Die Erneuerung des Judentums: Ein Aufruf [Reprint 2018 ed.] 9783111508573, 9783111141329


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German Pages 136 [140] Year 1909

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Bemerkung der Herausgeberin
Vorwort
Inhalt
Einleitung
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Schlußbemerkung
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Die Erneuerung des Judentums: Ein Aufruf [Reprint 2018 ed.]
 9783111508573, 9783111141329

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Die Erneuerung des Judentums Ein Aufruf von

Moritz Lazarus Professor D. Dr.

Berlin DruJ und Verlag von Georg Reimer W-

Ls ist ,5)eit, daß mir aufhören zu verschmeigen. zu vertuschen, zu vermitteln; daß mir aufhören vor uns und vor anderen zu heucheln und zu deuteln, die Last von einer Schulter auf die andere zu schieben, statt sie abjumetfen; das eine oder das andere 2luav zuzudrucken, anstatt beide zu offnen und klar zu sehen. (Lazarus: „Gedanken über Aufklärung".)

Bemerkung der Herausgeberin

Warum ich erst sechs Jahre nach dem Tode seines Schöpfers dieses Werk veröffentliche? — wird man fragen. Weil ich jetzt erst den Augenblick dazu ge­ kommen glaube. Wohin ich sehe, ringt es in der Iudenheit um des Judentums willen nach Aufklärung, nach Befreiung ... wie noch nie! Aber — fehlt nicht der Führer?

Meran, Ostern 190%

Nahida Lazarus.

Vorwort. Diese Schrift ist mein Vermächtnis an meine Glaubensgenossen, an die Juden, welche nach mir leben werden. Denn auf meine Zeitgenossen wird sie keine irgendwie erhebliche Wirkung tun, mit Aus­ nahme vielleicht der Juden des europäischen Ostens (Polens und Rußlands) oder des Westens der Erde, in Amerika. Dort scheint mir die geistige Bewegung groß und stark genug zu sein, um eine Erneuerung des Judentums herbeizuführen oder wenigstens vor­ zubereiten. £)ier aber im ganzen Westen Europas ist das Geschlecht der Juden zum größten Teil träge, stumpf und mattherzig für die Sache seiner Religion geworden. Der kleine Teil der Eifrigen aber ist engen und beschränkten Geistes, von der großen geistigen Be­ wegung, welche durch die gebildeten Völker der Menschheit geht, und von dem wirksamen Anteil, welchen das Judentum daran zu nehmen fähig und darum verpflichtet ist, haben sie keine Vorstellung, wer die Gestirne des Fimmels nicht mit dem Geiste und mit der Rechnung, sondern nur mit dem Auge

sieht, hat keinen Begriff von ihrer wahren Größe ihm erscheinen sie als leuchtende Funken, und die Erde allein, die ihm nahe ist und auf der er fest steht, hält er für einen großen Weltkörper. Auf dem Ge­ biete der geistigen Mächte, welche das innere Leben der Menschheit gestalten, ist es nicht anders. tTcr, wie die Eifrigen unter uns, die sogenannten Ortho­ doxen, erwartet, die Juden Europas würden zu dem Leben nach den Satzungen des Schulchan Aruch, wie es etwa vor too fahren geführt worden ist, zurückkehren, trägt sich mit einer falschen Hoffnung, an welche er nicht einmal glaubt; wer aber in dieser Rückkehr zu einer von der Weltkultur abgeschlossenen und nur der Vorschrift des Schulchan Aruch folgenden Lebensweise, weil er sie allein als das Feste und Faßliche vor Augen hat — die wirkliche Erhaltung und das Heil des Judentums sieht, der kennt das Wesen desselben und seine Aufgabe im Leben der Menschheit nicht, was in den düsteren Jahrhunderten, in den engen Gassen des Ghettos so wertvoll war, für die bloße Erhaltung des Judentums, das ist heute im Lichte und im Kreise einer vorwärts strebenden und schreitenden, täglich bereicherten und sich ver­ jüngenden geistigen Kultur nahezu wertlos. Die wahre Erhaltung des Judentums als eines Gedanken­ kreises und einer Gemütswelt von schöpferischer geistiger Kraft und wirkungsreicher Gesinnung kann nur durch eine fortschreitende Läuterung und Er-

VH Hebung desselben bewirkt werden; denn dadurch allein wird es in den Stand gesetzt, mit den die Geschichte der Menschheit gestaltenden geistigen Mächten in Harmonie zu bleiben und berechtigten Einfluß auf sie zu üben. Die Mizwos (Gebote) mit ihrer äußer­ lichen Übung tun es nicht, sondern allein der Geist, aus dem sie geflossen, der Gedanke, der in ihnen lebt, wie er in den Seelen der Propheten und der hoch und frei gesinnten Rabbinen aufleuchtete. Diese Gedanken müssen wieder Form und Leben gewinnen. Das Judentum ist reich an solchen schöpferischen gesinnungszeugenden Gedanken. Aber dieser Reich­ tum ist verborgen, verhüllt, vergraben in der Masse der satzungsmäßigen Übung, entwertet durch die Wucht und den Wext, welcher auf rein äußerliches Tun gelegt ist, dergestalt, daß die Notwendigkeit der Fortbildung und Neugestaltung der Gedanken selbst fast vergessen ist1). Das äußerliche Tun um­ kleidet die Gedanken nicht, es engt sie ein, es erstickt sie. Der Gedanke, der glücklicherweise doch auch überliefert ist, erscheint nur beiläufig, zufällig, wie ein 1) Eine sehr bemerkenswerte scharfe, einschneidende Kritik der Juden wegen ihrer Neigung, glänzende Anläufe und Ansätze, zu denen sie sich aufschwingen, wieder fallen zu lassen, wird schon in den ältesten rabbinischen Schriften geübt, vergl. 21 'Dl '1DD An die Aufhebung und Wiedereinführung der Sklaverei zu den Zeiten des Jeremias sollte man sich immer wieder erinnern (vergl. Ierem. 7.4,8 ff.).

Zierat an Festtagen, in Festpredigten vorgewiesen; die Wirklichkeit, die Tätigkeit gehört der äußerlichen Übung. Dieser Gedanke aber muß zur eigentlichen geistigen Tat, die innere Bewegung des Gemüts, der Antrieb der Gesinnung muß zur Wirklichkeit werden. Aus langjährigen — wenn auch nur gelegentlich bei völkerpsychologischen Forschungen geübten — Studien über die Religionsgeschichte der gebildeten Völker und der )uden insbesondere, aus eigenen Beobachtungen bei der Teilnahme an den Beratungen und Bewegungen des zeitgenössischen Judentums (Gemeinde, Deutsch. Israel. Gemeindebund und Syno­ den) aus fleißigem und hingegebenem Nachdenken sind diese Gedanken über die Notwendigkeit und die Wege der Erneuerung des Judentums entstanden, wenn sie als Saatkörner im Geiste künftiger Führer desselben gedeihlich aufsprießen, dann habe ich nicht umsonst gelebt! — Höher als alles, was mir etwa sonst im Leben zu leisten vergönnt war, werde ich dann diese Mitwirkung an einer Erhebung, Befreiung und Veredelung des Judentums achten. Denn noch immer ist — zwar nicht die Iudenschaft, aber — das Judentum das Salz der Erde; noch immer ist es dazu berufen, in der allgemeinen fortschreitenden Bewegung des menschlichen Geistes einen schöpferischen Einfluß zu üben; um so mehr berufen, da es selbst zurückgezogen und untätig,

durch sein bloßes Dasein, als lebendige, wenn auch schweigsame Kritik aller anderen Religionen einen Einfluß geübt hat (vgl. Nippold, Staat und Kirche, Rektoratsrede, Bern, S. f.). An Anhängern wie an Widersachern wird es diesen Gedanken nicht fehlen; aber schwerlich werde ich mich dazu entschließen, sie noch bei meinen Leb­ zeiten der Mitwelt zu übergeben. Non dem Vorzug, ganz besonders aber von dem Nachteil aller persön­ lichen Beziehung befreit, sollen sie für sich allein durch ihren Inhalt wirken, Habe ich doch neuerdings bei meinem Buche „Treu und Frei" wieder erfahren müssen, wie schwer es den Menschen wird, einen Gedankengehalt von seiner persönlichen Beziehung zu trennen, und ein reines, völlig interesseloses wollen bei seiner Schöpfung anzuerkennen. Dieses gleichsam unpersönliche wollen, das man dem Lebenden bestreitet, wird man hoffentlich dem Abgeschiedenen zugestehen, und seine Gedanken rein mit ihrem eigenen Gehalt und mit voller Kraft auf sich wirken lassen. Das walte Gott!

Lazarus.

Inhalt. Bemerkung der Herausgeberin .............................................. S. III Vorwort des Verfassers ......................................................... V—IX

Einleitung. Berechtigung nicht nur sondern Verpflichtung des Nach­ denkens. V Furcht vor der Neuerungssucht, Trieb der Fort­ bildung. Entwicklung. Neugestaltung ist eigentliches Leben des Geistes. 2.

Aufgaben. Treu zum Judentum und frei in ihm stehen. 3. Vas heißt „treu"? was heißt „frei"? 4. historischer Rückblick. Mendels­ sohns Einfluß. 5. Zunz' „Wiederbelebung des Judentums", aber nur theoretisch, historisch und philologisch. 6. — In der Praxis blieb der „Schutt der Jahrhunderte" unberührt. Stillstand. Ab­ sonderung. Bruch zwischen Bekenntnis und Bekennern (An­ merkung: wie die Neuorthodoxen die Wissenschaft des Judentums betreiben). 6.

Veränderungen und versuche. Synoden. Rabbinerversammlungen. — Engherzigkeit und Kleingeisterei der philologischen Forschung. Verschwendung geistiger Kraft. Widerstreit der Ansprüche. 7 u. 6. was die Synode wollte. Ziele und Hoffnungen. 9.

Drei Beziehungen: I. Entwicklung des Rabbinischen Juden­ tums. II. Die eigentliche Theologie. III. Das Zeremonialgesetz. — Veräußerlichung, Vermehrung, Verschärfung der Vorschriften. \2. Nichts Neues, sondern Rückkehr. *3. Anlehnung an das Bibel­ wort. Deutungen und Umdeutungen. willkürlichkeilen. Unter­ schiebungen. ff. Auslegungen (Anmerkung: Kasuistik), ff.

Kasuistische Spaltung der Begriffe. Hauptgründe für die Unmöglichkeit einer Gleich­ mäßigkeit in der Auslegung (Anmerkung: dazu).

Zur Methode des juristischen Scharf­ sinns. Spitzfindigkeiten. *8. Der Kulturgedanke in der Lrinnerungsfeier an den Auszug aus Ägypten. \8. Die pessachfeier und der Schulchan Aruch. juristische hinten und Fiktionen: Das Gersten­ korn im Hühnermagen; Der Scheinkauf usw. 20.

B u ch st a b e n d i e n st. Ohne Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur. *8. Der fragliche Einfluß der Gebote und Verbote. 22. Zweischneidiger Erfolg. Die Zeremonialvorschrift erschien wichtiger als das Moral­ gesetz. 2$. Bei übertriebener Berechnung von Lohn und Strafe entartet das Gewissen. 2\. Zum Ausspruch des R. jacob (An­ merkung). 25. Widerspruch zwischen Moral, Religiosität imi> juristisch-peinlicher Gesetzesvorschrift. 26.

Beispiele. Heiligung des Sabbaths. 27. Das lichtvolle Ziel wird durch verhängnisvolle Verirrung mehr verfinstert als erleuchtet. 29. Der Stab des Blinden, der im Fluß Badende, das Taschentuch als Gürtel, die fingierte „Ringmauer" u. a. Beispiele, die dem

Geist des Gesetzes und der Vernunft durch Winkelzüge und Hinter­ türen hohnsprechen. 29 f. — Das Schreiben am Sabbatb und des ungarischen Rabbiners Kontroverse darüber. 32 ff. Der Geist des Ruhegesetzes. § 307 des Grach Lhajim. Line Mitteilung der „wiener Neuzeit" aus Krakau. 32. Unsere Neuorthodoxie. 3*. Das geplante Denkmal für Juda Touro und Dr. Frankels Gut­ achten. 40. Bedeutung der Kunst für die geistige Kultur und die Knechtschaft im Götzendienst des Buchstabens. 43. heuchlerische Sinnlosigkeiten: die nackte Venus mit verstümmelter Nase ist gestattet, eine unverstümmelte züchtige Athene ist verboten. 45. Keine religiöse plastische Kunst für das Judentum. 47, aber welt­ liche Kunst für die Juden ist erlaubt. Die Gefahr des Götzen­ dienstes ist vorüber; der Gottesgedanke ist bei den heutigen Juden nicht vom „Kalbe" bedroht, sondern vom Golde, 48. Homer, phidias. Skopas. Das Verhalten zu den religiösen Sym­ bolen der Andersgläubigen; wir dürfen sie hochachten, aber nicht besitzen. 50.

Der Talmud. Je weiter zurück, desto freier und Heller. Erneuerung des Judentums durch Zurückgehen auf die wahren Duellen des Tal­ muds. 5V warum nicht Anwendung derselben Methode bei den heiligen Schriften wie bei Plato oder Aristoteles? — Kein geistiges Messen mit zweierlei Maß! 53.

Gefahren des Autoritätsglaubens. Für Geist und Religion gibt es keine andere Autorität als die Wahrheit. 54. über Kommentare. 46. Iarchi. Zwei weitere Beispiele: die 6*3 Gebote werden aufgewogen durch----- 55. Raschi. 57. Das herrliche Gleichnis von der Bedeutung der Er­ ziehung (Trakt. Sabbath, U9 b) wird zu medizinischem Aber­ glauben herabgewürdigt. 58. spezifisch ethisch-religiöse Frage, das Begräbnis der christlichen Ehefrau auf

dem jüdischen Friedhof betreffend. Zur konfessionellen Trennung der Gestorbenen. 59. Auch (Elias Wilna ist dagegen. 5 V Meine Ansicht darüber. 62. Alle Gesetze sind um des Friedens willen gegeben. 63. Aus der Debatte der Re­ präsentanten der Berliner Gemeinde. Konservativer Standpunkt. Dagegen: durch Nichts wird ein Stück Erde höher geheiligt, als wenn sie eine Stätte unterschiedsloser Menschenliebe wird. 6$. Sanktionierte Gedankenlosigkeit kennt nur Erschwerung statt Belehrung. 66. Der zweite Festtag: seine Entstehung, durch Mangel an wissenschaftlicher Sternkunde; ursprünglich ein begründeter Brauch, heute eine Sinnlosigkeit. 67. — Fahren ant Sabbath; verbot desselben, weil irgendjemand einmal eine Gerte abschneiden könnte! — Vhne Rücksicht auf Veränderung der Zeiten und Zustände bleibt eine Satzung bestehen und wird zum Widersinn. 68. — Fahren b e i der Leichen­ bestattung am zweiten Festtage. Rückschritte und Rück­ sichten. Der wahre Standpunkt der neueren (Orthodoxie. Die jüdische Kanzel. Ein ernstes Anliegen der Religionsgesellschaften. 70. Das innerste Leiden des Judentums. Keine neue Halachah mehr! 72. Zur Frage der keichenverbrennung. Ben Amozeghs Begründung des Verbots derselben. 73.

Juristischer Ungeist. Beschränkende Unfreiheit nach allen Seiten. vernunft­ gemäß Unschuldiges wird künstlich zur Schuld gemacht. Ein offen­ bares vergehen gegen die biblische Vorschrift: „Ich sollt nichts dazu tun." 74. „Staub und Asche." wie soll einer zu Asche werden, wenn er nicht verbrannt wird? Eingehende Erörterung. 75 f. Religionsgesetze künstlich ausklügeln und schaffen, verbietet die Vernunft. Auf Mißbräuche sich berufen ist unstatthaft. Was der Geist des reinen und wahren Judentums lehrt. 77 f. — Bei Verschiedenheit des Pietätsgefühls: Beschränkung der Freiheit

-es (Semüts; Bevormundung der Meinung des einen oder anderen. Die Religion soll jedem d i e Jonn über­ lassen, i n der sich seine Pietät am besten bekundet. 80. Der Brauch der „Jahrzeit" (Anmerkung dazu) 81.

Wandelung der Sitten und Gebräuche. Die Sud?t der juristischen und kasuistischen Feststellung jedes Brauches muß das Judentum völlig abtun. Eingebende Be­ gründung dieser Forderung. Keine Religionspolizei! si. Keine Fußangeln für Freiheit des Gewissens und Fortschritt der Lebens­ formen! was vor tooo oder (00 Jahren geschah, ist heute nicht maßgebend. Das Haupthaar der Jüdin damals Gegen­ stand der Sdjam. Heute ist die weibliche Haartracht dem Schulchan Aruch entzogen und der Mode verfallen. 82 f. — DasGebet. — Der bekannte unselige Streit, ob es (das Abendgebet) „freiwillig" oder „pflichtgemäß" sei. Die endlosen Kontroversen über die Gebetordnung. Das Gebet nicht mehr das freie, echte, sondern durch den Zwang der Kasuistik zu einer tributmäßigen, äußer­ lichen Übung geworden. 48 f. Ein drastisches Beispiel: das Schofarblasen und das Dankgebet. Die Frage an sich, ob man letzteres sprechen darf, ist etwas ver­ kehrtes. 86. Das Gebetbuch des israel. Landeslehrervereins von Böhmen. Juristische Fiktionen in betreff des Z e i t s e g e n s p r u ch e s. 67 Was unerlaubt ist, wird unter falscher Flagge eingeschmuggelt. 89 Dämonenglaube. Der schlimmste Dämon die Kasuistik. Eine perle religiöser Vorstellung vom Gebet im Ausspruch des R. Simon den Nathaniel. weitere Aussprüche des Talmuds und der Midraschim. 90. Gebet ohne Andacht ist wie Körper ohne Seele. — Hohe Gedanken werden durch juristischen Ungeist zu blassen Schemen. 90.

Zwei ßauptjüge tm Verhalten der 3 üben 3 u ihren Religionsquellen. Beide zusammenhängend und doch grundverschieden: I. Die A r t der Pietät gegen die Vergangenheit und II. Die apologetische Richtung. Zu I. Pietät kann nicht tief genug fein; dennoch wird sie verderblich, wenn sie unterschiedslos, ohne Prüfung alles, was von den früheren stammt, anerkennt, weil es von ihnen stammt, gl f. — Theorie und Praxis. — Diese blinde Verehrung des Alten — auch in der Astronomie, der Mathematik, der Physiologie, führt zur absoluten Unwahrheit. 92. Dieser ver­ hängnisvolle Mangel an Unterscheidung konnte die Lehre zur Geltung bringen: „Jeder Satz in der Bibel ist gleich heilig, ob er die Gebote vom Sinai oder den Namen eines Kebsweibes enthält. Die Methode der Auslegung. Auch widerstreitendes sollte Geltung haben. Es wurde „harmonisiert". 93 s. — Vergeudung einer Unsumme geistiger Kraft bei dieser Harmonisierung. — Statt redlichen Denkens klügelnde Sophistik. Gedankenspiel statt wahrheitsziel. 94. — ver­ altetes, Kleines, Enges, Abgelebtes, wertloses wird dem wert­ vollsten gleich geachtet. Aus Druck und Elend Geborenes beraubt das Edle und Erhabene seines Einflusses. 95 f. Zu II. (die apologetische Richtung). Tiefere Ursachen. Ver­ teidigung gegen die Angriffe der Leinde hat die Selbstkritik ver­ drängt. Ein tragisches Geschick. Durch eigene Kritik fürchtete man waften für die Leinde zu schmieden, fjier bet härteste Erfolg der Intoleranz. All und Jedes wurde kritiklos verteidigt: das Eine wegen des Ursprungs, das Andere wegen des Einflusses, das Dritte wegen der geistigen Lähigkeit und so fort. 96. Diese apologetische Richtung muß verlassen werden, wenn es sich um eine Erneuerung des Judentums handelt. hinweg mit der Lurcht vor den Leinden! — 97.

Unsere Pflicht. Gewisse Paragraphen des Schulchan Aruch müssen als veraltet erklärt und aufgehoben werden. 98. Lin verderblicher Irrtum: nicht die Gesetzlichkeit hat die Treue erzeugt, sondern aus der Treue stammte die Gesetzlichkeit; nicht wegen, sondern trotz der Strenge wurde der Glaube bewahrt. — Die höchste Gefahr. 99. Kein Kampf mehr gegen die Kultur! — was früher vernünftig erschien, ist heute Unvernunft. E i n Beispiel nur: Tierischer Gpferdienst; so lange er noch (in ben Gebeten) gefordert wird, steht der Gottesbegriff auf einer sehr, sehr niedrigen Stufe. *00. Der Schulchan-Aruch im Widerstreit mit Kunst und Wissenschaft. — Die Oogel-Strauß-Politik der Konservativen. I 05. Harmonie der Religion mit der allgemeinen Kulturbewegung muß hergestellt werden, vor allem: Abschaffung abergläubischer Mißbräuche. — Zur talmudischen Definition der Arbeit. *0$. Lin zweites Beispiel: noch einmal das Reiten und Zähren am Sabbath. *05. Das „Joch des Gesetzes" muß erleichtert, Raum und Kraft für allgemeine Kultur frei gemacht werden. t06. Alle Reformbestrebungen sind auf Erleichterung zu richten. Zusätze müssen abgeschafft werden, damit die Grundsätze in (Erfüllung gehen. Sinn, Bedeutung, Gemüts­ zweck des Gesetzes muß erfüllt werden. Der eigentliche wahre Geist des Gesetzes wird verfehlt, wenn man nur eine objektive, juristisch­ formulierte Bestimmung berücksichtigt und die persönliche, sub­ jektive Beziehung außer acht läßt. Lin und dieselbe Handlung kann für den Linen eine Arbeit für den Anderen ein Vergnügen sein. *07. — Keine feste Bestimmung! Der Staat, nicht die Religion gibt Ge­ setze; sie soll nurdie verkündigerin sein. Freiheit des Gewissens! toe f. wenn Jeder wahrhaftig nach seinem Gewissen das Gesetz am besten zu erfüllen meint, dann hat er es am besten erfüllt. *09. Nur was das eigene Gewissen fordert, hat wahrhaft religiösen wert. 110.

Einleitung. )hr steht heute Alle vor betn Ewigen Eurem Gotte, um einzugehen in den Bund mit ihm (5. B. Mose 29,9). Dieses „Heute" ist jeglicher Tag. Zu aller Zeit sind wir nicht nur berechtigt, son­ dern wir sind verpflichtet über das Höchste, das der menschliche Geist errungen, mit immer frischen Kräften nachzudenken, den höchsten kebensgehalt des Menschengeschlechts, die religiöse lveltbetrachtung zu befestigen, zu erhalten und zu vertiefen. Es hat auch im Judentum an diesem nie rasten­ den Trieb der Fortbildung nicht gefehlt. )n talmudischen Zeiten fragte man täglich, was es Neues im kehrhause gebe? Und selbst in den dunkelsten Zeiten der letzten Jahrhunderte haben die Schulen des pilpuls alle Tage Neues im Alten zu entdecken gestrebt. Nur der neueren Orthodoxie war es vor­ behalten, ihre geistige Arbeit auf philologische und historische Forschung zu beschränken, die Grundlagen, den eigentlichen Lebensgehalt der Religionen aber Lazarus, Judentum.

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von jeder freieren und lieferen Betrachtung aus­ zuschließen. Man glaubt als religiöse Gesinnung nur die Pietät gegen das hergebrachte, nur die Er­ haltung des überlieferten ansehen zu dürfen und jede ernstere und eindringendere Prüfung abweisen zu müssen. Stumm und stumpf geht man daran vorüber. Man fürchtet die Nenerungssucht. Die Religion bedürfe des festen, unangefochtenen Be­ standes ihrer Wahrheiten, welch eine Verblendung in diesem vermeintlichen Unterschied zwischen allen anderen geistigen Inhalten und dem der Religion! wenn die Mathematiker alle Tage rechnen, um neue mathematische Wahrheiten zu entdecken: ist das Neuerungssucht? wenn in den Laboratorien der Naturforscher alle Tage gearbeitet wird, um neue Beziehungen und Wirkungen der Stoffwelt zu ent­ decken: ist es Neuerungssucht? wenn die Juristen alle Tage nachsinnen, um die Formen und die Grund­ lagen des Rechts immer reiner und tiefer zu fassen: ist es Neuerungssucht? vielmehr überall waltet segensreich der dem Wesen des menschlichen Geistes selbst und der Ge­ schichte seiner Entfaltung entsprechende Trieb, durch unablässige Arbeit das Errungene zu vermehren und zu veredeln. Fortbildung, Entwicklung, Neugestaltung seines gewonnenen Inhaltes ist das eigentliche Leben des Geistes. Und in der Religion allein sollte es anders sein?

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vielmehr auch hier ist es unsere Pflicht, die durch allseitige Kulturarbeit höher entwickelte Geisteskraft, fortgebildete Gedankentätigkeit, geläuterte Gesinnung zu einer unausgesetzten Vertiefung und Veredelung anzuwenden, von der Sache so gut wie von der Person gilt das Hillelische: wer nicht mehrt, mindert. (Aboth I, *3.) Nur daß kein der Sache selbst fremder Beweg­ grund uns treibe oder leite, daß reines Vollen, red­ liches Streben, aus dem alleinigen Grunde der Wahr­ haftigkeit in uns walte, daß wir in unserem prüfen, Forschen und Gestalten wissen: wir stehen vor Gott! vor aller Lehre-Überlieferung aber stehen wir treu und frei. Treu und frei heißt hier: Treu zum Judentum und frei in ihm stehen. Treu sein, heißt heute und in Zukunft: nicht bloß bei seiner Religion ausharren, mit ihrem Namen geschmückt oder belastet Jude bleiben, leidend oder auch tätig in der bloßen äußerlichen Erfüllung seiner Vorschriften, Sitten und Gebräuche; treu sein, heißt vielmehr an dem wahren, an dem inneren Bestand und Fortbestand des Judentums den innigsten Antell nehmen, für ihn rührig und tätig sein oder wenigstens redliche Sorge im Herzen tragen. Treu sein heißt also das Judentum auf der erstiegenen Höhe seines geistigen Gehaltes befestigen, seine innere Entwicklung l*

im Zusammenhange mit dem allgemeinen Fort­ schritt des menschlichen Geistes befördern, seinen Einfluß auf das Gemüt feiner Bekenner und auf die menschliche religiöse Entwicklung erhalten und erheben. Diese Treue ist ohne Freiheit unmöglich. Frei sein, heißt innerhalb des Judentums stehen, aber freien Umblick auf die allgemeine geistige und besonders religiöse Entwicklung aller bevorzugten Stämme und Religionen des menschlichen Geschlechts halten und dafür sorgen, daß das Judentum nicht bloß wie eine Ittumie dauere, oder wie ein Gespenst umgehe, sondern in der Frische, Fülle und Lebendig­ keit seiner gedeihlichen Wirksamkeit sich entfalte. Treu und frei also heißt, dem Judentum seine klare und seiner selbst bewußte Stellung in der fortschreitenden Ideali­ sierung des Menschentums bewahren. Je glücklicher das Judentum in der Erfüllung seiner Mission, sowohl in der Selbsterhaltung unter seinen Bekennern, als in seinem Einfluß auf die Aus­ breitung der höchsten religiösen Wahrheiten unter den Menschen gewesen ist, desto zwingender ist seine Verpflichtung, in beiden Richtungen nicht zurück­ zubleiben, sondern in der Entfaltung seiner religiösen Wirksamkeit nach innen, und eben dadurch auch nach außen fortzuschreiten. Ich erachte es deshalb als meine heilige Pflicht, die Gedanken, die in mir auf Grund der Tatsachen, welche ich durch ein halbes Jahrhundert miterlebte,

5 zur Überzeugung geworden sind, auszusprechen. Lassen wir den Einfluß, den das Judentum nach außen auf die allgemeine Rultnrentwicklung zu üben durch sein Wesen befähigt und verpflichtet ist, einstweilen außer Frage. (Es ist kein Streit darüber, daß es in den letzten Jahrhunderten vor dem Auftreten Mendels­ sohns die einflußreiche Beziehung zur allgemeinen geistigen Entfaltung des Menschentums eingebüßt hatte; durch eine wohl erklärliche, aber darum doch höchst beklagenswerte Absonderung von derselben hat es wesentlichen Einfluß weder geübt noch emp­ fangen. Der Einfluß nach anßen ist schlechterdings von der gesinnungbildenden Macht nach innen ab­ hängig. Nun aber war der eigentliche, der geistige und sittliche Gehalt des Judentums den Juden der letzten Jahrhunderte (bis Mendelssohns Zeiten) fast in demselben Maße entschwunden, in welchem sie von der allgemeinen Kultur sich entfernt hatten. Die Augen waren blöde geworden und das Gemüt war verödet, so daß sie die ererbten geistigen Schätze nicht würdigen, Erhebung und Erquickung aus ihnen nicht schöpfen konnten, weil der Geist sich einseitig und fast ausschließlich auf die Diskussion der Halachah beschränkte. Vor etwa hundert Jahren hat Mendelssohn die Juden wieder zum geistigen Leben, zur Teilnahme an der allgemeinen Kultur erweckt und bald darauf Zunz mit seinen Genossen und Nachfolgern die Er-

weckung des Judentums insofern herbeigeführt, als er feinen ererbten geistigen Gehalt ans Licht gestellt. „Aus dem Schutte der Jahrhunderte wurde der Gehalt des Judentums wieder herausgearbeitet": aber nur theoretisch, nur historisch und philologisch hat sich diese Wiederbelebung des Judentums der älteren Vergangenheit vollzogen. In der Praxis, in den geltenden Vorschriften für die Gemeinde und die Einzelnen ist zunächst jener „Schutt der Jahrhunderte" unberührt geblieben. Aber eben deshalb war es als gegenwärtiges und lebendiges Judentum fast macht­ los geworden. In den letztvergangenen Jahrhunderten war es in hohem Grade eine Macht über das Gemüt, eine zwar dumpfe und trübe, aber doch eine Macht. Seit etwa hundert Jahren aber sehen wir diese Macht des Judentums im Innern in erschreckender weise stillestehen und abnehmen. Die Juden haben sich der allgemeinen Kultur in Industrie, Wissenschaften und Künsten, sobald die ehedem geschlossenen Schranken geöffnet waren, wieder zugewendet. Das Judentum selbst aber war mit seinem Lehrgehall, mit seinen Satzungen und Vorschriften in der Absonderung stehen geblieben. Das hat in immer weiteren und weiteren Kreisen einen Bruch zwischen dem Bekenntnis und den Bekennern des Judentums herbeigeführt. Glücklicherweise aber hat die geistige Bewegung innerhalb desselben alles vorbereitet, um einen neuen

7 lebendigen und energischen Fortschritt wieder herbei­ zuführen. Die philologischen und historischen Studien sind zur Blüte gelangt. Die Erfolge dieser Studien können heute schon und werden in der Folge immer mehr eine Erneuerung, eine Verjüngung des eigent­ lichen Lehrgehaltes des Judentums, damit aber auch seiner Einrichtungen und Satzungen bewirken*). Auf *) Freilich, die Art, wie in unserer Zeit die Wissenschaft des Judentums besonders von den Neuorthodoxen betrieben wird und nach ihrer Meinung allein betrieben werden darf, wird zu diesem Ziele nicht führen. Die fragen, ob irgend ein Buch oder ein Ausspruch von £ oder t? stamme, ob £ am Ende des \2. oder am Anfang des \3. Jahrhunderts gelebt habe, das wird mit dem Aufwande aller historischen und philologischen Kritik eifrig und scharf er­ forscht. D i e Frage aber, ob das Buch oder der Ausspruch Wahrheit enthalte oder nicht, ob es ein Segen oder Unsegen gewesen, zum Lichte oder in die Irre geführt hat, soll nicht aufgeworfen werden, wenn auch nicht unmittelbar, mittelbar muß jede wissenschaftliche Forschung der Erkenntnis der Wahrheit dienen.

Der Einzelne darf

auf diese Anwendung und Verwertung der historischen Forschung verzichten; wenn aber die Wissenschaft als Ganzes, wenn ein Zeit­ alter grundsätzlich nur in der historischen Arbeit stecken bleibt, wenn sie die positive Befruchtung der Gegenwart und Zukunft aus ver­ meintlicher Pietät gegen

die

Vergangenheit geradezu abweist,

dann sind diese historischen Arbeiten samt und sonders eine bloße Verschwendung der geistigen Kraft des Zeitalters. Ja, diese Wissenschaft wird geradezu verächtlich und ver­ werflich, weil sie den falschen Schein erweckt, als ob die Menschen mit ihren gottverliehenen Gaben wirklich ihre Schuldigkeit täten. Sie tun ihre Schuldigkeit aber nicht, denn alles wissen von der Vergangenheit ist null und nichtig, wenn man nicht weiß, wie

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betn Gebiete des Gottesdienstes im engeren Sinne ist dies bereits in der erfreulichsten weise geschehen. An die Stelle der weltabwesenden, kulturfeindlichen Formlosigkeit ist wiederum wohlgeordnete ästhetisch geleitete, von lichter Klarheit des Gedankenvor­ trages erfüllte, durch ältere historische Quellen be­ gründete Gestaltung des Kultus hergestellt. Aber auch in bezug auf den sonstigen religiösen Gehalt, namentlich in bezug auf die Satzungen hat sich die Notwendigkeit der Abänderung seit längeren Jahren geltend gemacht. vielfache Versuche sind bekanntlich in Rabbinerversammlungen hervorgetreten. Der bedeutendste Anlauf ist dann in der Synode genommen, welche man selber denken, was man selber lehren und wie man in der Gegenwart und für die Zukunft selbst leben soll. Soviel fehlt, daß man sich jemals mit der bloßen historischen und philologischen Kritik begnügen lassen kann, daß selbst diejenigen, welche sich zu der Meinung bekennen: wie man denken, was man lehren, wie man leben solle, das wüßten allein die Früheren und aus ihnen allein können wir schöpfen; selbst diese, sage ich, sind vor die Notwendigkeit der sachlichen Kritik deshalb gestellt, weil es eben der Früheren sehr viele gibt und ihre Lehren fast in jedem Punkte weit voneinander abweichen, welchem der Lehrer im Talmud, welchem der Ausleger in späteren Zeiten man heute wirklich folgen soll — das bleibt für jeden ehrlichen Mann ein Gegenstand unaufhörlicher Prüfung. )ene allein sind wohlgeborgen, welche dem letzten Autor und dem zuletzt geübten Brauch die höchste Autorität beimessen.

9 sich zweimal versammelt hat. Das Werk der Synode ist vertagt; aber ich hege die feste Zuversicht, daß es über kurz oder lang wieder aufgenommen wird. Unser Jahrhundert ist der Entwicklung religiöser Ideen nicht günstig; auch in anderen Konfessionen sind gleichartige versuche von geringem Bestand oder Erfolg gewesen; höchstens rückschrittliche Be­ strebungen haben eine scheinbare Macht gewonnen. Die einende, vertiefende, harmonisierende Gewalt des religiösen Geistes tritt jetzt weniger und schwerer in die Erscheinung; die Menschen, und die Juden viel­ leicht am meisten, entbehren der langaushaltenden und tiefeingreifenden Energie, um die wogenden Gedanken zu gestalten, die gefühlten Bedürfnisse zu befriedigen, die widerstreitenden Ansprüche, kurz gesagt, der Pietät und des Fortschritts, der Erhaltung und der Veränderung in positiver Schöpfung aus­ zugleichen. Schon Mendelssohn hatte von den „Zusätzen und Mißbräuchen" gesprochen, welche den Glanz des Judentums nur zu sehr verdunkeln. Zuletzt hat die Synode erklärt, daß zwar „Wesen und Auf­ gaben des Judentums an und für sich dieselben bleiben; der mächtige Umschwung jedoch, der in den Anschauungen der gesamten Menschheit und der Bekenner des Judentums insbesondere sich unauf­ haltsam vollzieht, sowie die völlig veränderte Stellung desselben inmitten der Völker hat ein dringendes

_ JO Bedürfnis der Neugestaltung vieler seiner Formen hervorgerufen". „Das Judentum suche mutig und zuversichtlich jene Umwandlung ins Werk zu setzen und folge nur seinem innersten Grundtriebe, wenn es in voller Wertschätzung der von ihm bewahrten, höheren und ewigen Lebensgüter, mit aller Anerkennung und Ehrerbietung gegen die Vergangenheit nach den Er­ gebnissen ernster wissenschaftlicher Forschung bestrebt ist, das veraltete und Zweckwidrige zu beseitigen und sich im Geiste der neuen Zeit fortzubilden." Die Synode wollte ein Mrgan dieser Fortbildung sein. Unter der allseitigen Zustimmung derselben habe ich dann am Schlüsse ihrer letzten Sitzung ausgesprochen: „Das prophetische Judentum ist das Ziel, dem wir zusteuern alle Zeit. Die Synode ist nichts anderes als Vorberatung und Vorbereitung, Mithilfe zur Wiederbelebung, zur wirklichen Einführung des prophe­ tischen Judentums." Dieses Ziel liegt freilich in weiter Ferne vor uns; es zu erreichen mag Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende dauern. Dennoch, wer ein wahrer Jude, wer von ganzem Herzen Jude ist und mit offenem willigen Geist an seine Religion, an ihre Bestimmung, an den Dienst, welchen sie der Mensch­ heit zu leisten hat, denkt, muß dieses Ziel als seine höchste Hoffnung, als seine tiefste Sehnsucht vor Augen haben. Und wir dürfen die Hände nicht in den Schoß

u legen, nicht erwarten, daß das £fcil uns von außen komme. Jede Zeit hat ihre Verpflichtung an der Herbeiführung, an der Erfüllung dieses Zieles mit­ zuarbeiten. Die Entwicklung, welche das Judentum in den letzten zwei Jahrtausenden erfahren, hat es nur in zweien Beziehungen diesem Ziele näher ge­ bracht, in einer dritten hat es leider davon abgeführt. Das rabbinische Judentum hat in ethischer Beziehung eine fast ununterbrochene, gerade aufsteigende und fortschreitende Entwicklung erfahren; die geringen Ausnahmen hiervon, welche meist nur im Verhalten gegen Ungläubige und Andersgläubige stattgefunden, waren vom Druck der härtesten Zeiten erzeugt und sind mit den freieren und lichteren Zeiten wieder verschwunden. Die Ethik des Judentums steht rein und erhaben da, mit fortschreitender Idealität der kehre und Gesinnung in der Geschichte. Die Läuterung und Erhebung des menschlichen willens, feine Jucht und Sittigung, feine Veredlung durch Gesinnung, Handlung und Einrichtung, hat auch im Leben, be­ sonders aber in der kehre des Judentums seine Stätte gefunden. Sodann die eigentliche Theologie. Alles was die kultivierte Menschheit an Innigkeit des Gefühls, an Tiefe des Gedankens, an Klärung des Geistes und Wärme des Gemütes zutage gefördert, das hat zur Erhaltung, Pflege und Ausbildung des Gottes­ gedankens, des Bewußtseins von Gott in der Natur

12 und Gott in der Geschichte, beigetragen. Reich an Abstufungen, Unterschieden, Gegensätzen, hat es ge­ legentlich auch an Verketzerungen nicht gefehlt; aber im großen und ganzen sehen wir in der Gemeinde Israels eine unvergleichlich friedfertige Gedanken­ arbeit mit der stetigen Mehrung der Schätze des religiösen Geistes beschäftigt. Daneben aber hat drittens aus historisch wohl begreiflichen, aber tief beklagenswerten Ursachen in einer Beziehung, nämlich in bezug auf die praktisch­ religiösen Lebensformen, in den Satzungen und Vor­ schriften der Zeremonien viel mehr Erstarrung als Belebung, viel mehr Veräußerlichung als Verinner­ lichung stattgefunden. An Stillstand innerhalb des Judentums ist auch hier nicht zu denken; an Aus­ bildung hat es — leider — nicht gefehlt; früh be­ ginnend und lange fortgesetzt, hat eine Vermehrung, Anhäufung, Verschärfung der Vorschriften stattge­ funden. Wohl hat es an der wiederholten Forderung der innerlichen Bedeutung, der religiösen Gesinnung in der Ausübung dieser Satzungen nicht gefehlt; aber so massenhaft, so weit abliegend von dem ursprüng­ lichen Sinn und Grund des Gesetzes wurde die Übung vorgeschrieben, daß jene Forderung der Innerlichkeit für den größten Teil der Gemeinde völlig unerfüllbar und auch für die Besten und Edelsten zu einem ganz abstrakten Gehorsam gegen das Gesetz, nur weil es Gesetz ist, sich gestaltet hat. An die Stelle der Herr-

13 schaft des Gedankens, an die Stelle des Sinnes und der Bedeutung, also auch der gesinnungbildenden Kraft des Gesetzes ist die schlechthin äußerliche, durch den Buchstaben geforderte und befestigte Übung der Vorschrift getreten. Hier nun liegt die Forderung zu einer Umge­ staltung, zu einer Rückkehr des Judentums zu seinen wahren (Quellen. )n dieser Beziehung, in dem Ver­ halten zum Zeremonialgesetz ist die Erneuerung des Judentums von Grund aus und von Gottes wegen das Ziel. Nicht Neues zu schaffen ist nötig, sondern das Alte, wahre, Ewige im Judentum wieder aufzu­ suchen und ihm die Herrschaft zu gewinnen. Die gedankenvollen Gesetze sind zu juristisch-peinlichen Vorschriften, zu äußerlichen kebensregeln, zu ver­ mehrten, verschärften, umzäunten, die Gelegenheit zur Übertretung ausschließenden, jeden )rrtum ver­ hütenden Satzungen geworden. Der wahre Geist des Judentums wurde dem juristischen Scharfsinn preis­ gegeben. Daß die peinliche, nie rastende, nie sich genug­ tuende Verschärfung des ursprünglichen Gesetzes immer in gutem Glauben und in reinster Absicht geschehen, steht außer allem Zweifel. Zu untersuchen, ob und wie weit die durch das keben geschaffene sittenmäßige Ausbildung der Vorschriften durch die rabbinische Deutung des Gesetzes nur befestigt — an das Bibel-

H roort nur „angelehnt" — oder durch dieselbe hervor­ gebracht worden, ist meine Aufgabe nicht; sie wird auch in bezug auf die einzelnen Satzungen schwerlich jemals vollkommen gelöst werden. Man wird jeden­ falls als unzweifelhaft hinstellen dürfen, daß es eine lange Reihe von Abstufungen gibt, in der Art, wie bei der Aufstellung einer Vorschrift auf die Frage: „woher dies" mit einem Bibelwort und seiner Deutung geantwortet wird, von der einfachen Anführung des in der Bibel enthaltenen Gesetzes bis zur flüchtigsten Anlehnung erscheint da der gleiche Gebrauch eines Wortes an zwei verschiedenen Stellen, oder die einfache Wiederholung in der Schrift, die Deutung eines überflüssigen Wörtchens oder einer Silbe, die sonst gleichgiltige grammatische Form als angebliche Ursache für die neue Satzung. Niemand wird behaupten wollen, daß der eigent­ liche Grund des Gesetzes jemals darin enthalten ist1). Das Schlimmere ist, daß sich die wirkliche Ursache *) Drei hauptfälle kann man im allgemeinen leicht von­ einander unterscheiden; erstens ein anderweitig gefundener Inhalt wird in eine deutbare tDortform (ober ein Formwort) hineingedeutet (so die meisten Deutungen des Ptt, welches als Dbjektzeichen auch entbehrt werden kann). Niemand wird glauben, daß di« weitere Ausbildung des Familiengedankens in der Ver­ ehrung des älteren Bruders, oder die Ehrfurcht vor dem Lehrer wirklich aus dem PK — in "pstt Ptt 133 („Ehre deinen Vater", Exod. 20, . Kautelen 16. Kochen und Backen 69.

Kodifikation m . Koheleth 25. Kollisionen zwischen Kulturbestre­ bungen und Gesetzesvorschrif ten 106. Konfessionelle Schranken 62. Königsberg, 5., Verfasser des . israel.-böhmischen Gebetbuches j 87. 1 Kontroverse wegen des Sch'ma i' Krakau, Zeitungsnotiz aus, 57. J Kritik der Juden IX; schweigsame j IX; bistorische und philologische j m; sachliche VII; Mangel an : Selbstkritik, . | Kultur 18, 5M ff., 51, uh». I Kulturfeindliche Formlosigkeit 8, ()7. Kulturgedanken im ff., 105. Kunst; versuche Gott darzustellen >7; Beziehungen zur Synagoge 4M; zum Privatbaus 50; mo derne jüdische 48. Kunstausdruck für „Seligkeit im jenseits" 5t. Rabbinen, hoch- und freigesinnte VII.

Rabbinerversammlungen s, 98. Rabbinismus 23; was er geleistet 24: der nachtalmudische 25; logische Feinheit und juristische Schärfe 5t. Raphael 47. Raschi 57. Redeweise, direkte, am Sabbath verboten 30.

Reform, 38.

Sabbathruhe 29, 35.

Reformbestrebungen tue.

| Sabbathschändung 51.

Reformsynagogen in Amerika tou. | Salz der Erde VIII. Reiten und Fahren 66 f.; tosf. i Satzungen, die „an den StririchelRektoratsrede, Berner IX. chen der Buchstaben hängen n" 95. Religion, was sie fordert so; was sie soll 8 \; was sie kann 8 \ f. Religionsgesetze? 7; künstl.schaffen, verbietet die Vernunft, 76. Religionspolizei 8t. Religiöse

Gesinnung

Scharfsinn, juristischer 85. Schosarblasen 86 ff. Scholastik t6, 60. Schreiben am Sabbath 52. Schulchan Aruch VI; t9, 4V, 77,

tos; ihre

Wirksamkeit t09 f. Religiöser Geist und seine Ge­

83, 98, t03, to*. Schulen des Pilpuls 58. „Schutt der Jahrhunderte" e. •.

walt 8t. Rema 35 f.

Simon den Nathanael 90.

Renan 24.

Sophistik klügelnde 94.

Sitte des Friedens 62.

Rückkehr zu den Vuellen 13.

Sorge der Übertretung toe. .

Rückschritt 9 ff.

Statuen, ob sie geduldet we'erden

Rückschrittliche Bewegungen 9.

dürfen,

Ruhetag,

Ehre oder zu götzendienerisischen

sabbathlicher 29; sein

Wert und Erfolg 27.

4t;

als Zeichen l der

Zwecken V Tradition, echt jüdische io*. Traditionelle Satzungen ioo. Traktat Makkoth 55. Treu und Frei 3. Treue der Überlieferung wird nur dem Worte bewahrt 52. Trieb zur Arbeit 2. Tun, äußerliches VII. Überlieferung 2. Übertretung eines Gebotes 105. Umschwung in den Anschau­ ungen 100. Umzäunung des Gesetzes 66, 105. Ungarische Rabbiner, der, 32; sein Gutachten über das Schreiben am Sabbath 33 ff. Untergang des Opferkultus vn. Unsere Pflicht 3, 98. Unwahrheit 92. Ursprung der rabbinischen Ver­ mehrungen, Verschärfungen 2 1; Erfolg derselben 2\. Urteil, falsches 97,

„Verdacht" der Übertretung 4« 72. Verfall späterer Zeiten 52, 55, 60, 62. Verhältnis der Juden zur plasti­ schen Kunst 51. Verherrlichung des3udentums 97. Verjüngung des Lehrgehalts 7. Verklausulierung,juristische,welche gestattet, was sie verbietet, und verbietet, was sie gestattet 4. Zinsnehmen r»7, und die Hininznfügung des Talmuds. Zunz, Leopold 3. Zurückgehen auf die (Quellen 1 des Talmuds 52. Zusätze und Mißbräuche 9. Zweck der Handlung 104. Zweck des Gesetzes iu7.

Schlußbeinerkung. )h habe dem Text von Lazarus nichts hinzugefügt als dis von mir verfaßte Inhaltsverzeichnis und Regster; jenes, weil ich die Aapiteleinteilung ver­ mißt«; aber die Schrift meines Mannes war mir nicht nur nhaltlich, sondern auch buchstäblich heilig, daher ich