine unabhängige Kommission, die alle IM - Akten sichten und die Öffentlichkeit über IM informieren sollte.450 In Hoyerswerda wurde der Vorschlag, die IM - Unterlagen zu vernichten, abgelehnt und beschlossen, sie zu sichern.451 Ein weiterer Streitpunkt war der Umgang mit den bis Ende Januar entlassenen Mitarbeitern. In Bischofswerda fanden von den insgesamt 36 Mitarbeitern des Kreisamtes 28 eine neue Arbeit in der „materiellen Produktion“,452 in Hoyerswerda fanden alle ca. 50 Mitarbeiter ein neues Arbeitsverhältnis.453 Auch in Grimma und Delitzsch wechselten die meisten Mitarbeiter in die Wirtschaft,454 freilich wurde einigen von ihnen bereits Ende Januar wieder gekündigt, nachdem die Bevölkerung bzw. die Belegschaft mit Streik drohte.455 445 Vgl. Protokoll der 3. Gesprächsrunde des RT Delitzsch vom 24. 1. 1990 ( HAIT, Staatskanzlei, Sachsen 1989); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 31. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 2. 3. 1990. 446 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 447 Vgl. Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31255, Bl. 1–10). 448 Vgl. Protokoll der 6. Sitzung des RTB Dresden vom 25. 1. 1990 ( PB Matthias Rößler ). 449 Vgl. Vernichtete Akten versteckt. In : Die Andere Zeitung vom 24. 1. 1990. 450 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 20./21. 1. 1990. 451 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 452 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 2. 2. 1990. 453 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 454 Vgl. Protokoll der 3. Gesprächsrunde des RT Delitzsch vom 24. 1. 1990 ( HAIT, StKa ); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 31. 1. 1990. 455 Vgl. Informationszentrum ( NVA ) vom 1. 2. 1990 : Lage in den Bezirken ( BArch Berlin, VA - 1/37606, Bl. 143).

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Kampf dem Restaurationskurs der SED-PDS

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4.12 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Nach dem Parteitag forcierte die SED, nun mit dem programmatischen Anhängsel „Partei des demokratischen Sozialismus“ ( SED - PDS ), ihren Kurs, eine freiheitliche Demokratie mit dem Ergebnis der deutschen Einheit zugunsten einer demokratisch - sozialistischen DDR zu verhindern. Die Ernsthaftigkeit dieses Unternehmens wurde dadurch deutlich, dass die Partei nicht davor zurückschreckte, Befürworter der deutschen Einheit pauschal mit Neonazis gleichzusetzen. Unterstützung erhielten Gysi und Modrow von linken Intellektuellen aus Ost und West. Dazu trieb Modrow als Ministerpräsident die Umformung des MfS / AfNS in einen sozialistischen Verfassungsschutz voran, der nicht nur die Koalitionspartner, sondern auch alle neuen Gruppierungen und Parteien massiv bespitzelte und unter wanderte. Wie sich später zeigen sollte, standen die Vorsitzenden fast aller Parteien, mit denen Modrow zu kooperieren vorgab, im Sold der Geheimpolizei. Der Verfassungsschutz erhielt nun die Aufgabe, Erkenntnisse über angebliche Zusammenhänge zwischen Befürwortern der deutschen Einheit und Neonazis zu liefern. Ideologisch abgesichert wurde die Kampagne mit dem nicht demokratisch, sondern marxistisch - antikapitalistisch verstandenen „Antifaschismus“, der in seiner ideologischen Ausformung schon zuvor der Legitimierung der kommunistischen Diktatur gedient hatte. Gysi wusste, dass sich in Deutschland kaum jemand ungestraft dem „Kampf gegen den Faschismus“ entziehen konnte. Auf dieser Grundlage versuchte er durch ideologische Disziplinierung die Reihen der Einheits - und Demokratiegegner zu schließen. Tatsächlich gab es zu diesem Zeitpunkt in der DDR keine Rechtsextremisten in einer Größenordnung, die eine Gefahr bedeutet hätte.

Diagramm 19: Rechtsradikalismus.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Hier wurde ein Popanz aufgebaut, um von der linksextremen Gefahr abzulenken, die von der SED - PDS und einer Weiterarbeit des MfS unter neuem Logo ausgegangen wäre. Der neue Kurs Modrows und Gysis, bei dem im Hintergrund immer Ex - Spionagechef Markus Wolf als spiritus rector mitgedacht werden muss, stieß freilich bereits Ende Dezember auf Widerstände. Sympathisierten zwar viele Teilnehmer am Zentralen Runden Tisch mit demokratisch - sozialistischen Vorstellungen in einer souveränen DDR, lehnten gerade die neuen Gruppen jedoch in ihrer oft antiautoritären Ausrichtung jede Art von Geheimpolizei ab. Inzwischen hatte es auch bei den Blockparteien Kurskorrekturen hin zu freiheitlich - demokratischen Positionen und zur deutschen Einheit gegeben. Auch sie waren als Koalitionäre nicht bereit, dem Kurs der Modrow - Regierung zu folgen. So beschloss der Runde Tisch Ende Dezember, vor freien Wahlen keine neuen Dienste zu bilden. Es kennzeichnet die nach wie vor demokratiefeindliche Haltung der SED PDS, dass sie sich schlicht über alle Bedenken hinwegsetzte und den Umbau des MfS noch forcierte. Im Stile alter Massenmobilisierungen und - inszenierungen organisierte Gysi, der schon bisher als Rechtsanwalt eng mit dem MfS kooperiert hatte, am 3. Januar 1990 eine Großkundgebung für den Erhalt der Geheimpolizei unter neuem Namen und gegen die deutsche Einheit. Befürworter der deutschen Einheit wurden nochmals mit Nationalsozialisten auf eine Stufe gestellt und damit die NS - Verbrechen in unerträglicher Weise relativiert. Welcher Art die von der SED - PDS angestrebte Bürgerbeteiligung im neuen sozialistischen Regime beschaffen sein sollte, machten Modrows vergebliche Versuche deutlich, die Nationale Front, eines der Herrschaftsinstrumente der SED Diktatur, zu einer vom sozialistischen Staat gelenkten „Bürgerbewegung“ zu wandeln. Gleichzeitig bildeten Staatsorgane nun überall Runde Tische und bemühten sich um Einbeziehung neuer Kräfte und Parteien in die Arbeit der Staatsorgane. Zwar ließen sich viele Vertreter der Demonstranten und neuen politischen Kräfte auf eine Kooperation ein, nutzten diese aber ihrerseits vorrangig zur effektiven Niederringung der verbliebenen Reste der SED - Herrschaft. Entscheidend für die weitere Entwicklung aber war, dass der Kurs Gysis und Modrows im Januar eine neue Welle an Massenprotesten auslöste, die sich unmissverständlich gegen die SED - PDS, die Umwandlung des MfS in einen Verfassungsschutz und gegen jede künftige Kooperation mit einer sich derart undemokratisch gerierenden Partei wandten. Der Ton wurde härter, und es wurde mit Massenstreiks für den Fall gedroht, dass sich die führenden SED - PDS - Politiker mit ihrem Kurs durchsetzen würden. Gleichzeitig führte deren Haltung zu einem Fortgang der Massenausreise aus der DDR. Die Bürgerkomitees sahen sich nun veranlasst, neben dem MfS auch die SED - PDS in ihre Kontrollmaßnahmen einzubeziehen und SED - Objekte zu besetzen. Wichtig war, dass sich das MfS / AfNS in der Hoffnung auf eine Weiterarbeit ruhig verhielt. Auch in der NVA gab es kaum Neigungen, der revolutionären Entwicklung durch einen Militärputsch ein Ende zu bereiten.

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Kampf dem Restaurationskurs der SED-PDS

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Neben dem Fortgang der Revolte der Bevölkerung wuchs die Bedeutung der Bundesregierung und westdeutscher Parteien. Schon vor dem 18. März waren sie „Zentralakteure“.456 Die meisten Demonstranten orientierten sich an ihnen. In den Bonner Parteien sah man eine geeignete Alternative zu den programmatisch indifferenten DDR - Parteien. Aus der Tatsache, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung sich mehr und mehr vor allem der CDU / CSU und SPD zuwandte, erwuchs deren Handlungsstärke. Sie waren es auch, die der ModrowRegierung Anfang Januar zusetzten, indem sie jede künftige Kooperation zwischen beiden deutschen Staaten von baldigen freien Wahlen und einem Ende der Behinderung der neuen politischen Kräfte und demokratischen Parteien abhängig machten. Die CDU / CSU rief die Ost - CDU und die anderen Parteien auf, die Regierung Modrow zu verlassen, die SPD gehörte ihr ohnehin nicht an. Es war klar, dass die Demokratisierung ab dem Jahreswechsel keine reine DDRAngelegenheit mehr war und wegen des Ziels der deutschen Einheit auch nicht sein konnte. Vielmehr wirkten westdeutsche Akteure ebenso mit, wie vier Jahrzehnte zuvor Flüchtlinge aus der „Zone“ mit durchgesetzt hatten, das Wiedervereinigungsgebot ins Grundgesetz aufzunehmen. Deutschland begann Anfang des Jahres 1990 bereits innenpolitisch zusammenzuwachsen. Es zeigten sich erste Konturen einer neuen, gesamtdeutschen Innenpolitik. Das westdeutsche Engagement in der DDR schmälerte die Leistungen der DDR - Demokratisierung nicht, sondern war vielmehr die logische Folge der eingeschlagenen Richtung. Sollte die Wiedervereinigungsoption auf demokratischer Grundlage glaubhaft vertreten werden, so war ein engagiertes Mitwirken westdeutscher Akteure geradezu unabdingbar. Die letzte Entscheidung lag ohnehin allein bei den DDR Bürgern. Im Januar distanzierten sich die Gruppierungen und Parteien am Zentralen Runden Tisch und die an der Regierung beteiligten Ex - Blockparteien deutlich vom Kurs der SED - PDS. Damit drohte ein Ende der Modrow - Regierung samt ihres neo - sozialistischen Kurses. Das Neue Forum rief für Mitte Januar zu Massenprotesten und Streiks gegen die SED - PDS auf. Es kam zu einer zweiten Welle an Protesten, die bis in den Februar hineinreichte. Zwar war der Anteil der Parolen gegen konkrete Politiker während der gesamten Revolution gering. In Relation zu allen Forderungen und Protesten gab es aber neben den Protesten gegen Krenz nach seiner Amtsübernahme im Oktober neue Proteste gegen Gysi, die ähnliche Ablehnungswerte wie bei Krenz erreichten. Es ist im Übrigen erstaunlich, dass diese zweite Phase der friedlichen Revolution, die schließlich zur Entmachtung der SED - PDS Ende Januar führte, bislang von Mythen - und Legendenschreibern fast gänzlich ignoriert und der Umsturz auf eine „Herbstrevolution“ reduziert wurde. In letzter Zeit zeichnet sich jedoch unter dem Druck des Faktischen eine Tendenzwende ab. Es bleibt aber interessant, frühere Beiträge der Autoren zu studieren, die heute wie selbst456 Schwarz, Wiedervereinigung, S. 384.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Diagramm 20: Parolen für oder gegen SED / SED - PDS ( prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche).

Diagramm 21: Parolen gegen Personen : Honecker, Krenz, Gysi, regionale Funktionäre ( prozentualer Anteil an den Forderungen der Woche ).

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verständlich die Ereignisse von 1990 mit einbeziehen. Insbesondere drücken sich darin antinationale Ressentiments aus, wie sie wohl am deutlichsten Günter Grass zum Ausdruck gebracht hat. Unter dem Druck der Proteste auf der Straße und am Zentralen Runden Tisch sah sich Modrow am 12. Januar gezwungen, die Umwandlung der bisherigen Geheimpolizei in einen Verfassungsschutz bis zu freien Wahlen auszusetzen. Hatte er gehofft, dass dies zu einem Rückgang der Proteste führen würde, sah er sich getäuscht. Die Demonstrationen gingen weiter. Vor allem der 15. Januar wurde zu einem der Höhepunkte der revolutionären Erhebung. An diesem Tag wurde auch die MfS - Zentrale in der Berliner Normannenstraße unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen besetzt. Modrow sah sich angesichts der Regierungskrise veranlasst, den neuen politischen Kräften eine Zusammenarbeit in der Regierung anzubieten. Das war sein letzter Versuch, die Staatsmacht unter Führung seiner Partei zu stabilisieren und eine Entwicklung zur deutschen Einheit zu verhindern.

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5.

Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf (16.–31.1.)

5.1

Reiseerleichterungen und Ausreisewelle

Seit dem 1. Januar war Bundesbürgern und West - Berlinern die Einreise in die DDR und nach Ost - Berlin ohne Visum und Mindestumtausch möglich. Auch die An - und Abmeldung am Besuchsort entfiel. Zugleich traten weitere Erleichterungen im Transitverkehr und bei der Einfuhr westlicher Produkte in Kraft. Zur Finanzierung von Reisen von DDR - Bewohnern in den Westen wurde ein auf zwei Jahre begrenzter Devisenfonds geschaffen. Jeder Reisende aus der DDR konnte daraus jährlich bis zu 200 DDR - Mark gegen 200 DM eintauschen: 100 DM zum Kurs von 1: 1, weitere 100 DM zum Kurs von 1: 5. Das bislang gezahlte Begrüßungsgeld entfiel.1 Überall an der innerdeutschen Grenze kam es Anfang Januar zu spontanen Bürgeraktionen, zum Abbau von Grenzanlagen und zur Einrichtung von Übergängen.2 Im Januar siedelten 58 043 Personen aus der DDR in die Bundesrepublik über. CDU - Vorsitzender de Maizière meinte, ungefähr zwei bis drei Millionen, rund 30 Prozent der DDR - Bevölkerung, säßen „auf gepackten Koffern“.3 Im Westen forderte vor allem Kanzlerkandidat Lafontaine, die Zuwanderungswelle durch Streichung finanzieller Anreize zu stoppen. Bei seiner Aktivierung der „sozialen Abwehrinstinkte gegen angeblich gierige Übersiedlermassen“4 sprach er vor allem auch Wähler vom rechten Rand an. Nach einer im Januar durchgeführten Umfrage hielten 74 Prozent der Anhänger der Republikaner Lafontaine deswegen für einen guten Bundeskanzler.5 SPD und Lafontaine, so die FAZ, müssten sich daher fragen lassen, „ob sie von rechtsradikalen Strömungen profitieren wollen“.6 Bundesarbeitsminister Norbert Blüm warf ihm vor, in der DDR eine Torschlusspanik und ein Chaos zu provozieren, die Opposition gegen die SED - PDS zu schwächen und Hunderttausende von Übersiedlern zu beleidigen. Es sei eine „bodenlose Schamlosigkeit“, Millionen Rentnern in der Bundesrepublik Angst zu machen, ihre Renten seien durch die Übersiedler gefährdet.7 5.2

Internationale Rahmenbedingungen im Januar 1990

Noch im Dezember hatten Moskaus Reformkommunisten die Bundesregierung in wenig diplomatischer Weise beschimpft. Anfang Januar bat Schewardnadse 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Informationen des BMB 23 vom 20. 12. 1989, S. 3. Informationszentrum vom 1. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 211 f. und 218); Vorsitzender des RdB Suhl an Hans Modrow zur Lage im Bezirk vom 7. 1. 1990 ( ThSTAM, 2647). Die Welt vom 25. 1. 1990. So taz vom 30. 1. 1990. Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa. In : Der Stern vom 18. 1. 1990. FAZ vom 13. 1. 1990. Zit. bei Auf dem Weg zur deutschen Einheit I, S. 313 f. und 316 f.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

sie plötzlich um Lebensmittellieferungen. Das passte zwar nicht zusammen, Kohl sah darin aber eine Chance, das Verhältnis zu Moskau zu verbessern und sagte umfangreiche Unterstützungen zu. Zum selben Zeitpunkt schlug die sowjetische Führung den westlichen Alliierten vor, wegen der Vorbereitung einer Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Viermächtekonferenz einzuberufen. Noch hielt die sowjetische Regierung – mehr als vierzig Jahre nach Kriegsende – am Besatzerstatus fest. Der Kanzler forderte hingegen von den westlichen Verbündeten ein Vorgehen in engster Abstimmung mit der Bundesregierung, schließlich gehe es um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen.8 Sein Ziel war eine Westbindung des vereinten Deutschlands. Nicht nur dies lehnte die sowjetische Führung weiterhin ab, vielmehr sprach sie sich gegen jede Form staatlicher Einheit aus. Gegenüber DDRAußenminister Oskar Fischer betonte Schewardnadse die Bedeutung der DDR als strategischer Verbündeter der UdSSR. Nach seiner Darstellung befürworteten alle Staaten in Ost und West im Grunde den Erhalt der DDR. Er plädierte dafür, die Beziehungen zwischen beiden Staaten „im Interesse des Erhalts der DDR“ voll auszuschöpfen und unterstützte die angestrebte Vertragsgemeinschaft, soweit sie auf dem Prinzip der Zweistaatlichkeit basiere. Die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO lehnte er ab, betonte jedoch erneut, die UdSSR werde sich auch weiterhin an das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten halten.9 Dadurch erhielten seine Äußerungen den Charakter von sowjetischen Wünschen und nicht von Diktaten und entzogen innerdeutschen Handlungsspielräumen nicht die Grundlage. In Bonn wusste man um die Zwänge, unter denen Gorbatschow und Schewardnadse handelten und interpretierte die Ausführungen als konstruktive Weiterentwicklung der sowjetischen Positionen. Deutlicher wurde Portugalow am 24. Januar in der Bild - Zeitung, als er erklärte, wenn die Bevölkerung der DDR die Wiedervereinigung wolle, werde sie kommen. Die UdSSR werde sich nicht gegen eine solche Entscheidung wehren. Dies nun interpretierte der Bundeskanzler als „Signal für eine grundlegende Wende in der sowjetischen Haltung gegenüber der deutschen Einigung“. Noch am selben Tag stimmte er dem umfangreichen Sonderverkauf von Nahrungsmitteln an die UdSSR zu, der von der Bundesregierung mit 220 Mio. DM subventioniert wurde.10 Die Unterstützung aus Bonn führte zu einem Umdenken Gorbatschows, dessen Bereitschaft wuchs, die DDR zur Disposition zu stellen.11 Ende Januar rief er einen kleinen Diskussionskreis zur deutschen Frage zusammen, in dem sich schließlich die Meinung durchsetzte, man solle „die DDR ihrem Schicksal überlassen“, sich damit abfinden, dass 8 9

Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 100–108. Beschluss des Ministerrates der DDR 11/18/90 vom 25. 1. 1990 über die Ergebnisse des Besuches des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Oskar Fischer, am 19. und 20. 1. 1990 in der UdSSR ( BArch Berlin, C 20, I /3–2903). Vgl. Neues Deutschland vom 19. 1. 1990. 10 Teltschik, 329 Tage, S. 114, vgl. S. 112 f. und 120. 11 Vgl. Kroh, Wendemanöver, S. 254.

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Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf

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das vereinte Deutschland der NATO beitreten würde, dabei allerdings das eigene Gesicht wahren.12 Eine wichtige Rolle bei der Richtungsänderung spielte auch die Haltung der US- Regierung, bei deren Politik und Diplomatie es im Januar bereits nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“ der deutschen Vereinigung ging.13 Vor allem aber wäre inzwischen eine andere Lösung auf den erbitterten Widerstand der protestierenden Bevölkerung in der DDR gestoßen, die allerorts die deutsche Einheit verlangte. Angesichts der Dynamik des Prozesses berieten auch Mitterrand und Thatcher ihre Haltung gegenüber Deutschland und erwogen eine engere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik. Mitterrand warnte allerdings gleichzeitig davor, eine Politik gegen deutsche Interessen zu führen. Deutlicher als Thatcher sah er die Gefahr, dass die Beziehungen zu und die Interessen Frankreichs in Deutschland Schaden nehmen könnten.14 Allerdings lehnte er eine Konföderation nach den Vorstellungen Kohls weiterhin ab und bevorzugte eine „Europäische Konföderation“.15 Thatcher meinte hingegen, man müsse „alle Register ziehen, um den Prozess der Wieder vereinigung zu verlangsamen“.16 Im „Wall Street Journal“ warnte sie am 26. Januar vor übereilten Schritten, die Gorbatschow in innenpolitische Schwierigkeiten bringen könnten. Die Bundesregierung vertrete in egoistischer Weise nationale Interessen.17 Kohl war verärgert und nannte die Äußerungen „ungewöhnlich unfreundlich“.18 Wilhelm G. Grewe hat darauf hingewiesen, dass es „verheerende Auswirkungen“ hatte, dass westliche Verbündete, die über Jahrzehnte ihre Unterstützung der Wiedervereinigung bekundet hatten, nun, da die Möglichkeit vor der Tür stand, ihre bisherige Haltung als unaufrichtig offenbarten. Die deutsche Bevölkerung musste so den Eindruck gewinnen, „von ihren Verbündeten mehrere Jahrzehnte mit leeren Versprechungen über die Unterstützung ihres Einheitsverlangens getäuscht worden zu sein“.19 Henry Kissinger wies im Januar 1990 darauf hin, wenn er meinte: „Die Ereignisse der letzten Monate haben ein große Lücke zwischen den Erklärungen des Westens und seinen tatsächlichen Handlungen offenbar werden. Wenn diese Lücke nicht geschlossen wird, so könnte dies eine schwere Schädigung der Errungenschaften von vier Jahrzehnten westlicher Diplomatie und Staatskunst heraufbeschwören.“20 Wichtig für die Entwicklung war auch die Haltung der Europäischen Gemeinschaft. Zunächst war die Haltung des Rates der EG von Zurückhaltung geprägt. Es gab erhebliche Meinungsunterschiede über die Behandlung der DDR. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen EG - Kommission und deutscher Bundesre12 13 14 15 16 17 18 19 20

Falin, Politische Erinnerungen, S. 489. Vgl. Tschernajew, Die letzten Jahre, S. 296 f. Vgl. Joffe, Amerikas Rolle, S. 17. So auch Rühl, Zeitenwende, S. 388. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 5. 1. 1990. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1104. Der Tagesspiegel vom 26. 1. 1990. Teltschik, 329 Tage, S. 116. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 63. Grewe, Teilung und Vereinigung Deutschlands, S. 15. Zit. bei ebd., S. 21.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

gierung wurde jedoch spätestens zum Jahreswechsel die Parallelität des deutschen und europäischen Integrationsprozesses hergestellt. Von nun an gelang es der EG - Kommission und der Bundesregierung, die Synchronisation zwischen deutschem Recht und EG - Recht in jeder Phase zu erhalten. Da bereits in verschiedenen Bereichen die Entscheidungskompetenz der Bundesrepublik auf europäische Institutionen übergegangen war, so etwa in der Agrar - , Struktur und Umweltpolitik, war eine deutsche Vereinigung ohne die Mitwirkung der EG gar nicht zu bewältigen.21 Anfang des Jahres sorgte vor diesem Hintergrund vor allem EG - Kommissionspräsident Jacques Delors für einen Stimmungsumschwung. Er erklärte am 6. Januar gegenüber der „Irish Times“, die DDR habe ihren Platz in der EG, wenn sie ein Land mit pluralistischem System und offener Marktwirtschaft werde. Am 17. Januar erklärte er Ostdeutschland sei ein Sonderfall. Es habe seinen Platz in der Gemeinschaft, falls es dies wünsche.22 Ein Sondertreffen der Außenminister der EG - Staaten am 20. Januar in Dublin war freilich wieder eher von der Strategie geprägt, die DDR in den Kontext der Reformentwicklung im Ostblock einzubinden. Vorschläge Genschers und Delors zu einer Sonderbehandlung der DDR stießen auf geringe Resonanz bis Ablehnung.23 Vor allem die holländischen und belgischen Außenminister erklärten, der DDR stehe keine Sonderbehandlung zu. Sie müsse wie andere Bewerber behandelt werden und die üblichen Bedingungen erfüllen. Auch der französische Außenminister nannte die Überlegungen Delors über einen möglichen DDR - Beitritt „ein wenig verfrüht“, da diese noch nicht die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfülle.24 Diese Aktionen richteten sich gegen die Wiedervereinigungspolitik Bonns und ignorierten die besondere Lage im geteilten Deutschland. Bei der Vorstellung des Arbeitsprogramms der EG - Kommission für 1990 begründete Jaques Delors vor dem Europäischen Parlament erneut die Notwendigkeit einer Sonderbehandlung der DDR – und zwar mit dem Hinweis auf die Bestimmungen des EWG - Vertrages. Er nannte in diesem Zusammenhang das Protokoll über den innerdeutschen Handel, die Erklärung zu Berlin und zur deutschen Staatsangehörigkeit sowie den Hallstein - Vorbehalt.25 Auf dieser Grundlage wurden als Integrationsoptionen die Annäherung der DDR an die EG durch ein erweitertes Handelsabkommen, die Anbindung durch Assoziierung und der Beitritt als eigenständiges Vollmitglied bzw. als Teil des wiedervereinigten Deutschlands diskutiert.26 Bereits am 29. Januar nahmen Delegationen der DDR und der Kommission der EG Verhandlungen über ein Handels - und Kooperationsabkommen auf. Bei den weiteren Verhandlungen über die Integration der DDR in die EG blieben Vertreter der DDR tatsächlich 21 22 23 24 25

Vgl. Meyer, Die Eingliederung, S. 64–66. Rede Jacques Delors. Zit. bei Meyer, Die Eingliederung, S. 27. Vgl. Holeschovsky, Deutsche Einheit, S. 176; Süddeutsche Zeitung vom 22. 1. 1990. Die Welt vom 22. 1. 1900. Vgl. Rede Jaques Delors vor dem Europäischen Parlament. In : Kommission der EG, Vertretung Bonn, EG - Nachrichten 2, Bonn vom 22. 1. 1990. In : Deutsche Außenpolitik 1990/9, 1, S. 66–74. 26 Vgl. Holeschovsky, Deutsche Einheit, S. 177.

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Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf

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Bild 66: Deutschland - und Europafahnen in Leipzig.

weitgehend außen vor. Kein EG - Politiker war interessiert, mit der politisch unerfahrenen DDR - Führung zu verhandeln. „So wie die Bundesregierung den politischen Willensbildungsprozess im deutschen Einigungsprozess dominierte, führte sie die Regie bei der Integration der DDR in die EG.“27 5.3

Protestdemonstrationen und Höhepunkt der Streikbewegung in der zweiten Januarhälfte

Nach einem neuen Höhepunkt Mitte Januar flauten die Proteste in der zweiten Januarhälfte wieder ab. Gleichzeitig erreichte die Streikbewegung ihren Höhepunkt. Auf Demonstrationen dominierte die „werktätige Bevölkerung“. Wie bei den Flucht - und Ausreisewilligen hieß das Ziel Bundesrepublik, allerdings sah man nun die Möglichkeit, die erstrebten Verhältnisse nicht durch Weggang, sondern durch Wieder vereinigung in die eigenen Heimatregion zu holen. Man wollte Sachsen nicht mehr verlassen, um Bundesbürger zu werden. Der Versuch der SED - PDS und Modrows, Rechtsextremisten und Befürworter der deutschen Einheit in einer Diffamierungskampagne gleichzusetzen, und so gleichzeitig die Weiterarbeit des verhassten MfS zu begründen, stieß in der Bevölkerung auf erbitterten Widerstand. Nachdem der Zentrale Runde Tisch am 15. Januar auch noch über ein Netz von über 100 000 IM des MfS informiert hatte, richtete sichder Volkszorn erneut vor allem gegen das MfS und seine Mitarbeiter. Die Bevölkerung wollte nun die Namen derer erfahren, die sie bespitzelt und denunziert hatten. Das Bedürfnis nach Abrechnung mit den „Schergen des Regimes“ 27 Meyer, Die Eingliederung, S. 66.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

wuchs. In Großenhain konstatierte Pfarrer Wilzki, es herrsche Progromstimmung.28 Die Streikbereitschaft nahm zu. Ein Zentrum war der thüringische Bezirk Gera, wo es am 16. Januar in über zwanzig Betrieben zu Streiks kam. Sie richteten sich vor allem gegen die Zahlung von Überbrückungsgeldern an ehemalige Mitarbeiter des MfS. So forderten die Mitarbeiter des Kraftverkehrs Saalfeld am 16. Januar u. a. „keine einzige Mark Überbrückungsgeld für die Mitglieder der Stasi“ und „Offenlegung aller Spitzel der Stasi in unseren Betrieben“ und drohten mit weiteren Streikmaßnahmen.29 Erkennbar wuchs angesichts der bevorstehenden freien Wahlen der Mut der Bürger; ein Ende der SED- Herrschaft kam deutlich in Sicht. Bereits ab Mitte Januar waren die Demonstrationen und Kundgebungen vom Wahlkampf geprägt und signalisierten so den Übergang zur parlamentarischen und repräsentativen Parteiendemokratie. Am 16. Januar nahmen an einer Demonstration der Bürgerinitiative Geising (Dippoldiswalde) 600 Einwohner teil. Sie führten Transparente gegen die SED und für eine Wieder vereinigung sowie Deutschlandfahnen mit sich.30 In Sebnitz äußerte der Vorsitzende des LDPD - Stadtvorstandes „das ungute Gefühl, dass die alten stalinistischen Machthaber der SED von gestern wieder Morgenluft wittern“. Gysi und andere versuchten mit ihrer Kampagne gegen rechts „neue Angst und Panik zu säen“, um so die demokratischen Kräfte zu spalten.31 Einem Aufruf des Neuen Forums zur Kundgebung unter dem Motto „Demokratie ohne Stasi“ folgten in Hohenstein - Ernstthal 3 000 Teilnehmer. Sachsen und Deutschlandfahnen dominierten das Bild. Es gab Losungen wie „Stasi raus“ und „Deutschland – einig Vaterland“ sowie Forderungen nach Einstellung von Überbrückungszahlungen an MfS - Mitarbeiter und nach Auf lösung der SED. Handwerker forderten ein freies Handwerk.32 In Grimma folgten knapp 300 Bürger einem Aufruf des DA zur Demonstration unter dem Motto „SED PDS – Nein Danke“. Sie zogen mit schwarz - rot - goldenen Fahnen durch die Stadt, DA und LDPD stellten ihre Ziele vor.33 Am 17. Januar erklärte der Präsident des Obersten Gerichts der DDR, Günter Sarge, seinen Rücktritt. Am selben Tag wurde der stellvertretende Generalstaatsanwalt, Harri Harrland, abberufen. Der Staatsanwalt des Bezirkes Dresden trat ebenfalls wenig später (23.1.) zurück.34 In Zwönitz (Aue) nahmen 5 000 Menschen an einer Kundgebung des Neuen Forums und der SPD mit anschließender Demonstration teil. Auf Losungen hieß es: „Wiedervereinigung Deutschlands“ und „SED muss weg“.35 Nach einem Aufruf des Neuen Forums 28 Ilka Wilkening, Tagebuchnotizen aus dem Herbst 1989 ( Stadtverwaltung Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). 29 Vorsitzender des RdB Gera an Hans Modrow vom 16. 1. 1990 ( ThSTAR, 31543). 30 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 18. 1. 1990. 31 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 16. 1. 1990. 32 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350; Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal vom 18. 1. 1990. 33 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 18. 1. 1990. 34 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 26. 1. 1990. 35 Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350.

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Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf

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unter Federführung Gunda Röstels demonstrierten in Flöha Tausende Bürger gegen die Verzögerung der Demokratisierung durch die SED - PDS. Es gab viele Deutschland - und Sachsen - Flaggen, eine Losung lautete: „FDJ und SED – das war eine Scheißidee“.36 In Limbach - Oberfrohna (Karl - Marx - Stadt - Land) demonstrierten 15 000 Bürger für die deutsche Einheit und gegen die SED - PDS. Auf einer Kundgebung stellten auch hier Parteien ihre Wahlprogramme vor.37 Bei Demonstrationen in Markneukirchen (3 500 Teilnehmer) und Schöneck (Klingenthal) stellte sich die SPD vor. Redner der CDU und anderer Parteien warnten vor einer schleichenden Restabilisierung des MfS durch die Politik Modrows und Gysis.38 Im Kreis Großenhain streikten am 17. Januar Mitarbeiter des Kraftverkehrs, um die namentliche Bekanntgabe der IM unter ihnen zu erzwingen.39 Kennzeichnend war die Reaktion des bisherigen Bezirksorgans der SED, „Sächsische Zeitung“. Hier war zu lesen, dass „während des Kapp - Putsches 1920, der zu einer Militärdiktatur führen sollte“, auch die gesamte Großenhainer Arbeiterschaft gestreikt habe.40 Auch dies war der fortgesetzte Versuch, die Demokratisierungsbemühungen zu diskreditieren. Einem Aufruf des Neuen Forums zur Demonstration folgten in Kamenz etwa 800 Teilnehmer.41 Am 18. Januar protestierten in Aue die Initiatoren der Montagsdemonstrationen gemeinsam gegen die SED - PDS und gegen deren Nutzung rechter Tendenzen für den Wahlkampf.42 In Großenhain nahmen 6 000 Einwohner an einer Demonstration unter dem Motto: „Es ist vorbei! – Keine sozialistischen Experimente“ teil. Eine Hauptforderung lautete, die Revolution in der DDR nicht in die rechte Ecke zu drängen. Es gab viele schwarz - rot - goldene Fahnen und gemeinsame Erklärungen gegen Wahlbündnisse mit der SED - PDS. Gefordert wurden die Öffnung aller Kaderakten, ein Streikrecht, die vollständige Auf lösung des MfS, eine objektive Berichterstattung der „Sächsischen Zeitung“ und eine unabhängige Untersuchungskommission, die alle IM aufdecken sollte. Parteien stellten ihre Wahlprogramme vor.43 Vertreter linker Bürgerbewegungen fühlten sich hier nicht mehr wohl. Eine Akteurin erinnert sich, es sei nicht mehr ihre Demo gewesen: „Keine Spur mehr von der Atmosphäre des Aufbruchs im Oktober. Das Grölen der Leute war das Schlimmste. Die Leute wollen den Wohlstand des Westens und zwar sofort.“44 Überall in der DDR wandte sich der Volkszorn gegen Funktionä36 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 19. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 20. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 19. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 12. und 16. 1. 1990; Ilka Wilkening, Tagebuchnotizen aus dem Herbst 1989 ( Stadtver waltung Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 17. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 16. 1. 1990; Kamenz 1989–1995, S. 16. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 18. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 20./21. 1. 1990. Ilka Wilkening, Tagebuchnotizen aus dem Herbst 1989 ( Stadtverwaltung Großenhain, Museum Alte Lateinschule, Projekt Zeitgeschichte ).

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

re des Partei - und Staatsapparates. Teilweise kam es vor den Häusern von Funktionären zu Protestdemonstration und Drohungen. Die Volkspolizei weigerte sich, diese zu schützen und so den Volkszorn noch stärker auf sich zu lenken.45 In der Bevölkerung gab es Befürchtungen, die SED könnte bei den Wahlen doch noch gewinnen oder die Macht auf andere Weise an sich reißen. Die Stimmung war deswegen weiterhin von Angst und Vorsicht geprägt. Ein Vertreter des DA in Leipzig erklärte, am Morgen der Wahl würden die Koffer gepackt und das Auto getankt sein: „Und wenn die SED dann nicht abgewählt ist, könnt ihr uns drüben schon mal mit ’ner halben Million erwarten.“46 In Auerbach stand am 19. Januar eine Demonstration mit Tausenden Teilnehmern unter dem Motto: „Wir verlangen die Auf lösung und Enteignung der SED!“ Es gab zahlreiche schwarz - rot - goldene Fahnen und Transparenten mit Aufschriften wie: „Mit der SED - PDS sitzen Sie in der letzten Reihe!“, „SED und Nelken – beide werden welken!“ oder „Macht in Kommunistenhand ist Ruin für unser Land!“ Vertreter verschiedener Parteien erläuterten ihre Positionen. Erstmals wurde auch die „bika - Zeitung“ verkauft, in der sich u. a. die SPD im Kreis vorstellte.47 Zwischen 2 500 und 3 000 Bürger demonstrierten in Eppendorf (Flöha). Auf einer abschließenden Kundgebung betonten mehrere Redner, 40 Jahre SED - Diktatur hätten aus dem Land ein ökologisches, ökonomisches, soziales und moralisches Notstandsgebiet gemacht. Man wolle daher nichts mehr von SED und Sozialismus hören. Auf Transparenten wurde die Auf lösung der SED - PDS und des MfS gefordert. Denn, so das bisherige SED - Blatt „Freie Presse“, diese „mafiaähnliche Organisation“ verbreite noch immer Misstrauen und Angst. Die SED habe trotz des Zusatzes PDS keine Existenzberechtigung mehr. Die Forderung nach deutscher Einheit und der Wiedererrichtung der Länder wurde mit schwarz - rot - goldenen und weiß - grünen Fahnen ausgedrückt. Redner betonten, dass sich in den Betrieben noch nichts geändert habe. Die Veranstaltung machte eine aktive Teilnahme der Landbevölkerung an den Protesten deutlich. Für den nächsten Freitag wurde erneut zur Demonstration aufgerufen.48 In Klingenthal protestierten 8 000 Teilnehmer mit über 100 Deutschlandfahnen. Hauptforderungen lauteten: „Nieder mit der SED!“, „Einheitsfront gegen SED - PDS“, „Wer SED wählt, wählt Bürgerkrieg“, „Stasi, Nasi, Gysi, nein danke“ oder „Wir sind ein Volk BRDDR“. Immer wieder wurde „Nieder mit der SED“ und „Deutschland einig Vaterland“ gesungen. Mehrere Redner der Bürgerinitiative, einer neuen Gewerkschaft, der CDU und SPD warnten vor der SED - PDS und einer „Gefahr von links“. Auch Gäste aus Bayern (DGB, Die Grünen, CSU) sprachen und forderten zur Demokratisierung auf. Die lokale Bürgerinitiative warnte gleichfalls vor „Roten Nelken“ sowie „Vereinigter Linker“ 45 Vgl. Vorsitzender des RdB Suhl an Hans Modrow vom 18. 1. 1990 : Lage im Bezirk (ThSTAM, 2647). 46 Rheinischer Merkur / Christ und Welt vom 19. 1. 1990. 47 Vgl. Karl Rink, Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 23. 1. 1990. 48 Vgl. Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 25. 1. 1990.

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und postulierte als gemeinsames Ziel aller demokratischen Oppositionsgruppen und Ex - Blockparteien: „Geht alle zur Wahl am 6. Mai. Wer nicht wählt, wählt die Kommunisten!“ Die Hausaufgabe bis zum nächsten Freitag lautete: „Wer für Deutschland ist, flagge die deutsche Fahne.“49 Im Kreis Marienberg weigerten sich Omnibusfahrer, weiterhin Abgeordnete der „Volksvertretungen“ kostenlos zu befördern und drohten bei Nichtabschaffung dieses Privilegs mit Streiks. An einer vom Neuen Forum organisierten Demonstration nahmen in Adorf (Oelsnitz) 2 000 Personen teil. Redner forderten die Wiedervereinigung und übten Kritik an SED - PDS und MfS. In Altenburg streikten 300 Mitarbeiter von HO - Verkaufsstellen für bessere Arbeits - und Lebensbedingungen sowie höhere Löhne.50 In Plauen war für den 20. Januar eine Erstürmung der SED - PDS - Kreisleitung angekündigt worden. Am Tag zuvor hatte daraufhin der Kreisvorsitzende darum gebeten, das Gebäude umgehend in Volkseigentum zu überführen. Nach sofortiger Beratung entsprach der Rat der Stadt Plauen dieser Bitte. Da die Kreisseite der „Freien Presse“ am 20. Januar darüber berichtete, verlief eine Demonstration an diesem Tag ruhig und ohne die befürchteten Ausschreitungen. Vor dem Demonstrationszug mit 35 000 Teilnehmern fuhr ein Pkw mit einem Galgen, an dem ein Sack mit der Aufschrift „SED“ hing. Auf einer Kundgebung sprach u. a. der Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium, Günther Beckstein. Er beschwor die Einheit Deutschlands, überbrachte Grüße von Ministerpräsident Max Streibl und dankte den Plauenern für ihre „Heldenrolle“. Er übergab Fotokopierer, Schreibmaschinen und andere Materialien an die neuen Kräfte. Weitere Redner forderten immer wieder ein Verbot der SEDPDS.51 Am 21. Januar fand in Lunzenau (Rochlitz) eine Kundgebung mit anschließender Demonstration statt. Es sprachen Vertreter des Neuen Forums und der CDU.52 In Klitten (Niesky) forderten etwa 2 000 Menschen, den Ort nicht dem Braunkohleabbau zu opfern.53 In Sosa (Aue) rief das Neue Forum zur Demonstration auf.54 In Dresden gingen am 22. Januar etwa 50 000 Menschen auf die Straße. Im Großenhainer VEB Elmo fand ein zweistündiger Warnstreik statt, mit dem Schlosser und Elektriker die namentliche Nennung aller MfS - Mitarbeiter erreichen wollten.55 In Meißen nahmen bis zu 3 000 Teilnehmer an der 12. Montagsdemonstration teil und forderten u. a. „Chancengleichheit gegen SED - Mono-

49 50 51 52

Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 16. und 23. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350. Vgl. ebd. Vgl. Ereignisse der friedlichen Revolution 1989/1990 in der Stadt Lunzenau ( Archiv der Ortschronik Lunzenau ). 53 Vgl. Polizeiamt Niesky vom 21.–22. 1. 1990 : Lagefilm zum Rapport 5/90 ( SächsHStA, VPKA Niesky, 989). 54 Vgl. Chronologie der Wende in der Gemeinde Sosa ( HAIT, StKa ). 55 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 23. 1. 1990.

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pol“.56 In der ersten Streikaktion des Kreises schlossen sich Mitarbeiter des Technikstützpunktes Riemsdorf und der LPG Bockwen für eine Stunde dem Aufruf „Weg mit der SED, Bestrafung aller Schuldigen“ an.57 Bei der Sebnitzer Montagsdemo forderten über 4 000 Menschen die deutsche Einheit und die Auflösung der SED - PDS. Der Regionalsprecher des Neuen Forums kritisierte die „nachweisliche Übernahme von ehemaligen Stasimitgliedern in neue einflussreiche Funktionen durch den Vorsitzenden des Rates des Kreises, Herrn Brettschneider“ und forderte dessen Rücktritt. Der Vergleich einer Sprecherin von Stasi und Gestapo „brachte ihr den ungeteilten Beifall des Publikums ein“.58 Am Montagabend fand in Wittichenau (Hoyerswerda) bereits die zehnte Demonstration statt. Ca. 3 000 Teilnehmer forderten mit schwarz - rot - goldenen Fahnen eine schnelle staatliche Einheit, die Auf lösung der SED - PDS und freie Marktwirtschaft.59 Bei einer von der Bürgerinitiative organisierten Demonstration in Oelsnitz forderten ca. 3 000 Menschen die Auf lösung der SED - PDS und drohten mit Besetzung des Kreisvorstandes. Ein Stabsfähnrich in Uniform wandte sich gegen den Einsatz ehemaliger MfS - Mitarbeiter in den Grenztruppen.60 Zehntausende Karl - Marx - Städter demonstrierten an diesem Tag ebenfalls gegen SED - PDS, MfS und für die Wiedervereinigung.61 In Schwarzenberg demonstrierten Tausende für sofortige Stasi - Auf lösung und gegen die Verschleierungstaktik. Auch hier dominierten Sachsen - und Deutschlandfahnen.62 An der Montagsdemonstration mit Kundgebung in Zwickau nahmen 30 000 Menschen teil. Neben der Forderung nach Auf lösung der SED ging es vor allem um Umweltverbesserungen. Daneben fand eine Schülerdemo gegen den Zwang zum Russischunterricht statt.63 An einer Demonstration in Döbeln unter dem Motto „Für ein Land Sachsen“ beteiligten sich 4 500 Teilnehmer.64 In Leipzig demonstrierten etwa 125 000 Menschen für Wiedervereinigung und Ausgrenzung der SED - PDS.65 Bundesdeutsche Gruppen der Republikaner sowie von NPD und DVU verteilten Flugblätter. Skinheads schwenkten Reichskriegsfahnen und schrieen: „Rotfront verrecke!“, „Kannaken raus!“ und „Gysi, Modrow an die Wand, Deutschland einig Vaterland!“66 Auf einer Gegendemonstration der Gruppe „Antifa“ forderten 100 bis 200 Personen eine sozialistische Erneuerung der DDR.67 In der Woche ab dem 22. Januar erreichte die Streikbereitschaft ihren Höhepunkt. 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 23. 1. 1990. Vgl. Die Union / Sächsische Zeitung, Ausgabe Meißen, vom 25. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 24. 1. 1990. Vgl. Lausitzer Rundschau vom 22. und 24. 1. 1990. BArchB, DC 20, 11350; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 24. 1. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 24. 1. 1990; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 158. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 24. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 23. und 24. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 24. 1. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 22. 1. 1990; Tetzner, Leipziger Ring, S. 88 f. Schomers, Deutschland ganz rechts, S. 202–204. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 24. 1. 1990; Von Leipzig, S. 62.

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Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf

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Am 23. Januar fanden in Leipzig und Dresden Warnstreiks für bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Entlohnung statt. Nach einem Streikaufruf der Industrie - und Handelskammer sowie der Handwerksinnung Bautzen wegen schleppender Wirtschaftsreformen68 streikten an diesem Tag im Kreis Bautzen zahlreiche private Handwerker und Gewerbetreibende, Mitarbeiter der PGHs sowie der Industrie - und Handelskammer. Viele Geschäfte blieben ganztägig geschlossen. Hauptforderung war die freie Entfaltung von Handwerk, Gewerbe und Kleinindustrie im Rahmen marktwirtschaftlicher Strukturen.69 Nachdem bereits ein neuer, anonymer Streikaufruf verbreitet worden war, riefen Vertreter der Ex - Blockparteien, der SPD und des Neuen Forums mit Blick auf die kritische volkswirtschaftliche Situation auf, diesem nicht nachzukommen.70 In Löbau wies das Neue Forum am selben Tag mit Streikandrohungen verbundene Forderungen der Belegschaft des VEB Motorenwerk Cunewalde, Listen mit IM- Namen zu veröffentlichen, u. a. mit der Begründung zurück, es müsse mit Gewalt gegenüber den IM und ihren Familien gerechnet werden. Lieber nehme man in Kauf, dass diese unentdeckt blieben.71 In Brand - Erbisdorf demonstrierten an diesem Dienstag nach einem Aufruf der SPD 5 000 Menschen gegen die SED - PDS, eine Verzögerung der Auf lösung des MfS, für eine schnelle deutsche Einheit und die Wahl der SPD am 6. Mai.72 Am 24. Januar kam es in Leipzig erneut zu Warnstreiks. U. a. streikten die Mitarbeiter des Leipziger Bezirkskrankenhauses wegen des Arbeitskräftemangels und der schlechten technischen Ausrüstung. Auch in Zittau streikten Mitarbeiter des Gesundheitswesens. In Dresden fand am 24. Januar in rund 200 Betrieben und Einrichtungen ein einstündiger Warnstreik gegen die Machtstrukturen der SED - PDS und die „Restauration von Geheimdiensten“ statt.73 „Mit Besorgnis“ registrierte der Rat des Bezirkes eine Zunahme von Streiks und Streikandrohungen. Nicht überall werde die Ausfallzeit nachgearbeitet. Trotz der Distanzierung des Zentralen Runden Tisches von einem Generalstreik sei es in rund 200 Betrieben der Stadt Dresden zu Warnstreiks gekommen. Ganztägig streikten an diesem Tag erneut auch die Handwerker, Gewerbetreibenden und privaten Händler der Bereiche der Handwerkskammer und der Industrie und Handelskammer in Bautzen, Sebnitz und Dresden - Prohlis. Auch Betriebe in Freital und Bautzen schlossen sich an.74 In Freital fand ein vom Neuen Forum initiierter Warnstreik gegen die Politik der SED - PDS statt, an dem sich Tank-

68 Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 49). 69 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 24. 1. 1990. 70 Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 51); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 24. 1. 1990. 71 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 23. 1. 1990; Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 31. 1. 1990. 72 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 25. 1. 1990. 73 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 26. 1. 1990; Sächsisches Tageblatt vom 25. 1. 1990. 74 Vgl. Bericht des RdB an BT Dresden vom 1. 2. 1990 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46071, Bl. 93–100).

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Friedliche Revolution in Sachsen 1989/90: Streiks/ Streikandrohungen von Oktober 1989 bis März 1990

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Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bis zum 2.10.1990, Landesgrenze zwischen Bayern und Sachsen ab dem 3.10.1990

Staatsgrenze zwischen der DDR/ Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei bzw. Polen

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Kreisgrenze 1989/90

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1194 Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

Vom Protest zum gesamtdeutschen Wahlkampf

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stellen, Kfz - Betriebe und 70 Prozent der Belegschaft des VEB Nagema - Verpackungsmaschinenbau beteiligten. Gefordert wurden starke Gewerkschaften.75 In Bautzen traten, trotz des Appells der Parteien, Streiks zu unterlassen, erneut einige Bautzener Handels - und Gewerbebetriebe ganztägig in den Warnstreik und schlossen sich so der DDR - weiten Streikbewegung an. Der Rat des Kreises kritisierte die Warnstreiks wegen der prekären wirtschaftlichen Lage des Kreises und der ständigen Kritik der Bevölkerung an der Versorgung.76 Einen einstündigen politischen Warnstreik gab es auch im Betriebsteil Schlottwitz der BHG und des Kreisbaubetriebes Dippoldiswalde. Mit ihm sollte die Auf lösung der SED - PDS, die Verwendung des Parteivermögens für soziale Zwecke und die Einführung eines strikten Leistungslohnes erreicht werden. Hier wie an vielen anderen Orten wurde die ausgefallene Zeit nach Dienstschluss nachgearbeitet.77 Auch aus Zittau wurde an diesem Mittwoch wieder ein Warnstreik gemeldet. Ganztägig streikten auch die Handwerker, Gewerbetreibenden und privaten Händler der Bereiche der Handwerkskammer und der Industrie und Handelskammer in Sebnitz. Anschließend versammelten sich ca. 1 500 Teilnehmer zu einer Kundgebung auf dem Markt.78 Neben den Streiks gingen auch die Demonstrationen weiter. In Brand - Erbisdorf demonstrierten am 24. Januar 2 000 Personen für die deutsche Einheit und die Auf lösung des AfNS.79 Eine Demonstration gab es auch in Dürrröhrsdorf Dittersbach (Sebnitz). Angesicht der überall erhobenen Forderungen nach Offenlegung der IM - Namen beschloss der Runde Tisch Hoyerswerda, IM - Listen zu vernichten.80 In Reichenbach fand eine Demonstration mit der ersten Kundgebung im neuen Jahr statt, die von CDU, LDPD, NDPD, Neuem Forum und der Kirche organisiert war. Hauptforderungen waren die deutsche Einheit und die Abwahl der SED - PDS. Ein NDPD - Sprecher forderte die Auf lösung des Kreistages und die Übernahme der Arbeit durch den Runden Tisch.81 In Zwönitz (Aue) forderten 3 000 Personen auf einer Kundgebung von SPD und Neuem Forum die Auf lösung der SED - PDS und die Wiedervereinigung.82 Auch am Donnerstag, dem 25. Januar, gingen die Proteste weiter. Im Kreiskrankenhaus Bischofswerda streikte das Personal für eine Lohnerhöhung.83 In Großenhain forderten 2 000 Bürger mit zahlreichen Deutschland - und Sachsenfahnen und auf Transparenten die Wiedervereinigung. Auf Plakaten hieß es u. a.: „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, „Nieder mit der SED“ und „Vorsicht, die wollen uns wieder lieben“. Auf einer Kundgebung begrüßte Joe Balzer den 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 25. 1. 1990. Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 51). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 25. 1. 1990. Vgl. Bericht des RdB an BT Dresden vom 1. 2. 1990 ( SächsStA, BT / RdB Dresden, 46071, Bl. 93–100). Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350. Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 26. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11351. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 27./28. 1. 1990.

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Parteiaustritt von Berghofer und erklärte, es gebe keinen Dritten Weg zur sozialen Marktwirtschaft. Nach Reden von Vertretern der Parteien wurde die Nationalhymne gesungen.84 In Niesky forderten 500 Demonstranten die Einheit Deutschlands.85 Eine Demonstration in Brand - Erbisdorf, zu der CDU, LDPD, NDPD und die Kirche aufgerufen hatten, stand unter dem Motto: „Gegen eine wiedererstarkende SED - PDS – für eine geeinte Nation“. Es gab viele weiß - grüne Fahnen und Forderungen nach Bildung eines Freistaates Sachsen. Hier gab es Widerstände gegen eine Entscheidung des Rates der Stadt zur Einstellung eines ehemaligen MfS - Mitarbeiters in leitender Funktion im Bereich Handel und Versorgung.86 In Zschopau kursierten anonyme Briefe mit Vor würfen gegen frühere MfS - Mitarbeiter.87 In Riesa wurde bei einer Kundgebung des Neuen Forums der sofortige Rücktritt des Rates des Kreises gefordert.88 Am Freitag, dem 26. Januar nahmen in Eppendorf (Flöha) 2 000 Menschen an einer Demonstration gegen Sozialismus, für deutsche Einheit und ökologische, soziale Marktwirtschaft teil. Es gab viele schwarz - rot - goldene und weiß grüne Flaggen. In Sprechchören hieß es: „Nieder mit der SED“, „Stasi raus“ und „Schwarz - rot - gold, wir sind ein Volk“. Bei der Veranstaltung wurde bereits die nächste Demonstration unter dem Motto: „Deutschland braucht Freiheit statt Sozialismus“ angekündigt.89 An einer von der Bürgerinitiative in Klingenthal organisierten Demonstration beteiligten sich 6 000 Personen. Losungen richteten sich gegen die SED - PDS und forderten die Wiedervereinigung.90 Im Kreis Plauen sah sich der Kommandeur des Grenzbezirkskommandos zu der Erklärung veranlasst, dass keine ehemaligen Angehörigen des MfS zum Grenzschutz übernommen würden.91 In Plauen selbst wurde die Veröffentlichung der Namen der MfS - Mitarbeiter verlangt.92 Einem Aufruf des Neuen Forums, der „Kraft der Basis“, zur Demonstration „Gegen den stalinistischen Schmutz des Geistes, gegen die Restaurationspolitik der SED - PDS, gegen den Schmutz in der Umwelt“93 folgten in Borna mehrere Hundert Personen. Das Neuen Forum sammelte Unterschriften, um die Region zum ökologischen Notstandsgebiet zu erklären. Eine Sprecherin protestierte gegen die Einstellung ehemaliger Mitarbeiter des MfS in öffentliche Ämtern. Auf Transparenten hieß es „Korruption 84 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 27./28. 1. 1990. 85 Vgl. Polizeiamt Niesky vom 25.–26. 1. 1990 : Lagefilm zum Rapport 7/90 ( SächsHStA, VPKA Niesky, 989). 86 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 25., 27. und 30. 1. 1990. 87 Vgl. Aktivitäten der Bürgerinitiativgruppe Thum vom 1. 11. 1989–30. 3. 1990 ( StA Zschopau ). 88 Aufruf an alle Bürger des Kreises Riesa, o. D. ( PB Andreas Näther ). 89 Vgl. Chronik der Demonstration in Eppendorf ( HAIT, StKa ); Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 1. 2. 1990. 90 MdI vom 27. 1. 1990 : Info ( BArch Berlin, DC 20, 11351). 91 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 26. 1. 1990. 92 Vgl. Ev. - Luth. Pfarramt ( Johannes Gebhardt ) an Sächsische Staatskanzlei vom 13. 3. 1999, Anlage 6 ( HAIT, Plauen, Plau - G1). 93 Einladung des Neuen Forums zur Demonstration am 26. 1. 1990 in Borna ( PB Hartmut Rüffert ).

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und Heuchelei erhalten die Quittung am 6. Mai“, „Sofort entschwefeln – nicht schwafeln“ oder „SED – Partei Des Stalinismus“. Ein Plakat der LDPD protestierte gegen den „ideologischen Missbrauch an unseren Kindern“ und verlangte die Abschaffung von SED - Leitungsstrukturen in der Volksbildung. Es gab Rufe wie: „SED – das tut weh“, „Deutschland einig Vaterland“, „Wollen nicht aus Borna weg, aber weniger Dreck!“ und „Schließt Euch an“.94 In Karl - Marx - Stadt demonstrierten am 27. Januar 1 200 Mitarbeiter des Gesundheitswesens für Lohnerhöhungen und in Freiberg forderten 500 Mitarbeiter des Gesundheitswesens bei einem Schweigemarsch die „Angleichung der Lohnsteuern an die in der Produktion“, eine „Erhöhung des Grundgehaltes“ sowie „Schreibtischärzte an die Krankenbetten“. In Plauen veranstaltete das Neue Forum eine Demonstration mit Kundgebung. Vor 30 000 Teilnehmern mit zahllosen schwarz - rot - goldenen Fahnen forderten Redner die deutsche Einheit, die Rückkehr zu den Ländern, die Zerschlagung des alten Machtapparates, eine Aufklärung der Wahlfälschungen im Mai 1989 und eine Schließung umweltbelastender Betriebe.95 In Stolberg gab es Proteste dagegen, einen MfS - Mitarbeiter zum Chef der Post zu küren.96 Einem Aufruf der kirchlichen Umweltgruppe „Schöpfungsverantwortung“ und der SPD zur Demonstration für bessere Umweltbedingungen folgten in Grimma mehrere Hundert Bürger. Es gab Forderungen, das gesamte SED - Parteivermögen einzuziehen und zur Beseitigung von Umweltschäden einzusetzen, die vor allem durch den VEB Braunkohleveredlung Espenhain verursacht worden waren.97 Nach einem ruhigen Sonntag fanden am 29. Januar wieder überall im Lande Montagsdemonstrationen statt. Nach der zweiten Demonstration in Wilthen (Bautzen) mit über 2 000 Teilnehmern informierten Vertreter der Bürgerinitiative, der SPD und LDPD über ihre Ziele.98 Die Montagsdemonstration in Bischofswerda wurde vom Neuen Forum, von CDU, LDPD, NDPD und SPD organisiert. Fazit aller Reden war, es habe sich trotz aller Versuche zur Demokratisierung noch nichts geändert. SED - PDS - Mitglieder würden weiterhin ihre Ämter bekleiden. Wegen verschiedener Machenschaften der Altfunktionäre müssten die Demonstrationen weitergehen und alle Bürger wachsam bleiben.99 In Dresden demonstrierten fast 100 000 Menschen mit schwarz - rot - goldenen Fahnen für die deutsche Einheit. Zu Beginn der Demonstration informierten Parteien über ihre Ziele.100 In Kamenz fand eine von CDU und Bürgerforum organisierte Montagsdemonstration zum Thema Volksbildung statt. Die Veranstaltung war bereits stark vom Wahlkampf geprägt und hatte eine wesentlich geringere Resonanz als frühere Veranstaltungen.101 Die 13. Meißner Demons94 95 96 97 98 99 100 101

Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 30. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11351; Sächsisches Tageblatt vom 29. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 27. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 30. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 2. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 31. 1. 1990. Vgl. Die Union vom 31. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 31. 1. 1990; Kamenz 1989–1995, S. 16.

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tration stand unter dem Motto: „Für Demokratie in der Wirtschaft, für Betriebsräte und freie Gewerkschaften“.102 5 000 Menschen forderten bei der Montagsdemonstration in Sebnitz vor allem die deutsche Einheit.103 Bei einer von der SPD organisierten Demonstration in Freiberg protestierten 5 000 Teilnehmer gegen die Umweltpolitik der SED.104 In Glauchau forderten nach einem Aufruf des Ökologischen Arbeitskreises 3 000 Teilnehmer einer Kundgebung die Einstellung der umweltschädlichen Viskoseproduktion.105 In Karl - Marx - Stadt demonstrierten 85 000 Personen gegen die SED - PDS und für die deutsche Einheit.106 An einer Montagsdemonstration nahmen in Oelsnitz mehrere Tausend Personen teil.107 Tausende gingen auch in Schwarzenberg auf die Straße und protestierten vor allem gegen SED - PDS und MfS.108 Auf einer Kundgebung in Stollberg wurden die Wieder vereinigung, die Einführung der Länder und die Auf lösung der SED - PDS verlangt. Die DSU informierte über ihre DDR- weite Bildung, die SPD darüber, bereits in 13 Orten des Kreises präsent zu sein.109 Nach einem Friedensgebet in der Marienkirche Werdau, bei dem sich die LDPD vorstellte, fand eine Demonstration mit über 1 000 Teilnehmern statt.110 Bei einer Demonstration unter dem Motto: „Neues Forum – neue Hoffnung!“ demonstrierten nach einem Friedensgebet in der Pauluskirche in Zwickau 20 000 Menschen vor allem für die deutsche Einheit.111 Nach einem Fürbittgottesdienst forderten in Döbeln 3 000 Bürger eine kommunalpolitische Mitbestimmung des Runden Tisches. In Hartha (Döbeln) äußerten zahlreiche Demonstranten nach einer Aufforderung von LDPD und Kirchenvorstand ihr Misstrauen gegen SED - PDS und Gysi.112 Zentrum des Geschehens im Bezirk Leipzig war wieder die Messestadt. Nach den traditionellen Friedensgebeten in vier Kirchen demonstrierten Tausende Menschen vor allem für die deutsche Einheit.113 Danach nahmen etwa 70 000 Teilnehmer an Kundgebungen auf dem Platz vor der Oper teil. Die Atmosphäre wurde erneut durch westliche Fernsehteams und Kleintransporter bestimmt, aus denen Illustrierte verteilt wurden. Das Bild war uneinheitlich und von Wahlkampf geprägt. Vertreter von SPD, CDU, DSU und LDP präsentierten ihre Wahlprogramme. Hinter dem Opernhaus traten erneut Gruppen der Republikaner und der „Freiheitlichen

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Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 30. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 31. 1. 1990. Vgl. Reum / Geißler, Auferstanden, S. 162; Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 411. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 31. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 31. 1. 1990; Plate, Döbelner Herbst ’89. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 30. 1. 1990.

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Deutschen Arbeiterpartei“ auf.114 Es gab eine Spendensammlung für das Bürgerkomitee zur Stasi - Auf lösung und lautstarke Äußerungen durch rechtsradikale Jugendliche. Bei einer Demonstration rund um den Karl - Marx - Platz kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen und Sprechchöre wie: „Nazi aus der Demo raus!“.115 Am 29. Januar fand in Oschatz ein Bürgerforum im vollbesetzten Kino statt. Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen hieß das Thema: „Parteien stellen ihre Programme vor“.116 Am 30. Januar wurden nur aus dem Bezirk Karl - Marx - Stadt Proteste gemeldet. In Hohenstein - Ernstthal stand eine Demonstration des Neuen Forums unter dem Motto „Täglich gehen Tausende – wann geht die SED?“. Hauptforderungen waren eine Auf lösung der SED und die deutsche Einheit.117 Das Bürgerkomitee Karl - Marx - Stadt untersagte an diesem Tag die Auszahlung jeglicher Abfindungssummen an ausscheidende Mitarbeiter des MfS/AfNS.118 Hier protestierte die Bürgerinitiative mit einer Pressemitteilung gegen „Stasi - Leute“ im pädagogischen Dienst.119 In Oelsnitz besetzten zahlreiche Bürger die SED - Kreisleitung. Mehrere Räume und der Eingang wurden durch Volkspolizei und Kreisstaatsanwaltschaft versiegelt. Nach Gesprächen wurde das Gebäude wieder geräumt.120 In Plauen hatte die „Initiative zur demokratischen Erneuerung“ bis zu diesem Tag 11.479 Unterschriften für die deutsche Vereinigung gesammelt.121 4 000 Menschen beteiligten sich an einer von der Bürgerinitiative organisierten Demonstration mit Kundgebung in Zschopau, bei der es vor allem um kommunalpolitische Probleme ging. Das Bild war auch hier von Sachsen - und Deutschlandfahnen geprägt.122 In Zwickau streikten die Mitarbeiter des VEB Städtischer Nahverkehr für eine Auf lösung der SED - PDS, eine Lohnangleichung an die Industrie, bessere Arbeitsbedingungen und die Anerkennung der Drei - Schicht Arbeiter. Weiterhin forderten sie die Möglichkeit einer Neuwahl der Betriebs und Gewerkschaftsleitung.123 Am 31. Januar übten in Karl - Marx - Stadt 20 000 Demonstranten u. a. Kritik am Wahlgesetzentwurf und forderten zur Wahl nur Parteien zuzulassen.124 Dem Aufruf der Bürgerinitiative zur Demonstration mit anschließender Kundgebung folgten in Markneukirchen (Klingenthal) 4 000 Personen. Fünf Redner sprachen zum bevorstehenden Wahlkampf.125 In Bischofswerda mahnte der baden - württembergische Ministerpräsident 500 Zuhörer zur Geduld. Die wirtschaftliche 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

Vgl. Von Leipzig, S. 63. Vgl. Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 31. 1. 1990. Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 131–134. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 1. 2. 1990. Vgl. Informationszentrum ( NVA ) vom 30. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BArch Berlin, VA - 01/37606). Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 7. 2. 1990. Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 30. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 1. 2. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 31. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 2. 2. 1990. Vgl. MdI vom 1. 2. 1990 : Info ( BArch Berlin, DC 20, 11351).

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Sanierung der DDR brauche Zeit. Erst als Späth auf die Wiedervereinigung zu sprechen kam, reagierten die Teilnehmer mit begeistertem Beifall. Es gab Deutschlandrufe und schwarz - rot - goldene wurden Fahnen geschwenkt. Ein Mitglied der Späthschen Delegation interpretierte: „Die Leute rufen Einheit und meinen Mark“. In Städten wie Bischofswerda besaßen die Menschen angesichts der Hartlebigkeit der SED - Strukturen Hoffnungen auf eine Demokratisierung und ein besseres Leben nur im Zusammenhang mit der staatlichen Einheit. Hier wie andernorts gab es Angst vor dem wirtschaftlichen Kollaps der DDR. Pfarrer Christian Naecke meinte zu Späth, die Deutschland - Rufe seien „Hilferufe von Menschen, die gar nicht in der Lage sind, die Sache selbst in die Hand zu nehmen“. Späth sprach von einer „ganz gefährlichen Analyse“, der er allerdings nicht widersprechen könne und warnte vor den Risiken einer schnellen Wiedervereinigung.126 Diese war aber kaum noch aufzuhalten. In zahlreichen Betrieben wurden Ende Januar schwarz - rot - goldene Fahnen ohne DDR - Emblem gehisst und Warnstreiks gegen die Restaurationspolitik der SED - PDS durchgeführt.127 Die Forderungen ließen wenig Raum für Interpretationen. Streiks im Strafvollzug Die Protestbewegungen im Januar weckten auch unter den noch in Haft verbliebenen Strafgefangenen neue Hoffnungen. In der Strafvollzugseinrichtung (StVE) Karl - Marx - Stadt, forderten am 16. Januar Gefangene mit einem Haftstreik Gleichheit vor dem Gesetz und eine umfassende Amnestie.128 In der StVE Waldheim legten am 31. Januar 155 Gefangene die Arbeit nieder, 76 begannen einen Hungerstreik für eine Verbesserung der Arbeitsvergütung. In der StVE Brandenburg verweigerten 94 Gefangene die Arbeits - und zwei Gefangene die Nahrungsaufnahme.129 Weiterhin blieben die StVE Bautzen I und II Zentren der Häftlingsunruhen. Seit Anfang Dezember war hier die Lage angespannt. Interne Reformen stagnierten, belastete Mitarbeiter wurden nicht entlassen, die Lebens - und Arbeitsbedingungen waren unverändert schlecht. So legte am 15. Januar erneut ein Arbeitskommando die Arbeit nieder. Von Insassen wurde am 18. Januar ein Runder Tisch mit Vertretern der Presse, der Kirche, des Gefangenenrates sowie der Leitung einberufen. Gefordert wurde die sofortige Entlassung aller Strafgefangenen, die nicht wegen Mord oder Sexualstraftaten verurteilt waren, da auch nach Aussage eines MdI - Vertreters am Runden Tisch „die bis 1989 angewandten Strafgesetze nach demokratischen Gesichtspunkten nicht mehr akzeptabel“

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Markus Bleistein, Späth in der DDR - Provinz. In : dpa vom 1. 2. 1990. Vgl. Tetzner, Leipziger Ring, S. 89. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 19. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445.

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Bilder 67 und 68: Häftlingsunruhen in der Strafvollzugsanstalt Bautzen.

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waren.130 Die Gefangenen räumten ihre Schuld selbst ein, forderten aber in Anbetracht der Entwicklung und der zutage tretenden Straftaten der ehemaligen Staatsführung eine Chance zum Neuanfang. Es fehle „die moralische Basis, Strafen gegen uns aufrechtzuerhalten, die nach einem Strafrecht ausgesprochen wurden, das von Personen eingebracht worden ist, die heute selbst als Verbrecher hinter Gittern sitzen“.131 Am selben Tag traten alle 481 Gefangenen erneut in einen unbefristeten Streik. Ein elfköpfiges Streikkomitee fordert ultimativ, alle Urteile bis zum 23. Januar zu überprüfen.132 Einige Häftlinge besetzten Anstaltsdächer und drohten, sich hinunter zu stürzen. „In Haft waren nur noch Männer, die Gewalt nicht schreckte“, erinnert sich Frank Hiekel.133 Am 21. Januar berieten erneut der Gefangenrat und Vertreter der Kirche. Die Gefangenen beharrten auf ihren Forderungen und weigerten sich, in ihre Zellen zu gehen. Vertreter des Innenministeriums bekräftigten jedoch, den Forderungen könne nicht entsprochen werden.134 Kurz vor Ablauf eskalierte die Situation. Gefangene zerstörten die Schlösser von Zellen und Durchgangstüren sowie eine ganze Haftabteilung. Auf dem Hof zündeten sie ein großes Feuer an. Die Wärter hatten Angst, sich den Gefangenen zu nähern.135 In Bautzen II erklärten sich viele mit den Insassen in Bautzen I solidarisch, appellierten jedoch zur Gewaltlosigkeit. Eine ADN-Meldung, wonach es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei, führte am Morgen des 23. Januar zur erneuten Eskalation. 51 Strafgefangene traten aus Protest in einen Hungerstreik. Am 23. Januar verhandelten Regierungsvertreter mit dem Streikkomitee und sagten eine Aktenüberprüfung zu.136 Die „Sächsische Zeitung“ titelte am 24. Januar „In Bautzen I brennt die Luft“. Vier Tage später formulierte die Bezirkssynode des Ev. - Luth. Kirchenbezirkes Bautzen einen Forderungskatalog für menschlichere Lebensbedingungen im Strafvollzug Bautzen I, in dem er vor allem um bessere Haftbedingungen ging.137 Nach der Zusage der Aktenüberprüfung entspannte sich die Lage. Am 26. Januar beschlossen die Stadtverordneten die Auf lösung von Bautzen II. Der Rat der Stadt bildete eine Kommission zur Auf lösung. Am 9. Februar diskutierte der Runde Tisch des Kreises Bautzen über das „Gelbe Elend“ 130 Bericht des Kirchenrates Lenk über die Gespräche am 18. 1. 1990 in Bautzen I. Zit. bei Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 131 Die Union vom 21. 1. 1990. 132 Vgl. MdI vom 19. 1. 1990 : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (BArch Berlin, DO 1, 52445). 133 Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ). Vgl. Sächsische Zeitung vom 20./21. 11. 1999. 134 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen ). 135 Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ). Vgl. Sächsische Zeitung vom 20./21. 11. 1999. 136 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445; Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ); Sächsische Zeitung vom 20./21. 11. 1999. 137 Frank Fiebiger, Vorsitzender der Bezirkssynode des Ev. - Luth. Kirchenbezirkes Bautzen vom 27. 1. 1990 : Forderungskatalog für menschlichere Lebensbedingungen im Strafvollzug Bautzen I ( UB Grohedo ).

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und Möglichkeiten der Reformierung des Strafvollzuges. Er beschloss einstimmig, zur Gründung einer Gesellschaft zur Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Bautzener Gefängnissen nach 1945 aufzurufen.138 Am 19. März konstituierte sich ein Runder Tisch Bautzen I, paritätisch besetzt mit Vertretern der Bürgerinitiative, Gefangenenvertretern und Anstaltsmitarbeitern. Von hier aus erging ein „Ruf aus Bautzen“ zur Verbesserung der Haftbedingungen.139 Am 28. März kam es fast erneut zum Aufstand von 33 Strafgefangenen, die mit Brandflaschen gegen die Verschleppung der Bestrafung der ehemaligen Parteiführung sowie eine mögliche Amnestie für MfS - Angehörige protestieren wollten. Das konnte verhindert werden. Am 31. März fand in Bautzen die Gedenkveranstaltung anlässlich des 40. Jahrestages der Gefangenenrevolte 1950 statt, über die Medien und Fernsehen berichteten.140 Nun gründete sich ein „Bautzenkomitee“ zur Aufklärung von Verbrechen in Bautzener Gefängnissen nach 1945.141 Am Karnickelberg und im Gelände des Hundezwingers wurde mit der Ausgrabung von Massengräbern begonnen.142 Im Laufe des Jahres 1990 wurden alle zu unrecht Inhaftierten aus dem „Gelben Elend“ entlassen. Im September erfassten neue Gefangenenproteste für eine Amnestie 20 der insgesamt 38 Vollzugsanstalten der DDR. Bautzen I blieb auch nach der Wiedervereinigung bestehen und wurde vom Land Sachsen übernommen. Bautzen II existierte als Außenstelle des „Gelben Elends“ bis 1992. Dann wurden die letzten Gefangenen nach Bautzen I überführt. Im Zuge der Umgestaltung des Strafvollzuges wurde die Anstaltsleitung in Bautzen I abgelöst, einige Bedienstete wurden entlassen. Gewaltandrohungen Seit Mitte Januar befand sich die Regierung nach Aussagen Modrows „in einer sehr kritischen Situation“. Es gab Serien von Gewalttätigkeiten, die sich vor allem gegen die SED - PDS und das MfS richteten. Pro Tag gingen bis zu zwanzig Bombendrohungen ein.143 Tatsächlich gab es eine latente Gewaltbereitschaft, die aber auch Ende Januar durch in Sicherheitspartnerschaft organisierte Demonstrationen unterdrückt werden konnte. Sie zeigte aber, in welche Richtung die Entwicklung mancherorts hätte gehen können, hätten nicht Bürgerrechtler, Vertreter der Parteien und vor allem auch die Kirchen immer wieder ihr Postulat nach Gewaltlosigkeit wiederholt. Hier einige Beispiele für die Art der Gewalt138 Neues Forum, Kreissprecherrat, an ADN, vom 13. 2. 1990 : Gründung einer Gesellschaft zur Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ( ebd.). Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 54). 139 Vgl. Wer reinging, riskierte sein Leben ( PB Ronny Heidenreich ); Sächsische Zeitung vom 20./21. 11. 1999. 140 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 30.3. und 3. 4. 1990. 141 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 2. 4. 1990. 142 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 10. und 21./22. 4., 8. und 14. 6. 1990. 143 Modrow, Aufbruch und Ende, S. 63–65.

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bereitschaft: In Dresden wurde ein ehemaliger SED - Funktionär gewaltsam bedroht.144 In Pirna gab es mehrere Gewaltandrohungen gegen das Volkspolizeikreisamt durch einen betrunkenen Gaststättenleiter.145 In Plauen trat das Ratsmitglied für Finanzen und Preise wegen anonymer schriftlicher Morddrohungen zurück.146 Dem Bürgermeister der Gemeinde Brünlos (Stollberg) wurde mit Sprengung seines Hauses gedroht.147 In Zschopau zertrümmerten Unbekannte die Fensterscheiben des Ortsbüros und des Kreisvorstandes der SED PDS.148 In Hoyerswerda gab es eine Bombendrohung gegen das Centrum Warenhaus.149 In Weißwasser erhielt ein ehemaliger Angehöriger des MfS den Drohbrief einer angeblichen „Kampfgruppe zur Liquidierung der Stasi“.150 Umgekehrt gab es auch Drohungen gegen Vertreter der neuen demokratischen Kräfte. In Zittau erhielt Pfarrer Heinz Eggert Morddrohungen wegen seiner Mitarbeit im Untersuchungsausschuss gegen Korruption und Amtsmissbrauch.151 Hansjörg Weigel vom Königswalder Friedenskreis erhielt im Januar eine Morddrohung: „Was wir brauchen, sind Todesschwadronen, die euch Konsorten die Dächer über dem Kopf wegbrennen. Dieser Tag wird kommen. Sie sind ja im Ort hinreichend bekannt.“152 5.4

Ex - Blockparteien im beginnenden Wahlkampf

Westausrichtung, Differenzierungen, Bündnissuche Bereits im Laufe des Januars nahmen die politischen Auseinandersetzungen immer mehr Wahlkampfcharakter an. Parallel zur Paralysierung der gesetzgeberischen Handlungsfähigkeit und dem Zusammenbruch staatlicher Autorität auf allen Ebenen gewannen die Parteien und Bewegungen an Kontur. Der Wahlkampf begann am Rande der Demonstrationen. Die Parteien trugen ihn ins Demonstrationsgeschehen hinein. Sie reagierten damit auf die sich dort vollziehenden Polarisierungsprozesse und drückten diese selbst aus. In verschiedenen Orten lösten sich die Koordinierungsgruppen für Demonstrationen und Kundgebungen auf. Deren Vorbereitung und Durchführung ging nun mehr und mehr in die Hand von Parteien und Gruppen über. Neben Demonstrationen und Parteikundgebungen wurden Veranstaltungsreihen organisiert, bei denen sich mehrere Parteien vorstellen konnten. Die Teilnahme von Vertretern bundesdeutscher Parteien machte dabei eine Besonderheit deutlich: Es handelte sich bereits 144 145 146 147 148 149 150

Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445. Vgl. ebd., DC 20, 11351. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 4. 1. 1990. Vgl. BArch Berlin, DC 20, 11350. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 19. 1. 1990. Vgl. MdI vom 3. 2. 1990 : Info ( BArch Berlin, DC 20, 11351). Kampfgruppe zur Liquidierung der Stasi in Gablenz und Kromlau vom 10. 1. 1990. Urteil im Namen des Volkes ( ebd., DO 1, 52445). 151 Vgl. Eggert, Von der Kanzel, S. 39. 152 Weigel, Man wandelt nur, was man annimmt, S. 164.

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um einen gesamtdeutschen Wahlkampf, der zwar vor allem, aber nicht mehr nur in der DDR ausgetragen wurde. Das war insofern wenig verwunderlich, ging es doch auch bei den Zielen nicht nur um DDR - Lösungen, vielmehr war die Hauptforderung aller Demonstrationen die staatliche Einheit Deutschlands. Die politischen Kräfte der Bundesrepublik waren also direkt gefragt, wollten sie die Strukturen des künftigen Deutschland und die Wege dorthin nicht allein Akteuren aus der DDR überlassen. Mit Blick auf die angestrebten politischen Verhältnisse richteten sich sowohl die früheren Blockparteien als auch neue Parteien und Gruppierungen am bundesdeutschen Parteiensystem aus. Die politische DDR - Landschaft polarisierte sich gemäß bundesdeutscher Vorlage. CDU und LDPD profilierten sich Schritt für Schritt als Filialen der Bonner Parteien, und es gründeten sich neue Parteien, die sich von Anfang an als Teil gesamtdeutscher Parteien verstanden. Im Bereich der Parteien bildete sich in Ansätzen eine neue gesamtdeutsche Landschaft heraus. Indem die Bonner Parteien die Arena des DDR - Wahlkampfes betraten, vollzog sich aber auch der Übergang von der Phase direkter zu repräsentativer Demokratie. Die Entscheidung der DDR - Bevölkerung für die staatliche Einheit und das bundesdeutsche System wurde von vielen Bundesbürgern im Sinne einer Überlegenheit der Westdeutschen missverstanden. Die Folge war, dass einige von ihnen, so Pfarrer Meinel, „mit typisch westdeutscher Arroganz“ auftraten und so taten, „als wüssten sie alles“. Aber auch bisherige Bündnisse in der DDR zerbrachen durch die Ausrichtung am sich abzeichnenden Parteiensystem. In Klingenthal spaltete sich die Bürgerinitiative BIK, nachdem sich Aktivisten den Parteien anschlossen.153 Aus Sicht des Bundeskanzleramtes konnte Chancengleichheit der Parteien in der DDR nur hergestellt werden, indem neue oder gewandelte Parteien „von den Parteien der Bundesrepublik massiv unterstützt“ würden.154 Dabei wurden auch bundesdeutsche Differenzen in den Osten übertragen, etwa in der Beurteilung der Ex - Blockparteien. Diese entsprachen keinen differenzierten Analysen, sondern waren bereits selbst Teil des Wahlkampfes. Vor dem Bundestag erklärte z. B. Horst Ehmke, eine Unterstützung der Blockparteien liefe auf einen „Akt gegen die Demokratiebewegung“ hinaus. Die „wirkliche Scheidelinie“ verlaufe zwischen alten und neuen Parteien.155 Egon Bahr, der Vordenker bevorzugter und enger Beziehungen der SPD zur SED, schob nach, bei den Wahlen werde es zu einer Abrechnung mit „den Parteien, die dafür verantwortlich sind“ kommen. Es werde eine Auseinandersetzung geben: „Alle neuen gegen alle alten.“156 Eduard Lintner (CSU) verwies hingegen darauf, dass viele Mitglieder der SPD in der DDR, wie etwa Parteichef Ibrahim Böhme, früher SED - Mitglieder gewesen waren. Norbert Blüm (CDU) konterte, bei der von der SPD vorgenommenen Einteilung 153 Protokoll der Aussage Pfarrer Meinels im Pfarrhaus Schneeberg vom 17. 8. 1998 ( Ev. Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ). 154 Teltschik, 329 Tage, S. 122. 155 Auf dem Weg zur deutschen Einheit I, S. 288 f. 156 Bahr, Die Internationalisierung, S. 128.

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gehöre die SPD, die immer nur mit der SED kooperiert habe, zu den alten Kräften.157 Natürlich setzte die SPD auf einen Sieg bei den Volkskammerwahlen und suchte nach Argumenten vor allem gegen die Ex - Blockparteien CDU und LDPD. In ihnen sahen viele Menschen in der DDR Überbleibsel einst gesamtdeutscher Parteien, mehr aber noch durch SED - Zwang verzerrte Abbilder bundesdeutscher Parteien. Im Wahlkampf überlagerten sich nun ost - und westdeutsche Deutungsmuster und Politikstile. Vor allem Anhänger einer eigenständigen DDR wehrten sich gegen das Engagement „ausländischer“ BRD - Parteien. Das betraf neue Gruppen in Sachsen aber kaum, begrüßten doch auch hier Mehrheiten den Weg in Richtung staatliche Einheit. Unter dem Einfluss neuer politischer Kräfte forderte z. B. der Runde Tisch des Bezirkes Dresden die Volkskammer am 11. Januar auf, den Passus im Wahlgesetzentwurf über das Verbot materieller und finanzieller Unterstützung aus dem Ausland zu streichen.158 Allerdings löste die Entwicklung unter den neuen Gruppen Differenzierungsprozesse und Strategiedebatten aus. Alternativ diskutiert wurden vor allem entweder eine rasche Wiedervereinigung oder ein längerer Erhalt der Eigenständigkeit einer demokratisierten DDR, die Konstituierung zur Partei oder die Weiterarbeit als Bürgerbewegung und schließlich entweder der Anschluss an bundesdeutsche oder der Erhalt bzw. die Schaffung eigener DDR - Parteien. Wie würde man in der künftig gesamtdeutschen Parteienlandschaft bestehen und politische Interessen durchsetzen können? Eine Zusammenkunft von Vertretern der neuen politischen Kräfte im Januar 1990 im Dresdner Kulturpalast spiegelte den Streit über den richtigen Weg wider. Einig war man sich, dass es für kleinere Gruppierungen schwierig sein würde, Mehrheiten zu gewinnen. Vaatz sprach von einer kommenden Dominanz des bundesdeutschen Parteiensystems, an dem man sich orientieren müsse. Schnur schlug hingegen die Schaffung einer großen ostdeutschen Oppositionspartei vor, die Sammelbewegungen wie das Neue Forum oder den DA zusammenfassen sollte.159 Vaatz machte dagegen geltend, dass eine solche Partei im Westen kaum Fuß fassen würde. Sinnvoller sei es, sich den bundesdeutschen Parteien anzuschließen. Schnur und Eppelmann wiesen diese Argumentation zurück und sprachen sich für eine deutschland - , ja europaweite Ausdehnung der DDR - Gruppierungen aus.160 Der Januar war geprägt von der Suche nach Bündnispartnern im Wahlkampf.161 Auf DDR - Ebene bemühten sich die sechs oppositionellen Parteien und politischen Bewegungen SDP, DA, Neues Forum, DJ, VL sowie IFM zunächst, ein „Wahlbündnis 90“ zu bilden. Sie erklärten Anfang Januar, zu den 157 Auf dem Weg zur deutschen Einheit I, S. 293. 158 Protokoll der 4. Sitzung des RTB Dresden vom 11. 1. 1990 ( PB Matthias Rößler ). 159 Unklar ist, ob dieser Plan noch der Intention des MfS entsprang, die neuen Gruppierungen so kontrollieren und ( dank Schnur ) unterwandern zu können. 160 Arnold Vaatz beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A. Vgl. Hans Geisler ebd. 161 Vgl. Thayssen, Der Runde Tisch 2, S. 292.

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Volkskammerwahlen gemeinsam antreten zu wollen, um „die bisher regierenden politischen Kräfte abzulösen“.162 Konrad Weiß bekräftigte, dass man nicht nur gegen die SED antreten wolle, die mit ihrer Kampagne versuche, die Opposition in die rechte Ecke zu stellen, sondern auch gegen die CDU, die sich „durch ihre nationalistischen und nationalen Tendenzen zu sehr im Aufwind“ befinde. Ebenso distanzierte sich das Bündnis von der LDPD, die versuche, mit „Wirtschaftsversprechen“ Wähler zu gewinnen.163 Freilich löste sich die SDP/SPD bald aus diesem Bündnis. Hier hoffte man, im Alleingang zur stärksten politischen Kraft in der DDR aufsteigen zu können und den Prozess der Wiedervereinigung maßgeblich zu lenken. In Sachsen gab es aber auch vielerorts Bündnisse neuer politischer Kräfte mit Ex - Blockparteien. In Leipzig gab es Ende Dezember einen Aufruf zum entsprechenden Wahlbündnis, um so die völlige Entmachtung der SED - PDS bei den kommenden Wahlen zu sichern.164 In Oelsnitz wurde Mitte Januar ein Wahlkampfbündnis zwischen führenden Mitgliedern des Neuen Forums, der Bürgerinitiativen Oelsnitz, Bad Elster und Adorf, sowie der Parteien SPD, LDPD, CDU, NDPD und DBD im Kreis diskutiert. So wollte man eine Restaurierung der SED - Strukturen verhindern. In Adorf wurde am 13. Januar ein Wahlkampfbündnis aus Bürgerinitiative, CDU, DA, LDPD und NDPD vereinbart.165 Auch in Plauen vereinbarten Vertreter aller Ex - Blockparteien, des Neuen Forums, der SDP und der Grünen Partei eine demokratisch - oppositionelle Wahlplattform gegen die SED - PDS mit dem Ziel, jede Art von Koalition mit ihr zu verhindern.166 Ebenso wurde in Grünhain (Schwarzenberg) eine lokale Bürgerinitiative aus SPD, CDU, LDPD, NDPD und Wahlbündnis 90 gegen die SED - PDS gebildet.167 Ähnliche Bündnisse gab es auch in anderen Kreisen. Sie zeigten, dass das von der Bonner SPD postulierte Gegeneinander von neuen Kräften und Ex - Blockparteien in den sächsischen Regionen nicht den Tatsachen entsprach. Vielmehr gab es gemeinsame Anstrengungen um Demokratie bemühter Kräfte, die SED - PDS an ihren politischen Zielen zu hindern. Das war aus Sicht der Bonner SPD - Oberen, die sich noch wenige Monate zuvor im Dialog mit der SED über gemeinsame Werte befunden hatte, schwer nachvollziehbar, wenn es denn überhaupt wahrgenommen wurde. Daneben gab es auch Bündnisse bisheriger Blockparteien untereinander. Im Kreis Löbau erklärten CDU, DBD, LDPD und NDPD gemeinsam, man sei nicht verantwortlich für die Fehler der ehemaligen Parteiführungen und forderten die Zerschlagung des Machtmonopols der SED/PDS.168 Im Kreis Hainichen berie162 Flugschrift „Einigkeit macht stark !“ Wahlbündnis ’90 : SPD, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, o. D. ( SLUB, 1 D 145 Mappe SPD ). Vgl. Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 318. 163 Interview mit Konrad Weiß. In : taz vom 5. 1. 1990. 164 Für ein Wahlbündnis aller demokratischen Kräfte der Mitte in der DDR, gez. Volkmar Munder, Gunter Böhnke, Leipzig vom 31. 12. 1989 ( ABL, H. I ). 165 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 12. und 17. 1. 1990. 166 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 18. 1. 1990. 167 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 25. 1. 1990. 168 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 25. 1. 1990.

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ten die Kreissekretäre von CDU, LDPD und NDPD die Bildung einer breiten Wahlplattform in Abgrenzung zu SED - PDS.169 LDPD und FDP In der LDPD setzte sich der tiefgreifende Veränderungsprozess fort. Die Parteiführung sah sich im Januar mit verschiedenen Kritiken aus Bezirks - und Kreisverbänden konfrontiert.170 Der Politische Ausschuss benannte am 8. Januar nach einer Debatte mit den LDPD - Bezirksvorsitzenden „Eckpunkte der liberaldemokratischen Position“ und erklärte, trotz Bedenken bis zu freien Wahlen in der Regierungskoalition weiterarbeiten zu wollen. Mit Sorge stelle man fest, dass sich die SED - PDS dem Erneuerungsprozess entgegenstelle, undemokratische Strukturen nicht verändere und sogar wiederherstelle. Betont wurde die „deutliche Abgrenzung zur SED - PDS“. Vor allem wandte man sich gegen den Versuch der SED - PDS, alle nichtsozialistischen Kräfte durch ihre Kampagne gegen rechts und die Gleichsetzung von rechts und rechtsradikal zu diffamieren. Man werde nach der Wahl „keiner Regierung beitreten, der auch die SED - PDS angehört“.171 Damit reagierte die Führung auf Forderungen von der Basis, sich von der SED - PDS abzugrenzen, verbunden mit der Aufforderung, das Sekretariat des Zentralvorstandes mit Manfred Gerlach auszuwechseln.172 Freilich rissen auch nach dem Treffen die Kritiken am Kurs von Gerlach nicht ab.173 Nach Erkenntnissen des DDR - Verfassungsschutzes drängte auch FDP - Chef Genscher, Gerlach wegen der jahrelangen Propagierung des Marxismus/Leninismus nicht wieder als Vorsitzender kandidieren zu lassen.174 Mitten in der Umbruchsituation fanden überall Mitglieder versammlungen und Kreisdelegiertenkonferenzen zur Vorbereitung des für den 9./10. Februar nach Dresden einberufenen außerordentlichen Parteitages statt. Die Bezirksvorstände führten Parteibeauftragtenkonferenzen durch.175 Bei diesen Veranstaltungen formulierte die Basis Kritiken, Forderungen und Vorstellungen über den Kurs. Der Bezirksvorstand Dresden forderte Wieder vereinigung, Wirtschaftsreformen, die Länderbildung und eine Reduzierung des Militärpotenzials.176 Der Kreisverband Dippoldiswalde erklärte, künftig nicht mehr mit der SED PDS zusammenarbeiten zu wollen. Man lehnte neue Sozialismusmodelle ab und plädierte für soziale Marktwirtschaft und deutsche Einheit.177 Ein Treffen des 169 170 171 172 173 174 175 176 177

Vgl. Freie Presse, Ausgabe Hainichen, vom 2. 2. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 8. 1. 1990. Der Morgen vom 10. 1. 1990. Vgl. taz vom 10. 1. 1990. Vgl. LDPD, BV Halle : Freie, geheime und demokratische Wahlen, o. D. ( ABR Halle, 20989). Bezirksstelle des Verfassungsschutzes Frankfurt / Oder vom 2. 1. 1990 : Lage ( BStU, ZKG 128, Bl. 163). Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 8. 1. 1990. Vgl. ebd. vom 19. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 16. 1. 1990.

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Kreisverbandes Großenhain stand unter dem Motto: „LDPD – liberal im Denken, sozial im Handeln, deutsch im Fühlen!“178 In Löbau forderte der Kreisvorstand u. a. die deutsche Einheit, die Auf lösung des Verfassungsschutzes, keine künftige Regierung mit SED - PDS - Beteiligung und Privatisierungen in der Wirtschaft.179 In Sebnitz wurde kritisiert, dass der Demokratisierungsprozess „nur noch sehr zähflüssig vorankommt und Konzeptionen zur Lösung der brennenden Probleme kaum im Ansatz zu erkennen sind“. Hauptforderungen waren auch hier „Keine neuen Sozialismus - Modelle, Marktwirtschaft, staatliche Einheit“.180 Die Kreisverbände Föha und Reichenbach riefen zur Bildung einer Plattform zur Gestaltung sächsischer liberaler Politik unter Einbeziehung von FDP - Mitgliedern auf.181 In Eilenburg wurde zum Boykott der „Leipziger Volkszeitung“ aufgerufen, die trotz neuer Überschrift weiter ein Organ der SED - PDS sei.182 Die Kreissekretäre des Bezirksverbandes Karl - Marx - Stadt erklärten, die SED - PDS komme als Koalitionspartner künftig nicht mehr in Frage und forderten, zu prüfen, ob eine weitere Beteiligung an der jetzigen Regierungskoalition sinnvoll sei. Gleichzeitig wurde die Unterstützung der neuen politischen Gruppierungen betont.183 Vor allem aber ging es im Januar um Kontakte zur FDP in der Bundesrepublik wie auch zur neuen DDR - FDP. An der LDPD - Basis wurde allgemein für enge Kontakte zur FDP plädiert, sofern diese nicht bereits existierten.184 Beim Gespräch zwischen Manfred Gerlach, Wolfgang Mischnick und dem Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP - Bundestagsfraktion, Torsten Wolfgramm, ging es am 18. Januar um die Beziehungen beider Parteien. Eine liberale Allianz als Wahlbündnis für die bevorstehenden Wahlen wurde als notwenig bezeichnet und die Bildung einer gesamtdeutschen liberalen Partei, für die Gerlach den Namen „LDP“, Mischnick „FDP“ vorschlug, diskutiert. Mischnick äußerte Bedenken gegen eine Kandidatur von Wünsche und Raspe für den Parteivorsitz auf dem bevorstehenden Parteitag.185 Am 19. Januar entschied der Vorstand der LDPD mit großer Mehrheit, in der Regierung zu bleiben. Gerlach forderte Modrow auf, die durch einen eventuellen CDU - Auszug freiwerdenden Ministerposten den am Zentralen Runden Tisch vertretenen Oppositionsgruppen und - parteien anzubieten und die Opposition so an der Koalitionsregierung zu beteiligen. Die LDPD werde die Regierung nur dann weitertragen, wenn sie dort ihre Vorstellungen, unter anderem die schnellstmögliche Ver wirklichung der deutschen Einheit, durchsetzen könne.186 178 179 180 181 182 183 184

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 26. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 24. 1. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 10. 1. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 10. 1. 1990. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 18. 1. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 6./7. und 16. 1. 1990. Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 49); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 1. 2. 1990. 185 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 407. 186 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 20./21. 1. 1990.

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Bei einer Beratung der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und FDP, Kohl, Waigel und Lambsdorff, am 24. Januar, über die Gerlach berichtete, nannte es Lambsdorff die schwerste Entscheidung seiner Amtszeit, ob die FDP die LDPD unterstützen solle. Die Mitglieder der LDPD seien sich zwar beim Wunsch nach personeller Erneuerung einig mit der FDP, noch immer stehe die FDP jedoch vor dem Risiko, schließlich als einzige bundesdeutsche Partei mit einer ehemaligen Blockpartei verbündet zu sein. Lambsdorff befürwortete eine Vereinigung der DDR - FDP - Gruppen mit der LDPD, weil sich der Liberalismus nicht in verschiedene Parteien aufspalten dürfe. Allerdings sei eine „Blutzufuhr mit Unbelasteten“ unabdingbar. Es sei aber fraglich, ob die neuen FDP - Gruppen bereit seien, mit der LDPD zusammenzugehen, schließlich seien viele Mitglieder demonstrativ aus der LDPD ausgetreten, um die FDP zu gründen. Im Gegensatz zu Mischnick wandte sich Lambsdorff gegen eine Fortsetzung der Koalition in der Regierung Modrow.187 Während Gerlach noch für eine gesamtdeutsche LDP plädierte, wuchs an der Basis die Neigung, die LDPD in FDP umzubenennen. Unterdessen hatte sich bereits eine FDP in der DDR konstituiert. Vertreter der West - FDP schlugen auf Parteiveranstaltungen der LDPD immer wieder eine solche Umbenennung vor. In Thüringen vollzogen ganze Kreisverbände die Namensänderung oder beschlossen ihre Vereinigung mit der West - FDP und gelegentlich auch mit der entstehenden FDP der DDR. Auf einer Sitzung des Politischen Ausschusses der LDPD am 30. Januar forderten auch die Bezirksvorsitzende von Cottbus, Gera und Magdeburg eine Umbenennung. Kolbe berichtete, dass im Bezirk Gera bereits acht Kreisverbände einen Antrag auf Umbenennung gestellt hätten und zwei Drittel der Mitglieder die Umbenennung unterstützen würden. Gerlach plädierte hingegen für die LDP und verwies die Entscheidung an den bevorstehenden Parteitag.188 Ihre neue Unabhängigkeit unterstich die LDPD auch mit der Bildung eines bislang von der SED verbotenen Jugendverbandes, der sich seit Dezember in immer mehr Kreisen gründete.189 NDPD Wohl wegen der Parallelität des Namens und der Parteizeitung „National - Zeitung“, die ab dem 1. Februar als „Berliner Allgemeine“ erschien, sah sich die NDPD Anfang Januar auf zentraler wie auf Bezirksebene dem Drängen der bundesdeutschen NPD nach Zusammenarbeit ausgesetzt. Die rechtsextreme Partei hoffte so, in der DDR eine intakte Parteistruktur als Grundlage der eigenen Ausdehnung zu gewinnen. An ihren Bemühungen änderte auch die Tatsache nichts, 187 FAZ vom 25. 1. 1990. 188 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 425 f. 189 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 11. 1. 1990; Sächsisches Tageblatt vom 15. 1. 1990.

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dass sich die NDPD deutlich distanzierte. Erst Jahre später konnte die NPD im Osten Fuß fassen und zog in Sachsen sogar in den Landtag ein. Als wolle sie keinen Zweifel an ihrer Ausrichtung aufkommen lassen, veröffentlichte die bisherige Blockpartei NDPD am 1. Januar ihr Wahlprogramm. Darin bezeichnete sie sich als Partei der Mitte und des Friedens mit antifaschistischer Grundhaltung. Sie votierte für einen „Bund zweier unabhängiger Staaten deutscher Nation mit unterschiedlichen sozialen Ordnungen“, die Wiederherstellung der Länder, eine Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden sowie eine radikale Wirtschaftsreform.190 Obwohl sie also selbst nicht einmal die deutsche Einheit wünschte, erhielten ihre Bezirksgeschäftsstellen von der NPD Propagandamaterial zugeschickt. Nach Erkenntnissen des DDR - Verfassungsschutzes waren auch die Republikaner an der Herstellung von Kontakten zur NDPD interessiert. Hier befürchtete man eine Unterwanderung durch rechtsextreme Parteien und das Auftauchen von Delegationen auf dem bevorstehenden Parteitag.191 Das war nicht aus der Luft gegriffen, denn von Seiten der NPD wurde in sichergestelltem Propagandamaterial aufgefordert, „mit soviel Leuten wie möglich in die NDPD“ einzutreten.192 Tatsächlich kam es, wie z. B. in Erfurt, vereinzelt zu Kontakten, die vom Präsidium der NDPD und von der Parteibasis scharf verurteilt wurden.193 Auch die Kreisdelegiertenkonferenzen im Vorfeld des Parteitages machten deutlich, dass zwischen NDPD und NPD Welten lagen. Die Mitglieder forderten überall einen völligen Bruch mit der Vergangenheit, ein Ende der erzwungenen Zusammenarbeit mit der SED und eine Konföderation beider deutscher Staaten.194 Wie in Grimma ließen Mitglieder und Funktionäre keinen Zweifel am Kurs der Partei. Man verstand sich als Kraft der Mitte und distanzierte sich „sowohl von marxistischem, leninistischem bzw. kommunistischem als auch von nationalistischem und neofaschistischem Gedankengut“.195 Auf dem 14. Parteitag am 21. Januar in Berlin wurde der 49 - jährige Wolfgang Gläser zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Im Wahlprogramm bekannte sich die Partei nun zum Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands in den heutigen Grenzen in einem sich vereinigenden Europa sowie zur sozialen Marktwirtschaft. Gläser unterstrich, dass die NDPD „keine Rechtspartei, keine rechts - nationale oder national - konser vative Partei“ sei. Orientierungen wie „antifaschistisch“ und „demokratisch“ seien für eine Profilierung jedoch zu wenig. Der bisherige Vorsitzende, Hartmann, wies Vorschläge zurück, die Partei in „Neue Demokratische Partei Deutschlands“ umzubenennen. Mit Pfiffen und Buh - Rufen wurden von den Delegierten Vorschläge zum Zusammenschluss 190 Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 317. 191 Vgl. Bezirksstelle des Verfassungsschutzes Frankfurt / Oder vom 2. 1. 1990 : Lage ( BStU, ZKG 128, Bl. 162 f.). 192 Informationszentrum vom 1. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( ebd., Bl. 214 f.). 193 Vgl. Das Volk vom 11. 1. 1990. 194 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 20./21. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 16. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 19. 1. 1990. 195 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 20./21. 1. 1990.

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mit der LDPD quittiert. Prominente Mitglieder der bundesdeutschen FDP nahmen die Einladung, auf dem Parteitag zu sprechen, nicht an und schickten lediglich Beobachter. Angesichts allgemeiner Konzeptionslosigkeit wurde die Fortsetzung des Parteitages am 11. Februar beschlossen.196 Der neugewählte NDPDVorsitzende Gläser trat zwei Tage nach dem Parteitag wieder zurück und erklärte, er wolle sich nicht zur Personifizierung des rechten Flügels seiner Partei machen, wie es durch sein Schlusswort auf dem 14. Parteitag aber geschehen sei. Ingesamt zeigte die 1948 auf sowjetische Initiative zur Schwächung von CDU und LDP ins Leben gerufene NDPD im Januar starke Orientierungsprobleme. Hatte sie damals nationale Kräfte in die neu entstehende kommunistische Diktatur einbinden sollen, so fehlten ihr nun Aufgabe und Zielgruppen. Mit der NPD verband sie in der Tat nichts, als Grundstock einer demokratischen gesamtdeutschen Rechtspartei aber eignete sich die von Kommunisten ins Leben gerufene Ex - Blockpartei erst recht nicht. Ihr Niedergang war damit vorprogrammiert. DBD Auch die Lage in der DBD war im Januar vom Suchen nach einer neuen politischen Ausrichtung und nach neuen Bündnispartnern im Westen bestimmt. Auf der Kreisdelegiertenkonferenz wurden die Vertreter für den bevorstehenden Parteitag erstmals demokratisch gewählt und programmatische Forderungen aufgestellt. In Bautzen drängten die Mitglieder etwas verspätet auf eine Abkehr vom demokratischen Zentralismus. Die DBD sollte sich als Interessenvertreter der Landbevölkerung verstehen und sich für die Konkurrenzfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe stark machen. Eine Wieder vereinigung wurde hier abgelehnt.197 Anders sah es in Bischofswerda aus, wo sich bei einer geheimen Abstimmung über die Frage „Einheit Deutschlands oder weiter Eigenstaatlichkeit der DDR“ 58 von 59 stimmberechtigten Delegierten für die deutsche Einheit entschieden.198 In Großenhain stand die Kreisdelegiertenkonferenz unter dem Motto : „Mit der DBD für eine demokratische, antifaschistische, humanistische und sozial und marktwirtschaftlich orientierte DDR“. Man grenzte sich von der SED - PDS ab und plädierte für Vertragsgemeinschaft und Konföderation sowie für eine Entmilitarisierung der NATO und des Warschauer Paktes.199 In Auerbach forderten die Delegierten die Zerschlagung der Staatssicherheit, die Aufklärung des Wahlbetruges vom Mai 1989, die Überführung des Parteivermögens der SED - PDS in Volkseigentum, eine soziale Marktwirtschaft, den

196 National Zeitung vom 22. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung vom 22. 1. 1990. 197 Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 50). 198 Roland Paeßler ( Bühlau ), Erinnerungen an die Zeit der Wende und die Wieder vereinigung ( HAIT, StKa ). 199 Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 25. 1. 1990.

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Fortbestand der Genossenschaften, eine deutsche Konföderation und die Neubildung von Ländern.200 Auf ihrem außerordentlichen Parteitag am 27./28. Januar lehnte die DBD schließlich eine Koalition mit der SED - PDS nach den Wahlen ab und bekannte sich zu ihrer Verantwortung, die „falsche Politik“ der SED mitgetragen zu haben. Als Parteivorsitzender wurde mit zwei Dritteln der 970 Delegiertenstimmen Günther Maleuda bestätigt. Auch die DBD sprach sich nun für die Schaffung der deutschen Einheit, die Wiederherstellung der Länderstruktur und die Einführung einer sozialen Marktwirtschaft aus, bei der jedoch das genossenschaftliche Eigentum als „Eckpfeiler der Volksernährung“201 erhalten bleiben sollte. Seit Oktober hatten über 7 000 Mitglieder die Partei verlassen, der noch rund 117 000 Mitglieder angehörten. Kontakte in die Bundesrepublik gab es zum Bauern - Verband, den Grünen, zu Raiffeisen - Genossenschaften und zur SPD.202 Ost - CDU und West - CDU, ein schwieriges Verhältnis Auch wenn sich die politischen Gräben zwischen SED - PDS und CDU seit Dezember vertieft hatten – zwischen West - und Ost - CDU lagen weiterhin Welten. Noch bestimmten hier altgediente Funktionäre die Richtung. So beschloss das Präsidium am 6. Januar, den bisherigen CDU - Ideologen Günter Wirth, der schon in den fünfziger Jahren mit am theoretischen Rüstzeug für die Unterordnung der Partei unter die Interessen der SED gearbeitet hatte, zum Leiter einer „Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe“ im Parteivorstand zu berufen.203 Die CDUFührung unter de Maizière sprach sich ungeachtet der politischen Realitäten in Europa für eine staatliche Einheit auf neutraler Grundlage aus. Wie schon bei Jakob Kaiser sollte Deutschland zur „Brücke zwischen Ost und West“ werden.204 Mit solchen Konzepten passte die Ost - CDU trotz wachsender Konflikte recht gut in die Modrow - Regierung, in der de Maizière als stellvertretender Ministerpräsident fungierte. Aus Sicht der Bundes - CDU schien ein Ausbau der Kontakte zunächst deswegen nicht so dringlich, weil die Ost - CDU, „und somit auch wir als CDU, in den neuen Ländern gar keine Chance“ zu haben schienen. Ab Januar, so Kohl, wurde ihm aber „langsam klar, dass irgendwann Neuwahlen kommen, auch wenn wir noch nicht genau wussten, wann. Klar war, dass die Modrow - Regierung kei200 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 24. 1. 1990; Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 119. 201 DBD - Parteitag. In : Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990, S. 5. 202 So der Vorsitzende der DBD - Volkskammerfraktion, Michael Koplanski in Stimme der DDR vom 26. 1. 1990. In : Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 38. 203 Protokoll der Präsidiumssitzung des HV der CDU vom 6. 1. 1990 ( ACDP, VII - 011– 3510). 204 Grundsätze für das Programm der CDU. Vgl. Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 48.

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ne Regierung auf Dauer war. In dieser Situation haben wir überlegt, wie wir uns gegenüber der Ost - CDU verhalten. Inzwischen hatte es ja bei der CDU einen Richtungswechsel gegeben. Lothar de Maizière war Parteivorsitzender geworden. In dieser Situation haben wir gesagt, jetzt müssen wir der CDU in der DDR helfen.“ Dennoch hatte er nicht vor, sich auf die Ost - CDU festzulegen. Vielmehr baute man nun Kontakte zu verschiedenen Gruppen in der DDR auf. Hinsichtlich des Vorgehens war die Meinung im Bundesvorstand weiterhin geteilt : „Einige meinten, mit Ost - CDU - Leuten reden wir auf gar keinen Fall, andere sagten, warum eigentlich nicht ? Wieder andere meinten, wir unterstützen den Demokratischen Aufbruch. Es gab in dieser Hinsicht aber keine Strategie und auch nie eine Beschlusssituation, dass wir mit dieser oder jener Partei Kontakt halten. Es war so, dass wir einfach Kontakt aufgenommen haben.“205 So wurden Verbindungen zur CDU - Basis in der DDR unabhängig vom Parteivorstand aufgebaut. Rühe vereinbarte mit den CDU - Landesgeschäftsführern am 10. Januar, die Zusammenarbeit mit Parteien und oppositionellen Gruppen in der DDR, darunter auch die Ost - CDU, auf Länder - und regionaler Ebene zu organisieren.206 Ganz in diesem Sinne wurde z. B. bereits am 7. Januar zwischen den CDU - Kreisorganisationen in Recklinghausen und Bitterfeld der erste CDU - Kontakt auf Kreisebene hergestellt.207 Ein entscheidender Hinderungsgrund für Beziehungen zur Führung der OstCDU blieb deren Beteiligung an der Regierung Modrow. Darüber kam es während des gesamten Januar zu heftigen Auseinandersetzungen.208 Seit Anfang Januar forderten Kohl und Rühe die Ex - Blockpartei auf, die Regierungskoalition zu verlassen, einen Schlussstrich unter die Zusammenarbeit mit der SED zu ziehen und sich an die Seite der Opposition zu stellen.209 Im Hauptvorstand der Ost - CDU unterstützte Generalsekretär Martin Kirchner diesen Kurs.210 Er provozierte eine Auseinandersetzung, als er ohne Absprache mit de Maizière erklärte, seine Partei werde den Austritt aus der Regierung beschließen und so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.211 Rühe kommentierte Kirchners Vorstoß, die Ost - CDU gehe damit „in letzter Minute“ den entscheidenden Schritt und folge dem Votum der Reformer in den eigenen Reihen. Er forderte die Ost - CDU auf, „jetzt mit ihrer Vergangenheit zu brechen und sich ganz an die Seite der Opposition zu stellen“.212 Es zeigte sich aber, dass die Führung der Ost - CDU die von Kirchner vertretene Haltung Kohls nicht teilte. Am 17. Januar bezeichnete de Maizière Kirch205 206 207 208 209

Interview mit Helmut Kohl am 12. 3. 2003. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 11. 1. 1990. Vgl. DA, 23 (1990), S. 325. Vgl. Richter, Die Entwicklung der Ost - CDU, S. 241–244. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 105; Die Welt vom 9. 1. 1990; Frankfurter Rundschau vom 12. 1. 1990. 210 Vgl. Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 265 f. Kirchner war wichtiger IM des MfS. Unklar ist, worauf sein politisches Wirken zu diesem Zeitpunkt basierte. 211 Vgl. FAZ vom 18. 1. 1990. 212 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. 1. 1990.

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ners Äußerungen als „ungedecktes, verfrühtes Vorpreschen“, auch wenn viele Mitglieder einen Regierungsaustritt befürworteten. Die CDU müsse sich aber ihrer „Verantwortung für ein weiterhin regierbares Land, für lebensnotwendige Ordnung und Versorgung, für ungefährdete Vorbereitung freier Wahlen“ stellen.213 Die CDU sei „für das Unheil mitverantwortlich“ und könne sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen. Zum anderen rechnete er damit, dass nach der CDU auch die anderen Parteien die Regierung verlassen und die DDR damit in ein Chaos geraten würde, in dem die Organisierung freier Wahlen unmöglich werden könnte.214 Mit ihrer Haltung stand die Ost - CDU nicht allein. Am Zentralen Runden Tisch bekräftigten Vertreter aller Ex - Blockparteien am 18. Januar ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der Koalitionsregierung.215 Modrow betonte vor dem Ministerrat seinerseits die Notwendigkeit des Erhalts der Regierungsfähigkeit sowie einer „nationalen Koalition der Vernunft“ und appellierte, zur Stabilität der DDR beizutragen.216 In der Ost - CDU eskalierte der Streit, als Kirchner am 19. Januar im Präsidium des Hauptvorstandes einen Misstrauensantrag gegen de Maizière einbrachte. Das Präsidium sprach sich daraufhin mehrheitlich für einen Verbleib in der Regierung aus. Ein kurzfristiger Austritt solle aber erfolgen, wenn es zum grundsätzlichen Dissens in der Regierung komme.217 Damit war auch für Kohl und Rühe klar, „wer das Sagen in dieser Partei hatte“.218 Die Basis der Ost - CDU war in dieser Frage gespalten. So forderte der gerade gegründete Landesverband Thüringen am 20. Januar, die Regierung Modrow zu verlassen und in der Volkskammer in die Opposition zu gehen. Kirchner schloss zunächst seinen Rücktritt nicht aus,219 gab allerdings am nächsten Tag nach und erklärte, trotz abnehmender Gemeinsamkeiten trete man für eine „Große Koalition des Übergangs“ ein.220 Die Pläne, die Partei mit Hilfe Kirchners auf West - Kurs zu bringen, waren gescheitert, allerdings war deren Führung durch den Streit so polarisiert, dass Schorlemmer polemisch von der „de Maizière - CDU“ und der „Kirchner - CDU“ sprach.221 213 8. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 18. 1. 1990, Info Nr. 2 : Erklärung des Vorsitzenden der CDU zu den Äußerungen des Generalsekretärs Martin Kirchner (ACDP, Runder Tisch ). 214 Zit. bei Nina Grunenberg, Politik war eigentlich nicht vorgesehen. In : Die Zeit vom 19. 9. 1991. 215 8. Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 18. 1. 1990, Unterlagen ( ACDP, Runder Tisch ); Ergebnisse der 8. Sitzung des Rundtischgespräches vom 18. 1. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 60–76. 216 Beschluss des Ministerrates der DDR 10/1.a /90 vom 18. 1. 1990 : Einschätzung zur Lage und Auswertung des Runden Tisches ( BArch Berlin, C 20, I /3–2897, Bl. 39–42). 217 Protokoll der Präsidiumssitzung des HV der CDU vom 19. 1. 1990 ( ACDP, VII - 011– 3510). 218 Schäuble, Der Vertrag, S. 43. 219 Vgl. Berliner Zeitung vom 22. 1. 1990; Welt am Sonntag vom 21. 1. 1990. 220 9. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 22. 1. 1990, Mitteilung 9/10 ( ACDP, Runder Tisch ). 221 Vgl. Müller, Die Konziliare Bewegung, S. 58.

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Der CDU - Bundesvorstand stellte nun die Zusammenarbeit in Frage. Rühe meinte, die Ost - CDU sei endgültig „ins politische Abseits“ gegangen. Ihre Entscheidung beeinträchtige „auf’s Schwerste die Kontaktmöglichkeiten zu uns, zur CDU - Deutschlands“. Trotz dieser klaren Worte waren die Meinungen im Bundesvorstand jedoch weiterhin gespalten. Heiner Geißler meinte, man solle die Vorbehalte gegen die Ost - CDU ablegen, da kein Weg an einer Zusammenarbeit vorbeiführe. Eberhard Diepgen warnte vor öffentlichen Zensuren und äußerte Verständnis für die Haltung de Maizières. Für die CSU bezeichnete es Waigel als „schlimm“, dass die Ost - CDU „sich auch jetzt nicht aus der Umklammerung der SED lösen“ könne. Es gelinge ihr nicht, die Rolle der Blockpartei abzuschütteln. Die CSU werde sich bei ihrer Unterstützung oppositioneller Kräfte auf die DSU konzentrieren und nicht drei oder vier Partner unterstützen.222 5.5

SED - PDS zwischen Verbot und Kontrolle ( ca. 15.–24.1.)

Während sich Ex - Block - und neue Parteien profilierten, nahmen Mitte Januar die Forderungen nach einem Verbot der SED - PDS zu. In Plauen rief die „Initiativgruppe zur demokratischen Umgestaltung“ zur Aktionseinheit gegen die SED - PDS auf und forderte deren Verbot. Die „Bedrohung von Genossen“, so kommentierte das „Neue Deutschland“, gehöre hier „beinahe zum Alltag“.223 Neben den MfS - Objekten wurden zunehmend auch Einrichtungen der SED PDS kontrolliert. Aktenvernichtung und die symbiotische Verflechtung von SED und MfS sowie erste Informationen über die Rolle der Einsatzleitungen beim Vorgehen gegen die Demonstranten im Herbst 1989 waren dafür die Hauptgründe. In der SED - Kreisleitung Döbeln wurden Versiegelungen vorgenommen, nachdem Akten gefunden worden waren, welche die Zuarbeit des MfS für die SED belegten.224 In Geithain versiegelte das Bürgerkomitee nach dem Verdacht der Aktensäuberung Unterlagen, Räume und technische Geräte der SED - PDS Kreisleitung.225 Auch in Großenhain,226 Borna,227 Delitzsch228 und in anderen Kreisstädten wurden Kaderunterlagen und Archivmaterialien versiegelt. Oft verbanden sich Kontrollmaßnahmen mit Untersuchungen von Korruption durch

222 Vgl. Volker Rühe und Theo Waigel in Welt am Sonntag vom 21. 1. 1990. 223 Neues Deutschland vom 10. 1. 1990. Vgl. Informationen des BMB 2 vom 26. 1. 1990, S. 4 f.; Ev. - Luth. Pfarramt ( Johannes Gebhardt ) an Sächsische Staatskanzlei vom 13. 3. 1999, Anlage 7 ( HAIT, Plau - G1). 224 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 9. 1. 1990. 225 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 16. 1. 1990. 226 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 20./21. 1. 1990. 227 Vgl. Protokoll vom 5. 1. 1990 ( PB Hartmut Rüffert ). Protokoll über die Sichtung der Dokumente der ehemaligen Kreiseinsatzleitung vom 11. 1. 1990 ( ebd.). 228 Vgl. Zusammenstellung wichtiger Ereignisse von 1989/90 ( Stadtverwaltung, Museum Schloss Delitzsch ).

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Kreisfunktionäre.229 Auch in kleineren Orten wie in Schlettau ( Annaberg - Buchholz ) konnten Aktenvernichtungen manchmal verhindert werden.230 Vielerorts wurde die SED - PDS auch mit Forderungen nach einer Übergabe von Immobilien konfrontiert. In Freital wurde verlangt, das Gebäudes der SEDPDS kostenlos an das Gesundheitswesen zu übergeben.231 In Werdau protestierten die Ex - Blockparteien gegen eine Umbenennung der bisherigen SED Kreisleitung in „Haus der Parteien und Massenorganisationen“, obwohl die SED - PDS weiterhin über die Hälfte der Räume nutzte, und forderten eine Überführung in Volkseigentum nach Plauener Vorbild.232 Die SED - PDS wies entsprechende Forderungen gemäß den Vorgaben des Parteivorstandes in der Regel zurück. In Borna meinte die SED - PDS, die Forderungen nach ihrer Enteignung erinnere an die von KPD und SPD im Jahre 1933.233 Das Neue Forum protestierte daraufhin dagegen, „an die Seite damaliger faschistischer Machthaber“ gestellt zu werden. Das sei „der demagogische Versuch der SED - PDS, mit allen Mitteln Rechtsradikalismus immer und jedem in unsinnigster Weise zu unterstellen, um somit von der eigenen stalinistischen Vergangenheit in dieser Partei abzulenken und gleichzeitig diese zu restaurieren“. Es gehe nicht um Enteignung, sondern um Aufklärung der Eigentumsverhältnisse.234 Im „Neuen Deutschland“ hatte Lothar Bisky am 2. Januar erklärt, es werde hinsichtlich des Eigentums der Partei keine Verzichtspolitik geben. Vier Tage später bekräftigte Gysi den Anspruch seiner Partei auf das SED - Eigentum. Niemand in der Partei fühle sich legitimiert, über das Eigentum von etwa 1,5 Millionen Parteimitgliedern „selbstherrlich durch Verzicht zu entscheiden“.235 Auch Modrow unterstützte den Kurs seiner Partei durch Maßnahmen der Eigentumssicherung. So hatte er bereits Anfang Dezember entschieden, von der KoKo für SED - Funktionäre gebaute Eigenheime den Mietern zu Spottpreisen anzubieten.236 Am 14. Dezember hatte seine Regierung den Verkauf von Häusern an ihre ehemaligen Besitzer beschlossen, die sich in der Rechtsträgerschaft der „Versorgungseinrichtung des Ministerrates“ ( VEM ) befanden.237 Der Verkauf der Immobilien lag weitgehend in der Hand des MfS. Zu billigen Preisen konnten führende SED - Politiker und MfS - Mitarbeiter Häuser erwerben.238 Die entsprechenden Beschlüsse wurden ohne öffentliche Information erlas229 230 231 232 233 234 235 236 237 238

Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 13/14. 1. 1990. Vgl. Greifenhagen, Wende in Schlettau ( HAIT, StKa ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 16. und 23. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 24. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 11. 1. 1990. Neues Forum Borna : Erklärung zum Gebäudekomplex des SED - PDS - Vorstandes des Kreises Borna vom 11. 1. 1990 ( PB Hartmut Rüffert ). Vgl. Informationen des BMB 2 vom 26. 1. 1990, S. 13. Neues Deutschland vom 2./3. 12. 1989. Beschluss des Ministerrates der DDR 6/ I.8/89 vom 14. 12. 1989 über den Verkauf von Einfamilienhäusern, die sich in Rechtsträgerschaft der ehemaligen Versorgungseinrichtung des Ministerrates befinden ( BArch Berlin, C 20, I /3–2882, Bl. 85 f.). Vgl. taz vom 25. 4. 1990; Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst I, S. 76.

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sen.239 Modrow berief sich auf ein Gesetz aus dem Jahr 1972 und versorgte in der Zeit des Umbruchs und des abzusehenden Machtverlusts seine ehemaligen Kampfgefährten und verschiedene Strohmänner der SED mit Volksvermögen.240 Gleichzeitig wurde die Arbeit zur Aufklärung von Korruption und Amtsmissbrauch seitens der SED - PDS nach Kräften sabotiert. Die dafür auf DDR - Ebene eingesetzte Unabhängige Untersuchungskommission erklärte am 15. Januar, ihre Ermittlungen würden „massiv verhindert“. Es werde versucht, „Strukturen zu verheimlichen und Zusammenhänge zu verwischen“. Alle Regierungsbeauftragten zur Aufdeckung von Amtsmissbrauch und Korruption in den Bezirken seien Mitglieder der SED - PDS. Das von der Regierung Anfang Dezember eingegangene Zweckbündnis sei von dieser lediglich „zur Beruhigung der Bürger ausgenutzt“ worden.241 Sozialistische Splitterparteien bilden sich Mit Blick auf den Niedergang der SED - PDS und den beginnenden Wahlkampf konstituierten sich im marxistischen Lager weitere kleine Parteien. Eine Gründungsversammlung der Partei „Die Nelken“ bestätigte am 13. Januar in Berlin Entwürfe eines Programms und eines Statuts, die „bis zum ersten ordentlichen Parteitag der neuen marxistischen Partei der DDR“ als Arbeitsdokumente dienten. Sprecher Michael Czollek erklärte, eine Mitarbeit in der SED - PDS stehe nicht zur Debatte, weil viele Mitglieder von dort enttäuscht seien. Allerdings wolle man in Sachfragen kooperieren.242 Die Gründung der Partei erfolgte offiziell am 15. Januar, Vorsitzende wurde die Dresdner Lehrerin Brigitte Kahnwald.243 Am 16. Januar bildete sich in Berlin ein Gründungskomitee zur „Wiedergründung der Kommunistischen Partei Deutschlands ( KPD ) in der DDR“. Das Komitee distanzierte sich von der „stalinistischen Vergangenheit der SED und dem dadurch erfolgten Missbrauch der kommunistischen Ideale“.244 Am 31. Januar wurde die KPD offiziell neugegründet, Vorsitzender wurde Klaus Sbrzesny.245 Am selben Tag wandte sich die „Potenzsozialistische Volkspartei“ in einem Gründungsaufruf unter dem Motto: „Alle Potenzen des Volkes – zum Nutzen des Volkes !“ an alle sozial gesinnten christlich - demokratischen, fort239 7. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 15. 1. 1990 : Info Nr. 6 : Presseerklärung der Unabhängigen Untersuchungskommission vom 11. 1. 1990 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). 240 So der stellvertretende Präsident des Verfassungsschutzes, Peter Frisch. In : FAZ vom 13. 5. 1991. Vgl. Süß, Bilanz einer Gratwanderung, S. 603, Anm. 46. 241 7. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 15. 1. 1990 : Info Nr. 6 : Presseerklärung der Unabhängigen Untersuchungskommission vom 11. 1. 1990 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505). 242 Interview mit Michael Czollek. In : Wochenpost vom 12. 1. 1990. 243 Vgl. Neues Deutschland vom 15. 1. 1990; Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 54. 244 Berliner Zeitung vom 17. 1. 1990. 245 Vgl. Neues Deutschland vom 1. 2. 1990; Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 48 f.

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schrittlichen und volksverbundenen Kräfte.246 Eine wirkliche Konkurrenz zur SED - PDS stellten diese Splittergruppen zu keinem Zeitpunkt dar. 5.6

Neue Parteien und Gruppierungen im beginnenden Wahlkampf

Von der SDP zur SPD In der Berliner Kongresshalle am Alexanderplatz fand vom 12. bis 14. Januar die erste Landesdelegiertenkonferenz der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ ( SDP ) statt, an der über 400 Delegierte der 15 Bezirksverbände teilnahmen. Zwei Tage zuvor waren Entwürfe eines Statuts und von Grundaussagen eines Programms der SDP vorgelegt worden.247 Zum Zeitpunkt des Kongresses war die SDP eher eine Intellektuellen - denn eine Arbeiterpartei. So stammten in der „Arbeiterhochburg Halle“ 90 Prozent ihrer Mitglieder aus den Reihen der Intelligenz. Statt der Arbeiter drängten immer mehr bisherige SED - Mitglieder in die Partei.248 Die Mitgliederzahlen stagnierten bereits im Januar bei etwa 15 000 bis 20 000. In Anwesenheit führender Vertreter der bundesdeutschen SPD249 wurde mit großer Mehrheit die Änderung des Parteinamens in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ ( SPD ) beschlossen und der Anspruch auf die politische und rechtliche Nachfolge der 1946 in der SED aufgegangenen SPD der SBZ erhoben. Käte Woltemath - Krogmann aus Rostock, die die Vereinigung noch selbst miterlebt hatte, brachte die Gefühle der Anwesenden mit dem Satz treffend zum Ausdruck : „Ich fordere aus dem Parteiabzeichen der SED unsere Hand, die Hand der Sozialdemokraten, zurück.“250 In Dresden war bereits am 4. Januar eine Namensänderung in SPD beschlossen worden.251 Auch anderorts, etwa im Bezirk Rostock, nannten sich die Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt bereits SPD. Aber auch hier gab es, wenn auch marginalisiert, Bestrebungen zum Erhalt der Eigenständigkeit.252 Freilich schuf der Namenswechsel „weder eine Identität der Parteien noch vergleichbare Organisationsstrukturen oder soziale Bindungen“.253 In einer „Berliner Erklärung“ bekannten sich die Delegierten zur Einheit der deutschen Nation und zum Ziel der staatlichen Einheit.254 Der Einigungsprozess müsse in den gesamteuropäischen Einigungsprozess eingeordnet bleiben. Ibrahim Böhme sprach sich für eine 246 247 248 249 250 251 252 253 254

Vgl. Berliner Zeitung vom 17. 1. 1990. Texte in Dokumentation zur Entwicklung der neuen Parteien, S. 70–79 und 80–95. Vgl. Fink, Die SPD, S. 182. Joachim Vogel, Johannes Rau, Walter Momper und Egon Bahr. Oskar Lafontaine erschien nicht. Extrablatt, Zeitung für die Bürger der DDR, Heft 1 von 1990, S. 3. Vgl. Fink, Die SPD, S. 180–185. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass Woltemath IM des MfS gewesen war. Zu Dresden vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 245–260 und 385–395. Vgl. Gutzeit / Hilsberg, Die SDP / SPD, S. 637–654. Vgl. Staritz / Suckut, Strukturwandel, S. 222 f. Protokoll der Delegiertenkonferenz der SPD in der DDR vom 12.–14. 1. 1990 in Berlin. Zit. bei Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 54.

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Neutralisierung Deutschlands aus.255 Die SPD bekannte sich zu einer sozial ökologischen Marktwirtschaft und trat für eine Anbindung der DDR - Mark an die D- Mark ein. Meckel erklärte, die SPD wolle die „Macht übernehmen, weil wir niemanden sehen, bei dem sie besser aufgehoben wäre als bei uns“.256 Die Partei schloss zugleich eine künftige Zusammenarbeit mit der SED - PDS aus. Die SPD lehnte aber nicht nur künftige Kooperationen mit den Postkommunisten ab, sie kündigte auf der Konferenz gegen die Empfehlung Walter Mompers „im Größenwahn ihrer erwarteten Machtübernahme“ das Bündnis der Opposition. Sie versuchte durch ein neuzuschaffendes Wahlgesetz sogar, Bürgerbewegungen von den Wahlen ausschließen.257 Stephan Bickhardt von Demokratie Jetzt nannte dies ein „nicht lauteres, taktisches Mittel“, das „klar auf Eigenprofilierung einer Partei“ statt auf Gesamtprofilierung der Opposition setzte. Mit der Entscheidung der SPD sei die Opposition als ein „freies Bündnis von Parteien und Bürgerbewegungen“ und damit „ein neues Modell politischer Interessenvertretung auch als Alternative zum repräsentativen System der Bundesrepublik“ erledigt.258 Statt auf Kooperation mit den DDR - Bürgerbewegungen setzte man nun auf einen engen Schulterschluss mit der bundesdeutschen SPD. Am 15. Januar bildeten beide Parteien einen gemeinsamen „Politischen Ausschuss“. Hans - Jochen Vogel erklärte, langfristig sei an eine gemeinsame SPD - Führung zu denken. In der sowjetischen Führung stieß dies auf scharfe Kritik. Kwizinkij warf Willy Brandt Einmischung in die Angelegenheiten der DDR vor.259 Für die DDR - SPD brachte die Annäherung an die West - SPD neue Probleme, weil „wesentliche Teile“ der SPD, u. a. die Jugendorganisation der SPD, das Machtmonopol der SED befürworteten.260 Andreas Bertram erinnert sich an den Besuch der ersten Juso - Delegation aus dem Westen in Connewitz, die ihnen „breit und ausführlich die Vorzüge marxistischen Denkens“ erklärt, aber „wenig Interesse an unseren Erfahrungen in der Diktatur“ gezeigt hätte.261 Vor allem aber war die Haltung Lafontaines ein Problem,262 der intensive Kontakte zur SED - Führung unterhalten hatte und eine baldige Vereinigung beider Staaten ablehnte. Nachdem er aus der Landtagswahl im Saarland am 28. Januar als klarer Sieger hervorgegangen war, führte an ihm kein Weg mehr vorbei, und es war klar, dass er der Kanzlerkandidat der SPD werden würde. Dem Zulauf zur SPD in der DDR war dies nicht dienlich. Seit dem SPD - Kongress Mitte Januar bestimmte die bundesdeutsche SPD den Wahlkampf in der DDR maßgeblich mit. Politiker wie 255 256 257 258 259 260

Interview mit Ibrahim Böhme. In : Neues Deutschland vom 23. 1. 1990. Neues Deutschland vom 15. 1. 1990. Schulz, Der „Sturm“, S. 51. Interview mit Stephan Bickhardt. In : taz vom 15. 1. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 108. Inter view mit Frank Bogisch. In : Herzberg / Mühlen, Auf den Anfang kommt es an, S. 220. 261 Bertram, Erinnerungsfetzen, S. 141–160. 262 Inter view mit Steffen Reiche. In : Herzberg / Mühlen, Auf den Anfang kommt es an, S. 200.

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Klaus von Dohnanyi, Hans Krollmann und Rudi Arndt sorgten für dessen Organisation.263 SPD - Gliederungen in der DDR wurden ab Mitte Januar aufgefordert, sich wegen organisatorischer und materieller Hilfe direkt an die zuständigen SPD - Bezirke der Bundesrepublik zu wenden.264 Sah sich die SPD in der DDR einerseits mit dem nun dominanter werdenden Lebensgefühl und den politischen Auffassungen der bundesdeutschen SPD konfrontiert, so hatte sie andererseits mit dem Problem zu kämpfen, dass immer mehr ehemalige SED - Mitglieder in ihre Reihen drängten. Der Vorstand der DDR - SPD drückte am 21. Januar die Befürchtung aus, durch den massenhaften Eintritt ehemaliger SED - Mitglieder könnte deren Glaubwürdigkeit und Identität gefährdet werden. Die Partei sah sich bereits mit Vorwürfen Rühes konfrontiert, die SPD sei von der SED unterwandert.265 Es wurde festgelegt, dass sich ehemalige SED - Mitglieder in der ersten Legislaturperiode nicht für eine Kandidatur auf allen Parteiebenen bewerben konnten. SED - Mitglieder, die die SED - PDS gerade erst verlassen hatten, sollten in den nächsten Monaten keine Anträge auf SPD Mitgliedschaft stellen können. Der Anteil ehemaliger SED - Mitglieder bei Neugründungen von Ortsverbänden sollte nicht über 30 Prozent liegen. Ende Januar betrug der Anteil ehemaliger SED - Mitglieder rund zehn Prozent.266 Bezirk Dresden : Unterdessen setzte sich der organisatorische Aufbau der SDP / SPD in Sachsen fort. Am 19. Januar konstituierte sich die SPD auf Bezirksebene.267 Im Bezirk Dresden wählten SPD - Vertreter von Kreisen und Stadtbezirken Ende Januar einen Bezirksvorstand Sachsen - Ost. Vorläufiger Geschäftsführer wurde Günter Neumann. Zu diesem Zeitpunkt hatte die SPD im Bezirk ca. 1 000 Mitglieder. In Dresden gab es einen vorübergehenden Aufnahmestopp für ehemalige SED - Mitglieder. Ausnahmen bildeten ehemalige SPD - Mitglieder aus der SED und Personen, welche die SED vor dem 7. Oktober 1989 verlassen hatten.268 Im Laufe des Januar bildeten sich in mehreren Kommunen Ortsgruppen der SPD. In Bautzen konstituierte sich am 9. Januar mit Unterstützung des Neuen Forums ein Ortsverband der SPD. In Anwesenheit des Landesvorsitzenden Gerd Dölling wurde das frühere Sprecherratsmitglied des Neuen Forums, Uwe Hörenz, zum 1. Sprecher gewählt.269 In Bischofswerda fand am 19. Januar auf Einladung des Neuen Forums eine Gründungsveranstaltung der SPD statt, zu der etwa 180 Personen erschienen.270 Am 16. Januar rief die SPD in Schmiede263 Vgl. Berliner Zeitung vom 24. 1. 1990. 264 Schreiben von Horst Niggemeier ( MdB ) an die von mir bisher belieferten Kontaktpersonen der SPD in der DDR, Datteln vom 15. 1. 1990 ( ABL, H. IV, SPD ). 265 Vgl. FAZ vom 27. 1. 1990. 266 Vgl. Berliner Stimme vom 27. 1. 1990; Fink, Die SPD, S. 182. 267 Protokoll zur Gründung einer Organisation der SPD auf Bezirksebene vom 19. 1. 1990 ( PB Mike Schmeitzner ). 268 Vgl. Beschlussvorlage betreffs Aufnahme von ehemaligen SED - Mitgliedern in die SPD vom 24. 1. 1990 ( PB Mike Schmeitzner ); Sächsisches Tageblatt vom 29. 1. 1990. 269 Vgl. Ronny, Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 43). 270 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 23. 1. 1990; Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA

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berg ( Dippoldiswalde ) bei einer Informationsveranstaltung auf, keine Splitterparteien zu bilden und sich auf die lange Tradition der SPD in dieser Gegend zu besinnen. Die Basisgruppe nannte als ihre politischen Ziele soziale Marktwirtschaft und eine Vereinigung beider deutscher Staaten im Prozess einer europäischen Friedensordnung. Die Veranstaltung kann als Gründungsakt des SDPKreisverbandes Dippoldiswalde gelten. Wahlen zu einem Kreisvorstand wurden nicht durchgeführt. Hellmuth Herrmann vertrat die Partei als 1. Sprecher bis zu den regulären Vorstandswahlen im Juli 1990. Am 19. Februar konnte der SPD - Kreisverband Dippoldiswalde ein Büro in Dippoldiswalde beziehen.271 In Dresden eskalierte am 4. Januar der Streit um den Alt - Sozialdemokraten Brenn. Die Basisgruppe Radebeul beantragte dessen Parteiausschluss. Dieser erklärte daraufhin seinen Austritt und gründete eine USDP in Sachsen, um so der „Rechtslastigkeit“ der SDP zu begegnen. Die USDP wandte sich nun gegen eine „überstürzte Vereinigung“. Die SDP hatte in Dresden die Chance verpasst, AltSozialdemokraten und Schwante - Gründer, also Vertreter des kirchlichen und intellektuellen Milieus, zusammenzuführen.272 Am 26. Januar fand eine Gründungsversammlung der SPD in Radeburg ( Dresden - Land ) statt.273 In Freital gründete sich am 9. Januar eine Basisgruppe der SDP, die sich am 15. Januar als SPD - Ortsgruppe Freital vorstellte. Sprecher und Gründer war Günter Siebert. Als Ziele nannte sie eine ökologisch orientierte Marktwirtschaft, den Erhalt der Freitaler Altbausubstanz, bessere Bedingungen im Gesundheitswesen und die Bildung starker Gewerkschaften. Am 27. Januar folgte eine Informationsveranstaltung mit SPD - Vertretern aus Oberhausen und dem Vorsitzenden des Dresdner Stadtvorstandes, Frank Heltzig.274 Mit der früheren Freitaler SPD hatte die Partei wenig zu tun. Sie war eine Partei „ohne Bezug auf die alten Traditionen, ohne Verwurzelung in den Lebenswelten der Bevölkerung, ohne Organisation, eigentlich : ohne Kopf und Basis, mithin : das Gegenteil von der alten sozialdemokratischen Stadtpartei aus den Zeiten des ‚Roten Wien‘.“ Die Partei stand hier auch in „keinerlei personeller, organisatorischer oder ideologischer Kontinuität zur alten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung des Plauenschen Grundes“. Im Frühjahr 1992 zählte sie in Freital gerade einmal 21 Mitglieder, wo sie einst rund 3 000 Mitglieder besessen hatte. Früher war die Freitaler SPD freidenkerisch orientiert und in Kirchenaustrittsbewegungen engagiert gewesen, 1989 waren es Protestanten, die die Basisgruppe gründeten.275 In Kamenz gründete eine Initiativgruppe am 6. Januar die SPD im Kreis.276 Am 18. Januar folgte

271 272 273 274 275 276

Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda 1227–1997); Große Kreisstadt Bischofswerda : Zuarbeit – Chronologie der Wende, o. D. ( HAIT, StKa ). Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 19. 1. 1990; Herrmann, Die Anfänge, S. 89–92. Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 259 f.; Interview mit Gerhard Brenn. In : Sächsische Zeitung vom 27. 8. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 25. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 16., 17. und 30. 1. 1990. Walter, Individualisten in der Diaspora, S. 98–105. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 9. 1. 1990; Kamenz 1989–1995, S. 16.

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in Königsbrück die Bildung einer SPD - Ortsgruppe.277 Im Januar wandte sich auch im Kreis Löbau eine Kreisorganisation der SPD in einem Aufruf zur Beteiligung an die Bürger.278 In Pirna erfolgte am 3. Januar auf einer ersten Vollversammlung der SDP - Mitglieder des Kreises die Gründung einer Ortsgruppe Pirna. Man bekannte sich zum sozialen und demokratischen Rechtsstaat und zur ökologisch ausgerichteten freien Marktwirtschaft und trat für eine Länderstruktur und die Einheit der deutschen Nation ein. 1. Sprecher wurde Boris König. Zur Vorbereitung einer Gründungsversammlung für einen Kreisverband wurde ein vorläufiger Vorstand gewählt. Am 12. Januar folgte die Eröffnung eines SDP - Büros in Pirna und am 15. Januar die Gründung eines SDP - Ortsvereins Heidenau. Am 26. Januar wurde schließlich eine SDP - Kreisorganisation Pirna gegründet. Michael Winkel wurde Vorsitzender. In Zittau wurde am 17. Januar ein SPD - Kreisverband gebildet und Klaus Zimmermann zum Vorsitzenden gewählt.279 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda: In Hoyerswerda fand am 4. Januar eine Gründungsversammlung der SDP des Kreises statt. 1. Sprecher wurde Dieter Tempel. Es folgten Mitgliederwerbung und der Aufbau von Organisationsstrukturen. Am 7. Januar nahmen Vertreter des Kreises an der Bezirksdelegiertenversammlung der SDP in Finsterwalde im Bezirk Cottbus teil. Am 8. Januar fand ein zweites Treffen der SDP in Hoyerswerda statt. Am 25. Januar bekannte sich der SPD Kreisvorstand öffentlich zur deutschen Einheit und zu einer ökologisch orientierten Marktwirtschaft. Es gab heftige Diskussionen über die Aufnahme ehemaliger SED - Mitglieder.280 Bezirk Karl - Marx - Stadt : Am 20. Januar wurde in Karl - Marx - Stadt ein Bezirksverband der SPD gebildet. Volker Wohlgemuth wurde zum Vorsitzenden, Matthias Wagner zum Geschäftsführer gewählt. Innerhalb des Bezirksverbandes entstanden Unterbezirke. So bildete z. B. der Kreis Rochlitz zusammen mit Karl - Marx - Stadt, den Kreisen Hainichen und Karl - Marx - Stadt - Land einen Unterbezirk.281 In Aue wählte am 5. Januar ein Ortsverband der SPD Herrn Geidel zum Vorsitzenden und führte eine erste öffentliche Mitgliederversammlung durch. Die Partei bekannte sich zu einer ökologisch - sozialen Marktwirtschaft, zu Demokratie, Pluralismus und zu den Menschenrechten.282 Im Kreis Auerbach bildeten sich Ende Januar Ortsverbände in Falkenstein und Eich.283 In Flöha stellte sich die SPD im Kreis am 31. Januar erstmals auf einer Demonstration vor.284 In Freiberg fand am 11. Januar eine Großkundgebung mit ca. 15 000 Menschen statt, bei der auch Sprecher anderer Parteien zu Wort kamen. Freiberger Sozialdemokraten forderten eine offene, demokratische Gesellschaft, 277 278 279 280 281 282 283 284

Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 23. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 13./14. 1. 1990. Vgl. Müller, Ein neuer Anfang, S. 106–110. Vgl. Tempel, Die Anfänge, S. 111–115. Vgl. Raubold, Die Anfänge, S. 132–137. Vgl. Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II ( HAIT, StKa ). Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 133. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 2. 2. 1990.

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die Teilhabe der Bevölkerung am politischen Meinungsbildungsprozess und an der Macht im Staat, eine effiziente Form des Wirtschaftens, soziale Marktwirtschaft und Ökologie sowie Änderungen der Verwaltungsstruktur im Freiberger Rathaus und in der Kreisverwaltung.285 Im Kreis Freiberg bildeten sich im Januar und Februar Ortsgruppen in Frankenberg, Ehrenfriedersdorf, Leubsdorf, Crottendorf, Claußnitz und Olbernhau.286 Im Kreis Glauchau gab es am 18. Januar einen Aufruf der SDP zur Gründung von Orts - und Kreisparteigruppen.287 In Plauen hatte bereits Ende Dezember eine Beratung zur Bildung eines Unterbezirks Vogtland stattgefunden. Ein kommissarisch berufener Vorstand führte seitdem die Geschäfte. Wie andernorts wurden die neuen Parteien und Gruppierungen auch im Kreis Plauen von den Gemeinden gebeten, sich vorzustellen. Angesichts von Vorwürfen aus der bayerischen CSU, die SPD in der DDR würde vor allem aus ehemaligen SED - Mitgliedern bestehen, bestimmte die Abgrenzung gegenüber ehemaligen SED - Mitgliedern die Diskussion. Vor allem in Plauen, wo sich die SED - PDS zunächst völlig aufgelöst hatte, gab es Befürchtungen eines Masseneintritts.288 Im Januar bildete sich auch in Reichenbach ein Ortsverein.289 In Rochlitz wurde die SPD am 26. Januar gebildet. Ein Ortsverband entstand auch in Penig / Lunzenau.290 Am 25. Januar bildete sich ein SPD - Ortsverband Zschopau.291 Bezirk Leipzig: Eine öffentliche Gründung der SDP im Kreis Altenburg erfolgte am 5. Januar.292 Die Teilnahme an der Veranstaltung (700) „richtete sich“ aus Sicht der SED - PDS „eindeutig gegen unsere Partei“.293 In Böhlen gründeten ca. 50 SPD - Mitglieder am 3. Januar den SPD - Kreisverband Borna. Am 18. Januar folgte eine erste Informationsveranstaltung der SPD in Borna.294 Informationen liegen auch über die Gründung eines Ortsverbandes in Regis Breitingen am 26. Januar vor.295 In Delitzsch konstituierte sich am 9. Januar ein Kreisverband der SDP.296 Am 17. Januar fand im Kreis Eilenburg eine erste öffentliche Versammlung der SPD statt, bei der zur Gründung von Ortsverbänden aufgerufen wurde.297 In Geithain wurde am 29. Januar ein Arbeitsausschuss des Kreisvorstandes der SPD gebildet.298 In Grimma entstand beim ersten kreisweiten SPD - Treffen am 3. Januar ein Kreisverband. Eine erste öffentliche Ver285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298

Lersow, Von der Bürgerbewegung, S. 27–40. Vgl. Häcker, Die Wiedergründung der Sozialdemokratie, S. 116–127. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 18. 1. 1990. Vgl. Kätzel, Die SPD im Vogtland, S. 128–131. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 23. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 3. 2. 1990; Raubold, Die Anfänge, S. 132–137, Lindner / Zeitler, Die Gründung, S. 138–140. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 27. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Altenburg, vom 10. 1. 1990. SächsStAL, SED - KL Altenburg, 1149, Bl. 9. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 10. und 24. 1. 1990. Vgl. Arnold, Über die Wiederentstehung, S. 240–244. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 12. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 20./21. und 30. 1. 1990. Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 1. 2. 1990.

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sammlung führte die SPD - Ortsgruppe Colditz am 24. Januar durch. Bei einer ersten Delegiertenkonferenz der SPD des Kreises am 26. Januar wählten Ortsverbände und Interessengruppen einen Kreisvorstand. Vorsitzender wurde Andreas Scholl.299 In Wurzen fand am 30. Januar eine erste Informationsveranstaltung der SPD statt. Heftig diskutiert wurde hier u. a. die Frage einer Unterwanderung durch die SED - PDS, das ökonomische Grundkonzept und die Frage von Währungsunion und deutscher Einheit. Am 1. Februar folgte die Gründung eines SPD - Ortsvereins Wurzen.300 Neues Forum : Trennung in Bürgerbewegung und „Deutsche Forumpartei“ (27. /28.1.) Während des Herbstes 1989 war das Neue Forum die mit Abstand wichtigste Oppositionsformation gewesen. Anfang des Jahres 1990 sah die Lage bereits anders aus. Das Neue Forum bekam zunehmend Konkurrenz durch andere Gruppierungen und Parteien. Zu diesem Zeitpunkt verfügte es fast überall über lokale, teilweise auch betriebliche Basisgruppen. Diese wählten Vertretungen, die in Stadtverordnetenversammlungen, Gemeinderäten sowie Kreis - und Bezirkstagen mitarbeiteten. Daneben gab es eine im Aufbau befindliche Struktur aus Fachgruppen, die sich mit Themen wie Wirtschaft, Bildung oder Umwelt befassten. In einzelnen Kreisen existierten Kreisorganisationen, die bezirkliche Sprecherräte bestimmten. Zur Zerreißprobe geriet im beginnenden Wahlkampf die Frage, ob man sich in eine Partei wandeln sollte. Hier gab es regionale Meinungsverschiedenheiten, die vor allem politischer Natur waren. Während sich die ( linke ) Berliner Sprechergruppe für eine Fortsetzung basisdemokratischer Arbeit aussprach, plädierten im Süden viele eher liberal - konservative Akteure für eine Parteibildung, um für den kommenden Wahlkampf gewappnet zu sein. Vor allem im Bezirk Karl - Marx - Stadt waren im Dezember bereits die Weichen in Richtung einer Parteibildung gestellt worden. Hier trat die Deutsche Forumpartei wie z. B. in Limbach - Oberfrohna ( Karl - Marx - Stadt - Land ) Anfang Januar in Erscheinung.301 Auch im benachbarten Thüringen setzten sich regionale Gruppen einer Forum - Partei aktiv für Wiedervereinigung und eine enge Anlehnung Thüringens an Bayern ein.302 Hier wurde die Partei maßgeblich vom bayerischen Landtagsabgeordneten Otto Zeitler unterstützt und übernahm ihr Parteiprogramm fast durchweg von der CSU.303 Gegen die Ankündigung, sich am 27. Januar, also während der Gründungsversammlung des Neuen Forums in Berlin, in Karl - Marx - Stadt DDR - weit als 299 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 9.1., 31.1. und 9. 2. 1990. 300 Vgl. SPD - Ortsverein Wurzen, Neuaufbau der SPD im Raum Wurzen - Grimma - Oschatz ( HAIT, Wu - A5). 301 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt - Land, vom 3. 1. 1990. 302 Interview mit Bernd Kunzmann ( Dresdner Delegierter ). In : taz vom 8. 1. 1990. 303 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 11. 1. 1990.

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„Forum Partei“ zu konstituieren, wandte sich der Landessprecherrat. Es sei „ein Irrtum zu glauben, dass Demokratie vor allem viele Parteien benötigt“. Eine Parteiendemokratie könne nur durch Bürgerkritik lebendig bleiben. Die Karl - MarxStädter Initiatoren würden aus der „phantasielosen Panik“ heraus handeln, nur mit einer Partei politische Interessen durchsetzen zu können. Das Ergebnis werde eine profilschwache Splitterpartei sein, die gegenüber den bestehenden Parteien keine Überlebenschance habe, dafür aber das Neue Forum schwäche.304 Bärbel Bohley erklärte, hinter dem Wunsch nach Bildung einer Partei stehe die Ansicht, „das Volk sei mehrheitlich schafmäßig veranlagt und müsse gelenkt und geleitet werden“.305 Auf einem Landesdelegiertentreffen am 6./7. Januar in Leipzig sprachen sich die meisten Akteure für ein Fortbestehen des Neuen Forums als Bürgerbewegung aus. Vor allem Dresdner Vertreter trugen erneut den Gedanken einer Parteigründung vor, der aber mehrheitlich abgelehnt wurde. In Dresden gab es eine Mehrheit von ca. 70 Prozent für eine Parteigründung. Die Delegation reiste daraufhin ab und nahm an der Gründungsveranstaltung der „Deutschen Forumpartei“ ( DFP ) in Karl - Marx - Stadt teil. Der Dresdner Delegierte Bernd Kunzmann erklärte die starke Strömung für den Erhalt als Bürgerinitiative mit der andauernden Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Andere Gruppen, die bereits mit der Vorbereitung von Parteigründungen begonnen hatten, reisten erst gar nicht zur Landesdelegiertenkonferenz an. Dadurch waren die Kräfte, die für eine Parteigründung plädierten, in Leipzig nicht repräsentativ vertreten.306 So beschlossen die Delegierten mehrheitlich ein Statut, in dem sich das Neue Forum als „eine unabhängige politische Vereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die Demokratie in allen Lebensbereichen durchsetzen wollen“ bezeichnete. Es sollte sich als Bürgerbewegung in Basisgruppen organisieren, Regional( Kreis - ), Bezirks - ( Länder - ) sprecherräte und einen Republiksprecherrat zur „vereinten politischen Meinungsäußerung“ bilden, parteilose Kandidaten für alle Volksvertretungen aufstellen, ein Wahlbündnis und eine Koalition mit anderen demokratischen Gruppen und Parteien eingehen und beim Wahlverfahren Personenwahl gegenüber Parteienwahl bevorzugen. Nur für den Fall, dass das Neue Forum durch das Wahlgesetz an der Wahlbeteiligung als politische Vereinigung gehindert werden sollte, müsse ein außerordentliches Republikforum über eine Parteigründung entscheiden.307 304 Gegen eine Spaltung des Neuen Forums, Berlin vom 3. 1. 1990. Für den Arbeitsausschuss des Landessprecherrates : Bärbel Bohley, Ingid Köppe, Sebastian Pflugbeil, Reinhard Schult, Klaus Wolfram ( ABL, H. XIX /4). Vgl. Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 23 f. 305 Interview mit Bärbel Bohley. In : taz vom 8. 1. 1990. 306 Interview mit Bernd Kunzmann. In : taz vom 8. 1. 1990. Vgl. Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 37. 307 Beschlüsse des Landesdelegiertentreffens des Neuen Forums vom 6./7. 1. 1990 ( HAIT, Grim - A7). Vgl. Neues Forum vom 27. 1. 1990 : Gründungskonferenz, Rechenschaftsbericht ( ABL, H. XIX /4).

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Ein Sofortprogramm forderte die Regierung auf, „politische und wirtschaftliche Entscheidungen bis zu den Wahlen nur nach Konsultationen und umfassender Information der Oppositionsgruppen“ zu treffen. Die Delegiertenkonferenz verabschiedete einen Aufruf zu einer Demonstration am 15. Januar „gegen die Restaurationspolitik der SED und ihres Sicherheitsapparates“. Sie forderte „sichtbare Schritte bis zum 20. Januar“ im Hinblick auf die „tatsächliche Auf lösung“ des MfS, die Offenlegung des SED - Vermögens sowie die Eröffnung des Verfahrens gegen Mitglieder der ehemaligen SED - Führung. Nach dem Leipziger Treffen wandte sich der Dresdner Sprecher des Neuen Forums, Arnold Vaatz, mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, die nochmals Unterschiede zur Haltung der Berliner Initiativgruppe verdeutlichte. Das Neue Forum Dresden plädierte darin für einen zügigen Weg zur staatlichen Einheit im Sinne einer Konföderation. Die Siegermächte wurden aufgefordert, sich der staatlichen Einheit nicht entgegenzustellen. „Der schlimme Beitrag des Vertrages von Versaille zur politischen Radikalisierung in Deutschland und zum Aufstieg Hitlers sollte“, so Vaatz, „den Siegermächten als Beispiel dafür dienen, wie mit den Interessen und der Identität des besiegten Volkes besser nicht umgegangen werden sollte.“ Ein neutralisiertes Deutschland solle seine Souveränität in den Nachkriegsgrenzen erhalten.308 Nicht nur hier, auch in den meisten regionalen Gruppen des Neuen Forums gab es vor allem hinsichtlich der deutschen Frage Meinungsverschiedenheiten mit der Berliner Initiativgruppe. So stellte u. a. das Neue Forum des Kreises Reichenbach ausdrücklich einen Dissens fest und benannte die staatliche Einheit in absehbarer Zeit als wichtiges Ziel.309 Daneben befassten sich viele Gruppen des Neuen Forums, die sich auch im Januar weiter bildeten, als dezentrale Form der Selbstorganisation der Bürger vor allem mit kommunalen Fragen.310 So führte z. B. das Neue Forum Altenberg ( Dippoldiswalde ) eine Gesprächsrunde im VEB Zinnerz durch, zu der viele Einwohner erschienen. Die Basisgruppe Altenberg stellte ihr Programm vor, und man diskutierte über die kulturelle Betreuung der Bürger und Urlauber, den Bau eines Kinos und eines Kinderspielplatzes, vor allem aber über das Baumsterben auf dem Kamm des Erzgebirges.311 Am 13. Januar trafen sich in Oschatz Vertreter des Neuen Forums aus neun Kreisen des Bezirkes Leipzig, um über ein gemeinsames Programm zu beraten. Bis auf die Vertreter aus Borna, wo die Basisgruppen noch keine endgültige Entscheidung getroffen hatten, stimmten die Sprecher aller Kreise „für Deutsche Einheit in den heutigen Grenzen und für eine soziale Marktwirtschaft unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse“. Damit bestätigte sich der Trend, dass sich die Gruppen des Neuen 308 Januar 1990 : Erblast und Chance – Das Neue Forum Dresden zur deutschen Frage (ABL, H. 17, Info - Blatt Nr. 1, Neues Forum Region Pirna ). 309 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 23. 1. 1990. 310 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 13./14. 1. 1990; Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 27. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 16. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 4. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 23. 1. 1990. 311 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 13. 2. 1990.

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Forums in den sächsischen Bezirken in ihrer politischen Grundorientierung meist von der reformsozialistischen DDR - Sprechergruppe in Berlin unterschieden. Die Sprecher verurteilten die „Hinhaltungs - und Verdummungspolitik der SED - PDS“, die ausschließlich der Restaurierung der eigenen Partei diene und deren Macht nach wie vor bestehe.312 Auf einer Gründungskonferenz am 27./28. Januar konstituierte sich in Berlin des Neue Forum für die gesamte DDR als basisdemokratische Bürgerinitiative. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Mitgliederzahl seit Anfang November auf etwa ein Zehntel reduziert.313 Eine Zweidrittelmehrheit der Delegierten stimmte für Basisdemokratie und eine „politische Kultur von unten“. Damit lehnte die Mehrheit eine Hierarchie und Zentralisierung ebenso ab wie Parteidisziplin und Parteiendemokratie. Angesichts der Erfahrungen mit dem SED Staat hielten es viele für falsch, Verantwortung an Parteien zu delegieren. Die Bürger sollten selbst aktiv werden und durch gemeinsame Arbeit in den Gemeinden und Einrichtungen die durch Parteipolitik unvermeidbare Polarisierung in Parteiblöcke vermeiden.314 Vertreter der Bezirke und Berlins bildeten einen Republiksprecherrat, der einen Ständigen Arbeitsausschuss wählte. Angesichts der DDR - weiten Ausbreitung war die Zeit allerdings vorbei, in der die Berliner Initiativgruppe allein die Linie vorgab. Die Versammlung offenbarte einen tiefen Riss zwischen der Berliner Minderheitsfraktion um Bärbel Bohley, Ingrid Köppe und Reinhard Schult und einer Delegiertenmehrheit vor allem aus dem Süden. Die Gruppe um Bärbel Bohley, Reinhard Schult und Ingrid Köppe sah sich sogar veranlasst zu erklären, man werde künftig als Minoritätsfraktion innerhalb des Neuen Forums aktiv werden.315 Hatte Schult noch im November 1989 „dieses CDU - Gedudel von den Schwestern und Brüdern im Osten ner vend und widerlich“316 genannt, wurde nun angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse die ablehnende Haltung gegenüber der staatlichen Einheit aufgegeben. „Unsere friedliche Revolution“, so die Programmerklärung, „verstehen wir als einen Beitrag zu mehr Demokratie in einem zukünftigen Deutschland“. Voraussetzung der deutschen Einheit sei die „praktizierte demokratische Selbstbestimmung in der DDR“.317 Auch in Wirtschaftsfragen vertraten die Delegierten inzwischen mehrheitlich sozialmarktwirtschaftliche Positionen und plädierten für eine Wirtschafts - und Währungsunion.318 Der Antrag auf eine Quotierung des Frauenanteils unabhängig vom Wahlergebnis wurde von der Mehrzahl der Anwesenden abgelehnt.319 Unter dem Einfluss der Vertreter 312 313 314 315 316 317 318 319

Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Oschatz, S. 121. Vgl. Pflugbeil, Das Neue Forum, S. 519. Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 38 f. Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 100. Vgl. Matthias Geis, Neues Forum : Keine Einheit für die Einheit. In : DDR Journal 2. Die Wende der Wende, S. 54–56. Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 102. Programmerklärung des Neuen Forums vom 28. 1. 1990. Zit. bei Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 64 f.; Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 131–138. Vgl. Lück - Jarczyk / Ostermeier, Tagungsberichte, S. 592. Vgl. DDR - Opposition : Null Bock auf Emanzen. In : DDR Journal 2. Die Wende der Wende, S. 57 f.

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aus den Südbezirken gab es eine deutliche Gewichtsverlagerung zur deutschen Einheit und zur Einführung sozial - marktwirtschaftlicher Strukturen, was einige Delegierte veranlasste, aus Protest die Sitzung zu verlassen. Immerhin aber entschied sich die Versammlung für basisdemokratische Konzepte und stellte das Neue Forum als Plattform für alle Bürger vor, „die den bestehenden Parteien die Durchsetzung einer konsequenten und basisorientierten Demokratisierung nicht zutrauen“. Das Neue Forum war nicht erst zu diesem Zeitpunkt politisch heterogen und in seiner Zielsetzung zerrissen.320 War schon die Berliner Gründungsveranstaltung von Friktionen zwischen den Lagern geprägt, so galt dies um so mehr für den Teil des Neuen Forums, der sich zeitgleich für die Bildung einer Partei entschied. Am 27. Januar gründete sich in Karl - Marx - Stadt aus Teilen des Neuen Forums für die gesamte DDR die „Deutsche Forumpartei“ ( DFP ). Vorsitzender wurde der 37 - jährige Ingenieur Jürgen Schmieder.321 In Anwesenheit von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth wurde eine Satzung und ein Programm verabschiedet, in dem sich die DFP als „Volkspartei der politischen Mitte“ christlichem, konservativem und liberalem Gedankengut verpflichtet fühlte. Als mögliche Koalitionspartner wurden zunächst CDU und DA genannt. Noch war unklar, mit wem man im Wahlkampf kooperieren sollte. Nachdem man zunächst Interesse am Beitritt zur „Allianz für Deutschland“ bekundet hatte, setzte sich schließlich, unterstützt vom Vorsitzenden Schmieder, ein stärker liberales Bekenntnis durch, das die Partei zum geeigneten Partner des „Bundes Freier Demokraten“ machte.322 Das DFP - Programm enthielt eine „klare Absage an weitere Sozialismus - Projekte, das Recht des deutschen Volkes auf staatliche Einheit und die Ausrichtung auf eine soziale, ökologisch verträgliche Marktwirtschaft“.323 Im 13 - köpfigen Bundesvorstand war Dresden mit Jörg Wildoer, Dieter Hofmann und Alexander Schintlmeister recht gut vertreten. Auch Arnold Vaatz und Harald Röthig vom Neuen Forum schlossen sich der DFP im Januar zunächst an und setzten sich hier für ein Wahlbündnis mit der CDU ein. Erst nachdem Schmieder, dem Rat Otto Graf Lambsdorffs folgend, ein Wahlbündnis mit der FDP favorisierte, orientierten sich die Dresdner Aktivisten an den westlichen Unionsparteien.324 Für sie blieb die Forumpartei „eine Episode von ein paar Wochen“.325 Der Beschluss des neuen Forums, sich als Bürgerbewegung und nicht als Partei zu konstituieren, führte im Süden der DDR zu zahlreichen Übertritten in die 320 Stolle, Der Aufstand, S. 201. 321 Vgl. ausführlich Urich, Die Bürgerbewegung, S. 370–378; Reum / Geißler, Auferstanden, S. 162. 322 Vgl. Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 45 f. 323 Programm der Deutschen Forumpartei beschlossen auf dem Gründungsparteitag vom 27. 1. 1990 ( ABL, H. IV, Forum Partei ). Vgl. Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 45– 47, Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen, S. 56. 324 Vgl. Interviews mit Matthias Rößler und Dieter Reinfried. In : Schmidt, Von der Blockpartei zur Volkspartei, S. 193; Interview mit Arnold Vaatz am 9. 6. 1999. 325 Interview mit Arnold Vaatz am 16. 4. 2003.

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CDU.326 In der Bevölkerung sorgte die Aufspaltung für „Verwirrung, was NF ist“.327 In den regionalen Gruppen wurden die unterschiedlichen Auffassungen diskutiert und sorgten auch hier für Polarisierungen,328 die sich in einem uneinheitlichen Bild des Neuen Forums niederschlugen und dazu beitrugen, dessen Bedeutung weiter rapide sinken zu lassen.329 Am 27. Februar gründete sich der sächsische Landesverband der DFP. Beyer wurde zum Vorsitzenden gewählt. Hier zeichnete sich ein Bruch mit den Gründern ab, denn aus dem Bezirk Karl - Marx - Stadt waren keine Delegierten anwesend. Der sächsische Landesverband ging mit einem eigenen Wahlplakat, ohne Hinweis auf den BFD, in den Wahlkampf. Die Akteure der Forumpartei in Dresden standen auch im Widerspruch zum Vorstand der DFP. Schmieder plante ein Bündnis mit LDP und FDP, was u. a. Arnold Vaatz, Jörg Wildoer und andere Mitstreiter der Bürgerbewegung veranlasste, sich der CDU anzuschließen.330 FDP (27.1.) Ihren Willen zur Eigenständigkeit von der LDPD stellten die FDP - Gruppen unter Beweis, als sich Vertreter der sechs Landesverbände am 27. Januar in Berlin zur FDP in der DDR konstituierten. Die Partei erklärte, als Kraft der Mitte, ohne Belastung aus der Vergangenheit eine ideologiefreie und moderne Politik vertreten zu wollen. Sie trat für eine baldige staatliche Einheit, soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie bei größtmöglicher Freiheit des Einzelnen und die Wiederherstellung der Länder ein. Vorsitzender wurde Bruno Menzel aus Dessau. Vertreter der Parteiführung wurden zugleich beauftragt, auf dem Sonderparteitag der LDPD im Februar über einen gemeinsamen Wahlkampf zu verhandeln. Ein Antrag gegen die Zusammenarbeit wurde mit einhundert zu acht Stimmen abgelehnt. Beschlossen wurde die Bildung eines „Länderrates“, in dem je drei Vertreter der FDP der Länder in der DDR ihren Sitz hatten.331

326 Vgl. Fink, Bündnis 90, S. 516. 327 Kurzprotokoll der Zusammenkunft des Neuen Forums Bischofswerda vom 30. 1. 1990 ( PB Hubertus Wolf ). 328 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 111–129). 329 So Lothar de Maizière. In : Neue Zeit vom 2. 10. 1992. 330 Vgl. Urich, Die Bürgerbewegung, S. 375 f. 331 Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 79 f.

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Demokratie Jetzt (20. /21.1.) und andere Gruppierungen Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt trug auch im Januar noch Züge eines „eher locker organisierten basisdemokratischen Bürgerforums“ ohne wesentliche vertikale Organisationsstrukturen.332 Auf ihrem 1. Landesvertretertreffen am 20./21. Januar in Berlin gaben rund 120 Delegierte Demokratie Jetzt eine Satzung und einen Aktionsrahmen. Die Delegierten wählten Hans - Jürgen Fischbeck, Konrad Weiß und Wolfgang Ullmann zu ihren Sprechern.333 Auch hier zeigten sich politische Risse innerhalb der Organisation. Die „etwas Konservativeren“334 in „Demokratie Jetzt“ sprachen sich für eine baldige Herstellung der deutschen Einheit aus. Daraufhin lehnte Konrad Weiß eine solche Haltung entschieden ab und erklärte seinen Austritt, um so der „Illusion einer schnellen Wiedervereinigung“335 entgegenzuwirken. Er forderte zu erklären, die Zeit für eine politische Einheit sei noch nicht herangereift. „Unter eklatähnlichen Umständen“336 wurde schließlich eine Kompromissformel ins Programm aufgenommen, die Weiß akzeptierte. Das Beispiel zeigt, wie ungeniert Symbolfiguren der Bürgerrechtsbewegung den demokratischen Meinungsbildungsprozess „von oben“ manipulierten. Mit derart herbeigeführten Richtungsentscheidungen trugen sie zur Isolierung der Gruppen von der Bevölkerung und zur politischen Marginalisierung bei. Nun hieß es, Demokratie Jetzt wende sich gegen den Versuch, „die Einheit sofort zu realisieren oder gar zu erzwingen“. Man könne sich diese aber „prinzipiell in einem neutralen Deutschland“ vorstellen. Ludwig Mehlhorn erklärte, die DDR - Demokratisierung habe sachlichen und zeitlichen Vorrang. Hatte Hans - Jürgen Fischbeck noch im Herbst eine „sozialistische Marktwirtschaft“ anvisiert, bekannte sich die Versammlung nun zur „sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft“.337 Neben den bekannteren bildeten sich in Sachsen im Laufe des Januar weitere Gruppierungen, davon die meisten im Bereich des Umweltschutzes. Am 5. Januar erhielt der „Bund für Naturschutz Sachsen, Kreisverband Grimma“ die Bestätigung seiner Anmeldung.338 In Bautzen konstituierte sich Mitte Januar die „Gesellschaft für Naturschutz und Umwelt“ (GNU).339 In Gersdorf-Möhrsdorf ( Kamenz ) entstand eine „Arbeitsgruppe Umwelt und Naturschutz“.340 Mitte Januar bildete sich in Johanngeorgenstadt in Anwesenheit des Vorsitzenden des Erzgebirgsvereines mit Sitz in Frankfurt am Main ein neuer Erzgebirgs332 Analysen, Dokumentationen und Chronik, S. 137. 333 Satzung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, beschlossen am 20. 1. 1990 ( MDA, Wende, Bürgerinitiative, Parteien ). Textauszüge abgedruckt in Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 96–102. Vgl. Wielgohs / Müller - Enbergs, Die Bürgerbewegung, S. 135; Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 27. 334 Maleck, Wolfgang Ullmann, S. 76. 335 Junge Welt vom 22. 1. 1990. 336 Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 28. 337 Zu den Einzelheiten des Programms siehe Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 29–33. 338 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 12. 1. 1990. 339 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 47). 340 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 5. 1. 1990.

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verein.341 In Zwickau sammelte eine „Demokratie - Initiative 90“ Unterschriften für eine Volksabstimmung über die Aufnahme der Volksgesetzgebung in die Verfassung.342 In Leipzig gründete sich am 6. Januar der „Bund Stalinistisch Verfolgter“.343 Der Gesamtzustand der Bürgergruppen war im Januar desolat. Programmatische Klärungsprozesse und organisatorische Strukturierungen standen erst am Anfang. Bereits am 8. Januar konstatierte Lutz Niethammer eine „Realitätsuntüchtigkeit“ der Oppositionsgruppen, deren Programme „arm an unmittelbar praktischen Vorschlägen zur Wirtschaftsreform“ seien.344 Hinzu kam, dass die neuen Gruppierungen erst nach und nach geeignete Räumlichkeiten und sonstige Arbeitsmöglichkeiten erhielten.345 CSU / FDU Im Januar setzte sich die Bildung liberal - konservativer bzw. christlich - demokratischer Parteien fort. Am 4. Januar stellte sich in Rostock die „Freie Deutsche Union“ ( FDU ) als „neue bürgerlich - konservative Partei in der DDR“ vor. Ihr 26 - jähriger Vorsitzender, Martin Wisser, erklärte, die Partei stehe in der Tradition des deutschen Liberalismus und wolle im Bewusstsein christlicher Grundsätze das öffentliche Leben im Dienste der deutschen Nation gestalten.346 Im Süden der DDR bildeten sich unterdessen weitere Gründungsgruppen für eine CSU bzw. DSU. Vertreter der CSU - , FDU - und weiterer Gruppen trafen sich am 6./7. Januar in Leipzig - Wiederitzsch und konstituierten sich zur CSU / FDU. Die neue „christlich - soziale Volkspartei der Mitte“ verabschiedete einstimmig folgenden Gründungsbeschluss : „Wir, die DSU ( Deutsche Soziale Union ), die FDU ( Freie Deutsche Union ), die Gründungsgruppe CSU - Leipzig, die Gründungsgruppe CSU - Sonneberg, die Gründungsgruppe CSU - Arnstadt, die PWD ( Partei der Wiedervereinigung Deutschlands ), die CSU - Freundesgruppe Dresden und die Junge Union Thüringen, konstituieren uns zur Partei CSU - FDU in der DDR. Die gemeinsame Gründung der CSU - FDU hat zur Konsequenz, dass diese 341 Vgl. Stadtverwaltung Johanngeorgenstadt an Sächsische Staatskanzlei vom 15. 2. 1999 (HAIT, Schwarzenberg F2). 342 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 25. 1. 1990. 343 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 22. 2. 1990. 344 Lutz Niethammer, Das Volk der massenhaften Aufsteiger und ihrer Kinder. Versuch einer historischen Wahrnehmung der laufenden Ereignisse in der DDR II. In : Frankfurter Rundschau vom 8. 1. 1990. 345 Vgl. Wirth, Die Zeit der „Wende“ in Bischofswerda. In : Flugblatt „Schiebocker Forum“ von Mai 1990 ( StA Bischofswerda, Geschichte der Stadt Bischofswerda 1227–1997); Kurzprotokoll der Zusammenkunft des Neuen Forums Bischofswerda vom 30. 1. 1990 ( PB Hubertus Wolf ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 12. 1. 1990; Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 12. 1. 1990; Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 17. 1. 1990. 346 Vgl. Berliner Zeitung vom 5. 1. 1990; DA, 23 (1990), S. 323.

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Schwesterparteien sich folgend strukturieren : CSU in Sachsen und Thüringen, FDU in Mecklenburg - Vorpommern, Brandenburg und Sachsen - Anhalt.“347 Aus dem nördlichen Teil der DDR schloss sich auch noch die „Freiheitliche Volkspartei“ ( FVP ) an. Gründungsvorsitzender wurde der Leipziger Physiker Joachim Nowack.348 Man plädierte für ein breites Wahlbündnis bürgerlicher Kräfte und hoffte, dass die „Vereinigung zur CSU / FDU ein deutliches Zeichen gesetzt hat und nun unsinnig gewordene Neugründungen ausschließt“.349 Noch aber war der Ausdifferenzierungsprozess nicht beendet. Noch vor der Abstimmung zur Parteigründung verließ der Vorsitzende der CSPD, Pfarrer Hans - Wilhelm Ebeling, die Versammlung. Als Hauptunterschied zwischen beiden Parteien nannte Ebeling die Haltung zur Oder - Neiße - Grenze, deren Endgültigkeit von der CSPD unbedingt anerkannt werde. Dem Zusammenschluss folgten in verschiedenen Orten Gründungen und Registrierungen von Ortsverbänden der CSU im Süden bzw. der FDU im Norden der DDR.350 In Dresden gab es im Umfeld der Gruppe der 20 Überlegungen, wonach „alle anständigen CDU - Mitglieder“ in die unbelastete, weil neue CSU wechseln sollten. Dadurch, so das u. a. vom katholischen Sprecher der Gruppe der 20, Herbert Wagner, erwogene Konzept, hätte es „eine große, starke, von der Basis her kommende CSU und dann noch einen Rest CDU von alten Funktionären“ gegeben. Wagner führte mit Walter Schön von der Bayerischen Staatskanzlei Telefonate, bei denen es u. a. um eine Ausweitung der CSU mit Hilfe der neuen politischen Kräfte ging.351 Am 12./13. Januar tagte in Leipzig unter Teilnahme von CSU - Chef Theo Waigel die CSU - Landesgruppe der CDU / CSU - Bundestagsfraktion. Führende Vertreter der CSU führten bei dieser Gelegenheit Gespräche mit rund 30 Vertretern der Ost - CDU, der neugegründeten CSU Sachsen / Thüringen, der CSPD und anderer oppositioneller Parteien und Gruppen. Anwesend waren u. a. der Vorsitzende des DA, Wolfgang Schnur, CDU - Vorstandsmitglied Gottfried Müller, der Mitbegründer der CSPD, Ebeling, der Vorsitzende der Ost - CSU, Joachim Nowack, sowie der Vorsitzende der FDU, Martin Wisser. An den Gesprächen waren auch Vertreter der DFP, der „Partei für die Wiedervereinigung Deutschlands“, der „Volksunion Sachsens“ sowie Repräsentanten von Kirchen und Handwerkern beteiligt. Insgesamt trafen sich mehr als Hundert liberal - konser vative Gruppen und Einzelpersonen an einem Runden Tisch im Hotel Merkur. Waigel erklärte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit christlich konser vativ geprägten Parteien und Gruppen, schloss aber auch eine Zusammenarbeit mit der Ost - CDU nicht aus, sofern diese sich aus ihrer „babyloni347 Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 51. 348 Vgl. Weilemann u. a., Parteien im Aufbruch, S. 33 f. 349 Freie Deutsche Union ( FDU ) ( Rostock ) vom 8. 1. 1990 : Presseerklärung, gez. Thomas Roloff, Vorstandssprecher. In : Schmidtbauer, Tage 2, S. 94 f. 350 Antrag auf Zulassung der „Christlich Sozialen Union in Thüringen“ vom 18. 1. 1990 beim VPKA Saalfeld / Bezirk Gera ( BArch Berlin, DO 1, 52445). Vgl. Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 51. 351 Interview mit Herbert Wagner am 4. 2. 2003.

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schen Gefangenschaft“ bei der SED löse.352 Ziel der CSU war die Fusion aller Gruppen und Akteure zu einer Partei, die der CSU nahe stand, sich aber hinsichtlich des Namens von ihr unterschied. Die CSU favorisierte die Bildung einer „Deutschen Sozialen Union“ ( DSU ), um durch den Namensunterschied das authentische bayerische Lokalkolorit der CSU zu erhalten. In der CSU - Führung war das DSU - Projekt umstritten. Theo Waigel und Peter Gauweiler, Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium, unterstützten die Idee. Der bayerische Innenminister, Edmund Stoiber, lehnte das „DSU - Abenteuer“ hingegen als „politischen Unsinn“ und Abenteuer ab. Mit seiner Sichtweise stand er nicht allein, ähnliche Stimmen gab es auch in der Bayerischen Staatskanzlei. Stoiber setzte auf der Suche nach neuen politischen Kräften, die der CSU nahe standen, auf Kontakte zu ursprünglichen, nicht vom Westen geformten Bürgerbewegungen wie der Dresdner Gruppe der 20.353 Anfang Januar traf er sich mit deren Vertretern und schickte ihnen drei Computer und einen Pkw, ohne dies aber je mit einer direkten Anfrage zu verbinden, politisch in Richtung CSU zu gehen.354 Später hinderten die Sonderbeziehungen zur DSU die bayerische CSU an intensiveren Kontakten zur Regierungsverantwortung tragenden CDU in Thüringen und Sachsen. Am 16. Januar berieten führende Politiker der CDU / CSU im Kanzleramt über Pläne einer „Allianz gegen den Sozialismus“, die sowohl gegen die SED PDS als auch gegen die SPD antreten sollte.355 Dabei hatte Kohl keine Bedenken gegen die Etablierung einer CSU im Süden der DDR,356 freilich war er darüber nicht gerade begeistert. „Bis dahin“, so Kohl, „gab es in der alten Bundesrepublik ein Kräfteparallelogramm CDU / CSU mit bestimmten Gewichten auf der Waage. Jetzt kamen 17 Millionen Einwohner aus der DDR in das wiedervereinte Deutschland, und damit haben sich schon rein rechnerisch die Zahlen verschoben. Deswegen machte die CSU dann einen Versuch, mit der DSU in der DDR Fuß zu fassen und sozusagen, dass was ich im Bundesgebiet verhindert hatte, die Ausdehnung der CSU nach dem Kreuther Beschluss, doch noch zu erreichen. Kreuth war ja sehr stark an mir gescheitert, weil sie nicht den Mut hatten, eine offene Auseinandersetzung zu führen. Jetzt versuchten sie es über die Hintertür. Ich muss ganz offen sagen, ich war darüber überhaupt nicht erfreut, aber es regte mich auch überhaupt nicht auf. Mir war völlig klar, dass daraus nicht viel wird. Der ganze bayerische Reiz der CSU war nicht auf die DDR übertragbar.“357 Dies galt um so mehr, als sich die CSU - Führung entschloss, statt einer CSU das DSU - Konzept zu favorisieren.358 352 Vgl. Welt am Sonntag vom 14. 1. 1990; Neue Zürcher Zeitung vom 17. 1. 1990. 353 Vgl. Interview mit Arnold Vaatz am 16. 4. 2003. 354 Vgl. Steffen Heitmann und Arnold Vaatz beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A.; Richter / Sobeslavsky, Die Gruppe der 20, S. 201. 355 So CDU - Sprecher Andreas Fritzenkötter. In : Süddeutsche Zeitung vom 18. 1. 1990. 356 Vgl. Münchner Merkur vom 28. 6. 1990; Die Welt vom 12. 7. 1990. 357 Interview mit Helmut Kohl am 12. 3. 2003. 358 So Peter Schmalz. In : Die Welt vom 12. 7. 1990.

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DSU - Gründung (20. /21.1.) Am 20./21. Januar schlossen sich unter dem Einfluss der bayerischen CSU in Leipzig folgende christlich - konservative Basisgruppen und Parteien zur „Deutschen Sozialen Union“ ( DSU ) zusammen :359 „Christlich Soziale Union“ ( CSU), „Freie Deutsche Union“ ( FDU ), „Freie Demokratische Union Deutschlands“ (FDUD ), „Forum - Partei - Thüringen“ ( FPT ), „Partei der Wieder vereinigung Deutschlands“ ( PWD ), „Fortschrittliche Volkspartei“ ( FVP ), „Christlich - Soziale Partei Deutschlands“ ( CSPD ), „Deutsche Friedensunion“ ( DeFU ), „Deutsche Freiheitsunion“, „Vereinigte Union Sachsens“ ( VUS ), „Thüringische Friedensunion“, „Sozial - Bürgerliche Union“ ( SBU ), „Christlich - Demokratisch - Soziale Union“ ( CDSU ), „Christlich - Soziale Vereinigung“ ( CSV ), „Forumpartei“ und „Volksunion Sachsens“ ( VUS ).360 Die DSU - Gründung erfolgte in der Gaststätte „Goldene Krone“ in Leipzig. Beteiligt waren 25 Personen, die mit Unterstützung der CSU und des Leiters Innenpolitik des Konrad - Adenauer - Hauses, Heiner Lueg, das DSU - Grundsatzprogramm ausarbeiteten.361 Es basierte auf dem CSPD - Parteiprogramm, dem wiederum das Programm der West - CDU zugrunde lag.362 Der Vorschlag für den Namen DSU ging vom Begründer der DDR CSU, Joachim Nowack, aus.363 Jede Gründungspartei entsandte zwei Mitglieder in den DSU - Vorstand. Zum Vorsitzenden wurde mit einer Gegenstimme Hans - Wilhelm Ebeling gewählt, Generalsekretär wurde der bisherige Generalsekretär der CSPD, Peter - Michael Diestel.364 Ferner kamen Nowack, Martin Wisser, als Schatzmeister Schieck und als Geschäftsführer Thomas Lips in den Vorstand.365 Die DSU orientierte sich in den südlichen Bezirken vor allem an der CSU, während sie sich im Norden zunächst stärker an der West - CDU ausrichtete. In der DSU gab es seit ihrer Gründung unterschiedliche Auffassungen über den geeigneten Partner in der Bundesrepublik. Ebeling und Diestel erklärten zum politische Standort der DSU, sie stehe als „Schwesterpartei der CDU / CSU - Bundestagsfraktion“ zwischen der West - CDU und der CSU. Die DSU sei ausdrücklich „Partner beider Parteien“. Eine Ausrichtung nur auf die CSU wäre für die Partei deswegen nicht gut, weil in der DDR viele die West - CDU, nicht aber die CSU wählen würden. Schließlich wolle man in der ganzen DDR antreten.366 Hatten beide damit bereits von Anfang an Akzeptanzprobleme in der DSU, setzte sich mit der Anerkennung der Ost - durch die West - CDU die Ausrichtung 359 Grundsatzprogramm der DSU, Leipzig vom 21. 1. 1990, hektographiertes Material der DSU. Vgl. Fieber / Preußler ( Hg.), Deutsche Orientierungen; Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 34–37; Urich, Die Bürgerbewegung, S. 365–370. 360 Berliner Zeitung vom 22. 1. 1990. Vgl. Musiolek / Wuttke ( Hg.), Parteien, S. 39 f. 361 Vgl. Interview mit Peter - Michael Diestel. In : Schütt, Peter - Michael Diestel, S. 40. 362 Vgl. Weiss, Die Rolle, S. 247 f. 363 Vgl. FAZ vom 16. 6. 1990. 364 Vgl. Diestel, Konservative, S. 55. 365 Vgl. Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 34. 366 Vgl. Interview mit Hans - Wilhelm Ebeling. In : Junge Welt vom 21. 2. 1990.

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auf die CSU endgültig durch. Ebeling erklärte, der Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ richte sich nur gegen die SED, da die SPD sich ebenfalls zur sozialen Marktwirtschaft bekenne. Diestel erklärte, die Partei wolle das Mitte - Rechts Spektrum besetzen und rechtsradikalen Kräften, von denen man sich distanziere, den Boden entziehen.367 Als wesentliches Ziel bezeichnete die DSU in ihrem Grundsatzprogramm, „Freiheit und Einheit für das gesamte deutsche Volk“ in den gegenwärtigen Grenzen zu erringen.368 Die DSU verstand sich als Volkspartei der liberal - konservativen und christlichen Mitte. Durch ihre Gründung sollte eine weitere Zersplitterung der oppositionelle Kräfte dieses Lagers verhindert werden. Eine Diskussion mit der Ost - CDU über ein mögliches Bündnis lehnte die DSU ab. Die Abgrenzung von der Ost - CDU galt ausdrücklich nicht für deren Mitglieder, die Mitglied der DSU werden konnten. Diestel hoffte so, die Parteibasis durch traditionell konservative Bevölkerungsgruppen wie Landwirte oder Berufssoldaten zu erweitern. Der DSU - Gründung folgte die Bildung von Landesverbänden. Die FDU wurde zum DSU - Landesverband Mecklenburg, der alle Mitglieder der CDU, LDPD und NDPD aufforderte, sich der neuen DSU anzuschließen und so „mit der verhängnisvollen Rolle der ‚Blockparteien‘ zu brechen“.369 Am 27. Januar gründete sich der Landesverband Brandenburg. Informationen gibt es auch über die Gründung eine Kreisverbandes Döbeln am 7. Februar370 und einer Ortsgruppe in Aue. Deren Mitglieder hatten sich zunächst im Neuen Forum engagiert, standen in Kontakt zum CSU - Kreisverband Hof und verfolgten das „Ziel, durch konsequentes konservatives Herangehen den Bruch mit jedweder Art Sozialismus zu vollziehen“. Deutsche Einheit und soziale Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber waren die Kernpunkte ihrer an Franz Joseph Strauß orientierten Politik.371 Aber auch in den Südbezirken bekannte man sich zunächst ebenfalls zur WestCDU. DSU - Vorstandsmitglied Thomas Roloff verhandelte am 26. Januar in Bonn über den Ausbau der Kontakte sowie über Wahlkampfunterstützung und bezeichnete dabei die Beteiligung der Ost - CDU an einem konservativen Bündnis als problematisch. Zum Vor wurf, die Bonner Parteien würden sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen, erklärte er, die Parteien der Bundesrepublik stünden in Verantwortung für das ganze deutsche Volk.372 Später verlor die Orientierung auf die West - CDU in dem Maße an Bedeutung, in dem die CSU die DSU als ihren alleinigen Partner in der DDR favorisierte und die Bundes - CDU Kontakte zur Ost - CDU aufnahm. Dadurch setzten sich in der DSU Politiker durch, die eine Ausrichtung an der bayerischen CSU befürworteten. Damit berührte die Gründung der DSU das Grundgefüge der deutschen 367 Vgl. Diestel, Konservative, S. 56. 368 Grundsatzprogramm der DSU, Leipzig vom 21. 1. 1990, hektographiertes Material der DSU. Vgl. Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 34–37. 369 DSU, Landesverband Mecklenburg : Erklärung. In : Schmidtbauer, Tage 2, S. 103. 370 Vgl. Plate, Döbelner Herbst ’89. 371 Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz, Teil II, vom 31. 10. 1989 ( HAIT, StKa). 372 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 1. 1990; Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 52.

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Parteienlandschaft. Bislang hatte es immer nur ein Neben - und Miteinander der beiden Schwesterparteien CDU und CSU gegeben. Nun entwickelte sich neben der Ost - CDU eine der CSU verwandte Partei außerhalb Bayerns. Damit wurde „der Kreuther Trennungsbeschluss durch die sächsische Hintertür noch einmal virulent“.373 Die DSU - Gründung setzte die Ost - CDU unter Druck, da es ihr zunächst gelang, das Negativ - Image der Ex - Blockpartei für sich in Pluspunkte umzumünzen. In Konkurrenz zur unbelasteten DSU trat die Blockvergangenheit der CDU noch deutlicher her vor und ließ die Partei als noch „linker“ erscheinen, als sie es ohnehin war. Die Führung der Ost - CDU musste sich künftig, wollte sie langfristig einen sicheren Platz im Parteiensystem behaupten, stärker um das Spektrum der christlich - demokratischen bis konservativen Wählerklientel bemühen.374 Ganz ging das Kalkül der bayerischen CSU jedoch nicht auf, weigerten sich doch einige CSU - Gruppen, sich in DSU umzubenennen. So lehnten Teile der sächsisch - thüringischen CSU einen Verzicht auf den Namen „CSU“ ab und ignorierten damit die Interessen der bayerischen CSU. Unbeirrt von der Parteienvielfalt, so die Ost - CSU, gehe die Partei der bürgerlich - konservativen Opposition weiter ihren Weg und fordere die Bevölkerung zur Bildung von CSU Ortsverbänden auf.375 Auch einzelne Verbände der FDU setzten ihre Arbeit fort und lehnten die DSU - Bildung ab.376 Wie im vogtländischen Lengenfeld ( Reichenbach ) gab es auch Fälle, dass sich Ortsgruppen der CSU im „Dachverband der DSU“ gründeten.377 In Dresden nahmen Akteure der Gruppe der 20 die DSU - Gründung zum Anlass, sich aus dem Projekt einer neuen, unbelasteten Union, wie die CSU hier angesehen wurde, zurückzuziehen. So lehnte Herbert Wagner Waigels und Gauweilers DSU - Projekt mit der Begründung ab, dass „wenn man CSU sein will, muss man sich auch CSU nennen“, auch wenn die Partei dadurch nur in Sachsen und Thüringen Chancen haben würde. Wenn man sich nur deswegen „DSU“ nenne, weil es in Diestels norddeutscher Heimat Ressentiments gegen die CSU gebe, sei eine „Missgeburt“ unvermeidlich. Trotz dieser Bedenken versuchte Diestel den über Dresdens hinaus bekannten Wagner in die sich bildende DSU einzubinden und bot ihm im Januar den Posten des Generalsekretärs der CSPD an.378 Dieser hielt sich freilich alle Optionen offen und führte sogar noch Gespräche über mögliche Wahlbündnisse der Gruppe der 20 mit der SDP. Weniger am Namen „DSU“ als an Personen machte sich die Kritik des im Neuen Forum engagierten Schriftstellers Uwe Grüning fest, der die DSU im vogtländischen Reichenbach erlebte. Ihm war die Partei „von Anfang an wenig 373 Vgl. Herles, Nationalrausch, S. 130 f.; Falter / Schumann, Konsequenzen, S. 33–45. 374 Vgl. Müller, Die Konziliare Bewegung, S. 60. 375 Vgl. Berliner Zeitung vom 23. 1. 1990; Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 51 f. Zum Programm ebd., S. 56–64. 376 Vgl. Lothar Moritz an Martin Kirchner vom 12. 2. 1990 ( ACDP, VII - 011–3513). 377 Friedrich Machold, 1989–1990. Die Wende in Lengenfelde, S. 11 ( HAIT, StKa ). 378 Interview mit Herbert Wagner am 4. 2. 2003. Vgl. Wagner, 20 gegen die SED, S. 163.

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sympathisch, weil sich in ihr nebst höchst achtbaren Leuten äußerst zweifelhafte gesammelt“ hätten. Zudem sei schon damals „eine Richtung zur Radikalität“ erkennbar gewesen.379 Noch in eine andere Richtung gingen Vaatz’ Bedenken. Er befürchtete, dass, selbst wenn es statt der DSU in der gesamten DDR nur die CSU in Bayern, Thüringen und Sachsen gebe, Sachsen und Thüringer von den Bayern „knallhart marginalisiert“ werden würden, weil diese zusammen nicht einmal so viele Mitglieder gehabt hätten wie die CSU in Bayern : „Und als CSU wären wir noch mal im Verband CDU / CSU marginalisiert gewesen, dann vielleicht noch einmal wie jetzt in Organisationen. Also wir wären sozusagen die Letzten gewesen.“ Aber auch die DSU zog er deswegen kaum in Erwägung, weil es Ebeling und Diestel waren, die „die Kommunikation zur CSU eröffneten und die als Brückenkopf der CSU hier in Sachsen“ fungierten, wobei ihm vor allem Diestel „vollkommen suspekt“ schien.380 Ungeachtet aller Bedenken wurden in München von nun an nur noch DSU - Gliederungen als Partner anerkannt. Mit der von vielen CSU - Anhängern als diskriminierend empfundenen Pflicht, sich DDR - spezifisch „DSU“ zu nennen, verprellte man in den Südbezirken zahlreiche Anhänger und stellte von Anfang an die Weichen in Richtung einer Marginalisierung. Neben den fortbestehenden CSU - Gruppen bildeten sich auch andere Unionsgruppen, die zwar keine Bedeutung erlangten, aber zeigten, dass es ein Bedürfnis gab, von der Ost - CDU unabhängige Unionsstrukturen zu etablieren. So trat auf der Montagsdemonstration am 29. Januar in Leipzig eine Gruppierung auf, die zur Gründung einer CDU / CSU in der DDR aufforderte. In dem Aufruf hieß es : „Eher zu viele als zu wenige Oppositionsparteien werben um die Wähler. Trotzdem rufen wir zur Gründung einer weiteren Partei in der DDR auf : die bundesdeutsche CDU / CSU braucht Landesverbände in der DDR !“381 Neben liberal - konservativen Initiativen gab es auch Gruppierungen, welche die Ost - CDU von links kritisierten. So informierte der ADN am 8. Januar über die Gründung der „Jungen Christlichen Demokratischen Vereinigung – DDR ’40“ ( JCVD – DDR ’40), die sich nach „marxistisch - christlich - humanitären Standpunkten aufbauen“ wollte. Ihre Ziele waren die Erhaltung einer sozialistischen DDR mit sozialer und ökologischer Marktwirtschaft, die Verhinderung der staatlichen Einheit und der Kampf gegen Neofaschismus. Die Vereinigung unterstützte die Initiative „Für unser Land“ und forderte zu mehr Toleranz gegenüber der SED - PDS auf.382 Ebenfalls im Januar bildete sich eine „Initiative Christliche Linke“, die sich den Ideen des Christentums und des Marxismus verpflichtet fühlte. Zu den 45 Erstunterzeichnern gehörten die Theologin Annemarie Schönherr, der Erfurter Propst Falcke, Professor Haustein von der Leipziger Karl - Marx- Universität, die Schriftsteller Juliane Dombrowski und Jürgen Rennert sowie der Theologe Karl - Heinrich Bieritz. Sprecher der Initiative drück379 380 381 382

Interview mit Uwe Grüning am 28. 2. 2003. Interview mit Arnold Vaatz am 16. 4. 2003. FAZ vom 31. 1. 1990. Vgl. DA, 23 (1990), S. 325.

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ten ihre Sorge aus, dass der Begriff „christlich“ in der Parteienlandschaft der DDR zum „Etikett einer bürgerlichen Moral verkommt“.383 Demokratischer Aufbruch ( DA ) Die veränderte Haltung der Führung der Ost - CDU war auch auf die veränderte Parteienlandschaft zurückzuführen. Die Ost - CDU hatte nicht nur mit der DSU Konkurrenz bekommen, auch im DA orientierten einige zentrale Akteure im Laufe des Januar darauf, sich der von der CDU nur unzureichend bedienten liberal - konser vativen Wählerklientel zuzuwenden. Dies führte allerdings zu einer Spaltung des DA in einen eher bürgerlichen und einen linken Flügel. Im DA - Vorstand setzte sich vor allem Wolfgang Schnur für eine Ausrichtung an der West - CDU ein. Am Rande einer CDU - Veranstaltung in West - Berlin erklärte er am 24. Januar, angesichts der Wahlkampfunterstützung der SPD durch die West - SPD werde er Kohl bitten, den DA zu unterstützen. Der DA verstehe sich als Partner der CDU und trete für einen Zusammenschluss der „Parteien der Mitte“ ein.384 Schnur und Oswald Wutzke verhandelten mit Kohl und informierten den Vorstand des DA nur spärlich. Schnurs Hauptkontrahent Eppelmann versuchte zunächst, eine Festlegung des DA auf die CDU zu verhindern und vereinbarte deswegen einen Termin mit Genscher, der jedoch kein Interesse an einem Gespräch zeigte.385 Am 26. Januar machte Eppelmann Front gegen Schnurs Entscheidung. Kohl dränge auf eine Bündnisstrategie, die aus wahltaktischen Gründen allein auf die bundesdeutsche Parteienlandschaft zugeschnitten sei. Der DA laufe dabei Gefahr, seine Identität zu verlieren.386 Freilich ging er nicht soweit wie andere prominente Mitglieder, den DA wegen dessen CDU - Ausrichtung zu verlassen. Anfang Januar hatten sich die Vertreter beider Flügel im Vorstand des DA noch die Waage gehalten, aber schon am 13. Januar hatten sich mehrere Mitglieder des linken Flügels des DA an einer „Umbennenungskonferenz“ in SPD beteiligt.387 In Wittenberg lösten die Mitglieder des DA unter Leitung von Pfarrer Friedrich Schorlemmer am 21. Januar ihre Vereinigung auf und traten der SPD bei. Schorlemmer und Rudi Pahnke sprachen sich explizit gegen eine schnelle staatliche Einheit aus und nannten den Zehn - Punkte - Plan Kohls „die größte Katastrophe nach Öffnung der Grenzen“.388 Schorlemmer erklärte, eigentlich gehöre er „in eine grüne Partei“, was aber sinnlos sei, weil die Grünen keine Chance hätten, Verantwortung zu über-

383 384 385 386 387

Junge Welt vom 8. 2. 1990. ZDF vom 24. 1. 1990 um 13.10 Uhr. Vgl. Eppelmann, Fremd im eigenen Haus, S. 349 f. Vgl. taz vom 27. 1. 1990. Interview mit Friedrich Schorlemmer. In : Morgenstern, 4. Ausgabe von 1990, S. 1 f. (MDA ). 388 Jäger / Walter, Allianz, S. 123 und 129 f.

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nehmen. Daher wolle er den „linken Flügel“ der SDP stärken.389 In der Schlosskirche zu Wittenberg warnte er davor, die „wunderbare Erneuerung“ und „neue politische Kultur“ in der DDR verderben zu lassen und in die „Beschimpfungs ‚kultur‘ des westlichen Wahlkampfes“ zu schliddern.390 Aber auch seine Wortwahl war hart, etwa wenn er angesichts des Wunsches der Menschen nach deutscher Einheit erklärte : „Die Primitivität des deutschen Kleinbürgers hat die politische Szene erobert.“391 In Magdeburg trat der Vorsitzende des DA, Pfarrer Gerhard Loettel aus dem DA aus, weil sich dieser der Union annäherte.392 Am 25. Januar verließen die Vorstandsmitglieder Edelbert Richter und Harald Wagner die Partei. Dem Austritt schlossen sich Mitglieder verschiedener Ortsverbände im Süden an.393 Richter hatte Ende Dezember versucht, den DA auf SPD - Kurs zu bringen. Ein Briefentwurf an die Bonner SPD - Führung, in dem auf die Nähe des DA zu sozialdemokratischen Traditionen hingewiesen wurde, fand im DA - Vorstand jedoch keine Mehrheit.394 Angesichts des unklaren Kurses verlor der DA von 60 000 Mitgliedern im Januar bis Mitte Februar ca. 20 000.395 In den DA - Verbänden der sächsischen Bezirke war die Lage unterschiedlich. In Dresden verabschiedete der DA am 4. Januar eine Erklärung, wonach er nur mit Parteien und Gruppierungen ein Bündnis eingehen werde, die sich für die staatliche Einheit in einer europäischen Friedensordnung, für soziale Marktwirtschaft mit ökologischer Ausrichtung und für ein freiheitliches System in einem demokratischen sozialen Rechtsstaat einsetzten. Am 31. Januar warb hier Arnold Vaatz noch einmal für ein Zusammengehen mit dem Neuen Forum. Die Mitglieder stimmten dem zu, hielten sich aber auch die Möglichkeit einer Fusion mit der CDU offen.396 Auf der dritten Bezirksversammlung des DA Karl Marx - Stadt wählten die Delegierten am 21. Januar Jürgen Eschrich zum Vorsitzenden, Wolf - Dieter Beyer, Rolf Brettschneider und Wieland Orobko wurden Mitglieder des Vorstandes. Erstmals wurde die Wiedereinführung von Länderstrukturen gefordert. Die Versammlung votierte für die Umbenennung des Bezirksverbandes in Regionalverband Westsachsen.397 In Leipzig war der DA stärker sozialdemokratisch ausgerichtet. Auf dem Gründungsparteitag des DA hatte ein Großteil der Vertreter aus Leipzig den Kurs in Richtung deutsche Einheit abgelehnt.398 Am 2. Januar erklärte diese Gruppe, man wolle sich auf Basis des „Leipziger Programms“ auf die SDP zu bewegen. Damit verbunden war die Aufforderung an alle öko - sozial orientierten Kräfte, sich programmatisch, struk-

389 390 391 392 393 394 395 396 397 398

Interviews mit Friedrich Schorlemmer. In : taz vom 6.1. und 9. 2. 1990. Schorlemmer, Träume, S. 146. Interview mit Friedrich Schorlemmer. In : taz vom 9. 2. 1990. Vgl. Zachhuber / Quast, Anstiftung zur Gewaltlosigkeit, S. 39. Vgl. Berliner Zeitung vom 26. 1. 1990. Vgl. Richter, Erlangte Einheit, S. 42 f. Vgl. Weilemann, Parteien im Aufbruch, S. 24. Vgl. Urich, Bürgerbewegung, S. 397. Vgl. Freie Presse vom 25. 1. 1990. Vgl. Kammradt, Aufbruch, S. 88.

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turell und personell in einer starken rot - grünen Partei zu vereinen.399 Die Leipziger Koordinierungsgruppe versuchte, einen Bruch des DA zu verhindern. Zur Vorstandssitzung am 14. Januar stellten die Leipziger in Abwesenheit von Schnur einen Misstrauensantrag gegen ihn, der aber scheiterte.400 Daraufhin erklärten u. a. Sonja Schröter und Christiane Ziller ihren Austritt und wechselten zu Demokratie Jetzt. Der so geschwächte Verband setzte für die weitere sächsische Entwicklung kaum noch Akzente. Ende Januar gab es in Sachsen drei Regionalverbände :401 Westsachsen I ( Region Karl - Marx - Stadt ), Westsachsen II ( Region Leipzig ) und Ostsachsen ( Region Dresden ). Deren Kontakte untereinander waren eher sporadisch und beschränkten sich auf wenige Treffen. Der Hauptteil der Aktivitäten spielte sich in Dresden ab, wo sich inzwischen auch Matthias Rößler im DA engagierte. Günter Kleinschmidt vom Leipziger DA erinnert sich, dass die Beziehungen unterschiedlich intensiv waren. „Zu den Mitstreitern in Chemnitz bestand ein sehr kooperatives, teilweise freundschaftliches Verhältnis“, während der Kontakt nach Dresden „sehr differenziert“ war. Neben „streitbarer Auseinandersetzung in der Sache, aber freundschaftlichen Umgang miteinander“ gab es gegenüber den Dresdnern, insbesondere bei den Mitgliedern der „ersten Stunde“, „eine Art Konkurrenz“.402 Allianz für Deutschland Als CDU - Bundesvorsitzender stand Kohl im Januar unter Entscheidungsdruck, für welche DDR - Partner er sich entschließen sollte. Da er es für „absolut notwendig“403 hielt, eine Allianz verschiedener Kräfte zu bilden, versuchte er, neue oppositionelle Gruppen mit der Ost - CDU zusammenzubringen. Nur durch eine Konzentration der Potenziale sah er hinreichende Wahlchancen,404 an einen Wahlsieg glaubte er zu diesem Zeitpunkt nicht Seiner Meinung nach konnte es nur darum gehen, ein Desaster bei den Wahlen zu verhindern.405 Am 16. Januar rief er führende Politiker der CDU / CSU ins Kanzleramt, um über eine „Allianz gegen den Sozialismus“406 zu beraten. Sie sollte sowohl gegen die SED - PDS als auch gegen die SPD antreten. Am 23. Januar sprach der CDU - Bundesvorstand über die Ost - CDU. Die meisten Vorstandsmitglieder meinten, man könne diese nicht länger ignorieren. Schäuble sprach vom „natürlichen Partner“ der Bundes- CDU. Man könne nicht die missachten, die „von ihrer Grundstruktur genauso Christliche Demokraten waren“ wie die CDU im Westen. Der Name CDU sei in der DDR unverzichtbar, weil „nur damit eine volle Identifizierung mit uns 399 400 401 402 403 404 405 406

Vgl. Bahrmann / Links, Chronik, S. 161. Vgl. Neubert, Aufbruch, S. 552. Protokoll der DA - Vorstandssitzung vom 8. 2. 1990 ( PB Matthias Rößler ). Interview mit Günter Kleinschmidt am 8. 5. 2003. Interview mit Helmut Kohl. In : Die Welt vom 30. 3. 1990. Schäuble, Der Vertrag, S. 43. Interview mit Helmut Kohl. In : Die Welt vom 30. 3. 1990. So CDU - Sprecher Andreas Fritzenkötter. In : Süddeutsche Zeitung vom 18. 1. 1990.

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und insbesondere mit dem Bundeskanzler“ möglich sei.407 Dregger relativierte die Forderung an die Ost - CDU, aus der Regierung Modrow auszutreten. Wenn es zu einer Regierung aller politischen Kräfte unter Einbeziehung der Opposition komme, sei die Bewertungsgrundlage eine andere.408 Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht und seine Finanzministerin Birgit Breuel wiesen auf die Möglichkeit hin, die Ost - CDU mit Hilfe Kirchners zu spalten. Mit dem Teil der Partei, der Kirchner folge, könne die bundesdeutsche CDU dann zusammenarbeiten. Der Vorsitzende der Exil - CDU Siegfried Dübel berichtete über Kontakte zu Kreisverbänden der Ost - CDU und erklärte, die Mitglieder in der DDR seien Christdemokraten „wie wir“. Die Spitze der Ost - CDU sei bereits weitgehend ausgewechselt und die „schwierige Ebene“ der Bezirksvorsitzenden, auf der es noch etliche „Wendehälse“ gebe, werde durch die derzeitige Gründung der Landesverbände weitgehend geklärt. Kohl, dessen Sympathien eher dem DA galten,409 widersprach denen, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem Hauptvorstand der Ost - CDU aussprachen, kündigte aber an, demnächst eine Entscheidung zu treffen. Er trug Überlegungen über ein Wahlbündnis von DSU, DA und Ost - CDU vor. Danach sollten sich die christlichen und konservativen Kräfte in der DDR zu einer Allianz zusammenschließen, was allgemeine Zustimmung fand. Kohl wollte vermeiden, sich von der Opposition vor werfen zu lassen, sein DDR - Partner kooperiere mit der SED - PDS.410 Ende Januar bemühte sich Kohl, DSU und DA von einer Zusammenarbeit mit der Ost - CDU zu überzeugen. Er sagte sogar eine Staatsreise nach Südamerika ab, um Zeit für die Vorbereitung des Wahlbündnisses zu haben411 und führte Gespräche mit Schnur, Ebeling und de Maizière. Kohl wusste um die enorme Bedeutung der Wahlen, bei denen es um nichts geringeres ging als um die Art des Weges zur deutschen Einheit. Für ihn stellten die Wahlen in der DDR bereits eine „Vor - Bundestagswahl“ mit erheblichen Auswirkungen dar.412 Freilich zeigten die gekürten DDR - Partner wenig Neigung, sich zusammenzuschließen. Diskutiert wurde zunächst ein enger Zusammenschluss der Parteien unter dem Namen „Demokratische Union Deutschlands“ ( DUD ). Der Hauptvorstand der Ost - CDU polemisierte jedoch intern gegen diesen Vorschlag. Allenfalls könne man sich zu einer „Allianz der Mitte“ zusammenfinden, wobei unklar blieb, ob dies für alle Wahlkreise zweckmäßig sei.413 Der DSU - Vorstand nannte die Beteiligung der Ost - CDU an einem konservativen Bündnis äußerst problematisch,414 und auch der Vorstand des DA votierte mehrheitlich gegen eine enge 407 408 409 410 411 412 413

Schäuble, Der Vertrag, S. 23 f. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24. 1. 1990. Interview mit Helmut Kohl am 12. 3. 2003. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 113; Volker Rühe. In : Süddeutsche Zeitung vom 25. 1. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 118. Vgl. ebd., S. 115. Protokoll der Präsidiumssitzung des HV der CDU vom 25. 1. 1990 ( ACDP, VII - 011– 3510). 414 Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 1. 1990.

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Allianz mit Ost - CDU und DSU. Erst nachdem Kohl und Rühe ihren potenziellen Ostpartnern das Horrorszenario einer politischen Isolierung und Marginalisierung vor Augen malten, wuchs die Bereitschaft zur Kooperation. Schnur erklärte bereits am 24. Januar, der DA verstehe sich als Partner der CDU und trete für einen Zusammenschluss der „Parteien der Mitte“ ein.415 Rühe forderte den DA darüber hinaus auf, sich mit der Ost - CDU zu verbünden.416 Am 27. Januar befür wortete de Maizière ein Wahlbündnis aus Ost - CDU, DSU und DA. Mit dem DA habe er darüber bereits verhandelt, Gespräche mit der DSU stünden bevor.417 Während in Leipzig der CDU - Landesverband Sachsen gebildet wurde, billigte der Hauptvorstand am 30. Januar ein Wahlbündnis aus DFP, DSU und DA mit dem Namen „Allianz der Mitte“. Aufgrund des Wahlgesetzes sei eine weitergehende Vereinigung, etwa eine Zusammenfassung der Parteien unter einem auf den Stimmzetteln erscheinenden Namen wie „Demokratische Union Deutschlands“ oder „Christlich - Demokratische Allianz“ nicht möglich.418 Im DA - Vorstand gab es aber nach wie vor Widerstände gegen eine Kooperation mit der Ost - CDU. Eppelmann stand einem Wahlbündnis mit DSU und Ost - CDU skeptisch gegenüber. Die DSU dränge auf unverantwortliche Weise auf die deutsche Wiedervereinigung, und die CDU trage Mitverantwortung für 45 Jahre politischer Entwicklung in der DDR. Allenfalls sei die Bildung eines „demokratischen Blocks der Mitte“ mit der „Deutschen Forumpartei“ denkbar.419 Außerdem sei er „eigentlich Sozialdemokrat“.420 Der Stellvertretende DA - Vorsitzende Erhart Neubert erklärte, die Mehrheit der Basis des DA sei nicht einverstanden, dass die DSU an dem Bündnis teilnehme. Der DA - Vorstand votierte mehrheitlich gegen eine enge Allianz mit der Ost - CDU.421 Auch an der Dresdner DA - Basis war das Bündnis umstritten. Hier favorisierte man die Idee, „als Summe der neuen Kräfte“, durch den Zusammenschluss von DFP, DSU und DA eine eigene Partei ins Leben zu rufen.422 In diesem Zusammenhang gab es auch Überlegungen, den bekannten Sänger Gunter Emmerlich als Kandidaten für das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten zu nominieren.423 Ungeachtet aller Widerstände setzte Rühe seine Bemühungen um eine Einigung fort.424 Am 1. Februar trafen sich de Maizière und Kirchner für die Ost CDU, Schnur und Wutzke für den DA, Ebeling und Diestel für die DSU sowie Horst Kaufmann und Jürgen Schmieder für die DFP im West - Berliner Gäste415 416 417 418 419 420 421 422 423 424

ZDF vom 24. 1. 1990 um 13.10 Uhr. Vgl. taz vom 1. 2. 1990. Vgl. Berliner Zeitung vom 29. 1. 1990. Protokoll der Präsidiumssitzung des HV der CDU vom 30. 1. 1990 ( ACDP, VII - 011– 3510). Rainer Eppelmann. Zit. in Welt am Sonntag vom 4. 2. 1990. Vgl. Süddeutsche Zeitung / Berliner Zeitung vom 2. 2. 1990. Die Welt vom 18. 1. 1990. Aussage Rainer Eppelmann. In : Welt am Sonntag vom 4. 2. 1990. Interview mit Helmut Münch am 23. 4. 2003. Er hörte zwar davon, wurde aber nicht angesprochen und hätte abgelehnt. Telef. Auskunft von Gunter Emmerlich am 15. 8. 2003. Vgl. taz vom 1. 2. 1990.

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haus der Bundesregierung. Offizielle Grundlage des Gesprächs war der auf westliches Drängen herbeigeführte Beschluss der Ost - CDU, eine „Allianz der Mitte“ mit DA, DSU und DFP anzustreben. Zwei Tage später gab der Hauptausschuss des DA mit 43 Ja - gegen 5 Nein - Stimmen seine Zustimmung zu Verhandlungen über eine „Allianz der Mitte“. Allerdings sollten die Parteien politisch unabhängig und selbstständig bleiben. Jeder Wahlkreis sollte selbst entscheiden, ob er die Allianz mit einer oder mehreren Gruppen eingehen wolle. Nachdem es zahlreiche Austritte gegeben hatte, wurde auf dieser Sitzung auch ein neuer Vorstand gewählt. Stellvertretender Vorsitzender wurde nun Bernd Findeis aus Jena. Mit Wolf - Dieter Beyer und Matthias Rößler kamen zwei Vertreter aus Sachsen in das oberste Leitungsgremium.425 Einen Tag später startete der DA offiziell in den Wahlkampf und warb für die „Allianz der Mitte“ unter Beteiligung von DFP, DSU und CDU. Schnur erklärte, das „Bündnis der politischen Mitte“ erhebe „den klaren Anspruch, die Regierung der DDR zu stellen“.426 Vor dem Rathaus von Halle stellte sich Schnur als „der künftige Ministerpräsident“ vor und erklärte, der DA trete für ein Ende aller „sozialistischen Experimente“ ein.427 Binnen kurzer Zeit hatte der Demokratische Aufbruch einen enormen Veränderungsprozess durchgemacht. Analog zu anderen erfolgreichen neuen Gruppen setzten sich hier Mehrheiten durch, die mit den ursprünglich vertretenen demokratischsozialistischen oder radikaldemokratischen Zielen nichts im Sinn hatten. Es waren vor allem Arbeiter, Handwerker und Bauern, unter deren Druck sich der DA von linken Positionen verabschiedete.428 Grundlage der letztlich vereinbarten Zusammenarbeit war die Tatsache, dass angesichts des näherrückenden Wahltermins allen Beteiligten klar war, dass sie auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen waren. Das betraf nicht nur die materielle, sondern vor allem „die politische Unterstützung im Sinne der Zugehörigkeit zu einer aus dem freien Teil Deutschlands bekannten politischen Formation“.429 Im Beisein Kohls vereinbarten Ebeling, Schnur und de Maizière in West - Berlin, zur Volkskammerwahl am 18. März im Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ anzutreten. Nicht beteiligt war die „Deutsche Forum Partei“ ( DFP ), die sich mit der LDPD und FDP über eine Fusion verständigt hatte. Am 8. Februar besprachen die Vorstände des DA und der DFP die Mitarbeit in der Allianz. Die DFP - Vertreter erklärten, sie würden sich wegen der Mitarbeit der Ost - CDU nicht beteiligen. Sie strebten vielmehr eine „2. Allianz der Liberalen“ an.430 Die Allianz erhielt nun Wahlkampfunterstützung von der Bonner CDU - Zentrale. Im 425 Interview mit Matthias Rößler. In : Kleimeier, Sachsen, S. 86. 426 Politische Erklärung „Für ein einiges Deutschland“ vom 4. 2. 1990 ( HdG, Projektgruppe Leipzig, Objekt Rasch 18). Vgl. Welt am Sonntag vom 4. 2. 1990. 427 Berliner Zeitung vom 5. 2. 1990. Im Kanzleramt wurde Schnur bereits vor der Aufdeckung seiner IM - Tätigkeit für das MfS als politisches „Leichtgewicht“ angesehen. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 154. 428 Vgl. Friedrich Schorlemmer. In : taz vom 6. 1. 1990; Meuschel, Revolution in der DDR, S. 8. 429 Schäuble, Der Vertrag, S. 44. 430 Protokoll der DA - Vorstandssitzung vom 8. 2. 1990 ( ACDP, VII - 012–3505).

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„Wahlkampfzentrum Ost - Berlin“ beriet Friedhelm Ost die Allianz in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit. In Bonn wurden inhaltliche Konzepte für den Wahlkampf erstellt.431 Für den Wahlkampf wurde der auf Kohl zugeschnittene Slogan „Kanzler der Deutschen“ beschlossen.432 Die Ost - CDU konnte nun ihre Geschäftsstellen, Zeitungsredaktionen und Verlage dem Wahlkampf der Allianz zugute kommen lassen. Die Allianz nutzte vor allem der Ost - CDU, relativierte die Zusammenarbeit mit den neuen demokratischen Kräften doch deren Blockvergangenheit. An den Runden Tischen veränderten sich durch die Kooperation die Verhältnisse. Alte und neue politische Kräfte waren Verbündete, bisherige Frontstellungen wurden hinfällig.433 Allerdings kooperierten die Partner auch nach der Bildung der Allianz nur widerstrebend. Ständig kam es zu Auseinandersetzungen, Angriffen und Behinderungen.434 So protestierte die DSU gegen Äußerungen de Maizières, wonach er im Falle eines Sieges der Allianz Ministerpräsident werde. Der DA beklagte die bevorzugte Unterstützung der Ost - CDU, obwohl überall noch alte Funktionäre in den Ämtern säßen.435 CSU - Generalsekretär Erwin Huber wiederum erklärte, die Wahlkampfhilfe der CSU gelte ausschließlich der DSU, die nicht mit der CDU in einen Topf geworfen werden wolle. Die Allianz werde nur mitgetragen, um dem Bundeskanzler seine Auftritte in der DDR zu ermöglichen.436 DSU - Generalsekretär Diestel erklärte, die DSU müsse auf Distanz bleiben und dürfe sich nicht „die schmutzige Jacke der CDU“ anziehen.437 Kohl stellte resignierend fest, dass die Zusammenarbeit sich mühsam gestalte.438 Hinzu kamen andere Probleme. Ende Januar übergab ein hoher MfS - Offizier dem BND eine Liste mit 23 Namen prominenter IM, darunter Wolfgang Schnur und Martin Kirchner.439 5.7

SED - PDS : Auf lösen oder Umwandeln ? (25.–31.1.)

Wichtig für die Stimmung in der DDR, besonders auch in der SED - PDS selbst, war der Umgang mit bisherigen Spitzenfunktionären. Er wurde als Gradmesser für den Veränderungswillen der Partei angesehen. Anfang Januar wurde der Hausarrest gegen Erich Honecker aufgehoben. Eine Ärztekommission erklärte ihn für haftunfähig. Am 15. Januar erweiterte Generalstaatsanwalt Hans - Jürgen Joseph die Strafverfahren gegen Honecker und Mielke um den Vor wurf des 431 Vgl. John, Seiters, S. 157. 432 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 115. 433 So Steffen Reiche. In : Am Tag als der Runde Tisch seine Arbeit begann. In: ORB vom 20. 12. 1994 um 20.15 Uhr. 434 Vgl. Inter view mit Lothar de Maizière. In : taz vom 7. 3. 1990; Frankfurter Rundschau vom 23. 3. 1990. 435 Protokoll der DA - Vorstandssitzung vom 8. 2. 1990 ( ACDP, VII - 012–3505). 436 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 10./11. 2. 1990. 437 Frankfurter Rundschau vom 1. 3. 1990. 438 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 167. 439 Vgl. taz vom 19. 3. 1990.

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Hochverrats und des verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses. Nach Einwänden seiner Verteidiger zeigte sich bald, dass sich die Vorwürfe, die auch gegen Mittag und Herrmann erhoben wurden, nicht halten ließen. Die Ermittler hatten Schwierigkeiten, konkrete Straftatsbestände nach DDR - Recht nachzuweisen.440 Von einer nachvollziehbaren Rechtssprechung konnte ohnehin keine Rede sein. Vollzogen von Richtern und Staatsanwälten, die bislang wichtige Stützen des Regimes gewesen waren, dienten die Prozesse weniger einer gerechten Verurteilung als dem Versuch, den Volkszorn von der Partei auf die gestürzte Führung abzulenken.441 Ebenfalls am 15. Januar wurde gegen den ehemaligen 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Halle, Politbüro - Mitglied Hans - Joachim Böhme, wegen des Verdachts der Untreue Haftbefehl erlassen. Am 21. Januar erging Haftbefehl gegen den ehemaligen Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann, den ehemaligen DDR - Bauminister Wolfgang Junker, den früheren Staatsekretär und Leiter des Sekretariats des DDR - Ministerrats, Kurt Kleinert, sowie gegen Günter Schilling wegen „verbrecherischer Untreue und Vertrauensmissbrauch“.442 Erneut wurde am 24. Januar das Ermittlungsverfahren gegen Mielke wegen seiner Schutzhaftbefehle zum 40. Jahrestag der DDR erweitert.443 Ebenso wurde der ehemalige Verteidigungsminister Heinz Keßler verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, „während seiner Amtszeit seine Dienstbefugnisse zur Begehung von Straftaten missbraucht“ ( ADN ) zu haben. Am 27. Januar folgte die Verhaftung des ehemaligen Politbüromitgliedes Joachim Herrmann. Des Weiteren ergingen Haftbefehle gegen den ehemaligen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, den früheren 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Gera, Herbert Ziegenhahn, und den ehemaligen Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Gera, Werner Ullrich. In der Nacht floh der ehemalige Sekretär des Rates des Bezirkes, G. Beier, in die Bundesrepublik.444 Honecker wurde am 29. Januar nach einer Krebsoperation in der Charité in die Untersuchungshaftanstalt Berlin - Rummelsburg gebracht. Sein behandelnder Arzt forderte die Entlassung wegen Haftunfähigkeit. Das Stadtbezirksgericht Berlin - Mitte lehnte daraufhin den Erlass eines Haftbefehles ab. Honecker wurde einen Tag später aus der Haft entlassen und beim Leiter der Hoffnungsthaler Anstalten in Lobetal, Pfarrer Uwe Holmer, privat untergebracht.445 Mitte Januar verstärkten sich die Differenzierungsprozesse in der SED - PDS. Im „Neuen Deutschland“ wurde erörtert, ob sich die Partei in die Opposition begeben sollte. Es bildeten sich Plattformen wie die „Plattform 3. Weg“ und eine sozialdemokratische Plattform.446 Die ebenfalls neugebildete „Plattform demokratischer Sozialismus“ kritisierte am 17. Januar, die Partei habe noch immer keinen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. Alte Machtpositionen würden 440 441 442 443 444 445 446

Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 171–181. So auch Rühl, Zeitenwende, S. 336. Berliner Zeitung vom 22. 1. 1990. Vgl. von Lang, Erich Mielke, S. 193. Vgl. RdB Gera, der Vorsitzende, an Hans Modrow vom 27. 1. 1990 ( ThSTAR, 31543). Vgl. KiS, (1990) 1, S. 14 f. Neues Deutschland vom 9. 1. 1990.

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verteidigt und der „demokratische Konsens der Revolution“ in Frage gestellt.447 Auf einem Treffen aller Plattformen am 18. Januar wurde vorgeschlagen, die SED- PDS solle sich unter gesellschaftlicher Kontrolle und völligem Verzicht auf ihren Besitz auf lösen. Danach sollten sich alle Gruppierungen der SED - PDS zu neuen Parteien konstituieren. Der Kreisvorstand der SED - PDS an der Humboldt - Universität hatte bereits die organisatorischen Vorbereitungen für die Gründung einer neuen Partei getroffen.448 Dass der Vorschlag nicht aus der Luft gegriffen war, zeigte die Entwicklung in Polen, wo sich die PVAP im Januar auf löste und Teile ihrer Mitglieder die „Sozialdemokratie der Republik Polen“ gründeten. Ebenfalls am 18. Januar beriet das Präsidium der SED - PDS. Dabei gingen die Meinungen darüber auseinander, ob die Partei aufgelöst werden sollte oder nicht. Ursache der Krise, so meinte man hier, sei nicht der Sozialismus gewesen, sondern dessen Deformationen „durch den Stalinismus“. Gysi sagte, er könne „nur schlecht zwischen national und nationalistisch, zwischen rechts und rechtsextremistisch unterscheiden“. Die Partei habe große Schwierigkeiten, mit der neuen Situation umzugehen. Viele Mitglieder seien enttäuscht über die unzureichenden Änderungen in der Partei.449 Am Abend des 19. Januar kam es in Ost - Berlin zu einer Demonstration der SED - PDS, bei der die Forderung der Plattformen, die Partei aufzulösen, zurückgewiesen wurde. Eine „Initiativ - Gruppe PDS“ trat für den Erhalt der Partei und ihre Transformation zur „Partei des demokratischen Sozialismus“ ohne SED - Anhängsel ein. Die Gruppe plädierte für eine Erneuerung der DDR, welche „die fortgeschrittenen Errungenschaften moderner bürgerlicher Gesellschaften in sich aufnimmt, ohne den Umweg über den Kapitalismus zu nehmen“.450 Unter den Initiatoren waren „auffällig viele ehemalige und jetzige Mitarbeiter politischer Apparate“ der SED und der FDJ.451 Am nächsten Tag kam es zu einer spontan einberufenen Versammlung Hunderter Vertreter der Berliner Parteibasis der SED - PDS. Hier wurde erneut über eine Auf lösung und über eine radikale Erneuerung der Partei diskutiert.452 In einer über den ADN verbreiteten Erklärung sprachen sich die Plattform Dritter Weg, die Sozialdemokratische Plattform, die Plattform Demokratischer Sozialismus, die Plattform WF ( Werk für Fernsehelektronik ) sowie die Kreisvorstände der Akademie der Wissenschaften und der Humboldt - Universität Berlin für eine Auf lösung aus. Der Regierung Modrow sprachen die Unterzeichner „bis zum 6. Mai“ das Vertrauen aus.453 Der Forderung schlossen sich auch der Bezirksvorstand der SED - PDS in Dresden und verschiedene Kreisvorstände an.454 Eine Auf lösung der Partei lehnte der Parteivorstand nach kontroverser 447 448 449 450 451 452 453 454

Ebd. vom 9.1. und 17. 1. 1990. Vgl. Falkner, Von der SED zur PDS, S. 46; Gysi / Falkner, Sturm, S. 125 f. Neues Deutschland vom 20./21. 1. 1990. Vgl. Gysi / Falkner, Sturm, S. 123. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 14. Vgl. Gysi / Falkner, Sturm, S. 127. Falkner, Von der SED zur PDS, S. 47. Vgl. Neues Deutschland vom 20./21. 1. 1990. Süddeutsche Zeitung vom 20./21. 1. 1990. Beschluss des Kreisvorstandes der SED - PDS Zeulenroda, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445); Inhalt des Schreibens vom Kreisvorstand der SED - PDS Saalfeld. o. D. ( ebd.).

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Diskussion am 21. Januar jedoch ab, weil dadurch die Polarisierung in der Gesellschaft und der Grad der erreichten Spannungen nicht abgebaut werde.455 Egon Bahr war eigens zu Gysi nach Berlin gereist, um ihn von einer Auf lösung der Partei abzuraten.456 Stattdessen beschloss die Parteiführung, die Partei nicht aufzulösen, aber symbolhafte Veränderungen vorzunehmen. So wurde das SEDParteiabzeichen abgeschafft, und die Schiedskommission schloss weitere ehemals führende Funktionäre aus der SED - PDS aus; unter ihnen Egon Krenz, Kurt Hager, Günter Schabowski und Heinz Keßler. Gleichzeitig rehabilitierte die Schiedskommission 47 Mitglieder, unter ihnen Karl Schirdewan und Ernst Wollweber.457 Krenz und Schabowski wurde vorgeworfen, „die Chance zu einer grundlegenden Erneuerung im Herbst letzten Jahres halbherzig vergeben“ zu haben. Zu ihren Gunsten wurde bewertet, dass sie gemeinsam mit Lorenz, dem einzigen Politbüromitglied, das nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde, während der Amtszeit Honeckers verschiedentlich versucht hätten, eine Veränderung im Politbüro herbeizuführen, was jedoch an ihrer Inkonsequenz gescheitert sei.458 Die Mehrzahl der SED - Bezirkszeitungen erschien am 22. Januar auf Beschluss des Parteivorstandes erstmals als „unabhängige Zeitungen“. Nach einer Beratung der Chefredakteure am 10. Januar bei Gysi waren einige Blätter bereits ohne den Untertitel „sozialistische Tageszeitung“ erschienen. Die Aufmachung war zwar neu, in den Redaktionen saßen aber weiterhin die alten Redakteure, die für die bisherige Desinformationspolitik mitverantwortlich waren.459 Sie bestimmten noch für Jahre den Kurs der Blätter maßgeblich mit. Gemeinsam mit 39 weiteren Mitgliedern460 trat daraufhin der stellvertretende Vorsitzende der SED - PDS, Wolfgang Berghofer, am 21. Januar aus der Partei aus. Verbunden wurde dies mit der dringlichen Aufforderung, die Partei aufzulösen. Ihr fehle die politische Kraft, sich grundsätzlich zu verändern. Sie habe die „DDR in beschämender und unverantwortlicher Weise ruiniert, politisch, wirtschaftlich und moralisch“. Dadurch seien alle Mitglieder, „auch die kritischen, reformwilligen, sittlich in Verruf gebracht und ihrer politischen Heimat beraubt“ worden. Der Versuch, mit der Erblast der SED neue Wege zu gehen, sei zum Scheitern verurteilt.461 Nach seinem Austritt erhielt Berghofer Morddro455 Erneuerung muss auch in jedem selbst stattfinden. Beschluss des Parteivorstandes der SED - PDS. In : Neues Deutschland vom 22. 1. 1990. Vgl. Behrend / Meier ( Hg.), Der schwere Weg, S. 329–335. 456 Vgl. Sturm, Uneinig, S. 188. 457 Weitere ausgeschlossene Personen : Hans - Joachim Böhme, Horst Dohlus, Joachim Herrmann, Werner Jarowinsky, Inge Lange, Erich Mückenberger, Margarete Müller, Alfred Neumann, Gerhard Schürer und Werner Walde. Der Minister für Staatssicherheit Wollweber war 1958 mit Schirdewan wegen „Fraktionstätigkeit“ sämtlicher Parteifunktionen enthoben worden. 458 Vgl. Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990, S. 10–12. 459 Vgl. taz vom 23. 1. 1990. 460 Darunter das komplette Präsidium und der Vorsitzende des Vorstandes der SED - PDS im Bezirk Dresden, Hans - Joachim Hahn, und der Generaldirektor des Kombinats Robotron in Dresden, Friedrich Workuta. 461 Vgl. FAZ / Die Union vom 23. 1. 1990.

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hungen.462 Ähnlich wie Berghofer reagierten in Sachsen die Kreisvorstände. In Großenhain hielt es der Kreisvorstand der SED - PDS am 23. Januar „für erforderlich, auf den Anspruch der Mandate der SED - PDS zu verzichten“ und schlug vor, dass die Abgeordneten ihre Aufgaben in den Volksvertretungen frei und unabhängig wahrnehmen sollten. Die Kreisparteiorganisation beschloss, keinen Wahlkampf zu führen.463 In Plauen löste sich die Kreisorganisation der SED PDS am 26. Januar selbst auf, schlug eine generelle Auf lösung der Partei vor und wurde erst durch eine „Initiativgruppe PDS“ neu in Gang gebracht.464 In Brand - Erbisdorf unterstützten die Mitglieder im Rat der Stadt „aus vollem Herzen und in Verantwortung für unser Volk“ den Aufruf nach schnellstmöglicher Auf lösung der Partei SED - PDS.465 In Flöha forderte der SED - PDS - Kreisvorstand die Selbstauf lösung seiner Partei. Das Verhältnis reformwilliger und konser vativer Kräfte werde durch Austritte immer schlechter. In der Kreistagstagung am 26. Januar erklärten Ratsmitglieder und Abgeordnete der SED - PDS ihren Parteiaustritt. Zur Erklärung hieß es : „Ausgehend vom Sonderparteitag dieser Partei muss festgestellt werden, dass diese Partei nicht in der Lage ist, sich zu erneuern und sich in dem demokratischen Prozess einzuordnen.“466 In Freital meinte der Kreisvorstand der SED - PDS, eine Erneuerung der Partei sei unter gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich und die Selbstauf lösung deswegen nicht aufzuhalten. Er schlug vor, die Arbeit in den Parteiorganisationen einzustellen und forderte eine geordnete Auf lösung der Kreisparteiorganisation unter öffentlicher Kontrolle.467 Dagegen standen auch in den Kreisen Forderungen nach einer weiteren Umbenennung bei Erhalt der Partei.468 Die Auseinandersetzungen wurden für die Partei zur Zerreißprobe. Die Entscheidung des Parteivorstandes für einen Erhalt unter neuem Namen führte zu einer Austrittswelle ehemaliger SED - Funktionäre. In den meisten Betrieben und Institutionen lösten sich die Betriebsparteiorganisationen auf oder wurden unter dem Druck der Belegschaften beseitigt. In zahlreichen Kreisen und Bezirken wurden die territorialen SED - Organisationen handlungsunfähig. Reformorientierte Funktionäre erzwangen den Rücktritt von SED - Sekretariaten und Parteileitungen. In einzelnen Territorien löste sich die SED - Struktur völlig auf. Die Mitgliederzahl sank von 2,3 auf 1,4 Millionen im Januar und auf 700 000 im Februar, wobei die Austrittswelle im Januar vor allem den Staatsapparat und die bewaffneten Organe erfasste.469 Ganze Kreisverbände und Organisationen in der Wirtschaft traten aus. Exemplarisch sei auf die Mitgliederentwicklung im Kreis Auerbach 462 Vgl. Wolfgang Berghofer. In : Wilke, Wenn wir die Partei retten wollen, S. 421. 463 Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 25. 1. 1990. 464 Vgl. Küttler, Die Wende in Plauen, S. 153; Lindner, Plauen, S. 127; Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 25. 1. 1990. 465 Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 23. 1. 1990. 466 Referat des RdS Flöha an Abgeordnete vom 30. 1. 1990 ( StA Flöha ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 24., 25. und 26. 1. 1990. 467 Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 26. 1. 1990. 468 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Löbau, vom 23. 1. 1990. 469 Vgl. Ammer, Von der SED zur PDS, S. 1003.

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verwiesen. Hatte es hier am 26. Oktober noch 6 800 SED - Mitglieder gegeben, so sank die Zahl auf 5 877 am 19. November und auf ca. 2 000 Ende Januar, um sich Ende Mai bei etwa über 700 einzupegeln.470 Auf einer Kreisvorstandssitzung in Kamenz wurde Mitte Januar berichtet, dass sich zwei Drittel der bisherigen 140 Grundorganisationen in den Betrieben und Einrichtungen des Kreises aufgelöst hätten.471 Ende Januar erklärten sich immer mehr Orte zu „SED / PDS - freien Gemeinden“.472 In Leipzig traten am 30. Januar elf Mitglieder des Rates des Bezirkes Leipzig, unter ihnen Joachim Draber, aus der SED - PDS aus. Die Partei, so der Ratsvorsitzende, sei durch ihre Vergangenheit schwer belastet und „zur radikalen Erneuerung offensichtlich nicht fähig“. Sie stehe der Erneuerung des Landes im Wege.473 In Dresden hatte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Wolfgang Sieber, schon Mitte Dezember für eine Auf lösung der SED plädiert und vergeblich versucht, „mit einer größeren Gruppe von SED - Leuten“ in die SPD überzutreten.474 In Reichstädt ( Dippoldiswalde ) trat Bürgermeister Horst Bellmann aus der SED - PDS aus und rief alle Mitglieder auf, dasselbe zu tun.475 In Bischofswerda gaben zahlreiche Mitglieder des Rates des Kreises ihren Austritt bekannt, unter ihnen der Vorsitzende des Rates des Kreises, Konrad Nücklich, sein Stellvertreter Rainer Schurig, der Vorsitzende der Kreisplankommission sowie der Kreisschulrat.476 Ebenso erklärten fast alle Mitglieder des Rates des Bezirkes Dresden ihren Austritt aus der SED - PDS.477 Vereinzelt kam es auch, wie in Meerane ( Glauchau ), zur Auf lösung der SED - PDS - Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung.478 Die SPD erhielt zahlreiche Anträge ganzer Gruppen von SED - Mitgliedern, die übertreten wollten, vor allem aus dem Hochschulbereich, den Kombinatsleitungen und aus dem Rat des Bezirkes. „Alle“, so der damalige Dresdner SPDBezirksvorsitzende, Günter Neumann, „die da merkten, jetzt schwimmen die Felle weg“, wollten nun im vermeintlichen Wahlsieger kommender Wahlen, der SPD, ihre Karriere fortsetzen. In der PDS habe es eine regelrechte Absetzbewegung in Richtung SPD gegeben. In Dresden aber hatte die SPD - Bezirksleitung beschlossen, so kurz nach der eigenen Gründung niemanden aus der früheren SED oder aus den Blockparteien aufzunehmen, weil man eine „Aufweichungskampagne von Seiten der SED“ mit dem Ziel befürchtete, die Führungsposition in der neuen SPD zu übernehmen.479 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479

Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 130. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 13./14. 1. 1990. Vgl. Gysi / Falkner, Sturm, S. 130. Die Union vom 1. 2. 1990. Interview mit Peter Adler. In : Kleimeier, Sachsen, S. 12 f. Vgl. Die Union vom 7. und 8. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 25. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 24. 1. 1990. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 25. 1. 1990. Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 31. 1. 1990. Interview mit Günter Neumann am 27. 2. 2003.

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Gegen den Auf lösungstrend kämpfte vor allem Gregor Gysi an. Im „Neuen Deutschland“ meldete sich am 26. Januar eine „Initiativgruppe PDS“ zu Wort. Sie wandte sich gegen die Forderungen nach Auf lösung und plädierte für eine Umformierung in „Partei des demokratischen Sozialismus“ ( PDS ). Am selben Tag beriet das Präsidium des Parteivorstandes der SED - PDS mit den Bezirks und Kreisvorständen. Gysi setzte sich für den Erhalt der Partei ein. Er begründete dies mit Gefahren für den Bestand der DDR, der europäischen Sicherheit und mit der Notwendigkeit, das umfangreiche Parteivermögen der SED zu retten.480 An seinem politischen Hauptmotiv ließ er keinen Zweifel : Die staatliche Souveränität sei die „elementare Voraussetzung dafür, mit dem demokratischen Sozialismus in der DDR Ernst zu machen“.481 Dieser Linie folgten nun überall in den Parteigliederungen Initiativgruppen der PDS. Auch da, wo sich die Partei – wie z. B. in Plauen – bereits aufgelöst hatte, sorgten sie für die Neuformierung als PDS. Gegner einer Weiterarbeit als PDS legten ihre Funktionen nieder. In Leipzig trat am 31. Januar der Bezirksvorstand der SED - PDS unter dem Druck der Leipziger Initiativgruppe PDS zurück, nachdem Roland Wötzel Zweifel an der Möglichkeit einer radikalen Erneuerung der Partei geäußert hatte. Der Rückritt erfolgte auf maßgeblichen Druck Gysis. Die Geschäfte übernahm ein geschäftsführender Ausschuss unter Rainer Enke, dem Sekretär der SED PDS - Fraktion im Bezirkstag.482 Ähnlich sah es in den Kreisen aus, wo nun überall Initiativgruppen den neuen Kurs Gysis umsetzten.483 In Kamenz löste sich am 29. Januar der SED - PDS - Kreisvorstand mit der Begründung auf, ein radikaler Bruch mit der SED sei nicht gelungen. An seine Stelle trat auch hier eine Initiativgruppe PDS.484 Der Kreisvorstand der SED - PDS Großenhain entschied am 31. Januar, alle Auf lösungsdebatten zu beenden und „nur die drei Buchstaben SED [...] mit der stalinistischen Vergangenheit über Bord“ zu werfen.485 Die neuen Kreisvorstände der PDS bereiteten zur Sicherung ihrer Aktionsfähigkeit Kreisdelegiertenkonferenzen vor. Dabei war der neue Kurs überall klar : Ziel der PDS war ein demokratischer Sozialismus in einer souveränen DDR.486 Ein damit zusammenhängendes, sekundäres Ziel hatte Gysi selbst klar benannt. Zur Durchsetzung der politischen Ziele brauchte man Geld. Gysi sah keinen Anlass, auf das Vermögen, das sich die SED als Staatspartei hatte aneignen können oder das aus altem KPD - Besitz herrührte, zu verzichten. Dieses belief sich zur Jahreswende 1989/90 auf immerhin rund 6,1 Mrd. Mark der DDR, von denen im Februar 1990 rund drei Mrd. Mark an den Staatshaushalt abgeführt wurden.487 Noch völlig unbekannt war zu diesem Zeitpunkt in der 480 481 482 483 484 485 486 487

Vgl. Spittmann, Runderneuert, S. 509. Gysi, Wird es einen demokratischen Sozialismus in der DDR geben ?, S. 68. Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 1. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 1. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 1. 2. 1990. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 2. 2. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 2. 2. 1990. Der Polizeipräsident in Berlin. Zentrale Ermittlungsstelle der Regierungs - und Vereinigungskriminalität ( ZERV ) : Sachstandsbericht vom 1. 11. 1994, S. 16.

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Öffentlichkeit der Umfang des Parteivermögens im Westen. Auch war das Geflecht von staatlichen Gelder und denen der Partei undurchschaubar. Außenstehenden fehlte das Herrschaftswissen, wodurch sie kaum verhindern konnten, dass die Regierung Modrow die verbleibende Zeit nutzte, Gelder des Staates und der PDS im großen Umfang zu privatisieren. Massenorganisationen im Abwind – FDJ, GST, FDGB Mit der SED waren auch die eng mit ihr verbundenen Massenorganisationen auf dem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit. FDJ : Die FDJ begab sich mit ihrem Brandenburger Kongress am 27./28. Januar endgültig auf diesen Weg.488 In den meisten Kreisen wurden Delegierte mit der Forderung nach Gründung eines neuen Jugendverbandes zum Brandenburger Kongress geschickt.489 Nach dem Kongress wurde z. B. in Meißen aus Protest gegen die Beibehaltung der alten Organisationsbezeichnung die FDJ - Organisation des Kreises aufgelöst und Vorbereitungen zur Gründung einer „rot grünen“ Jugendorganisation getroffen. Hier war am 4. Januar der Versuch am Widerspruch des Neuen Forums und der Christlich - Demokratischen Jugend (CDJ ) gescheitert, die FDJ durch die Bildung eines Jugendrates im Kreis zu retten. Danach hatte die FDJ - Kreisorganisation für eine Auflösung der FDJ und die Bildung einer linksorientierten Nachfolgeorganisation plädiert. Damit, so hieß es, werde der Tatsache Rechnung getragen, dass die FDJ völlig an Einfluss und Bedeutung verloren habe. Bis dahin hatte die FDJ - Kreisleitung versucht, die Jugend mit neuen Angeboten zu locken und organisierte die erste offizielle Erotik - Show im Kreis.490 GST : Der Zentralvorstand und das Sekretariat der GST traten am 27. Januar zurück. Auch in den sächsischen Kreisen wurde derweil die Entwaffnung und Entmilitarisierung der Organisation vorangetrieben. Teilweise wurde geplant, die GST in den DTSB einfließen zu lassen.491 FDGB : Günstiger als für FDJ und GST verlief die Entwicklung für die kommunistische Massenorganisation FDGB. Das lag daran, dass der FDGB, obwohl in der Sache ein Instrument der SED, vom DGB als Partner angesehen wurde. Das Verhältnis des DGB zum FDGB war bis zum außerordentlichen Bundeskongress Ende Januar „geprägt von den Nachwirkungen der alten Kooperationspolitik des DGB mit dem FDGB“.492 Allerdings begann man bereits im Januar die Kontakte zu den Einzelgewerkschaften zu intensivieren. Das aus hauptbe488 Vgl. Stephan, Die Führung der FDJ, S. 325. 489 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 11. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 25. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 11. 1. 1990; Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 46). 490 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 6.1., 14.1. und 30. 1. 1990. 491 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des Runden Tisches Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 492 Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 86.

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ruflichen kommunistischen Funktionären bestehende Komitee zur Vorbereitung des außerordentlichen FDGB - Kongresses sprach sich derweil gegen die Gründung von Betriebsräten aus.493 Dessen Vorsitzender nannte deren Bildung eine direkte Konfrontation mit dem FDGB und versicherte, der FDGB werde sich seine von der SED „verbrieften Rechte nicht kampflos nehmen lassen“.494 Neben den Altfunktionären gab es aber auch im FDGB Kräfte, die ernsthaft daüber nachdachten, sich zu einer Gewerkschaft zu wandeln. Auf dem 1. Bernauer Basistreffen vom 12. bis 14. Januar diskutierten FDGB - Mitglieder aus der ganzen DDR über unabhängige Gewerkschaften, Mitbestimmung im Betrieb, die Sicherung sozialer Standards, Fragen der Tarifhoheit und künftiger Gewerkschaftsstrukturen.495 In den Kreisen wurde derweil auf Kreistagungen ein außerordentlicher FDGB - Kongress vorbereitet und Delegierte bestimmt.496 Diese tagten am 31. Januar und 1. Februar. Hier beschlossen rund 2 500 Delegierte die Umwandlung der zentralistischen Massenorganisation FDGB in einen Dachverband unabhängiger Einzelgewerkschaften. Die bisherigen Fachabteilungen des FDGB wurden nach bundesdeutschem Vorbild in autonome Einzelgewerkschaften mit Tarifautonomie und Finanzhoheit gewandelt.497 Der FDGB hatte seit dem Oktober 1989 980 000 Mitglieder verloren. Der Kongress verabschiedete gleichzeitig ein von der alten Führungsriege ausgearbeitetes Gewerkschaftsgesetz, das von der Vorherrschaft des FDGB in den Betrieben ausging. In ihm waren Streikrecht und Aussperrungsverbot festgelegt. Der FDGB maßte sich ein Vetorecht bei betrieblichen Entscheidungen und im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess an. Dafür wurde andererseits die vieldiskutierte Frage der Bildung von Betriebsräten nicht einmal erwähnt. Der Volkskammer gegenüber droht die FDGB - Führung mit einem Generalstreik, sollten ihre Interessen nicht gebührend berücksichtigt werden. Mit dieser „Politik des deklamatorischen Maximalismus“498 und ihren radikalen Forderungen versuchten die Altfunktionäre die Delegierten hinter sich zu scharen. Wichtigstes Ziel des Gesetzes war die Erhaltung der FDGB - Grundorganisationen durch die rechtliche und finanzielle Absicherung der FDGB - Funktionäre in den Betrieben und die Verhinderung alternativer Arbeitnehmervertretungen. Es wurde mit einigen Änderungen am 6. März, also kurz vor den freien Wahlen, von der Volkskammer mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen. Überraschend wurde nicht der bisherige Interimsvorsitzende Werner Peplowski ( SED - PDS ), sondern die 44 - jährige Helga Mausch ( NDPD / IG Bergbau und Energie ) zur neuen Vorsitzenden 493 Offener Brief an die Teilnehmer des Runden Tisches, an alle, die Beobachterstatus haben, an alle, die sich für die demokratische und humanistische Erneuerung unseres Landes einsetzen ! Komitee zur Vorbereitung des außerordentlichen FDGB - Kongresses, o. D. ( BArch Berlin, A - 3 5, Bl. 40). 494 Berliner Zeitung vom 10. 1. 1990. 495 Vgl. Pester / Prang, Der Umbruch, S. 211 f. 496 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 11. 1. 1990; Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 23. 1. 1990. 497 Satzung des gewerkschaftlichen Dachverbandes FDGB. In : Tribüne vom 5. 2. 1990. 498 Pirker / Hertle / Kädtler / Weinert, FDGB, S. 49; vgl. S. 96–99.

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des FDGB gewählt.499 Die ehemalige stellvertretende FDGB - Vorsitzende Johanna Töpfer hatte sich am 9. Januar das Leben genommen.500 5.8

Krise der Wirtschaft, der Finanzen und der Versorgung

Im Januar verschärfte sich die finanzielle und ökonomische Krise der DDR. Die Bevölkerung kritisierte schleppende Wirtschafts - und Verwaltungsveränderungen.501 Am 4. Januar beschloss die Regierung, Verbraucherpreise für Kinderbekleidung und Blumen nicht mehr zu subventionieren. Zum Ausgleich wurde das Kindergeld erhöht.502 Die Maßnahme richtete sich gegen den Aufkauf subventionierter Waren durch Bürger anderer Staaten. Vor allem in grenznahen Bezirken wurden Gaststätten stark von bundesdeutschen Besuchern frequentiert. Diese kauften auch Sportgeräte, Werkzeuge, Wäsche sowie Fleisch - und Wurstwaren.503 Der illegale Kurs von Mark zu D - Mark lag Anfang Januar bei 7: 1. An Geschäften häuften sich Hinweise, dass auch mit D - Mark bezahlt werden könne.504 Die Regierung wandte sich gegen den Verkauf von Waren gegen D - Mark und sah Strafmaßnahmen beim Handel mit D - Mark vor, um eine zweite Währung zu verhindern.505 Wegen des Niederganges der DDR - Währung und erster Gerüchte über eine Währungsreform wurden Ende Januar überall Konten aufgelöst und das Vermögen auf Familienangehörige umverteilt.506 Seit der Offenlegung der Finanzkrise vor dem Politbüro Ende Oktober 1989 war klar, dass die DDR pleite war. Anfang des Jahres 1990 betrugen die Verbindlichkeiten der DDR gegenüber westlichen Staaten mit 20,6 Mrd. $ „fast 300 % des gegenwärtigen Jahresexports der DDR in das NSW“.507 Damit war die DDR nicht mehr in der Lage, sich selbst aus ihrer Finanzkrise zu befreien. Hinzu kam ein Rückgang des Volumens der industriellen Warenproduktion.508 Eine Reihe von Kombinaten und Kommunen stellte im Januar die Zahlung von Steuern ein. Gravierender aber war zu diesem Zeitpunkt, dass die Regierung 499 FDGB jetzt Dachverband von Einzelgewerkschaften. In : Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990, S. 6. 500 Töpfer war seit 1968 stellvertretende Vorsitzende des FDGB und gehörte seit 1981 dem Staatsrat an. 501 Vgl. Informationszentrum vom 4. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 128, Bl. 107). 502 Beschluss des Ministerrates der DDR 8/22/90 vom 4. 1. 1990 ( BArch Berlin, C 20 I /3– 2891, Bl. 16–19). 503 Vgl. MdI vom 5. 1. 1990 : Info : Öffentliche Ordnung und Sicherheit ( ebd., DO 1, 52445). 504 Vgl. Informationszentrum vom 10. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BStU, ZKG 129, Bl. 167 und 170). 505 Vgl. RdB Potsdam vom 23. 1. 1990 : Dienstberatung beim Minister der Finanzen und Preise ( Brandenburg. LHA, A /3274). 506 Vgl. BArch Berlin, DO 1, 52445. 507 Beschluss des Ministerrates der DDR 8/8/90 vom 4. 1. 1990 über die Einschätzung der Stabilität der Währung der DDR ( ebd., C 20 I /3–2887). 508 Vgl. Info zur ökonomischen Lage im Kreis Pirna vom 31. 12. 1989 ( KA Pirna, Ordner ohne Nr.).

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Modrow, geleitet von neo - sozialistischen Vorstellungen, notwendige Veränderungen verzögerte. Mitte Dezember hatte die Regierung zunächst beschlossen, ein „Strukturkonzept der Volkswirtschaft der DDR bis zum Jahre 2010“ auszuarbeiten.509 Modrows Ziel war es demnach gewesen, neben anderen Eigentumsformen vorrangig am „Volkseigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln“ festzuhalten.510 Dabei folgte er der Auffassung seiner Wirtschaftsexpertin Christa Luft, nicht das „Gemeineigentum“ sei Ursache für das Scheitern des Sozialismus gewesen, sondern fehlende Konkurrenz. Sie orientierte auf eine Wirtschaftsreform mit Wettbewerbselementen in der sozialistischen Planwirtschaft. Eine umfassende Privatisierung lehnte sie ab. Ihr Ziel war keine Abkehr vom, sondern eine Stärkung des Sozialismus. Wegen dieser Ideen hatte Modrow Luft im November 1989 in seine Regierung geholt.511 Auf Grundlage solcher Überlegungen beschloss der Ministerrat Anfang Januar, die Außenhandelsbetriebe schrittweise den Industrieministern bzw. Generaldirektoren der Kombinate direkt zu unterstellen.512 Ab Anfang Januar orientierte die Regierung dann stärker auf eine „sozial und ökologisch orientierte Marktwirtschaft“, die das bisherige Kommandosystem ablösen sollte. Ziel war jetzt der Übergang zur Marktwirtschaft mit verschiedenen Eigentumsformen, ein Konzept, das auch der Zentrale Runde Tisch mittrug. Nun war bereits die Rede von der Umwandlung der VEB und Kombinate in Kapitalgesellschaften.513 In der Bundesrepublik kritisierte der Deutsche Industrie - und Handelstag ( DIHT ) Modrows „halbherzige Lösungen“. Seine restriktiven Regelungen würden den Interessen der DDR schaden und seien nicht geeignet, Vertrauen in die gemeinsame wirtschaftliche Zukunft zu schaffen.514 Wegen der halbherzigen Wirtschaftsreformen zeigte auch die Bundesregierung wenig Neigung, angesichts der gigantischen DDR - Verschuldung, die noch durch einen Kaufkraftüberhang von 25 bis 30 Mrd. Mark ergänzt wurde, den dreist anmutenden Geldforderungen der Regierung Modrow zu entsprechen. Hier wartete man auf den Tag freier Wahlen, um endlich mit einer gewählten DDR - Regierung ohne ideologische Scheuklappen über die gemeinsame Zukunft verhandeln zu können. Daher lehnte Kohl am 17. Januar die Forderung Modrows nach einem „Lastenausgleich“ durch die Bundesrepublik ab und erklärte, er werde vor der Wahl keine Vertragsgemeinschaft mit der DDR eingehen und keine Verträge „mit Modrow und der SED - PDS“ abschließen. Man 509 Protokoll der Dienstberatung beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für Wirtschaft vom 11. 12. 1989 ( BArch Berlin, C 20, 13878/1). 510 Protokoll des 5. Zentralen Runden Tisches vom 3. 1. 1990 ( ABL, DZ 15. Januar, 171505); Beschlüsse der 5. Sitzung des Rundtischgespräches am 3. 1. 1990. Abgedruckt in Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 37–47. 511 Vgl. Küchenmeister / Stephan, Zwischen Wende und Ende. Interview mit Christa Luft, S. 63 f. 512 Beschluss des Ministerrates der DDR 8/7/90 vom 4. 1. 1990 zur Übertragung der Verantwortung für die Außenhandelsbetriebe an Ministerien und Kombinate ( BArch Berlin, C 20 I /3–2887, Bl. 39–41). 513 Vgl. Breuel, Treuhand intern, S. 28. 514 Vgl. Das Volk vom 9. 1. 1990.

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müsse überlegen, ob die Wahlen vom 6. Mai in der DDR nicht vorgezogen werden sollten. Experten bestätigten ihm, dass Modrow durch eine längere Amtszeit Legitimität gewinne und die Opposition nur politisches Profil entwickeln könne, wenn sie Verantwortung übernehme.515 Rudolf Seiters forderte die DDRRegierung auf, endlich grundlegende politische und wirtschaftliche Reformen einzuleiten. Die Bundesregierung unterstrich ihren Willen, einen grundlegenden Wandel zu fördern und erklärte, künftig verstärkt Kontakt zu den Oppositionsgruppen in der DDR aufnehmen zu wollen. Sie registriere mit großer Sorge, „wie die SED ganz offenkundig versucht, ihre Machtposition neu zu zementieren“.516 So strebe sie „kaum verhüllt und mit fadenscheiniger Begründung an, den restlos diskreditierten Staatssicherheitsdienst unter anderem Etikett weiter agieren zu lassen“.517 Unabhängig vom Verhältnis zur DDR - Regierung war die Bundesregierung aber bereit, kleine und mittlere Betrieb mit zinsgünstigen Krediten zu unterstützen und empfahl, Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Gewerbefreiheit einzuführen.518 Am 25. Januar bereitete Seiters mit Modrow dessen Treffen mit Kohl vor. Modrow zeichnete ein düsteres Bild von der Situation und warb erneut um finanzielle Hilfe. Die Entwicklung drohe außer Kontrolle zu geraten. Seiters sah sich mit einem konkreten Forderungskatalog konfrontiert, der sich hochgerechnet auf 17 Mrd. DM belief. Bei seinem Bonn - Besuch, so forderte Modrow, müsse deutlich werden, „dass beide Staaten vernünftig aufeinander zugehen und dass dies in den europäischen Prozess eingebettet ist, mit der Perspektive des Zusammengehens zweier Staaten in einer Nation“. Modrow legte Seiters den Entwurf eines Vertrages über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft vor, in dem die Vorstellungen der DDR - Regierung fixiert waren.519 Seiters bekräftigte den Willen der Bundesregierung, nach freien Wahlen zu einer Vertragsgemeinschaft zu kommen. Bestandteil könnten die Schaffung gemeinsamer Institutionen konföderativer Strukturen, das Festschreiben der Perspektive der Einheit Deutschlands im europäischen Rahmen, Wege zu einer Wirtschaftsgemeinschaft und die Schaffung eines institutionellen Rahmens für die Rechtsangleichung, die Harmonisierung der Verkehrsstrukturen und ein gemeinsamer Umweltschutz sein.520 Noch am selben Tag beschloss die Modrow - Regierung unter Bonner Druck die Einführung der vollen Gewerbefreiheit. Die Verordnungen über die Beteili515 516 517 518

Teltschik, 329 Tage, S. 110 f. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. 1. 1990. Fischbach ( Hg.), DDR - Almanach ’90, S. 332. Vgl. Diemer ( Hg.), Kurze Chronik, S. 143; Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990, S. 3 f. 519 Entwurf des Vertrages über die Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen der DDR und der BRD vom 17. 1. 1990. Abgedruckt in Modrow, Aufbruch und Ende, S. 170–183. 520 Beschluss des Ministerrates der DDR 12/1.d /90 vom 1. 2. 1990 über die Begegnung Hans Modrows mit Rudolf Seiters am 25. 1. 1990 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2904). Vgl. John, Seiters, S. 150–155.

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gung ausländischer Unternehmen ( Joint venture ) wurden liberalisiert.521 Aber auch dies zeigte in der Folgezeit kaum die erwünschte Wirkung und wurde nur mäßig angenommen. Im Osten fehlten betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse zur Nutzung des Gesetzes. Westliche Unternehmer wurde weiterhin durch die Regelung abgehalten, wonach in der Regel nur Kapitalbeteiligungen unter 50 Prozent möglich waren. Das Gesetz erwies sich als Flop und trug den marktwirtschaftlichen Erfordernissen kaum Rechnung. Angesichts des ökonomischen Paradigmenwechsels begannen nun in den Betrieben kommunistische Wirtschaftsfunktionäre in ihrem eigenen Interesse zu agieren. Im VEB Erntemaschinen Neustadt ( Sebnitz ), so kritisierte z. B. das dortige Neue Forum, würden sie „unter dem Mäntelchen der betrieblichen Rationalisierung“ Mitarbeiter ins „Aus“ befördern, die ihnen politisch nicht passten.522 Hier setzte eine Entwicklung ein, die das Bild der nächsten Jahre wesentlich mitprägen sollte. 5.9

Staatskrise und Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ Ende Januar

Parallel zur Wirtschafts - und Finanzkrise verfiel Anfang des Jahres die Handlungsfähigkeit der Staatsorgane und „Volksvertretungen“ in den Regionen rasant. Es zeigte sich, dass die Maßnahmen Modrows, die staatlichen Institutionen durch eine nicht - gleichberechtigte Mitarbeit neuer politischer Kräfte zu stabilisieren, nicht griffen. Überall wurden Partei - und Staatsfunktionäre abgelöst, örtliche Volksvertretungen aufgelöst sowie bestehende Gesetze und Verordnungen nicht mehr angewendet. Reihenweise traten Abgeordnete aus der SED - PDS aus und legten ihr Mandat nieder. Ständig kam es daher auf Sitzungen zu Kaderveränderungen.523 Das Image der Abgeordneten veränderte sich. War eine Mitarbeit in den Volksvertretungen bislang mit Privilegien und sozialem Ansehen verbunden gewesen, weckte sie nun Misstrauen. Kaum jemand war noch bereit, Ratsfunktionen zu übernehmen. Wie in Leipzig entsandten Runde Tische Vertreter in die ver waisten Volksvertretungen, um den Räten zu einer gewissen Arbeitsfähigkeit zu verhelfen.524 Im Laufe des Januar verschärfte sich die Krise des Staatsapparates weiter. Funktionäre aller Ebenen traten zurück oder in den Ruhestand bzw. ließen sich krankschreiben. Parallel zur Krise des Staatsapparates wuchs die Bedeutung der Parteien. Die Marginalisierung der SED - PDS nahm auch angesichts ihrer Versuche zu, nichtsozialistische Kräfte durch Schaffung eines vom Verfassungsschutz überwach521 Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung in der DDR ( Joint - Venture - VO ) vom 25. 1. 1990. GBl. DDR I, 4 vom 30. 1. 1990, S. 16. Vgl. Beschluss des Ministerrates der DDR 11/8/90 vom 25. 1. 1990 ( BArch Berlin, C 20 I /3–2902, Bl. 1–20). 522 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 31. 1. 1990. 523 Vgl. SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46073. 524 Vgl. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 144.

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ten demokratisch - sozialistischen Regimes an der politischen Beteiligung zu hindern. Die Krise des Staatsapparates drückte nur die Krise der SED - PDS aus. Angesichts der Zuspitzung mehrten sich Spekulationen über das weitere Verhalten der SED - PDS und ihres Staatsapparates. Wie kritisch die politische Lage eingeschätzt wurde, zeigte eine Analyse des Landessprecherrates des Neuen Forums vom 20. Januar. Aus der NVA gebe es Informationen über eine latente Putschbereitschaft. Das AfNS sei eine noch voll funktionsfähige und nach einem Krisenszenario handelnde Organisation. Dies verstärke den Eindruck einer unmittelbaren Putschgefahr. Die „Bild - Zeitung“ berichtete am 22. Januar : „Putsch – Stasi gibt Waffen aus. Elitetruppen des Staatssicherheitsdienstes und Teile der Nationalen Volksarmee bereiten sich offensichtlich auf einen Putsch, auf eine Machtübernahme in der DDR vor.“ Vor dem Hintergrund solcher Befürchtungen schlug das Neue Forum die Einrichtung einer Notstandsregierung vor, da die Aufrechterhaltung der Gewaltlosigkeit nur noch „von oben“ zu gewährleisten sei. Innerhalb der Notstandsregierung würde es das Innen - und Justizministerium sowie die Generalstaatsanwaltschaft fordern.525 In der Tat gab es auch im Innenministerium Äußerungen, die man als Bereitschaft zum militärischen Eingreifen deuten konnte. So erklärte Innenminister Lothar Ahrendt gegenüber den Leitern der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei, es müsse „gründlich geprüft werden“, ob das, „was an die Stelle des in Jahrzehnten Bewährten treten soll, besser und zweckmäßiger“ sei. Es sei zu prüfen, ob es sinnvoll sei, „einem neuen Parlament und einer neuen Regierung nach dem 6. Mai diese Jahres noch einmal Gelegenheit zu geben, die Sache umzudrehen“.526 Diese freilich internen Äußerungen ließen eine Deutung zu, wonach eine demokratisch gewählte Regierung an der Umsetzung grundlegender Veränderungen gehindert werden könnte, wenn diese nicht den Vorstellungen des von Modrow protegierten Innenministers entsprechen würden. Inwieweit dieses auf Bürgerkrieg hinauslaufende Konzept mit Modrow abgestimmt war, ist unklar. Nach außen favorisierte der Ministerpräsident eine andere Strategie. Auf der 9. Sitzung des Zentralen Runden Tisches wiederholte er am 22. Januar seinen Vorschlag, die neuen Gruppierungen und Parteien an der Regierungsarbeit zu beteiligen.527 Freilich war das bis dahin gezeigte Selbstbewusstseins Modrows verschwunden. Ohne den sonst „üblichen Witz und die zeitweiligen Mätzchen“528 forderte er die Runde auf, „mit uns keinen Existenzkampf zu führen“. Er wies die Meldung von „Bild“ als Provokation zurück und erklärte, entsprechende Rückfragen bei den zuständigen Ministern hätten ergeben, dass es kei525 Protokoll des Landessprecherrates Neues Forum vom 20. 1. 1990. Zit. bei Schulz, Neues Forum, S. 47. 526 Ausführungen des Ministers für Innere Angelegenheiten auf der Arbeitstagung vom 9. 1. 1990 ( BArch Berlin, DO 1, 52444, Bl. 5). 527 Unterlagen der 9. Sitzung des Zentralen Runden Tisches. In : Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 471–547. Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 74. 528 Thaysen, Der Runde Tisch 1, S. 96.

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nerlei entsprechende Vorbereitungen gebe.529 Er fühle sich dem Volk und keiner Partei verpflichtet. Sein Angebot einer „Großen Koalition des Übergangs“ wurde von der Opposition mit Einschränkungen angenommen. Parallel dazu schlug die Regierung vor, auch regionale und örtliche „Volksvertretungen“ zu ermächtigen, Vertreter der neuen Parteien und Gruppierungen zu kooptieren, um so auf allen Ebenen handlungs - und beschlussfähige „Volksvertretungen“ zu erhalten.530 Die oppositionellen Gruppen befanden sich in einer schwierigen Situation. Schließlich aber meinten sie, keine andere Wahl als zur Kooperation, „um nicht zu sagen zur Kollaboration“ mit der Regierung zu haben.531 Nur die SPD weigerte sich. Deutlich zeigte sich ein unterschiedliches Verhältnis von SPD und Bürgergruppen zur Macht. Die SPD handelte nach wahltaktischen Gesichtspunkten, rechnete sie doch beim Wahlkampf aus der Opposition heraus mit größeren Erfolgschancen. Auf Grund tendenziöser demoskopischer Erhebungen war man hier zuversichtlich, als stärkste Kraft aus freien Wahlen hervorzugehen. Diese Selbsteinschätzung bestimmte ihre Haltung gegenüber der Regierung Modrow und den anderen Parteien und Bürgergruppen.532 Den Bürgergruppen waren derartige „Machterprobungsstrategien“ fremd.533 Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit in der Regierung und damit zur Partizipation an der Macht basierte auf dem Willen, unmittelbar zur Lösung der Probleme beizutragen. Der Zentrale Runde Tisch einigte sich darauf, für die Wahlen ein Mehrheitswahlrecht mit festen Listen einzuführen. Die SPD forderte, nur Parteien zur Wahl zuzulassen und eine Sperrklausel von drei Prozent einzuführen. Beides wurde abgelehnt. Modrow setzte sich für die Zusammenlegung der Kommunalwahlen mit der Volkskammer wahl am 6. Mai ein. Die Bürgergruppen konnten sich nicht mit ihrem Wunsch durchsetzen, keine Gastredner aus der Bundesrepublik zum Wahlkampf zuzulassen. Die Parteien erklärten, sie würden sich ohnehin nicht an einen solchen Beschluss halten.534 Die Zustimmung der neuen politischen Kräfte zu einer Regierungsbeteiligung hing auch mit der Haltung der Ost - CDU zusammen. Diese bekräftigte zwar noch einmal ihr Verbleiben in der Regierung, verband dies unter Druck aus 529 Unterlagen der 9. Sitzung des Zentralen Runden Tisches. In : Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 471–547. Erklärung Modrows vor dem Zentralen Runden Tisch. In : Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 109–116. Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 74. 530 RdB, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden, an Mitglieder des RdB und Vorsitzenden des Präsidiums des BT Frankfurt / Oder vom 23. 1. 1990 : Info ( Brandenburg. LHA, Rep. 601, 49125). 531 Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 72, spricht von einem „kategorischen Imperativ des Mitmachens“, der darin bestand, „dass anderenfalls die Freiheit nicht hätte erreicht werden können, weil die alten bewaffneten Funktionäre [...] hätten putschen können“. Er sieht den Zwang zur Zusammenarbeit in allen Staaten im Übergang von totalitären zu demokratischen Systemen. 532 Vgl. Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 265. 533 So Wolfgang Templin. In : DA, 24 (1991), S. 474. 534 Vgl. Berliner Zeitung vom 23. 1. 1990; Neues Deutschland vom 24. 1. 1990.

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Bonn nun aber mit der Forderung nach einer Beteiligung der oppositionellen Kräfte des Zentralen Runden Tisches an der Regierung. Die CDU werde die Regierung verlassen, wenn keine Allparteienregierung zustande komme.535 SPD- Chef Ibrahim Böhme lehnte daraufhin eine Regierungsbeteiligung seiner Partei erneut ab, plädierte aber für die weitere Beteiligung der Ost - CDU. Die SPD konnte sich so als frei von Belastungen durch eine Kooperation mit der SED - PDS darstellen, während die „Blockflöte“ CDU scheinbar tat, was sie immer getan hatte, nämlich mit der SED zu kooperieren. Die taktischen und strategischen Gründe dieser Haltung waren freilich leicht zu durchschauen. Beim Koalitionsgespräch am 24. Januar trug Modrow seinen Vorschlag, die am Zentralen Runden Tisch sitzenden Bürgerbewegungen an einer Großen Koalitionsregierung zu beteiligen und in Regierungsentscheidungen einzubinden, vor. Am selben Tag begannen interne Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung.536 Parallel dazu empfahlen die Räte der Bezirke allen regionalen und örtlichen Staatsorganen, den Runden Tischen erstmals Angebote zur gleichberechtigten Mitarbeit zu unterbreiten. Den neuen Parteien und Bewegungen wurden Ratsfunktionen und freie Mandate angeboten.537 Am 25. Januar beschloss der Ministerrat offiziell, die Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch und den oppositionellen Gruppen und Parteien zu verstärken.538 Der Volkskammer wurde ein Beschlussentwurf vorgelegt, wonach bis zur Wahl örtliche Volksvertretungen Vertreter aus allen Parteien und Gruppierungen der Runden Tische als Abgeordnete mit allen Rechten und Pflichten für freigewordene Mandate kooptieren konnten. In Territorien, in denen die simulierten Parlamente nicht mehr beschlussfähig oder aufgelöst waren, konnten demnach Vertreter der an den Runden Tischen beteiligten Parteien und Gruppen zu neuen Abgeordneten ernannt werden.539 Da sich die SPD weiterhin weigerte in die Regierung einzutreten, machte die CDU am 25. Januar ihre Ankündigung wahr und zog ihre drei Minister aus der Regierung zurück, „um den Weg für Verhandlungen mit den neuen Parteien und Gruppierungen freizumachen“. Sie forderte die anderen Parteien auf, sich anzuschließen. Zugleich wurde die Bereitschaft ausgedrückt, sich an einer neuen Koalitionsregierung unter Einbeziehung der SPD zu beteiligen.540 SPD - Sprecher Steffen Reiche sprach von „Krönung der Verantwortungslosigkeit“,541 tat535 Vgl. Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 266. 536 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 411–413; Schulz, Neues Forum, S. 49. 537 Vgl. Referat des amtierenden Vorsitzenden des RdB Erfurt auf Ifo - Tagung am 24. 1. 1990 ( ThHSTA, 045836). 538 Beschluss des Ministerrates der DDR 11/1/90 vom 25. 1. 1990 : Einschätzung der Lage und Auswertung des Runden Tisches ( BArch Berlin, C 20 I /3–2901, Bl. 40–42). 539 Beschluss des Ministerrates der DDR 11/2/90 vom 25.1.990 über Vorschläge über die Tätigkeit von Vertretern aller Parteien, gesellschaftlichen Vereinigungen und politischen Gruppierungen der Runden Tische in den örtlichen Volksvertretungen und ihren Räten ( ebd., Bl. 40–42). 540 Protokoll der Präsidiumssitzung des HV der CDU vom 25. 1. 1990 ( ACDP, VII - 011– 3510). 541 DLF vom 26. 1. 1990 um 6. 20 Uhr / WS : Informationen am Morgen.

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sächlich versuchte die CDU - Führung so, die SPD zur Regierungsbeteiligung zu zwingen. Hier hatte man keine Neigung, sich im bevorstehenden Wahlkampf von der SPD die Zusammenarbeit mit der SED vorwerfen zu lassen. Das CDUManöver setzte die SPD unter Druck und bewirkte schließlich ihre Regierungsbeteiligung. In der Bonner CDU - Spitze war man erleichtert. Fraktionschef Dregger meinte, bei einer Regierung aller politischen Kräfte unter Einbeziehung der Opposition sei die Bewertungsgrundlage der Regierungsbeteiligung der OstCDU eine andere.542 Am 26. Januar schlug der Zentrale Runde Tisch samt SPD Modrow die Bildung einer Regierung vor, deren Kandidaten ihre Parteimitgliedschaft bis zur Wahl ruhen lassen und die vom Runden Tisch nominiert werden sollten. Der Runde Tisch sollte in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden.543 Die SPD erklärte, ihr Ziel sei ein Personalkabinett, dessen Mitglieder nicht mehr den Parteien, sondern dem Zentralen Runden Tisch verantwortlich sein sollten.544 Am 28. Januar einigten sich schließlich alle Seiten auf die Bildung eines Kabinetts und auf ein „Vier - Punkte - Programm“. Danach wurde der Termin für die Volkskammerwahlen auf Wunsch der SPD auf den 18. März vorgezogen, die Kommunalwahlen sollten am 6. Mai stattfinden. Es wurde beschlossen, eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ zu bilden, in die alle am Zentralen Runden Tisch vertretenden Gruppierungen, die noch keine Regierungsverantwortung trugen, je einen Vertreter ohne Ressort entsenden. Zukünftig sollte ein Mitglied der Regierung an den Beratungen am Zentralen Runden Tisch teilnehmen.545 Die „Neue Zürcher Zeitung“ meinte dazu, Modrow und der Runde Tisch versuchten, durch ihr Zusammenwirken den Eindruck zu erwecken, sie seien legitime Interessenvertreter der Bevölkerung. Dies seien aber weder Regierung noch Volkskammer noch Runder Tisch.546 Während de Maizière die Vor verlegung der Wahlen als SPD - Wahlkampfmanöver bezeichnete, begrüßte Kohl sie, da sich dadurch früher die Gelegenheit bot, Verhandlungen mit einer frei gewählten Regierung zu führen und Verträge durch ein aus freien Wahlen hervorgegangenes Parlament ratifizieren zu lassen.547 Die neuen Gruppierungen konnten sich nur schwer mit dem Gedanken einer Regierungsbeteiligung anfreunden. Sie befürchteten eine Aufwertung der SEDPDS, die sie ja gerade bekämpfen wollten. Wolfgang Schnur und Erhart Neubert vom DA forderten vor einem Eintritt in die Regierung einen Offenbarungseid der Regierung und die Auf lösung der SED.548 Das Neue Forum erklärte, man wolle die negativen Auswirkungen einer Verweigerung und eines damit verbun542 543 544 545 546 547 548

Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24. 1. 1990. Vgl. Thüringer Allgemeine vom 27. 1. 1990. Vgl. Neues Deutschland vom 27./28. 1. 1990. Vgl. Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 169–271. Neue Zürcher Zeitung vom 23. 2. 1990. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 31. 1. 1990. Vgl. Die Welt vom 23. 1. 1990; Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 263.

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denen Sturzes der Regierung auf die Sicherheit des Landes und die europäische Politik vermeiden, aber durch Beschränkung auf Kontrollfunktionen dem Eindruck einer Verbündetenposition entgegentreten.549 Im Nachhinein bezeichneten es etliche Vertreter der neuen Gruppierungen als Fehler, in die Regierung Modrow eingetreten zu sein, ohne Schlüsselfunktionen zu besetzen. Dadurch sei die Opposition faktisch „neutralisiert und domestiziert“ worden.550 Sie habe nur eine „Feigenblattrolle“ gespielt und ermöglicht, dass die Zeit bis zu den Wahlen zur Stabilisierung alter Kräfte genutzt werden konnte. Ihre Haltung habe aus der Einschätzung resultiert, der Transformationsprozess werde länger dauern und man könne ihn – wie in Polen – nur mit den Kommunisten gehen.551 Statt den revolutionären Prozess zu forcieren setzte man auf Ruhe und Ordnung im Lande und half Modrow mit der Bildung der Regierung der nationalen Verantwortung die politische Lage in seinem Sinne zu stabilisieren.552 Mit dem Eintritt der Opposition in sein Kabinett wurde die Trennung zwischen den alten und den neuen politischen Eliten undeutlicher. Die oppositionellen Gruppen trugen zur Stabilisierung der SED - PDS bei, weil sie die Machtfrage nicht stellten und davor zurückschreckten, die Regierung zu schwächen. Dies wiederum war ein Grund für die schwere Wahlniederlage der Bürgerbewegungen bei der Volkskammerwahl.553 Vor der Volkskammer gab Modrow am 29. Januar die Vorverlegung der Wahlen bekannt und resümierte die bisherige Arbeit seiner Regierung. Die gegenwärtige Regierungskoalition erweise sich zunehmend als zerbrechlich. Die ökonomischen und sozialen Spannungen in der Gesellschaft hätten zugenommen. Zunehmend gebe es Forderungen, welche die Möglichkeiten des Staates übersteigen und die Existenz der DDR gefährden würden. Die Lage verschlechtere sich besorgniserregend, weil Streiks und andere Störungen zu Produktionsausfällen führten. In einer Reihe von Kreisen hätten sich örtliche Volksvertretungen aufgelöst oder seien nicht mehr beschlussfähig. Überprüfungen von Wahlmanipulationen während der Kommunalwahlen im vergangenen Jahr beschleunigten den Prozess der Demontage örtlicher Volksvertretungen. Es gebe Unsicherheit im gesamten Staatsapparat. Der Schutz der Bürger sei nicht mehr voll gewährleistet, die Zahl von Bombendrohungen gegen Betriebe, örtliche Räte und öffentliche Einrichtungen nehme zu. Die Ausreisewelle dauere unvermindert an.554 Die Volkskammer berief acht Vertreter des Runden Tisches zu Mitgliedern der Modrow - Regierung. Damit waren an der „Regierung der nationalen Verantwortung“ 13 verschiedene Parteien und Gruppierungen beteiligt. Die Vereinigte Linke zog wegen Modrows Initiative „Deutschland einig Vaterland“ wenig spä549 Vgl. Schulz, Neues Forum, S. 46 f. 550 Neue Zürcher Zeitung vom 23. 2. 1990. 551 Inter view mit Ludwig Mehlhorn. In : Findeis / Pollack / Schilling, Die Entzauberung, S. 167. 552 Vgl. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit, S. 21. 553 Vgl. Hoffmann, Die doppelte Vereinigung, S. 115 f. 554 Texte zur Deutschlandpolitik III /8a 1990, S. 45–48.

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ter ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zurück.555 Als Minister ohne Ressort rückten in die Regierung ein :556 Tatjana Böhm ( UFV ), Rainer Eppelmann ( DA ), Sebastian Pflugbeil ( NF ), Mathias Platzeck ( Grüne Partei ), Gerd Poppe ( IFM ), Walter Romberg ( SPD ), Klaus Schlüter ( Grüne Liga ) und Wolfgang Ullmann (DJ ).557 Gleichzeitig nahm die Volkskammer die Beschlussvorlage an, wonach bis zur Wahl örtlicher Volksvertretungen Vertreter aus allen Parteien und Gruppierungen der Runden Tische als Abgeordnete mit allen Rechten und Pflichten für freigewordene Mandate kooptiert werden konnten. In Territorien, in denen die Parlamente nicht mehr beschlussfähig oder bereits aufgelöst waren, konnten dadurch Vertreter der am Runden Tisch beteiligten Parteien und Gruppen zu neuen Abgeordneten ernannt werden.558 Freilich betraf dies, wie am Zentralen Runden Tisch, vor allem Mitglieder eher linker Gruppierungen. Hier wurde neuen politischen Kräften des liberal - konservativen Lagers wie der DSU oder der DFP wohl noch im Nachhall der Idee eines demokratischen Sozialismus kurzerhand eine Mitwirkung verweigert,559 stellten sie doch das Ziel einer erneuerten DDR in Frage. Neue staatstragende Rolle des Zentralen Runden Tisches Mit dem Eintritt neuer politischer Kräfte in die zweite Regierung Modrow veränderte sich die Rolle des Zentralen Runden Tisches gravierend. Am Tag der Regierungsbildung verabschiedete er eine „Erklärung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“,560 in der die Notwendigkeit von „Ruhe, Sachlichkeit und Gewaltlosigkeit“ betont wurde.561 Damit hatte sich der Zentrale Runde Tisch de facto aus dem revolutionären Prozess verabschiedet. Von nun an rückte die gesetzgeberische Arbeit an die Stelle der Niederringung des Machtwillens der SED - PDS. Der Zentrale Runde Tisch avancierte vom Veto - Organ zur „zentralen politischen Steuerungsinstanz der DDR“.562 und ließ sich „vorzüglich als Instrument der Veröffentlichung der Modrow - Politik instrumentalisieren“.563 Nicht nur sein politisches Profil änderte sich, er wurde zugleich überfordert und 555 556 557 558

559 560 561 562 563

Vgl. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 82 f. Vgl. Neues Deutschland vom 6. 2. 1990. Vgl. Informationen des BMB 4 vom 23. 2. 1990, S. 11. Beschluss des Ministerrates der DDR 11/2/90 vom 25. 1. 1990 über Vorschläge über die Tätigkeit von Vertretern aller Parteien, gesellschaftlichen Vereinigungen und politischen Gruppierungen der Runden Tische in den örtlichen Volksvertretungen und ihren Räten ( BArch Berlin, C 20 I /3–2901). Protokoll der Vorstandssitzung des DA vom 8. 2. 1990 ( ACDP, Demokratischer Aufbruch ). Beschlüsse und Ergebnisse des Runden Tisches. In : Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 140–150. Unterlagen der 10. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 29. 1. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 91–103. Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 263. Ders., Der Zentrale Runde Tisch, S. 73.

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erstickte in einem „Schneegestöber von Vorlagen“.564 Auch wurde kaum reflektiert, wer kurz vor den Wahlen die Vielzahl an Beschlüssen umsetzen sollte. Aus der Einsicht in die rechtliche Unverbindlichkeit seiner Beschlüsse und in die Tatsache, dass die Entscheidungen ohnehin nicht durchführbar waren, erging sich der Zentrale Runde Tisch in „schnellfertigen, utopischen“ Forderungen und büßte den „heilsamen Zwang“ zur „praktischen Vernunft“ ein. Aber auch die Volkskammer machte in dieser wie in anderer Hinsicht einen eher lädierten Eindruck. Ihre Reihen lichteten sich rapide, vor allem die alte Prominenz verschwand und die Kammer wandelte sich in eine „Übergangsvolkskammer der Ersatzleute“.565 Für die Umsetzung des Modells einer Kooperation aus nationaler Verantwortung für die DDR sorgte in den Regionen Modrows Stellvertreter Peter Moreth ( LDPD ). Auf einer Beratung der Regierung mit den Ratsvorsitzenden der Bezirke am 31. Januar zeichnete er ein düsteres Bild der Situation. Zu diesem Zeitpunkt waren ca. 60 von insgesamt 219 Landkreisen und kreisfreien Städten ohne arbeitsfähige Leitung.566 Die Lage, so Moreth, sei von verschärften Spannungen und einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation gekennzeichnet. Die Regierungskoalition drohe zu zerbrechen. Viele örtliche Räte seien nicht mehr handlungsfähig. Die Ausreisewelle dauere an. Im Staatshaushalt fehlten bereits jetzt 17 Mrd. DDR - Mark, weitere Lohnforderungen von 40 Mrd. DDR - Mark lägen vor. Die Streikwelle breite sich aus. Bombendrohungen und Kriminalität nähmen zu. Die politische Szene radikalisiere sich. Daher sei es unerlässlich, überall Sicherheitspartnerschaften zu schaffen. Moreth forderte erneut die Einbeziehung der neuen Parteien und Gruppierungen in die Arbeit der örtlichen Staatsorgane und bezeichnete dies als unbedingtes Erfordernis zur Aufrechterhaltung von deren Arbeitsfähigkeit und zur Schaffung einer neuen Legitimation. Die Räte wurden aufgefordert, den Runden Tischen im Territorium konkrete Angebote zur Zusammenarbeit zu unterbreiten. Die Runden Tische sollten vor die Alternative gestellt werden, entweder Verantwortung und z. B. Ratsfunktionen zu übernehmen oder aber die Tätigkeit der bisherigen Räte und Volksvertretungen zu akzeptieren und zu tolerieren. Die Volksvertretungen wurden befugt, künftig eigenverantwortlich über die Bildung und den Umfang ihrer Räte zu entscheiden. Von den Vorsitzenden der Räte der Bezirke wurde die Forderung erhoben, die Regierungsbeauftragten noch länger in den Bezirken zu belassen.567

564 So Hans - Peter Wolf auf der 15. Sitzung der LDP. Zit. bei Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 277. 565 Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 277 und 281. 566 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 2. 2. 1990. 567 Niederschrift der Dienstberatung beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates für örtliche Staatsorgane, Peter Moreth, vom 31. 1. 1990 ( SächsStAL, 38212).

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Staatskrise und neue Kooperationsformen auf Bezirks - und Kreisebene568 Bezirk Dresden: Nachdem bereits zahlreiche Abgeordnete des Bezirkstages Dresden aus der SED - PDS ausgetreten waren und ihr Mandat niedergelegt hatten,569 erklärten nach einer Pressemeldung vom 25. Januar auch alle der SED PDS angehörenden Mitglieder des Rates des Bezirkes Dresden, außer einem sich im Urlaub befindlichen Ratsmitglied, ihren Austritt aus der Partei.570 Am selben Tag bot das Präsidium des Bezirkstages Dresden den basisdemokratischen Gruppen und oppositionellen Parteien der Runden Tische eine gleichberechtigte Mitwirkung in den ständigen Kommissionen des Bezirkstages an. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten nur Vertreter des DA, der SPD und der Grünen Partei von dem Angebot Gebrauch gemacht.571 Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten Runde Tisch auf der Ebene des Bezirkes Dresden, in fast allen Kreisen und größeren Städten. Sie stellten aus Sicht des Rates des Bezirkes eine „effektive Form der Meinungs - und Entscheidungsfindung unter direkter Teilnahme der Räte“ dar und trugen „in einer Reihe von Territorien zur Beherrschung der komplizierten Lage und zur Stabilität der Organe der Staatsmacht“ bei.572 Nach der Sitzung mit Moreth am 31. Januar erklärte der Ratsvorsitzende des Bezirkes Dresden, Wolfgang Sieber, am 1. Februar vor dem Bezirkstag, die politische Situation erfordere eine noch engere Zusammenarbeit mit den basisdemokratischen Gruppierungen, neuen Parteien und den Runden Tischen, um so die Funktionsfähigkeit der Staatsorgane zu sichern.573 Am selben Tag setzten sich Bezirkstag und Runder Tisch des Bezirkes Dresden gemeinsam „Für ein freies, demokratisches Sachsen“ ein. Es gelte, die Chance des demokratischen Neubeginns für ein neues Kapitel in der Geschichte Sachsens zu nutzen.574 Bautzen: In Bautzen setzte der Runde Tisch am 17. Januar den Rücktritt des Bürgermeisters durch.575 Hier gab es Auseinandersetzungen über den Status des Runden Tisches. Der Runde Tisch, so „Die Union“, sei weder eine legitimierte Volksvertretung noch ein Schattenkabinett des Rates des Kreises.576 Am 25. Januar beschloss die Stadtverordnetenversammlung, ihre Leitung einem Gremium aus Vertretern aller Fraktionen zu übertragen. SPD, Neuem Forum und anderen basisdemokratischer Gruppen wurde eine Beobachterrolle zuge568 Der Quellenzugang dazu ist sehr unterschiedlich. Eine vollständige Darstellung auf Kreis - und Bezirksbene ist deswegen nicht möglich. 569 Vgl. SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46073. 570 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 25. 1. 1990. 571 Kommunique der Beratung des Präsidiums des BT Dresden am 23. 1. 1990 ( SächsHStA, BT / RdB Dresden, 46123, Bl. 164 f.); Rentsch an Iltgen vom 25. 1. 1990 ( ebd., Bl. 207). 572 RdB Dresden vom 14. 2. 1990 : Info über die Lage und Tätigkeit der örtlichen Staatsorgane im Kreis Zittau ( ebd. 47118/3, Bl. 230). 573 Bericht des RdB an BT Dresden vom 1. 2. 1990 ( ebd. 46071, Bl. 93–100). 574 BT / RTB Dresden vom 1. 2. 1990 : Für ein freies, demokratisches Sachsen ( HAIT, Iltgen 4). 575 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 48). 576 Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 18. 1. 1990.

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sprochen.577 An der dritten Beratung des Runden Tisches am 26. Januar durfte erstmals der FDGB mit zwei stimmberechtigten parteilosen Mitgliedern teilnehmen. Der Rat der Stadt war mit einem ständigen Beobachter vertreten. Es wurde ein Bürgerkomitee ins Leben gerufen, das die Auflösung der Staatssicherheit kontrollieren sollte. Außerdem wurde vorgeschlagen, einen Medienbeirat für die „Sächsische Zeitung“ zu bilden. Der Rat des Kreises legte einen Bericht zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption vor, wonach es keine Unregelmäßigkeiten gab. Hauptthema war die Wiedereingliederung amnestierter Gefangener im Kreis.578 Bischofswerda: Am 17. Januar tagte der Runde Tisch in Pulsnitz zum dritten Mal. Es ging ausschließlich um kommunale Themen, wie eine Mülldeponie, die Wohnungssituation und die Frage der Beteiligung an Warnstreiks. Bei einer von der CDU - Ortsgruppe organisierten Einwohnerversammlung in Rothnaußlitz ging es um eine stabile Versorgung mit Trinkwasser und Strom sowie um die Einrichtung eines Kabelfernsehens und eines neuen Kindergartens. Es wurde beschlossen, künftig monatlich Gemeindevertretersitzungen als öffentliche Einwohnerversammlungen durchzuführen. Am 24. Januar gaben elf Mitglieder des Rates des Kreises ihren Austritt aus der SED - PDS bekannt, u. a. der Vorsitzende Konrad Nücklich. In Leserbriefen wurde der Austritt als Hemd - statt Gesinnungswechsel bezeichnet. Am 31. Januar berichteten der Kreisstaatsanwalt und der Leiter des Volkspolizeikreisamtes bei der dritten Sitzung des Runden Tisches des Kreises über die vollständige Auflösung des MfS im Kreis.579 Dippoldiswalde: Am Runden Tisch in Schmiedeberg ging es am 18. Januar um den Haushaltsplan, den Standort des VEB Güterkraftverkehr, den Altbergbau im Pöbeltal, die Abwasserbehandlung sowie um Sportstätten und Gewerbepolitik. Am 24. Januar konstituierte sich in Kipsdorf ein Runder Tisch, der sich u. a. mit der Offenlegung der Namen von Mitarbeitern des MfS befasste. Die Stadtverordnetenversammlung Dippoldiswalde wählte am 25. Januar einen neuen Bürgermeister. Mehrere Straßennamen und Plätze sollten ihren historischen Namen wiederbekommen. Außerdem ging es um die Nutzung der MfS Immobilien und den Kampf gegen zunehmende Gesetzesverletzungen.580 Vier Tage später beriet der Runde Tisch des Kreises Fragen der Rechtssicherheit. Es wurde ein Untersuchungsausschuss zu Amtsmissbrauch und Korruption gebildet. Der frühere Leiter der Kreisdienststelle des MfS berichtete über eine umfassende Bespitzelung. „Es ging“, so der Offizier, „bei den Befehlen an uns in den letzten Jahren nicht mehr um die Sicherheit des Staates, sondern immer mehr um die Überwachung sogenannter Oppositionsbewegungen“. Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes informierte über die Waffenübernahme durch die Volks-

577 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 51). 578 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 26. und 30. 1. 1990. 579 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 19., 20./21., 24., 31.1. und 2. 2. 1990. 580 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Dippoldiswalde, vom 20./21., 22. und 27./28. 1. 1990.

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polizei und bat um Entschuldigung für die Ereignisse am 7./8. Oktober.581 Am 30. Januar gründete sich auf Einladung der CDU auch in Altenberg ein Runder Tisch, an dem die Parteien, der Rat der Stadt, das Neue Forum, der DTSB, der VEB Zinnerz und die ev. - luth. Kirchgemeinde vertreten waren.582 Dresden: In Dresden beteiligte sich die am 18. Januar gebildete Basisdemokratische Fraktion am 25. Januar erstmals an der Stadtverordnetenversammlung. Die Mitglieder hatten Rederecht und das Recht auf Anfragen. In einer Grundsatzerklärung hieß es, man verstehe sich für die Übergangszeit bis zu den Wahlen als „Vertretung der Bürger, die sich in der Vergangenheit der diktatorischen Politik der SED verweigert haben und jetzt in offener Opposition zu ihr stehen“. Angehörige der Fraktion waren Mitglieder der Gruppe der 20, der SPD, des Neuen Forums, des DA, der Grünen Liga, der Grünen Partei und der Arbeitsgemeinschaft „Frieden“ der Dresdner Kirchenbezirke. Innerhalb der Fraktion hatte die Gruppe der 20 „ein gewichtiges Wort mitzureden“. Ohne die Mitentscheidung ihrer Sektionen konnte der Rat der Stadt keine Entscheidungen mehr treffen.583 Dresden - Land: Auf Einladung des Bürgermeisters trat am 3. Januar der Runde Tisch der Stadt Radebeul zusammen. Stimmberechtigt waren CDU, DBD, LDPD, NDPD, DA, Neues Forum, SDP, SED - PDS und Vertreter der Kirchen. Beratende Stimmen hatten der Rat der Stadt, der Kulturbund und die Volkssolidarität. Freital: Bei der dritten Beratung des Runden Tisches am 23. Januar ging es in Freital um das Gesundheits - und Sozialwesen im Kreis. Begrüßt wurden die Bemühungen der Kirche, eine Heimatzeitung herauszugeben. Die Stadtverordnetenversammlung Freital befasste sich am 25. Januar unter Sachsenfahnen mit dem Volkswirtschaftplan, vor allem mit dem Bauwesen. Es wurde ein selbstständiger Ratsbereich Umweltschutz gebildet. Beschlossen wurde, dass künftig Vertreter der neuen Parteien und Gruppierungen gemäß der Vorgaben der Regierung Stimm - und Vorschlagsrecht haben sollten.584 Görlitz: Am 31. Januar tagte der Runde Tisch in Görlitz. Hier waren Parteien, Organisation und Bürgerbewegung mit je zwei Personen vertreten, je eine davon war stimmberechtigt. Die Vertreter der Räte waren nicht stimmberechtigt. Beschlüsse des Runden Tisches wurden mit einfacher Mehrheit gefasst.585 Großenhain: In Lampertswalde tagte am 24. Januar erstmals ein Runder Tisch der Stadt. Gesprochen wurde über kommunale Themen wie die Interessengemeinschaft Antennenbau zum Empfang des Westfernsehens, Abwasserentsorgung, Trinkwasserqualität, den Wohnungsneubau und die sozialökonomische Entwicklung der Gemeinde.586 Am selben Tag trat auch der Runde Tisch 581 582 583 584 585 586

Ebd. vom 31. 1. 1990. Vgl. ebd. vom 8. 2. 1990. Wagner, Gruppe der 20, S. 14 f. Vgl. Die Union vom 27./28. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Freital, vom 25., 26. und 27./28. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 31. 1. 1990. Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 27./28. 1. 1990.

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des Kreises zusammen. Superintendent Krellner informierte über eine Sicherheitsvereinbarung mit der SED - PDS. Deren Parteihaus stand unter Kontrolle des Rates des Kreises; die Parteidokumente und Kaderunterlagen wurden versiegelt. Die Mitglieder der SED - PDS des Kreises erklärten geschlossen, sich nicht am Wahlkampf zu beteiligen. Informiert wurde über die Auflösung des MfS, Außerdem wurde gefordert, Volkspolizei - Angehörigen wieder mehr Akzeptanz entgegenzubringen.587 Der Kreistag berief eine Zeitweilige Kommission „Staat und Recht“, die sich mit Fällen von Amts - und Machtmissbrauch befasste.588 Kamenz: In Kamenz fand am 25. Januar ein letztes Rathausgespräch zwischen Neuem Forum und Kommunalpolitikern statt.589 Am 30. Januar wurde in Schwepnitz eine Bürgerinitiative gegründet, deren Teilnahme an Gemeinderatssitzungen der Runde Tisch forderte. Einen Tag später tagte der Runde Tisch Kamenz zum Thema „Volksbildung“.590 Löbau: Am 18. Januar befasste sich der Runde Tisch Niederoderwitz bei seiner zweiten Beratung mit kommunalen Themen wie der Vergabe von Abrissgrundstücken, dem Straßenwesen sowie mit Handel und Versorgung.591 Am Runden Tisch Löbau ging es am 22. Januar vor allem um die MfS - Auflösung und kursierende Listen vermeintlicher IM.592 Am 31. Januar konstituierte sich auch in Cunewalde ein Runder Tisch, der sich vor allem mit der Wahlvorbereitung befasste.593 Meißen: Am 18. Januar tagten in Nossen und Weinböhla erstmals Runde Tische. In Lommatzsch fand ein zweites Bürgerforum statt, auf dem die Rückbenennung einer Straße vorgeschlagen wurde. Nach einem ersten Runden Tisch der Stadt Meißen am 15. Januar, der nur informativen Charakter trug, drehte sich der zweite Runde Tisch am 24. Januar um finanzielle Mittel aus der Bundesrepublik für die Sanierung von Meißen. Der zweite Coswiger Runde Tisch erörterte am 26. Januar u. a. die Wiedereingliederung von MfS - Mitarbeitern, die Nutzung bisheriger SED - Einrichtungen sowie die Trennung von SED / PDS und Stadtverwaltung.594 Niesky: Am 22. Januar tagte erstmals ein Runder Tisch in Rothenburg. Einberufen wurde er vom Bürgermeister, veranlasst jedoch durch das Neue Forum.595 587 Vgl. Protokoll der Sitzung des RTK Großenhain vom 24. 1. 1990 ( HAIT, Großenhain, Gro G3); Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 27./28.1. und 1. 2. 1990. 588 Vgl. ebd. vom 24. 1. 1990. 589 Vgl. Chronik der Ereignisse in Königsbrück von 1989/1990 ( StA Königsbrück ). 590 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Kamenz, vom 30.1. und 1. 2. 1990; Kamenz 1989– 1995, S. 16. 591 Vgl. Protokoll der 2. Beratung des RT Niederoderwitz vom 18. 1. 1990 ( HAIT, Löbau, PB Klaus Reichel ). 592 Vgl. Die Union, Ausgabe Görlitz, vom 31. 1. 1990. 593 Vgl. Niederschrift des Anrufes der Stadtver waltung Cunewalde bei Bautzen, Pfarrer Groß, vom 11. 3. 1999 ( HAIT, Löbau ). 594 Vgl. Die Union, Ausgabe Meißen, vom 19.1., 25.1., 26.1. und 27. 1. 1990. 595 Superintendent i. R. Reinhard Leue an Sächsische Staatskanzlei vom 10. 3. 1999 ( HAIT, StKa ).

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Am 25. Januar lud Superintendent Holzhey zum dritten Runden Tisch des Kreises Niesky am 30. Januar ein.596 Er leitete von nun an den Runden Tisch, an dem Vertreter der Parteien, des Rates des Kreises, der Massenorganisationen, des Neuen Forums und der drei im Kreis vertretenen Kirchen ( Brüdergemeinde, ev.- luth. und katholische Kirche ) teilnahmen. Am 30. Januar ging es um die Auflösung der Kampfgruppen und des MfS.597 Ende Januar lud der Rat der Stadt Niesky zum Runden Tisch ein, der daraufhin am 5. Februar erstmals tagte. Eingeladen waren neben den Parteien und dem Neuen Forum Vertreter der Kirchen. Man verständigte sich darauf, dass der Rat der Stadt bis zu den Kommunalwahlen keine Entscheidung ohne den Runden Tisch treffen durfte. Hauptthema war die Verwendung der Gebäude der KDfS und der SED - Kreisleitung.598 Pirna: Bei der zweiten Sitzung des Runden Tisches der Stadt Pirna am 17. Januar wurde bestimmt, dass jede Partei, Gruppe und Kirche eine Stimme erhält. Themen der Sitzung waren die Bausituation, Handwerksgründungen, Parkgebühren, eine Städtepartnerschaft mit Remscheid und die Bildung eines Kuratoriums zur Rettung der Altstadt.599 Am 22. Januar forderte die SPD des Kreises, dass am Runden Tisch des Kreises nur Parteien, Bürgerkomitees und Vertreter der Kirchen ständig wirken sollten. Organisationen, die im Kreistag über eine eigene Fraktion verfügten, sollte nur ein Beobachterstatus eingeräumt werden. Zudem sollten Beschlüsse des Runden Tisches dem Kreistag als Empfehlung vorgetragen werden.600 Riesa: In Riesa beriet am 18. Januar ein Kreiskoordinierungskomitee des Neuen Forums die Aufgaben des Runden Tisches und meinte, dieser sollte keine Arbeitsaufgaben von gewählten Vertretern erfüllen, sondern Vorlagen für den Kreistag überarbeiten und dort mit Beobachterstatus sprechen dürfen.601 Hier wurde bei einer Kundgebung des Neuen Forums am 25. Januar der sofortige Rücktritt des Rates des Kreises gefordert.602 Der Vorsitzende der CDU - Fraktion im Kreistag, Rainer Kutschke, erklärte, dadurch würden Bürger der neuen Parteien und basisdemokratischen Gruppen die Möglichkeit erhalten, sich an der Macht zu beteiligen.603 Andreas Näther rief hier zur Zusammenkunft am Runden Tisch auf, der für alle eine akzeptable Übergangslösung für die kom596 Vgl. Superintendent Holzhey : Einladung zum RTK Niesky am 30. 1. 1990 ( PB Christine Garve - Liebig ). 597 Vgl. Superintendent Andreas Holzhey an Vorsitzenden des RdK Niesky vom 24. 1. 1990 ( PB Andreas Holzhey ). 598 Vgl. Protokoll der 1. Beratung des RTS Niesky vom 5. 2. 1990 ( PB Christine Garve - Liebig ). 599 Vgl. 2. Beratung des RTS Pirna am 17. 1. 1990 ( StA Pirna, ZA, 2001, 42 Runder Tisch, Bl. 77 f.). 600 Vgl. SPD - KV an RTK Pirna vom 22. 1. 1990 ( KA Pirna, Ordner : An die Teilnehmer des RT ). 601 Vgl. Protokoll vom 18. 1. 1990; Einladung zum 18. 1. 1990 ( PB Andreas Näther ). 602 Aufruf an alle Bürger des Kreises Riesa, o. D. ( ebd.). 603 Redemanuskript vom 25. 1. 1990 ( PB Michael Herold ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Riesa, vom 27., 31.1. und 3. 2. 1990.

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munale Tätigkeit im Kreis sei.604 Am 31. Januar trat daraufhin ein Runder Tisch des Kreises zusammen. Hier kam man überein, den Kreistag und seinen Rat trotz Misstrauen weiterarbeiten zu lassen, um den Kreis bis zu den Wahlen regierbar zu halten. Sonstige Themen waren die Arbeitskräftesituation, der Stand der Auflösung der Kampfgruppen und des MfS sowie Chancengleichheit bei der Darstellung politischer Ziele in der Kreiszeitung. Die Grüne Partei wurde als ständiger Vertreter bestätigt, die Bürgerinitiative „Friedensgebet“ und der „Verband der Berufssoldaten“ erhielten einen Beobachterstatus.605 Sebnitz: In Sebnitz befasste sich der Rat des Kreises am 18. Januar mit einem effektiveren Einsatz seiner Arbeitskräfte.606 Am 23. Januar ging es am Runden Tisch der Stadt Sebnitz um dessen Zusammensetzung und Arbeitsweise. Der Rat der Stadt sollte hier künftig wichtige Beschlüsse vorlegen. Seine Legitimität nahm der Runde Tisch „aus der Tatsache, dass hinter den beiden Vertretern jeder Gruppe im Einzelnen eine große Anzahl, und in der Gesamtheit die Mehrzahl der Bürger unserer Stadt stehen“. Er wollte solange mitbestimmen, bis der Rat der Stadt und die Stadtverordnetenversammlung demokratisch legitimiert worden sind.607 Am 26. Januar traf sich auch in Ulbersdorf erstmals ein Runder Tisch, in Hohnstein am 30. Januar.608 Zittau: Am 18. Januar wurden auch beim Kreistag Zittau Abgeordnete abberufen bzw. wurde von Abgeordneten die Vertrauensfrage gestellt.609 Am 24. Januar fand in Zittau bereits die vierte Runde des Runden Tisches statt.610 In Bertsdorf traf man sich am 25. Januar zum ersten Runden Tisch. Die Leitung lag beim neu eingesetzten Schuldirektor. Insgesamt fanden hier bis zum 3. Mai sechs Runde Tische statt, bei denen mit den Gemeindevertretern über kommunale Probleme wie Umwelt, Gemeindeordnung, Aufbau der Kinderkrippe, Renovierungsarbeiten in der Schule, Fragen von Handel und Versorgung sowie die Vorbereitung der Wahlen gesprochen wurde.611 Bei der Sitzung des Rates des Kreises Zittau ging es am 25. Januar um Strukturveränderungen. Es wurde vorgeschlagen, den Runden Tisch und das Präsidium des Kreistages an den Beratungen teilnehmen zu lassen, um zu tragfähigen Lösungen kommen zu können.612 Am 27./28. Januar beschloss der Runde Tisch der Stadt Zittau Wahlen durchzuführen, ohne auf eine Entscheidung aus Berlin zu warten.613 Bezirk Cottbus / Hoyerswerda: Der Kreistag Hoyerswerda beschloss am 11. Januar, das Gebäude der KDfS dem Gesundheitswesen zur Verfügung zu 604 Aufruf an alle Bürger des Kreises Riesa, o. D. ( PB Andreas Näther ). 605 Vgl. Beschlussprotokoll der Beratung des RTK Riesa vom 31.1.1990 (PB Michael Herold). 606 Vgl. Beschlussprotokoll des RdK Pirna vom 18. 1. 1990 ( Landratsamt Sächsische Schweiz, KA Pirna, 173). 607 Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 23. 1. 1990. 608 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Sebnitz, vom 30.1. und 2. 2. 1990. 609 Vgl. Protokoll der 5. Sitzung des KT Zittau ( KA Zittau, 4631). 610 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 6. 2. 1990. 611 Vgl. Friedrich Ender, Über die „Wende“ in Bertsdorf ( HAIT, StKa ). 612 Protokoll des RdK Zittau vom 25. 1. 1990 ( KA Zittau, 4790). 613 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Zittau, vom 27./28. 1. 1990.

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stellen. Die Ausgleichszahlungen für ehemalige Mitarbeiter wurden auf Grund von Protesten eingestellt. Der Runde Tisch des Kreises befasste sich am 24. Januar mit dem Post - und Fernmeldewesen, der GST, der Arbeit der Kriminalpolizei, der Auflösung des MfS und der Volksbildung. Der Leiter der GST erklärte, die vormilitärische Ausbildung sei abgeschafft und die GST völlig entmilitarisiert worden. In der Sitzung wurde festgestellt, „dass kein Bereich der DDR so stalinistisch geprägt“ gewesen sei wie die Volksbildung. Die „kaum wiedergutzumachenden Fehler“ an den Kindern und an der Jugend seien wesentliche Ursachen für die Abwanderung junger Menschen aus der DDR gewesen. Der Kreisschulrat bat um Entbindung von seiner Funktion. Es wurde beschlossen, SED, Pionierorganisation und FDJ völlig aus der Schule zu verbannen. Die Jugendweihe sollte künftig nur noch freiwillig und außerhalb der Schule stattfinden. Es wurde beschlossen, künftig auch einen Vertreter des Rates der Stadt einzuladen.614 Bezirk Karl - Marx - Stadt: Am 18. Januar beschloss der Rat des Bezirkes Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeit des Runden Tisches des Bezirkes. Dazu gehörte die Bereitstellung von Räumen, Pkws, Papierkontingenten, Druckkapazitäten und Lizenzierungen sowie von Telefonanschlüssen, die bezahlte Freistellung von der beruflichen Tätigkeit, die Bezahlung von Aufwendungen für die Teilnahme am Runden Tisch sowie die Befreiung von Lizenzen für Druckerzeugnisse wie Broschüren, Plakate oder Handzettel. Die Regelungen galten analog in den Kreisen, Städten und Gemeinden. Es wurde beschlossen, dass künftig an den Beratungen des Runden Tisches auf Einladung der Erste Stellvertreter des Vorsitzenden bzw. Stellvertreter für Inneres als ständige Beauftragte des Rates des Bezirkes und in Sachkompetenz die jeweiligen Stellvertreter des Vorsitzenden und Mitglieder des Rates teilnehmen sollten.615 Am selben Tag trat der Runde Tisch des Bezirkes zusammen. Themen waren die Lage der Landwirtschaft, das Wirtschaftskonzept des Kombinates Baumwolle und Chancengleichheit in den Medien. Angenommen wurde ein Antrag der SED - PDS auf eine Fairness - Vereinbarung im Wahlkampf, mit der sich alle Parteien und Bewegungen verpflichteten, sich „für einen gewaltlosen Verlauf der Revolution einzusetzen und ihren Einfluss geltend zu machen, dass sich die innere Entwicklung weiterhin ohne Gewalt vollzieht“. Gerade die SED - PDS, die bislang Gewalt und Unterdrückung nicht gescheut hatte und auch vor Wahlbetrug nicht zurückgeschreckt war, beantragte nun, im Wahlkampf „mit Anstand und Würde die politischen Auseinandersetzungen zu führen, keinen Hass zu schüren und die Freiheit des Andersdenkenden zu achten“.616 Am 31. Januar befasste sich der Runde Tisch des Bezirkes mit wirtschaftlichen Problemen.617 614 Außerordentliche Sitzung des RTK Hoyerswerda am 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 615 RdB Karl - Marx - Stadt vom 18. 1. 1990 : Beschluss und Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeit des RTB Karl - Marx - Stadt ( SächsStAC, 127368). 616 Protokoll des 4. Runden Tisches im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 18. 1. 1990 ( ebd., Runder Tisch Bezirk Karl - Marx - Stadt, 3). 617 Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 23. 1. 1990.

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Annaberg: Am 11. Januar fand die zweite Beratung des Runden Tisches des Kreises Annaberg statt. Themen waren die Öffnung der „Freien Presse“ für alle Parteien und Organisationen, ein Untersuchungsausschuss zur Offenlegung der Mitarbeiter des MfS und ein Arbeitsausschuss zur Herausgabe einer unabhängigen Zeitung für den Kreis.618 In Oberwiesenthal trat ein Runder Tisch zusammen, an dem „das alte Regime um Machterhaltung kämpfte und man die Basisgruppe und andere Bürger an der Ortspolitik scheinbar beteiligen wollte“.619 Ab Januar fanden auch in Königswalde Beratungen am Runden Tisch statt. Hier wurde nach dem Beispiel des Zentralen Runden Tisches zunächst eine Teilnahme von DFP und DSU abgelehnt. Stattdessen nahmen Kirchenvertreter sowie „Unabhängige Bürger“ teil.620 Auf der 5. Tagung des Kreistages am 25. Januar schlug Ratsvorsitzender Martin Jörgen die Benennung von Persönlichkeiten vor, die Mitglied im Rat des Kreises werden und eine „Große Koalition“ bilden sollten. Die Benennung sollte durch alle alten und neuen Parteien und Organisationen erfolgen.621 Aue: Am 20. Januar tagte auf Einladung des Bürgermeisters erstmals der Runde Tisch Zwönitz. Hier war das Stimmrecht nicht personenbezogen und nur Parteien und Organisationen mit jeweils einer Stimme vorbehalten. Neues Forum und Kirchen hatten zwei Stimmen. Der Bürgermeister erläuterte, dass die Beschlüsse des Runden Tisches nach Rechtslage nur empfehlenden Charakter hätten. Der Runde Tisch könne aber über Themen der Stadtverordnetenversammlung informiert werden. Seitens der Kirchen wurde ein größerer Einfluss des Runden Tisches gefordert.622 Wie hier ging es auch in einem Vorschlag der ev. - luth. Kirche in Eibenstock um die Formulierung einer Geschäftsordnung, in der die Funktionsweise des Runden Tisches festgehalten werden sollte. Wie an den meisten Runden Tischen legten die bereits Beteiligten fest, wessen Antrag auf Teilnahme stattgegeben wurde. Diese Vorgehensweise führte an vielen Tischen dazu, dass linke Gruppierungen versuchten, Vertreter liberal - konservativer Parteien zunächst von einer Teilnahme fernzuhalten.623 Auerbach: Statt eines Runden Tischers bildete sich am 21. Januar in Schreiersgrün eine Bürgerinitiative, deren Mitlieder regelmäßig an den Gemeinderatssitzungen teilnahmen.624 Am 25. Januar beriet der Runde Tisch des Kreises Vorlagen des Rates des Kreises an den Kreistag. Die Teilnehmer behielten sich hier ein Vetorecht vor und entsandten einen Vertreter als Beobachter zu den

618 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 13. 1. 1990. 619 Joachim Kunze, Die Wendezeit 1989/1990 in unserem Kurort Oberwiesenthal ( HAIT, StKa ). 620 Vgl. Die Zeit der Wende in Königswalde ( ebd.). 621 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Annaberg, vom 27. 1. 1990. 622 Vgl. Aktennotiz über die Beratung mit dem RT Zwönitz am 20. 1. 1990 ( Stadtverwaltung Zwönitz, Bürgermeister ); Uwe Schneider, Aufbruch und Wende in Zwönitz II (HAIT, StKa ). 623 Vgl. Geschäftsordnung des RTS Eibenstock vom 26. 1. 1990 ( ebd.). 624 Vgl. Meinel / del Pino, Die Wende im Kreis Auerbach, S. 164.

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Ratssitzungen.625 In Werda trat am 30. Januar erstmals ein Runder Tisch zusammen. Vertreter von CDU, BFD und SPD berieten hier bis zum 24. April überwiegend kommunale Fragen.626 Brand - Erbisdorf: Im Kreis Brand - Erbisdorf beantragte das Präsidium des SED - PDS - Kreisvorstandes auf dem Kreistag am 31. Januar die Abberufung des aus der SED ausgetretenen Ratsvorsitzenden Horst Schmidt, was von der Mehrheit der Fraktionen abgelehnt wurde. Schmidt erklärte sein Amt ohne parteipolitische Zwänge weiterführen zu wollen. SPD und Neues Forum gaben Loyalitätserklärungen für ihn ab.627 Flöha: Am 18. Januar beschloss der Kreistag Flöha die Unterstützung des demokratischen Erneuerungsprozesses und traf Beschlüsse, die denen diametral entgegengesetzt waren, die man hier noch wenige Monate zuvor postuliert hatte. Er trat für eine „zeitgemäße Beziehung zwischen DDR und BRD“, die Trennung zwischen Parteien und Staat, eine Verwaltungsreform, die Zusammenarbeit von Staat und Kirche, einen regelmäßigen Runden Tisch, die Sicherung von Produktion und Versorgung, eine Verbesserung der Wohnbedingungen und medizinischen Betreuung, die Weiterentwicklung der Dienstleistungen, den Einsatz der Baukapazitäten vorrangig für die Verbesserung der Wohnqualität und eine Erneuerung in der gesellschaftlichen Bildung und Erziehung ein.628 Der zweite Runde Tisch in Eppendorf befasste sich am 22. Januar mit der Umweltverschmutzung.629 In der Kreistagssitzung am 26. Januar erklärten Ratsmitglieder und Abgeordnete der SED - PDS ihren Parteiaustritt und ihre Bereitschaft zum Rücktritt von ihren Ämtern.630 Am 30. Januar beschloss der Rat des Kreises Flöha gemäß der Vorgaben des Rates des Bezirkes eine Unterstützung des Runden Tisches und der an ihm vertretenen Parteien und Gruppierungen.631 Freiberg: Am 24. Januar tagte der Runde Tisch für die Stadt und den Kreis Freiberg632 und legte seine Zusammensetzung sowie Form und Schwerpunkte seiner Arbeit fest. Danach war er ein basisdemokratisches Beratungs - und Kontrollorgan der örtlichen Volksvertretungen Kreistag und Stadtverordnetenversammlung. Beide Körperschaften waren ihm gegenüber rechenschaftspflichtig.633 Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes berichtete über die Auflösung des 625 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Auerbach, vom 27. 1. 1990; Meinel / del Pino : Die Wende im Kreis Auerbach, S. 86–89. 626 Vgl. ebd., S. 172. 627 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Brand - Erbisdorf, vom 31. 1. 1990. 628 Beschlussentwurf für den KT am 18. 1. 1990 : Maßnahmen und Orientierungen des KT Flöha zur Unterstützung und Förderung des demokratischen Erneuerungsprozesses im Kreis ( KA Freiberg, KT Flöha, 12223). 629 Vgl. H. Schulze, 2. Runder Tisch in Eppendorf am 22. 1. 1990 ( HAIT, StKa ). 630 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Flöha, vom 26. 1. 1990. 631 Vgl. Referat des RdS Flöha an Abgeordnete vom 30. 1. 1990 ( StA Flöha ). 632 Einladung des RdK Freiberg zur Beratung am RT am 24. 1. 1990 / RdK Freiberg, der Vorsitzende, Dr. Vetter, an Verteiler vom 24. 1. 1990 : Grundsätze und Gesprächsthemen des RT ( KA Freiberg, 444); Wilhelm Schlemmer an Sächsische Staatskanzlei vom 7. 7. 1999 ( HAIT, StKa ). 633 Grundsätze der Arbeit des RT Freiberg vom 30. 1. 1990 ( StA Freiberg ).

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KAfNS, die er als unbefriedigend einstufte.634 Das Neue Forum forderte den Rücktritt des Vorsitzenden des Rates des Kreises und eine ständige Teilnahme kompetenter Vertreter der Räte der Stadt und des Kreises.635 Glauchau: Am 18. Januar tagte der Kreistag Glauchau erstmals in Fraktionsordnung. Zum Vorsitzenden des Präsidiums wurde Gert Ehlert ( CDU ), zu Stellvertretern Abgeordnete von NDPD und LDPD gewählt. Günther Riegels wurde als Ratsvorsitzender abberufen und durch Rudi Schaller ersetzt. Die im November gebildete zeitweilige Untersuchungskommission Amtsmissbrauch und Korruption gab Bericht.636 Am 23. Januar trat der Runde Tisch Meerane zur dritten Sitzung zusammen,637 am nächsten Tag löste sich hier die SED - PDSFraktion in der Stadtverordnetenversammlung auf. Der Rat erhielt das Vertrauen der anderen Fraktionen. Ebenfalls am 24. Januar tagte zum zweiten Mal der Runde Tisch des Kreises und informierte über zunehmende Austritte von Bürgermeistern und Abgeordneten aus der SED - PDS.638 Hohenstein - Ernstthal: Am 17. Januar tagte zum vierten Mal der Runde Tisch des Kreises im Ratssaal des Rates des Kreises. Themen waren u. a. die Arbeitsfähigkeit der Städte und Gemeinden, das Gesundheitswesen und die Veränderungen im Bereich Bildung.639 Am 23. Januar forderten 16 Mitglieder des Rates des Kreises vom Ministerrat eine sofortige Verwaltungsreform und einen Volksentscheid zur deutschen Einheit.640 Vor dem Runden Tisches des Kreises kündigte der Rat des Kreises am 24. Januar an, in der nächsten Kreistagssitzung die Vertrauensfrage zu stellen.641 Am 31. Januar ging es am Runden Tisch des Kreises um die Auflösung des MfS, dessen Verflechtung mit der SED und den Umgang mit Namen von IM des MfS.642 Karl - Marx - Stadt: Am 3. Januar konstituierte sich beim Rathausgespräch mit dem Oberbürgermeister ein Runder Tisch Karl - Marx - Stadt. Diskutiert wurde die Forderung eines Veto - Rechtes für den Runden Tisch gegen Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung, die Medienpräsenz neuer Gruppen und Parteien sowie deren Arbeitsmöglichkeiten.643 Kreis Karl - Marx - Stadt: Am 9. Januar wurde im Rat des Kreises Karl - Marx Stadt - Land ein Runder Tisch des Kreises konstituiert. Beschlossen wurde, dass 634 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Freiberg, vom 27. 1. 1990. 635 Freiberger Neues Forum vom 24. 1. 1990 : Anträge zur Geschäftsordnung für die Beratung des RT / Liste der beteiligten Parteien / Gruppen am RT vom 24. 1. 1990 ( KA Freiberg, 444, Bl. 1–6). 636 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 20. 1. 1990. 637 Protokoll der 3. Beratung des RT Meerane vom 23. 1. 1990 ( Stadt Meerane ). 638 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Glauchau, vom 26. und 31. 1. 1990. 639 Niederschrift des 4. RT im RdK vom 17. 1. 1990 ( KA Chemnitzer Land, 36646). 640 Offener Brief des RdK Hohenstein - Ernstthal an Ministerrat der DDR vom 23. 1. 1990 (ebd.). 641 Protokoll des 4. RT ( Fortsetzung ) vom 24. 1. 1990 ( KA Chemnitzer Land, 36646); Freie Presse, Ausgabe Hohenstein - Ernstthal, vom 26. 1. 1990. 642 Niederschrift des 5. RT vom 31. 1. 1990 / RdK Karl - Marx - Stadt - Land an Ministerrat vom 12. und 15. 2. 1990 ( KA Chemnitzer Land, 36646). 643 Vgl. Die Union, Ausgabe Karl - Marx - Stadt, vom 6./7. 1. 1990.

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SED - Mitglieder nicht als Vertreter von FDJ, VdgB und DFD teilnehmen durften. Vor dem Runden Tisch des Kreises informierte der Leiter des Volkspolizeikreisamtes am 23. Januar darüber, dass es, anders als von Gysi und Modrow behauptet, jedenfalls im Kreis keine Anzeichen für Neofaschismus und Rechtsradikalismus gebe.644 Klingenthal: Am 18. Januar tagte im Rathaus Markneukirchen auf Einladung des Bürgermeisters unter Leitung von Pfarrer Sembdner erstmals der Runde Tisch der Stadt. Es wurde festgelegt, alle Festlegungen des Runden Tisches zwingend in die Stadtverordnetenversammlung einzubringen und Ablehnungen am Runden Tisch zu begründen. Alle Parteien und Bürgerbewegungen erhielten die Möglichkeit, einen Vertreter mit beratender Funktion zu den Ratssitzungen zu entsenden.645 Der Runde Tisch des Kreises lehnte am 23. Januar eine Aufnahme des FDGB ab und beschloss die Gründung eines Pressebeirates zur Demokratisierung der Presse. Behandelt wurden u. a. die Nutzung der Immobilien von MfS und SED - Kreisleitung sowie das Schulwesen.646 Marienberg: Am Runden Tisch Marienberg gab es im Januar Diskussionen über die Abwesenheit der SDP, die sie mit Benachteiligungen ihres Wirkens begründete.647 Der Kreistag beschloss am 25. Januar vier Mandatsaufhebungen wegen Austritts aus der SED - PDS. U. a. betraf dies den vorübergehend als Ratsvorsitzenden fungierenden Gunter Siegert. Bei der Wahl eines neuen Ratsvorsitzenden fiel der alleinige Kandidat Jürgen Jähnig mit 35 von 74 Stimmen durch. Daraufhin wurde Joachim Meier ( LDPD ) amtierender Ratsvorsitzender. Die Stadtverordnetenversammlung Marienberg wählte am 31. Januar den bisherigen Bürgermeister Karl - Heinz Binus ( CDU ) ab. Seine Stelle übernahm Birgit Walther ( CDU ). Hier wie andernorts blieben viele Abgeordnetenstühle unbesetzt und es erfolgte gar nicht erst eine Prüfung der Beschlussfähigkeit.648 Oelsnitz: Der Kreistag Oelsnitz beschloss am 18. Januar die Bildung von Fraktionen. Das Neue Forum und Bürgerinitiativen durften nun ebenfalls Fraktionen mit je drei Mitgliedern und beratender Stimme bilden. Am Runden Tisch des Kreises wurde am 25. Januar u. a. über Bildungsfragen diskutiert und ein Antrag des Pfarrers auf Ablehnung der schulischen Trägerschaft für die Jugendweihe angenommen.649 Kreis Plauen: Am 17. Januar tagte auf Einladung des Ratsvorsitzenden erstmals der Runde Tisch des Kreises. Er befasste sich u. a. mit Korruption und Amtsmissbrauch und der MfS - Auflösung.650 Am folgenden Tag wurde bei einer 644 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Karl - Marx - Stadt Land, vom 11. und 25. 1. 1990. 645 Vgl. Protokoll der 1. Beratung des RT Markneukirchen vom 18. 1. 1990; Markneukirchen. Die „Wende“ und die Zeit danach 1989–1998 ( PB Johannes Sembdner ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 25. 1. 1990. 646 Vgl. Festlegungsprotokoll des 2. RTK Klingenthal vom 23. 1. 1990 ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 24. und 26. 1. 1990. 647 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 17. 1. 1990. 648 Vgl. ebd. vom 27.1. und 3. 2. 1990. 649 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Oelsnitz, vom 20. und 27. 1. 1990. 650 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 19. 1. 1990.

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öffentlichen Gemeindevertretsitzung in Jößnitz der Bürgermeisterin das Vertrauen entzogen.651 Bei der Sitzung des Runden Tisches des Kreises am 24. Januar waren neben den üblichen Vertretern der Parteien, Kirchen und des Rates des Kreises auch ein Vertreter eines Runden Tisches für Jugend und Sport und Vertreter von Bürgerinitiativen der Gemeinden mit insgesamt 10 Stimmen vertreten. Bei der nächsten Sitzung am 31. Januar ging es um die Gründung einer Untersuchungskommission für Amtsmissbrauch und Korruption. Der Ratsvorsitzende forderte zur Besetzung von freien Mandaten im Kreistag durch Vertreter des Neuen Forums und anderer neuer Gruppierungen auf.652 Stadtkreis Plauen: Am 18. Januar tagte auf Einladung der Gruppe der 20 zum zweiten Mal der Runde Tisch der Stadt Plauen. Superintendent Küttler leitete die Tagung. Hier ging es u. a. um die Situation in den Plauener Betrieben und die Brechung des Medienmonopols der SED. Die „Freie Presse“ schlug die Bildung eines Redaktionsbeirates vor. Für den März wurde die Herausgabe eines „Neuen Vogtländischen Anzeigers“ als unabhängiges Blatt angekündigt.653 Reichenbach: In Reichenbach tagte am 16. und 30. Januar ein Runder Tisch der Stadt, am 25. Januar folgte eine Tagung des Runden Tisches des Kreises. Hier wurde beschlossen, dass der Kreistag zeitweilige Arbeitsgruppen zu Schwerpunkten bilden müsse, wenn dies vom Runden Tisch gefordert werde.654 Rochlitz: Beim dritten Runden Tisch wurde am 25. Januar in Rochlitz erneut eine Mitarbeit gesellschaftlicher Organisationen abgelehnt und die ev. - luth. Kirche mit der ständigen Tagungsleitung beauftragt. Die Nationale Front wurde aufgefordert, ihre hauptamtliche Geschäftsführung im Bezirk aufzulösen.655 Schwarzenberg: Vor dem Runden Tisch des Kreises informierte der Ratsvorsitzende am 23. Januar über neue Ratsbereiche für innerdeutsche Beziehungen sowie Öffentlichkeitsarbeit und bot der SPD und dem Neuen Forum Stellen an. Auf Antrag des Neuen Forums wurde die Mitarbeit der von Modrow zur neuen Staats - Bürgerbewegung erkorenen Nationalen Front am Runden Tisch beendet. Am 30. Januar schlugen die Kirchen am Runden Tisch die Einrichtung eines christlichen Kindergartens in ihrer Trägerschaft vor. Beschlossen wurde, die Beschränkung der Jagdgesellschaft auf im Wesentlichen kommunistische Mitglieder aufzuheben.656 Stollberg: In der zweiten Januarhälfte tagte der Runde Tisch des Kreises Stollberg zum dritten Mal. Moderiert wurde er nicht wie sonst von der Kirche, son-

651 RdK Plauen vom 28. 1. 1990 : Niederschrift der Teilnahme an der öffentlichen Gemeindevertretersitzung Jößnitz ( Landratsamt Vogtlandkreis, SG Archiv, Dienststelle Plauen; VwA - Nr. 21402). 652 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 26.1. und 2. 2. 1990. 653 Vgl. Niederschrift des Rundtischgespräches am 18. 1. 1990 im Rathaus ( StA Plauen, A648, Bl. 177 f.); Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 20. 1. 1990. 654 Vgl. Landratsamt Reichenbach; Wir sind das Volk, S. 120–126; Freie Presse, Ausgabe Reichenbach, vom 27. 1. 1990. 655 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Rochlitz, vom 27. 1. 1990. 656 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 25.1. und 1. 2. 1990.

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dern vom Vorsitzenden des Rates des Kreises, Dietmar Nestler. Dieser informierte über den Abschluss der Auflösung des MfS. Parteien und Neues Forum sollten künftig stimmberechtigt teilnehmen, Massenorganisationen hingegen nur beratend.657 Werdau: Unter dem Vorsitz des Neuen Forums tagte am 24. Januar der Runde Tisch Crimmitschau. Hier wurde die „Freie Presse“ für unabhängig erklärt. Der Runde Tisch stimmte Verwaltungsreformen zu, und alle Parteien erhielten Arbeitsräume im Stadthaus. Daneben ging es vor allem um die kommunale Bauwirtschaft.658 Das Neue Forum schlug „zur Rechtsstellung des Runden Tisches als Gremium der demokratischen Umgestaltung“ die Einführung einer „Bedenkensklausel“ vor. Den „Fraktionen“ des Runden Tisches sollten demnach vom Rat der Stadt rechtzeitig Beschlussvorlagen übergeben werden.659 Bei der dritten Beratung des Runden Tisches des Kreises Werdau am 25. Januar stellte Ratsvorsitzender Rolf - Werner Sünderhauf den Haushalts - und Jahresplan 1990 zur Diskussion und erklärte seinen Austritt aus der SED - PDS. Erstmals konnten Städte und Gemeinden selbst über die Mittelverwendung entscheiden. Die SED - PDS erklärte sich bereit, das Haus der Kreisleitung in Rechtsträgerschaft des Rates der Stadt zu übergeben. Dem Ratsvorsitzenden wurde mehrheitlich das Vertrauen ausgesprochen. Dieser bot allen Parteien und Bewegungen eine Mitarbeit im Rat des Kreises an.660 Zschopau: Am 25. Januar trafen sich Vertreter des Rates der Stadt Zschopau und von Bürgerinitiativen. Dabei lehnten SPD und Neues Forum das Angebot einer beratenden und beschließenden Mitgliedschaft in der Stadtverordnetenversammlung und im Rat der Stadt bis zur Kommunalwahl mangels Legitimierung ab. Stattdessen plädierten sie für die Gründung eines Runden Tisches. Am 29. Januar trat der Runde Tisch des Kreises erstmals unter Teilnahme der SPD zusammen.661 Stadtkreis Zwickau: Am dritten Runden Tisch der Stadt Zwickau ging es am 16. Januar um die Modalitäten der Vertretung am Runden Tisch, um das Parteieigentum der SED - PDS, die Rentenansprüche aus der Mitgliedschaft bei den Kampfgruppen, um Akten und Dienstwaffen des MfS sowie um die Gründung einer unabhängigen lokalen Zeitung.662 Kreis Zwickau: Nach der ersten Tagung des Runden Tisches des Kreises Zwickau informierte der Rat des Kreises, dass nach der neuen Geschäftsordnung des Kreistages Mitglieder des Runden Tisches ständig an Kreistagssitzun657 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Stollberg, vom 20. 1. 1990. 658 Vgl. Tagung des RT Crimmitschau am 24. 1. 1990 im Ratssaal ( HAIT, Werdau, Wer E2); Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 26. 1. 1990. 659 Neues Forum Crimmitschau vom 24. 1. 1990 : Antrag des RT Crimmitschau ( HAIT, Werdau, Wer D1). 660 Protokoll des RTK Werdau vom 25. 1. 1990 ( PB Meusel ). Vgl. Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 27. 1. 1990. 661 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zschopau, vom 26. und 30. 1. 1990. 662 Vgl. Protokoll der 3. Tagung des RTS Zwickau vom 16. 1. 1990 ( Friedensbibliothek Zwickau ); Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 18. 1. 1990.

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gen teilnehmen und neue Parteien und Bürgerbewegungen das Rederecht erhalten würden. Statt eines geforderten Vetorechts des Runden Tisches schlug er ein Prozedere der gegenseitigen Information und gemeinsamen Vorbereitung von Maßnahmen vor. Bei der zweiten Tagung des Runden Tisches des Kreises am 24. Januar erhielten der Kreisjugendausschuss663 und der Kulturbund den Beobachterstatus. Ein Stimmrecht für den FDGB wurde abgelehnt. Inhaltlich ging es u. a. um Probleme der Umweltverschmutzung und um Überbrückungsgelder für ehemalige MfS - Mitarbeiter.664 Bezirk Leipzig: Die Gründung des Runden Tisches des Bezirkes ging auf einen Beschluss des Runden Tisches der Stadt Leipzig zurück. Seine Tätigkeit beschränkte sich vor allem auf das ökologische Notstandsgebiet im Leipziger Süden und dem Naturschutz. Friedrich Magirius sah in ihm den Versuch der nach den Rücktritten übriggebliebenen Verantwortlichen im Bezirk, neue Kräfte einzubinden, um die auseinanderbrechende Strukturebene Bezirk am Leben zu erhalten. Seine Bedeutung für den Bezirk und die Stadt war gegenüber der Bedeutung des Runden Tisches der Stadt Leipzig marginal, verfügte er doch über keinerlei Weisungs - und Entscheidungskompetenzen. Außerdem war das legislative Organ, der Bezirkstag, im Gegensatz zur Stadtverordnetenversammlung, noch tätig.665 Vor dem von Magirius geleiteten Runden Tisch des Bezirkes gab der Ratsvorsitzende am 2. Januar einen Bericht über seine Tätigkeit. Von nun an berichtete der Rat hier regelmäßig über seine Arbeit.666 Es wurde vereinbart, künftig bei den Montagsdemonstrationen auf Kundgebungen zu verzichten. Angesichts der Kampagne der SED - PDS, die oppositionellen Gruppen „zu verunglimpfen und sich selbst unangemessen breit und einseitig in den Vordergrund zu schieben“, beschlossen SDP, IFM und Neues Forum jedoch, die Kundgebungen weiter zu nutzen.667 Der Runde Tisch des Bezirkes beriet am 5. bis 7. Januar gemeinsam mit Vertretern der Landesregierung von NordrheinWestfalen über Formen der Unterstützung und Zusammenarbeit. Dabei ging es sowohl um eine Unterstützung der Runden Tische sowie neuer demokratischer Gruppen und Parteien als auch um direkte materielle Hilfe im kommunalen Bereich.668 Anfragen des Runden Tisches wurden vom Rat des Bezirkes schriftlich beantwortet. In Umsetzung des Ministerratsbeschlusses vom 21. Dezember unterstützte der Rat die Arbeit des Runden Tisches.669 Am 18. Januar befasste sich der Runde Tisch vor allem mit seinen Kontakten nach Nordrhein - Westfalen, der MfS - Auflösung und der Wahlvorbereitung. Er übte Kritik an Modrows Ver-

663 Vgl. Protokoll der 3. Beratung des RT der Jugend Kreis Zwickau vom 25. 1. 1990 ( Friedensbibliothek Zwickau ). 664 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 18. und 26. 1. 1990. 665 Vgl. Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 93 f. 666 Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990 ( ABL, H. XXVIII ). 667 Erklärung oppositioneller Gruppen zur Montagsdemonstration, o. D. ( ebd., H. I ). 668 Beratung der Landesregierung NRW und des RTB Leipzig vom 5.–7. 1. 1990 ( ebd., H. IV, RT Leipzig ). 669 Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 5. 1. 1990 ( SächsStAL, 21319).

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such, die Nationale Front zu restaurieren.670 Am 25. Januar beschloss der Bezirkstag ein Aktionsprogramm. Darin ging es um Wirtschaftsreformen sowie um eine neue Bau - , Bildungs - und Kulturpolitik.671 Am selben Tag wurden der Bereich des 1. Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes aufgelöst und weitere Umstellungen in der Struktur des Rates vorgenommen.672 Altenburg: Eine neue Geschäftsordnung des Kreistages Altenburg vom 31. Januar erlaubte die Fraktionsbildung und eine Zusammenarbeit mit neuen Parteien, Organisationen und Bürgerinitiativen.673 Borna: Der Runde Tisch des Kreises Borna tagte am 18. Januar zum zweiten Mal. Hier waren alle sich zur Wahl stellenden Parteien und das Neue Forum stimmberechtigt, 14 weitere Organisationen waren beratend vertreten. Die ständige Moderation lag bei Superintendent Ekkehard Vollbach bzw. anderen Vertretern der Kirche. Der Runde Tisch erklärte den Kreis zum ökologischen Notstandsgebiet. Bei der dritten Beratung am 29. Januar konnte das Thema MfS Auflösung nur unzureichend behandelt werden, da der ehemalige Leiter der KDfS nicht erschien.674 Am 30. Januar bildete sich ein Runder Tisch der Stadt Borna. Die Moderation lag bei Vertretern der ev. - luth. und katholischen Kirche. Er befasste sich mit Fragen des Bauwesens und der Nutzung der Gebäude der SED - Kreisleitung.675 Am Runden Tisch in Regis - Breitingen saßen Vertreter der bisherigen Stadtverwaltung, der Kirche, der Ex - Blockparteien mit Ausnahme der CDU und der SPD.676 Delitzsch: In Delitzsch trat der stellvertretende Ratsvorsitzende des Kreises für Inneres am 20. Januar zurück. Am 24. Januar tagte der Runde Tisch der Stadt zum Thema Gesundheitswesen. Gleichzeitig befasste sich die Stadtverordnetenversammlung mit kommunalen Themen und dem Haushalt für 1990.677 Der Kreistag befasste sich am 31. Januar vor allem mit dem Wirtschaftsplan. Auf Antrag der SED - PDS wurden der ehemalige 1. Sekretär der SED - Kreisleitung, Gerhard Kießling, sowie weitere Mitglieder der Kreisleitung wegen „mangelnder Rechtfertigung des Vertrauens“ abberufen.678 Döbeln: Am 17. Januar berichtete der Rat des Kreises vor dem Kreistag über die Planerfüllung 1989 und den Planentwurf für 1990. Intern ging es um Fraktionsbildung, Mandatsveränderungen sowie die Bildung eines Arbeitspräsidiums

670 Protokoll der Beratung des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990 ( ebd., BT / RdB, 31255, Bl. 1– 10); Die Union, Ausgabe Leipzig, vom 20. 1. 1990. 671 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 26. 1. 1990. 672 IX. Legislaturperiode, 16. BT vom 25. 1. 1990 ( SächsStAL, 19048). 673 Beschlussvorlage des RdK Altenburg vom 31. 1. 1990 ( KA Altenburg, RdK ABG, KT 1805). 674 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Borna, vom 23. und 31. 1. 1990. 675 Protokoll des RT vom 30. 1. 1990 ( Stadtverwaltung Borna ). 676 Vgl. Arnold, Über die Wiederentstehung, S. 240–244. 677 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 20./21., 26. und 27. 1. 1990. 678 Protokoll der 5. Tagung des KT vom 31. 1. 1990 ( KA Delitzsch, 1703). Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Delitzsch, vom 2. 2. 1990.

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unter Leitung von Lutz Göpel ( DBD ).679 Der Runde Tisch der Stadt Döbeln tagte am 23. Januar mit Vertretern von 15 Parteien und Organisationen. Die Reihenfolge der Tagungsleitung lag hier nicht bei der Kirche, sondern wurde per Los festgelegt. Vertreter mit Doppelmandat, die zugleich der FDJ, dem FDGB und dem DFD sowie der SED - PDS angehörten, wurden ausgeschlossen. Die nächste Sitzung folgte am 30. Januar.680 Eilenburg: Am 17. Januar ging es am Runden Tisch in Eilenburg vor allem um die Modalitäten des Wahlkampfes. Die Teilnehmer unterzeichneten eine öffentliche Erklärung zum Gewaltverzicht und zu einem fairen Wahlkampf. Am 25. Januar ging es um die Auflösung des MfS und um Chancengleichheit im Wahlkampf.681 Bei der vierten Tagung der Dübener Stadtverordnetenversammlung reichte der Bürgermeister seinen Rücktritt ein. Inhaltlich ging es vor allem um die Wohnraumvergabe - und Eigenheimbebauungspläne. Der Jahresplan wurde angesichts der Unwägbarkeiten der Entwicklung nicht mehr beraten.682 Geithain: In Geithain ging es bei der dritten Zusammenkunft des Runden Tisches des Kreises am 22. Januar u. a. um die Reduzierung des Verwaltungsapparates und die Lage der Volksbildung im Kreis. Der Rat des Kreises wurde aufgefordert, einen neuen Kreisschulrat zu bestimmen.683 Am 25. Januar fand in Ossa eine „restlos überfüllte und lange erwartete Einwohnerversammlung“ statt.684 Am 29. Januar ging es beim zweiten Runden Tisch in Bad Lausick ohne Beteiligung von Mitgliedern der SED - PDS um Amtsmissbrauch und Korruption, Fragen der Sicherheit, Bauvorhaben und die starke Wasserverunreinigung im Ort. Die Bürgermeisterin bot an, Vertreter des Neuen Forums und der SPD in die Stadtverordnetenversammlung aufzunehmen.685 Grimma: Am zweiten Runden Tisch in Naunhof informierte der Bürgermeister am 16. Januar über die Arbeit des Rates, die Aufnahme einer Städtepartnerschaft und legte einen Haushaltsplan für 1990 vor. Angesichts der weiterhin SED- nahen Presse wurde über die Herausgabe eines unabhängigen Informationsblattes beraten, dessen Inhalt vom Runden Tisch bestätigt werden sollte. Der zweite Runde Tisch in Colditz tagte am 17. Januar mit Vertretern des Natur - und Umweltschutzes sowie mit sachkompetenten Fachleuten zum Baugeschehen in der Stadt.686 Bei der Stadtverordnetenversammlung in Grimma ging es am 24. Januar um den Planentwurf für 1990, den Wohnraumvergabeplan und die Bildung einer eigenständigen Kommission für Umweltschutz und Naherholung 679 Vgl. Tätigkeitsbericht des RdK vor dem KT vom 17. 1. 1990 ( Landratsamt Döbeln, KA, EA / S, 3532, Bl. 1–17); 3. Sitzung des KT Döbeln vom 17. 1. 1990 ( ebd., VA, 27559, Bl. 27–33); Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 19. 1. 1990. 680 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Döbeln, vom 25. 1. 1990; Plate, Döbelner Herbst ’89. 681 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 10. und 27./28. 1. 1990. 682 Ebd. vom 23. 1. 1990. 683 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Geithain, vom 25. 1. 1990. 684 Ebd. vom 30. 1. 1990. 685 Vgl. ebd. vom 9. 2. 1990. 686 Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Grimma, vom 20./21. 1. 1990.

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sowie um Informationen des Ausschusses für Untersuchungen von Amtsmissbrauch und Korruption. Der dritte Runde Tisch des Kreises befasste sich am 31. Januar mit der Lage in Handel und Versorgung.687 Stadtkreis Leipzig: Am 3. Januar berieten in Leipzig Repräsentanten und Stadträte über Probleme der Stadt.688 Ab diesem Zeitpunkt begann die offizielle Protokollierung dieser Gespräche als Runder Tisch. In einer am 17. Januar verabschiedeten Satzung hieß es, der Runde Tisch übe keinerlei parlamentarische oder Regierungsfunktion aus. Seine Vorschläge seien aber von der Stadtverordnetenversammlung und dem Rat der Stadt zu berücksichtigen. Das Verhältnis beider Gremien änderte sich durch das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen OB Bernd Seidel und andere Mitarbeiter des Staatsapparates. Seidel und der ehemalige 1. Sekretär der SED - Stadtleitung wurden verhaftet und gestanden Wahlmanipulationen am 7. Mai 1989 ein. Gegen Seidel wurde am 23. Januar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen. Der Runde Tisch der Stadt forderte daraufhin bei einer außerordentlichen Tagung die vollständige Aufklärung der Weisungsstrukturen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989. Die Aussprache war durch starkes persönliches Misstrauen gegenüber den anwesenden Ratsmitgliedern geprägt. Teilnehmer neuer Parteien und Bürgerbewegungen forderten die Auflösung der Stadtverordnetenversammlung. Die ehemals in der Nationalen Front vereinten Parteien und Organisationen plädierten dafür, sie unter Beteiligung stimmberechtigter Vertreter des Runden Tisches weiterzuführen und eine provisorische Stadtverwaltung zu bilden. Am Ende wurden die Stadtverordneten aufgefordert, trotz fehlender Legitimation geschäftsführend bis zu den Kommunalwahlen weiterzuwirken. Am 26. Januar trat die Stadtverordnetenversammlung zu einer Krisensitzung zusammen. Angesichts der offensichtlichen Fälschungen stand die Legitimität des Gremiums zur Debatte. Sollte es geschäftsführend weiterarbeiten oder sich auflösen ? Vertreter des Runden Tisches forderten, das Gremieum zwecks Regierbarkeit der Stadt geschäftsführend weiterarbeiten zu lassen. NDPD und FDJ plädierten für eine Auflösung, während die anderen Fraktionen überwiegend für eine Weiterarbeit eintraten. Auch der Rat sollte demnach geschäftsführend im Amt bleiben. Der Abgeordnete Bernhard Knupp ( ehemals SED ) setzte mit Anträgen schließlich durch, dass sich die Stadtverordnetenversammlung mit nur einer Gegenstimme als nicht mehr legitimiertes Gremium bezeichnete. Die Frage einer Abstimmung stellte sich danach nicht mehr, da mit der fehlenden Legitimation die Auflösung für die Mehrzahl der Abgeordneten fest stand. Die Tagung endete in Konfusion und löste sich auf. Die weitere Verantwortung wurde in die Hände des Runden Tisches gelegt. Die Abgeordneten, die eben noch mehrheitlich für die Weiterarbeit plädiert hatten, entließen sich selbst aus der Verantwortung. Damit war die Leipziger Stadtverordnetenversammlung die erste und in dieser Größenordnung einzige Volksvertretung, die sich selbst auflöste. Nun übernahm 687 Vgl. ebd. vom 26.1. und 2. 2. 1990. 688 Die Darstellung Leipzigs stützt sich auf Liebold, Zwischen zentralistischer Abhängigkeit, S. 94–101.

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der Runde Tisch faktisch die Funktion als kommunales Beschlussorgan, obwohl der Rat ihm gegenüber gesetzlich nicht rechenschaftspflichtig war. Die Ratsmitglieder erklärten sich aber bereit, mit dem Runden Tisch Modalitäten der weiteren Zusammenarbeit zu finden : So arbeitete der Rat geschäftsführend weiter und forderte Vertreter der neuen Kräfte zur Mitwirkung auf. Der Runde Tisch übernahm in der Folge die Funktion der Stadtverordnetenversammlung als tatsächliches Legislativorgan und arbeitete angesichts der neuen Strukturen effektiver, als es die in die Krise geratene Stadtverordnetenversammlung hätte leisten können. Dieser Vorgang zeigt die Fragwürdigkeit der Argumention Modrows, die Staatsorgane hätten erhalten werden müssen, um Chaos zu vermeiden. Der Leipziger Weg bewies, dass sie in ihrer krisenhaften Lage einer effektiven Erneuerung im kommunalpolitischen Bereich eher im Wege standen. Der Runde Tisch befasste sich am 31. Januar mit der Auf lösung der Stadtverordnetenversammlung und der Sicherung der Weiterarbeit des Rates. Hier gab es konkrete Vorschläge des Bürgerkomitees Leipzig sowie von Vertretern der neuen demokratischen Kräfte zur Gewährleistung der Regierbarkeit. Danach sollte der Runde Tisch bis zu den Kommunalwahlen die erforderlichen Entscheidungen der Legislative in modifizierter Arbeitsform treffen, der Rat der Stadt hingegen rein exekutive Funktionen erfüllen. Es sollte Rechenschaftspflicht der Stadträte gegenüber dem Runden Tisch bestehen und das eigenständige Entscheidungsrecht der Stadträte in einigen Bereichen aufgehoben werden. In einer neuen Satzung hieß es nun : „Nach Auf lösung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig nimmt der RTSL alle legislativen Aufgaben bis zur Kommunalwahl wahr.“ Zwei Vertreter des Runden Tisches waren als „Beauftragte des Runden Tisches beim OBM“ mit der Kontrolle der Ratstätigkeit befasst. Oschatz: In Oschatz befasste sich die erste reguläre Montagsrunde am 15. Januar mit dem Thema „Gesundheitswesen“, bei der zweite Montagsrunde in der Oschatzer Klosterkirche ging es um das Thema „Volksbildung“. Um der Bevölkerung ein stärkeres Mitspracherecht zu sichern, fanden von nun an Bürgerforen und Montagsrunden im Wechsel statt. Glichen die Montagsrunden den sich überall bildenden Runden Tischen, so dienten die Bürgerforen wie im Herbst 1989 der Information und Artikulation der Bevölkerung. Bei beiden Gremien handelte es sich um rein transformatorische Einrichtungen ohne Anspruch auf dauerhafte legislative oder exekutive Funktionen. Beide Gremien stellten zwar die demokratische Legitimierung der Volksvertretungen und Räte in Frage, nicht aber die Notwendigkeit ihres Weiterwirkens bis zu freien und geheimen Kommunalwahlen. Am 24. Januar bot der Rat des Kreises dem Neuen Forum und der SPD an, je einen Sprecher als ständigen Vertreter zu den Sitzungen des Rates zu delegieren. Am 29. Januar fand das erste Bürgerforum im Jahr 1990 im Oschatzer Kino statt. Die Parteien stellten ihre Programme vor. An der Bühne war auf einem Plakat zu lesen: „Alle müssen wählen ! Stimmenthaltung schadet der Demokratie !“689 689 Vgl. Kupke / Richter, Der Kreis Schmölln, S. 114–139.

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Schmölln: In Schmölln wurden im Kreistag ebenfalls Fraktionen geschaffen. In der Stadt wurde der Bürgermeister abgewählt, es gab etliche Rücktritte von Abgeordneten. Der Rat des Kreises nahm Änderungen im Planungsgeschehen vor, die Sacharbeit trat nun hier wie überall mehr in den Vordergrund.690 Am 24. Januar bildete der Kreistag Schmölln eine Vorschlagskommission. Am 31. Januar hatte sich der Kreistag u. a. mit kommunalen Vorhaben und der Forderung auseinander zu setzen, dem Neuen Forum Büros zur Verfügung zu stellen und für die Räumung des Gebäudes der bisherigen SED - Kreisleitung zu sorgen. Beschlossen wurden Mandatsänderungen, das Ausscheiden von Nachfolgekandidaten und Veränderungen von ständigen Kommissionen.691 Veränderungen in der Presselandschaft und im Bildungsbereich Presse / Medien: Veränderungen kündigten sich in vielen Bereichen an, die bislang weitgehend von der SED dominiert worden waren. Zwei Beispiele sind die Medien und die Bildung, die auch laufend bei Demonstrationen, Kundgebungen und Runden Tischen thematisiert wurden. Anfang Januar hatte sich an der Dominanz der SED - PDS in den Medien kaum etwas geändert.692 Noch immer hielt die SED - PDS zudem 90 Prozent der polygraphischen Industrie in ihren Händen. In den Verlagen waren 70 Prozent der Belegschaft Kommunisten.693 Der Ton der SED - PDS - Presse wurde – so sogar Walter Momper – wieder „herrischer und anmaßender“.694 Vorwürfe, die SED - PDS zu begünstigen, wiesen SED - Blätter wie die „Sächsische Zeitung“ einfach als falsch zurück.695 Zwar wurden teilweise Meldungen wie die vom 21. September 1989 über die gewaltsame Entführung von DDR - Bürgern als „Tatarenmeldung“ revidiert und erklärt, sie sei auf Anweisung des MfS abgedruckt worden.696 Für die Tatasche, dass das Blatt vierzig Jahre kommunistische Propaganda und Falschmeldungen gebracht hatte, erfolgte keine Entschuldigung. Stattdessen wurde mit der Behauptung, das MfS habe der SED Anweisungen geben können, gleich eine neue Lüge präsentiert. Es zeigte sich, dass auch hier die SED - PDS nur unter massivem Druck von ihren Positionen zurückwich. Immerhin konnten demokratische Kräfte Anfang Januar eine Aufhebung des Lizenzierungszwanges durch den SED - gesteuerten Apparat für Druckerzeugnisse durchsetzen.697 Von einer frei690 RdK Schmölln vom 22. 1. 1990 : Die bisherigen Ergebnisse bei der Verwirklichung des Kreistagsbeschlusses über Sofortmaßnahmen ( KA Altenburg, RdK, SLN Instrukteurabteilung 35, Bl. 1–7). 691 KA Altenburg, RdK, SLN Abgeordnetenkabinett 2 vom 6. 2. 1990. 692 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 383. 693 Interview mit Klaus Höpcke. In : Süddeutsche Zeitung vom 13. 12. 1989. 694 Momper, Grenzfall, S. 250. 695 Sächsische Zeitung, Ausgabe Dresden - Land, vom 16. 1. 1990. 696 Neues Deutschland vom 5. 1. 1990. 697 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 9. 1. 1990.

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willigen Unterstützung der Demokratisierung der Presselandschaft durch die SED - PDS konnte freilich keine Rede sein. Der Druck anderer politischer Kräfte aber war hingegen existent und nahm weiter zu. Die Menschen hatten keine Lust mehr, die verlogene und ideologische Darstellung in den Zeitungen zu lesen. Zunächst aber ging es erst einmal darum, für gleiche Chancen aller Parteien im Wahlkampf zu sorgen. In Großenhain kritisierte ein Lehrer in einem Leserbrief die Parteiwerbung der Lokalseite der „Sächsischen Zeitung“ für die SED - PDS.698 Die SPD meinte Anfang Januar, die SED - PDS verhindere durch ihr Pressemonopol eine öffentliche Darstellung oppositioneller Parteien und Bürgerbewegungen.699 Der Runde Tisch des Bezirkes Halle beklagte, die SED PDS räume auf dem Pressesektor keine Chancengleichheit ein und behindere weiterhin die neuen politischen Kräfte.700 Die IG Druck und Papier übte scharfe Kritik, dass die SED - PDS nicht bereit sei, auf Druckereien und Zeitungsverlage zu verzichten und sich nach wie vor anmaße, alleiniges Verfügungsrecht über Papierkontingente zu besitzen. Am ersten Runden Tisch des DDR - Fernsehens erklärte Generalintendant Hans Bentzien am 9. Januar, wer für die Wahlen kandidiere, sollte im Fernsehen gleiche Chancen erhalten. Inzwischen blieb es nicht mehr bei Protesten und Hinweisen. Die demokratischen Kräfte waren inzwischen selbst in der Lage, Veränderungen durchzusetzen. In Cottbus etwa beschloss der Runde Tisch des Bezirkes am 10. Januar die Einrichtung eines Pressebeirates und eines Beirates beim Sender Cottbus. Außerdem wurde festgelegt, dass neue politische Kräfte im bisherigen SED - Blatt „Lausitzer Rundschau“ über ihre Arbeit informieren konnten.701 Nach den Protesten der IG Druck und Papier und des Zentralen Runden Tisches sah sich die SED - PDS gezwungen, in Fragen ihres Eigentums an Druckereien und Verlagen nachzugeben. Es wurde beschlossen, elf Zeitungsverlage und 21 Druckereien „in Volkseigentum zu überführen“. Auch über die parteieigenen Buchverlage und die „Deutsche Werbe - und Anzeigengesellschaft“ ( DEWAG ), die bisher das Monopol im Anzeigengeschäft und in der Werbung hatte, sollte in diesem Sinne eine Entscheidung herbeigeführt werden.702 Mitte Januar wurden die SED - Bezirksblätter offiziell in unabhängige Zeitungen umbenannt. Die „Leipziger Volkszeitung“, die „Freie Presse“ in Karl - Marx - Stadt und die „Sächsische Zeitung“ in Dresden bezeichneten sich nun als unabhängig.703 Die Inhalte und die ideologische Art der Berichterstattung änderte sich freilich nur langsam. So gab es auch weiter Proteste gegen das andauernde de facto SED - PDS - Monopol. Die LDPD Eilenburg rief am 18. Januar zum Boykott der „Leipziger Volkszeitung“ auf, da diese sich trotz neuer Überschrift als Organ der SED - PDS gebährde.704 698 699 700 701

Sächsische Zeitung, Ausgabe Großenhain, vom 9. 1. 1990. Flugblatt der Potsdamer SPD, o. D. ( Brandenburg. LHA, A /4100). Vgl. LDPD, BV Halle : Erklärung der LDPD, o. D. ( ABR Halle, 20989). Vgl. RdB Cottbus vom 10. 1. 1990 : Protokoll der 2. Beratung des RTB Cottbus ( Brandenburg. LHA, ASt. Cottbus, Ordner : Runder Tisch ). 702 Vgl. Bahrmann / Fritsch, Sumpf, S. 157. 703 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 20./21. 1. 1990. 704 Vgl. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe Eilenburg, vom 18. 1. 1990.

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Das Neue Forum Görlitz kritisierte die Arbeitsweise der Lokalredaktion der „Sächsischen Zeitung“. Hier wurden demnach Beiträge des Neuen Forums manipuliert, falsch wiedergegeben und „in üblicher Zensormethode kommentiert“. Diese Benachteiligung füge sich ein in die Ver weigerung hinlänglicher Arbeitsmethoden durch den SED - beeinflussten Staatsapparat.705 Eine Alternative zu den weiterhin von kommunistischen Redakteuren geprägten Blättern schienen neu gebildete, unabhängige Zeitungen zu sein. In Rostock erschien am 22. Dezember erstmals die neue Zeitung „plattForm“, die von SPD, Neuem Forum, DA, DJ und der Grünen Partei getragen wurde.706 Am 5. Januar erschien in Karl - Marx - Stadt das „Wochenblatt“ als erste unabhängige Zeitung für Erzgebirge, Vogtland und Muldetal. In Werdau wurde am selben Tag erstmals das „Werdau - Crimmitschauer Wochenblatt“ herausgegeben. Verantwortlich war der Runde Tisch, vertreten durch das Christliche Friedensseminar Königswalde.707 Diese waren nach dem „Meeraner Blatt“, einem kleinen Blatt ohne ISBN - Nummer, die ersten SED - unabhängigen Blätter in Sachsen.708 In Halle folgte am 8. Januar „Das andere Blatt“ als „erste unabhängige Hallesche Zeitung“. In Zwickau diskutierte der Runde Tisch am 16. Januar Varianten für eine unabhängige Zwickauer Zeitung.709 Am 17. Januar erschien die erste Ausgabe von „Die Andere Zeitung“ in Magdeburg. Der Runde Tisch Lößnitz ( Aue) beschloss am 23. Januar das Wiedererscheinen der in den fünfziger Jahren populären Zeitung „Lößnitzer Rundschau“. Das Redaktionskollegium setzte sich aus Vertretern etablierter Parteien sowie des Neuen Forums und der SPD zusammen.710 Am 15. Februar erschien erstmals die „Mecklenburgische Volkszeitung“ als unabhängiges, überparteiliches Tagesblatt für Rostock und Umgebung.711 Die „Sachsenpost“ erschien in Zusammenarbeit mit der „Frankenpost“ aus Hof erstmals am 17. Februar als unabhängige Zeitung für die Region Zwickau. Sie nahm sich vor, sich zur Abo - Zeitung mit wöchentlich 30 000 Exemplaren zu profilieren.712 Am 19. Februar folgte die Verlagsgründung des Neuen Vogtländischen Anzeigers.713 Viele der neuen Blätter existierten nicht sehr lange. Die etablierten Blätter verfügten über feste Kundenkreise. Mit der Marginalisierung der politischen Kräfte aus den Bürgerbewegungen setzte auch ihr Niedergang ein. Ihre Herausgabe stand aber für den Willen, die von der PDS geprägte Presselandschaft nicht widerspruchslos zu akzeptieren. Dieser Wille schlug sich nicht nur in neuen Blättern, sondern auch darin nieder, dass sich für

705 Sächsische Zeitung, Ausgabe Görlitz, vom 24. 1. 1990. 706 Vgl. Schmidtbauer, Tage 1, S. 93. 707 Vgl. Weigel, Man wandelt nur, was man annimmt, S. 164; Freie Presse, Ausgabe Werdau, vom 5. 1. 1990. 708 Vgl. Raum für Güte, S. 176. 709 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 18. 1. 1990. 710 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Aue, vom 23. 1. 1990. 711 Vgl. Schmidtbauer, Tage 1, S. 158 f. 712 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Land, vom 21. 2. 1990. 713 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Plauen, vom 21. 2. 1990.

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die bisherigen SED - Blätter Pressebeiräte bildeten, die sich zunächst vor allem um Chancengleichheit im Wahlkampf bemühten.714 Bildung und Erziehung: Wie in Presse und Medien war die kommunistische Dominanz auch an den Schulen erdrückend. Wie das Beispiel Schwarzenberg zeigt, gehörten von den seit 1986 im Kreis beförderten Pädagogen 79 Prozent der SED an, 14 Prozent waren parteilos, 5,5 Prozent gehörten der LDPD, 1,5 der NDPD an. Von der CDU, die bald stärkste politische Kraft im Kreis werden sollte, war gar nicht die Rede. 13 von 14 zum Oberstudienrat Beförderte waren SED- Mitglieder.715 Ähnlich war die Situation überall. Freilich verweigerten sich viele Pädagogen, die der SED angehörten, nicht einer Erneuerung, hatten aber dennoch Vorstellungen, die eher sozialistisch geprägt waren. Schon während des bisherigen revolutionären Umbruchs hatte es eine Reihe an Veränderungen gegeben.716 Im Januar war die Zukunft von Bildung und Erziehung ein Thema an vielen Runden Tischen. Wie in Hoyerswerda mussten sich Kreisschulräte, sofern sie nicht abgesetzt worden waren, der Kritik stellen. Hier wurde kritisiert, dass „kein Zweig der Gesellschaft so stalinistisch geleitet wurde wie die Volksbildung und dadurch die junge Generation bezüglich der Persönlichkeit negativ verformt wurde“. Gefordert wurde hier wie andernorts der Rücktritt des Kreisschulrates, die endgültige Auf lösung der SED - PDS Parteigruppen in den Schulen, die Trennung von Jugendweihe und Schule sowie die Umwandlung des Staatsbürgerkundeunterrichtes von einer kommunistischen Propagandaschulung zum Sachunterricht.717 Am Runden Tisch in Klingenthal informierte der amtierende Kreisschulrat über Änderungen im Schulwesen. Da es seitens der Regierung keine Entscheidungen gegeben habe, nahm man hier wie überall in der DDR zunächst einmal in Eigeninitiative Änderungen vor. So wurde das Schulwesen entpolitisiert. In Geschichte, Literatur und anderen Fächern wurden verschiedene Themen gestrichen. FDJ und Pioniere wurden von der Schule getrennt. Die Wehrbereitschaft für die Klassen 9 und 10 entfiel, dafür gab es nun verstärkt Unterweisung in Erster Hilfe. An den Schulen verschwanden die Räume für die SED - Parteileitungen. Wahlkampfpropaganda und das Auftreten von Parteien wurden untersagt. Angekündigt wurde, dass die bisherige einseitige Ausbildung in russischer Sprache zugunsten einer breiteren Sprachausbildung aufgegeben werde.718 Neben der Runden Tischen bildeten sich auch andere Diskussionsrunden zum Thema Bildung, so etwa beim Bezirksschulrat Dresden719 und in allen Kreisen. Überall wurde breit die Erneuerung des Bildungssystems diskutiert.720 Auch Schüler beteiligten sich an den 714 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 20. 2. 1990; Freie Presse, Ausgabe Marienberg, vom 13. 1. 1990. 715 Vgl. Freie Presse, Ausgabe Schwarzenberg, vom 11. 1. 1990. 716 Zu Dresden vgl. Duck, National Reconstruction. 717 Protokoll der 3. Beratung des RT Hoyerswerda vom 24. 1. 1990 ( PB Superintendent Vogel ). 718 Freie Presse, Ausgabe Klingenthal, vom 24. 1. 1990. 719 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 22. 1. 1990.

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Diskussionen und drückten vereinzelt ihre Forderungen in Schülerdemonstrationen aus. So gingen in Zwickau Schüler und Lehrer gegen den Russischunterricht auf die Straße. Sie protestierten damit zugleich gegen die aus ihrer Sicht unzureichende Veränderungsbereitschaft der Verantwortlichen.721 5.10 Aktivitäten zur Neubildung des Landes Sachsen Die veränderte Atmosphäre im Lande zeigte sich nicht nur an der Zurückdrängung des ideologisch geprägten Lebensgefühls der Kommunisten. Flankiert wurde dieser Prozess von einer zunehmenden Präsenz der Bundesrepublik und dem offenen Bekenntnis zur sächsischen Identität. 40 Jahre Diktatur hatten zwar auch im Denken der Menschen tiefe Spuren hinterlassen, kaum aber im Bewusstsein, Sachse zu sein. Inzwischen war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bezirke durch Länder ersetzt werden würden. Wachsende Bedeutung von Kontakten nach Baden - Württemberg und Bayern In dem bereits im Herbst begonnenen Prozess der Reföderalisierung spielten auch westdeutsche Bundesländer eine wichtige Rolle. Sie waren an einer Stärkung des Föderalismus im vereinten Deutschland interessiert und trafen Vorbereitungen. Im Januar intensivierten sich die Kontakte zwischen den sächsischen Bezirken und Baden - Württemberg sowie Bayern. Bayern bemühte sich um die Schaffung von Regionalkommissionen,722 und auch die baden - württembergische Landesregierung bereitete gemeinsame Ausschüsse mit den sächsischen Bezirken vor.723 Zu diesem Zeitpunkt beschränkten sich die Beziehungen sächsischer Partner jedoch nicht auf Baden - Württemberg und Bayern. So unterhielt zum Beispiel der Runde Tisch des Bezirkes Leipzig seit Januar 1990 Kontakte zur Landesregierung von Nordrhein - Westfalen.724 Zum selben Zeitpunkt gründeten die Partnerstädte Hannover und Leipzig eine gemeinsame Wirtschaftskommission. Es gab intensive Kontakte zwischen den Elbestädten Hamburg und 720 Vgl. Arbeitsgruppe Schulreform der BI Klingenthal, o. D. ( Ev. - Luth. Pfarramt St. Wolfgang Schneeberg ); Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 11. 1. 1990; Die Union, Ausgabe Meißen, vom 30. 1. 1990. 721 BArchB, DC 20, 11351; Freie Presse, Ausgabe Zwickau - Stadt, vom 23. und 27. 1. 1990. 722 Rede von Wilhelm Vorndran bei der Strukturkonferenz am 24. 1. 1990 in Fürth (BayStK, Baer ). 723 Vgl. Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, S. 173. 724 Beratung der Landesregierung von Nordrhein - Westfalen und des RTB Leipzig am 5.– 7. 1. 1990, Teilnehmer und Ergebnisse ( ABL, H. IV, Runder Tisch Leipzig ); Beschlussprotokoll der Sitzung des RdB Leipzig vom 5. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 21319); Protokoll über die Beratung des RTB Leipzig vom 2. 1. 1990 ( ebd., 31254, Bl. 1 f.); Protokoll über die Beratung des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990 ( ebd., 31255, Bl. 1 f.). Vgl. Neue Ruhr - Zeitung / Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 9. 1. 1990.

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Dresden. Die Hansestadt hatte schon im November angekündigt, das einstige Elbflorenz bei der Sanierung alter, unter dem SED - Regime verkommener Stadtviertel zu unterstützen.725 Vor allem aus Sicht der Bundesländer aber kompensierten die neuer wachten Regionalkontakte die Monopolstellung der Bundesregierung bei den Anfang des Jahres einsetzenden Verhandlungen über eine innerdeutsche Vertragsgemeinschaft bzw. konföderative Strukturen. Hier verlangten die Bundesländer seit Januar mehr oder weniger vergeblich in Verhandlungen eingebunden zu werden. Bayern: Zu Beginn der Kooperation zwischen Bayern und den sächsischen Bezirken spielte die von der CSU favorisierte DSU zunächst kaum eine Rolle. Hier standen der CSU als bayerischer Regierungspartei noch immer fast ausschließlich die SED - PDS - Vertreter des Staatsapparates gegenüber. Vorndran verwies allerdings am 23. Januar auf die Notwendigkeit von Kontakten auch zu den neuen politischen Gruppierungen. In München plante man, sich hinsichtlich politischer wie verwaltungsmäßiger Kontakte vor freien Wahlen zurückzuhalten und nichts zu tun, „was die noch an der Macht befindlichen SED - Leute zu sehr aufwertet“. An den Regionalausschüssen Unterfranken - Suhl, Oberfranken - Suhl, Oberfranken - Gera und Oberfranken - Karl - Marx - Stadt sollten Oppositionelle möglichst beteiligt werden. Allerdings wurde die Notwendigkeit schneller Hilfe gesehen, auch, um so „die Kompetenz Bayerns für Gesamtdeutschland deutlich“ zu machen. Man wollte „sich nicht vorwerfen lassen, Bayern tue zu wenig, um im Falle der nationalen Einheit im künftigen Zentrum Deutschlands präsent zu sein“.726 Aber nicht nur im Wettbewerb der Bundesländer um einen eigenen Anteil an den Entwicklungen in der DDR war Bayern beteiligt, auch innerhalb des Freistaates gab es Konkurrenzen, wollte doch keiner auf den Hinweis verzichten, in der DDR gewesen zu sein und dort einen Beitrag zur Revolution geleistet zu haben. So kam es zu verschiedenen, unkoordinierten Aktionen von CSU - Vorstand, Staatskanzlei und Seidel - Stiftung. Einzelne Akteure mieteten VW - Busse, druckten Plakate und fuhren völlig unkoordiniert durch den Süden der DDR, ohne dass dies mit der CSU - Führung oder der Staatskanzlei abgesprochen war.727 Nachhaltige Folgen hatte dies nicht, ging es doch im Wesentlichen darum, mit den Aktionen deutschlandpolitisches Profil zu zeigen. Am 24. Januar veranstaltete das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr in Fürth eine Strukturkonferenz für Unternehmen aus Bayern und der DDR. Mehr als fünfhundert Teilnehmer aus beiden deutschen Staaten tauschten sich über Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, über Kontakte im mittelständischen Bereich sowie marktwirtschaftliche Reformen und Infra-

725 Vgl. dpa vom 28. 11. 1989 und 9. 1. 1990; FAZ / Hamburger Abendblatt vom 10. 1. 1990; Interview mit Helmut Münch. In : Kleimeier, Sachsen, S. 80. 726 Protokoll der 4. Sitzung des Staatssekretärsausschusses für DDR - Fragen vom 23. 1. 1990 ( BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 247–250). 727 Heinrich Oberreuter beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A.

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strukturmaßnahmen aus.728 Wie in Fürth angekündigt, baute die Bayerische Staatsregierung danach ihre Kontakte zu den Räten der Bezirke in Thüringen und Sachsen aus. Am 31. Januar flog Streibl nach Dresden. Erklärtes Ziel seiner Visite mit hochrangigen Vertretern der bayerischen Wirtschaft war es, „partnerschaftliche Beziehungen zwischen Sachsen und Bayern“ aufzubauen und „Bestrebungen zur Wiedererrichtung des Landes Sachsen nach Kräften zu unterstützen“.729 Erstmals erlaubten die Alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges den Flug einer Maschine der Lufthansa direkt über die innerdeutsche Grenze nach Dresden. Hier informierte Streibl am 31. Januar über die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft für die Organisierung westlicher Hilfen beim Aufbau neuer Wirtschafts - und Ver waltungsstrukturen in den Bezirken Dresden, Leipzig und Karl - Marx - Stadt.730 Auf Vorschlag der bayerischen Staatsregierung gab der Landtag während des Besuches fünf Mio. DM für ein Sofortprogramm frei.731 In Dresden warb Streibl erneut für den Aufbau föderaler Strukturen und erklärte, er sei „der festen Überzeugung, dass auf diesem Wege ein Gesamtdeutschland für unsere Nachbarn viel leichter verkraftbar ist, als ein zentral gelenktes Reich“. Die Länder in der DDR sollten sich so schnell wie möglich konstituieren und dann einzeln oder im Verbund nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitreten. Dieser Weg sei der kürzeste und bereits im Herbst 1990 vollziehbar.732 Baden - Württemberg: Neben den unerlässlichen Kontakten zu Funktionären des SED - dominierten Staatsapparates machte man sich in der regierenden baden - württembergischen CDU Gedanken über geeignete Partner in der DDR. Am 9. Januar führte man Gespräche mit dem Dresdner CDU - Bezirksvorstand. Der Geschäftsführer der baden - württembergischen CDU - Landtagsfraktion, Eckert, bezeichnete die Ost - CDU zwar öffentlich als Partner,733 Späth machte aber deutlich, dass dies nur mit Einschränkungen gelte, denn die Ost - CDU sei nun mal eine Blockpartei gewesen. „Vieles von dem, was sie mitzuverantworten“ habe, hindere die westliche Union, eine uneingeschränkte Partnerschaft mit ihr einzugehen und sich mit ihr zu identifizieren. „Ganz stark“ fühlte man sich auch mit basisdemokratischen Gruppen in der DDR verbunden, die „unser 728 Rede von Wilhelm Vorndran bei der Strukturkonferenz am 24. 1. 1990 in Fürth (BayStK, Baer ). Vgl. BayStK an BaySMI [ Posteingang 26. 2. 1990] ( BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 279–288). 729 Max Streibl an Jochen Draber vom 24. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31256, Bl. 49 f.). 730 Vgl. Die Welt vom 1. 2. 1990. 731 Bayerischer Landtag, 11. WP : Beschluss, Drucksache 11/14873 vom 31. 1. 1990 (BaySMI, Zusammenarbeit Bayern - Sachsen, Bl. 191); Bayerische Staatskanzlei, Arbeitsstab Deutschlandpolitik, Interministerielle AG Deutschlandpolitik : Gespräch Max Streibls mit der Bayerischen Landtagspresse am 9. 4. 1991. Materialien : Aufbau der neuen Länder mit Bayerischer Hand ( BayStK, Baer ); Statement Max Streibls vor dem Verein der Bayerischen Landtagspresse vom 9. 4. 1991 zum Thema : Die Zukunft der alten und neuen Länder in der Bundesrepublik Deutschland ( ebd.). 732 BPA / DDR - Spiegel vom 1. 2. 1990. In : Deutschland 1990, Band 8, S. 4646; Interview mit Max Streibl. In : Die Union vom 1. 2. 1990. 733 Vgl. Die Union vom 10. 1. 1990.

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politisches Gedankengut tragen“.734 Damit hielt sich Späth neben seinen fortgesetzten Kontakten zum Staatsapparat zum einen die Option offen, stärker mit einer sich wandelnden Ost - CDU zu kooperieren, zum anderen ging er auf die Bürgerbewegungen zu, deren moralische Integrität er schätzte und die er für die Ziele der CDU nutzbar machen wollte. Um seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den neuen politischen Kräften zu signalisieren, hatte Späth deren Vertreter bereits am 10. Dezember nach Baden - Württemberg eingeladen. Am 12. Januar wurden daraufhin Herbert Wagner, Arnold Vaatz, Steffen Heitmann, Walter Siegemund und Hans - Jürgen Magerstädt von der Gruppe der 20, Bernd Kunzmann vom Neuen Forum, Jürgen Bönninger vom DA und Oberkirchenrätin Hannelore Leuthold von Späth empfangen. Die Gruppe führte Gespräche im Landtag, im Innen - und Justizministerium, mit der Landespolizei und mit Kommunalpolitikern.735 In Späths Wahlkreis Bietigheim- Bissingen wurden sie vom Bürgermeister mit gehisster DDR - Fahne empfangen, was die Gäste sich freundlich verbaten.736 An der Universität Tübingen sprachen die Dresdner mit Professor Hans von Mangoldt, im Kloster Bebenhausen erhielten sie Informationen über württembergische Verfassungsgeschichte und Rechtspraxis.737 Der Besuch gestattete einen Einblick in baden - württembergische Verwaltungs - und Verfassungsstrukturen und stärkte, dank seines offiziellen Charakters, die Akzeptanz der Gruppe gegenüber dem Dresdner Staatsapparat.738 Am 24./25. Januar empfing Späth in Stuttgart eine weitere sächsische Delegation, diesmal unter Leitung des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden, Professor Wolfgang Sieber. Eine Einladung zu dem Treffen, bei dem die endgültige Form und Zusammensetzung einer zu bildenden Gemeinsamen Kommission besprochen werden sollte, war zunächst nur an die Räte der Bezirke gegangen. „Als wir dies herausbekommen haben“, so Hans Geisler vom DA, „haben wir protestiert und angedroht, die Mitarbeit am Runden Tisch aufzukündigen.“ Daraufhin wurde der Kreis erweitert.739 Ihm gehörten auf deren Drängen740 nun auch Mitglieder der DDR - SPD, des Neuen Forums und des DA an. Sieber erklärte zur Einbeziehung dieser Vertreter des Runden Tisches, dass er künftig „keine Politik mit doppeltem Boden“ mehr machen wolle. Hintergrund war der veränderte Kurs, den der um neue politische Parteien und Gruppierungen zur „Regierung der Nationalen Verantwortung“ erweiterte DDR Ministerrat wegen der Staatskrise gegenüber Bürgerbewegungen und Runden

734 Zit. in Die Union vom 31. 1. 1990. 735 Programm : Besuch einer Delegation aus Dresden / DDR vom 12.–17. 1. 1990 in BadenWürttemberg ( HAIT, Wagner, 28). 736 Steffen Heitmann. In : Reden zum 4. Jahrestag der Gründung des Koordinierungsausschusses, S. 22 f. Vgl. Ludwigsburger Kreiszeitung / Bietigheimer Zeitung vom 15. 1. 1990. 737 Vgl. Wagner, 20 gegen die SED, S. 172–174. 738 Vgl. Mengele, Wer zu Späth kommt, S. 192. 739 Interview mit Hans Geisler. In : Kleimeier, Sachsen, S. 54. 740 Hans Geisler beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A.

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Tischen hatte einschlagen müssen. Späth schlug die Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen vor.741 Eigentliches Ziel der baden - württembergischen Landesregierung war allerdings die Bildung einer Gemischten Kommission mit den sächsischen Bezirken, wozu im Januar in Stuttgart bereits Vorbereitungen liefen. Für die Fachgruppen der geplanten Kommission wurden Oberbürgermeister verschiedener baden - württembergischer Städte gewonnen. Hinzu kamen Experten aus der Staatsverwaltung und von Universitäten.742 Am 29. Januar wurde eine Einbeziehung der neuen Kräfte in die Gemischte Kommission beschlossen. Sie waren nun feste Ansprechpartner der Landesregierung, was ihre Position in Sachsen stärkte. Da Geislers Forderung, sämtliche Fachgruppen von Vertretern neuer politischer Gruppierungen leiten zu lassen,743 nicht durchsetzbar war, wurde darauf gedrängt, dass in jeder Fachgruppe die neuen Kräfte entweder den Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter stellen.744 Späth, so Matthias Rößler, der „zuerst den Blick auf die etablierten Kräfte gerichtet hatte“, erwies sich in dieser Situation, als „sehr lernfähig, wie er immer war“ und band „ein paar Anführer der sogenannten Basisdemokratie, wie das damals noch hieß“, in die Kommission ein.745 Noch am 30. Januar wurde deren paritätische Zusammensetzung beschlossen.746 Am selben Tag wie Streibl reiste auch Späth am 31. Januar nach Dresden. Nach den Vorverhandlungen in Stuttgart vereinbarten Späth und die Vorsitzenden der Räte der sächsischen Bezirke, Sieber, Fichtner und Draber, am 31. Januar die Bildung einer „Gemischten Kommission für die Zusammenarbeit des Landes Baden - Württemberg mit Sachsen“. Bei dem Abkommen handelte es sich um „die erste rechtliche Vereinbarung, in der der politische Raum Sachsen wieder auftaucht und eine rechtliche Qualität“ erhielt.747 Sieber und Späth bezeichneten die Bildung der „repräsentativen Kommission“ als „bisher einzigartigen Schritt“ in den innerdeutschen Beziehungen mit Modellcharakter für andere Regionen.748 Sieber betonte, man werde in Dresden künftig nicht mehr länger auf Entscheidungen aus Ost - Berlin warten.749 Hintergrund dafür war die zögerliche Haltung Modrows in Sachen Länderbildung und bei der Vorlage verbindlicher Richtlinien für die Zusammenarbeit auf Länder - bzw. Bezirksebene. Die 741 Vgl. Richter, Räte, Runde Tische, „Volksvertretungen“, S. 166; FAZ / Stuttgarter Zeitung vom 26. 1. 1990. 742 Vgl. Staatsministerium Baden - Württemberg : Benennungen der Kommunalen Verbände, o. D. ( HAIT, KA, V.1). 743 Hans Geisler beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A. 744 Inter view mit Hans Geisler. In : Kleimeier, Sachsen, S. 54. Zu den Leitern der Fachgruppen der gemischten Kommission siehe Tabelle im Anhang. 745 Interview mit Matthias Rößler. In : Kleimeier, Sachsen, S. 86. 746 Lothar Späth. Zit. in Die Union vom 31. 1. 1990. 747 Steffen Heitmann beim HAIT - Workshop am 15. 6. 2002, Mitschrift d. A. 748 11. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 5. 2. 1990, Antrag der PDS : Kooperation DDR - BRD. Faksimile in Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch, S. 271. 749 BPA / DDR - Spiegel vom 31. 1. 1990 ( KAS, Wiss. Dienste, Pressedok.). Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 30. 1. 1990.

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Kommission wurde paritätisch durch den Leiter der Abteilung internationale Angelegenheiten und innerdeutsche Zusammenarbeit im Baden - Württembergischen Staatsministerium, Hans - Peter Mengele, sowie den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden und Vorsitzenden der Bezirksplankommission, Andreas Mauksch, geleitet. Zum Leitungsgremium gehörten ferner Herbert Wagner von der Gruppe der 20, die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke Karl - Marx - Stadt, Dieter Reißig, und Leipzig, Dieter Werner, sowie der stellvertretende Dresdner Oberbürgermeister, Andre Lang. Vereinbart wurde eine gemeinsame Arbeit in Fachgruppen, die ihrerseits eigenständige Kooperationsstrukturen bilden und sich in Unter - bzw. Expertengruppen gliedern sollten.750 Eigeninitiativen der Räte der Bezirke zur Neubildung Sachsens Nicht nur in den Kontakten zu den künftigen Partnerländern zeichneten sich die föderativen Strukturen der angestrebten bundesstaatlichen Ordnung ab. Auch in den sächsischen Bezirken wurden die Auseinandersetzungen über die Neubildung Sachsens zum immer wichtigeren Teil des Kampfes gegen die SED und den von ihr dominierten Staatsapparat. In Sachen Länderbildung versuchten sich vor allem die Räte der sächsischen Bezirke, allen voran der Rat des Bezirkes Dresden, zu profilieren. Hinsichtlich der Ver waltungsreform waren diese als Organe der Staatsmacht zwar an Vorgaben der Regierung gebunden, entwickelten aber eigene, nicht mit dem Ministerrat abgestimmte Aktivitäten.751 Die Räte sahen sich im Übergang von ihrer Rolle als Ausführungsorgane der zentralistischen Diktatur zu Bausteinen künftiger Länder. Damit machten sich auch hier Kennzeichen einer Auf lösung des Regimes bemerkbar. Vorreiter war der Rat des Bezirkes Dresden, der seit Mitte Dezember Reformvorschläge für den Staatsapparat ausgearbeitet hatte, die sich zunächst teilweise noch an der Bezirksstruktur, zum Teil aber bereits an einer kommenden Landesverwaltung orientierten. Am 17. Januar legte der Rat des Bezirkes Dresden ein Arbeitspapier „Wege zur Herausbildung des Landes Sachsens“ vor, in dem er für eine Neubildung Sachsens aus den Bezirken Dresden, Karl - Marx - Stadt sowie Leipzig als einem DDR - Land plädierte und zugleich Wiedervereinigungsplänen eine Absage erteilte. Der Rat bildete Arbeitsgruppen zur Vorbereitung der Bildung einer Landesver waltung. Als bisheriges Exekutivorgan der diktatorisch - zentralistischen Staatsmacht beabsichtigte er so, seinen kommunistisch geschulten „Kaderstamm“ in der künftigen Landesverwaltung unterzubringen. Am 18. Ja750 Vereinbarung über die Bildung einer Gemischten Kommission des Landes Baden - Württemberg und der Bezirke Dresden, Karl - Marx - Stadt und Leipzig vom 31. 1. 1990. In : Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, Dok. 5, siehe S. 1112. Vgl. Häußer, Die Staatskanzleien, S. 132 f. 751 Der folgende Abschnitt folgt weitgehend Richter, Die Bildung des Freistaates, S. 121– 124.

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nuar informierte der stellvertretende Ratsvorsitzende und Chef der Bezirksplankommission, Andreas Mauksch, den Runden Tisch über die Initiative. Hier wurde der Bericht zustimmend zur Kenntnis genommen und Mauksch beauftragt, bis zum 25. Januar den Entwurf eines gemeinsamen Antrages des Runden Tisches und des Bezirkstages an die Volkskammer auszuarbeiten. Es wurden Vertreter für die Arbeitsgruppen des Rates benannt und beschlossen, die Runden Tische der Bezirke Leipzig und Karl - Marx - Stadt zu einer Diskussionsrunde über die Landesbildung einzuladen. Am 25. Januar beriet der Runde Tisch die Vorlage von Mauksch und beschloss einige Änderungen. Unter anderem wurde bei der Formulierung „Nutzen wir die Chance des demokratischen Neubeginns für ein neues Kapitel in der Geschichte Sachsens in der Deutschen Demokratischen Republik“ der Hinweis auf die DDR gestrichen. Hier setzten sich diejenigen durch, deren Ziel es war, im Rahmen der Wiedervereinigung ein Bundesland Sachsen zu schaffen. Der Rat des Bezirkes Dresden war zu diesem Zeitpunkt in Sachen Länderbildung weit aktiver als andere Bezirke, weswegen z. B. die Räte der Kreise den Rat des Bezirkes Cottbus mit Hinweis auf Sachsen wegen des langsamen Tempos der Landesbildung kritisierten. Der Dresdner Rat spielte bis Ende Januar nicht nur eine Vorreiterrolle, er fand dabei die Unterstützung des Runden Tisches. Die Haltung der Runden Tische aller drei Bezirke entsprach zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger dem Kooperationsmodell des Zentralen Runden Tisches, das auch in Modrows „Regierung der nationalen Verantwortung“ seinen Niederschlag fand. Auch wegen der Unterstützung durch die neuen politischen Kräfte am Runden Tisch setzten die Aktivitäten des Rates des Bezirkes Dresden die Regierung unter Druck und stießen dort auf strikte Ablehnung. Um Eigeninitiativen zu unterbinden, beschloss der Ministerrat am 25. Januar, mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke unverzüglich einheitliche Grundsätze und erste Maßnahmen der Durchführung einer Verwaltungsreform zu beraten. Während die Regierung noch überlegte, wie sie auf die Eigenmächtigkeit des Rates des Bezirkes Dresden reagieren sollte, legte auch der Rat des Bezirkes Leipzig am 30. Januar ein Papier zum föderalistischen Staatsaufbau und zur Gestaltung des Landes Sachsen vor. In der Vorlage, die Ratsvorsitzender Jochen Draber dem Runden Tisch bereits am 18. Januar vorgestellt hatte,752 wurden Länder mit eigenem Landtag, eine Landespolitik „ohne doppelte Unterstellung“ und eine Länderkammer gefordert. Der Leipziger Rat versprach sich, anders als der Rat des Bezirkes Dresden, der noch zwei Wochen zuvor die deutsche Einheit abgelehnt hatte, nun durch föderative Strukturen auch eine „Verkürzung des Weges zur deutschen Einheit“. Dabei wurde sogar die Ausgliederung eines Landes oder mehrerer Länder aus dem „Verband“ DDR und deren „Angliederung an die BRD“ in Betracht gezogen. Nach Meinung des Rates sollte die Länderbildung auf Grundlage der Bezirksgliederung erfolgen. Für die Zukunft wurde die Bildung von drei sächsischen Regierungsbezirken „mit Verantwortung für komplexe ter752 Protokoll des RTB Leipzig vom 18. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 31255, Bl. 1 f.).

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ritoriale Aufgaben und zur Vermeidung der Konzentration aller Institutionen mit regionalem Entscheidungsfeld in der Landeshauptstadt“ befürwortet. Der Rat griff den Dresdner Vorschlag der Bildung eines ständigen Gremiums der sächsischen Bezirke zur Koordinierung der Landesbildung auf. Einen Tag nach der Vorlage des Leipziger Papiers fand eine erste Beratung der drei Vorsitzenden der Räte der Bezirke statt,753 die Sieber als historisch bezeichnete, da es erstmals gelungen sei, die drei Ratsvorsitzenden an einen Tisch zu bringen. Damit trete eine völlig neue Entwicklung ein : „Wir warten nicht mehr auf Befehle von oben. Wir brauchen jetzt eine Ver waltungs - und Wirtschaftsreform von unten nach oben, ohne auf den Befehl von Berlin zu warten.“754 Was die bislang zentralistisch angeleiteten Bezirksorgane euphorisch stimmte, stieß freilich in der Regierung auf wenig Verständnis. Gegenüber den Ratsvorsitzenden kritisierte Moreth am 31. Januar „das Vorprellen insbesondere von Dresden bezüglich Länderbildung“. Die Regierung sei sich bewusst, dass Entscheidungen schneller erforderlich seien, da die Verunsicherung in den örtlichen Staatsorganen täglich steige und es „erste gravierende Abweichungen bezüglich Struktur veränderungen der Räte und Fachorgane von dem in den Dienstberatungen im Dezember und Januar gemeinsam erarbeiteten Standpunkt“ gebe. Der Ministerrat werde am nächsten Tag die Verwaltungsreform behandeln, die unbedingt mit einer Veränderung der Verfassung sowie mit Wirtschafts - und Rechtsreformen verknüpft werden müsse. Im Übrigen sei die Länderbildung durch die Regierung politisch grundsätzlich entschieden, weswegen ein Volksentscheid nicht nötig sei. Soziologische Befragungen hätten eine Befürwortung der Länderbildung von über fünfzig Prozent ergeben. Man werde nach dem 6. Mai etappenweise an die Gebietsreform herangehen.755 5.11 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Zentraler Akteur des Geschehens blieb auch im Januar 1990 die sowjetische Führung, von deren Votum es letztendlich abhing, ob und in welcher Form es zu einer Vereinigung Deutschlands kommen würde. Unter innenpolitischem Druck stehend lavierte Gorbatschow weiter, bevor er sich unter dem Eindruck finanzieller Zuwendungen aus Bonn Ende Januar dazu durchrang, sich der inneren Einheit nicht länger in den Weg zu stellen. Auch die westeuropäischen Partner der Bundesrepublik mussten unter dem Druck der Massenproteste, der Massenausreise sowie der klaren Haltung der US - Regierung ihre Widerstände gegen die deutsche Einheit aufgeben. 753 Monatsbericht von Januar 1990 des Vorsitzenden des RdB Dresden, Wolfgang Sieber, an Ministerpräsident Hans Modrow vom 31. 1. 1990 ( ebd., 46994, Bl. 18–24). 754 Zit. in Die Welt vom 1. 2. 1990. 755 Niederschrift des 1. Stellvertreters des Vorsitzenden des RdB Leipzig von der Dienstberatung beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR für örtliche Staatsorgane, Peter Moreth, vom 31. 1. 1990 ( SächsStAL, BT / RdB, 25795). Zur weiteren Entwicklung vgl. Kap. V.1.11; Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen.

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Es war ein Kennzeichen der innenpolitischen Entwicklung in der DDR, dass die Demokratisierung ungeachtet dessen vorangetrieben wurde, ob die Zukunft ein - oder zweistaatlich aussehen würde. Darauf hatte man ohnehin kaum direkten Einfluss. Klar war aber, dass eine demokratische DDR Voraussetzung für eine Wiedervereinigung sein würde. So schritt die Demokratisierung voran. Die Demonstrationen gingen Schritt für Schritt in Wahlkampfveranstaltungen über, bei denen es freilich nicht mehr nur um Veränderungen in der DDR ging. Hier traten nun auch immer mehr bundesdeutsche Politiker auf. Die wenigen Streiks mit ihrem absoluten Höhepunkt Ende Januar dienten mehr als Drohkulisse im Falle eines Scheiterns der Demonstrationen und Runden Tische. Im Wechselspiel von Demonstrationen und Warnstreiks wurde zu keinem Zeitpunkt die Überschreitung der Schwelle zu wirklichen Streiks notwendig.756

Diagramm 22: Streiks.

Allen Akteuren war klar, dass sich die kommende Wahlentscheidung vor allem darum drehte, ob und wie Deutschland seine Einheit wiedererlangen würde. Alle Detailforderungen und - vorstellungen wurden davon überlagert. In einer eigenen DDR - Demokratie wurde das Hauptinstrument zur Erlangung oder Verhinderung der deutschen Einheit erkannt. Der Übergang der Demonstrationen in den Wahlkampf war ein folgerichtiger Schritt auf dem Weg zur Parteiendemokratie nach bundesdeutschem Vorbild. Er setzte sowohl die bisherigen DDR - Blockparteien als auch die neuen politischen Parteien und Gruppierungen programmatisch und organisatorisch unter Druck. Dies betraf sowohl die Ausrichtung bezüglich der DDR - internen Demo756 Vgl. Gehrke, Die „Wende“ - Streiks, S. 270.

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kratisierung als auch die Positionierung hinsichtlich der inzwischen überall geforderten deutschen Einheit. Ein zentraler Aspekt der Parteiendemokratisierung war, dass sich dieser Prozess bereits nicht mehr isoliert in der DDR abspielte, wie manche Bürgerbewegungen nach wie vor Glauben machen wollten. Es gab innenpolitisch bereits seit Dezember eine gesamtdeutsche Handlungsbühne mit den Bonner Parteien als zentralen Akteuren. Das gesamte Parteiensystem richtete sich mit Blick auf die kommende Einheit darauf aus. Wer dies nicht tat, war von vornherein dazu verurteilt, künftig die Rolle einer unbedeutenden Regionalkraft zu spielen. Die bundesdeutschen Parteien konnten sich nicht direkt am Wahlkampf beteiligen. Sie suchten sich DDR - Partner, aus denen die neuen Landesverbände im Osten entstehen sollten und zogen mit diesen in den Wahlkampf. Ihr Eingriff war berechtigt und politisch sinnvoll, betraf doch die in der DDR geforderte deutsche Einheit sie selbst unmittelbar mit. Allein die neuen Bürgerbewegungen bildeten ein DDR - spezifisches Bündnis 90. Das Neue Forum zerfiel in eine Forum - Partei, die sich wenig später dem liberalen Lager anschloss, und in eine weiterhin basisdemokratische Bürgerbewegung ohne politische Machtambitionen. Wie die anderen Bürgerbewegungen spielten die nun in verschiedenen Lagern kämpfenden Teile zwar noch bei der Zerschlagung des SED - Regimes und an den Runden Tischen eine Rolle, kaum aber mehr im beginnenden Wahlkampf. In der SDP löste man die bisherigen engen Bindungen zu den Bürgerbewegungen, näherte sich der SPD an und nannte sich in SPD um, um dem Wähler ein adäquates sozialdemokratisches Angebot unterbreiten zu können. In den Blockparteien liefen komplizierte Differenzierungsprozesse ab, in denen die bisher dominanten Anhänger sozialistischer Richtungen sich entweder wendeten oder marginalisiert wurden. In der West - CDU und bei der FDP gab es weiterhin Zurückhaltung hinsichtlich von Kontakten zu den Ex - Blockparteien, zumal diese sich weiterhin zur Zusammenarbeit mit der SED - PDS in der Regierung Modrow bekannten und nicht dem von der Bundesregierung favorisierten Modell der Einsetzung einer neuen DDR - Regierung ohne Beteiligung der SEDPDS folgten. Schließlich führte aber kein Weg daran vorbei, die Ex - Blockparteien zum Partner zu küren, verfügten diese doch über Parteiapparate, die man für den Wahlkampf brauchte. Im Fall der CDU wurde die Ost - CDU in ein Bündnis mit den neuen Parteien DA und DSU gedrängt, welches als „Allianz für Deutschland“ die Positionen der CDU / CSU vertrat. Die DSU stellte einen Zusammenschluss verschiedener liberal - konservativer und christdemokratischer Parteien dar. Die zunächst angestrebte Bildung einer Ost - CSU als unbelasteter Alternative zur Ost - CDU scheiterte an der bayerischen CSU, die zwar ebenfalls Partner in der DDR wünschte, aber nicht bereit war, ihr bayerisches Regionalkolorit aufzugeben. Damit war für die DSU der Weg in die Bedeutungslosigkeit vorgezeichnet.

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Die SED - PDS sah sich dagegen wegen ihres Machterhaltungskurses, der mit einer fortdauernden Diskriminierung der anderen Parteien und neuen Gruppierungen einherging, weitgehend isoliert. Niemand wollte mehr nach freien Wahlen mit ihr koalieren, stattdessen nahm die Aggressivität gegen die Partei zu. Immer mehr Demonstranten forderten, mit der SED - PDS ähnlich umzugehen wie mit dem MfS. Ende Januar nahmen auch innerparteilich die Stimmen zu, die mit der Begründung eine Auf lösung der SED - PDS befürworteten, diese habe sich als völlig unfähig erwiesen, sich zu einer demokratischen Partei zu wandeln. Hatte sich Gysi schon für den Erhalt des MfS als Verfassungsschutz stark gemacht, so war er es nun erneut, der sich gegen diese Tendenz wehrte und durchsetzte, dass sich die Partei ein weiteres Mal umbenannte und als „Partei des demokratischen Sozialismus“ ( PDS ) das programmatische und finanzielle Erbe der SED wahrte. Parallel zur Demokratisierung der Parteienlandschaft und zur wachsenden Ausrichtung an der Bundesrepublik eskalierte unterdessen die ökonomische und finanzielle Krise der DDR. Die Modrow - Regierung nahm wegen fortdauernder ideologischer Fixierung nur halbherzige Reformen vor. Ohnehin war die DDR zahlungsunfähig und aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage, diese Situation zu ändern. Das war für die UdSSR ein wesentlicher Grund, ab Ende Januar nicht länger auf die Eigenstaatlichkeit des auch durch sowjetische Politik ruinierten Vasallen zu setzen. Begleitet wurde der ökonomische und damit verbundene soziale Niedergang vom fortdauernden Zerfall der Staatlichkeit, der durch die Kooperationsbereitschaft der neuen Kräfte an Runden Tische kompensiert wurde. Angesichts des drohenden Auseinanderbrechens der Regierung Modrow waren es nach der Bildung des Zentralen Runden Tisches Anfang Dezember 1989 nun ein zweites Mal die neuen politischen Kräfte, die durch ihren Eintritt in eine zweite Regierung Modrow dafür sorgten, dass die Zeit bis zu den freien Wahlen von der SED - PDS / PDS maßgeblich mitbestimmt werden konnte. Statt sich zur führenden Institution im revolutionären Prozess zu profilieren, wuchs der Zentrale Runde Tisch immer mehr in die Rolle eines staatstragenden Gremiums hinein. In einer Situation, in der sie die Machtübergabe hätten erzwingen können, trugen Teile der Bürgerbewegungen und Ex - Blockparteien dazu bei, die dominante Rolle der SED - PDS / PDS zu sichern. Es entstand ab Ende Januar „die paradoxe Situation, dass der Runde Tisch und die Regierung – mit unterschiedlichen Motivationen – Repräsentanten einer eigenständigen ‚DDR - Identität‘ waren, während die Mehrheit der Bevölkerung längst das möglichst schnelle Ende eben dieser DDR wollte“.757 Ähnlich war die Lage in den regionalen Staatorganen. Dem von der Bundesregierung favorisierten Modell, die SED - PDS - geführte Regierung zugunsten einer neuen Allparteienregierung zu beenden, wurde damit eine klare Absage erteilt. Wichtiger Grund dafür waren die politischen Ziele der Bürgerbewegungen, die immer noch das Modell einer erneuerten 757 Glaeßner, Der schwierige Weg, S. 94.

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Deutsche Einheit oder DDR-Reform?

DDR favorisierten. Demokratisch - sozialistische und Dritte - Weg - Konzepte banden viele Akteure stärker an die SED als an die Bundesrepublik. Nach wie vor meinten viele, dass ein Übergang ohne die SED - PDS / PDS die DDR ins Chaos stürzen würde. Ein Blick auf die Arbeit des Leipziger Runden Tisches zeigt, dass das Gegenteil richtig war. Hier hatte die Volksvertretung einer effektiven Arbeit im Wege gestanden. Nach Meinung aller beteiligten Akteure war es für die Stadt ein Glücksfall, dass die Stadtverordnetenversammlung durch den Runden Tisch abgelöst wurde. Mit ihrer Linie begaben sich zahlreiche wichtige Akteure des Zentralen Runden Tisches immer mehr in Widerspruch zur breiten Volksbewegung gegen die SED - PDS und für die deutsche Einheit. Der Zentrale Runde Tisch galt für viele Menschen bald als „Quasselbude“, von dem keine Ergebnisse im Interesse der Menschen erwartet wurden. Aber auch politisch geübte Partei - und Staatsfunktionäre nahmen die hier vorgetragenen Änderungswünsche vieler Bürgerrechtler nicht ernst. Sie knüpften lieber politische und Wirtschaftskontakte in die Bundesrepublik, um sich neuen Funktionen im kommenden System zu schaffen. Außerdem trieben sie die Bildung des Landes Sachsen voran, in dem man neue Betätigungen zu finden hoffte. An den kommunalen und regionalen Runden Tischen in Sachsen war die Lage weniger problematisch, weil hier kaum politische Richtungsentscheidungen wie in Berlin zur Debatte standen. Hier ging es immer mehr um kommunale und regionale Probleme, bei denen Einigungen leichter möglich waren. Ende Januar war die Lage von einer Fülle unterschiedlichster widerstreitender Interessen und Orientierungen geprägt. Selbst für Demoskopen war die Stimmungslage schwer durchschaubar. Von den kommenden Wahlen wurden daher allgemein neue Orientierungen erhofft. Einzig deutlich wahrnehmbar war für die, des es wahrhaben wollten, die Stimmung auf den Demonstrationen und Wahlkampfveranstaltungen. Hier standen weiterhin das Ende der SED - Herrschaft und die deutsche Einheit auf dem Programm. So waren es denn auch die Demonstranten, die dafür sorgten, dass die Macht der SED - PDS endgültig gebrochen wurde. Die bisherige Staatspartei stürzte Ende Januar 1990 in eine tiefe Krise, stand kurz vor ihrer Auf lösung und mutierte ein weiteres Mal, nun zur PDS. Aber nicht nur gegen die SED - PDS richteten sich die Demonstrationen. Auch wenn es weniger deutlich formuliert wurde, hofften viele derer, die nun auf die Straße gingen, auch all jenen neuen politischen Kräften eine Lektion zu erteilen, von deren an den Runden Tischen vorgetragenen Visionen man befürchtete, sie könnten das Land tiefer in die Krise führen.

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V. Wege zu Demokratie und Einheit (1.2.–18. 3.) 1.

Internationale Entwicklung Anfang Februar

Modrow in Moskau : Deutschland einig Vaterland (31.1. /1. 2.) Über Jahrzehnte hatte die sowjetische Führung die deutsche Einheit verhindert. Noch im Januar 1990 gab es entsprechende Erklärungen.1 Nun änderte sich die Haltung. Zwar gab es unter den sowjetischen Militärs noch viele, die die DDR unter strategischen Gesichtspunkten als „Partner“ erhalten wollten, dagegen stand eine veränderte wirtschaftlich - finanzielle Interessenlage. Die in Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft heruntergewirtschaftete DDR brachte der ebenso maroden UdSSR keinen Nutzen mehr. Angesichts der europäischen Entspannungspolitik und der Revolution in der DDR wurde es schwerer, die imperiale Machtpolitik im Herzen Europas ohne Imageverlust aufrechtzuerhalten. Am 25. Januar berieten Gorbatschow „und seine Paladine“ ausführlich die Frage der deutschen Einheit – oder in den Worten Modrows – „die endgültige Preisgabe der DDR“.2 Erstmals stellte die sowjetische Führung dabei die Unvermeidlichkeit der deutschen Vereinigung fest. Gorbatschow meinte, Modrow entferne sich von der SED. Es gebe in der DDR keine einflussreichen Kräfte mehr. Man könne die Entwicklung nur durch die Bundesrepublik beeinflussen. Hier habe man die Wahl zwischen Kohl und der SPD. Wichtig sei, klarzumachen, dass niemand mit der Zustimmung rechnen könne, dass Deutschland in die NATO geht. „Die Anwesenheit unserer Truppen wird das nicht zulassen.“ Gorbatschow äußerte die Befürchtung, die Entwicklung könne dazu führen, dass die Sowjetunion sogar das Land wieder verliere, dass sie sich durch die Westverschiebung Polens im Zweiten Weltkrieg angeeignet hatte. KGB - Chef Wladimir A. Krjutschkow meinte, die Tage der SED seien gezählt. Sie sei „keine Stütze und kein Hebel“ mehr. Modrow sei nur „eine Übergangsfigur“, er halte sich nur noch mit Zugeständnissen. Man müsse der SPD in der DDR mehr Aufmerksamkeit schenken und das Volk der Sowjetunion langsam an den Gedanken der deutschen Einheit gewöhnen. Berater Alexander N. Jakowlew schlug vor, Modrow solle in die Ost - SPD wechseln, sich an deren Spitze stellen und dann einen Wiedervereinigungsvorschlag machen. Realistischer waren die Vorschläge des Vorsitzenden des Ministerrates, Nikolai I. Ryschkow, der meinte, die Vereinigung sei nicht mehr aufzuhalten. Man könne die DDR nicht erhalten, die Wirtschaft und die staatlichen Strukturen würden zerbrechen. Es gelte, an Kohl Bedingungen für eine Konföderation zu stellen.3 Nach dieser Beratung erklärte Gorbatschow unmittelbar vor seinem Treffen mit Modrow am 30. Januar öffentlich, Moskau habe „prinzipiell“ nichts gegen die Vereinigung Deutschlands. Die Geschichte sei dabei, ihre Korrekturen einzu1 2 3

Vgl. Pfeiler, Moskau, S. 193. Modrow, In historischer Mission, S. 97. Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 187–199.

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Wege zu Demokratie und Einheit

bringen.4 Vor dem Hintergrund dieser Erklärung, die so den Verhandlungsspielraum von vornherein festgelegt hatte, konferierte Gorbatschow mit Modrow.5 Dem war somit klar, dass er und die PDS in ihrer Ablehnung der deutschen Einheit nicht länger auf sowjetischer Linie lagen. Modrow versuchte zwar noch, den Prozess mit Überlegungen über „eine etappenweise Vereinigung der beiden Staaten im Rahmen des europäischen Prozesses mit Unterstützung der SPD“6 zu verzögern, sah sich aber de facto mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Zwecks Gesichtswahrung versuchte er später durch „Geschichtsklitterung“7 den Eindruck zu erwecken, „die grundsätzliche Entscheidung für die Einheit“ sei zwischen Gorbatschow und ihm „nach ausführlicher Diskussion“ vereinbart worden.8 Tatsächlich wurde er mit den Fakten konfrontiert, noch ehe die Verhandlungen überhaupt begonnen hatten. Beim Gespräch erklärte Modrow, die über wiegende Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte – von kleinen linken Sekten abgesehen – gruppiere sich um die Vereinigungsidee. „Wenn wir jetzt nicht die Initiative ergreifen, dann wird sich der eingeleitete Prozess spontan und eruptiv fortsetzen, ohne dass wir dann darauf noch Einfluss nehmen können.“ Die Bevölkerung akzeptiere inzwischen nicht einmal mehr eine Union zweier Staaten, sondern fordere die staatliche Einheit. Der Staatsapparat zerfalle. Auch hinsichtlich der sowjetischen Truppen wachse die negative Stimmung. Die Massenausreise halte an. Wer eine DDR Fahne trage, werde angegriffen. „Die Straße ist jetzt leider in den Händen des Gegners.“ Modrow wies auf die enorme Verschuldung der DDR hin und fragte nach günstigen Öllieferungen, die Gorbatschow jedoch nicht zusagte.9 Nach dieser Abfuhr durch Gorbatschow konnte es für ihn nur noch darum gehen, seinen Einfluss zu erhalten und möglichst viel in die Zeit nach dem absehbaren Machtverlust hinüberzuretten. Enttäuscht erklärte er später, „das Engagement der Sowjetunion für die eigenen Interessen und für die Interessen der ehemaligen DDR“ sei „nicht genügend konsequent“ gewesen.10 Bei seinem Besuch habe sich Gorbatschow für seine Pläne nicht mehr interessiert. Modrows späteres Urteil ist vernichtend : Gorbatschow „ist ein Lügner und Betrüger“. Modrow spricht von seiner angeblichen „offenkundigen Unfähigkeit zum konzeptionellen Denken“, von „mangelnder theoretischer Substanz“ und einem „gewissen Hochmut“. Während sich z. B. die US - Regierung vor internationalen Treffen von ganzen Heerscharen beraten ließ, sei Gorbatschow in solche Besprechungen gegangen „wie andere zum Frisör“. Das zeige seine „Unbedarftheit und Naivität“.11 4 5 6 7 8 9

Prawda vom 31. 1. 1990. Vgl. DA, 23 (1990), S. 468. Vgl. Gorbatschow, Das gemeinsame Haus, S. 177 f. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 106. Jesse, Der innenpolitische Weg, S. 113. Modrow, Aufbruch und Ende, S. 145. Zit. bei von Plato, Die Vereinigung, S. 225–230. Vgl. Text bei Nakath / Stephan, Countdown, S. 288–298. 10 Modrow zit. bei Bierling, Die sieben Mythen, S. 91. 11 Modrow, In historischer Mission, S. 87 f.

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Um den Einfluss auf die Entwicklung nicht völlig zu verlieren, schlug Modrow nach Abstimmung mit Gorbatschow am 1. Februar selbst einen Weg zur deutschen Einheit vor. Danach sollte Deutschland in vier Schritten zum „einig Vaterland aller Bürger deutscher Nation“ werden. Der erste Schritt sah die Bildung einer Vertragsgemeinschaft vor, die wesentliche konföderative Elemente wie Wirtschafts - , Währungs - und Verkehrsunion sowie eine Rechtsangleichung enthalten sollte. Als zweiter Schritt war die Bildung einer Konföderation beider Staaten mit gemeinsamen Organen und Institutionen wie einem parlamentarischen Ausschuss, einer Länderkammer und gemeinsamen Exekutivorganen vorgesehen. In einem dritten Schritt sollten Souveränitätsrechte beider Staaten an Machtorgane der Konföderation übertragen werden. Viertens sollte schließlich ein einheitlicher Staat in Form einer Föderation oder eines Bundes geschaffen werden.12 Modrows Plan verriet deutlich die sowjetische Handschrift. So sollten beide deutsche Staaten bereits im Stadium der Konföderation ihre Bündnisverpflichtungen gegenüber dritten Ländern aufgeben und militärisch neutral werden. Abgesehen von der Forderung nach Neutralität entsprach das Vereinigungsmodell Modrows jedoch in substanziellen Punkten dem Zehn - Punkte - Plan Kohls.13 So überholt der Neutralisierungsplan inzwischen auch war, allein die Tatsache, dass Modrow überhaupt die deutsche Einheit in Erwägung zog, bedeutete ein Abrücken von den Positionen seiner Partei. Hier handelte er als Chef der „Regierung der nationalen Verantwortung“. Die Haltung der PDS vertrat Gysi, als ihn Gorbatschow am 2. Februar in Moskau empfing. Nach dem Gespräch erklärte er gegenüber „Iswestija“, eine baldige Vereinigung möglich zu nennen sei politisch verantwortungslos. André Brie schob nach, die Äußerungen Modrows seien dessen Meinung als Regierungschef, nicht aber die der PDS.14 Reaktionen in der Bundesrepublik und im Ausland sowie Haltung der NATO (1.–6. 2.) In der Bundesrepublik stieß die Forderung nach der Neutralisierung Deutschlands auf einhellige Ablehnung. Kohl begrüßte die Wende Modrows, lehnte eine deutsche Neutralität jedoch strikt ab. Der Vorschlag widerspreche dem gesamteuropäischen Einigungsprozess, in dem ein vereintes Deutschland im Herzen Europas keine Sonderstellung einnehmen und damit isoliert werden dürfe. Bundesministerin Dorothee Wilms wertete Modrows Erklärung insofern ab, als sie meinte, die Bundesregierung werde ohnehin erst mit der nach freien Wahlen demokratisch legitimierten Regierung der DDR grundlegende Gespräche füh12 Für Deutschland, einig Vaterland. Abgedruckt in Modrow, Aufbruch und Ende, S. 186– 188. 13 Vgl. Schäuble, Der Vertrag, S. 28; Teltschik, 329 Tage, S. 124. 14 Vgl. Myritz / Nolden, 18. März 1990, S. 120.

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ren.15 Außenminister Genscher forderte noch am 31. Januar öffentlich die NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Er erklärte aber auch, dass Pläne einer Einbeziehung des DDR - Territoriums in die militärischen Strukturen den Einigungsprozess blockieren würden. Deshalb komme eine Ausdehnung des NATO - Territoriums nach Osten nicht in Frage. Genscher hatte schon auf dem Drei - Königs - Treffen der Liberalen am 6. Januar sein Konzept eines Wandels der Bündnisse beschrieben. Demnach sollten NATO und Warschauer Pakt durch kooperative Sicherheitsstrukturen bestärkt werden, um sie in einem zweiten Schritt in einen Verbund gemeinsamer, kollektiver Sicherheit zu überführen.16 Zentraler Punkt seiner Überlegung war es, wie sich die Beachtung sowjetischer Sicherheitsinteressen mit der NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands verbinden ließen. Eine vorschnelle Forderung nach NATO - Mitgliedschaft drohte, nicht nur nach seinem Verständnis, die UdSSR zu verprellen und die deutsche Einheit zu gefährden. In der SPD gab es weiterhin unterschiedliche Auffassungen. Willy Brandt wies den Modrow - Plan als „keinen hilfreichen Vorschlag“ zurück.17 In der SPD sah man jedoch in der Erklärung Gorbatschows gegenüber Modrow, dass das Selbstbestimmungsrecht auch für die Deutschen gelte, einen entscheidenden Fortschritt in der sowjetischen Politik.18 Egon Bahr, der sich auch jetzt nicht aus seinen festgefahrenen Denkstrukturen lösen konnte, erklärte, ein vereintes Deutschland in der NATO könne es nicht geben. NATO und europäische Einheit seien nicht auf einen Nenner zu bringen. Statt der NATO müsse die KSZE die Basis der künftigen Verbindung mit den USA darstellen.19 SPD - Wahlkämpfer Günter Grass meinte am 1. Februar, Auschwitz schließe einen künftigen Einheitsstaat aus. „Sollte er, was zu befürchten ist, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.“20 Von zentraler Bedeutung für die weitere Entwicklung in Deutschland war nicht nur die Haltung der sowjetischen Führung. Lösungen waren auch nicht ohne Zustimmung der westlichen Verbündeten der Bundesrepublik denkbar. Alle vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mussten zustimmen. Die USA hatten sich bereits seit Längerem für eine Wiedervereinigung ausgesprochen und dies mit der Forderung nach Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO verbunden. Vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats wiederholte Außenminister Baker am 1. Februar, die Wiedervereinigung sei nach wie vor das Ziel der US - Politik. Dabei sollten vier Prinzipien beachtet werden : 1. Die Selbstbestimmung müsse ungeachtet des Ergebnisses erfolgen. 2. Die Wiedervereinigung solle im Rahmen der bleibenden Integration der Bundesrepublik in 15 16 17 18

Vgl. Informationen des BMB 3 vom 9. 2. 1990, S. 2 f. Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 78 und 245 f. Frankfurter Rundschau vom 5. 2. 1990. Hans - Jochen Vogel am 15. 2. 1990 vor dem Bundestag. In : Auf dem Weg zur deutschen Einheit I, S. 595 f. 19 Die Welt vom 5. 2. 1990. 20 Grass, Kurze Rede, Anm. 10, S. 228 f.

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die NATO und der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes erfolgen. 3. Die Einheit müsse friedlich und schrittweise erfolgen. 4. Grenzfragen sollten nach den Grundsätzen der Schlussakte von Helsinki erfolgen.21 Die Haltung der US - Regierung muss vor dem Hintergrund ihres damaligen Interesses an globaler Abrüstung gesehen werden. Im Bericht zur Lage der Nation erklärte US - Präsident Bush Anfang Februar den unverzüglichen Abschluss der Rüstungskontrollverhandlungen im konventionellen Bereich sowie bei chemischen und strategischen Waffen zum vorrangigen Ziel. Es sei an der Zeit, den neuen Demokratien Osteuropas die Hand zu reichen und die Beziehungen zur UdSSR auszubauen. Durch die amerikanische Abrüstungsinitiative wurden auch die mit der deutschen Frage verknüpften Sicherheitsprobleme erheblich erleichtert. Die Bundesregierung war erfreut, dass Bush mit der Initiative der deutschen Einheit weiter den Weg ebnete.22 Allerdings könne man in Washington weder die sowjetischen Intentionen noch die Moskauer Machtverhältnisse genau einschätzen. So jedenfalls äußerte sich Bushs Sicherheitsberater Brent Scowcroft auf der Wehrkundetagung in München Anfang Februar 1990. Zu vieles sei dort in Fluss geraten. Es war der US - Regierung unklar, ob sie in dem von Gorbatschow lancierten Vorstoß Modrows einen „Luftballon“, ein gefestigtes Konzept oder einen Versuch des Zeitgewinns in der deutschen Frage erblicken sollte.23 Von geringerer Bedeutung waren die Haltungen Großbritanniens und Frankreichs. Beide Regierungen forderten auf jeden Fall ein Verbleiben in der NATO,24 deren zweitwichtigste Funktion darin bestand, Deutschland unlösbar in westliche Strukturen einzubinden. Die britische Regierung stand einer Wiedervereinigung skeptisch bis ablehnend gegenüber. In Paris war die Zustimmung – auch in der Bevölkerung25 – größer, allerdings hatte man hier Probleme mit dem Konzept, die NATO zum Baustein einer neuen europäischen Ordnung zu machen. Gemäß ihrer traditionellen Haltung zur NATO fiel Frankreich die Vorstellung schwer, der NATO als Entgegenkommen an die UdSSR einen stärker politischen Charakter zu geben.26 In der NATO wurde das Moskauer Treffen direkt ausgewertet. Einhellige Meinung war hier, so Generalsekretär Wörner, die Neutralität sei eine untaugliche Lösung für das deutsche Problem. Ein neutrales Deutschland wäre eine Quelle von Instabilität in Europa.27 Hier müsse es nun darum gehen, der sowjetischen Führung eine NATO - Mitgliedschaft schmackhaft zu machen. Grundlage dafür waren die Überlegungen Genschers. Am 1. Februar akzeptierte die US - Regierung bei Verhandlungen zwischen Genschers Büroleiter Frank Elbe und Unterstaatssekretär Robert Zoellick die von Genscher in Tutzing benutzte Formel, wonach NATO- Strukturen nicht auf das Gebiet der DDR ausgedehnt 21 22 23 24 25 26 27

Vgl. Diemer ( Hg.), Kurze Chronik, S. 142. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 123. Die Welt vom 5. 2. 1990. Frankfurter Rundschau vom 5. 2. 1990. Vgl. Grosser, Es könnte doch, S. 148 f. Vgl. Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 66 f. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 4./5. 2. 1990.

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werden sollten. Zoellick und Dennis Ross, die Bakers Planungsstab leiteten und im State Department für die deutsche Vereinigung zuständig waren, schlugen der deutschen Seite für die Verhandlungen einen Sechser - Mechanismus vor. Demnach sollten die Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Kriegsalliierten geführt werden. Mit der Verantwortung der Alliierten für Deutschland als Ganzes und Berlin wurde auch später gegenüber anderen Staaten, die ebenfalls an den Verhandlungen über Deutschland beteiligt werden wollten, die alleinige Teilnahme der USA, der UdSSR, Frankreichs und Großbritanniens begründet. Der Sechser - Kreis kam sowohl Gorbatschows Bedürfnis entgegen, innenpolitisch zeigen zu können, dass die UdSSR gleichberechtigter Verhandlungspartner sei als auch dem deutschen Wunsch, die Verhandlungsrunde möglichst klein zu halten. Der begrenzte Kreis kam auch den anderen Kriegsalliierten entgegen, bestätigte er doch in der deutschen Frage eine privilegierte Position, die die Länder bei einer internationalen Friedenskonferenz nicht gehabt hätten. Genscher begrüßte die Sechser - Runde, forderte aber, sie müsse „Zwei plus Vier“ heißen, „denn es kommt auf uns an“. Jede Erinnerung an die demütigenden Genfer Verhandlungen 1954 müsse vermieden werden, bei denen die Deutschen von den Alliierten genötigt worden waren, an Katzentischen Platz zu nehmen. Weder dürfe von „Sechser - Gesprächen“ noch von „Vier - plus - Zwei - Gesprächen“ die Rede sein. Genscher stellte klar, dass die Bundesregierung nach dem Auftritt der Alliierten in Berlin am 11. Dezember 1989 sich an solchen Konferenzen nicht beteiligen werde.28 Auch die Haltung von Nachbarn wie Polen und der Tschechoslowakei war für die Entwicklung von Bedeutung. Die polnische Regierung sprach sich klar gegen eine Neutralisierung oder Entmilitarisierung Deutschlands und für eine Verankerung in der NATO aus. Aus Sicht Warschaus war ein in der NATO gebundenes Deutschland für Polen berechenbarer. Der polnische Außenminister Krzystof Skubiszewski stimmte bei einem Besuch in Bonn mit Kohl darin überein, dass Deutschland unter einem europäischen Dach vereint und in ein europäisches Sicherheitssystem eingebunden werden müsse. Die Idee einer deutschen Neutralität oder eines deutschen Alleinganges sei von der Geschichte widerlegt. Ähnlich sah es auch der tschechoslowakische Außenminister Jiří Dienstbier, dass „die Neutralität des künftigen Deutschland nicht der beste Weg wäre“.29

28 Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 86–88. 29 Svobodné slovo vom 12. 2. 1990. Zit. in Brach, Die Außenpolitik, S. 66.

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Mit dem auf Druck Moskaus vorgetragenen Vorschlag einer Wiedervereinigung auf neutraler Grundlage reagierte Modrow endlich auch auf die revolutionären Forderungen nach einem unumkehrbarem Systemwandel durch Beseitigung der DDR. Es waren die Forderungen der Menschen auf der Straße, die bezüglich der deutschen Einheit zu einem Paradigmenwechsel in der internationalen Politik führten. Die revolutionären Proteste in der DDR waren der Schrittmacher der internationalen Politik. Dabei kümmerten sich die Demonstranten wenig um das, was international opportun war, sondern trugen ihre Forderungen ohne Kenntnisse der subtilen Zusammenhänge internationaler Politik vor. Diese Demonstration politischen Willens war, wie wir heute wissen, erfolgreich. Auch die Bundesregierung fühlte sich durch die Proteste veranlasst, ihren langsamen Weg zur deutschen Einheit aufzugeben. Hinzu kam der andauernde Ausreisestrom. Nachdem nun selbst Modrow in Richtung deutsche Einheit schwenkte, stand der Bundeskanzler unter Druck, seinerseits ein aktualisiertes Wiedervereinigungskonzept vorzulegen, schmolzen sein Popularitätsvorsprung und die mit dem Zehn - Punkte - Plan errungene Meinungsführerschaft doch ansonsten dahin. Seine Berater schlugen ihm deshalb vor, seine bisher geübte Zurückhaltung hinsichtlich der Wiedervereinigung endgültig aufzugeben, diese mit voller Kraft zu propagieren und mit Blick auf den Wahlkampf ein griffiges Wiedervereinigungskonzept vorzulegen. Noch am 31. Januar gab Kohl im Kabinett seine Absicht bekannt, Arbeitsstäbe zu Fragen der Eigentumsansprüche und der Rechtsangleichung bei der Wiedervereinigung einzurichten. Eine Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik traf sich nun zweimal wöchentlich im Bundeskanzleramt.30 Genscher erklärte, ohne internationale Verträge und Bündnisse zu berühren, müssten die Deutschen schon mit der „Einheit der kleinen Schritte“ beginnen. Im Bundesinnenministerium begann man „in aller Heimlichkeit“ damit, die Wieder vereinigung rechtlich vorzubereiten. Bald wurden andere Ministerien in die Vorbereitungen einbezogen.31 Längst hatte auch die bundesdeutsche Wirtschaft reagiert. Bereits seit Mitte November intensivierten Unternehmen ihre Kontakte zu Betrieben in der DDR. Unternehmen bildeten Stäbe, die neue Möglichkeiten für unternehmerische Aktivitäten untersuchten. In Rechtsabteilungen von Unternehmen wurden die Eigentumsverhältnisse bei Liegenschaften und Betrieben in der DDR geprüft, die bis zur Enteignung Eigentum jetzt bundesdeutscher Firmen waren.32 Der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ ( BDI ) schuf Anfang des Jahres 1990 eine eigenständige Abteilung „Deutsch - deutsche Wirtschaftspolitik“, die sich insbesondere mit der Koordinierung der industriepolitischen Meinungsbildung in Bezug auf die sich ständig beschleunigenden Entwicklungen in der DDR befasste. Gemeinsam mit der „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ öffnete der BDI 30 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 121 f. 31 Schäuble, Der Vertrag, S. 151 f. 32 Vgl. FAZ vom 15. 11. 1989.

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im Februar eine „Verbindungsstelle DDR“ in West - Berlin, die eng mit der Industrie - und Handelskammer Berlin, dem Senat, Bundesministerien und Wirtschaftsverbänden kooperierte.33 In eine gänzlich andere Richtung gingen von der Regierung Modrow am 1. Februar beschlossene Maßnahmen. Ziel seines Wirtschaftsprogramms war eine Verbindung sozial - marktwirtschaftlicher Strukturen mit „sozialistischen Errungenschaften“. Dazu zählten die Sicherung der Arbeitsplätze, ein Recht auf Arbeit, eine „entfaltete Wirtschaftsdemokratie“, eine „umfassende Mitbestimmung und wirksame Interessenvertretung der Belegschaften“ durch den FDGB, eine „breite demokratische Mitwirkung der Gesellschaft bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungen“, ein Mitspracherecht der Arbeitnehmer an den Entscheidungen der Unternehmen, der Einfluss des Staates auf die Bildung von Preisen und Einkommen sowie eine „Produktion unter strikter Beachtung der Anforderungen von Ökologie und Umweltschutz“.34 Angesicht des finanziellen Bankrottes der DDR war klar, dass die Finanzierung des populistischen Programms aus dem eigenen Haushalt völlig unmöglich war. Es stellte vielmehr genau das Gegenteil dessen dar, was realistisch war. Modrow setzte damit die verantwortlungslose Finanzpolitik Honeckers und Mittags fort. Nun allerdings versuchte sich die Regierung Modrow mit Unterstützung einer Mehrheit am Zentralen Runden Tisch auf Kosten des Bundeshaushaltes mit sozialpolitischen Maßnahmen zu profilieren und gleichzeitig langfristig sozialistische Paradigmen festzuklopfen. Trotz des Staatsbankrotts beschloss die Regierung am 1. Februar eine Erhöhung der Löhne und Gehälter für ca. 2,8 Mio. Arbeiter und Angestellte. Modrow belastete so den maroden Staatshaushalt allein für das Jahr 1990 mit zusätzlichen Kosten von 3,995 Mrd. Mark.35 Am 5. Februar beschloss der Runde Tisch eine als „Sozialcharta“ deklarierte, rechtlich einklagbare Garantie sozialer Standards der DDR. Diese Charta wurde nicht etwa in Absprache mit der Bundesregierung beschlossen. Mit seinen Forderungen an die Bundesregierung wurde der Runde Tisch als einer Art „fordernder Nebenregierung“ zum „lauten Opponenten Bonner Politik“.36 So hieß es im Vorspann der „Sozialcharta“ fordernd : „Die deutsche Einheit ist auf dem Wege eines wechselseitigen Reformprozesses beider deutscher sozialen Sicherungssysteme in ihren positiven Grundzügen zu vollziehen. Historisch gewachsene soziale Standards in beiden deutschen Staaten sind zu erhalten, weiterzuentwickeln und zu einem höheren sozialen Sicherungsniveau zu führen.“37 Die Forderungen wirkten in ihrer Diskrepanz zur Realität geradezu absurd und anmaßend. Von der Sozialcharta war es nur ein Schritt zum Entwurf einer neuen Verfassung als 33 Vgl. Bauer, Aktivitäten des BDI, S. 12 f. 34 Beschluss des Ministerrates der DDR 12/3/90 vom 1. 2. 1990 über Zielstellung, Grundrichtungen, Etappen und unmittelbare Maßnahmen der Wirtschaftsreform in weiterer Ver wirklichung der Regierungserklärung vom 17. 11. 1989 ( BArch Berlin, C 20 I /3– 2904). 35 Beschluss des Ministerrates der DDR 12/12/90 vom 1. 2. 1990 ( ebd. 2906, Bl. 9–22). 36 Thaysen, Der Runde Tisch 2, S. 295. 37 Zit. ebd., S. 295.

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Modell für das künftige Gesamtdeutschland. Wer die neuen sozialistischen Errungenschaften finanzieren sollte, machte am selben Tag Wirtschaftsministerin Christa Luft klar. Sie forderte von der Bundesregierung eine Soforthilfe von 10 bis 12 Mrd. DM.38 Bundesregierung bietet DDR Wirtschafts - und Währungsunion an (7. 2.) Angesichts des fordernden Auftretens in Verbindung mit dem wirtschaftspolitischen Kurs der Modrow - Regierung intensivierte die Bundesregierung ihre Maßnahmen gegenüber der DDR. Am 7. Februar beschloss das Bundeskabinett, der DDR Verhandlungen über eine Wirtschafts - und Währungsunion anzubieten. Kohl drängte, nachdem er erfahren hatte, dass sein Kontrahent Späth in Stuttgart ähnliche Vorschläge machen wollte.39 Die Vorgeschichte dieses Vorschlags begann Ende des Jahres 1989. Am 17. Dezember hatten hohe Vertreter des DDR - Finanzministeriums, der Außenhandelsbank und der Ständige Vertreter, Horst Neubert, dem Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, und dem Leiter der Abteilung für Grundsatzfragen der Finanzpolitik im Bundesfinanzministerium, Horst Köhler, die Währungs - und Devisenlage der DDR geschildert und damit „faktisch einen Offenbarungseid“ geleistet. Nach Darstellung Köhlers wollten sie „über eine westdeutsche Hilfe zur Stabilisierung der Ostmark vorfühlen“. Nach dem Gespräch war klar, dass sich das Bundesfinanzministerium „mit Hochdruck und sehr konkret“ auf Handlungsoptionen vorbereiten musste.40 Seitdem wurde im Bundesfinanzministerium über eine Währungsunion beraten, zunächst freilich nur in Form eines fixierten Austauschverhältnisses zwischen beiden Währungen.41 Nun musste man sich hier mit einer Fülle an Analysen zur wirtschaftlichen und monetären Entwicklung in der DDR beschäftigen, die „alle auf einen Stufenprozess für eine deutsch - deutsche wirtschafts - und währungspolitische Integration hinausliefen“. Vertraulich befasste man sich hier seit Anfang Januar auch damit, wann und wie eine Einbeziehung der DDR in das Währungsgebiet der Bundesrepublik möglich sei.42 Auch in der Bundesbank begann man mit ersten Analysen, wie die DDR - Wirtschaft und - Währung an die bundesdeutsche Wirtschaft und die D - Mark herangeführt werden könnten. Bei den Überlegungen dominierte die Vorstellung, dass es noch für einen längeren Zeitraum zwei deutsche Staaten geben würde.43 Mitte Januar schloss Waigel angesichts der Entwicklung in der DDR den Fall nicht mehr aus, wo es heißen könnte : „Kobra

38 39 40 41 42 43

Vgl. Luft, Zwischen Wende und Ende, S. 187. Vgl. Teltschik, Innenansichten, S. 129 f.; Jäger, Kanzlerdemokratie, S. 357. Köhler, Alle zogen mit, S. 118. Vgl. Sarrazin, Die Entstehung, S. 174; März, Kanzlerschaft, S. 66. Köhler, Alle zogen mit, S. 118 f. Vgl. Haller, Das Wort „Anschluß“ war tabu, S. 150 f. Vgl. Tietmeyer, Erinnerungen, S. 59 f.

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übernehmen Sie!“44 Am 19. Januar sprach sich auch die finanzpolitische Sprecherin der SPD im Bundestag, Ingrid Matthäus - Maier, für eine rasche Währungsunion aus. Die D - Mark sei „das sichtbarste Signal für wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR“ und die Währungsunion für die Bewohner der DDR „ein einsichtiges und überzeugendes Signal für eine rasche wirtschaftliche Besserung, das sie zum Bleiben in ihrer Heimat veranlassen könnte“.45 So war das Angebot der Währungsunion vor allem auch „ein Signal zum Bleiben“.46 In Vorbereitung einer Klausurtagung des Bundesfinanzministeriums am 30. Januar wurde bereits das Modell einer Direkteinführung der D - Mark in der DDR zu einem Stichtag durchdacht. Diese Klausurtagung war der „Wendepunkt“ hin zur Währungsunion.47 Hier kam man zum Ergebnis, dass eine sofortige Einführung der D - Mark in der DDR in Form eines erweiterten Währungsgebietes denkbar sei. Voraussetzung sei die Schaffung rechtlicher Voraussetzungen für eine Marktwirtschaft. Als günstigster Weg der Wiedervereinigung wurde ein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes angesehen.48 Der am 30. Januar erarbeitete Standpunkt wurde am 2. Februar veröffentlicht. Nach Beratungen mit der Bundesbank schlug Waigel zugleich eine Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes vor.49 Seit Ende Januar gab es freilich auch warnende Stimmen. Der Präsident des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsordnung“ in West - Berlin meinte, eine rasche Integration beider Staaten würde strukturelle Anpassungsprobleme mit sich bringen, die alles bisher Gekannte in den Schatten stellen würden. Die Kohle - und Stahlkrise im Ruhrgebiet und an der Saar, die Werftenkrise an Nord - und Ostsee oder die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit in den sogenannten Zonenrandgebieten wären Bagatelleprobleme im Vergleich zu dem, was mit einer kurzfristigen Vereinigung an wirtschaftlichen Strukturproblemen auf die Bundesrepublik zukäme. Auch Wirtschaftsminister Haussmann sprach sich am 26. Januar gegen eine sofortige Währungsunion als Allheilmittel aus. Bevor die DDR - Wirtschaft nicht halbwegs konsolidiert sei, brächte sie für die DDR und die Stabilität der D - Mark mehr Schaden als Nutzen. Zahlreiche andere Wirtschaftsexperten warnten ebenfalls vor den Folgen einer schnellen wirtschaftlichen Vereinigung für die marode Wirtschaft der DDR. Eine Währungsunion würde die Betriebe, die Landwirtschaft, den Bergbau und die Handelseinrichtungen schutzlos der Konkurrenz der gesamten westlichen Welt aussetzen und reihenweise in den Ruin treiben. Die Stellungnahmen basierten auf neuen Wirtschaftsdaten aus der DDR, die besagten, dass die DDR - Wirtschaft weit über 50 Prozent hinter der der Bundesrepublik zurücklag. Die Mehrzahl der DDR - Produkte war westlichen Produkten weit unterlegen und unter Marktbedingungen nicht absetzbar. Ohne ent44 45 46 47 48 49

Vgl. Köhler, Alle zogen mit, S. 119. Zit. in Die Zeit vom 19. 1. 1990. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit, S. 31. Klemm, Die Verhandlungen, S. 135. Vgl. Schmidt - Bleibtreu, Zur rechtlichen Gestaltung, S. 228 f. Vgl. Haller, Das Wort „Anschluß“ war tabu, S. 151 f.; Schell, Zusammenbruch, S. 17.

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scheidende Schritte zur Gesundung der Wirtschaft müsse eine Währungsunion katastrophale Folgen haben.50 In der DDR kursierten seit Ende Januar Gerüchte über eine bevorstehende Währungsunion. Sie führten zum Ansturm auf Sparguthaben, zu panikartigen Geldabhebungen, Umverteilungen von Sparkonten auf Kinder und Enkel und vorfristigen Kredittilgungen. Es wurden vor allem Foto - Optik, Haushaltsgroßgeräte, Teppiche und lagerfähige Nahrungsgüter auf Vorrat gekauft. Der Kurs der Mark zur D - Mark rutschte zeitweilig erneut auf zehn zu eins. Angesichts der Umtauschsätze auf dem Schwarzmarkt wurde die DDR zum Eldorado vieler Westbesucher. Ganze Firmenbelegschaften fuhren „nach drüben“, um billig Feste zu feiern und einzukaufen. Angesichts der hohen Aufkäufe von Lebensmitteln gab es in einigen grenznahen Kreisen Versorgungslücken.51 Umgekehrt war ein Besuch in der Bundesrepublik unerschwinglich. Nach Umtausch eines Monatslohnes auf dem Schwarzmarkt konnten sich DDR - Bewohner vielleicht ein Abendessen für die Familie oder ein paar billige Schuhe leisten. Auf Demonstrationen tauchte die Forderung auf : „Kommt die D - Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr !“ Am 7. Februar beschloss das Bundeskabinett auf Drängen aus den Reihen der SPD und entgegen dem Ratschlag vieler Fachleute, der DDR Verhandlungen über eine Währungsunion mit Einführung der D - Mark als Zahlungsmittel vorzuschlagen. Als Voraussetzung wurden umfassende Wirtschaftsreformen genannt. Waigel begründete den Schritt mit der Entwicklung in der DDR, die der Bundesregierung keine andere Wahl lasse.52 Auch Kohl meinte, dies sei angesichts des Übersiedlerstroms der einzig gangbare Weg. Er kündigte an, mit der freigewählten Regierung der DDR sofort über konföderative Strukturen reden zu wollen. Die ursprünglich avisierte Vertragsgemeinschaft spiele keine Rolle mehr. Am selben Tag trat auf Beschluss des Bundeskabinetts ein Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ unter dem Vorsitz von Kohl zur konstituierenden Sitzung zusammen. Die SPD - Opposition zeigte ein gespaltenes Bild. Aus ihren Reihen kam der erste Vorschlag zur Währungsunion, aber auch die vehementeste Kritik an dieser Vorgehensweise. Lafontaine nannte sie eine „eminente Fehlentscheidung“.53 Unter Experten löste das Angebot der Bundesregierung eine umfassende Diskussion aus, die bis heute andauert. Noch am 6. Februar hatte Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann alternativ vorgeschlagen, beide deutsche Staaten könnten bis zum Inkrafttreten des EG - Binnenmarktes am 1. Januar 1993 eine Wirtschafts - und Währungsunion anstreben.54 Bundesbankpräsident 50 Vgl. Christ / Neubauer, Kolonie, S. 68–74. 51 Vgl. Informationszentrum vom 29. 1. 1990 : Lage in den Bezirken ( BArch B, VA 01/37606, Bl. 104); RdB Suhl vom 12. 2. 1990 : Lage im Bezirk ( ThSTAM, 2633). 52 Vgl. Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 7. 2. 1990; Theodor Waigel. Zit. in FAZ vom 26. 1. 1990. 53 Zit. bei Busch, Die deutsch - deutsche Währungsunion, S. 195. 54 Vgl. ebd., S. 194.

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Karl - Otto Pöhl versicherte am 9. Februar, die Bundesbank werde die Entscheidung der Bundesregierung loyal unterstützen. Es handele sich um Beschlüsse von nationaler und historischer Bedeutung. Nur als Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung und angesichts der krisenhaften Situation sei dieser Schritt zu rechtfertigen. Die Verantwortung für die Entscheidung läge jedoch bei der Bundesregierung und beim Bundestag.55 Tatsächlich sah er das Angebot als verfrüht an. Es war ein Grund für seinen Rücktritt Ende Juli 1990.56 Der DIHT warnte vor den Folgen einer schnellen Währungsunion und legte alternativ einen Dreistufenplan vor. Positiv bewertete der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ ( BDI ) die Initiative. Tyll Necker bezeichnete die Wirtschafts - und Währungsunion als entscheidenden Hebel für eine schnelle Umgestaltung der DDR - Wirtschaft. Er forderte die Bundesregierung jedoch auf, die Währungsunion von der vertraglichen Festlegung der DDR auf unumkehrbare marktwirtschaftliche Strukturen abhängig zu machen.57 Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ drückte gegenüber der Bundesregierung seine Besorgnis über die geplante Währungsunion aus. Wichtiger, so die „Fünf Weisen“, sei eine Wirtschaftsreform, die ohne Verzug in Gang gesetzt werden müsse. Die Währungsunion werde schlagartig die Einkommensunterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands verdeutlichen, was zu Angleichungsforderungen führen werde, die erhebliche Steuererhöhungen erforderlich machten. Besser als eine Währungsunion sei die rasche Entwicklung der Konvertibilität der DDR - Mark.58 Der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Hans K. Schneider, schrieb Kohl, die Währungsunion sei das falsche Mittel, um dem Strom von Übersiedlern Einhalt zu gebieten. Die Einführung der D - Mark werde in der DDR die Illusion wecken, mit der Währungsunion sei auch der Anschluss an den Lebensstandard der Bundesrepublik hergestellt. Davon könne jedoch keine Rede sein.59 In der Tat erwies sich der Vorschlag einer raschen Währungsunion in der DDR als populär. Positive Erwartungen wurden kaum durch Sachverstand hinsichtlich der Funktionsweise westlicher Marktwirtschaften getrübt. Die Zustimmung zur Einführung der D - Mark lag ab März mit 90 Prozent höher als zur staatlichen Einheit.60 Dagegen wurden am Zentralen Runden Tisch Bedenken formuliert. Angesichts der bevorstehenden Reise Modrows nach Bonn am 13. Februar wurde die Regierung hier „nicht legitimiert, jetzt schon eine Währungsunion oder einen Währungsverbund zu vereinbaren“. Demokratie Jetzt erklärte, mit dem Einzug der D - Mark werde der demokratische Erneuerungsprozess endgültig abgebrochen. Damit werde die Arbeitslosenzahl binnen eines

55 56 57 58 59 60

Vgl. FAZ vom 10. 2. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 129; Christ / Neubauer, Kolonie, S. 74 f. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 10. 2. 1990. Vgl. FAZ vom 15. 2. 1990. Zit. bei Christ / Neubauer, Kolonie, S. 77. Vgl. Busch, Die deutsch - deutsche Währungsunion, S. 198.

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Jahres auf bis zu zwei Millionen steigen.61 Die Währungsfrage wurde nun Wahlkampfthema. So trat die „Allianz für Deutschland“ in ihrem „Sofortprogramm“ für die „sofortige Einführung der D - Mark“ ein, während andere Parteien Bedenken anmeldeten.

3.

Zeit der internationalen Diplomatie

Baker in Moskau (7.–9. 2.) Um der sowjetischen Führung die amerikanischen Positionen nahe zu bringen, besuchte US - Außenminister Baker vom 7. bis 9. Februar Moskau. Bei einem Zwischenstopp erreichte Baker die Zustimmung des französischen Außenministers Dumas zum „Genscherplan“, bestehend aus der Formel über die Nichtausdehnung der NATO auf das Gebiet der DDR und die Form der Verhandlung über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Bereits am 29. Januar akzeptierte der britische Außenminister Douglas Hurd den Sechser - Mechanismus, bevorzugte allerdings einen „Vier - plus - Null“ - Ansatz. Großbritannien hätte die Verhandlungen über Deutschland also am liebsten ohne dessen Teilnahme geführt.62 In Moskau warnte Gorbatschow Baker davor, die Wiedervereinigung könne Europa destabilisieren. Möglicherweise werde sich Deutschland nicht für alle Zeiten mit seinen Grenzen zufrieden geben. Er forderte, den Prozess von Seiten der Supermächte zu kontrollieren und verlangte, die UdSSR müsse bei dem Prozess eine aktive Rolle spielen. Baker bezeichnete die Wiedervereinigung als Ziel der USA und nannte sie unvermeidlich. Deutschland müsse aber in der NATO bleiben. Ein neutrales Deutschland sei ein Unsicherheitsfaktor und käme für die USA nicht in Frage. Allerdings könne man über den Status Deutschlands in der NATO verhandeln. Die NATO - Mitgliedschaft könne am besten garantieren, dass Deutschland seine Ostgrenzen auch in Zukunft akzeptiere. Er erklärte aber, natürlich müsse die UdSSR bei der Gestaltung der neuen europäischen Ordnung aktiv mitwirken. Baker schlug „Zwei - plus - Vier - Gespräche“ vor und erklärte, dass die Deutschen ein Gremium, nur bestehend aus den Alliierten des Zweiten Weltkrieges, nicht akzeptieren würden. Den sowjetischen Vorschlag, das Problem durch die KSZE behandeln zu lassen, lehnte er ab, da dieser Apparat zu schwerfällig sei.63 Dass der Westen bei seinem Vorgehen die innenpolitische Lage in der UdSSR im Blick haben musste, machte das Plenum des ZK der KPdSU deutlich, das während Bakers Aufenthalt in Moskau zu Ende ging. Die deutsche Frage war Gegenstand der innenpolitischen Entwicklung in der UdSSR geworden. Kräfte wie Jegor Ligatschow warnten vor einem „Verschlucken der DDR“, vor einem Deutschland mit einem großen ökonomischen und militärischen Potenzial und machten gegen Schewardnadses Außenpolitik Front. Der 61

Vgl. Neues Deutschland vom 12. 2. 1990; Christ / Neubauer, Kolonie, S. 76; Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 115. 62 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 90. 63 Vgl. Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 242–245; Teltschik, 329 Tage, S. 137 f.

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ehemalige Stellvertreter von Außenminister Andrej Gromyko, Georgi Kornienko, sowie die Deutschlandexperten Valentin Falin und Nikolai Portugalow forderten, Gorbatschow und Schewardnadse daran zu hindern, Deutschland durch Gewährung seines Selbstbestimmungsrechtes „dem Westen auszuliefern“.64 Vor seiner Abreise hinterlegte Baker einen Brief für Kohl und Genscher, die am 10. Februar nach Moskau flogen. Er informierte darüber, dass Gorbatschow Zwei - plus - Vier - Verhandlungen akzeptieren könne, wenn Deutschland zusichern würde, dass die Grenzen dauerhaft und unverrückbar seien.65 Kohl und Genscher in Moskau (10. 2.) Am 10. Februar reiste Kohl „wieder ohne Absprache mit seinen Verbündeten“66 gemeinsam mit Genscher zu Gorbatschow nach Moskau.67 Am Tag zuvor hatte Genscher seine Überlegungen wiederholt, wonach das vereinte Deutschland der NATO angehören sollte, die Streitkräfte auf dem Gebiet der DDR aber nicht den Kommandostrukturen der NATO unterstehen dürften.68 Kohl und Gorbatschow stimmten überein, dass der Prozess der Einigung in einen stabilen europäischen Rahmen eingebettet sein müsse. Kohl lehnte eine Neutralisierung und Demilitarisierung Deutschlands erneut ab. Deutschland müsse ins westliche Bündnis eingebunden bleiben. Die Geschichte habe gezeigt, dass nichts der Stabilität Europas abträglicher sei „als ein zwischen zwei Welten, zwischen West und Ost schwankendes Deutschland“. Umgekehrt gelte : „Deutschland im festen Bündnis mit freiheitlichen Demokratien und in zunehmender politischer und wirtschaftlicher Integration in die Europäische Gemeinschaft ist der unerlässliche Stabilitätsfaktor, den Europa gerade in seiner Mitte braucht.“ Kohl betonte, die NATO müsse sich künftig stärker auf ihre politische Rolle konzentrieren. Zudem würden keine Einheiten oder Einrichtungen auf das Gebiet der DDR vorverlegt.69 Gorbatschow stellte überraschend fest, dass es keine Meinungsverschiedenheiten über die deutsche Einheit und das Recht der Deutschen gebe, sie anzustreben. Die Deutschen müssten selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten. Sie hätten bereits bewiesen, dass sie die Lehren aus der Geschichte gezogen haben und von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen werde.70 Kohl erklärte nach dem Treffen, Gorbatschow habe ihm zugesagt, es sei

64 65 66 67

Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 92. Vgl. Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 247. Thatcher, Downing Street No. 10, S. 1105. Vgl. Bericht über das Treffen Michail Gorbatschows mit Helmut Kohl vom 10. 2. 1990. In : Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa, S. 179–181; Teltschik, 329 Tage, S. 138–142. 68 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 81. 69 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 13. 2. 1990. 70 Prawda vom 11. 2. 1990. Übersetzung abgedruckt in Texte zur Deutschlandpolitik III / 8a, S. 86–88.

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Sache der Deutschen, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung zu bestimmen.71 Die veränderte Haltung der UdSSR war Voraussetzung für die deutsche Einheit. Indem Gorbatschow zusicherte, die Deutschen könnten in einem Staat leben, vollzog er einen Bruch in der sowjetischen Deutschland - und Europapolitik. Für Honecker, den erbitterten Gegner Gorbatschows, lag damit eine „Annexion der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenwirken mit der damaligen sowjetischen Partei - und Staatsführung“ auf der Hand.72 Die sowjetische Regierung setzte von nun an den Akzent auf eine Umgestaltung der NATO und des Warschauer Vertrages in „politische Allianzen“ mit einem europäischen Sicherheitssystem im Rahmen der KSZE, das schließlich beide Bündnisse überflüssig machen sollte. Ebenso zielte sie darauf, dass die NATO durch eine Vereinigung Deutschlands keinen Machtgewinn gegenüber der UdSSR erzielen könne. Bei seinen Zugeständnissen ging Gorbatschow wohl von einem Sieg der SPD bei den Wahlen in der DDR aus und rechnete daher mit einem längeren Zeitraum bis zur deutschen Einheit. Aus deutscher Sicht war damit zwar das wesentlichste Hindernis für die Einleitung innenpolitischer Schritte zur Vereinigung beseitigt, allerdings blieb bis zur Volkskammerwahl unklar, auf welchem Weg sie erreicht werden würde, ob durch einen von der Bundesregierung befürworteten Beitritt der DDR gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes oder durch die gemeinsame Ausarbeitung einer neuen deutschen Verfassung nach Artikel 146, wie es vor allem die SPD favorisierte. Konferenz in Ottawa (12. /13. 2.) In Ottawa begann am 12. Februar die KSZE - Konferenz „Offener Himmel“, die erste und einzige gemeinsame Konferenz der Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes. Ziel von Genscher und Baker war es, eine Einigung der sechs Außenminister der Alliierten des Zweiten Weltkrieges und der beiden deutschen Staaten über die „Zwei - plus - Vier“ - Gespräche zu erreichen. In Ottawa trafen beide jedoch „auf einen zögerlichen sowjetischen Amtskollegen, der vom Tempo des westlichen Vorgehens überrascht war und offenbar keine Instruktion aus Moskau hatte“.73 Schewardnadse lobte stattdessen Modrows Vorstellungen eines in langsamen Etappen zu vollziehenden Prozesses und meinte, eine Einbindung Deutschlands in die NATO sei nicht zu akzeptieren. Die sowjetische Regierung sei nur bereit, einen völlig neuen sicherheitspolitischen Status des vereinten Deutschlands zu akzeptieren. Zwar habe man derzeit gute Beziehungen zur NATO, morgen schon könne die Situation wieder 71

Erklärung Helmut Kohls am 10. 2. 1990 in Moskau. Abgedruckt in Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, S. 812 f. 72 Interview mit Erich Honecker. In : Frankfurter Rundschau vom 21. 1. 1993. 73 Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 99 f.

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anders sein. Die ideale Lösung wäre ein neutrales, vereinigtes Deutschland.74 Die anderen Staaten des Warschauer Paktes hatten „keine einheitliche Sicht“ und zeigten „ein ausschließlich am unmittelbaren nationalen Interesse orientiertes Herangehen“. Allgemein wurde das Recht der beiden deutschen Staaten auf Vereinigung im europäischen Rahmen und unter Berücksichtigung der Interessen der Nachbarn anerkannt. Allerdings wurde Sorge über das Tempo des Vereinigungsprozesses geäußert. Unklarheit bestand über den militärischen Status Deutschlands.75 Frankreich und Großbritannien unterstützten zunächst die sowjetischen Vorschläge, dem vereinten Deutschland nicht die volle Souveränität zu geben und Elemente der Vier - Mächte - Rechte aufrechtzuerhalten. In dieser Situation war es der amerikanischen Politik zu verdanken, dass an der deutschen Souveränität und der NATO - Mitgliedschaft nicht gerührt wurde. Zwischen Bonn und Washington bestand in dieser Phase der Entwicklung eine enge politische Entente, die sich angesichts der europäischen Umbrüche als „die zentrale Bündnisbeziehung“ der NATO und als „Operationsachse der westlichen Politik“76 erwies. Auf dieser Grundlage gelang es, Frankreich und Großbritannien auf die amerikanischen Linie zu bringen. Beim „Vierer - Frühstück“ am 13. Februar in der tief verschneiten Residenz des bundesdeutschen Botschafters vereinbarten Genscher, Baker, Dumas und Hurd den Rahmen der künftigen Deutschland Verhandlungen.77 Nur unter starkem amerikanischen Druck verabschiedeten sich Frankreich und Großbritannien von der Formel „Vier - plus - Zwei“ und befürworteten von nun an die volle Souveränität des ohnehin durch zahlreiche internationale Vereinbarungen gebundenen Deutschland. Ursache der Umorientierung dürfte die Überlegung gewesen sein, dass es für die zukünftige Zusammenarbeit mit Deutschland belastend sein könnte, sich als demokratische Staaten und Verbündete der Selbstbestimmung und Souveränität Deutschlands in den Weg gestellt zu haben. In London änderte dies nichts an den antideutschen Ressentiments von Margret Thatcher, wie die „Chequers - Affäre“ zeigte. Der außenpolitische Sekretär Thatchers fertigte anlässlich einer Expertenrunde auf ihrem Landsitz in Chequers ein geheimes Memorandum, das den Deutschen „reichlich Fehler und Charakterschwächen“ wie „Angst, Aggressivität, Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit, Selbstgefälligkeit, Minderwertigkeitskomplexe,

74

Inter view mit Eduard Schewardnadse. In : Izvestija vom 19. 2. 1990. Vgl. Wettig, Stadien, S. 1073; Teltschik, 329 Tage, S. 151. 75 Beschluss des Ministerrates der DDR 15/9/90 vom 22. 2. 1990 zur Info über das Treffen der Außenminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und der NATO anlässlich der Konferenz „Offener Himmel“ am 12. und 13. 2. 1990 in Ottawa, Anhang: Info ( BArch Berlin, C 20, I /3–2917). 76 Rühl, Zeitenwende, S. 399. 77 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 99.

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Sentimentalität“ bescheinigte, aber dennoch aus praktischen Gründen empfahl, „nett“ zum unbeliebten Nachbarn zu sein.78 Auf der Grundlage der trotzdem formal einheitlichen westlichen Haltung stimmte schließlich auch die sowjetische Regierung zu. Am Rande der Konferenz vereinbarten die Außenminister der UdSSR, der USA, Frankreichs, Großbritanniens, der DDR und der Bundesrepublik sich zu treffen, um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen.79 Hierunter waren Verhandlungen unter gleichberechtigter Teilnahme der beiden deutschen Staaten und der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Die Außenminister einigten sich auch, dass die Deutschen innere Angelegenheiten wie die Frage der Staatsform, der Wirtschafts - und Währungsunion und des Sozialsystems selbstständig regeln konnten.80 Die Übereinkünfte öffneten den europäischen Weg zur deutschen Einheit unter westlichem Vorzeichen und markierte in diesem Sinne ein Entgegenkommen der UdSSR. Als die Nachricht von „Zwei - plusVier“ - Verhandlungen bekannt wurde, verlangten Polen, die Niederlande und Italien ein direktes Mitspracherecht.81 Auch andere Staaten protestierten, weil sie sich ausgeschlossen fühlten. Genscher erklärte daraufhin gegenüber dem italienischen Außenminister Giovanni de Michelis und seinem niederländischen Amtskollegen Hans van den Broek : „You are not part of the game !“82 Im Zusammenhang mit den Vereinbarungen über Deutschland standen die anderen Ergebnisse der Konferenz. In einer Gemeinsamen Erklärung wurde eine erhebliche Verringerung der amerikanischen und sowjetischen Truppen in Europa angekündigt. NATO und Bundesrepublik sagten verbindlich zu, die Militärorganisation der NATO und die alliierten Streitkräfte unter NATO - Kommando auf Westdeutschland beschränkt zu lassen. Noch für 1990 wurde ein Zwei - plus - Vier Verfahren nebst einer Sonderveranstaltung der KSZE zur Entgegennahme der Verhandlungsergebnisse über die Deutschland und über konventionelle Abrüstung in Europa vorgesehen.83 Mit den Vereinbarungen hatte die sowjetische Regierung ihren Handlungsspielraum fast überzogen. Gorbatschow und Schewardnadse waren in einer 78 Protokoll eines Deutschland - Gesprächs englischer und amerikanischer Experten mit Margaret Thatcher. In : Der Spiegel vom 16. 7. 1990. Vgl. Wickert ( Hg.), Angst vor Deutschland, S. 222–228. 79 Kommuniqué vom 13. 2. 1990. In : Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 247. Vgl. T. L. Friedman / M. R. Gordon, Anatomy of a Reunification Plan : 4 Powers, 2 Germanys, One Goal. In : International Herald Tribune vom 17./18. 2. 1990; Bruns, Die Regelung, S. 1726. 80 Vgl. Archiv der Gegenwart 1990, S. 34231 A. 81 Beschluss des Ministerrates der DDR 15/9/90 vom 22. 2. 1990 zur Info über das Treffen der Außenminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und der NATO anlässlich der Konferenz „Offener Himmel“ am 12. und 13. 2. 1990 in Ottawa, Anhang: Info ( BArch Berlin, C 20, I /3–2917). 82 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 103 f. 83 Vgl. Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 15. und 20. 2. 1990.

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schwierigen Situation. Von einigen westlichen Politikern wurde ihnen vorgeworfen, sie legten absichtlich Unnachgiebigkeit an den Tag, in der UdSSR selbst warfen ihnen links - konservative Kreise in der Regierung und dahinter stehende Teile der Bevölkerung vor, sie seien nicht in der Lage, die deutsche Vereinigung zu stoppen. In dieser Situation mussten sie entscheiden, welches Deutschland besser ihren Interessen entsprach, „ein geteiltes, das bittere und potenziell hochexplosive Kränkungen akkumuliert, den gefährlichen Komplex seiner Erniedrigung hegt, die seinem geistig - intellektuellen, wirtschaftlichen und kulturell - kreativen Potenzial in keiner Weise entspricht, oder ein vereintes, demokratisches Deutschland, das seinen Platz unter den anderen Souveränen einnimmt“.84 Angesichts der schwierigen Finanzlage versuchte die sowjetische Führung aus ihrer Zustimmung zum Vereinigungsprozess „soviel als möglich finanzielle Vorteile zu ziehen und wenigstens eine Veränderung der militärischen Kräftekorrelation zu ihren Ungunsten zu verhindern“.85 Um innenpolitisch für Ruhe zu sorgen, erklärte Schewardnadse zurück in Moskau, der Prozess der Wiedervereinigung werde wohl mehrere Jahre dauern.86 Auch nach der Konferenz von Ottawa forderte Premierminister Mazowiecki weiter eine Beteiligung Polens an den Verhandlungen über Deutschland und vertragsrechtliche Garantien. „Zu bitter“, so die Regierungszeitung „Rzeczpospolita“ am 20. Februar mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg, „war die Lektion von Jalta, wo man versucht hatte, in unserer Abwesenheit über lebenswichtige Probleme Polens zu entscheiden.“ In Danzig erklärte Lech Walesa, Juden und Polen hätten das Recht, bei Entscheidungen über ein vereintes Deutschland mitzureden.87 Noch vor der Vereinigung, so Mazowiecki, sollten beide deutsche Staaten die polnischen Grenzen vertraglich anerkennen. Die „Vereinigungsregierung“ sollte dann den Vertrag bestätigen. Schewardnadse unterstützte die polnische Haltung und forderte, Polen bei den Zwei - plus - Vier - Verhandlungen „eine eigene Stimme und einen eigenen Platz“ einzuräumen. Kohl und Genscher lehnten dies jedoch strikt ab. Kohl erklärte am 28. Februar noch einmal, er könne die an ihn bezüglich der Oder - Neiße - Grenze gerichteten Erwartungen aus rechtsstaatlichen Gründen nicht erfüllen.88 Er willigte allerdings ein, dass die beiden deutschen Parlamente nach freien Wahlen in der DDR die Endgültigkeit der Grenze in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigen werden.89 Wichtig für den Weg zur deutschen Einheit war auch die Haltung der Europäischen Gemeinschaften. Auf einer EG - Außenministertagung am 20. Februar waren zuvor geäußerte Bedenken nicht mehr zu hören. Das war vor allem ein Verdienst von EG - Kommissionspräsident Jacques Delors. Er zog in Brüssel die Konsequenz aus der Unvermeidbarkeit der deutschen Einigung und verkündete 84 85 86 87 88 89

Interview mit Eduard Schewardnadse. In : Der Spiegel vom 3. 6. 1991. Oldenburg, Sowjetische Europa - Politik, S. 762. Vgl. Schewardnadse, Die Zukunft, S. 243. FAZ vom 21. 2. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 163 f. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 1. 3. 1990.

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die uneingeschränkte Unterstützung der EG für die Wiedervereinigung Deutschlands in den bestehenden Grenzen. Damit favorisierte er die politische Integration Westeuropas gegenüber Mitterrands Modell einer gesamteuropäischen Konföderation im Rahmen der KSZE und unterstützte die Bundesregierung im entscheidenden Moment.90 Dies erlaubte es der Bundesregierung, in die kommenden Veränderungen geschlossen und mit einer klaren politischen Orientierung hineinzugehen. Die europäische Einbindung machte zugleich das Potenzial des vereinten Deutschlands akzeptabler und die Vereinigung zu einem Instrument der Vertiefung der Gemeinschaftsintegration.91 Modrow in Bonn (13. 2.) Am 13. Februar wurde Modrow in Bonn von Kohl „ziemlich kühl“ empfangen.92 Mit ihm reisten u. a. acht „Minister ohne Geschäftsbereich“ der am Runden Tisch vertretenen Gruppierungen und Parteien. Modrow hatte kaum Verhandlungsspielraum und musste die Positionen des Zentralen Runden Tisches vertreten. Einen Tag zuvor hatte dieser ein Positionspapier mit einer „Tischlein Deck - Dich“ - Utopie93 für die Verhandlungen verabschiedet, das von Minister Wolfgang Ullmann ausgearbeitet worden war. Demnach sollte die Bundesrepublik alles unternehmen, „um einer weiteren Destabilisierung der Lage in der DDR entgegenzuwirken und zu ihrer Beruhigung“ beitragen. Fast im ND - Jargon hieß es, es sei „offensichtlich, dass manche Kräfte in der BRD gegenwärtig Kurs auf eine bewusste Verschärfung der Probleme in der DDR“ nähmen. Die Bundesregierung habe der DDR „sofort, unabhängig von allen weiteren Verhandlungen“ einen „Solidarbeitrag“ in Höhe von bis zu 15 Mrd. DM zu zahlen.94 Andererseits sollte Modrow einer vorschnellen Preisgabe der Finanzhoheit der DDR nicht zustimmen. Der Zentrale Runde Tisch nannte die Modrow - Regierung nicht legitimiert, mit der Bundesregierung eine Währungsunion zu vereinbaren.95 Das, was Modrow in Bonn vortrug, entsprach denn auch „voll inhaltlich“ den Positionen des Zentralen Runden Tisches.96 Es ging ihm im Wesentlichen um eine Stabilisierung der DDR - Mark durch Garantien der Bundesbank. Eine Aufgabe der wirtschafts - und währungspolitischen Souveränität 90 91 92 93 94

Vgl. Rühl, Zeitenwende, S. 347; Kaiser, Deutschlands Vereinigung, S. 95–100. So Gaus, Wo Deutschland liegt, S. 174 f. Teltschik, 329 Tage, S. 145. Vgl. John, Seiters, S. 158–165. Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 5. Beschluss des Ministerrates der DDR 14/1.b /90 vom 15. 2. 1990 zum Bericht über den Besuch des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR und seiner Regierungsdelegation am 13. und 14. 2. 1990 in Bonn ( BArch Berlin, C 20, I /3–2912). 95 Ergebnisse der 12. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 12. 2. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 115–162. 96 Beschluss des Ministerrates der DDR 15/1a /90 vom 22. 2. 1990 zur Auswertung der Ergebnisse der 13. Sitzung des Rundtischgespräches am 19. 2. 1990, Anlage 1 : Erklärung des Ministerpräsidenten Dr. Hans Modrow zum Besuch in der BRD vom 13.– 14. 2. 1990 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2916).

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der DDR lehnte er ab.97 Demonstrativ traf sich Modrow in Bonn mit dem Bremer Professor Arno Peters, der dem Kanzler am 27. November einen „Reparations - Ausgleichs- Plan“ vorgelegt hatte, nach dem die Bundesregierung über 727 Mrd. DM an die DDR zahlen sollte. So war es kein Wunder, dass die Gesprächsatmosphäre „ziemlich kühl“ blieb, konnte Kohl doch „nicht mehr daran interessiert“ sein, „mit einem hilf losen Modrow noch entscheidende Verabredungen zu treffen“.98 In Bonn konzentrierte man sich bereits auf die aus freien Wahlen her vorgehende Regierung der DDR, auch wenn allgemein ein Sieg der SPD prognostiziert wurde. Erst in einer neuen Regierung sah die Bundesregierung den Partner für wirklich durchgreifende wirtschaftliche und finanzielle Veränderungen.99 Kohl erklärte, Modelle einer Vertragsgemeinschaft oder der Schaffung konföderativer Strukturen seien durch die Entwicklung überholt. In diesem Sinn sei auch sein Zehn - Punkte - Plan nicht mehr relevant.100 In Einklang mit dem Ergebnis von Ottawa bot Kohl stattdessen erneut Verhandlungen über eine Währungsunion mit dem Ziel der Einführung der D - Mark als des alleinigen Zahlungsmittels in der DDR auf Grundlage rechtlicher Voraussetzungen einer sozialen Marktwirtschaft an. Die Bundesrepublik bringe damit ihren stärksten wirtschaftlichen Aktivposten ein – die D - Mark – und beteilige so „die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in jahrzehntelanger beharrlicher Arbeit aufgebaut und erreicht haben“.101 Während die Bundesregierung mit dem Angebot einer Währungs - und Wirtschaftsunion auf eine Entwicklung hin zur deutschen Einheit setzte, zielte der Wunsch der Modrow - Regierung und des Zentralen Runden Tisches nach kurzfristigen Finanzhilfen eher auf eine Stabilisierung der DDR. Nach dem Treffen wurde Kohls Haltung in der DDR von linken Kräften kritisiert.102 Demokratie Jetzt sah in der Position der Bundesregierung eine „Gefährdung des Demokra97 98 99 100

Vgl. Tietmeyer, Erinnerungen, S. 61. Teltschik, 329 Tage, S. 145. Vgl. Schäuble, Der Vertrag, S. 28 f. Beschluss des Ministerrates der DDR 14/1.b /90 vom 15. 2. 1990 zum Bericht über den Besuch des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR am 13./14. 2. 1990 in Bonn ( BArch Berlin, C 20, I /3–2912). 101 Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung 25 von 1990. Vgl. DA, 23 (1990), S. 475–477. 102 Einige revidierten diese Haltung später. So schreibt Hartung, Neunzehnhundertneunundachtzig, S. 126 : „Aber inzwischen merke ich, dass ich die Politik des hässlichen Deutschen, die in Bonn betrieben wurde, nicht mehr mit der Empörung von einst betrachten kann. Was wäre denn geschehen, wenn die Milliarden der Soforthilfe geflossen wären ? In welche Hände wären sie gelangt ? Die classe dirigente der DDR hat sich blitzschnell in bürokratische Machterhaltungstaktiker und neue Manchesterkapitalisten aufgeteilt. Geld in die Hände jener Kombinatsdirektoren, die im Stile von Abzählreimen Leute entlassen ? Sanierung von Betrieben ohne Kenntnis der Bilanzen, Subventionierung des überhohen Verwaltungsanteils bei allen Wirtschaftseinheiten, ganz zu schweigen, dass die Trennlinie zwischen Stasi und Gesellschaft bis heute noch nicht klar ist?“

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tisierungsprozesses und des Rechts auf Selbstbestimmung der Bevölkerung der DDR“. Wolfgang Ullmann erklärte, mit der Verweigerung einer Soforthilfe an die Modrow - Regierung solle die DDR „sturmreif geschossen werden“. Die Grüne Partei sprach von einer drohenden „Zwangsvereinigung“ und die SPD erklärte, die Gespräche hätten keine Ergebnisse gebracht. Böhme bekundete Respekt vor der Persönlichkeit Modrows und gab Kohl die Schuld am Scheitern der Gespräche.103 Mehlhorn nannte die Entscheidung der Bundesregierung eine „Entmachtung des Bürgerwillens in der DDR“ und setzte so die Meinung des Zentralen Runden Tisches und der Modrow - Regierung mit dem Bürgerwillen gleich. Dieser manifestierte sich freilich auf den Straßen in genau entgegengesetzter Richtung. Auch die Wahlergebnisse im März zeigten dies.104 Lediglich die Pressesprecherin des DA, Angela Merkel, bezeichnete die Verhandlungen über eine Währungsunion als einen Schritt in die richtige Richtung.105 Bei ihrer Enttäuschung über die fehlende Bereitschaft zur bedingungslosen Überweisung von Milliarden - Beträgen, an der die Bundesregierung aus politischen Gründen kein Interesse haben konnte, verkannten die Vertreter aus der DDR zudem, dass in Bonn „eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Finanzierung des Haushalts eines anderen Staates nicht gegeben“ war.106 Auch in außenpolitischen Fragen stellte sich die Mehrheit am Zentralen Runden Tisch gegen die Haltung der Bundesregierung. Am 14. Februar schlug der Runde Tisch mehrheitlich die Einberufung einer Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges unter Beteiligung beider deutscher Staaten vor, um eine europäische Rahmenregelung des „stufenweisen und vertraglich geregelten Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten“ vorzubereiten. Die KSZE Teilnehmer sollten dieses Verfahren dann bestätigen. Mit seinem außenpolitischen Programm, das mit den Konzeptionen der UdSSR, des Warschauer Paktes und der PDS im Wesentlichen übereinstimmte, unterstützte der Runde Tisch ein Auseinanderrücken der Blöcke, eine entmilitarisierte Zone in Mitteleuropa, eine Truppenreduzierung der nationalen Kontingente, den Abzug ausländischer Streitkräfte von deutschem Boden und wandte sich gegen eine Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der DDR. Mit seinem außenpolitischen Konzept setzte er die „Kontinuität sozialistischer Sicherheitspolitik für Europa“ fort und wirkte im West - Ost - Verhältnis als „Hilfskraft der Sowjetunion“. Die Teilnehmer des Runden Tisches, die entweder den Ex - Blockparteien und Massenorganisationen oder aber den meist pazifistisch und neutralistisch orientierten Bürgergruppen entstammten, teilten die PDS - Sicht des westlichen Verteidigungsbündnisses als ein Instrument des „amerikanischen Imperialismus“. Nur aus dieser ideologischen Sicht der NATO war ihre Haltung zu verstehen.107 103 Minister ohne Geschäftsbereich. In : DA, 23 (1990), S. 478 f. 104 Mehlhorn in : taz - DDR - Journal 2, S. 96. 105 ADN vom 13. 2. 1990. Vgl. Reaktionen zum Treffen. Parteien und Organisationen der DDR. In : DA, 23 (1990), S. 478. 106 Rauschning, Der deutsch - deutsche Staatsvertrag, S. 4. 107 Rühl, Zeitenwende, S. 357.

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Modrow gab am 19. Februar vor dem Zentralen Runden Tisch eine Erklärung zu den Ergebnissen seiner Gespräche in Bonn ab.108 In einer anschließenden Debatte lehnten die Teilnehmer des Runden Tisches einen „Anschluss der DDR oder einzelner Länder“ an die Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes ebenso grundsätzlich ab wie eine NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Stattdessen nannten sie eine Entmilitarisierung Deutschlands erstrebenswert. Außerdem beschloss der Runde Tisch, die Regierung solle bereits vor den Wahlen mit dem Abbau der Lebensmittelsubventionen in Höhe von jährlich 30 Mrd. Mark beginnen und stattdessen die Einkommen der Bürger um 150 Mark erhöhen.109 Die Folge der Äußerungen waren massive Abkäufe von Grundnahrungsmitteln durch die Bevölkerung.110 Im Kanzleramt zog man aus dem völlig unprofessionellen Verhalten des Runden Tisches den Schluss, „dass erst nach der Wahl vernünftige Gespräche mit der DDR möglich sein werden“.111 Auch auf der Volkskammersitzung am 21. Februar gab es wütende Kritik an der Bundesregierung, weil diese die Milliardenwünsche der Modrow - Regierung nicht erfülle. Vor allem die postkommunistischen Massenorganisationen griffen die Bundesregierung scharf an. Den stärksten Beifall erhielt eine Rednerin der FDJ, die ein düsteres Bild der Bundesrepublik zeichnete und vor einer sozialen Demontage in der DDR infolge einer Vereinigung warnte. Die „Neue Zürcher Zeitung“ konstatierte am 23. Februar : „In der Volkskammer dominieren die alten Kräfte.“ Hier war die Geburtsstunde einer Legende, die bis heute erzählt wird : Nicht die Misswirtschaft der SED und der daraus resultierende Staatsbankrott der DDR sei Schuld an den bis in die Gegenwart reichenden sozialen Friktionen, sondern die deutsche Einheit. Ende Februar / Anfang März : Sowjetische Führung gegen Beitritt nach Artikel 23 Am 21. Februar beriet Schäuble in Washington mit US - Außenminister James Baker. Der Bundesinnenminister erklärte, nach einer Vereinigung werde die im Artikel 23 vorgesehene Möglichkeit des Beitritts aufgehoben. Außerdem sagte er eine Grundgesetzänderung bezüglich der deutsch - polnischen Grenze und eine Grenzgarantie verbindlich zu, womit die amerikanische Regierung zufrie-

108 Beschluss des Ministerrates der DDR 15/1a /90 vom 22. 2. 1990 zur Auswertung der Ergebnisse der 13. Sitzung des Rundtischgespräches am 19. 2. 1990, Anlage 1 : Erklärung des Ministerpräsidenten Dr. Hans Modrow zum Besuch in der BRD vom 13.– 14. 2. 1990 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2916). Ergebnisse der 13. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 19. 2. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 162–188. 109 Beschluss des Ministerrates der DDR 15/1a /90 vom 22. 2. 1990 zur Auswertung der Ergebnisse der 13. Sitzung des Rundtischgespräches am 19. 2. 1990, Anlage 1 : 2. Stellungnahme zur Erklärung von Ministerpräsident Dr. Modrow ( BArch Berlin, C 20, I /3– 2916). 110 Vgl. RdB Suhl vom 26. 2. 1990 : Lage im Bezirk ( ThSTAM, 2633). 111 Teltschik, 329 Tage, S. 153.

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den war.112 Am 24. Februar trafen sich Bush und Kohl in Camp David. Kohl erklärte, ihm sei klar, dass man Polen jetzt endgültige Sicherheit hinsichtlich seiner Grenze geben müsse. Bush meinte, inzwischen akzeptiere auch Thatcher die Wieder vereinigung. Klarheit in der polnischen Grenzfrage sei allerdings auch hier eine nötige Voraussetzung. Beide betonten öffentlich ihre Überzeugung, ein geeintes Deutschland müsse Vollmitglied auch des militärischen Teils der NATO bleiben. Allerdings bestätigten sie den „besonderen militärischen Status“ des Territoriums der DDR113 und kamen überein, die Einheit so schnell zu erstreben, wie es die Situation in Moskau erlaube.114 Den Kern des Problems traf die Frage einer Korrespondentin, wer denn eigentlich der Feind der NATO sei und ob deren neue Aufgabe darin bestünde, „die Deutschen an der Leine zu halten“.115 Im Grunde konnte der sowjetischen Führung nur deswegen eine Zustimmung zur NATO - Mitgliedschaft abgerungen werden, weil sich die Schwerpunkte verlagerten. Der Charakter der NATO wandelte sich stärker vom Instrument der Ost - West - Konfrontation zu einem der Zügelung Deutschland. Dazu passte auch die avisierte weitere Entwaffnung Deutschlands auf konventionellem Bereich und das fortbestehende Verbot chemischer, bakteriologischer und atomarer Waffen. Zwar sollte Deutschland souverän werden, aber es handelte sich um eine Souveränität unter Bedingungen. Ähnlichen Intentionen folgte auch die französische Politik einer festen Einbindung Deutschlands in die EG bei Aufgabe der D - Mark als nationaler Währung. Nur um diesen Preis war Paris bereit, die deutsche Einheit zu unterstützen. Trotz weitreichender Maßnahmen zur Zügelung Deutschlands stand die sowjetische Führung im eigenen Land unter Druck. Angesichts heftiger Kritiken aus dem orthodox - kommunistischen Lager legte Gorbatschow am 21. Februar in der „Prawda“ seine Position zur deutschen Einheit dar : Die Vereinigung Deutschlands sei Sache der Deutschen allein, aber sie dürfe keine Bedrohung oder Beeinträchtigung der Interessen der Nachbarn darstellen. Die Unverletzlichkeit der bestehende Grenzen sei „das Wichtigste“, es dürfe zu keiner Störung des militärstrategischen Gleichgewichts kommen, der Prozess der Einigung müsse mit dem gesamteuropäischen Prozess organisch verbunden sein und synchron mit diesem verlaufen.116 Im Westen musste der Eindruck entstehen, die UdSSR fordere für den Zerfall des Zwangspaktes „Warschauer Vertrag“ und ihren angekündigten Truppenrückzug aus dem besetzten Osteuropa eine Schwächung oder Auf lösung des westlichen Verteidigungsbündnisses. Gorbatschow behauptete tatsächlich nach über 40 Jahren Besetzung und erzwunge112 Vgl. Schäuble, Der Vertrag, S. 20 und 295; Filmer / Schwan, Wolfgang Schäuble, S. 248. 113 Amerika - Dienst. Hg. von USIS Bonn vom 28. 2. 1990; Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. 2. 1990. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 162; Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 81 f. 114 George Bush, Hoffnung für die Zukunft. Amerikas Rolle bei der Wieder vereinigung Deutschlands. In : Die Welt vom 24. 4. 1993. 115 Zit. bei Beschloss / Talbot, Auf höchster Ebene, S. 254. 116 Prawda vom 21. 2. 1990.

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ner Teilung, die UdSSR habe das Recht der Deutschen niemals geleugnet.117 Im Kanzleramt wurde danach positiv registriert, dass Gorbatschow kein Wort über Neutralität, Demilitarisierung oder eine NATO - Zugehörigkeit verlauten ließ.118 In späteren Jahren bemühten sich Gorbatschow und Schewardnadse wiederholt, auf die innenpolitischen Zwänge hinzuweisen, unter denen sie handelten. So gab es in der Tat eine starke Ablehnungsfront gegen die Osteuropa - und Deutschlandpolitik des sowjetischen Präsidenten.119 Am 25. Februar wurden anlässlich einer Demonstration in Moskau Waffen an etwa 3 000 Soldaten und 2 000 Kadetten ausgegeben. Der Vorgang wurde dem Präsidenten absichtsvoll zur Kenntnis gebracht. Wenige Tage danach suchten führende Militärs Gorbatschow auf und erklärten ihm, die UdSSR sei in Gefahr. Kern aller Beschwerden und Warnungen war der Unwille der maßgeblichen Militärs über die Aussicht einer Vereinigung Deutschlands ohne wesentliche Gegenleistungen und dass es zu einem raschen Rückzug der sowjetischen Truppen aus Mittel - und Osteuropa kommen würde.120 Gorbatschow musste verstärkt Rücksicht auf das Militär nehmen. Ihre „Hauptaufgabe“ sah die sowjetische Führung Anfang März darin, „den Anschluss der DDR unter Bezug auf Artikel 23 des Grundgesetzes zu verhindern“. Durch öffentliche Hinweise auf die „Unvereinbarkeit der Anwendung von Artikel 23 mit sowjetischen Interessen“ sollte Einfluss auf den Wahlkampf genommen werden.121 Die sowjetische Führung konnte nur auf den vom KGB vorausgesagten Sieg der SPD setzen. Nur so konnte sie Einfluss auf den langsameren Weg zur Vereinigung nehmen. In Moskau wurden deswegen am 28. Februar Ibrahim Böhme und Walter Romberg von Politbüromitglied Alexander Jakowlew empfangen.122 Am 2. März konferierte Schewardnadse mit beiden SPD - Politikern. Böhme bedankte sich für die Wahlkampfunterstützung der sowjetischen Botschaft und plädierte dafür, das künftige Vorgehen bei „Treffen in kürzeren Abständen“ zu beraten.123 Am 6. März wurde Modrow durch Gorbatschow empfangen.124 Beide stellten gemeinsam fest, es könne „keinen anderen Weg zur Einheit geben als den,

117 118 119 120 121 122 123 124

Vgl. Meissner, Das „neue Denken“ Gorbatschows, S. 77. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 155. Vgl. Izvestija vom 7. und 8. 2. 1990; Wettig, Stadien, S. 1076. Vgl. Andrew McEwen, Troops „Handed Arms in Warning of Gorbachev“. In : The Times vom 4. 5. 1990. Material des DDR - Außenministeriums für Hans Modrow über Gespräche im UdSSR Außenministerium Anfang März 1990. Text bei Nakath / Stephan, Countdown, S. 318 f. Vgl. Kallabis, Ade, DDR !, S. 1664. Vermerk über ein Gespräch von UdSSR - Außenminister Edurad Schewardnadse mit Ibrahim Böhme am 2. 3. 1990. Abgedruckt in Nakath / Stephan, Countdown, S. 313– 317. Bericht vom Treffen Gorbatschows mit einer Regierungsdelegation der DDR am 6. 3. 1990. In : Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa, S. 189 f.; Beschluss des Ministerrates der DDR 17/1a /90 vom 8. 3. 1990 über den Besuch einer Regierungsdelegation der DDR unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates, Hans Modrow, in der UdSSR am 5./6. 3. 1990 ( BArch Berlin, C 20, I /3–2926).

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den beide deutsche Staaten im Einvernehmen mit ihren Nachbarn und den vier Mächten für alle Völker überschaubar und berechenbar als gleichberechtigte Partner gehen“. Es gehe, so Modrow nach seiner Reise, um die „Vereinigung, aber nicht um Anschluss oder Vereinnahmung“. Zwischen ihm und Gorbatschow habe „völlige Übereinstimmung“ darüber bestanden, dass der Artikel 23 des Grundgesetzes keine geeignete Grundlage für die Vereinigung Deutschland sei und „ein solcher Weg den grundlegenden Interessen der UdSSR widersprechen würde“. Ebenso sei man sich einig gewesen, dass eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO nicht in Frage komme. Hatte die sowjetische Führung den Deutschen im Februar noch freigestellt, unter welchen Bedingungen sie ihre staatliche Einheit vollzogen,125 bezeichnete es Gorbatschow nun als „bei weitem nicht gleichgültig, auf welche Weise die Annäherung der beiden deutschen Staaten verläuft“. Zwischen ihm und Modrow bestand Einvernehmen darüber, dass die Wiedervereinigung nur allmählich erfolgen dürfe und ein Beitritt der DDR oder ihrer Länder nach Artikel 23 des Grundgesetzes ausgeschlossen sei. Hinsichtlich der NATO - Mitgliedschaft empfahl Gorbatschow eine grundlegende Änderung beider Militärallianzen, damit man sich nicht darüber streiten brauche, „wo das vereinte Deutschland seinen Platz haben soll“.126 In der ARD erklärte Gorbatschow am 6. März, eine NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands sei „absolut ausgeschlossen“. Schewardnadse nannte eine Einigung nach Artikel 23 einen „überaus gefährlichen Weg“, da die DDR mit all ihren Verpflichtungen und Rechten verschwinden würde.127 Es sei „völlig taktlos“, die Möglichkeit der NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands auch nur in Betracht zu ziehen.128 Unter welchem Druck beide handelten, zeigen Äußerungen Schewardnadses gegenüber Gyula Horn. Hier beklagte er sich eine Woche vor der Volkskammerwahl über die strikt ablehnende Haltung der system - konservativen Kräfte zur deutschen Wiedervereinigung. Sie versuchten innenpolitische Spannungen auszulösen, indem sie sagten : „Wenn wir die Wiedervereinigung zulassen, haben wir umsonst unser Blut im Kampf gegen den deutschen Faschismus vergossen.“129 Unmittelbar vor den Wahlen forderte die sowjetische Führung im Fall „unvorhersehbarer Ereignisse“, also eines Votums für den Beitritt nach Artikel 23, von der Bundesregierung und den westlichen Alliierten Interventionsmöglichkeiten.130 Die Vorgänge zeigten, dass die Wahl in der DDR nicht nur für den inneren Weg zur staatlichen Einheit von ausschlaggebender Bedeutung war, sie beeinflusste auch die europäische Ordnung.

125 Izvestija vom 11. 2. 1990. Vgl. Wettig, Stadien, S. 1073. 126 Prawda vom 7. 3. 1990. 127 Inter view mit Eduard Schewardnadse. In : Neue Berliner Illustrierte ( NBI ) vom 8. 3. 1990. 128 Zit. in Arnold, Die Abwicklung, S. 56. 129 Zit. bei Horn, Freiheit, S. 332. 130 Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 108.

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Frage der deutsch - polnischen Grenze Ein anderer Streitpunkt, der zwar die Diskussionen in der DDR weniger bestimmte, aber das Grundverständnis der Bundesrepublik betraf, war die Frage der nach 1945 vom Deutschland abgetrennten Ostgebiete. Sie standen nach Bonner Verständnis wegen alliierter Vorbehalte bis zu einer endgültigen Regelung zunächst nur unter polnischer Verwaltung. Hier gab es vor allem seitens Polens klare Forderungen. Dagegen musste die Bundesregierung die Rechtslage ebenso beachten wie die Interessen der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in der Bundesrepublik eine wichtige Wählergruppen darstellten. Am 17. Januar hatte Kohl in Paris erstmalig erklärt : „Die Deutschen wollen eine dauerhafte Aussöhnung mit ihren polnischen Nachbarn, und dazu gehört auch, dass die Polen die Gewissheit haben müssen, in sicheren Grenzen zu leben. [...] Niemand will daher die Wieder vereinigung verbinden mit der Verschiebung bestehender Grenzen – Grenzen, die in einem künftigen Europa der Freiheit an Bedeutung verlieren werden.“131 Einen Tag später forderte der polnische Ministerpräsident Mazowiecki, schon den Beginn des Prozesses zur deutschen Einheit davon abhängig zu machen, dass die bestehenden Grenzen beider deutscher Staaten mit ihren Nachbarn nicht in Frage gestellt würden. Im Bundeskanzleramt war man über die polnische Haltung verärgert, da eine Änderung der Grenzen ohnehin nicht zur Diskussion stand und die Haltung Polens den Kanzler in verfassungsrechtliche Schwierigkeiten brachte. Es war deutlich, dass Polen an einer einvernehmlichen Lösung des Problems nicht interessiert war und den Zusagen der Bundesregierung wenig Bedeutung beimaß. Am 2. Februar wiederholte die Bundesregierung ihren Vorschlag, nach den Volkskammerwahlen durch beide deutsche Parlamente eine gleichlautende Erklärung auf der Grundlage der Bundestags - Entschließung vom 8. November 1989 abgeben zu lassen. Dabei müsse Polen seinerseits auf Reparationsforderungen verzichten und eine vertragliche Regelung der Rechte der in Polen lebenden Deutschen in Aussicht stellen. Kohl versuchte, durch dieses Junktim die Anerkennung der Oder - Neiße - Grenze innenpolitisch abzusichern und polnischen Forderungen vorzubeugen.132 Ungeachtet der faktischen Abtretung Ostdeutschlands an Polen in Folge des Zweiten Weltkrieges, den Vertreibungen von 12 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat und damit verbundenen Enteignungen hatte der polnische Parlamentspräsident von der Bundesrepublik Reparationen in Höhe von 200 Mrd. D - Mark gefordert. Am 7. Februar erklärte daraufhin Polens Außenminister, Krzysztof Skubiszewski, es liege im polnischen Interesse, dass die deutsche Vereinigung „als Bestand des Wandels in Europa schrittweise und im engen Zusammenspiel mit dem Fortschritt in der Wiedererlangung der Einheit durch den gesamten Kontinent“ erfolge. Der Fortschritt der Vereinigung Europas sei die Grundlage und 131 Rede von Helmut Kohl in Paris am 17. 1. 1990. Zit. bei Fritsch - Bournazel, Europa, S. 244. 132 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 112 und 125.

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der Rahmen für die deutsche Einheit.133 Die Forderung Kohls, die Anerkennung der polnischen Westgrenze mit einem Verzicht auf Reparationen und der Anerkennung der bisher diskriminierten Deutschen in Polen zu verbinden, wurde von Polen zurückgewiesen.134 Stattdessen unterstützte Polen die sowjetische Haltung langsamer Schritte zur deutschen Einheit und bezog klar Position gegen die Haltung der Bundesregierung, Deutschland nach Artikel 23 möglichst schnell zu vereinigen. Am 1. März wies Kohl den polnischen Vorschlag zurück, die Westgrenze Polens durch einen zunächst von beiden deutschen Regierungen paraphierten Vertrag zu garantieren, der später von einem gesamtdeutschen Souverän unterzeichnet werden sollte.135 Der französische Außenminister Roland Dumas forderte Kohl daraufhin indirekt auf, die Oder - Neiße - Grenze mit Polen unverzüglich anzuerkennen.136 Unter welchem Druck die Bundesregierung stand, machte eine Erklärung des Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, Herbert Czaja, vom 2. März deutlich. Dieser wandte sich gegen einen Verzicht auf die Ostgebiete. Der Verzicht auf 104 000 Quadratkilometer deutscher Heimat jenseits von Oder und Neiße werde nicht auf Dauer sein. In „blinder Unkenntnis“ werde die Heimat der Ostdeutschen durch „Wendehälse“ wie Genscher und Süssmuth preisgegeben.137 Am selben Tag verbreitete die Bundesregierung eine neue Lesart. Sie bezeichnete nun die geplante gemeinsame Erklärung beider deutscher Regierungen als eine Vorstufe zu einem Vertrag, in dem die Regelung der polnischen Westgrenze mit einem Verzicht Polens auf Reparationszahlungen und mit der Sicherung der Rechte der Deutschen in Polen verbunden werden würde.138 In einem Koalitionsgespräch am 6. März „flogen im Bundeskanzleramt die Fetzen“.139 Schließlich aber einigte sich die Regierungskoalition auf den gemeinsamen Entwurf eines Entschließungsantrages beider Fraktionen zur Oder Neiße- Grenze und zur Frage der Reparationen. Er sah vor, dass bald nach den Wahlen beide frei gewählten Parlamente und Regierungen eine gleichlautende Erklärung zur Unverletzlichkeit der Grenzen gegenüber Polen abgeben. Der Vertrag selbst sollte demnach erst zwischen einer gesamtdeutschen Regierung und der Regierung Polens ausgehandelt werden. So könnten beide Seiten ihr Gesicht wahren. Damit verzichtete Kohl unter dem Druck Genschers auf die Forderung, die Grenzgarantie mit einem vertraglich geregelten neuen Verzicht Polens auf Reparationsforderungen und mit der Zusage von Rechten für die deutsche Bevölkerungsgruppe in Polen zu verbinden.140 Mit der Mehrheit der Stimmen der Koalition gab der Bundestag am 8. März eine Garantie - Erklärung 133 134 135 136 137 138 139 140

Skubiszewski, Die völkerrechtliche und staatliche Einheit, S. 137. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 6. 3. 1990. Vgl. Die Welt vom 2. 3. 1990. Vgl. Dumas, Muß man vor Deutschland Angst haben, S. 311; FAZ vom 2. 3. 1990. Deutscher Ostdienst vom 2. 3. 1990. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 3./4. 3. 1990. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 3. 3. 1990. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 117. Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 168; Süddeutsche Zeitung vom 7. 3. 1990. Abgedruckt in FAZ vom 7. 3. 1990.

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für die polnische Westgrenze ab. Sowohl die in der Regierungskoalition ausgehandelte Kompromissformel als auch die Entschließung des Bundestages wurden von polnischer Seite als ein wichtiger Schritt nach vorn bezeichnet, als Grenzgarantie seien sie jedoch nicht ausreichend. Polens Ministerpräsident Mazowiecki schlug am 8. März in Paris vor, einen Vertrag über die Anerkennung der polnischen Westgrenze nach den Wahlen am 18. März mit beiden deutschen Regierungen zu paraphieren und ihn nach der Vereinigung Deutschlands zu unterschreiben. Mitterrand erklärte, die Alliierten müssten die deutsch - polnische Grenze in einem internationalen Rechtsakt garantieren. Die Debatte darüber müsse auf jeden Fall vor der Vereinigung abgeschlossen sein.141 Einen Tag später forderte er auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Mazowiecki erneut eine Beteiligung Polens an den Zwei - plus - Vier - Verhandlungen und die Durchführung von Verhandlungen über einen deutsch - polnischen Grenzvertrag vor der Wiedervereinigung. Bundeskanzler Kohl zeigte sich „verärgert und enttäuscht“ darüber, dass sich Frankreich so deutlich zum einseitigen Interessenvertreter Polens machte, ohne die innenpolitischen Probleme in der Bundesrepublik zu beachten. Er sprach von erkennbaren „Grenzen der Freundschaft“ der Franzosen.142 Die internationale Presse sprach von Irritationen im deutschfranzösischen Verhältnis. US - Senator Richard Lugar sagte bei einem Besuch in Deutschland, Polen zwinge die Freunde Deutschlands, sich zwischen Polen und der Bundesrepublik zu entscheiden.143 Der gemeinsame Druck der Polen und Franzosen führte zu einer Zerreißprobe der Bonner Koalition. Kohl zeigte sich angesichts der Widerstände in der eigenen Partei und dem Verlangen der FDP nach Anerkennung der Forderungen resigniert.144 Am 8. März beschlossen CDU / CSU und FDP mit ihrer parlamentarischen Mehrheit im Bundestag, „entsprechend den Prinzipien der KSZE - Schlussakte mit Blick auf die deutsche Einheit die Unverletzlichkeit der Grenzen gegenüber Polen als unverzichtbare Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa zu bekräftigen“. Demnach sollte die Grenzfrage in einem Vertrag zwischen der gesamtdeutschen Regierung und der polnischen Regierung geregelt werden. Weiterhin gültig seien die Verzichtserklärung Polens auf Reparationen gegenüber Deutschland vom 23. August 1953 und die Gemeinsame Erklärung von Kohl und Mazowiecki vom 10. November 1989. Bei der Abstimmung gab es mehrere Stimmenthaltungen und persönliche Erklärungen von Abgeordneten der CDU / CSU - Fraktion. Herbert Czaja gab zu Protokoll, für die Oder - Neiße - Linie und die „Übertragung von 104 000 qkm Deutschlands“ gäbe es kein völkerrechtlich wirksames Dokument. Gegenüber Mitterrand bedauerte Kohl, aus Warschau kämen, anders als aus Prag, keinerlei Gesten der Verständigung. Im Sinne gedeihlicher Beziehungen dürfe man nicht nur auf die „Seelenlage“ der Polen Rücksicht nehmen, son141 142 143 144

Zit. bei Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 116. Teltschik, 329 Tage, S. 171. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch, S. 116 f.

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dern müsse auch die der Deutschen beachten.145 Ungeachtet solcher Wünsche forderte Mazowiecki am 9. März einen Gesprächskreis, der sich der „Sicherheit der deutschen Nachbarn“ widmen sollte. Wenn es denn an der Zeit sei, die Nachkriegsperiode abzuschließen, so der polnische Premier, dann müsse „Polen seine Alliiertenrechte geltend machen und sein Wort mitreden“, schließlich werde die deutsche Vereinigung in keinem Land mehr gefürchtet als in Polen.146 Die Haltung Polens im Vorfeld der Märzwahlen ließ erkennen, dass es wenig Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen mit Deutschland hatte. Nach den historischen Erfahrungen sah man hier wie andernorts in Europa auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland in erster Linie eine potenzielle Bedrohung, nicht einen europäischen Partner. Haltung anderer ehemaliger Ostblockstaaten Anders als in Polen gab es in Prag wenig Ängste vor Deutschland, obwohl auch hier die Geschichte dazu Anlass geboten hätte. Václav Havel und Jiři Dienstbier hatten bereits Mitte der achtziger Jahre Stellung zur deutschen Frage bezogen. In einem Aufruf der Charta 77 vom 11. März 1985 hatte es geheißen : „Wir können auch nicht einige bisherige Tabus umgehen. Eines davon ist die Teilung Deutschlands. Wenn man in der Perspektive der europäischen Vereinigung niemandem das Selbstbestimmungsrecht absprechen kann, so gilt dies auch für die Deutschen. [...] Gestehen wir [...] den Deutschen doch offen das Recht zu, sich frei zu entscheiden, ob und in welcher Form sie die Vereinigung ihrer beiden Staaten in deren heutigen Grenzen wollen.“147 Anfang Januar 1990 erklärte Václav Havel, nun als tschechoslowakischer Präsident : „Vor einem friedlichen demokratischen Staat müssen wir keine Angst haben, und mag er so groß sein, wie er will.“148 In Warschau wiederholte er am 24. Januar seine Auffassung, ein geteiltes Deutschland in einem vereinten Europa könne und solle es nicht geben. Allerdings forderte auch er die Unantastbarkeit der Grenzen.149 Mitten in den Querelen über die deutsch - polnische Grenze erklärte er am 10. März sogar, die Deutschen hätten nicht nur das Recht, sich zu vereinigen. Vielmehr sollte Deutschland zum „Motor des europäischen Einigungsprozesses“ werden.150 Zwar unterschied sich die Prager Haltung von der in Warschau, einig war man sich aber in der Frage der NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Das zeigte ein Treffen der Außenminister der Staaten des Warschauer Paktes, das einen Tag vor der Volkskammerwahl in Prag stattfand. Hier anerkannten 145 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 174 f. 146 Interview mit Tadeusz Mazowiecki. In : Le Monde vom 9. 3. 1990. Zit. bei Arnold, Die Abwicklung, S. 29. 147 Zit. in Brach, Die Außenpolitik der Tschechoslowakei, S. 57. 148 Süddeutsche Zeitung vom 3. 1. 1990. Vgl. Brach, Die Außenpolitik der Tschechoslowakei, S. 60. 149 Vgl. FAZ vom 26. 1. 1990. 150 Interview mit Václav Havel. Auszüge in Fritsch - Bournazel, Europa, S. 256.

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alle Außenminister das Recht beider deutschen Staaten auf Einheit, die allerdings in den Prozess der europäischen Einigung eingebunden werden müsse. Nachdem Gorbatschow zwei Tage zuvor noch einmal die NATO - Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands als unakzeptabel zurückgewiesen hatte und Schewardnadse diese Position in Prag wiederholte, befürworteten die Außenminister Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei, Gyula Horn, Krzysztof Skubizewski und Jiři Dienstbier, eine deutsche NATO - Mitgliedschaft.151 Dienstbier bezeichnete die Neutralität Deutschlands als „die schlimmste der möglichen Lösungen“.152 Damit war klar, dass die UdSSR mit ihrer strikten Ablehnung einer NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands im Warschauer Pakt allein stand. Nach dem Prager Treffen meinte der Deutschlandexperte von „Nowosti“, Dimitri Tulschinski, man könne den Eindruck haben, „das künftige Gesamtdeutschland sei schon jetzt von mehreren osteuropäischen Bündnispartnern der NATO zugeschlagen worden“.153 Freilich spielte auch hier die sowjetische Führung ein doppeltes Spiel. Um die Hardliner im eigenen Land zu beruhigen, wandte man sich gegen eine NATO - Mitgliedschaft Deutschlands. In inoffizieller Runde bedankte sich Schewardnadse dagegen für die Haltung der drei Außenminister. Gorbatschow und er stünden zuhause unter starkem Druck des Militärs und der systemkonservativen Kräfte, weshalb die Haltung der anderen Mitgliedsstaaten in der deutschen Frage so wichtig sei.154 Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten kamen am 14. März in Bonn erstmals Vertreter der vier Siegermächte und beider deutschen Staaten zusammen, um über den Weg zur deutschen Einheit und damit verbundene Sicherheitsfragen zu sprechen. Einen Tag zuvor paraphierten die Kommission der EG und die Regierung der DDR ein langfristiges Handels - und Kooperationsabkommen, das nach Verwirklichung der Wirtschafts - und Währungsunion angepasst werden sollte. Das Abkommen stand von Anfang an unter der Perspektive einer künftigen Mitgliedschaft, obwohl die DDR - Wirtschaft nicht als integrationsfähig eingeschätzt wurde.155 Widerstände der niederländischen, französischen und belgischen Außenminister, die verlangten, die DDR müsse zunächst alle politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, wurden im weiteren Verlauf entschärft, nachdem die EG - Kommission einen Drei - Phasen - Plan über „Die Gemeinschaft und die deutsche Vereinigung“ erarbeitet hatte, der am 22. April vom Ministerrat und am 28. April auf dem Dubliner Sondergipfel der Staats und Regierungschefs angenommen wurde.156 151 Vgl. Horn, Freiheit, S. 332 f. 152 Lidové noviny vom 21. 3. 1990. Zit. in Brach, Die Außenpolitik der Tschechoslowakei, S. 66. 153 Dimitri Tulschinski, Streit um Deutschland. In : taz vom 19. 3. 1990. 154 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 201. 155 Beschluss des Ministerrates der DDR 5/ I.4/90 vom 7. 5. 1990 zum Abschluss des Abkommens zwischen der DDR und der EWG über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit und weitere Entwicklung der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Wirtschaft ( BArch Berlin, C 20, I /3–2950). 156 Vgl. Bulletin der EG, Beilage 4/90, S. 9 f.

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Motor auch der internationalen Entwicklungen blieben im Februar und März die Demonstrationen, die immer stärker in Wahlveranstaltungen der Parteien übergingen. Im Februar gab es nach Volkspolizei - Angaben 492 Demonstrationen und Kundgebungen mit ca. 1,6 Mio. Teilnehmern. Die Veranstaltungen waren inzwischen fast durchweg vom Wahlkampf bestimmt. Vom 1. bis 8. März gab es 281 Veranstaltungen mit etwa 450 000 Teilnehmern. Sie konzentrierten sich inzwischen vor allem auf die Südbezirke. Auf Kundgebungen stellten Vertreter von Parteien und Bürgergruppen ihre Ziele vor. Die Anzahl der Redner und Teilnehmer aus der Bundesrepublik erhöhte sich kontinuierlich. Deutlich wuchs die innere Polarisierung bei den Demonstrationen, was zu Spannungen und Auseinandersetzungen führte. Hauptforderungen waren eine schnelle Vereinigung Deutschlands und die Lösung sozialer sowie ökologischer Probleme. Mitgeführt wurden fast ausschließlich schwarz - rot - goldene Fahnen ohne DDR Emblem.157 Forderungen nach einer Neubildung Sachsens gehörten inzwischen zum Repertoire fast jeder Veranstaltung. Es wurden auf fast allen Demonstrationen weiß - grüne Fahnen getragen, „bis ins letzte Dorf“ hingen diese nun aus den Fenstern.158 Während im privilegierten Ost - Berlin im Wahlkampf weithin DDR - Fahnen dominierten, zeigte der Süden neue Farben. Auch in Thüringen bestimmten im Herbst bald weiß - rote Fahnen das Bild.159 Neben deutschen und Landesfahnen wurden auch in Vergessenheit geratene Fahnen der Städte und Regionen sowie Traditionsfahnen der SPD und aufgelöster Vereine gezeigt.160 Teilweise ging der Lokal - oder Regionalpatriotismus soweit, dass Tafeln oder Schilder aller Art auf die Länder und Landeshauptstädte hinwiesen und die Bezirksangaben auf den Ortschildern durch Länderbezeichnungen überklebt wurden. Erich Loest kommentierte : „Als die DDR zusammenbrach, blühte Sachsengefühl auf, wurden grünweiße Fahnen genäht – das erstaunte allgemein.“161 Insgesamt herrschte Unklarheit über das tatsächliche Meinungsspektrum, beteiligte sich doch nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung weder an Demonstrationen noch an Kundgebungen. Der Landesbischof der Ev.Luth. Landeskirche Sachsens, Johannes Hempel, formulierte die Stimmung, wenn er meinte, die Wahlen überforderten die Menschen : „Ich höre viele Menschen, die wissen was sie nicht wählen, aber nicht wissen, was sie wählen. Und mir geht es ähnlich.“162 Richtwerte aus vorangegangenen Wahlen konnte es nicht geben. Die meisten Umfragen basierten auf Telefongesprächen, waren 157 Vgl. MdI vom 9. 3. 1990 : Öffentliche Ordnung und Sicherheit ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 158 Vgl. Heitmann, Die Revolution in der Spur des Rechts, S. 43. 159 Vgl. Rommelfanger, Das Werden, S. 20. 160 Vgl. Opp / Voß / Gern, Die volkseigene Revolution, S. 48. 161 Loest, Sachsens politische Kultur, S. 214. 162 Vgl. Sächsisches Tageblatt vom 20. 2. 1990.

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7

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DSU

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0,4

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DJ

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3

22 9 17 5 35 6 4

NF

45

12

7 21 24 34

7

AfD

1 5 10

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4

3

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And.

52

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42

?

Alle Zahlen sind gerundet. Angaben zur CDU, zur DSU und zum DA wurden ab Februar teilweise unter „Allianz für Deutschland“ zusammengefasst. a Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa bei 2180 DDR-Deutschen. Vgl. FAZ vom 21.11.1989. b Umfrage des Instituts für Marxistisch-Leninistische Soziologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. In : Neues Deutschland vom 25.11.1989. c DDR-Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig. In : Neues Deutschland vom 7.12.1989. d Politbarometer aus der DDR. In: ZDF vom 17.12.1989 um 19.25 Uhr/Pp. e Winkler, Sozialreport, S. 283. f Umfrage der Akademie der Wissenschaften der DDR. In : Berliner Zeitung vom 4.1.1990. g DDR-Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig. In: ADN vom 6. 2.1990. h Infas, ARD, Bericht aus Bonn. Zit. in : iwd 11 vom 15. 3.1990. i DDR-Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig. In : Neues Deutschland vom 21. 2.1990. j Infas, ARD, Bericht aus Bonn. Zit. in : iwd 11 vom 15. 3.1990. k Ende Februar / Anfang März. Institut für Demoskopie Allensbach. Vgl. Noelle - Neumann, Demoskopische Geschichtsstunde, S. 100 f. l Münchener Institut Infratest. In : DA, 23 (1990), S. 634. m Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH (GESA). In : Berliner Zeitung vom 2. 3.1990. n Erste Märzdekade. Institut für Demoskopie Allensbach. Vgl. Noelle-Neumann, Demoskopische Geschichtsstunde, S. 101. o Infas, ARD, Bericht aus Bonn. Zit. in : iwd 11 vom 15. 3.1990. p DDR-Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig/Institut für Marktforschung in Leipzig. In : Berliner Zeitung vom 8. 3.1990. q Institut für Demoskopie Allensbach. Vgl. Noelle-Neumann, Demoskopische Geschichtsstunde, S. 100 f.

Tabelle 2: Umfragen: Wenn jetzt Volkskammerwahlen wären, wen würden Sie wählen? Datum / SED, SDP, LDPD, Grüne CDU FDP NDPD DBD DA Partei PDS SPD BFD Partei 14 10 12 15 2 3 21.11.89a 3 0,1 31 2 8 1 2 1 25.11.89b 31 10 23 3 5 7.12.89c 17 7 4 5 3 2 2 17.12.89d 8 55 6 31 Januar 90e 34 5 8 3 2 2 1 2 4.1.90f g 54 11 12 5 6.2.90 5 36 2 16.2.90h 12 53 13 3 1 4 2 2 21.2.90i 6 36 2 23.2.90j 18 48 5 Ende Feb.k 10 44 20 2 2 3 1 1 März 90l 11 53 3 3 3 2.3.90m 12 37 5 Anf. Märzn 5 24 2 2.3.90o 17 34 21 4 2 1 3 3 2 8.3.90p 12 27 5 17.3.90q

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daher aufgrund der geringen Telefon - Dichte und der Bevorzugung von SED Funktionären mit Telefonen nicht repräsentativ. Hinzu kam die Neigung, die Demoskopie zur Meinungsmanipulation im Wahlkampf zu nutzen. Die Zahlen in Tabelle 2 lassen keinen Trend erkennen und wirken willkürlich. Auch in den Parteien dominierten Fehleinschätzungen hinsichtlich der eigenen Chancen. Während sich die SPD bereits als Sieger fühlte, schätzte die CDU ihre Chancen als eher gering ein.163 Die widersprüchlichen Umfragergebnisse waren aber auch darauf zurückzuführen, dass sich Teile der Bevölkerung nach Jahrzehnten verordneter politischer Unmündigkeit erst wieder eine eigene Meinung bildeten. Das zeigt auch die kontinuierlich hohe Anzahl unschlüssiger Wähler. Auch Umfragen zum Thema „Sozialismus“ zeigten widersprüchliche Ergebnisse. Nach Erkenntnissen des Allensbacher Instituts gewann die Idee des Sozialismus im März wieder an Sympathien. Auf die Frage, ob die Krise in der DDR am Versagen des Sozialismus liege, hatten im Dezember 67 Prozent der Befragten mit Ja beantwortet, im März waren es nur noch 25. Stattdessen meinten noch 45 Prozent im Dezember nun 60 Prozent, es wären unfähige Politiker gewesen, die den Sozialismus nur schlecht umgesetzt hätten.164 Andererseits lehnten Ende Februar noch rund 60 Prozent der DDR - Bewohner die Parole „Nie wieder Sozialismus“ ab, Mitte März waren es 31 Prozent.165 41 Prozent meinten Ende Februar, der Sozialismus lasse sich verbessern, 46 sprachen sich dafür aus, ihn abzuschaffen. Kurz vor der Wahl sank die Zahl derer, die für eine Verbesserung des Sozialismus plädierten, auf 28 gegenüber 62 Prozent, die sich für die Abschaffung des Sozialismus aussprachen.166 Eindeutiger war die Zustimmung zur deutschen Einheit. Nach einer Anfang März von Infratest Kommunikationsforschung im Auftrag des BMB durchgeführten Repräsentativerhebung wünschten 90 Prozent der Bundesdeutschen und 95 der DDR - Deutschen die Einheit Deutschlands. Eine baldige Vereinigung wünschten sich im Westen 40 Prozent und in der DDR 51 Prozent der Befragten. Nur jeder vierte Westdeutsche und jeder fünfte Ostdeutsche sah die Zukunft eher pessimistisch.167 Hauptthema des Wahlkampfes war seit Anfang Februar nicht mehr das Ob, sondern nur noch das Wie der deutschen Einheit. Die Fronten hatten sich verschoben. Es ging nicht mehr um die Niederringung der SED - Herrschaft, sondern um die Konzepte der bundesdeutschen Parteien zur Wiedervereinigung. Hier standen im Wesentlichen zwei Konzepte zur Wahl. Die CDU plädierte für einen schnellen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes, die SPD favorisierte eine langsame, schrittweise Vereinigung, wie sie nach Artikel 146 möglich war und von der internationalen Staatenwelt mehrheitlich gewünscht wurde. 163 Vgl. Ergebnisprotokoll der Beratung vom 13. 2. 1990 zur Auswertung der 12. Sitzung des Zentralen Runden Tisches ( ACDP, 3547). 164 Institut für Demoskopie Allensbach. In : FAZ vom 22. 2. 1990. 165 Allensbacher Archiv, IfD - Umfragen 4194, 4195. Zit. bei Noelle - Neumann, Demoskopische Geschichtsstunde, S. 101. 166 Allensbacher Archiv, IfD - Umfrage 4194. Zit. ebd., S. 106. 167 Vgl. Informationen des BMB 6 vom 30. 3. 1990, S. 2.

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Damit war „das Bundesdeutsche zum inneren Problem der DDR geworden“.168 Was den einen als „Wandel durch Einmischung“169 erschien, interpretierten die anderen als „gesamtdeutsche Innenpolitik“.170 Nach einer vom Vorstand der CDU / CSU - Bundestagsfraktion am 9. März verabschiedeten „Dresdner Erklärung“ sollte der „einheitliche deutsche Bundesstaat Deutschland“ auf dem Weg des Artikels 23 ver wirklicht werden, um „die freiheitlichste und demokratischste Verfassung, die es je in einem deutschen Staat gab, für alle Deutschen zu sichern“.171 Die Bundesregierung machte jedoch deutlich, dass sie nicht an einem sofortigen Beitritt unmittelbar nach den Wahlen interessiert war. Der Beitritt der DDR sollte zwar nach Artikel 23, aber nur im Einvernehmen mit der Bundesregierung erfolgen. Zuvor sollten mit den Alliierten die äußeren Rahmenbedingungen der Einheit geklärt werden.172 In Anlehnung an die Politik der Bundesregierung plädierten die in der Allianz für Deutschland zusammengeschlossenen DDR - Parteien in ihrem am 1. März vorgelegten Wahlprogramm für eine möglichst baldige Vereinigung beider deutscher Staaten nach Artikel 23.173 Allerdings gab es innerhalb der Allianz Meinungsverschiedenheiten über den Weg zur deutschen Einheit nach Artikel 23, etwa bei Fragen der Eigentumsordnung, der sozialen Sicherheit und der Rechtsvereinheitlichung. CDU - Vorsitzender Lothar de Maizière erklärte, einen bedingungslosen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik werde es mit ihm nicht geben.174 In der Ost - CDU plädierten auch einflussreiche Politiker wie die neue Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann - Pohl für eine langsame Vereinigung nach Artikel 146, eine Position, die sonst vor allem die SPD vertrat. Beide deutsche Staaten sollten sich demnach „aufeinanderzureformieren“. Offensichtlich dachte die SPD daran, die deutsche Einheit als „Vehikel der Gesellschaftsveränderung“175 zu benutzen. Willy Brandt nannte den Beitritt der DDR nach Artikel 23 einen „Holzweg“ und sprach sich für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf der Grundlage des Grundgesetzes aus.176 Auch der Vorsitzende der DDR - SPD, Ibrahim Böhme, warnte vor einem Beitritt nach Artikel 23.177 Markus Meckel nannte als Ziel einen Vereinigungsprozess nach Artikel 146, „der mit einer gemeinsamen neuen Verfassung endet, ausgehend vom Grundgesetz“.178 Eher auf der internationalen Bühne als im DDR - Wahlkampf spielte auch die Frage der polnischen Westgrenze eine Rolle. Genscher und Graf Lambsdorff 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178

So Rolf Reißig. In : Das deutsche Jahr, S. 44. Kossok, Die Revolution, S. 304. Hartung, Der große Radwechsel, S. 169. DA, 23 (1990), S. 633. Vgl. FAZ vom 10. 3. 1990. Vgl. Informationen des BMB 5 vom 9. 3. 1990, S. 2. Vgl. Berliner Zeitung vom 9. 3. 1990. Herles, Nationalrausch, S. 193. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 16. 3. 1990. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 15. 3. 1990. Interview mit Markus Meckel. In : Der Spiegel vom 19. 3. 1990.

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gingen hier im Wahlkampf immer deutlicher auf Distanz zu Kohl. Auch international nahmen die Forderungen nach einer endgültigen Anerkennung der Abtretung der deutschen Ostgebiete an Polen zu. Kohl sprach intern von einer „internationalen Druckkulisse“ als einem Vehikel, durch das sich das Unbehagen über die deutsche Einheit ausdrücke.179 Insgesamt prägten bundesdeutsche Akteure dem Wahlkampf immer deutlicher ihren Stempel auf. Am häufigsten traten Brandt, Genscher und Diepgen auf Großkundgebungen auf, gefolgt von Kohl, Momper, Blüm und Engholm. Lafontaine sprach nur einmal in der DDR.180 Die Wahlveranstaltungen mit westlichen Politikern waren trotz schlechten Wetters gut besucht. In Erfurt sprach z. B. Kohl am 20. Februar vor rund 150 000 Menschen.181 Schäuble bekannte später, er sei überwältigt gewesen „von dem Maß an Vertrauen und Hoffnung, das die Menschen in Mitteldeutschland uns aus der Bundesrepublik Deutschland entgegenbrachten“.182 Tatsächlich weckten die Wahlkämpfer aus der Bundesrepublik hohe Erwartungen. Aber nicht nur bundesdeutsche Spitzenpolitiker prägten das Bild, überall halfen bundesdeutsche Berater den Ostparteien bei der Organisierung des ungewohnten Wahlkampfes, errichteten Info - Stände und verteilten Handzettel. So bezog der Wahlkampf seine Dynamik und seine Akzente weitgehend aus den Aktivitäten bundesdeutscher Parteien. Hatten Teile der DDR - Bevölkerung die Aktivitäten in den Herbstmonaten selbst getragen, so wurde nun die Gestaltung des politischen Geschehens mehr und mehr in bundesdeutsche Hände gelegt. Akteure beider Staaten prägten bald die Wahlkampfveranstaltungen. Am 20. Februar beschloss die Volksammer ein Wahlgesetz,183 das sich am reinen Verhältniswahlrecht orientierte und keine Sperrklausel vorsah. Das Nutzen der Wahlkabine wurde ausdrücklich vorgeschrieben. Zugleich wurde der Artikel 3 der DDR - Verfassung aufgehoben, der die Mitarbeit der Parteien und Organisationen in der Nationalen Front regelte.184 Verabschiedet wurden am 21. Februar ebenfalls ein Parteien - und ein Vereinigungsgesetz, wonach die Bildung von Vereinigungen frei war. Verboten wurden Vereinigungen, „die militaristische, faschistische oder andere antihumanistische Ziele“ verfolgten.185 Mit den Gesetzen und Verfassungsänderungen waren auch aus Bonner Sicht die Voraussetzungen für eine faire Wahl gegeben, nachdem Modrow und die SED - PDS zwei 179 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 166. 180 MfIA der DDR : Häufigkeit des Auftretens von Politikern aus der Bundesrepublik auf Wahlkundgebungen in der DDR vom 1.1. bis 8. 3. 1990 ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 181 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 153. Zimmerling, Neue Chronik DDR 4/5, S. 194, spricht von 10 000 Teilnehmern. 182 Schäuble, Der Vertrag, S. 50. 183 Gesetz über die Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. 3. 1990 vom 20. 2. 1990. In: ZParl, 21 (1990) 1, S. 42–55. 184 Gesetz über Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR vom 20. 2. 1990. Abgedruckt in ebd., S. 41. 185 Gesetz über Parteien und andere politische Vereinigungen – Parteiengesetz – vom 21. 2. 1990/ Gesetz über Vereinigungen – Vereinigungsgesetz – vom 21. 2. 1990. Abgedruckt in ebd., S. 55–61 und 61–69.

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Monate versucht hatten, Manipulationen zu ihren Gunsten zu bewerkstelligen.186 Linke Parteien und marginalisierte Gruppen versuchten vergeblich, die Entwicklung aufzuhalten. Modrow nannte den Beitritt nach Artikel 23 eine bedingungslose Kapitulation der DDR.187 In einer gemeinsamen Presserklärung wandten sich auch die Vereinigte Linke, „Mitgliederinnen“ und Mitglieder des Neuen Forums, die Nelken, der Linke Jugendring, die Alternative Liste und die Grünen aus Ost und West gegen einen schnellen Anschluss der DDR.188 Einzelne Bürgergruppen riefen zum Boykott der Wahl auf. Es handele sich nicht um freie Wahlen, vielmehr seien diese vom „Kapital“ und seinen „ideologischen Handlangern“ organisiert.189 Nach Meinung Erhart Neuberts betrieben die Parteien der Bundesrepublik durch ihre Beteiligung am Wahlkampf „Revolutionsklau“.190 Er übersah damit, dass sich inzwischen selbst die DDR - Regierung für deutsche Einheit einsetzte, das Thema also auch die Bundesrepublik direkt betraf. Die DDR - Revolution war wegen der Forderung der Demonstranten nach deutscher Einheit zur gesamtdeutschen Veranstaltung geworden. Einen letzten symbolischen Erfolg konnten die neuen Gruppen am 5. Februar am Zentralen Runden Tisch erringen. Hier sprachen sich 22 Teilnehmer für und nur neun gegen einen Antrag der IFM aus, beim Wahlkampf keine Gastredner aus dem Westen einzuladen. Das Ergebnis ( mit etlichen Enthaltungen ) sagte aber wenig über die politische Realität aus, um so mehr aber über die Konstruktion des Runden Tisches. Dieser versagte auch zu diesem Zeitpunkt noch immer neuen liberal - konservativen Parteien eine Teilnahme. So erklärten denn auch die am Runden Tisch unterrepräsentierten Parteien SPD, CDU, LDPD und DA, sich nicht an das Ergebnis gebunden zu fühlen.191 Die kleineren Gruppierungen hatten es im Wahlkampf nicht nur schwer, ihre politischen Modelle der auf die deutsche Einheit fixierten Bevölkerung nahe zu bringen, für sie konnte von Chancengleichheit „überhaupt keine Rede“ sein.192 Selbst die Ex - Blockparteien besaßen im Vergleich zu den neuen politischen Kräften riesige Apparate und Einfluss in der Presselandschaft. Unabhängig davon ist allerdings fraglich, ob die neuen Gruppierungen mit ihren Konzepten bei günstigeren Ausgangsbedingungen wesentlich größere Teile der Bevölkerung überzeugt hätten. Nicht nur waren die neuen Gruppen benachteiligt, insgesamt glich der Wahlkampf eher einer Schlammschlacht und wurde mit harten Bandagen geführt. Das lag daran, dass 186 Vgl. Teltschik, 329 Tage, S. 154. 187 Zit. in FAZ vom 11. 4. 1990. 188 Zur Lage in der DDR. Presseerklärung vom 9. 2. 1990 von Vertretern politischer Vereinigungen der DDR und BRD : Vertrauen in die eigene Kraft. In : telegraph 4 vom 22. 2. 1990, S. 5–7. 189 Flugblatt : Aufruf zum Wahlboykott. Gruppe Widerspalt. In : telegraph 5 vom 15. 3. 1990, S. 8 f. 190 Neubert, Die vorletzte Revolution, S. 22. 191 Ergebnisse der 11. Sitzung des Zentralen Runden Tisches vom 5. 2. 1990. In : Herles / Rose, Vom Runden Tisch, S. 104–114. 192 Leonhard, Das kurze Leben, S. 216.

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es nicht nur um Fortsetzung oder Änderung einer in ihren Grundzügen ähnlichen Politik ging wie bei Wahlen in konsolidierten westlichen Demokratien, sondern um die Beseitigung einer Staatlichkeit samt ihres Systems. Hinzu traten noch gravierende internationale Auswirkungen. Es handelte sich nicht um eine Wahl im Rahmen einer evolutionären Entwicklung, die Wahl war vielmehr integraler Bestandteil des revolutionären Prozesses. In ihr kulminierte der Wille der Bevölkerungsmehrheit, das bisherige Regime abzuschaffen und wieder durch eine gesamtdeutsche Entwicklung zu ersetzen. Nur vor dem Hintergrund des grellen Kontrastes, den es selbst noch zwischen dem schnellen und langsamen Weg zur deutschen Einheit gab, ist das fortwährende Ankleben, Überkleben und Abreißen von Plakaten zu erklären, das geradezu „epidemische Ausmaße“193 annahm. Die Allianz für Deutschland stellte auf ihren Plakaten die SPD mit der PDS auf eine Stufe. Ein Plakat, auf dem „STOP PDSPDSEDSPDPDS“ stand, sollte suggerieren, zwischen SPD und PDS bestehe kein wesentlicher Unterschied.194 Auch die West - Berliner CDU und die DSU verbreiteten Flugblätter, in denen PDS und SPD gleichgesetzt wurden.195 Die SPD war von der völlig haltlosen Gleichsetzung „tief verletzt“.196 Egon Bahr erklärte, der Wahlkampf der Union sei mit „faschistoiden Methoden“ geführt worden.197 Umgekehrt tauchte im Ost - Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein angebliches Wahlplakat der CDU auf, mit dem eine „Wiedereingliederung unserer Ostgebiete“, „die „Beseitigung der PDS ( SED )“, eine „Elitebildung“, „drastische Erhöhung der Mieten und Abbau kostenträchtiger Sozialleistungen“ gefordert wurde.198 Demonstrationen und Wahlkampf in den sächsischen Bezirken Demonstrationen und Wahlkampf in Sachsen schwankten auch im Februar und März zwischen Forderungen nach deutscher Einheit und der Beschäftigung mit kommunalen bzw. regionalen Problemen. Bezirk Dresden / Bautzen : In Bautzen hatte sich die „Initiativgruppe Demo“ Anfang Februar bereits wieder aufgelöst. Eine Montagsdemonstration am 5. Februar wurde vom Neuen Forum organisiert. Hauptthema einer anschließenden Kundgebung war der NVA - Flugplatz Litten, für den ein sofortiger Baustop gefordert wurde. Nach der Kundgebung marschierten die Teilnehmer zur NVA - Kaserne.199 Am 16. Februar fand eine Wahlkampfveranstaltung der CDU zum Thema „Ökologisch - soziale Marktwirtschaft“ statt, drei Tage später folgte eine weitere im „Club der Bauarbeiter“ unter dem Motto „Soziale Marktwirt193 Schlosser, Ein nur scheinbar bundesdeutscher Wahlkampf, S. 523. 194 Vgl. Darnton, Der letzte Tanz, S. 170. 195 Flugblatt der DSU : Nie wieder Sozialismus, o. D. ( SLUB Flugblattsammlung, Mappe DSU ). Vgl. Momper, Grenzfall, S. 325. 196 Richard Schröder, Erblast der Gespensterfurcht. In : FAZ vom 29. 9. 1990. 197 Zit. in Neues Deutschland vom 20. 3. 1990. 198 Berliner Zeitung vom 7. 3. 1990. 199 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 7. 2. 1990.

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Wege zu Demokratie und Einheit

schaft für den Mittelstand“. Die Veranstaltung musste in die HOG „Stadt Bautzen“ verlegt werden, da der Andrang überwältigend war. Am 28. Februar betonte Günter Grass auf einer Wahlkampfveranstaltung der SPD die Notwendigkeit zweier deutscher Staaten und plädierte für einen „dritten Weg“, eine Konföderation beider Staaten.200 Am 2. März folgte eine mäßig besuchte Wahlkampfveranstaltung der DSU auf dem Bautzener Hauptmarkt. Am 6. März stellte sich im Kolpinghaus der DA vor. Man sprach sich für die Wiedervereinigung und gegen neue sozialistische Experimente aus. Anwesend war auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU Baden - Württembergs, Klaus von Trotha. Am 11. März folgte eine SPD - Kundgebung auf dem Marktplatz, zu der etwa 300 Interessierte erschienen. Anke Fuchs sprach sich für eine schnelle Währungs - , Wirtschafts - und Sozialunion aus. Am 14. März fand auf dem Hauptmarkt eine CDU - Wahlkampfkundgebung statt. Die Vorsitzende der Frauenunion Südbaden, Ortrun Schätzle ( MdB ), überbrachte Grüße des Bundeskanzlers.201 Bischofswerda : Am 5. Februar fand die zweite Montagsdemonstration in Bischofswerda statt. Etwa 2 000 Einwohner trugen schwarz - rot - goldene und weiß - grüne Fahnen. Gemeinsamer Veranstalter waren CDU, LDPD, SPD und Neues Forum. Die Parteien informierten über ihre Wahlprogramme. Beifall gab es bei der Forderung, alle Waffen des MfS öffentlich zu vernichten. Das Neue Forum rief auf, unabhängige Komitees, Runde Tische und Betriebsräte zu bilden.202 In Bischofswerda boten die Drogerien das sogenannte „Demoset“ an, bestehend aus Beutel, Kerze und Streichhölzern.203 Die Bürgerinitiative Uhyst gab bekannt, sie werde „in diesen emotionsgeladenen Zeiten“ keine Demonstrationen mehr durchführen. Diese könnten durch „nationale Aversionen“ schnell zum unbeherrschbaren Vorgang eskalieren. Sie kritisierte Demonstranten, die vor einem sowjetischen Militärobjekt Einlass gefordert hatten.204 Am selben Tag luden Offiziere der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte Bürgervertreter zur Besichtigung ihrer Garnison ein. Vermutete Raketen und chemische Waffen wurden nicht gefunden. Am 8. Februar forderte eine Einwohnerversammlung in Uhyst erneut die Auflösung eines Militärobjektes im Taucherwald. Am 12. Februar nahmen ca. 2 500 Einwohner an einer Montagsdemonstration auf dem Altmarkt teil. Die Demonstration wurde mit den Worten „Deutschland einig Vaterland“ eröffnet. Der Oberbürgermeister von Geislingen informierte über Möglichkeiten einer eigenständigen Kommunalpolitik.205 Bei der folgenden Montagsdemonstration wurde über den Stand der Städtepartnerschaft mit Geislingen berichtet. Themen waren auch die Auflösung des MfS, der Umweltschutz und ein ziviler Wehrersatzdienst. Die Dresdner DSU stellte ihr 200 Vgl. Ronny Heidenreich, Oktoberrevolution Bautzen ( StA Bautzen, Bl. 58–60). 201 Vgl. Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, vom 6., 13. und 16. 3. 1990. 202 Vgl. MdI : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, o. D. ( BArch Berlin, DO 1, 52445). 203 Große Kreisstadt Bischofswerda : Zuarbeit Chronologie der Wende ( HAIT, StKa ). 204 Sächsische Zeitung, Ausgabe Bischofswerda, vom 7. 2. 1990. 205 Vgl. ebd. vom 9., 10./11. und 14. 2. 1990.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369142 — ISBN E-Book: 9783647369143

Von den Demonstrationen zum Wahlkampf

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Programm vor. Nachdem die Montagsdemonstration wegen ungünstiger Witterung ausfallen musste, teilte das Neue Forum Anfang März mit, das es keine weitere Demonstration geben werde. Es gebe jetzt genug Wahlveranstaltungen. Die Bürgerinitiative von Pulsnitz lud zum Forum mit Vertretern der CDU in die Nikolaikirche.206 Dippoldiswalde : In Bärenburg beteiligten sich Anfang Februar ca. 70 Prozent aller Einwohner an einer Unterschriftensammlung gegen die Übernahme des MfS - Objektes „Haus am Lift“