Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie 9783495999752, 9783495492611


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Siglen
Einleitung und Überblick
I. Teil: Der Ansatz der phänomenologischen Psychologie
1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Verbindung zwischen Phänomenologie und Psychologie
1.1 Bewusstseinspsychologie
1.2 Auf der Suche nach dem Seelenleben
1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft
2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg
2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht
2.2 Phänomenologie und Erscheinung
2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes
2.4 Zwischen den Bewusstseinspsychologien
3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie in statischer und dynamischer Betrachtung
3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung
Wesen
Erfahrung
Bedeutung
3.2 Das statische Verständnis der Psychologie
Ereignis
Wirkungszusammenhang
Subjekt
3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses
Erfahrung – Ereignis
Wesen – Wirkungszusammenhang
Bedeutung – Subjekt
4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung
4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie
4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie
4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie
5. Phänomenologie in der Psychologie
5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici
5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie
5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie
5.4 Phänomenologische Einzelgänger
II. Teil: Der Anspruch der Erneuerung
6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie
6.1 Kognition
6.2 Funktion
6.3 Information
7. Das Programm
7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie
7.2 Phänomenologische Geltungstheorie für die Experimentalpsychologie
7.3 Realpsychologie als Forschungsart
7.4 Phänomenologische Messtheorie als Methodologie
8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle
8.1 Das Leistungsproblem
8.2 Pragmatismus und Teleologie
8.3 Bedeutung der Analyse für den ersten Programmpunkt
9. Antwort auf den kritischen Rationalismus
9.1 Gegen den Intuitionismusvorwurf
9.2 Der wissenschaftstheoretische Diskurs
9.3 Bedeutung der Analyse für den zweiten Programmpunkt
10. Von Linschotens zurück zu Schelers Idolen
10.1 Exkurs: Psychologie und Anthropologie
10.2 Die Idole der Psychologie
10.3 Bedeutung der Analyse für den dritten Programmpunkt
11. Emanzipation der Zahlen
11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen
11.2 Bedeutung der Analyse für den vierten Programmpunkt
Abschluss
Literatur
Gesamtausgaben
Einzelwerke
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Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie
 9783495999752, 9783495492611

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Schriftenreihe der DGAP

Alexander Nicolai Wendt

Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Schriftenreihe der DGAP Herausgegeben von Thomas Fuchs Thiemo Breyer Boris Wandruszka Stefano Micali

Band 11

Alle Beiträge zu dieser Reihe durchlaufen vor der Annahme ein peer-review. https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Alexander Nicolai Wendt

Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

© Titelbild: M  ariangel Beatriz Mendoza de Wendt (2020), Acryl auf Leinwand, 60 cm x 40 cm, ohne Titel.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49261-1 (Print) ISBN 978-3-495-99975-2 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Dem Andenken Carl Friedrich Graumanns gewidmet

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Vorwort des Autors

Dieses Buch ist eine methodologische Programmschrift für die phä­ nomenologische Experimentalpsychologie. Methodologie ist die sys­ tematische Kenntnis von den Wegen, auf denen sich die Wissen­ schaft bewegt, wobei die Methode – von μετά und ὁδός – der Weg zu einem Ort, unserem Ziel, ist. Die folgende Darstellung richtet sich an Psychologinnen und Psychologen, die sie auf den Weg der phänomenologischen Psychologie führen möchte, und an phänome­ nologische Philosophinnen und Philosophen, denen der Weg der psychologischen Phänomenologie nahegelegt werden soll. Dass diese beiden Wege eigentlich ein einziger unter verschiedenen Namen sind, nämlich der dritte Weg der Bewusstseinspsychologie, der jenseits von Subjektivismus und Objektivismus, von Idealismus und Realismus oder von Naturalismus und Logizismus verläuft und auf dem Psycho­ logie und Phänomenologie sich entgegenkommen, soll im ersten Teil des Buches gezeigt werden. Der Begriff der ›phänomenologischen Experimentalpsychologie‹ droht Widerspruch auf den Plan zu rufen, doch dies gehört zu den notwendigen Gefahren am Wegesrand, denen es die Stirn zu bieten gilt. Hinter dem fraglichen Begriff verbirgt sich ein kontroverses Projekt, in dem es sich durch das wissenschaftstheoretische Dickicht zu schlagen gilt und das den Orientierungs- zum Wettlauf mit alterna­ tiven Forschungsprogrammen, sogar mit anderen Ansätzen innerhalb der phänomenologischen Psychologie werden lässt. Programmschrift heißt also nicht Marschplan für einen geordneten Ablauf, sondern ist Skizze für die Kartierung wissenschaftlicher terra incognita. Diese Skizze, das Programm für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie, wird im zweiten Teil des Buches entwickelt. Wer den Pfad einer phänomenologischen Experimentalpsycho­ logie beschreiten möchte, wird die Herausforderungen der eingeschla­ genen Route vor und nicht als bewältigte hinter sich finden, denn sie führt über unwegsames Gelände. Es reicht nicht, bei methodolo­ gischen Entwürfen stehenzubleiben. Im Gegensatz zur phänomeno­ logischen Psychologie des 20. Jahrhunderts, die oftmals in der Refle­

7 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Vorwort des Autors

xion, also im heimischen Lehnstuhl, verharrt ist, statt den Aufbruch in die Experimentalforschung zu wagen, steht hier der Anspruch im Mit­ telpunkt, die Psychologie als empirische Wissenschaft zu verändern. Das Programm weist also auf Erhebungen, Experimente und sogar Messungen voraus, die wie zu erklimmende Bergketten am Horizont der phänomenologischen Bewegung stehen. Die Zuversicht für das Projekt entstammt einer ersten Erpro­ bung. Der ursprüngliche Gedanke entspringt nämlich nicht nur der Analyse der Wissenschaftsgeschichte und der systematischen phänomenologischen Untersuchung, sondern auch der experimental­ psychologischen Forschung. Mit der Phänomenologie des Problems (Wendt 2019a; 2020a) liegt ein erster Ausflug in das Gebiet der phänomenologischen Experimentalpsychologie vor, dessen Vorarbeit nun aufgegriffen wird. Es hat sich bereits gezeigt, dass die Reise nicht aussichtslos in Sackgassen führt. Bis der Weg verlässlich befestigt sein wird, liegt jedoch noch viel Arbeit vor uns. Die vier Programmpunkte, die das Herzstück dieses Buches darstellen, wollen den Pionieren einer phänomenologischen Experimentalpsychologie einen Finger­ zeig für die Richtung geben, in der eine bessere Psychologie liegt. Ob wir auf der richtigen Fährte sind, wird die Zukunft erweisen. Mit der Aufnahme in die Schriftenreihe der Deutschen Gesell­ schaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psy­ chotherapie im Karl Alber Verlag wird dieser Arbeit durch die Ein­ gliederung in einen Zusammenhang strenger und gewissenhafter phänomenologischer Forschung Ehre zuteil. Mein Dank gebührt an erster Stelle Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs für seine zuverlässige, geist­ reiche und fürsorgliche Betreuung bei der Weiterentwicklung meines Ansatzes sowie Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Funke für die langjährige Förderung in der Psychologie. Ferner möchte ich den Herren Prof. Dr. Horst Gundlach, Dr. Alexandre Métraux und Prof. Dr. Dr. Uwe Wolfradt meinen Dank für zahlreiche Gespräche über die Frage der phänomenologischen Psychologie und die Geschichte der Wissen­ schaft aussprechen. Eine geistige Freundschaft, die mein Denken über die Sache beeinflusst hat, verbindet mich mit Hannes Wendler. Auf geistige Mitstreiter wie ihn und Josh Joseph Ramminger wendet sich meine Hoffnung, die Idee der Erneuerung in die Tat umzusetzen. Überdies bedanke ich mich bei den drei Lektorinnen aus der Sektion Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie der Uni­ versität Heidelberg, Miriam Feix, Mailin Hebell-Dowthwaite, und

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Vorwort des Autors

Monika Knack. Ergebenen Dank verdient meine Frau, ohne deren Liebe ich die Kraft für diese Arbeit nicht gehabt hätte. Alexander Nicolai Wendt

Heidelberg

9 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Inhaltsverzeichnis

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I. Teil: Der Ansatz der phänomenologischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Verbindung zwischen Phänomenologie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1.1 Bewusstseinspsychologie

. . . . . . . . . . . . .

1.2 Auf der Suche nach dem Seelenleben

31

. . . . . . .

42

1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft

47

2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

63

2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht . .

66

2.2 Phänomenologie und Erscheinung . . . . . . . . .

76

2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes . . . . . . . . . . . . . .

82

2.4 Zwischen den Bewusstseinspsychologien . . . . .

91

3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie in statischer und dynamischer Betrachtung . . . . . . . . . . . . . .

95

3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung Wesen . . . . . . . . . . . . . Erfahrung . . . . . . . . . . . Bedeutung . . . . . . . . . . .

. . . .

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96 98 102 106

11 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Inhaltsverzeichnis

3.2 Das statische Verständnis der Psychologie Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungszusammenhang . . . . . . . . Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

108 110 111 113

3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses . . Erfahrung – Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . Wesen – Wirkungszusammenhang . . . . . . . . Bedeutung – Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . .

115 118 121 123

4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie . .

130

4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie . . .

142

4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie . . . . . . . . . . . . .

149

5. Phänomenologie in der Psychologie . . . . . . . . .

157

5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici . . . . .

161

5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie . . . . . . . . . .

175

5.4 Phänomenologische Einzelgänger . . . . . . . . .

183

II. Teil: Der Anspruch der Erneuerung

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . . . . . . . .

195

6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie . . . . . . . . . . . . . . .

197

6.1 Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

6.2 Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

6.3 Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

7. Das Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

12 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Inhaltsverzeichnis

7.2 Phänomenologische Geltungstheorie für die Experimentalpsychologie . . . . . . . . . . . . .

248

7.3 Realpsychologie als Forschungsart . . . . . . . . .

251

7.4 Phänomenologische Messtheorie als Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle . .

259

8.1 Das Leistungsproblem . . . . . . . . . . . . . . .

262

8.2 Pragmatismus und Teleologie . . . . . . . . . . .

273

8.3 Bedeutung der Analyse für den ersten Programmpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

9. Antwort auf den kritischen Rationalismus . . . . .

281

9.1 Gegen den Intuitionismusvorwurf . . . . . . . . .

282

9.2 Der wissenschaftstheoretische Diskurs

. . . . . .

284

9.3 Bedeutung der Analyse für den zweiten Programmpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

290

10. Von Linschotens zurück zu Schelers Idolen . . . . .

291

10.1 Exkurs: Psychologie und Anthropologie . . . . . .

294

10.2 Die Idole der Psychologie . . . . . . . . . . . . .

307

10.3 Bedeutung der Analyse für den dritten Programmpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

11. Emanzipation der Zahlen . . . . . . . . . . . . . . .

315

11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen . . .

315

11.2 Bedeutung der Analyse für den vierten Programmpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Gesamtausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331 331

13 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Siglen

GGW

Gadamer Gesammelte Werke

HGA

Heidegger Gesamtausgabe

Hua

Husserl Gesammelte Werke (Husserliana)

SGW

Scheler Gesammelte Werke

15 https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

https://doi.org/10.5771/9783495999752 .

Einleitung und Überblick

Phänomenologische Psychologie ist das Thema dieses Buches. Das Hauptwort ›Psychologie‹ gehört zum alltäglichen Sprachgebrauch, denn die Disziplin der Psychologie ist ein integraler Bestandteil unseres gesellschaftlichen Selbstbewusstseins. Konzepte wie Persön­ lichkeit, Intelligenz oder Konditionierung gehören heutzutage zum Kanon der Selbstverständigung in westlich geprägten Kulturen. Was aber hat es mit dem Beiwort ›phänomenologisch‹ auf sich? Mit einem flüchtigen ersten Blick betrachtet muss es wie eine qualitative Bestimmung wirken. Wenn dem so wäre, würde dieses Buch von einer speziellen Form handeln, Psychologie zu betreiben. Das könnte etwa eine Psychologie sein, die betrachtet, wie sich Menschen verhalten, wenn sie mit einem ›Phänomen‹ konfrontiert sind. Bereits auf den zweiten Blick, der kursorisch von der Geistesgeschichte Kenntnis nimmt, offenbart sich die ›Phänomenologie‹ allerdings als eine Denkund Forschungsrichtung, die zumeist als der Philosophie zugehörig betrachtet wird. Phänomenologische Psychologie kann auf Grundlage dieser Kenntnis als ein interdisziplinäres Projekt aufgefasst werden: Philosophie und Psychologie treten in einen Dialog. Es ginge in diesem Buch nach dieser Lesart um eine philosophisch informierte Weise, psychologisch zu arbeiten. Es bedarf allerdings eines dritten Blickes, um die Faszination der phänomenologischen Psychologie begreiflich zu machen. Wer die Geschichte der Geistesströmung, die Phänomenologie heißt, genauer untersucht, entdeckt, dass sie sich mit Themen auseinandersetzt, die ohne Weiteres als psychologisch betrachtet werden können, etwa dem Bewusstsein, der Wahrnehmung oder dem Denken. Sie kann in dieser Hinsicht als eine psychologische Philosophie bezeichnet werden. Mehr noch: Die Phänomenologie entstand in einer Zeit, in der die Psychologie noch nicht als eigenständige Disziplin existierte, nämlich am Ende des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich bei der Psychologie um einen Forschungsbereich innerhalb anderer Disziplinen, insbesondere der Philosophie. In diesem Sinne ist von philosophischer Psychologie die Rede. Kurzum: Phänomenologie ist

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Einleitung und Überblick

zu einem gewissen Grad selbst Psychologie. Beide Begriffe stehen also nicht etwa nur in einem äußerlichen Verhältnis zueinander, das im ›Zwischen‹ der Interdisziplinarität seinen Ausdruck findet. Die wis­ senschaftliche Textur, die beide miteinander verbindet, ist komplexer und mehrdeutiger, als auf den ersten oder zweiten Blick deutlich wird. Dementsprechend dient der erste Teil dieses Buches der spezifischen Klärung des Grundverhältnisses zwischen Phänomenologie und Psy­ chologie. Er umfasst fünf im Folgenden kurz skizzierte Kapitel: 1.

2.

Wenn wir uns der phänomenologischen Psychologie widmen, dann geht es uns nicht allein darum, eine spezifische Weise psychologisch zu arbeiten vorzustellen. Der Anspruch ist im Gegenteil, die Psychologie als Ganze zu thematisieren und eine Gegenperspektive zu zeitgenössischen Weisen der Forschung aufzuzeigen. Phänomenologische Psychologie ist eine grund­ sätzliche Alternative zum Paradigma der psychologischen For­ schung und Praxis, das sich im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte durchgesetzt hat und etwa als ›Operationalismus‹ bezeichnet werden kann (vgl. Herzog 1992; Scheerer 1985). Um zu verstehen, was das bedeuten kann, müssen allerdings mehrere Voraussetzungen geschaffen werden. Die Schaffung dieser Voraussetzungen ist anspruchsvoll, weil für sie weder in der Psychologie als empirischer Wissenschaft noch in der Philosophie etablierte Diskurse existieren. Allenfalls die Gebiete der Wissenschaftstheorie und -geschichte bieten einen angemes­ senen, aber nur allgemeinen Rahmen. Erforderlich ist eine spezi­ fische Untersuchung der fundamentalen Eigenschaften der Psy­ chologie als Wissenschaft in ihrer Entstehung und Entwicklung. Bevor über den Beitrag der phänomenologischen Psychologie zur Familie der Wissenschaften gesprochen werden kann, bedarf es eines geistesgeschichtlichen Überblicks, der die Präsuppositio­ nen der psychologischen Forschung, also ihre unhinterfragten Voraussetzungen, expliziert. Diesem Zweck widmet sich das erste Kapitel. Der Begriff der Phänomenologie ist älter als die phänome­ nologische Bewegung. Eine schillernde Prägung findet er in Hegels Phänomenologie des Geistes, doch Schuhmann führt den Ursprung der Begriffsverwendung bis zur Mitte des 18. Jahrhun­ derts zurück (Schuhmann 1984). Auch Orth betont, dass der Begriff bereits bei Lambert und Kant angeführt wird (Orth 1982), ohne jedoch zu verschweigen, dass die modernere Begriffsprä­

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Einleitung und Überblick

3.

gung durch Husserl keine Kontinuität zu diesen Kontexten auf­ weist und allenfalls mit seinem Lehrer Brentano in Verbindung gebracht werden kann. Wichtiger als die Begriffsgeschichte und die Etymologie der Phänomenologie ist hingegen die Vordenker­ schaft. Freilich kann die Phänomenologie als philosophia perennis zum Motiv der gesamten Geistesgeschichte erklärt werden, wie es beispielsweise Seifert getan hat (Seifert 2015). Im engeren Sinne sind allerdings einige Denkströmungen im 19. Jahrhundert zu benennen, die die Entwicklung der phänomenologischen Bewegung wesentlich begünstigt haben. Der Konturierung der phänomenologischen Psychologie vor diesem geistesgeschichtli­ chen Hintergrund dient das zweite Kapitel. Neben der historischen Betrachtung der phänomenologischen Bewegung ist uns hier auch eine systematische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Psychologie von Nutzen. Im Mittelpunkt steht dabei die Perspektive, wie das scheinbar äußerliche Verhältnis zwischen rein wissenschaft­ licher Psychologie und rein philosophischer Phänomenologie dynamisiert werden kann. Nur dann, wenn anerkannt wird, dass Psychologie inhärent darauf angewiesen ist, ihre Grundlagen zu diskutieren, kann das Potenzial der phänomenologischen Psychologie erschlossen werden. Wer diese bloß für eine Form der Theoriebildung hält, übersieht, dass die Problematiken, die von der Phänomenologie thematisiert werden, die Rechtferti­ gung und Ausrichtung der Psychologie überhaupt betreffen. In anderen Worten: Es darf in der Psychologie nicht nur um einen Wettstreit von Theorien gehen, deren Dignität an der Vorher­ sage empirischer Daten gemessen wird (dazu: Wendt & Funke 2022). Diese positivistische Minimalform der Wissenschafts­ theorie verkennt, dass die Psychologie eine Sonderstellung unter den Wissenschaften einnimmt. Es gibt keine Evidenz dafür, dass menschliches Handeln, Verhalten oder Erleben einfache Ereignisse im Zusammenhang der Naturkausalität seien. Es besteht vielmehr begründeter Anlass, dies zu bezweifeln, und phänomenologische Psychologie zu betreiben bedeutet, sich mit diesem Umstand in der psychologischen Forschung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Daher ist erforderlich, auf Ebene der theo­ retischen Psychologie den Anschlusspunkt für den phänomeno­ logischen Diskurs zu artikulieren. Das dritte Kapitel verfolgt dieses Ziel.

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Einleitung und Überblick

4.

5.

Was ist der Unterschied zwischen phänomenologischer Psycho­ logie und psychologischer Phänomenologie? Gerade weil die Geschichte von Psychologie und Phänomenologie innig verwo­ ben ist, gibt es keine triviale Antwort auf diese Frage. Phänome­ nologie ist jedoch, ungeachtet der elementaren Verbindung mit der Psychologie, zunächst eine philosophische Geistesströmung. Es ist wichtig, dies zu betonen, um das Missverständnis zu ver­ meiden, alle Phänomenologie sei phänomenologische Psycholo­ gie. Diese terminologische Differenz wird im zweiten Kapitel erläutert werden. An dieser Stelle sei jedoch schon einmal eine Andeutung gegeben: Phänomenologie, die psychologisch ist – also Philosophie mit psychologischer Thematik –, ist nicht, was hier mit phänomenologischer Psychologie gemeint sein soll. Fast alle Phänomenologie ist psychologische Phänomenologie, nicht aber phänomenologische Psychologie. Das bedeutet, dass das Psychische in beinahe sämtlichen philosophischen Untersu­ chungen der Phänomenologie relevant ist. Phänomenologische Psychologie ist aber nicht allein philosophische Reflexion auf das Psychische. Es handelt sich um psychologische Arbeit im metho­ dologischen Sinne. Es bedarf also einer historischen Klärung der Frage, in welchem Teil der phänomenologischen Bewegung die Psychologie als empirische Wissenschaft anschlussfähig sei. So lässt sich artikulieren, worin der alternative phänomenologische Ansatz für die psychologische Forschung eigentlich besteht. Eine Voraussetzung ist die Bestimmung der unterschiedlichen Ansätze innerhalb der psychologischen Phänomenologie, die im vierten Kapitel erfolgt. Das fünfte Kapitel schließlich stellt die bisher verfügbaren For­ men der phänomenologischen Psychologie im Einzelnen vor.

Die phänomenologische Orientierung in der Psychologie hat in der Gegenwartswissenschaft eine untergeordnete Rolle. Man könnte durchaus sagen, dass sie als ein Paradigma der Psychologie im späten 20. Jahrhundert aufgegeben worden ist. Es wäre nun blauäugig zu meinen, dass sie in unveränderter Form wieder einen konstruktiven und kritischen Beitrag zum künftigen wissenschaftlichen Projekt der psychologischen Forschung zu leisten imstande wäre. Es bedarf vielmehr – und dies ist die zentrale These dieses Buches – einer Überarbeitung, Veränderung, Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. Das bedeutet allerdings keine unterwürfige Anpassung oder einen faulen Kompromiss. Es geht darum, nicht nur phänome­

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Einleitung und Überblick

nologisch über die Psychologie zu sprechen, sondern zuallererst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, mit der Psychologie ins Gespräch zu kommen und sodann in der gesamten Psychologie neue Impulse zu setzen. Dafür ist es unabdingbar, die phänomenologische Psychologie zu aktualisieren und zu reformieren, sodass sie die Thematiken der Gegenwartspsychologie zu adressieren vermag und die Missstände der Vergangenheit überwindet. Der Weg, auf dem dieser Beitrag erreicht werden kann, ist die ›Erneuerung der phänomenologischen Psychologie‹. Ihr Programm zu entwickeln und zu rechtfertigen ist in diesem Buch das Vorhaben des zweiten Teils. 6.

7.

Die phänomenologische Psychologie kann als Herausforderin der vorherrschenden Untersuchungsart in der Psychologie nur dann auftreten, wenn deren Kritikwürdigkeit nachgewiesen wird. Eine phänomenologische Kritik der Experimentalpsycho­ logie gehört jedoch bisher nicht zum Kern des disziplinären Diskurses. Weil die Einheit der Psychologie gegenwärtig nicht durch ein nomologisches Netzwerk gewährleistet wird, das als einheitliches Fundament der Forschung gelten könnte, sondern allenfalls durch institutionelle Kontinuität sowie methodischen Konsens und folglich ohne systematischen Anspruch auf Not­ wendigkeit aufrechterhalten wird, ist auch für die Kritik an der Grundlagenforschung kein etabliertes Muster verfügbar. Das sechste Kapitel versucht einen Spielraum für diese Kritik zu erschließen. Dafür werden die Kernbegriffe Kognition, Funk­ tion und Information in Frage gestellt, die gemeinhin im Sinne Eugen Finks als ›operative Begriffe‹ (vgl. Fink 1957) gebraucht werden, also als Begriffe, die zur Erklärung verwendet, aber selbst nicht bestimmt werden. Sobald eine Angriffsfläche etabliert und die Fragwürdigkeit der experimentalpsychologischen Präsuppositionen aufgezeigt worden ist, wird die Tauglichkeit eines Gegenprogramms ersichtlich. Es kann dies allerdings nicht der Ort sein, die Versprechen einer gelungenen Alternative einzulösen – viel­ mehr wird dieses Versprechen überhaupt erst gegeben. Das siebente Kapitel dient dazu, die vier zentralen Programmpunkte für die ›Erneuerung der phänomenologischen Psychologie‹, die sich mit den Schlagwörtern radikale Phänomenologie, phäno­ menologische Geltungstheorie, Realpsychologie und phänomeno­ logische Messtheorie zusammenfassen lassen, zu artikulieren. Sie sind als Vorschläge für Bemühungen zu verstehen, die

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Einleitung und Überblick

in der phänomenologischen Bewegung unternommen werden müssen, um Einfluss in der Experimentalpsychologie gewinnen zu können. Das erklärte Ziel der Bestrebungen ist es also, nicht nur einen kritischen Blick von außen auf die Theorie und Praxis in der Psychologie zu werfen, sondern sie inwendig neu zu gestalten. 8.–11.Die Kapitel acht bis elf entwickeln die jeweiligen Programm­ punkte anhand von Einzelanalysen. Soweit ein erster Überblick. Insgesamt verfolgt dieser Band zwei Ziele, denen seine beiden Hauptteile entsprechen: a)

b)

Einerseits soll er verdeutlichen, dass die disziplinäre Identität der Experimentalpsychologie fragwürdig ist. In diesem Sinne ist die Arbeit – und auch die phänomenologische Psychologie selbst – als Beitrag zur theoretischen Psychologie zu verstehen. Die kontinuierliche historische Emanzipation der Psychologie als empirischer Wissenschaft ist vielleicht institutionell gefes­ tigt, aber nicht systematisch. Damit ist gesagt, dass die Bedeu­ tung der psychologischen Forschung selbst nicht allein in der Summe ihrer empirischen Befunde liegt. Vielmehr stehen jedes Experiment und jede Beobachtung im Zusammenhang eines epistemologischen, anthropologischen und sogar ontologischen Unterbaus. Wer ihn nicht expliziert, vertraut sich ihm implizit an – verfährt mithin alltagspsychologisch. Psychologie ist auch als Experimentalpsychologie auf ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen zurückverwiesen und diese Grundlagen sind nichts mehr als kontrovers. Es ist unabdingbar, den wissenschaftstheo­ retischen Diskurs innerhalb der Psychologie zu betreiben, um Theoriebildung nicht für eine Selbstverständlichkeit zu halten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, so spezialisiert sie auch sein mögen, sollten auf die konzeptuellen Fundamente ihrer Untersuchungen bedacht sein und müssen sich daher in den Grundlagendiskurs ihrer Disziplin einbringen – dies ist das theoretisch-psychologische Plädoyer dieses Bandes. Andererseits soll der besagte grundlagenwissenschaftliche Dis­ kurs der Psychologie belebt werden, indem in ihm eine phänome­ nologische Position erneuert wird. Der Wert dieses Ansinnens ist es allerdings nicht, anstelle des (teilweisen) kognitivistischen Konsens‘ der Gegenwart einen phänomenologischen zu fordern. Stattdessen geht es uns um einen Pluralismus, dessen Wesen es

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Einleitung und Überblick

ist, die Kontroverse zwischen echten theoretischen Alternativen auszutragen. Die Rückbesinnung auf die Psychologiegeschichte hat also nicht nur die Funktion einer Kontextualisierung, son­ dern auch der Sichtbarmachung von Sollbruchstellen im proviso­ rischen Kit des porösen wissenschaftstheoretischen Fundaments, das sich mit einer pragmatischen Grundhaltung der Experimen­ talpsychologie in ihrer gegenwärtigen Lage identifizieren lässt. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Programmschrift, die den Geist der Erneuerung in die Psychologie zu tragen trachtet. Die Phä­ nomenologie wird dabei als eine Haltung zur Psychologie überhaupt verstanden, nicht als eine Teildisziplin. Phänomenologische Psycho­ logie betreibt die Psychologie – in allen ihren Bereichen – phänome­ nologisch. Für die empirische Psychologie der Gegenwart bedeutet dies zunächst, dass ihre strukturellen Probleme und Widersprüche aufgegriffen werden. Doch die Phänomenologie ist wesentlich mit dem Schicksal der Psychologie verwoben, sie steht nicht neben oder über ihr, sondern in ihr. Der Umstand, dass die phänomenologische Bewegung bisher heteromorph und heterodox geblieben ist, also diverse Positionen umfasst, ist mit der Unschärfe der Psychologie ursprünglich verbunden. Erst wenn die Psychologie die Offenheit, die in ihrer Gründungszeit bestanden hat, als Aufgabe wieder aufgreift, kann auch die Phänomenologie ihr Potenzial entfalten. Der Weg der Erneuerung ist nicht der Weg der Rückkehr, son­ dern der Verjüngung und Renaissance. Dass die Diskurspraktiken der philosophischen Phänomenologie nicht ausgereicht haben, um die Psychologie zu prägen, ist kein Versagen der Psychologie als Disziplin selbst, sondern der Phänomenologie als Bewegung. Die Antwort auf diesen Umstand kann weder Ignoranz noch philosophischer Hochmut sein. Nur wenn es der phänomenologischen Psychologie gelingt, einen originären Beitrag zur Psychologie zu leisten, kann sie erfolgreich sein. Die philosophische Plausibilität wird nicht genü­ gen, um den Ursprung der modernen Wissenschaft einzuholen. Der Beitrag der Phänomenologie zur Psychologie muss jenseits von epis­ temologischem Fundamentalismus und Szientismus liegen (dazu: Ginev 2016). Deswegen ist das Prinzip der erneuerten phänomenolo­ gischen Psychologie die radikale Selbstprüfung mit dem Maßstab, das ursprüngliche Potenzial der Psychologie in der Gegenwart zu verwirk­ lichen. In diesem Sinne ist das Programm der Erneuerung auch ein Plädoyer für die Beseitigung der Indifferenz der phänomenologischen Philosophie gegenüber der Lage der Experimentalpsychologie. Erst

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Einleitung und Überblick

in einer erfolgreichen phänomenologischen Psychologie wird auch die phänomenologische Philosophie ihre Potenziale vollständig aus­ schöpfen.

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I. Teil: Der Ansatz der phänomenologischen Psychologie

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Verbindung zwischen Phänomenologie und Psychologie

Der Begriff der phänomenologischen Psychologie ist unhandlich. Er verbindet zwei erklärungsbedürftige Glieder, deren Verständnis nicht ohne Kenntnis der jeweiligen Geistesströmungen möglich ist. Zudem hat der Begriff keine eindeutige Konnotation: Wie im Vexier­ bild lässt sich ›Phänomenologie‹ oder ›Psychologie‹ betonen. Wer jener den Vorrang eingesteht, was in der Philosophie naheliegt, denkt womöglich an eine Strukturanalyse des Erlebens und damit an eine Phänomenologie des Psychischen. Demgegenüber mag sich naturwissenschaftlich Orientierten die entgegengesetzte Idee einer gegenstandsangemessenen Beschreibung der zu erklärenden kogniti­ ven Phänomene aufdrängen, also eine Experimentalpsychologie, die sich den Phänomenen zuwendet. Wie wiederholt betont worden ist (etwa Herzog 1992), sieht sich die Begriffsklärung der phänomenolo­ gischen Psychologie diversen Missverständnissen ausgesetzt. Statt ein Vorverständnis anzunehmen, soll an dieser Stelle ein argloser und deswegen offener Zugang zum Thema gewählt werden: Schritt für Schritt entsteht uns so neu ein Bild vom geistesgeschichtlichen Anspruch der phänomenologischen Psychologie, das die Schwerfäl­ ligkeit des ursprünglichen Ausdrucks hinter sich lässt. Ganz im Sinne des phänomenologischen Selbstverständnisses wollen wir uns also von allen Vorannahmen und -urteilen befreien, um uns dem Thema dieses Buches zu nähern. Unser Anhaltspunkt bleibt allerdings die Begrifflichkeit und ihre Geschichte. Wer sich unabhängig von der alltäglichen Vertraut­ heit mit der Bezeichnung ›Psychologie‹ auf sie besinnt, bemerkt ihren denkwürdigen Wortsinn: Es handelt sich um einen Gräzismus, nämlich ein Kompositum, das sich nicht ohne Mehrdeutigkeiten als ›Kunde‹ oder ›Lehre von der Seele‹ übersetzen lässt. Vor dem nackten Auge muss die Spezifizierung durch das Beiwort ›phänome­ nologisch‹, das analog als ›zur Lehre von den Erscheinungen gehörig‹

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

bzw. ›von der Art der Erscheinungskunde‹ übersetzt werden müsste, wie eine Anmaßung wirken. Was kann eine ›Lehre von der Seele nach Art der Kunde von den Erscheinungen‹, gewissermaßen eine erscheinungskundige Seelenlehre, schon bedeuten? Die Antwort auf diese Frage muss denjenigen, die sich auf ihr alltägliches Begriffs­ verständnis verlassen, ein Mysterium bleiben, denn allenfalls mit wissenschaftshistorischer Kenntnis lässt sich der Sinn hinter dem scheinbaren Unsinn des Begriffs aufzeigen. Nichtsdestoweniger hilft der Übersetzungsversuch, zu verstehen, an welcher Kernfrage der phänomenologischen Psychologie gelegen ist: Gibt es etwas an der Seele, das zur Erscheinung gebracht werden kann? Das Bedenken, das diese Frage allseits hervorrufen dürfte, ist der erste Schritt zur Verständigung. Der scharfe Blick des Skeptikers, den bereits die Rede von der Seele, erst recht aber von der erscheinenden Seele hervorruft, bringt die angemessene rezeptive Haltung für die rationale und kritische Annäherung an ein Thema zum Ausdruck. Um einen Anfang zu machen, lässt sich also bewusst provokativ sagen, dass die phänomenologische Psychologie sich darum bemüht, zu verstehen, wie uns unser Seelenleben erscheint. Mit dieser Formulierung kann zwar keine befriedigende Antwort, doch zumindest der Untersuchung eine Richtung gegeben werden. Die vorläufige Bestimmung der phänomenologischen Psycholo­ gie als ›erscheinungskundiger Seelenlehre‹ konfrontiert uns mit dem Zusammenhang der Begriffe Seele und Erscheinung. Dieser Zusam­ menhang lässt sich von zwei Seiten aus betrachten: Erstens stellt sich die Frage, was die Seele, präziser aber – wie noch zu erläutern sein wird – das Seelenleben sei, sodass es erscheinen kann. Die zweite Betrach­ tungsweise erfragt umgekehrt, was Erscheinungen seien, sodass sich in ihnen das Seelenleben zeigen kann. Doch zunächst der Versuch einer Antwort auf die erste Frage, der uns natürlicherweise zur zwei­ ten Frage bringen wird: Auf die Disziplin der Psychologie blickend, handelt es sich bei der Suche nach dem Seelenleben um eine Form der sog. Gegenstandsfrage, die sich im Allgemeinen darauf richtet, was die Psychologie erforschen soll. Die Bedeutung der Seele bzw. des Seelenlebens in der phänomenologischen Psychologie, ihre Antwort auf die Gegenstandsfrage also, wird indessen nur verständlich, wenn ihr Kontrast zu den zuvor verfügbaren Antworten ersichtlich ist. Hier beginnen jedoch die Komplikationen. Ebenso wenig wie die Biologie schlichtweg die Wissenschaft vom Leben ist, ist die Psychologie die Wissenschaft von der Seele. Das heißt, dass es eine Standardantwort

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

auf die Gegenstandsfrage nicht gibt. Der Begriff der Seele ist denk­ würdig. Das liegt bereits oberflächlich an der religiösen Konnotation des Ausdrucks in der Alltagssprache: Die Seele als jenseitige Unsterb­ lichkeit des Individuums – eine Auffassung, die für die Psychologie freilich nebensächlich ist. Ungeachtet dieser oberflächlichen Mehrdeutigkeit ist der Begriff der Seele in der Psychologiegeschichte zumeist als einer der ›operati­ ven Begriffe‹ verwendet worden, von denen sich sagen lässt, dass sie das »Verbrauchte, Durchdachte, aber nicht eigens Bedachte eines […] Denkens« (Fink 1957, 325) seien, also der »Schatten« (ebd.) der wis­ senschaftlichen Arbeit. Wenn Psychologinnen und Psychologen von der ›Seele‹ sprechen bzw. gesprochen haben, dann nicht eigentlich, um sie zum Thema zu machen, sondern um sie als allgemeinen, impli­ ziten Rahmen anzusprechen. Es ist folglich nicht notwendig, dass der Begriff der ›Seele‹ als terminus technicus Spezifisches wie »den substantiellen Träger von Vorstellungen und andern Eigenschaften« (Brentano 1874, 6) oder »das Subjekt, dem wir alle einzelnen Tatsa­ chen der innern Beobachtung als Prädikate beilegen« (Wundt 1874, 9), meint. Vielmehr ist die Seele als Seele schlechterdings ein univer­ seller Verweis auf einen Seins- oder Phänomenbereich. Heutzutage sind an ihre Stelle Alternativen wie ›kognitives System‹, ›Geist‹ (zumindest im Englischen als mind) oder sogar ›Leben‹ getreten, doch am jeweiligen Status des operativen Begriffs hat sich dadurch wenig geändert. Die Seele als ältester dieser Begriffe ist unterbestimmt geblieben und seine Explikation hat ihre Bedeutung eingebüßt1. Der Ausdruck ›Seele‹ (besser noch Psyche, da der Gräzismus die Fremdheit der Sache abbildet) soll im Folgenden somit als schillerndster Kandi­ dat auf den vakanten Platz des Gegenstandes in der Psychologie – gewissermaßen also als Lückenbüßer – verwendet werden. Ein letzter systematischer Versuch, die Gegenstandsfrage zu stellen, ist in den 1970er Jahren erfolgt (vgl. Eberlein & Pieper 1976). Seitdem lässt sich in der wissenschaftlichen Psychologie davon sprechen, dass die Forschung ohne die Bemühung um einen einheitlichen Gegenstand betrieben wird (Wendt & Funke 2022). Die Seele bzw. Psyche ist in der Psychologie nicht gewiss, son­ dern problematisch. Mag die Gegenstandsfrage auch das »Zentrum« (Pongratz 1967, 5) der psychologischen Problemgeschichte sein, so ist die Seele doch als Problem im zeitgenössischen Diskurs der Disziplin 1

Ein teilweise vergleichbarer Fall ist der Begriff der Gesellschaft in der Soziologie.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

nicht von zentraler Rolle2. Dementsprechend ist von der Psychologie selbst keine verbindliche Bestimmung der Seele als erscheinender zu erwarten – im Gegenteil scheint aus materialistischer Perspektive die »Psychologie ohne Seele« (Lange 1877, 381) sogar die angemessenere Form der Wissenschaft zu sein. Dass es eine ›Seele‹ – was auch immer sie sei oder wie sie genannt werde3 – gibt, ist letztlich aber eine Bedin­ gung der Möglichkeit von psychologischer Forschung im eigentlichen Sinne (denn ansonsten ließe sie sich auf Biologie reduzieren), wenn­ gleich sie auch nicht ihr Inhalt sein mag. Um diesen eigentlichen Inhalt zu bestimmen, kann in Anlehnung an die gewöhnliche Rede der bereits zuvor verwendete Begriff des Seelenlebens aufgegriffen werden. Das Seelenleben gehört dem Begriff nach zwar zur Seele, ist aber lediglich derjenige Teil, mit dem wir vertraut sind. Im Bild gesprochen ließe sich sagen, dass die Seele die Psychologie überragt oder die Psychologie ihren Gegenstand im Gesamt des Psychischen sucht, das Seelenleben allerdings derjenige Bereich ist, den sie findet. Diese begriffliche Differenzierung zwischen Seele und Seelenleben findet auch in Pongratz‘ ideengeschichtlicher Untersuchung der Psy­ chologie Verwendung (vgl. Pongratz 1967, 39ff). Dabei ist es eine Frage der erkenntnistheoretischen Position, ob eine psychologische Forschungsart davon ausgeht, dass dasjenige Seelenleben, das sie erforscht, die gesamte Seele abdecke. Womit wir aber an der Seele vertraut sein können, hat im 19. Jahrhundert zwei wirkmächtige Antworten gefunden, Apperzeptionsund Aktpsychologie. Was sie verbindet, ist, dass sie das Seelenleben als Bewusstsein auffassen und daher als ›Bewusstseinspsychologie‹ bezeichnet werden (bspw. Ansorge & Lederer 2017, 19ff). Zwischen diesen beiden ›Bewusstseinspsychologien‹ ist, wie Herzog (1993) anmerkt, kein Kompromiss für möglich gehalten worden, doch die 2 Dass eine Disziplin ohne eindeutigen Gegenstand oder schlechthin ohne Gegen­ stand zur Desintegration neigt, ist ein erhebliches wissenschaftstheoretisches Prob­ lem. In anderen Worten, weil die Psychologie die Seele als Platzhalter ihres For­ schungsgegenstandes nicht bestimmt, ist ihre Einheit gefährdet. Was die Psychologen noch zusammenhält, ist an erster Stelle historische oder institutionelle Kontinuität. Darüber hinaus gibt es allerdings auch »verborgene anthropologische Voraussetzun­ gen der allgemeinen Psychologie« (Holzkamp 1973), also einen schwer zu artikulie­ renden Bezugspunkt, der zurecht davon sprechen lässt, dass es Psychisches gäbe. Eine Gelegenheit, sie zu thematisieren, bietet sich in der phänomenologischen Psychologie. 3 Es lässt sich sogar im rein formalen Sinne erwägen, dass sie extensiv mit dem Nervensystem zusammenfällt. Hierfür hat Bernhard Waldenfels den pointierten Ausdruck mens sive cerebrum gefunden (vgl. Waldenfels 1984).

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1.1 Bewusstseinspsychologie

phänomenologische Psychologie soll, wie die folgenden Kapitel zu zeigen versuchen, einen dritten Weg etablieren. Die Thematisierung der beiden ›Bewusstseinspsychologien‹ ist allerdings nicht ohne eine kursorische geistesgeschichtliche Klärung ihrer Voraussetzungen möglich. Vor der Fortsetzung der Antwort auf die erste Frage zur Klä­ rung des Wortsinns im Begriff der phänomenologischen Psychologie ist daher ein psychologiegeschichtlicher Einschub vonnöten.

1.1 Bewusstseinspsychologie Es ist stehende Rede, dass die Geschichte der Psychologie im wis­ senschaftlichen Sinne mit der Einrichtung von Experimentallaboren ihren Ausgang genommen hat. Dass diese Auffassung eher einem Gründungsmythos, gar im Sinne Ovids einem αἴτῐον, also einer poetischen Legende über den Ursprung, entspricht, offenbart der genaue Blick in die Geistesgeschichte: Die Grundlagen für die ver­ schiedenen experimentalpsychologischen Ansätze haben bereits vor der Einrichtung von entsprechenden Laboren, die ihrerseits Vorläufer in Fächern wie der Physiologie hatten, Bestand gehabt. Ferner sind die Fragen, auf die die experimentelle Psychologie Antworten sucht, nicht erst mit ihrer Methodik entstanden. Vielmehr handelte es sich um Fragen, die etwa in der Physiologie, der Biologie, der National­ ökonomie oder aber der Philosophie angelegt oder bereits diskutiert worden sind. Deswegen ist es wichtig, zu verstehen, dass Psychologie in einem prä-experimentellen Sinne nicht durch einen epistemologi­ schen Abgrund von der Experimentalpsychologie geschieden ist. Ihre Entwicklung ist wissenschaftssoziologisch weniger als die eigenstän­ dige Zuwendung zu einem neu entdeckten Forschungsgegenstand, nämlich der Versuchsperson, zu verstehen, denn beispielsweise als ein Moment innerhalb des Prozesses der funktionellen Differenzierung sozialer Systeme in der Neuzeit (i.S.v. Luhmann 1984). Dabei sind die institutionelle Abgrenzung und Emanzipation der psychologischen Forschung und Lehre mithin wichtiger gewesen als die disziplinäre Autonomie. Das bedeutet, dass in der Gründungsphase der Experi­ mentalpsychologie die konstruktive Verzahnung ihres Diskurses mit anderen Disziplinen, insbesondere aber mit der Philosophie, eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Dieser Umstand wird beispiels­ weise von der Kundgebung zu Gunsten der Erhaltung philosophischer

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Lehrstühle aus dem Zusammenhang des sog. Lehrstuhlstreits im Jahr 1913 bezeugt. Dort heißt es: Das Arbeitsgebiet der experimentellen Psychologie hat sich mit dem höchst erfreulichen Aufschwung dieser Wissenschaft so erweitert, dass sie längst als eine selbständige Disziplin anerkannt wird, deren Betrieb die volle Kraft eines Gelehrten erfordert. Trotzdem sind nicht eigene Lehrstühle für sie geschaffen, sondern man hat wiederholt Professuren der Philosophie mit Männern besetzt, deren Tätigkeit zum grössten Teil oder ausschliesslich der experimentellen Erforschung des Seelenlebens gewidmet ist. Das wird zwar verständlich, wenn man auf die Anfänge dieser Wissenschaft zurückblickt, und es war früher wohl auch nicht zu vermeiden, dass beide Disziplinen von einem Gelehrten zugleich vertreten wurden. Mit der fortschreitenden Entwicklung der experimentellen Psychologie ergeben sich jedoch daraus Übelstände für alle Beteiligten (Natorp et al. 1913, 306).

Dieser Auszug bildet gleich zwei wissenschaftsgeschichtliche Tenden­ zen ab. Einerseits bezeugt er die ursprüngliche Verwobenheit von Philosophie und Psychologie, die, zumindest im 19. Jahrhundert, von einem und demselben Gelehrten zugleich vertreten werden konnten; andererseits zeichnet sich eine Loslösungsbewegung ab, die mit der Reife der Psychologie als Wissenschaft in Verbindung gebracht wird. Es ist jedoch zu bedenken, dass es sich bei der Kundgebung vornehm­ lich um ein Zeugnis von Wissenschaftspolitik handelt, nämlich um einen Abwehrkampf der Philosophie gegenüber der an Popularität und Einfluss gewinnenden Experimentalpsychologie. Die für uns wesentliche Frage ist an dieser Stelle die Verhältnisbestimmung zwi­ schen Psychologie und im frühen 20. Jahrhundert noch angrenzenden Wissenschaften sowie der Philosophie. Weniges spricht dabei für die Annahme einer notwendigen Trennung. Stattdessen sollte ins Bewusstsein gerufen werden, dass die Grundlagen der Psychologie auch noch heute in diesen Gebieten liegen, selbst wenn sie zumeist nicht eigens thematisiert werden – zumal nicht über den Rahmen der Propädeutik heraus. Das bisher Gesagte läuft auf die Einsicht hinaus, dass für ein systematisches Verständnis der Experimentalpsychologie die Berück­ sichtigung ihrer Vorgeschichte von Bedeutung ist. Andernfalls kön­ nen die Präsuppositionen ihres Forschens nicht reflektiert werden. Das psychologische Forschungsinteresse ist auch in der Gegenwart trotz methodischer und diskursiver Eigenständigkeit stets implizit auf Extradisziplinäres verwiesen, und die Philosophie spielt dabei eine

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1.1 Bewusstseinspsychologie

zentrale Rolle. Eine Rekonstruktion dieses Zusammenhangs führt folglich zur Untersuchung der Wurzeln der heutigen Psychologie in den Kontroversen des 19. Jahrhunderts, insbesondere in der sog. philosophischen Psychologie, die nicht als geschlossene Position misszuverstehen ist, sondern als komplexes Feld von vielfältigen Ansätzen, die bis zum gegenwärtigen Tag den Hintergrund der psy­ chologischen Theorienbildung bieten. Ihre Rekonstruktion ist eine wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung und wurde in jüngerer Zeit beispielsweise von Fahrenberg (2015) und Galliker (2016) unter­ nommen. Es ist dies nicht der Ort, um eine erschöpfende Darstellung der vorexperimentellen Psychologiegeschichte zu bieten4. Zumindest ist aber ein Abriss des menschheitsgeschichtlichen Denkens über das Seelenleben vonnöten. Er muss notwendigerweise kursorisch und holzschnittartig ausfallen, doch der wesentliche Zweck des Abrisses ist es, die Voraussetzungen der Bewusstseinspsychologie zu klären und damit den Kontext der phänomenologischen Psychologie. Der Filter für den Blick in das 19. Jahrhundert soll dabei die Frage sein, wie Seele und Seelenleben verstanden worden sind. Was die Psychologiegeschichte im Inneren zusammenhält, ist ein Konflikt zwischen zwei Betrachtungsweisen, der sich schon bei Platon und Aristoteles ankündigt. Platons Psychologie ist womöglich die erste systematische Betrachtung des Seelenlebens der Menschheits­ geschichte. Es handelt sich bei seinem Denken um einen Komplex von Betrachtungen, der sich als Prinzipienlehre zusammenfassen lässt (vgl. Müller 2017). So wird die Seele etwa als Bewegungsprinzip aufgefasst, im Spätwerk sogar als kosmologisches Bewegungsprinzip. Zugleich handelt es sich bei der Seele aber auch um ein Lebensprinzip, das Lebendiges von Totem scheidet. Der Aufbau der Seele nach Platon wird am besten durch den Vergleich mit dem inneren Zusammen­ wirken der Staatsorgane beschrieben. Platon kennt drei Seelenteile, nämlich den Verstand (λογιστικόν), das Gemüt (θυμοειδές) sowie das Begehrungsvermögen (ἐπιθυμητικόν), die miteinander um die Vorherrschaft über das Seelenleben streiten. Aufgrund dieser Verhält­ nisbestimmung von weitgehend unabhängigen Seelenteilen muss Platons Auffassung als Ursprung der sog. Vermögenspsychologie Hierfür stehen diverse klassische und zeitgenössische Darstellungen aus mehreren Perspektiven zur Verfügung. Eine Übersicht über die klassischen Darstellungen der Psychologiegeschichte gibt Klemm (1911, 9ff.). Zeitgenössische Ansätze finden sich etwa bei Lück und Guski-Leinwand (2014) oder Schönpflug (2013). Hervorzuheben ist ferner Pongratz (1967).

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

verstanden werden. Das ist die Lehre, wonach das Seelenleben aus einander entgegenstehenden Kräften bestehe. Ihr Ringen um die Macht über die Gesamtperson ist im Wesentlichen als eine Eigenak­ tivität der Seele zu verstehen – und die Seele gleichsam als etwas, das eine autonome Tätigkeit, eine Selbsttätigkeit, auszeichnet. Dieser Aspekt der Kräfte bzw. Vermögen, die aus eigenem Antrieb das Seelenleben prägen, greift die Konfliktlinie innerhalb der Bewusst­ seinspsychologie bereits vorweg. Platons Psychologie steht – wenn auch nicht im Allgemeinen, so doch in dieser spezifischen Hinsicht – die von Aristoteles gegenüber. Das Wirken der Seele ist für Aristoteles ›werktätig‹. Die Aktivität (ἐνέργεια) der Seele ist eine Transformation von Empfindungen und Vorstellungen, die sich durchaus als, im Sinne der neuzeitlichen Psy­ chologie, Mechanismen gehorchend beschreiben lässt. Das wichtigste Beispiel für diese Seelenmechanik ist die Assoziation, die in Aristo­ teles’ De memoria et reminiscentia anklingt. Dort heißt es: »Darum verfolgen wir auch das Nacheinander und spüren ihm nach, indem wir in Gedanken von dem Jetzt oder sonst einem Zeitpunkt ausgehen und von Gleichem oder Konträrem oder Verwandtem. Ein solches Verfah­ ren hat die Erinnerung zur Folge« (Aristoteles, 452a). Hier werden die assoziativen Beziehungen der Ähnlichkeit, des Gegensatzes sowie der räumlichen und zeitlichen Nähe entwickelt, um das Seelenleben zu erklären. Wohlgemerkt darf Aristoteles’ Psychologie nicht auf diesen Beitrag reduziert werden – sie ist tiefer und reicher –, doch die Idee, dass das Wirken der Seele eine Transformation oder Verarbeitung von etwas ihr Gegebenem sei, setzt einen wichtigen Akzent gegenüber der platonischen Vorstellung, dass die Dynamik des Seelenlebens in einer eigenständigen Tätigkeit bestehe. Zwischen Platons und Aristoteles’ Psychologie bestehen insgesamt zwar Übereinstimmungen, doch Aristoteles’ Auffassung der assoziativen Mechanik setzt sich von der Vermögenspsychologie ab, die die beiden Athener ansonsten verbin­ det. Der Grundkonflikt der Psychologie besteht von alters her darin, das Seelenleben entweder als unabhängig und schöpferisch (Platon) oder als abhängig und verarbeitend (Aristoteles5) zu betrachten. Eine entsprechende Auffassung der psychologischen Ideengeschichte findet sich bei Pongratz. Er beschreibt die aristotelische Seelenlehre Es muss betont werden, dass die aristotelische Psychologie auch ein schöpferisches Moment anerkennt, etwa in der Lehre vom intellectus agens (νοῦς ποιητικός).

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1.1 Bewusstseinspsychologie

als »im biologischen Seelenbegriff zentriert« (Pongratz 1967, 22) und schlussfolgert: »Darum steht sie im Gegensatz zur Seelenlehre Platons – einem Gegensatz, der die Geschichte der Psychologie bis in die Gegenwart herein durchzieht« (ebd.). Das dichotome Grundmo­ tiv wiederhole sich in den wesentlichen psychologiegeschichtlichen Themen: »Seelenmetaphysik und Seelenbiologie, mentale und vitale Seelenlehre, die Seele als Geistprinzip und als Lebensprinzip, Psycho­ logie als Geistes- und Naturwissenschaft, als Erlebens- und Verhal­ tenslehre« (ebd., 22f). Es handelt sich um eine Konfrontation, die– im Sinne Diltheys (1960) – weltanschaulichen Charakter annimmt, und das bestimmende Motiv für die philosophische Psychologie des 19. Jahrhunderts ist. Diese These findet sich auch bei Sachs-Hombach6 (1993), in dessen problemgeschichtlicher Darstellung der Psychologie im 19. Jahrhundert ein Grundkonflikt zwischen mechanistischer und organizistischer Denkart angenommen wird. Der Begriff der Assoziation ist über die Kulturgeschichte hinweg zur mächtigsten Konkurrenz der Vermögenspsychologie avanciert. Die wichtigste Entwicklungslinie läuft dabei über die britische Aufklä­ rungsphilosophie zur sog. Assoziationspsychologie, deren Gründer­ väter David Hume und David Hartley gewesen sind (Amin 1973). In ihrer klassischen Form ist die Assoziationspsychologie durch eine weitreichende Verbindung mit dem Atomismus ausgezeichnet, also der Überzeugung, dass die materielle Beschaffenheit der Welt eine Konstellation von kleinsten Elementen sei. Die Auffassung, dass das Seelenleben eine Assoziation von Empfindungen (impressions) sei, steht mithin parallel zur Idee, dass der stoffliche Aufbau der Welt durch die wechselseitige Wirkung kleinster Teilchen erklärt werden könne. Bis zum frühen 19. Jahrhundert haben Vermögens- und Asso­ ziationspsychologie in den europäischen Wissenschaften in einem lebendigen Konkurrenzverhältnis gestanden. Allerdings muss ihr Verhältnis als asymmetrisch beschrieben werden, da die Vermögens­ psychologie nach der Klimax ihres Einflusses in der mittelalterlichen Scholastik einen Abwehrkampf fechten musste, während die Asso­ ziationspsychologie im Gefolge der Industrialisierung als kulturprä­ gender Veränderung und des ihr entsprechenden Erstarkens des Szientismus zur dominierenden Form von Psychologie avancierte. Eine kritische Auseinandersetzung mit den psychologiegeschichtlichen Annahmen Sachs-Hombachs befindet sich in Vorbereitung.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Ihr Vorteil war die Kompatibilität mit dem Empirismus, als dessen integraler Bestandteil sie beschrieben werden kann. Die Vermögens­ psychologie erlebte demgegenüber zwar in Mitteleuropa, etwa in der vorkantianischen deutschen Schulphilosophie (Tetens, Wolff), eine Konjunktur, erfuhr jedoch spätestens mit der Arbeit Johann Herbarts, der zugleich die Assoziationspsychologie stärkte, am Anfang des 19. Jahrhunderts den Todesstoß. Der Weg der Psychologie im 19. Jahrhundert führt vom Sieg der Assoziationspsychologie an seinem Anfang bis zum Problem des Bewusstseins an seinem Ende. Es handelt sich um einen Weg, der sich auf zwei Weisen beschreiben lässt. Entweder sieht man darin nur eine Verzögerung der Einsicht, dass die assoziative Verbindung von Empfindungen oder – in jüngerer Notation – von Informationen die effizienteste und präziseste Beschreibung des Seelenlebens sei. Oder aber etwas an der Eigenheit des Seelenlebens widerstrebt der minimalistischen Erklärung durch Assoziationen. Für die erste Lesart der Psychologiegeschichte muss die Bewusstseinspsychologie als ein Atavismus erscheinen, als ein Residuum, das vor der endgültigen naturwissenschaftlichen Erklärung des Seelenlebens beseitigt werden musste – ebenso wie andere irrationalistische Traditionen durch die Aufklärung. Dies ist die positivistische Perspektive. Sie hat eine gravierende Wirkung auf die Psychologie gehabt, weil sie in Form des amerikanischen Pragmatismus zunächst den Behaviorismus und später sowohl Kognitivismus als auch Konnektionismus, also die Leit­ paradigmen der modernen Experimentalpsychologie, gestaltet hat. Die zweite Perspektive, nach der das Seelenleben einer explikativen Eingliederung in den naturkausalen Ablauf der Wirklichkeit wider­ strebt, ist die Voraussetzung, um die Bewusstseinspsychologie ernst zu nehmen. In anderen Worten: Beide Formen der Bewusstseins­ psychologie, die in den folgenden beiden Abschnitten besprochen werden, grenzen sich in mehr oder weniger drastischer Weise von der Assoziationspsychologie ab, die den Hintergrund der jüngeren Psychologiegeschichte bildet. Die naheliegende Frage ist, was den Siegeszug der Assoziati­ onspsychologie verhindert hat. Die Antwort muss in der diffizilen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts gesucht werden. Der Versuch ihrer Darstellung findet sich zum Beispiel bei Sachs-Hombach (1993) und kann an dieser Stelle nur Schattenriss bleiben. Schon Locke hatte die Wirkungsweise des Seelenlebens als eine »combination of ideas« (Locke 1847, 261) aufgefasst. Johann Herbert,

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1.1 Bewusstseinspsychologie

der der Assoziationspsychologie zum Sieg über die Vermögenspsy­ chologie verholfen hatte, hat seine Bemühungen um eine ›Mechanik der Seele‹ daher ebenfalls auf eine gesetzmäßige Verknüpfung von Vorstellungen ausgerichtet. Das bedeutet, dass er mit seiner mathe­ matischen Psychologie das Seelenleben allein als combination of ideas, also ohne Bezug zur sinnlichen Erfahrung erklären wollte: »Herbart versuchte seine mathematische Psychologie rein mit psychischen Größen zu entwickeln« (Heidelberger 2010, 72). Das bedeutet, dass Herbart die Assoziation als eine der Gleichmäßigkeit der Mathematik entsprechende Gesetzmäßigkeit verstand. Diesem Umstand wider­ setzte sich jedoch die Wirklichkeit, wie Hermann Lotze einsah: Er hat erkannt, daß die mathematische Mechanik des Vorstellungsund schließlich des ganzen Seelenlebens, die Herbart erstrebte, unmöglich ist. Die Grundlage für eine derartige Behandlung seelischer Tatsachen, die Möglichkeit exakter Messung, fehlte, und so mußten Herbarts scharfsinnige, aber künstliche Formeln fruchtlos bleiben. Das Ideal der mathematischen Physik hatte den Psychologen in die Irre geleitet (Becher 1917, 326).

Es lässt sich sagen, dass der Triumph der Assoziationspsychologie ausgeblieben ist, weil der Empirismus, von dessen epistemologischer Grundlage sie abhängt, keinen uneingeschränkten Geltungsanspruch vortragen kann. Das wird etwa daran deutlich, dass der Empirismus an der Stelle einen subjektiven Idealismus voraussetzen muss7, wo die Eigenheit der Vorstellungen, nämlich Repräsentationen von Reizen zu sein, begründet wird (vgl. O’Neil 1968). Dies wird an den sekun­ dären Qualitäten wie Farbe oder Geschmack deutlich, die schon bei Locke als Zustände eines Subjektes konzipiert werden, ohne dass ihre Entstehung aus der Naturkausalität begreiflich gemacht werden kann. Lotzes eigene Reflexionen führten ihn – in frappanter Parallele zur Psychologie des 20. Jahrhunderts – anstelle der Physik zum Vorbild der Biologie und Physiologie. Anders als die Konnektionisten, die heute das Seelenleben auf neuronale Emergenz zurückführen, entwickelte Lotze jedoch die metaphysische Behauptung einer sub­ stanziellen Seele. Dabei war für ihn die Unvergleichbarkeit von physischer und psychischer Wirklichkeit ausschlaggebend:

7 Weil der Empirismus an dieser Stelle inkonsequent ist und sich von unhinterfragten (metaphysischen) Annahmen abhängig macht, ergibt sich für die Phänomenologie die Perspektive einen ›eigentlichen‹ oder ›radikalen‹ Empirismus zu entwickeln.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Alle jene physischen Reize sind so unvergleichbar mit den geistigen Zuständen, dass diese zwar von ihnen abhängen, aber nicht durch sie allein, sondern nur durch die Eigenthümlichkeit einer zweiten irgend wie gestalteten Prämisse hinreichend begründet sind, mit welcher jene Reize zusammentreffen (Lotze 1852, 13).

Wird die Assoziationspsychologie über die combination of ideas hinausgeführt, stößt sie auf das Problem der Erklärungslücke (expla­ natory gap), das bis zum heutigen Tag ungelöst (vgl. bspw. Kriegel 2012) die psychische und die physische Realität unvereinbar neben­ einanderstehen lässt. Eine Möglichkeit, das Problem der Erklärungslücke weitgehend zu vermeiden, findet sich bei Theodor Fechner, dessen Psychophysik die Bedeutung der Erscheinungen für das Verständnis des Seelenle­ bens herunterstuft. Dies versuchte Fechner, indem er die Psychophy­ sik folgendermaßen gliederte: in die äußere Psychophysik, in der die funktionellen Beziehungen zwischen dem Reiz in der Außenwelt und den damit hervorgerufenen psychischen Erscheinungen untersucht werden, und in die innere Psy­ chophysik, die die Abhängigkeit zwischen den gehirnphysiologischen Bedingungen der psychischen Erscheinungen und diesen Erscheinun­ gen selbst erforscht (Heidelberger 2010, 73).

Die innere Psychophysik beschränkt sich dabei weitgehend auf den Begriff der Schwelle, den bereits Herbart als »Schwelle des Bewußt­ seyns« (Herbart 1834, 11) kannte. Das wesentliche Forschungsinter­ esse der Psychophysik besteht folglich darin, die Abhängigkeit der Empfindungen, also der sensuellen Aufnahme von Reizungen, von materiellen Umweltveränderungen zu erklären. So rückte in der Psy­ chophysik die Frage nach der Eigenheit des inneren Seelenlebens, des Erlebens, in den Hintergrund. Diese Vorgehensweise ist weitgehend mit der Arbeit der operationalistischen Experimentalpsychologie der Gegenwart verwandt, insbesondere mit dem Konnektionismus, was sich an Fechners metaphysischer Auffassung der Seele bestätigt, die an den Begriff der Emergenz erinnert, denn er vertrat »den Standpunkt der ›Synechologie‹ – oder modern gesprochen, einen systemtheore­ tischen Standpunkt, dass psychische Eigenschaften immer an eine physische Mannigfaltigkeit gebunden, also systemischer Natur sind« (Heidelberger 2010, 73). Der psychophysische Erklärungsansatz ist allerdings nicht alter­ nativlos. Ein entgegengesetzter und für das späte 19. Jahrhundert

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1.1 Bewusstseinspsychologie

bedeutungsvoller Beitrag findet sich bei Eduard von Hartmann. Das­ jenige, was für Fechner äußere Psychophysik und deswegen rein mechanisch ist8, ist für von Hartmann unbewusst, aber gerade des­ wegen auf das Bewusstsein verwiesen. Wo Fechner im Übergang zwischen Umwelt und Seelenleben das letztere zurückdrängt, gibt ihm von Hartmann den Vorrang: Jedem äusseren Reflexakt entspricht […] eine innere psychische Thätigkeit. Was sich von aussen, vom naturwissenschaftlichen Stand­ punktaus gesehen, als objektive Mechanik der Molekularbewegungen im Nervensystem darstellt, das selbe stellt sich, von innen gesehen, dem psychologischen Standpunkt dar als subjektive Mechanik der Vorstellungen und Begehrungen: auch der einfachste Reflexakt ist ein Wollen, das von einer Empfindung motiviert wird (Drews 1889, 17).

Von Hartmann geht davon aus, dass das Bewusstsein nicht wie in der ›inneren Psychophysik‹ für die Aufnahme von Reizen bereitsteht, sondern selbst im Vollzug des Unbewussten entsteht: »Die Bewußt­ seinsform ist nicht ein Taubenschlag, in den die Bewußtseinsinhalte wie Tauben ein- und ausfliegen, auch nicht ein Obergeschoß, in das die Bewußtseinsinhalte aus dem Keller der Unbewußtheit emporsteigen, um darauf wieder in ihn zu versinken« (von Hartmann 1908, 7). Hier findet sich also die Überlegung, dass die Reizungen, die organisch und nervös ablaufen, bereits auf das Bewusstsein, auf das Seelenleben hinweisen, auf es ausgerichtet sind. Es handelt sich um eine Denkweise, die auch für die einflussreiche Bewegung der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse von ausschlaggebendem Ein­ fluss gewesen ist. An dieser Stelle ist allerdings allein maßgeblich, dass von Hartmann der Assoziationspsychologie damit widerspricht, dass er der Passivität der Prozesse, die auch in der Psychophysik angenommen wird, die Annahme einer aktiven, das Seelenleben stif­ tenden Wirklichkeit entgegenstellt. In seinen eigenen Worten: »Die Behauptung der Assoziationspsychologie, dass überall da unbeachtete und unbemerkte Vorstellungen als assoziativ wirksam supponiert werden müssen, wo Vorstellungen ohne angebbare hervorrufende 8 Fechners Idee des psycho-physischen Parallelismus ist komplex und enthält in metaphysischer Betrachtung einen Panpsychismus, der ihn mit der modernen Philo­ sophie des Geistes verbindet, in der vergleichbare Positionen zur Lösung des sog. Bewusstseinsproblems vertreten werden. Es wäre daher falsch zu behaupten, dass die mechanische Seite der äußeren Psychophysik Unbeseeltheit bedeute. Philosophisch weniger reflektierten Formen der psychophysischen Forschung droht, diese Schwie­ rigkeiten zu verkennen.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Vorstellung auftauchen, ist gerade einer ihrer schwächsten Punkte« (von Hartmann 1901, 151). Es muss angemerkt werden, dass es sich genau betrachtet bei von Hartmanns eigenem Standpunkt um eine Position jenseits der Bewusstseinspsychologie handelt, doch für die Opposition zur Assoziationspsychologie findet sich trotz seiner im Übrigen ausgeprägten Kritik an der Bewusstseinspsychologie ein Bundesgenosse für die Positionen, die im Folgenden besprochen werden sollen (vgl. Abb. 1). Zusammenfassend ist der geistesgeschichtliche Hintergrund der Bewusstseinspsychologie durch die zentrale Frage zu charakterisie­ ren, ob das Seelenleben durch eigenständige Aktivität ausgezeichnet ist oder als passiv, d.h. bloß verarbeitend, zu verstehen ist. Jene Posi­ tion hat mit der Vermögenspsychologie ihren klassischen Wirt verlo­ ren, sodass – nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus (Hegel, Schelling, Fichte) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Passivität des Seelenlebens in Form der Assoziationspsychologie als dominante Position in der Psychologie zu triumphieren schien. Es ist nun fragwürdig, ob die Problematik der Bewusstseinspsychologie nur ein Intermezzo für den Siegeszug der Assoziationspsychologie gewesen ist oder vielmehr das Konzept der Assoziation allein nicht zur Bestimmung des Seelenlebens ausreicht. Wie anhand der Bei­ spiele von Lotze, Fechner und von Hartmann aufgezeigt, spricht die psychologiegeschichtliche und systematische Lage dagegen, dass die Thematisierung des Bewusstseins nur ein Umweg zur Vollendung der Assoziationspsychologie gewesen wäre. Vielmehr zeigt sich, dass der Empirismus als Fundament der Assoziationspsychologie der Aufgabe nicht gewachsen gewesen ist, die Phänomenologie des Bewusstseins zu leisten, sodass die Assoziationspsychologie notwendig unterkom­ plex bleiben musste. Es handelt sich letztlich um einen Konflikt, der bis in die Gegenwartsforschung als implizite Determinante wirkt. Die Bewusstseinspsychologie in toto muss nun als der Versuch verstanden werden, die Eigenständigkeit des Seelenlebens zu berück­ sichtigen, statt es in den Naturprozess einzugliedern. Allerdings wiederholt sich der übergeordnete Konflikt zwischen Positionen, die entweder die Aktivität oder Passivität des Seelenlebens behaupten, innerhalb der Bewusstseinspsychologie in spezifischerer Hinsicht. Es geht dabei nicht um die prinzipiellen Alternativen, von substan­ ziellen Seelenvermögen (Vermögenspsychologie) bzw. – im Sinne des kritischen Idealismus (am Beispiel Fichtes gesprochen) – von einem Bewusstsein, das sich selbst setzt, einerseits oder der Psyche

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1.1 Bewusstseinspsychologie

als homogenes Element einer assoziativ und prozedural strukturier­ ten Natur (Assoziationspsychologie) auszugehen. Vielmehr ist das Problem der Bewusstseinspsychologie, die als Gründungsakt der Psychologie als eigenständiger Disziplin gelten kann, das richtige Maß zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Reizverarbeitung und Selbsttätigkeit, zu finden.

Abbildung 1. Der geistesgeschichtliche Kontext der Bewusstseinspsychologie mit Blick auf die Frage, ob das Seelenleben als selbsttätig oder verarbeitend verstanden wird.

Die geistesgeschichtliche Ausgangslage lässt sich in einem Schema zusammenfassen (vgl. Abb. 1)9. Der bewusstseinspsychologische Grundkonflikt betrifft das Problem der Selbsttätigkeit des Seelen­ lebens. Auf Grundlage der in diesem Abschnitt ausgearbeiteten psychologiegeschichtlichen Betrachtungen wollen wir nun zu den 9 Der hier gewählte Maßstab für den historischen Vergleich, nämlich die Auffassung des Seelenlebens als verarbeitend oder selbsttätig, ist freilich nicht alternativlos. Andere denkbare Kategorisierungen sind, um Beispiele zu nennen, Psychologismus vs. Antipsychologismus, empirische vs. rationale Psychologie, naturwissenschaftliche vs. geisteswissenschaftliche Psychologie oder Aktualismus vs. Substanzialismus. Einen guten Überblick dieser Vergleichspunkte bietet ein Aufsatz von Gutberlet über Den gegenwärtige Stand der psychologischen Forschung (1908) oder Ludwig Pon­ gratz Problemgeschichte der Psychologie (1967). Das Verhältnis der hier betrachteten Ansätze für psychologische Forschung (zwischen Assoziations- und Vermögenspsy­ chologie) verläuft allerdings in diesen alternativen Hinsichten zumeist ähnlich wie es sich für die Anordnung auf der hier gewählten Achse Reizverarbeitung-Selbsttätig­ keit ergibt.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

beiden Fragen zurückkommen, die sich angesichts der Bestimmung der phänomenologischen Psychologie als ›erscheinungskundiger See­ lenlehre‹ ergeben haben: Erstens das Seelenleben als Erscheinendes, zweitens die Erscheinung, in der das Seelenleben gegeben ist.

1.2 Auf der Suche nach dem Seelenleben Die Antwort der ersten ›Bewusstseinspsychologie‹ auf die Frage nach dem Seelenleben als uns vertrautem Teil der Seele basiert auf der Überzeugung, dass wir uns über die wissenschaftliche Methode, die sich im Abendland in einem langen Bogen von Demokrit über Galileo Galilei und Francis Bacon bis zum Empiriokritizismus sowie später dem Wiener Kreis und dem kritischen Rationalismus entwickelt hat, mit der Welt vertraut machen können und sollten, nämlich auf dem Wege der empirischen Forschung als Deutung der anschauli­ chen Erfahrung mithilfe logischer Schlussgesetze und intersubjektiv validierter Wahrnehmung. Die Welt meint für dieses ›galileische Weltbild‹ die Beschaffenheit der seienden Dinge und Verhältnisse als objektive, also in Absehung von der Subjektivität, die sie auffasst (Neumann 2001). Das Seelenleben, mit dem wir auf diese Weise vertraut sind, ist ein Fall von Geschehnissen, deren Abfolge wir insbesondere als Intensitätsschwankungen über den Lauf der Weltzeit beschreiben können. Bei der Bestimmung dieser Intensität bedarf es einer Methode, nämlich des psychologischen Experiments, das in Anlehnung an das physiologische Experiment der Mediziner konzi­ piert worden ist. Pionier dieser Forschungsart war Wilhelm Wundt, und seine Physiologische Psychologie von 1874 ist ein Meilenstein der prospektivistischen Experimentalpsychologie – wobei, wie bereits angedeutet, mit Experimentalpsychologie in diesem Sinne bezeich­ net werden soll, was im 20. und frühen 21. Jahrhundert als die akademische Psychologie institutionalisiert wurde und heutzutage vornehmlich durch Naturalismus, Operationalismus und Szientismus ausgezeichnet ist. Es wäre allerdings ein Missverständnis, Wundt einen Physika­ listen oder Elementaristen zu nennen, Beschreibungen also, die für die Assoziationspsychologie gelten. Das bedeutet, dass seine Unter­ suchungen nicht den Zweck hatten, die subjektive Erfahrungswelt aus der psychologischen Forschung zu verbannen. Sein Beitrag zur Psychologiegeschichte besteht auch darin, die Psychologie von Psy­

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1.2 Auf der Suche nach dem Seelenleben

chophysik und Physiologie zu emanzipieren. Damit ist gesagt, dass die Erklärungen, die Wundts Experimentalpsychologie liefert, das Seelenleben nicht einfach auf physiologische Abläufe reduziert. Viel­ mehr führen seine Untersuchung zur Annahme der zumindest kon­ zeptuellen Eigenständigkeit von psychischen Prozessen: »Er lehnte es ab, psychische Prozesse, Empfinden und Denken als Funktionen des Gehirns zu bezeichnen« (Fahrenberg 2011, 28). Dies wird in Wundts Abgrenzung von Psychologie und Naturwissenschaften deutlich: Alle Erfahrung ist eine einheitliche, in sich zusammenhängende. Jede Erfahrung enthält nun zwei in Wirklichkeit untrennbar verbundene Faktoren: die Erfahrungsobjekte und das erfahrende Subjekt. Die Naturwissenschaft sucht die Eigenschaften und wechselseitigen Bezie­ hungen der Objekte zu bestimmen. Sie abstrahiert daher durchgän­ gig, so weit dies vermöge der allgemeinen Erkenntnisbedingungen möglich ist, von dem Subjekt. Hierdurch ist ihre Erkenntnisweise eine mittelbare und, da die Abstraktion von dem Subjekt hypotheti­ sche Hilfsbegriffe erforderlich macht, denen die Anschauung niemals vollkommen adäquat gedacht werden kann, zugleich eine abstrakt begriffliche (Wundt 1896, 11f).

Demgegenüber die Psychologie: Die Psychologie hebt diese von der Naturwissenschaft ausgeführte Abstraktion wieder auf, um die Erfahrung in ihrer unmittelbaren Wirk­ lichkeit zu untersuchen. Sie gibt daher über die Wechselbeziehungen der subjektiven und objektiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung und über die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihres Zusammenhangs Rechenschaft. Die Erkenntnisweise der Psychologie ist demnach im Gegensatze zu derjenigen der Naturwissenschaft eine unmittelbare und, insofern die konkrete Wirklichkeit selbst, ohne Anwendung abstrakter Hilfsbegriffe, das Substrat ihrer Erklärungen ist, eine anschauliche. Hieraus folgt, dass die Psychologie eine der Naturwissenschaft koordinierte Erfahrungswissenschaft ist, und dass sich die Betrachtungsweisen beider in dem Sinne ergänzen, dass sie zusammen erst die uns mögliche Erfahrungserkenntnis erschöpfen (ebd., 12).

Wichtig ist, dass Wundt die Erscheinungen des Seelenlebens, die subjektiven Phänomene, zwar zu erklären strebte, aber ihrerseits nicht zur Erklärung verwendete. Im Sinne Carl Stumpfs kann Wundts Ansatz deswegen der ›Erscheinungspsychologie‹ zugeordnet werden, da für ihn »nur Erscheinungen unmittelbar gegeben« (Stumpf 1907, 5) sind. Eine objektive und für wissenschaftliche Erkenntnis explana­

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

torisch relevante Selbstbeobachtung des Erlebens hielt er für ausge­ schlossen, denn »niemals kann ein Gegenstand beobachtet werden, welcher im Augenblick der Beobachtung selbst nicht mehr vorhanden ist« (Wundt 1888, 294). Stattdessen spricht Wundt von psychischen Mechanismen wie der ›schöpferischen Synthese‹, die nicht erfahrbar sind, aber das bewusste Erleben gestalten und hervorrufen, also nicht in den Erfah­ rungen, sondern gewissermaßen zwischen ihnen ablaufen. Diese Mechanismen sind, wie Wundts Schüler Edward Titchener zurecht feststellt, mit dem von John Stuart Mill stammenden Begriff der »mental chemistry« vergleichbar (Titchener 1921, 116) – in subtiler Abgrenzung zu Herbarts Mechanik der Vorstellungen10. Wundts Fassung der Bewusstseinspsychologie lässt sich deswegen mit einem Begriff Gottfried Wilhelm Leibniz‘ als Apperzeptionspsychologie bezeichnen. Das Seelenleben, mit dem sich dieser Ansatz der Psy­ chologie vertraut machen zu können glaubt, sind die regelmäßigen Geschehnisse in der Welt, die unsere Erfahrung entstehen lassen, also die – in der Analogie gesprochen – chemischen Reaktionen auf einer molekularen Strukturebene, die sich der Kenntnis des Alltags­ verstandes entzieht. Dies ist der zentrale Unterschied zur zweiten bewusstseinspsychologischen Antwort auf die Frage nach dem uns vertrauten Teil der Seele. Diese zweite Antwort fand ihren paradigmatischen Ausdruck ebenfalls im Schicksalsjahr der Psychologiegeschichte, 1874, nämlich in Franz Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt. Brentano fasst den Teil der Seele, der uns vertraut sein kann, als Erfahrung auf. Es handelt sich somit um eine immanente Bestimmung, also eine Beschränkung auf das Leben, wie es für uns ist, kurzum die Erleb­ nisse, in denen uns etwas erscheint. Die Wurzel des Unterschiedes 10 Um den Unterschied zwischen Assoziations- und Apperzeptionspsychologie zu verdeutlichen, ist darauf einzugehen, dass Wundt neben den bloß verarbeitenden Assoziationen aktive Tätigkeiten des Seelenlebens behauptet. Von Hartmann gibt eine knappe Zusammenfassung: »Wundt unterscheidet die Assoziation einerseits von der Verschmelzung, andererseits von der Apperzeption. Verschmelzung ist eine enge Ver­ bindung nicht von fertigen Vorstellungen [sic] sondern von Vorstellungselementen; sie ist vollkommen, wenn die Elemente in ihr nur durch besondere Schärfung und Aufmerksamkeit oder experimentelle Hülfsmittel wahrnehmbar sind. Die Assoziation dagegen betrifft nicht Vorstellungselemente, sondern fertige Vorstellungen. Sie ist ein passives Erlebnis, während die Apperzeption ein aktives ist; bei der ersteren kann ein Willensvorgang, ein Thätigkeitsgefühl mit Spannungsempfindungen, höchstens nachfolgen, bei der letzteren geht es voran« (von Hartmann 1901, 138).

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1.2 Auf der Suche nach dem Seelenleben

zwischen Wundt und Brentano ist also eine abweichende Auffassung von der Geltung der Selbstwahrnehmung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Brentano die Selbstbeobachtung des blitzhaft ablaufenden Geschehens in uns selbst für möglich hält. Auch Brentano sagt: »[D]ie innere Wahrnehmung hat das Eigenthümliche, dass sie nie innere Beobachtung werden kann« (Brentano 1874, 35). Vielmehr misst er der Selbstwahrnehmung, also dem bloßen Erleben unseres Seelenlebens, einen veridikalen Charakter bei, sie sei »erste und unentbehrliche Quelle« (ebd.). Mit aller Klarheit sagt er: »Die innere Wahrnehmung ist nicht bloss die einzige unmittelbar evidente; sie ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes« (ebd., 119). Das Seelenleben, das uns vertraut ist, ist hier kein Geschehnis in der Weltzeit, kein natürlicher Vorgang allein, sondern zunächst der Bewusstseinsstrom, dem wir vorläufig den Titel der Subjektivität geben können. Sie ist – stärker als die Apperzeption – durch den Charakter der Selbsttätigkeit ausgezeichnet, weswegen die zweite Form der Bewusstseinspsychologie für gewöhnlich als Aktpsy­ chologie11 bezeichnet wird. Wegen der Annahme einer eigentümlichen – und an dieser Stelle noch nicht weiter qualifizierten – Tätigkeit des Seelenlebens steht sie der Assoziationspsychologie noch ferner als die Apperzeptionspsychologie Wundtscher Prägung. Die Grundlage des aktpsychologischen Ansatzes ist eine konkur­ rierende Vorstellung von wissenschaftlicher Sachlichkeit: Nicht der Blick hinter den bloß subjektiven Schein auf die naturgesetzliche Objektivität ist das vorrangige Ziel, also eine Erklärung des Scheins, sondern die exakte Beschreibung, die Deskription. Brentano kennt – ähnlich wie Wilhelm Dilthey12 – eine »objektivierende innere Beobachtung« (Orth 1984, 43), stellt also der Wundtschen Suche nach Objektivität keinen Subjektivismus, sondern eine andere Idee der Objektivität gegenüber – Titchener spricht von »immanent objec­ tivity« (Titchener 1921, 119). Es ist eine Objektivität, die in Abhän­ gigkeit von der Subjektivität (und nicht in Absehung von ihr) durch methodisches Vorgehen gewonnen wird, während Wundts Arbeit 11 Die Begriffsgeschichte des Aktes ist komplex. Bei Brentano stehen Akte zunächst Inhalten gegenüber (vgl. bspw. Schuhmann 1988, 98), in Husserls Phänomenologie handelt es sich bei Akten um intentionale Erlebnisse in Abgrenzung von nicht-inten­ tionalen Erlebnissen (vgl. Hua XIX; Mintken 2016, 128). 12 Zwischen Brentano und Dilthey bestehen hinsichtlich des Immanentismus Gemeinsamkeiten, aber im Weiteren auch Unterschiede, wie Fréchette (2020) dar­ stellt.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

nach der Unabhängigkeit vom Subjekt strebt: »Brentano and Wundt, in spite of formal and material agreement, psychologise in different ways« (ebd., 113). Auch wenn Brentanos Ideen bereits darüber hinausweisen, lässt sich mit einem gewissen Grad an Vereinfachung sagen, dass seine deskriptive Psychologie13 die subjektive Seite des Seelenlebens begüns­ tigt14, während Wundt sich der objektiven zuwandte15. Diese Unter­ scheidung lässt sich etwa im Anschluss an Carl Stumpfs Aufsatz über Richtungen und Gegensätze in der heutigen Psychologie (1907) vorneh­ men: »Die subjektive [Psychologie; ANW] analysiert das eigene, die objektive fremdes Seelenleben« (Stumpf 1907, 905). Fremdes See­ lenleben wird in der Apperzeptionspsychologie insofern untersucht, als die Beobachtung im Experiment einer raumzeitlichen Verortung von Verhalten dient, also der Außenperspektive den methodischen Vorrang eingesteht16: Observationalismus. Beide Lager haben im argumentativen Rücken ihrer jeweiligen Priorität lange geistesge­ schichtliche Traditionen sowie stichhaltige Gründe und es ist keine Trivialität, einem der beiden einen Vorrang zuzugestehen. Gewiss ist allerdings, dass die Geschichte Wundts Ansatz favorisiert hat, denn der Großteil der modernen Experimentalpsychologie steht auf seinen Schultern: Wer heutzutage Psychologie treibt, sucht vornehmlich nach subjektunabhängigen Mechanismen, die selbst keine Erlebnisse sind, sondern Erlebnisse erklären. Das Seelenleben, das von der Psychologie heutzutage untersucht wird, sind die Prozesse, seien sie physikalischer oder komplexerer Natur, die unser bewusstes Erleben bedingen, ohne dass wir sie selbst erleben. Das notorische Beispiel für einen Prozess dieser Art ist die Assoziation, der Kernbegriff der Asso­ ziationspsychologie: Sie erklärt, weswegen uns bei der Erinnerung an

Brentano nannte seine deskriptive Psychologie auch ›Psychognosie‹. Es wäre falsch, Brentano einen Subjektivisten zu nennen. Ganz im Gegenteil hat er sich beständig gegen den Subjektivismus, der durch den deutschen Idealismus geprägt worden war, ausgesprochen. Mit Blick auf die Phänomenologie lässt sich jedoch sagen, dass der Verdacht des Psychologismus, den auch Husserl gegenüber Brentano geäußert hat, die Gefahr eines logischen Subjektivismus birgt (vgl. Huemer 2004). 15 Wundt beschränkte seine Forschung allerdings keinesfalls auf ›äußere Psychophy­ sik‹ im Sinne Fechners. Der Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität läuft hier daher nicht mit demjenigen zwischen Innen und Außen parallel, auch wenn sie zumindest für Brentano Geltung hat. 16 Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die epistemologische Abgrenzung von Funktions- und Erscheinungspsychologie (Stumpf 1907). 13

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1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft

unsere Lieblingsspeise das Wasser im Mund zusammenläuft, doch niemandem ist jemals eine Assoziation zu Gesicht gekommen. Wie verhält sich nun die Phänomenologie zu diesem methodo­ logischen Streit um die Natur des Seelenlebens, zwischen Wundts Apperzeptionspsychologie mit Blick auf das Geschehen im Verlauf der Natur auf der einen und Brentanos Aktpsychologie mit Blick auf die Erfahrungen des Subjekts auf der anderen Seite? Wer weiß, dass Edmund Husserl, einer der Pioniere der Phänomenologie, Brentanos Schüler gewesen ist, könnte sich zu der Meinung hinreißen lassen, phänomenologische Psychologie schlage sich auf die Seite des Lehrers und wolle die Subjektseite des Seelenlebens erforschen; doch das würde bedeuten, Phänomenologie mit deskriptiver Psychologie, die sie überwindet, zu verwechseln. Die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Seite des Seelenlebens, der bei Brentano der Unter­ scheidung von innerer und äußerer Wahrnehmung sowie psychischen und physischen Phänomenen entspricht, wird in der Phänomeno­ logie grundsätzlich infrage gestellt. Deswegen handelt es sich bei der phänomenologischen Psychologie um einen dritten Weg der psy­ chologischen Methodologie, auf dem die Differenzen Innen-Außen und Subjekt-Objekt nicht präsupponiert, sondern eigens thematisiert werden. Diese dritte Antwort auf die Frage nach dem Seelenleben ist Gegenstand des nächsten Kapitels (2.).

1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft Wozu aber bedarf es allererst verschiedener methodologischer Ansätze in der Psychologie? Ein wissenschaftstheoretischer Überbau scheint aus pragmatischer Perspektive überflüssig, denn, so ließe sich behaupten, die beste Erklärung der Beobachtungen des Seelenlebens werde sich im Wettstreit der Ideen durchsetzen (hierzu Wendt & Funke 2022). Wer auf diese Weise argumentiert, dem muss es gleich­ gültig sein, ob eine Erklärung aus der Apperzeptions- oder aus der Aktpsychologie stammt. Allein, dieser Blickwinkel hat einen blinden Fleck. Tatsächlich besteht der Unterschied zwischen Apperzeptionsund Aktpsychologie (zwischen die die phänomenologische Psycho­ logie tritt) nicht nur auf der Ebene unterschiedlicher Erklärungen derselben Phänomene, sondern in der grundsätzlichen Frage, was als Phänomen in der Psychologie gelten kann. Somit führt die erste Betrachtungsweise, die sich aus unserer vorläufigen Bestimmung

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

der ›erscheinungskundigen Seelenlehre‹ ergeben hat, zu einer kom­ plementären zweiten, die in der folgenden Frage kulminiert: Was sind die Erscheinungen, in denen sich das Seelenleben zeigt? Die Gegen­ überstellung von Apperzeptions- und Aktpsychologie ist auch für ihre Beantwortung sachdienlich, um den geistesgeschichtlichen Rah­ men der phänomenologischen Psychologie aufzuspannen, doch sie muss hinsichtlich zweier methodologischer Sichtweisen differenziert werden, nämlich einer ontologischen und einer epistemologischen. Erscheinungen ontologisch zu bestimmen, bedeutet, ihren Platz in der Wirklichkeit festzustellen: Wie verändert sich das Sein, wenn etwas erscheint?17 Die epistemologische Seite des Erscheinungsbe­ griffs ordnet sie hingegen in den Erkenntniszusammenhang ein, blickt also (zunächst) unabhängig von ihrer Wirklichkeit auf die Rolle der Erscheinungen in der Erfahrung. Die ontologische Grundlage für die Apperzeptionspsychologie, also die Psychologie des ›objektiven‹ Seelenlebens, bildet eine mecha­ nizistische Konzeption der Erscheinungen: Nach ihr sind Erscheinun­ gen in Wirklichkeit Reize, also Ereignisse, die auf einen Organismus so wirken, dass er sich verändert. Der Reiz ist als ›Information‹ der Auslöser bzw. das Reagens für die ›mentale Chemie‹. Sie ist eine Verarbeitung der Reize bzw. Informationen (s. 6.3 zum Begriff der Information). Die Erscheinungsweise des Seelenlebens lässt sich somit (im etymologischen Sinne des Wortes) als ein Reaktor beschrei­ ben: Ein Raum, in dem systematisch und zuverlässig Reaktionen in Abhängigkeit davon, was eingegeben wird, ablaufen. Die wissen­ schaftliche Methode ist folglich eine Möglichkeit das Produkt der Reaktion zu adressieren, nämlich das Verhalten. Strittig ist dabei, ob der Verhaltensbegriff auch kognitive Prozesse oder lediglich Pro­ zesse physiologischer Natur einschließt. Jene Position entspricht dem Kognitivismus, diese – im Allgemeinen – dem Behaviorismus18. Grundsätzlich gilt allerdings in beiden Fällen, dass Verhalten als die Wirkung eines Mechanismus, der durch den Reiz in Gang gesetzt worden ist, verstanden wird. Die wesentliche Voraussetzung dieser Denkweise ist ein Naturalismus19 . Das ist die Überzeugung, dass das gesamte Sein in einer Gesetzen gehorchenden Welt stattfindet und als Prozess in zeitlicher Ordnung abläuft. Damit ist, wie zuvor betont, Streng betrachtet ist bereits der Begriff der ›Veränderung‹ ontologisch strittig. Die unterschiedlichen Formen des Behaviorismus, beispielsweise Watsons klassi­ scher, Skinners radikaler oder Tolmans Neobehaviorismus beziehen unterschiedliche Positionen zu dieser Frage.

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kein Physikalismus impliziert. Die ›natürlichen‹ Mechanismen sind nicht notwendigerweise physische: Für das erwähnte Beispiel der Assoziation sind zwar immer wieder direkte Entsprechungen im Nervensystem vorgeschlagen worden, aber diese Rückführung der mentalen Mechanismen auf physische ist nicht alternativlos. Kongruent mit diesem naturalistischen Mechanizismus auf ontologischer Ebene ist der Empirismus20 auf epistemologischer. Wahrnehmungen sind rezeptive Vorgänge, in denen sich das Subjekt an Stimuli wie eine Wachstafel (tabula rasa) an den Griffel anpasst, sie passiv entgegennimmt. Im Zentrum steht folglich der Stimulus, der hier als das epistemologische Äquivalent des Reizes verstanden werden soll21. Die Rezeption des Stimulus ist der Ausgangspunkt des Empirismus: Der Abdruck, der auf der Wachstafel hinterbleibt, ist eine Repräsentation. Das bedeutet, dass ein Ereignis im Seelenleben auftritt, weil ein Stimulus auf das Subjekt gewirkt hat. Diese reprä­ 19 Fahrenberg diskutiert unter Bezugnahme auf Eislers Darstellung über Wundts Philosophie und Psychologie (1902), inwiefern sich Wundt einem Naturalismus anschließt. Dort hieß es »Gewiss kommen bei ihm die Tatsachen einer naturwis­ senschaftlichen Forschung zur vollsten Geltung, wie er sich auch gewissen natur­ philosophischen Hypothesen gegenüber, z.B. der Deszendenztheorie, nicht schroff ablehnend verhält. Aber schon der Umstand, dass Wundt alle Naturentwicklung mit geistigen Prinzipien in Zusammenhang bringt, und seine Ansicht, dass die Natur die Vorstufe des Geistes sei und dass in ihr sich schließlich die Gesetze, die das Denken beherrschen, wiederfinden müssten, rücken ihn viel näher an die idealistischen Richtungen älterer Zeit als an den philosophischen Naturalismus heran« (Eisler 1902, 16; zit. nach Fahrenberg 2011, 244). Fahrenberg entgegnet: »Die Meinung, Wundt habe seinen ursprünglich naturalistischen Standpunkt allmählich mit einem idealistischen vertauscht, ist irrig. Richtig ist nur, dass er seinen Standpunkt teils durch das Fortschreiten seines Denkens, teils in den Polemiken mit seinen Kritikern immer klarer herausgearbeitet und tiefer begründet hat, wobei er manche ältere Vorurteile notwendig aufgeben musste« (Fahrenberg 2011, 244). 20 Wie in der vorherigen Besprechung der Assoziationspsychologie muss hier betont werden, dass Empirismus und Idealismus keinen notwendigen Widerspruch darstellen. Wundts Empirismus kann als gemäßigter qualifiziert werden, der mit idealistischen Auffassungen, etwa in der Tradition von Leibniz oder dem Kantschen transzendentalen Idealismus, kompatibel ist. 21 Es ist nicht trivial, dass der ontologische ›Reiz‹ mit dem epistemologischen ›Stimulus‹ identisch ist (die Verwendung der beiden Begriffe soll hier nur der Verdeut­ lichung der unterschiedlichen Betrachtungsweisen dienen und ist in der Literatur nicht einheitlich). Es handelt sich gewissermaßen um zwei Aspekte desselben Sachverhalts: Der Reiz ist die distale Seite im Ablauf des Naturgeschens, während der Stimulus die proximale Seite der Erkenntnis ist. Zwar ist im Naturalismus auch die Erkenntnis ein naturkausales Geschehnis, doch zumindest für das logische Verständnis der Erkenntnis muss eine analytische Differenzierung vorgenommen werden.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

sentativen Ereignisse wurden ursprünglich Vorstellungen genannt, was allerdings eine starke intellektualistische Tendenz zum Ausdruck bringt, sodass jüngere empiristische Ansätze betont haben, dass auch pathische Eindrücke, z.B. Stimmungen, als Repräsentationen verstanden werden können. Ebenso wenig wie der Naturalismus einen Physikalismus erzwingt, muss Empirismus sensualistisch sein – mit Reizen kann mehr als die stoffliche Reizung der Sinnesorgane gemeint sein. Stimuli sind für die Wissenschaften im weitesten Sinne dasje­ nige, was zählbar, messbar oder beobachtbar ist und eine Wirkung auf den Organismus bzw. das Subjekt hat22. In der Psychologie bedeutet diese Auffassung praktisch, dass sich Unterschiede im psy­ chologischen Experiment feststellen lassen müssen, um bedeutsam zu sein. Das Experiment dient dazu, Stimuli zu isolieren, sodass mit Gewissheit von ihrer Wirkung auf die Versuchspersonen ausgegan­ gen werden kann. Mit der Analogie der Chemie lässt sich sagen, dass die Kenntnis der Reagenzien und des Produktes Einsichten über den Mechanismus gestattet. Der Anspruch ist, im Laboratorium unter sog. ceteris-paribus-Bedingungen zu arbeiten, also eine vollständige Kontrolle aller Randbedingungen zu garantieren. Ähnlich wie die Sterilität eines physiologischen Experiments sind Beobachtungen eines Verhaltens gültig, insofern ein Messfehler, d.h. der Einfluss unkontrollierter Umstände, ausgeschlossen werden kann. Ein expe­ rimenteller Idealzustand wäre das Äquivalent zu einer Vakuumkam­ mer, in der eine chemische Reaktion ohne Störfaktoren ablaufen kann: Der Mensch würde in dieser idealisierten Kammer ohne Ablenkungen auf einen isolierten und vollständig bekannten Stimulus reagieren, sodass das Produkt seiner ›mentalen Chemie‹, der Mechanismen seiner Seele, ohne messfehlerbehaftetes Rauschen beobachtet werden können. Allerdings beschränkt sich das Bild der ›psychologischen Vakuumkammer‹ dabei nicht auf Umweltreize, sondern müsste auch Interferenzen innerhalb des kognitiven Systems eliminieren können. 22 Mit ›Wirkung‹ ist nicht die materielle Veränderung gemeint (auch wenn sie statthat), sondern der Einfluss auf den Erkenntniszusammenhang im weitesten Sinne. Es muss sich bei ihr also nicht um eine merkliche Veränderung handeln, denn sie kann auch unter der Schwelle des Bewusstseins erfolgen, aber die Wirkung vollzieht sich direkt oder indirekt im Bewusstseinsfeld. Ein Beispiel für eine Stimulation unter der Schwelle des Bewusstseins ist ein Gewichtsunterschied, der nicht bemerkt wird. Es handelt sich nichtsdestoweniger um einen Stimulus, dessen Wirkung auf die Erkenntnis prinzipiell möglich gewesen wäre.

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1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft

In diesem Sinne sagt Wundt, dass die »willkürliche Wiedererneue­ rung der inneren Vorgänge« (Wundt 1888, 301) zwar möglich sei, aber »der einzige Weg, sie zu ermöglichen, in dem psychologischen Experiment besteht« (ebd.). Ob die ›mentale Chemie‹ dabei selbst erscheint, ist eine zentrale Streitfrage. Die historisch einflussreichste Position ist, dass es nur indirekte Erkenntnisse über den Ablauf der Informationsverarbeitung gibt (Stumpfs ›Erscheinungspsychologie‹). Das bedeutet, dass aus­ schließlich Rückschlüsse auf die ›mentale Chemie‹ möglich sind, nämlich auf Grundlage der Verhaltensbeobachtung und dank der Kenntnis der Stimuli. Die Beobachtbarkeit der psychischen Prozesse selbst ist jedoch, beispielsweise von der Würzburger Schule der Denk­ psychologie, ebenfalls vertreten worden (Stumpfs ›Funktionspsycho­ logie‹). Die allgemeine Form der für die Psychologie bedeutsamen Erscheinungen ist die psychische Tatsache: Der Stimulus ist eine Tat­ sache, wenn er als Information verarbeitet wird, d.h. im Kontext der ›mentalen Chemie‹, selbst wenn diese nur indirekt festgestellt werden kann, und das Verhalten ist als ihr Produkt ebenfalls eine Tatsache. Was ist also die ›Tatsache‹ als zentrale epistemologische Bestim­ mung der psychischen Geschehnisse in der Apperzeptionspsycholo­ gie? Auch wenn in Wundts Denken, wie beispielsweise im Titel seiner Ethik: eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, der Ausdruck allgegenwärtig ist, findet sich keine explizite Begriffsbestimmung – auch hier handelt es sich also um einen opera­ tiven Begriff. Dennoch lässt sich rekonstruieren, dass Tatsachen mit der Erfahrung in notwendiger Beziehung stehen, denn er spricht von »Thatsachen der inneren oder äußeren Erfahrung« (Wundt 1893, 412) oder »Thatsachen, welche uns subjective und objective Erfahrung zur Verfügung stellen« (Wundt 1886, 11). Die Unterscheidung von zwei Erfahrungsformen bedeutet dabei zunächst, dass es zwei Formen der Gewissheit von Tatsachen gibt, nämlich die subjektive durch unmit­ telbare Wahrnehmung und die objektive durch den logischen Beweis. Beiden Formen, innere und äußere bzw. subjektive und objek­ tive, sind allerdings »nur reflectirende Abstractionen aus einer und derselben realen Erfahrung« (Wundt 1893, 486). Wie ist diese reale Erfahrung aber zu verstehen? In Übereinstimmung mit dem Empiris­ mus lässt sich erkennen, dass Wundt einen Modellcharakter, sogar einen Vorrang der äußeren Erfahrung annimmt. So sagt er: Nun können wir aber unsere innere Erfahrung gar nicht abgesondert behandeln von der äusseren; denn einerseits führt die Untersuchung

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

der psychologischen Vorgänge stets auf begleitende körperliche Func­ tionen, anderseits beziehen sich unsere Vorstellungen auf Objecte der Aussenwelt, und wir können von dieser Beziehung nicht abstrahiren, ohne wesentliche Eigenschaften der Vorstellungen selbst aufzuheben (ebd., 539).

Erfahrung ist – und daher rührt der Name der Apperzeptionspsycho­ logie – allerdings nicht einfache Aufnahme von Stimuli, sondern sogleich deren Synthetisierung vermittels Apperzeption im leibnizia­ nisch-kantischen Sinne. Was die Apperzeption (über die einfache Assoziation hinaus) leistet, wird laut Wundt durch die Begriffe Gegenstand, Eigenschaft und Zustand zum Verständnis gebracht, wobei der Begriff des Gegenstands grundlegend ist. Gegenstände unserer Erfahrung haben Substanzcharakter. In anderen Worten: In gewöhnlicher Sichtweise halten wir unsere Umwelt für beständig23. Nach Wundt entspricht diese Objektpermanenz allerdings nicht der Tatsächlichkeit der Erfahrung. Er spricht deswegen in Abgrenzung zu Gegenständen von Erfahrungsdingen, die flüchtig sind und der Apperzeption zugrunde liegen. Es handelt sich um eine Argumenta­ tionsfigur, die an Kants ›Ding an sich‹ gemahnt, das sich hinter den bloßen Phänomenen verbirgt. Diese Auffassung der Erfahrungsdinge im Sinne des ›empiri­ schen Realismus‹, der sich bei Kant finden lässt, gibt Aufschluss über die Idee der Tatsache in der Apperzeptionspsychologie. Es handelt sich in Tradition der britischen Aufklärung, an deren Anfang Francis Bacon steht, um »gereinigte Einzelfeststellungen, ›unverfälschte und losgelöste‹ Erfahrungselemente« (Daston 2002, 45), an denen sich dann »Beziehungen, die zwischen den einzelnen Tatsachen stattfin­ den« (Wundt 1893, 452), feststellen lassen können (Hier zeigt sich bereits die fundamentale Bedeutung der logischen Verhältnislehre als Grundlage der Psychologie). Mag es auch falsch sein, Wundt für einen psychologischen Elementaristen zu halten, so ist die empiristische Auffassung, dass es einzelne Erfahrungsinhalte gäbe, tief in seiner Weltanschauung verwurzelt, obschon diese im beständigen Werden der Welt unablässig und prozesshaft vergehen. In einer Rezension von Wundts System der Philosophie (1889) findet Johannes Volkelt eine nützliche Formulierung, um den Status der Tatsächlichkeit in der 23 Diese Objektpermanenz, die Gegebenheit von Erlebnisinhalten, die gegenüber den Schwankungen der Empfindungsgrundlage gleichgültig bleiben, ist auch für die phänomenologische Denkweise ein Schlüsselbegriff.

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Apperzeptionspsychologie zu artikulieren, wenn er schreibt, »dass Wundt zu den Vertretern der Ansicht gehört, wonach auch das Transsubjective mit Erfolg Gegenstand unseres Erkennens wird« (Volkelt 1891a, 258). Mit dem Begriff des Transsubjektiven ist der Tatsächlichkeit Ausdruck verliehen: »Die Gegenstände, auf die sich das Naturerkennen bezieht, sind nicht als Vorstellungen im Subjekt vorhanden, sondern sie müssen als ›ausserhalb des Subjektes‹, als ›unabhängig von ihm‹ vorausgesetzt werden« (ebd., 259). Eine dieser Argumentationsweise entsprechende Formulierung für den Begriff der Tatsache findet sich bei Husserl: Die fundierenden Erkenntnisakte des Erfahrens setzen Reales indivi­ duell, sie setzen es als räumlich-zeitlich Daseiendes, als etwas, das an dieser Zeitstelle ist, diese seine Dauer hat und einen Realitätsgehalt, der seinem Wesen nach ebenso gut an jeder anderen Zeitstelle hätte sein können (Hua III, 12).

Maßgeblich ist, dass Tatsachen individuell und raum-zeitlich kon­ tingent sind. Jedenfalls handelt es sich um einen Ausdruck, der im englischsprachigen Diskurs bereits seit Jahrhunderten als fact und matter-of-fact stehende Rede ist. Ist diese Überzeugung, dass das Seelenleben eine Abfolge von individuellem Realitätsgehalt ist, allerdings sachgerecht? Was an dieser Auffassung der Erscheinung des Seelenlebens fragwürdig ist, wird im Folgenden in der Ausein­ andersetzung mit dem phänomenologischen Begriff des Wesens zu reflektieren sein (Kapitel 3.1). Was sind somit vom Standpunkt der Apperzeptionspsychologie die Erscheinungen, in denen das Seelenleben gegeben ist? Es handelt sich um diejenigen Geschehnisse im Ablauf der Natur, die mit der Veränderung des Organismus, also der Reizung, beginnen und durch die Apperzeption, d.h. kognitiven Verarbeitung, modifiziert sind. Der Reizung entspricht24 aus der Innenperspektive der Versuchsper­ son die Stimulation, die durch die Apperzeption zum Gegenstand wird, aber auf eine ursprüngliche Tatsachenerfahrung zurückweist. In anderen Worten: Tatsächlich ist die einfache und raum-zeitlich lokalisierte Stimulation25, deren klassischer Name Empfindung ist und die durch die ›mentale Chemie‹ modifiziert wird. Die Erschei­ 24 Diese ›Entsprechung‹ ist das zentrale epistemologische Problem des Repräsen­ tationalismus, das mit der Erklärungslücke zwischen subjektiver Erfahrung und Naturkausalität zusammenhängt (Zur Frage nach dem Repräsentationalismus siehe das zweite Kapitel).

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

nung des Seelenlebens, die im psychologischen Experiment isoliert wird, ist diejenige Reizung, der eine Tatsachenempfindung, also eine Stimulation, entspricht, die zuverlässig selbst und nicht erst nach der Apperzeption ins Bewusstsein tritt. In der Praxis muss die psychologische Forschung deswegen einen elementaren Versuchsauf­ bau mit isolierten Reizen anstreben, sodass die Versuchspersonen idealerweise ein wiederholbares Tatsachenbewusstsein haben. Auch heute verwendet die Psychometrie in ihren Experimenten in der Regel einfachstes Stimulusmaterial in ihren Versuchsaufbauten26. Für den Vergleich mit der Aktpsychologie ist das Folgende ent­ scheidend: Mag Wundt mit dem Begriff der Apperzeption auch darauf hinweisen, dass die Assoziation die Komplexität und Eigendynamik des Seelenlebens unterschätzt, seine Erklärungsweise ist nichtsdes­ toweniger in empiristischer Tradition auf die Annahme einer Welt von Tatsachen angewiesen. Es handelt sich dabei um eine erkenntnis­ theoretische Überzeugung, die ihn zumindest in dieser Hinsicht in die Nähe der Assoziationspsychologie rückt. Wer verstehen möchte, worin der fundamentale Unterschied zwischen Apperzeptions- und Aktpsychologie liegt, darf sich nicht auf die psychologischen Beschrei­ bungen und Erklärungen beschränken, sondern muss berücksichti­ gen, dass sie Früchte unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Tradi­ tionen sind. Auch für den Erscheinungsbegriff der Aktpsychologie lässt sich eine ontologische und eine epistemologische Bestimmung vorneh­ men. Auf ontologischer Ebene mag – zumal aus der Perspektive der zeitgenössischen Wissenschaften die Frage aufkommen, was dem naturalistischen Mechanizismus der Apperzeptionspsychologie über­ haupt opponieren könne. Die klassische Alternative zum Mechani­ zismus bietet der Finalismus, der anstelle von Ursache-Wirkungs(causa efficiens) auf Grund-Folge-Relationen (causa finalis) zur Erklä­ rung des psychischen Lebens zurückgreift. Wie zuvor angedeutet, ver­ wendet auch Wundt zumindest einen methodologischen Finalismus, 25 Der Begriff des ›Stimulus‹ steht in psychologischer Notation oftmals ohne Sti­ mulans, doch für den abstrakten Begriff der Tatsache lässt sich im allgemeinen kantianischen Sinne von Dingen sprechen, durch die das Subjekt affiziert wird (der Gedanke der Rezeptivität). Diese Affektion ist die ›Tat‹ der Tatsache, die aufgefasst bzw. rezipiert wird. So wird ersichtlich, dass in dieser Denkweise Tatsächlichkeit in artistotelischer Tradition auf Abhängigkeit verweist. 26 Versuchsaufbauten werden in der Experimentalpsychologie gemeinhin ›Experi­ mentalparadigmen‹ genannt.

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geht also davon aus, dass das Seelenleben nicht durch Naturgesetze erklärt werden kann, selbst wenn es – ontologisch betrachtet – Bestandteil der Naturkausalität ist. Die Aktpsychologie rekurriert demgegenüber auf die Möglichkeit, nicht nur einen methodologi­ schen, sondern einen ontologischen Finalismus anzunehmen. Dies wird dadurch begünstigt, dass Brentano als Neoaristoteliker gelten kann und die aristotelische Lehre von der Entelechie (ἐντελέχεια) als ontologischer Finalismus zu verstehen ist. Eine entsprechende Einschätzung der Philosophie Brentanos findet sich beispielsweise bei seinem Schüler Kraus: »In einem unendlichen Aufstieg sieht er das Endziel oder richtiger gesagt das Ziel ohne Ende, das teleologische Weltgesetz, das mit dem kausalen vereint alles Geschehen durchwal­ tet« (Kraus 1919, 77). Wichtiger noch aber ist die Opposition zum Naturalismus. Was, so lässt sich fragen, ist eine plausible Alternative zu einer Bestimmung der Welt als Abfolge von Naturgeschehnissen? Die Antwort ist nicht trivial, denn sie setzt die Kenntnis der zugrunde liegenden Struktur­ logik voraus. Die apperzeptionspsychologische Auffassung des Reizes gründet auf die durch den britischen Empirismus geprägte Überzeu­ gung, dass einzelne Ereignisse in der Wirklichkeit zusammenwirken, also einen Atomismus. Ihm hält die Aktpsychologie entgegen, dass die Erscheinung des Seelenlebens nur im Zusammenhang seiner Ganzheit möglich ist: »Das Bewußtsein bildet Brentano zufolge ein strukturiertes Ganzes, in dem sich zwar verschiedene Elemente unterscheiden lassen, das jedoch kraft diverser Fundierungsverhält­ nisse, die zwischen diesen Elementen bestehen, kein bloßes Kollektiv, sondern eine organisierte Einheit bildet« (Chrudzimski 2004, 154). Auch diese Idee der strukturierten Ganzheit des Bewusstseins ist Ausdruck von Brentanos aristotelischem Erbe. Wundt betont hinge­ gen die Bedeutung der einzelnen bzw. partikulären Vorgänge, wenn er sagt, dass das Bewusstsein »lediglich in dem Zusammenhang der psychischen Vorgänge selbst gegeben« (Wundt 1896, 39) sei. Das bedeutet, dass die Organisation, die Struktur des Bewusstseins in der Apperzeptionspsychologie keine eigenständige Realität, sondern empirische Wirkung der Kopräsenz psychischer Vorgänge ist und daher keiner ›Einheitsfunktion‹ bedarf. Die einzelnen psychischen Vorgänge sind nach dieser Ansicht einheitsstiftend, insbesondere die Willensregungen, weswegen Wundts Apperzeptionspsychologie als voluntaristisch zu kennzeichnen ist (vgl. ebd., 41).

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Wundts Voluntarismus hat eine Schlüsselfunktion für seinen Bewusstseinsbegriff, denn er beansprucht den Willen, um die Erfah­ rungstatsachen zu integrieren, also gewissermaßen als Triebfeder des senus communis: »Nach Wundt ist die Art, wie wir im Denken die Vorstellungsinhalte verknüpfen, ›eine unmittelbare That unseres Willens‹“ (Volkelt 1891a, 263). Diese Argumentation ist allerdings fragwürdig, was Volkelt zeigt, indem er nachweist, »dass es dem Transsubjektivismus Wundts an hinreichender Begründung fehle« (ebd., 265). Der Voluntarismus ist, so Volkelt, nicht ausreichend, um ohne naiven Realismus die Beziehung zwischen Tatsachen und Bewusstsein zu bestimmen. Von Wundts Erkenntnistheorie sagt Volkelt deswegen, »dass sie den erkenntnistheoretisch wichtigsten Gegensatz: die Kluft zwischen dem eigenen Bewusstsein und allem Transsubjectiven, nicht würdigt und demnach auch die Frage, wodurch es dem menschlichen Denken möglich werde, mittelst der zunächst doch rein intersubjectiven Erkenntnissakte das Transsubjective – wenn auch nur hypothetisch – zu erkennen« (ebd., 260). Brentanos Denkweise widerspricht der apperzeptionspsycholo­ gischen Auffassung des Bewusstseins nun insofern, als die Einheit und Ganzheit des Bewusstseins nicht als Eigenschaft von tatsächli­ chen Vorgängen verstanden wird. Nicht ohne die Gefahr des Miss­ verständnisses kann davon gesprochen werden, dass (zumindest der späte) Brentano die »Seele als Substanz« (Fugali 2002) auffasst. Der ontologische Unterschied zwischen Apperzeptions- und Aktpsycho­ logie besteht jedoch nicht trivialerweise darin, dass Brentano dem Naturalismus mit einem Animismus, also der Behauptung einer unabhängigen Seelensubstanz, dem Monismus mit einem Dualismus gegenübertritt. Vielmehr verläuft die Grenzscheide in der Mereologie: In der Lehre von Teilen und Ganzen. Die Grundfrage ist dabei, ob ein Kollektiv von Teilen ein Ganzes bilden kann oder Ganzheit nicht auf Assoziation oder Apperzeption reduziert werden könne. Diese mereologische Grundfrage für das Verständnis der Erscheinungsweise des Seelenlebens ist auch heute so brisant wie ehedem. So findet sich beispielsweise unter Materialisten die Auf­ fassung, dass Bewusstsein als Emergenz von komplexen Stoffver­ bänden verstanden werden müsse (vgl. Strawson 2009). Es wäre jedoch ein Fehler, Wundt diese Auffassung zu unterstellen. Auch hier ist die Grenzziehung zwischen Apperzeptions- und Aktpsycho­ logie anspruchsvoller und subtiler. Dies lässt sich am Beispiel von emergentistischen Positionen verdeutlichen, die im 20. Jahrhundert

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entwickelt worden sind. Sie nehmen oftmals die Assoziation als Grundprinzip der Verknüpfung von Teilen in Anspruch: Wundt hin­ gegen »folgt nicht der Auffassung der englischen Assoziationspsycho­ logen […], dass für die Verknüpfung von gleichförmigen Bewusst­ seinselementen vor allem die Wiederholungshäufigkeit maßgeblich ist« (Fahrenberg 2011, 40). Stattdessen »hebt Wundt die organisie­ rende willentliche Funktion der aktiven Apperzeption, die selektive und fokussierende Funktion sowie die ›schöpferische Synthese‹ in den Bewusstseinsleistungen hervor« (ebd.). Mag Wundts Begriff der Apperzeption auch keinen psychologi­ schen Elementarismus bedeuten, so muss sein transsubjektiver Natu­ ralismus doch als ontologischer Partikularismus27 verstanden werden, dem Brentanos ontologischer Holismus entgegensteht, nämlich die Behauptung der Eigenständigkeit des Bewusstseins als Ganzes: for Brentano, at least in his mature thinking, the parts are essential to the whole and therefore any change in parts results in the constitution of an entirely distinct individual. Ultimately, this means that in order to persist through time, an individual substance such as the human soul must have no parts at all (Krantz Gabriel 2017, 145).

Um Missverständnisse zu vermeiden, ist wichtig, erneut hervorzuhe­ ben, dass mit der Substanzialität der Seele in diesem Sinne kein naiver Animismus, für den die Seele eine der übrigen Welt fremde Entität ist, gemeint ist, sondern eher ein Hylomorphismus in aristotelischer Tradition. Das bedeutet, dass das Seelenleben als Form (μορφή) den Stoff (ὕλη) des Körpers gestaltet und ihm eine Richtung gibt. Wie lässt sich der Unterschied zwischen der apperzeptions- und aktpsychologischen Auffassung der Erscheinung von Seelenleben in ontologischer Hinsicht zusammenfassen? Die Erscheinungen, in denen sich das Seelenleben zeigt, sind laut Brentano Formationen oder Gestalten – genauer gesagt: Akte – derjenigen Ganzheit, die wir als Bewusstsein bezeichnen. Dass diese Reformierungen des Bewusstseins durch Reize hervorgerufen werden können, ist im 27 So beschreibt Volkelt Wundts metaphysischen Voluntarismus: »[S]o besteht die Welt, wie Wundt sie sich metaphysisch vorstellt, aus einer Summe von thätigen Willenseinheiten« (Volkelt 1891b, 529). Volkelt spricht weiter von einem »kosmi­ sche[n] Mechanismus« (ebd.) in Wundts System, wobei sich dieser Mechanismus aus dem Wirken der »metaphysischen Willensrealitäten« (ebd.) ergäbe. Wundts Partikularismus ist deswegen zwar keinesfalls materialistisch, doch seine Erklärung des Seelenlebens ist als Voluntarismus mechanizistisch. Für eine Begriffsverwendung von ›Partikularismus‹ in diesem Sinne siehe Hoffmann (2010, 43ff.).

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

Gegensatz zu Wundt eine Kontingenz. Das Seelenleben erscheint nicht als Transformation von Stimuli, sondern äußere Wahrnehmun­ gen werden vielmehr möglich, weil das Bewusstsein durch Rezeptivi­ tät ausgezeichnet ist. Für Brentano bedeutet ›erscheinen‹ so viel wie ›vorgestellt werden‹, und die Vorstellung ist die generische Form aller Akte. Der Vorrang der inneren Wahrnehmung gewinnt seine Geltung durch einen finalistischen Holismus, für den das Seelenleben seine Eigenheit und Komplexität jeweils nur in sich selbst findet. Die Ver­ änderungen im Sein, die sich vollziehen, wenn im Seelenleben etwas erscheint, sind keine vereinzelten Geschehnisse, sondern Modulatio­ nen eines grundsätzlich stabilen Zusammenhangs. Mit dem Bild des Flusses, des Bewusstseinsstroms, lässt sich daher sagen, dass die Apperzeptionspsychologie seine Bildung durch die Interaktion aller Wassertropfen oder gar -moleküle betrachtet, während für Brentano das Flussbett als gesamte Form ihnen erst die Möglichkeit verleiht, zum Fluss zu werden. Das Leitmotiv in der bewusstseinspsychologi­ schen Kontroverse, also die Opposition zwischen Reizverarbeitung und Selbsttätigkeit, ist letztlich mereologisch bedingt: Hat bei Wundt das Teil den konstitutiven Vorrang vor dem Ganzen, nämlich dem Bewusstsein, so bei Brentano das Ganze vor den Teilen, das Bewusst­ sein vor den Empfindungen. Auch auf epistemologischer Ebene lässt sich ein Unterschied zwi­ schen Apperzeptions- und Aktpsychologie artikulieren. Allerdings sind die Unterschiede innerhalb der Bewusstseinspsychologie auch hier subtil und nicht ohne Weiteres in klassische binäre Schemata einzuordnen. Eingedenk der obigen Einsicht, dass für die Apperzep­ tionspsychologie die Tatsache der epistemologische Schlüsselbegriff ist, ließe sich ein Gegenbegriff zur Tatsächlichkeit der Erscheinungen vermuten, doch es handelt sich vielmehr um eine andere Auffassung des Tatsachenbegriffs. Dies wird beispielsweise im ›Satz der Phäno­ menalität‹ deutlich, den Dilthey als »obersten Satz der Philosophie« (Dilthey 1890, 90) beschreibt. Er sagt: [N]ach diesem steht alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein; auch jedes äußere Ding ist mir nur als eine Verbindung von Tatsachen oder Vorgängen des Bewußtsein gegeben; Gegenstand, Ding ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da (ebd., 90f).

Weiter heißt es: »Denn nur im Bewußtseinsakt ist ja das Gegen­ überstellen, das Trennen von Selbst und Objekt da« (ebd., 91). Der

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1.3 Erscheinungen in der psychologischen Wissenschaft

aktpsychologische Tatsachenbegriff ist immanentistisch. Das bedeu­ tet, dass Brentano dort, wo Wundt die Erfahrungstatsachen in ihrer Gesamtheit nach dem Vorbild der äußeren Wahrnehmung auffasst, die Innenperspektive begünstigt. So heißt es: »Alle unmittelbaren tatsächlichen Erkenntnisse sind affirmative Urteile. Sie beziehen sich auf uns selbst, d.h. auf unsere Seele mit ihren Akzidentien, die ihr als Denkendes (im weitesten Sinne des Wortes) eigen sind« (Brentano 1970, 161). Und weiter: »Man nennt diese tatsächliche Erkenntnis innere Wahrnehmung« (ebd.). Hier findet sich der Gegensatz zur Apperzeptionspsychologie, der allerdings nicht mit dem Unterschied zwischen Rationalismus und Empirismus verwechselt werden sollte28. Er besteht darin, dass für Brentano äußere Erfahrung nie evident sein kann, während Wundt die Erfahrung schlechthin nach dem Vorbild der äußeren Erfahrung versteht. Im Hintergrund dieses Unterschieds steht eine grundsätzlich verschiedene Auffassung vom Bewusstsein. Wundts Bewusstseinsbe­ griff findet in seiner sog. Aktualitätstheorie Ausdruck: »Nach Wundts Überzeugung ist das Seelische (Geistige) nicht strukturell oder gar substanziell zu bestimmen, sondern nur in der Aktualität zu erfassen, d.h. als ›unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens in der psycholo­ gischen Erfahrung‹“ (Fahrenberg 2011, 79). Auf diese Weise apper­ zeptionspsychologisch verstanden ist das Bewusstsein mit seiner inneren Erfahrung lediglich ein eigentümlicher Blickwinkel auf den Ablauf der naturgesetzlichen Wirklichkeit, nämlich ein Blickwinkel, der sich anstelle von Kausalität durch Teleologie, also Zielgerichtet­ heit, auszeichnet (methodologischer, nicht ontologischer Finalismus). Das ändert jedoch nichts daran, dass das Bewusstsein für Wundt de facto in der naturgesetzlichen Wirklichkeit aufgeht: »Auch der psychische Prozess ist kausal bestimmt, wenn auf der kausal-finalen Achse zurückgeblickt wird, jedoch für Künftiges ist er nicht kausal bestimmbar, nicht vorhersagbar« (ebd., 90). Demgegenüber betont Brentano eine strukturelle Eigenständigkeit des Bewusstseins, die er mit dem denkwürdigen Ausdruck der ›intentionalen Inexistenz‹ der psychischen Phänomene, aber auch ihrer »immanenten Gegenständ­ lichkeit« (Brentano 1874, 124) bezeichnet. Sie muss als Alternative zur Apperzeption verstanden werden und zeichnet den Akt als Akt aus. Auch für die Phänomenologie ist das Konzept der Intentionalität 28 Die Opposition von Brentano und Wundt verläuft inmitten des Empirismus und jener fußt seine induktive Methodologie nicht weniger auf Mill und Hume als dieser.

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1. Der geistesgeschichtliche Hintergrund

von großer Bedeutung. Es zu erläutern wird Aufgabe der folgenden Kapitel sein (2. u. 3.). Wenn jemand beispielsweise einen Gedanken erlebt, muss es sich apperzeptionspsychologisch aufgefasst, um einen Vorgang han­ deln, der zwar beständig erscheint, doch seine Beständigkeit muss sich dem psychologisch geschulten Auge als eine Umwandlung von tatsächlichen Stimuli erweisen, die stets nur aktuell und flüchtig sind. Aktpsychologisch betrachtet ist ein Gedanke nicht einfach auf Stimuli zurückzuführen. Gedanke zu sein, bedeutet vielmehr, etwas Gedachtes zu enthalten. Dieses Gedachte steht nicht in Abhängigkeit zur Stimulation, sondern zum Akt des Denkens: »Brentano behauptet unmißverständlich, daß das immanente Objekt ein untrennbares Korrelat des psychischen Aktes ist« (Chrudzimski 2004, 140). Bren­ tano nennt diesen Inhalt mit scholastischer Terminologie auch suppo­ sitio simplex, also die begriffliche Bedeutung, die einem Ausdruck zukommt. Diese Bedeutung ist nicht mit der suppositio realis, dem weltlichen Referenzpunkt, identisch. Brentanos Immanentismus führt ihn dazu, anzuerkennen, dass das Seelenleben für sich betrachtet aus bedeutungshaften Inhalten besteht, deren Beschaffenheit keine Kontinuität zur Existenz der gemeinten Wirklichkeit enthält. Konsequenter Weise »forderten die strengsten Vertreter der Aktpsychologie, daß unsere Wissenschaft sich überhaupt nicht mit Außenwelterscheinungen zu befassen habe, sondern sich auf die zugehörigen Verhaltensweisen (›Akte‹) des Sub­ jektes beschränken solle« (Metzger 1941, 273). Wundt würde demge­ genüber aufgrund seines objektivistischen Ansatzes behaupten, dass hier eine Abhängigkeit besteht: Das Gedachte des Gedankens hängt für ihn von einer apperzeptiven Verarbeitung und Umwandlung von ursprünglich reizhaft Tatsächlichem ab. Aktpsychologische Unabhän­ gigkeit von Akt und Außenwelt steht apperzeptionspsychologische Abhängigkeit gegenüber. Jene Unabhängigkeit ist ein Zeugnis der Selbsttätigkeit des Seelenlebens, diese Abhängigkeit hingegen ein Hinweis darauf, dass die Apperzeptionspsychologie die Aktualität des Bewusstseins als eine Verarbeitung begreift – auch wenn die angenommenen Verarbeitungsprozesse komplexer als diejenigen der Assoziationspsychologie sind. Wie verhält sich nun die phänomenologische Psychologie zur Frage nach den Erscheinungen, in denen das Seelenleben gegeben ist? Auch hier kann kursorisches geistesgeschichtliches Wissen glauben lassen, dass die Phänomenologie qua Husserl auf Seiten der Aktpsy­

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chologie stünde. In diesem Sinne schreibt Scheerer über Husserls Logische Untersuchungen (Hua XVIII/XIX): Tatsächlich kann man die LU als Höhepunkt und Abschluß der nichtexperimentellen Variante der Aktpsychologie bezeichnen, einer psy­ chologischen Richtung, in die sich unter den experimentell arbeitenden Psychologen Carl Stumpf – dem die LU gewidmet sind – und später sowohl die Würzburger Schule als auch die Grazer Schule der Gestalt­ psychologie einordneten (Scheerer 1985, 241)29.

Auch Binswanger schreibt: »Und doch ist die Lehre Brentanos von der Vorstellung und den sich auf ihr aufbauenden verschiedenen Weisen des Bewußtseins die beste Vorbereitung für Husserls Akt­ psychologie« (Binswanger 1922, 139). Allein, hier ist von einem reifen und weiten Begriff der Aktpsychologie die Rede, als deren Vollender Husserl mit seinen Logischen Untersuchungen gelten kann. Doch diese Vollendung steht erst am Anfang der phänomenologi­ schen Psychologie. Mögen die Logischen Untersuchungen auch in Kontinuität zum Immanentismus stehen, so weist doch bereits die sechste Untersuchung über die Immanenz hinaus. Spätestens aber die phänomenologische Bewegung in ihrer Gesamtheit hat das Prinzip der Phänomenalität hinter sich gelassen und stattdessen über Fragen wie denjenigen nach Umweltlichkeit, Intersubjektivität, Leiblichkeit und Situiertheit die Aktpsychologie überwunden. Analog gilt für den Begriff der Intentionalität, dass er zwar von Brentano (wieder-)ent­ deckt worden ist, ihm in der Phänomenologie jedoch eine andere Bedeutung gegeben wird. Dieser Fortschritt hat sie allerdings nicht in die Apperzeptionspsychologie getrieben. Welchen Weg sie stattdes­ sen genommen hat, soll das nächste Kapitel klären.

29 Diese Aussagen über die Denk- und Gestaltpsychologie sind wissenschaftsge­ schichtlich strittig und werden z.T. im Folgenden kontextualisiert. Erstens ist bestreit­ bar, dass die Denkpsychologie als Form der Aktpsychologie zu verstehen ist. Zweitens bestehen gewichtige Unterschiede zwischen Grazer Schule und Gestaltpsychologie (Berliner Schule, deren Vordenker Carl Stumpf gewesen ist).

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

Im ersten Kapitel ist der geistesgeschichtliche Rahmen der phänome­ nologischen Psychologie dargestellt worden. Die klassische Opposi­ tion zwischen Assoziations- und Vermögenspsychologie hinsichtlich der Selbsttätigkeit des Seelenlebens ist Ende des 19. Jahrhunderts durch die subtilere Kontroverse innerhalb der Bewusstseinspsycholo­ gie zwischen Apperzeptions- und Aktpsychologie überwunden wor­ den. Zwar ist die Assoziationspsychologie (im Gegensatz zur Ver­ mögenspsychologie) auch weiterhin ein wesentlicher Bezugspunkt für die Bewusstseinspsychologie schlechthin geblieben, doch für ein angemessenes Verständnis des psychologischen Spannungsfeldes, in dem sich die phänomenologische Psychologie bewegt, muss ins­ besondere die Kontroverse innerhalb der Bewusstseinspsychologie berücksichtigt werden. Dieser Zusammenhang ist von Bedeutung, weil – und das ist die psychologiegeschichtliche These, die hier vertei­ digt werden soll – der Beitrag der Phänomenologie zur Psychologie (auch) darin besteht, den Boden für eine dritte bewusstseinspsycholo­ gische Position zu bereiten. Der Zweck dieses Kapitels ist es zu erläutern, wie sich die phänomenologische Psychologie im Allgemeinen zu den im ersten Kapitel etablierten Fragen verhält, wie sich also die erscheinungskun­ dige Seelenlehre von Apperzeptions- und Aktpsychologie abgrenzt. Diese Klärung ist die Bedingung für den Zugang zum phänome­ nologischen Diskurs als spezifischem. Was aber unterscheidet den allgemeinen vom spezifischen Diskurs? Die phänomenologische Psy­ chologie schlechthin als einheitliche Auffassung des Seelenlebens zu verstehen, wäre ein Fehler. Es handelt sich nicht um eine spezifi­ sche Position, sondern um eine Geistesströmung, die sich mit dem Problembereich, der sich in der Bewusstseinspsychologie ergeben hat, kontrovers auseinandersetzt. Phänomenologische Psychologie im weiteren Sinne ist zunächst die Anerkennung und Thematisierung der Schwierigkeiten für die Untersuchung des Seelenlebens hinsicht­ lich seiner Erscheinung. Diese psychologiekritische Bedeutung des

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

phänomenologischen Diskurses nimmt beispielsweise mit der Psy­ chologismusfrage, für deren Beantwortung das Frühwerk Edmund Husserls bekannt geworden ist, ihren Ausgang, setzt sich aber über die gesamte Entwicklung bis zum heutigen Tage fort. Im Speziellen ist der Sinn der phänomenologischen Psychologie demgegenüber darin zu finden, dass verschiedene Lösungen für die Grundkontroverse der Bewusstseinspsychologie entwickelt werden. Hier zeigt sich im Pluralismus die Stärke, aber auch die Komplexität der Geistesströmung. Das bedeutet, dass der dritte Weg der phäno­ menologischen Psychologie nicht in einem einzelnen Lehrgebäude, sondern im Betreiben des bewusstseinspsychologischen Diskurses selbst besteht. Die Positionen, die dabei als phänomenologische vor­ getragen worden sind, reichen etwa von transzendentaler Egologie, wie zum Beispiel beim späten Husserl, bis hin zur radikalen Leibphilo­ sophie der Neophänomenologie, die durch Hermann Schmitz geprägt worden ist Allerdings handelt es sich bei diesen Ansätzen für die Beantwortung der Bewusstseinsfrage zunächst noch um phänomeno­ logische Psychologie im weiteren Sinne, die terminologisch präziser als psychologische Phänomenologie (im Unterschied zur phänomeno­ logischen Psychologie) bezeichnet werden sollte30. Psychologische Phänomenologie ist dasjenige Teilgebiet der philosophischen Phäno­ menologie, das sich Fragen des Seelenlebens widmet und nur in dieser Hinsicht in die Psychologie übergeht (vgl. Abb. 2). Im engeren Sinne ist phänomenologische Psychologie demgegenüber ein genuin psychologischer Beitrag. Der Unterschied tritt bereits oberflächlich zutage, denn psychologische Phänomenologie ist ein vornehmlich reflexives Unterfangen, sodass die Beiträge in der Regel theoretischer Natur sind. Phänomenologische Psychologie im engeren Sinne weist hingegen eine klare empirische Orientierung auf und ist daher (teil­ weise) in die Experimentalpsychologie integriert.

30 Um Missverständnisse zu vermeiden, hier die klare Terminologie für den ange­ zeigten Unterschied: Phänomenologische Psychologie im weiteren Sinne hat zwei Formen, nämlich psychologische Phänomenologie (die hauptsächlich zur phänome­ nologischen Philosophie gehört) und phänomenologische Psychologie im engeren Sinne (die zur Psychologie gehört). Dass dieser terminologische Unterschied für alle Beiträge der phänomenologischen Bewegung als sachdienliche Analysekategorie gelten kann, soll nicht behauptet werden. Vielmehr hebt er sich in der fundamentalen Verwobenheit von Reflexion und Empirie, von Wesens- und Tatsachenwissenschaften selbst auf.

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

Abbildung 2: Begriffsabgrenzung innerhalb der Phänomenologie.31

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Struktur des Kapitels. Nachdem zuvor erörtert worden ist, welche Deutungsangebote für die Begriffe ,Seelenleben‘ und ,Erscheinung‘ im Diskurs der frühen Experimentalpsychologie virulent gewesen sind, wird nun möglich, die phänomenologische Psychologie als erscheinungskundige Seelen­ lehre abzugrenzen. In den ersten beiden Abschnitten wird sie im Allgemeinen in den Zusammenhang der Bewusstseinspsychologie eingeordnet, indem nach ihrer Auffassung von Seelenleben und Erscheinung gefragt wird. Was sie im Besonderen auszeichnet, ist nicht einfach eine dritte Position, sondern eine andere Form, die Grundthematik zu problematisieren. Diese wird im dritten Abschnitt exemplarisch am Thema der Intentionalität vorgestellt, um zuletzt im vierten Abschnitt zu resümieren, in welchem Verhältnis die phänome­

31 Der vertikal schraffierte Bereich entspricht der philosophischen Phänomenologie in der Phänomenologie als Gesamtbewegung. Der horizontal schraffierte Bereich ist die phänomenologische Psychologie im weiteren Sinne. Die psychologische Phäno­ menologie fällt in den Grenzbereich zwischen Psychologie und Philosophie, zwischen philosophischer Phänomenologie und phänomenologischer Psychologie im weiteren Sinne. Mit nicht-psychologischer Phänomenologie ist in diesem Schema spezifisch philosophische Phänomenologie gemeint. Zu ergänzen wären andere Formen der Phänomenologie, beispielsweise die soziologische Phänomenologie. Die phänomeno­ logische Psychologie im engeren Sinne ist ein Forschungsbereich der Psychologie in methodologischer Hinsicht. Es handelt sich letztlich um eine idealisierte Taxono­ mie. Das bedeutet, dass die wissenschaftlichen oder philosophischen Beiträge in concreto zwischen den Bereichen übergehen. Das Schema dient folglich vorwiegend der analytischen Abgrenzung verschiedener Aspekte des Gesamtdiskurses. Auch die eindeutige Trennung zwischen Phänomenologie und anderen philosophischen (bzw. psychologischen) Strömungen kann hier nur suggeriert werden.

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

nologische Psychologie zu den beiden klassischen Alternativen der Bewusstseinspsychologie steht.

2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht Wir haben zuvor gesehen, welche Verständnismöglichkeiten für die Begriffe ,Seelenleben‘ und ,Erscheinung‘ in wechselseitiger Bestim­ mung innerhalb der Psychologie des späten 19. Jahrhunderts verfüg­ bar gewesen sind. Wie sich an Edmund Husserls ersten phänome­ nologischen Schriften, insbesondere den Logischen Untersuchungen (Hua XVIII-XX), nachvollziehen lässt, wird die phänomenologische Position in Bezugnahme auf diesen geistesgeschichtlichen Hinter­ grund entwickelt, um sich von ihm abzugrenzen bzw. ihn zu überfor­ men32. So bestimmt Husserl in der fünften logischen Untersuchung, um ein Beispiel zu nennen, drei verschiedene Bewusstseinsbegriffe, von denen der erste der naturwissenschaftlich operierenden Experi­ mentalpsychologie sensu Wundt zugeordnet wird und der zweite dem aktpsychologischen Immanentismus Brentanos entspricht. Husserl postuliert ein Fundierungsverhältnis, das den ersten vom zweiten, diesen allerdings dann von dem dritten, nämlich dem genuin phäno­ menologischen Bewusstseinsbegriff abhängig macht33. Wie aber grenzen sich die phänomenologischen Begriffe vom Seelenleben sowie der Erscheinung von den etablierten Formen der Bewusstseinspsychologie ab? Zur Erinnerung: Für die Apperzepti­ onspsychologie besteht das Seelenleben in einem komplexen, aber letztlich externalen Transformations- bzw. Verarbeitungsprozess, Diese Bezugnahme kann als inner-philosophischer Diskurs verstanden werden, insofern als Apperzeptions- und Aktpsychologie trotz ihrer Pionierrolle in der Expe­ rimentalpsychologie als selbstständiger Wissenschaft einen Beitrag zum philosophi­ schen Diskurs geleistet haben. 33 Darin, dass Husserl zu diesem Zeitpunkt der aktpsychologischen Perspektive den Vorrang vor der apperzeptionspsychologischen einräumt, spiegelt sich seine Wissenschaftsbiografie wider, in der Brentano als sein Lehrer eine gewichtige Rolle zukommt, obschon auch eine kontinuierliche Abgrenzungsbewegung stattgefunden hat (vgl. Huemer 2004). Diese Nähe zur Aktpsychologie ist jedoch keine Eigenschaft der Phänomenologie schlechthin. Für andere Mitglieder der phänomenologischen Bewegung, etwa den Münchner Phänomenologinnen und Phänomenologen, lässt sich von einer Affinität zur apperzeptionspsychologischen Experimentalpsychologie sprechen – ebenso für die phänomenologisch orientierten Mitglieder der Würzburger Schule, etwa August Messer oder Karl Bühler (vgl. Spiegelberg 1972). 32

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2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht

den wir mit einem Schlagwort Edward Titcheners als ›mentale Che­ mie‹ zusammengefasst haben34. Die apperzeptionspsychologische Psychologie macht sich mit der subjektunabhängigen Seite der Welt vertraut, um die Erfahrungen des Subjekts zu erklären. Diese Erfah­ rungen erscheinen zwar in ihrer Eigenart als stets aktuelle, doch dieser Anschein ist durch die Experimentalpsychologie zu erklären, sodass ihre naturkausale Determination ersichtlich wird. Das Seelenleben als Gegenstandsbereich der Psychologie tritt gleichsam in naturkausalen Erscheinungen zutage. Die Beschaffenheit dieser Erscheinungen wird durch einen naturalistischen Mechanizismus abgebildet und ihre Dynamik auf der Ebene partikulärer Tatsachen erkannt. In der Aktpsychologie vollzieht sich das Seelenleben demgegen­ über in immanenten Akten, die als Vorstellungen Ausdruck eines autonomen Subjektes, nämlich der Einzelseele, sind. Das Seelen­ leben im Sinne des Gegenstandsbereiches der Aktpsychologie ist folglich der Bewusstseinsstrom, der im aristotelischen Sinne als νοῦς ποιητικός oder intellectus agens in der Zielgerichtetheit des Seelenle­ bens manifestiert ist und zur Erscheinung kommt, denn die Seele »muss die substantielle Form, die Energie, die Entelechie des lebenden Wesens sein« (Brentano 1867, 46). Anstelle des Wundt’schen ontolo­ gischen Partikularismus wird die Erscheinung des Seelenlebens in der Aktpsychologie als Ganzheit erkannt, dem ein Holismus entspricht. Holistisch – nichtsdestoweniger aber empirisch – ist auch das zentrale Konzept der Intentionalität, das Brentano im Anschluss an Aristoteles und die Scholastik etabliert. Um die phänomenologische als dritte Position hinsichtlich der Frage nach der Selbsttätigkeit des Seelenlebens zu verstehen, muss eine Parallaxe durchgeführt werden, ein Perspektivenwechsel, der zur bisher fokussierten Achse Reizverarbeitung-Selbsttätigkeit eine weitere ergänzt. Es handelt sich um die Opposition in der Konzep­ tion des Seelenlebens als automorph oder heteromorph. Damit ist gemeint, dass der Aufbau bzw. die Struktur des Seelenlebens (sei er als selbsttätiges tendenziell unabhängig und aktiv oder als verarbei­ tendes tendenziell abhängig und passiv gegenüber Reizen) entweder der eigenen Gesetzmäßigkeit bzw. Ordnung folgt oder durch einen anderen Seinsbereich determiniert wird. Im ersten Fall sind auch die 34 Allerdings nahmen im Anschluss an Leibniz und Kant auch idealistische und reprä­ sentationalistsche Konzepte in der Apperzeptionspsychologie Einfluss (vgl. bspw. Fahrenberg 2016), die bis in den Unterschied zwischen physikalistischer Komputation und symbolischer Informationsverarbeitung im Kognitivismus fortwirken.

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

einzelnen Fälle von Vollzügen des Seelenlebens, etwa von Gedanken und Gefühlen, in ihrer Form lediglich durch die Mechanismen oder die innere Ordnung der Seele bedingt. Das heißt konkret, um vom entscheidenden Beispiel zu sprechen, dass auch Schlussfolgerungen und Urteile über mathematische oder logische Gesetze allein vom Seelenleben abhängig sind. Diese Fassung einer automorphistischen Position, die die Inhalte des Seelenlebens bis hin zu logischen Schlüs­ sen verselbstständigt, führt gemeinhin zum Psychologismus, also der Auffassung, dass sich die Forschung in der Logik nach der Psychologie richten müsse. Dem Automorphismus des Seelenlebens steht der Heteromor­ phismus gegenüber. Für ihn ist der Aufbau und mithin der Inhalt des Seelenlebens von anderen Seinsbereichen abhängig. Am obigen Beispiel gesprochen ist die Beurteilung logischer Gesetze, etwa des Satzes vom Widerspruch, und die Einsicht in sie nicht Eigenschaft des Seelenlebens (allein), sondern z.B. vom λόγος als Geltungszusam­ menhang bedingt. Eine starke heteromorphistische Position ist der Logizismus, nach dem die logische Struktur des Seins die Grundlage für das Seelenleben sei und folglich die Einsichten der Psychologie von der Logik abhingen. Eine alternative heteromorphistische Position erfreut sich in jüngerer Zeit als Biologismus größerer Anerkennung. Nach dem Biologismus folgt der Aufbau des Seelenlebens biologi­ schen Entwicklungslinien. Ein Beispiel für biologistisches Denken ist die Übertragung von evolutionstheoretischen Erklärungsmustern auf den Bereich des Seelenlebens, etwa im Sinne der Evolutions­ psychologie. Biologismus und Physikalismus sollten jedoch vom Logizismus getrennt werden, da jene, deren gemeinsame Grundlage als ›Physiomorphismus‹ (das Seelenleben nach der Form der Natur) bezeichnet werden könnte, zumeist eine naturkausale Reduktion der psychischen Zusammenhänge (Naturalismus) implizieren. Der Logi­ zismus, in dessen Hintergrund ein ›Logomorphismus‹ (das Seelenle­ ben nach der Form des λόγος), steht ist hingegen mit verschiedenen Positionen kompatibel. Bemerkenswert ist, dass Apperzeptions- und Aktpsychologie auf dieser Achse der Betrachtung zu einem wesentlichen Teil mit dem Automorphismus zusammenfallen35, da nach beiden Ansichten das Seelenleben eine eigentümliche Verfassung hat – ein Umstand, der auf ein idealistisches Erbe hindeutet36. Diese Koinzidenz ist für das Verhältnis zur Phänomenologie von großer Bedeutung, denn Husserl hat gleichermaßen Wundt wie Brentano Psychologismus vorgewor­

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fen (vgl. für Wundt: Fahrenberg 2011, 69f.; für Brentano: Huemer 2004). Für die psychologiegeschichtliche Akkuratesse ist es wichtig, anzumerken, dass mit dieser Zuschreibung des Psychologismus nicht das letzte Wort gesprochen war37. Sowohl Wundt als auch Brentano haben sich gegen den Vorwurf Husserls zur Wehr gesetzt. An dieser Stelle ist die grundsätzliche Unterscheidung jedoch von heuristischem Wert, um die Phänomenologie mit den bisher besprochenen Formen der Bewusstseinspsychologie ins Verhältnis zu setzen. Psychologistischen Positionen wie (aus dem Blickwinkel der Phänomenologie) Apperzeptions- und Aktpsychologie, typenreiner aber beispielsweise die Position Theodor Lipps’, steht Ende des 19. Jahrhunderts der Logizismus entgegen, der etwa von den Marbur­ ger Neukantianern, insbesondere aber von Gottlob Frege vertreten wurde. Zwischen sie tritt die Phänomenologie. Husserl, der selbst in den 1890er Jahren noch psychologistische Positionen vertreten hatte, wandte sich unter dem Einfluss Freges in den Logischen Unter­ suchungen gegen seine vormalige Position, ohne dabei jedoch in einen reinen Logizismus umzuschlagen. Diese Positionierung ging mit einer Gratwanderung auf der zugrundeliegenden Achse Auto- vs. Heteromorphismus einher. In anderen Worten: In der Phänomenolo­ gie gewinnt das Seelenleben seine Form nicht einfach aus sich selbst oder aus etwas von ihm Wesensverschiedenen. In wegweisender Façon überwand Husserl die Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdstrukturierung des Seelenlebens, indem er den Intentionali­ tätsbegriff aus der tendenziell psychologistischen Vereinnahmung der Aktpsychologie befreite. Weder als rein selbst- noch fremdbestimmt darf das Seelenleben aufgefasst werden, sondern als eine Einheit, die der Differenz zwischen Selbst- und Fremdbestimmung vorausgeht – eine Einheit, die bei Husserl als intentionale qualifiziert wird (im Gegensatz zu Brentano nimmt Husserl allerdings eine ideale und keine reale Bestimmung der Intentionalität vor), von anderen Phä­ 35 Zwar lässt sich Wundts Neuropsychologie als Physiomorphismus interpretieren, doch der bewusstseinspsychologische Teil seiner Lehre nimmt in der idealistischen Tradition, die sie mit dem Empirismus gemeinsam hat, eine eigenständige Ordnung des Seelenlebens an. 36 Auch Husserls Position hat idealistische Aspekte (vgl. Rynkiewicz 2008) und der Diskurs über diesen Zusammenhang ist ein wichtiger Bestandteil der phänomenolo­ gischen Bewegung. 37 Ferner hat Wundt Brentano und Husserl Logizismus zum Vorwurf gemacht. Das präzise geschichtliche Verhältnis ist also komplizierter als es an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht wird.

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nomenologinnen und Phänomenologen aber mit unterschiedlichem Schwerpunkt immer wieder bestimmt worden ist. Es ist diese Pointe des Überschreitens von bloß in der Erfahrung und ihrer theoretischen Betrachtung gegebenen Strukturdifferenzen, die zum Leitmotiv der phänomenologischen Wissenschaftskritik avanciert ist. Sie findet sich etwa in der Abwendung von der ›SubjektObjekt-Spaltung‹, die bei Karl Jaspers entwickelt worden ist (vgl. Herzog 1989). Damit ist gemeint, dass die klassische Gegenüberstel­ lung eines Erkenntnissubjektes und des Objekts seiner Erfahrung infrage gestellt wird, insofern als sich die Subjektivität des Subjekts als auch die Objektivität des Objekts nur aneinander bestimmen lassen und durch Reflexion auf ihren wechselseitigen Verweis eine primordiale Schicht der ungespaltenen Erfahrung denkbar und ggf. erfahrbar wird, die als Fundament jener Spaltung zum Gegenstand eigener Forschung, nämlich phänomenologischer Forschung, wird. Das Seelenleben, für dessen Verständnis die Apperzeptionspsy­ chologie (im Sinne von Stumpfs Kategorisierung als Erscheinungs­ psychologie) die Objekt- vor der Subjektseite betont, während die Aktpsychologie die (funktionspsychologische) Gegenperspektive ein­ nimmt, wird phänomenologisch nicht als Innen- oder Außenleben verstanden – ebenso wenig aber als eine Mischung beider. Ludwig Landgrebe spricht in diesem Sinne davon, »daß die philosophische, die phänomenologische Psychologie nicht die Cartesianische Unter­ scheidung einer Innenwelt und einer Außenwelt voraussetzen darf, derart, daß die innere Welt und die innere Erfahrung das einzige Gewisse wäre und auf das Außen nur immer hypothetische Schlüsse gezogen werden könnten« (Landgrebe 1968, 154). Vielmehr unter­ sucht die Phänomenologie die Konstitution des Seelenlebens und damit auch die Konstitution seiner Subjektivität und Objektivität. Die Überwindung des Psychologismus bedeutet folglich, dass die Phänomenalität nicht als die Manifestation eines transzendentalen Apriori in der Erfahrung hingenommen wird. Sowohl für Wundt als auch für Brentano ist der Umstand, dass dem Subjekt etwas als gegenständlich erscheint, (prinzipiell in kantianischer Tradition) auf einen transzendentalen Schematismus zurückzuführen, der sich der epistemischen Reichweite der Psychologie entzieht. Die Phänomenologie wendet sich, wie in Husserls Cartesiani­ schen Meditationen (Hua I) deutlich wird, gegen die subjektivistische Auffassung, dass die Eigenart des bewussthabenden Subjektes als eine monolithische und wundersame Gegebenheit hingenommen

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werden muss. Stattdessen übersteigt die Phänomenologie den Kriti­ zismus, der auch noch im Neukantianismus vorherrschte, in Richtung auf die Frage, wie das Seelenleben in seinem Erfahrungsreichtum überhaupt verfasst ist. Ihre radikalste Ausprägung findet diese Frage­ form in Heideggers Fundamentalontologie, die den Bewusstseinsbe­ griff zugunsten einer Bestimmung des In-der-Welt-Seins abstreift38. Die grundsätzliche phänomenologische Einsicht ist es unterdessen, dass die Fülle und Tiefe des Seelenlebens, die Wundt auf Objekt- und Subjektseite zu erklären versuchte, auf einer fundamentaleren Ebene betrachtet werden muss. An die Stelle eines erklärungsbedürftigen Seelenlebens als Explanandums der Psychologie tritt in der Phänomenologie die Suche nach den Strukturen, die unser Seelenleben zum Bewusst­ sein machen. Wo für Wundt die ›mentale Chemie‹ in Fällen wie der ›schöpferischen Synthese‹ abläuft, fragen Phänomenologinnen und Phänomenologen, wie es schlechthin sein kann, dass etwas für jemanden gegenständlich wird, sodass damit – und erst hier setzt die Arbeit der Apperzeptionspsychologie ein – auch verarbeitende Operationen wie etwa die ›schöpferische Synthese‹ betrieben werden können. Diese Schlechthinnigkeit der Bedingung von Erfahrung wird – und darin liegt der Unterschied zur Aktpsychologie – nicht einfach auf die Subjektsphäre attribuiert, sondern als Wesenszusammenhang untersucht. So erklärt sich beispielsweise der Anspruch der Logischen Untersuchungen. Es geht Husserl bei der Bestimmung von Verhältnis­ sen wie Ausdruck und Bedeutung (1. LU) oder Teil und Ganzem (2. LU) nicht um formale Logik allein, sondern darum, die Strukturen zu erschließen, die logisch notwendig sind, um die Erfahrungen im Seelenleben als Erfahrung – zunächst deskriptiv (Intentionalanalyse), später auch konstitutiv (Konstitutionsanalyse, genetische Phänome­ nologie) – zu bestimmen. Aus unterschiedlichen Motiven ist in der Apperzeptions- und der Aktpsychologie die Erfahrung des Subjektes ein hermetischer Wirk­ lichkeitspol, nämlich in der schlichten Gegebenheit der Phänomena­ 38 Der Begriff des ›dritten Weges der Bewusstseinspsychologie‹ muss mit Seiten­ blick auf diese Spielart der Phänomenologie verstanden werden. Nicht alle Phä­ nomenologie verwendet einen starken Bewusstseinsbegriff. Die Bezeichnung der ›Bewusstseinspsychologie‹ für phänomenologische Psychologie sollte also vornehm­ lich methodologisch verstanden werden. Sie steht in einem konstruktiven Verhältnis zur Akt- und Apperzeptionspsychologie. Der Begriff des Bewusstseins wird nicht präsupponiert (s. Abschnitt 2.4).

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

lität. Auch wenn ihn Husserl selbst in seiner mittleren Schaffensphase mildert, ist die Phänomenologie von Anbeginn an durch den Optimis­ mus ausgezeichnet, diese Einschränkung zu überwinden, nicht aber in Richtung auf das Postulat einer ›mentalen Chemie‹, die den Status der Erfahrung selbst letztlich unberührt lässt, sondern durch eine Untersuchung der Phänomenalität selbst. Diese erfordert freilich eine Erweiterung der Untersuchungsweise über den ›empirischen Stand­ punkt‹ hinaus. Die Ebene, die dabei erreicht wird, ist die Bestimmung des Wesens (zum phänomenologischen Begriff des Wesens s. Kapitel 3). Im konzeptuellen Hintergrund dieser Denkweise steht die Logik Bernard Bolzanos: Bolzano legt also seiner Erklärung den jedermann geläufigen Begriff der Aussage zugrunde. Aber schon indem er die Aussage einen ausgesagten Satz nennt, scheidet er damit das Aussagen oder Ausgesagtwerden von dem, was ausgesagt wird, die Worte von dem, davon sie der bloße Ausdruck sind. Dieselbe begriffliche Trennung findet offenbar statt, wenn von einem bloß gedachten Satze gespro­ chen wird. Auch in diesem Falle unterscheidet man den Satz als solchen von seinem Gedachtwerden. Wie ich in der Benennung »ein ausgesprochener Satz« den Satz selbst offenbar von seiner Aussprache unterscheide, so unterscheide ich in der Benennung »ein gedachter Satz« den Satz selbst auch noch von dem Gedanken an ihn. Der Satz an sich ist also dasjenige, was von der Aussage übrig bleibt, wenn ich – was freilich bei einer nicht logischen, nämlich etwa einer gram­ matischen oder sprachlichen Betrachtungsweise absurd erscheint – in methodischer Absicht bei einer Aussage davon abstrahiere, daß sie etwas ausgesagtes ist, und ferner auch noch davon, daß das Ausgesagte ein in einem Bewußtsein auftretendes, ein gedachtes ist (Gotthardt 1909, 6f.). Das ›immanente Objekt‹ der Intentionalität, die wir bereits bei Brentano kennengelernt haben, verweist auf Bolzanos Satz an sich zurück: »Wir definieren den ›Satz an sich‹ Bolzanos als ein nur intuitiv erschaubares, nicht mit unsern Sinnen, noch mit unsern Begriffen erfaßbares, hinter den Phaenomena liegendes, geistiges Etwas, das unabhängig von jedem menschlich-irdischen für sich ist« (Fels 1926, 398)39. Das Verständnis der phänomenologischen 39 Das ›hinter den Phaenomena Liegende‹ ist bei Fels nach dem Urteil der Phäno­ menologie unglücklich formuliert. Bessere wäre es zu sagen: ›In den Phaenomena liegend‹, um dem konstitutiven Charakter Ausdruck zu verleihen.

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2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht

Psychologie als erscheinungskundiger Seelenlehre muss also auf einer logischen Ebene erfolgen, die Apperzeptions- und Aktpsychologie stillschweigend voraussetzen. Es handelt sich um diejenige logische Ebene, auf der sich eine Erscheinung als Erscheinung auszeichnet. Die ›Erscheinungskundigkeit‹ der Phänomenologie unterscheidet sich vom Erscheinungsbegriff der zuvor etablierten Bewusstseinspsycho­ logien demnach dadurch, dass die Bedingungen des Erscheinens analysiert werden. Vom Logizismus unterscheidet sich dieser Ansatz ferner darin, dass die Bedingungsanalyse nicht auf formaler Ebene allein erfolgt. Vielmehr bedeutet Phänomenologie zu betreiben, die Beziehung zwischen der Idealität von Wesenszusammenhängen mit ihrer tatsächlichen Konkretion zu berücksichtigen. Bei Husserl steht im Zentrum dieses Untersuchungsfeldes der Begriff des Evidenzerle­ bens. Die Evidenz sei kein akzessorisches Gefühl, das sich zufällig oder naturgesetzlich an gewisse Urteile anschließt. Es ist überhaupt nicht ein psychischer Charakter, der sich an jedes beliebige Urteil einer gewissen Klasse (sc. der sog. ›wahren‹ Urteile) einfach anheften ließe; so daß der phä­ nomenologische Gehalt des betreffenden, an und für sich betrachteten Urteils identisch derselbe bliebe, ob es mit diesem Charakter behaftet ist oder nicht (Hua XVIII, 192).

Wahrhaft sei eine Idee nicht durch eine psychische Modalität, sondern wenn ihr Einzelfall im evidenten Urteil aktuelles Erlebnis ist. Diese Evidenz bestehe einzig in der adäquaten Wahrnehmung, d.h. die Deckungseinheit von Signifikation und Intuition. Nur so – nicht im Rahmen des Psychologismus – sei zu denken, dass der Mangel der Evidenz nicht Unwahrheit bedeute. Der »Wesenszusammenhang zwischen Wahrheitserlebnis und Wahrheit« (ebd., 194), der in der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem selbst Gegen­ wärtigen bestehe, lässt sich also nicht bloß durch vage Tatsachen erklären, sondern gründet auf die Idealität der Wahrheit als Voraus­ setzung der Evidenz. Das Verhältnis von Evidenz und Wahrheit ist unter Husserls idealwissenschaftlichen Voraussetzungen im Kontrast zum Ansatz des Psychologismus invertiert, da nicht Wahrheit durch das Evidenzerlebnis entsteht, sondern auf dem Wege der Anwendung ein Evidenzerlebnis sich aus rein logischen Sätzen ableitet. Wie Eugen Fink (vgl. Fink 1966) hervorgehoben hat, bestand einer der originalen Beiträge der Phänomenologie auf dem Gebiet der philosophischen Psychologie darin, das Evidenzerlebnis nicht im generischen Sinne der clara et distincta perceptio, sondern hinsichtlich

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

spezifischer Differenzen bestimmt zu haben. Dieser Umstand ist Resultat der Überwindung der theoretischen Alternative zwischen Auto- und Heteromorphie des Seelenlebens. Das Seelenleben wird weder – wie es in der Apperzeptionspsychologie gilt – als eigen­ tümliches (also durch einzigartige Mechanismen ausgezeichnetes) naturkausales Gebilde noch – wie es für die Aktpsychologie gilt – als eigengesetzliche Sphäre der Phänomenalität verstanden. Stattdessen nimmt die Phänomenologie zur Kenntnis, dass die Beschaffenheit des Seelenlebens keine Enklave des Sinns in einer ansonsten bedeutungs­ losen Umwelt ist, sondern in ihrer Komplexität die Tiefe und Fülle des Seins kundtut. In anderen Worten: Die Phänomenologie zerschlägt die Präsupposition eines Sonderstatus des Subjekts, ohne dadurch das Besondere an ihm aufzugeben, und versöhnt es dadurch mit seiner Umwelt. In dieser Hinsicht ist sie radikal anti-atomistisch und folglich auch anti-reduktionistisch, denn mit ihr ist die Möglichkeit von Erfah­ rung keine Angelegenheit für die Psychologie als Torwächterin des subjektiven Scheins mehr: Der Reichtum des Erlebens ist kein Schatz des individuellen Bewusstseinsstroms, sondern Verwirklichung von Bedeutsamkeit inmitten des Seins, zu dessen Wesen es logisch (und ontologisch) gehört, dass sich das Leben in ihm vollziehen kann. Für die Psychologie ist in diesem Zusammenhang die Über­ windung des Repräsentationskonzepts, das aus der Subjekt-ObjektOpposition resultiert, von entscheidender Bedeutung. Anders als Apperzeptions- und Aktpsychologie setzt die phänomenologische Psychologie nicht jenseits der Erklärungslücke zwischen Seelenleben und transzendentem Geschehen an. Mit Sartre: Für die meisten Philosophen ist das Ego ein ›Bewohner‹ des Bewußt­ seins. Manche behaupten seine formale Präsenz im Inneren der ›Erleb­ nisse‹ als ein leeres Vereinigungsprinzip. Andere – meist Psychologen – glauben, in jedem Moment unseres psychischen Lebens seine mate­ riale Präsenz zu entdecken als Zentrum der Begierden und Handlun­ gen. Wir wollen hier zeigen, daß das Ego weder formal noch material im Bewußtsein ist: es ist außerhalb, in der Welt; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer (Sartre 1997, 39).

Entscheidend ist für uns an diesem Zitat nicht die nicht-egologische Wendung, die Sartre später revidiert hat, sondern die originäre Ver­ wobenheit der Erfahrung mit dem Erfahrenen, also dasjenige, was in der Phänomenologie etwa durch den Begriff der Intentionalität the­ matisiert wird. Weil das Subjekt nicht mehr im Geiste des cartesischen cogito als Ausnahme in der Wirklichkeit verortet wird, richtet sich

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2.1 Das Seelenleben aus phänomenologischer Sicht

die phänomenologische Forschungsrichtung auf die Untersuchung der – insbesondere logischen – Seinsverhältnisse, die es allererst ermöglichen, dass sich inmitten der Wirklichkeit etwas Komplexes wie das Seelenleben vollziehen kann. Diese Ausrichtung bedeutet zugleich eine Abwendung von der Empirie40 (phänomenologische Reduktion), denn, um die Konstitutionsbedingungen für das im gewöhnlichen Erleben Erfahrene zu untersuchen, verlangt es, die gewöhnliche Erfahrungsart, nämlich die ›natürlichen Einstellung‹, zu überschreiten: Dies ist der Zweck der phänomenologischen Einstel­ lung, die in der epoché eingenommen wird. Dank der Artikulation des phänomenologischen Standpunktes gegenüber Auto- und Heteromorphismus erkennen wir ihre analoge Sonderstellung auf der Achse Selbsttätigkeit-Reizverarbeitung. Es lässt sich nicht behaupten, dass Phänomenologie Subjektivismus sei und dennoch ist sie anti-objektivistisch. Jenseits von Rationalismus und Empirismus gelangt sie zu der Einsicht, dass es keine bedeutungs­ lose Reizverarbeitung geben kann, deren Bedeutung aber wiederum keine Konstruktion der Einzelseele ist, sondern in den Horizont einer Idealität41 eingebettet ist, die die Erfahrung zur Erfahrung macht. Der einfachste Ausdruck für diese Idealität ist die jeweils eigene Perspektive, deren Analyse als ›Perspektivität‹ möglich wird. Subjektivität und Objektivität müssen also phänomenologisch neu entdeckt werden, da ihre Darstellung in den beiden Richtungen der Bewusstseinspsychologie durch Präsuppositionen verzerrt gewesen ist. So entdecken wir, daß die Wissenschaft nur ein Scheinbild der Subjektivität zu konstru­ ieren vermocht hat: sie arbeitet mit einer Vorstellung von Empfindun­ gen, als seien sie Dinge, wo die Erfahrung uns schon Bedeutungszu­ sammenhänge zeigt; sie unterwirft die phänomenale Welt Kategorien, die nur für die Welt der Wissenschaft Sinn haben. […] In der optischen Täuschung von Müller-Lyer ist die eine der Linien der anderen nicht gleich, ohne ihr darum ›ungleich‹ zu sein: sie ist vielmehr ›anders‹. M. a. W., für die Wahrnehmung sind eine isolierte objektive Linie und die­ Welche Bedeutung diese Abwendung für empirische Forschung hat, ist eine kritische methodologische Frage für die phänomenologische Psychologie und wird in den folgenden Kapiteln untersucht werden. 41 Es liegt die Befürchtung nahe, dass sich die Phänomenologie auf einen unkritischen Essenzialismus stützt, doch dieser Zweifel wird mit der Erläuterung des Wesensbegrif­ fes in den folgenden Kapiteln ausgeräumt. Zwar lässt sich von einem phänomenologi­ schen Essenzialismus reden, doch er unterscheidet sich von historischen Vorläufern. 40

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

selbe in einem Gestaltzusammenhang nicht ›dasselbe‹. Identifizierbar ist die Strecke in diesen beiden Funktionen allein in einer analytischen Wahrnehmung, die nicht natürlich ist (Merleau-Ponty 1966, 30).

Das Seelenleben ist der Phänomenologie ein Spannungsfeld zwischen Realität (Dasein) und Idealität (Sosein) als Sphären des Seins, wobei, wie im Folgenden zu klären sein wird, dass und inwiefern unter dem Wesen im Sinne der Idealität keinesfalls eine unabhängige Substanz verstanden werden sollte, sondern allenfalls der holistische Aspekt des Seins, seine Struktur bzw. sein Aufbau. Es kann weder kategorisch von der Autonomie des νοῦς ποιητικός noch von der Reizverarbeitung der mental chemistry gesprochen werden. Die Phänomenologie kennt demgegenüber sowohl aktive als auch passive Synthesen (Hua XI, XXXI). Der dritte Weg der Phänomenologie ist gleichsam breiter und führt weiter hinter die Phänomene zurück als diejenigen der Apperzeptions- und Aktpsychologie. Der Schlüsselbegriff bleibt dabei jedoch letztlich die Erscheinung.

2.2 Phänomenologie und Erscheinung Die Behauptungen der Phänomenologie über den konstitutiven Untergrund des Seelenlebens gehen mit einer erheblichen Bring­ schuld einher. Um die Anschuldigungen eines Rückschrittes in die Scholastik, die bereits Brentano betroffen haben, oder den Anschein der Spekulation zu vermeiden, muss der anspruchsvolle Erschei­ nungsbegriff der Phänomenologie gut gerechtfertigt sein. Zunächst jedoch der Rückblick auf den zuvor etablierten Bezugsrahmen: Apper­ zeptions- und Aktpsychologie zeichnet ein Tatsachenbegriff aus. Das Seelenleben erscheint in der Faktizität. Apperzeptionspsychologisch betrachtet ist die Einzeltatsache des Seelenlebens ein partikuläres naturkausales Ereignis, das für uns als Stimulus oder dessen Transfor­ mation durch die ›mentale Chemie‹ hinter allen Erfahrungen zutage tritt. Aktpsychologisch gewendet sind Erscheinungen des Seelenle­ bens keine partikulären, sondern zur Ganzheit des Erfahrungsstroms gehörende Tatsachen, nämlich Vorstellungen, die an der Wirklichkeit der Einzelseele teilhaben und immanent, also in der inneren Wahr­ nehmung, zu bestimmen sind. Die Phänomenologie leugnet die Geltung der ›tatsachenwissen­ schaftlichen‹ Erkenntnisse auf dem Erkenntnisgebiet der Empirie nicht, bezweifelt ihre Bedeutung für die grundlegenden Fragen nach

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2.2 Phänomenologie und Erscheinung

der Konstitution der Erfahrung und damit auch des Seelenlebens jedoch. Der Unterschied zwischen (phänomeno-)logischen und empi­ rischen Zusammenhängen bestehe darin, dass diese ihre Gültigkeit nur gewohnheitsmäßig unter bestimmten Umständen beanspruchen könnten, während jene »keinerlei Existenzialgehalt« (Hua XVIII, 82) in sich schlössen: »Es ist die eine und alleinige Wahrheit, die jede andersartige Möglichkeit ausschließt und sich als einsichtig erkannte Gesetzlichkeit von allen Tatsachen dem Inhalt wie der Begründung nach rein erhält« (ebd., 84). Kurzum: Die Phänomenologie behauptet, dass die Untersuchung der Tatsächlichkeit des Seelenlebens allein nicht zum Verständnis seines Aufbaus führen kann. Die Erklärungs­ leistung der vormaligen Bewusstseinspsychologie ist in ihrer Reich­ weite auf die Kontingenz des Beobachtbaren beschränkt. Diese Behauptung ist nicht neu und lässt sich in ähnlicher Weise auch in anderen Geistesströmungen, etwa im Neukantianismus (vgl. Natorp 1888), finden. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Phänomenologie die wesensmäßige Untersuchung des Seelenlebens hinsichtlich seiner Struktur und seiner Konstitution nicht in einer rein reflexiven Philosophie unternimmt, die methodisch durch einen Hiatus von der Psychologie geschieden ist, sondern einen Wechsel des Blickwinkels für dieselbe Erfahrung vorschlägt, die auch von empiri­ scher Apperzeptions- und Aktpsychologie untersucht wird. Hierin besteht das entscheidende innovative Potenzial der psychologischen Phänomenologie: Dem Seelenleben wird seine Struktur nicht vom Lehnstuhl der spekulativen oder transzendentalen Philosophie aus, von der »Schreibtischpsychologie« (Messer 1911, 126) diktiert. Statt­ dessen bemühen sich Phänomenologinnen und Phänomenologen um eine immanente Phänomenanalyse. Dabei erfolgt eine Gradwande­ rung von Brentanos Immanentismus (immanenter Realismus) zum phänomenologischen Immanentismus, der die Transzendenz nicht verkennt, sondern ihr durch die Ausklammerung in der phänome­ nologischen Einstellung erst eine angemessene Berücksichtigung verschafft. Während für jenen Immanentismus Phänomenalität eine prinzipielle Gegebenheit gewesen ist und zum epistemologischen Vorrang der inneren Wahrnehmung und der psychischen Phänomene geführt hat, wendet sich die Phänomenologie von diesen Präsupposi­ tionen ab. Sie untersucht nicht allein die Subjektivität immanent, son­ dern die schlichte Gegebenheit (etwa im Sinne von Jean-Luc Marions donation; vgl. Marion 1997), ohne dabei einen Begriff des Seelenle­ bens voraussetzen zu müssen. So zeigt sich, dass für Apperzeptions-

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

und Aktpsychologie die Erscheinungsweise des Seelenlebens bereits durch die Präsupposition über seine Natur vorbestimmt war, während die phänomenologische Psychologie die Idee des Seelenlebens nicht ohne eine Untersuchung der Erscheinung vornehmen kann. Die Erklärungsrichtung ist invertiert. Was ist also der phänomenologische Erscheinungsbegriff? Zum Einstieg kann eine Anleihe bei Sartre gemacht werden: Aber wenn wir uns einmal von dem losgemacht haben, was Nietzsche den »Wahn der Hinterwelten« nannte, und wenn wir nicht mehr an das Sein-hinter-der-Erscheinung glauben, wird diese im Gegenteil volle Positivität, ist ihr Wesen ein ›Erscheinen‹, das sich nicht mehr dem Sein entgegensetzt, sondern im Gegenteil dessen Maß ist. Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es erscheint. So gelangen wir zur Idee des Phänomens (Sartre 2010, 10).

Mögen diese Sätze auch helfen, einen repräsentationalen Erschei­ nungsbegriff, nach dem die Bedeutung jeder Erscheinung sich darauf beschränkt, etwas dahinter anzudeuten, zu überwinden, so sind sie zugleich gefährlich, weil sie dem Phänomenalismus verwandt sind. Dieser lässt sich mit Kolakowski folgendermaßen zusammenfassen: »es besteht kein realer Unterschied zwischen ›Wesen‹ und ›Erschei­ nung‹“ (Kolakowski 1971, 11). Und weiter: »Wir haben das Recht, das zu registrieren, was sich der Erfahrung tatsächlich zeigt, jegliche Meinungen über verborgene Existenzen, deren Erscheinungen die empirischen Daseinsweisen sein sollen, sind unglaubwürdig. Kontro­ versen in Fragen, die über den Erfahrungsbereich hinausgehen, haben rein verbalen Charakter« (ebd.). Diese Auffassung, die dem Positivis­ mus entstammt, ist zwar nicht ohne Beziehung zur Phänomenologie (vgl. Sommer 1985), setzt jedoch einen naiven Empirismus, mithin sogar einen Sensualismus, also die Verabsolutierung der Empfindung (englisch: impression) voraus, der mit dem phänomenologischen Denken unvereinbar ist. Das heißt, dass für den Phänomenalismus Erscheinungen stets empirische Empfindungen sind, während für die Phänomenologie der Erscheinungsbegriff selbst infrage steht. Sartres Aussagen dürfen also nicht so gelesen werden, dass die ›Posi­ tivität‹ der Erscheinungen mit dem Augenschein zusammenfielen. Im Gegenteil ist die Eigenheit der Erscheinung das endgültige Erkennt­ nisinteresse der Phänomenologie und nicht durch eine Präsupposi­ tion bereits vorausgesetzt. Zeugenschaft für diese Untersuchung der Erscheinung gibt Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (original 1945). Dort heißt es:

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2.2 Phänomenologie und Erscheinung

Die angebliche Evidenz des Empfindens gründet sich nicht auf ein Zeugnis unseres Bewußtseins, sondern auf ein Vorurteil. Was ›Sehen‹, ›Hören‹, ›Fühlen‹, ist, glauben wir zu wissen, weil die Wahrnehmung immer schon farbige oder tönende Gegenstände uns gibt. Wie man ›Sehen‹, ›Hören‹, ›Fühlen‹ zu analysieren pflegt, überträgt man diese Gegenstände ins Bewußtsein. Man begeht den von der Psychologie so genannten ›experience error‹, indem man, was wir von den Din­ gen wissen, unserem unmittelbaren Bewußtsein von den Dingen zuschreibt. Aus Wahrgenommenem macht man Wahrnehmung. Und da das Wahrgenommene selbst natürlich nicht zugänglich ist ohne Wahrnehmung, begreift man schließlich das eine so wenig wie das andere (Merleau-Ponty 1966, 23).

Die Gegebenheit von Erscheinungen selbst ist Ursprung von Erkennt­ nis, der ohne eine ›Hinterwelt‹ die Bedeutsamkeit unserer Erfahrung konstituiert, doch Aufbau und Struktur dieser Erscheinungen sind entgegen allen geistesgeschichtlich verfügbaren Theorieangeboten ein Rätsel. Die Entwicklung von Lösungsversuchen für dieses Rät­ sel ist das Herzstück der Phänomenologie. Diese Lösungsversuche sind nicht notwendig miteinander kompatibel und dementsprechend Gegenstand der inner-phänomenologischen Kontroverse. Dennoch gilt, dass die meisten phänomenologischen Ideen einen Beitrag zu dieser kardinalen Problematik, die mit der Bestimmung des Erschei­ nungsbegriffes entsteht, leisten. Der prototypische Ansatz ist dabei die Idee der Intentionalität, die in den folgenden Absätzen vorgestellt werden soll, um einen genuinen Eindruck von phänomenologischer Arbeit an der Bestimmung der Erscheinung zu vermitteln. Bevor die Intentionalität besprochen werden kann, bedarf es allerdings eines Wortes über den Unterschied zu Brentanos Begriff der ›intentionalen Inexistenz‹ als konzeptuellem Vorläufer. Wie bereits zuvor erwähnt, war der ontologische Status des immanenten Objek­ tes, also etwa des Gehassten im Hass, des Wahrgenommenen in der Wahrnehmung oder des Gewollten in der Willensregung, »das Hauptproblem der frühen Theorie Brentanos« (Chrudzimski 2005, 140). Die Problematik ergibt sich angesichts des Verhältnisses zwi­ schen dem Inhalt des Erlebnisses und dem Referenzobjekt außerhalb dieses Erlebnisses. Für Brentano ist der besagte Inhalt im Geiste seiner philosophischen Psychologie etwas Reales. Nun stellt sich im Blick auf kritische Beispiele allerdings die Frage, wie die Realität des Inhalts zustande kommt, wenn wir uns etwas Irreales vorstellen (zum Beispiel ein Fabelwesen). Die Gefahr, die von der Idee eines realen

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immanenten Objektes ausgeht, ist, dass Brentano annehmen muss, dass das psychische Subjekt in einer creatio ex nihilo den Inhalt in die Realität setzt. Um diese Gefahr zu vermeiden, entwickelten Brentanos Schüler alternative Bestimmungen der Intentionalität. Ein Beispiel ist Kazi­ mierz Twardowski, der meinte, »daß der Inhalt eines psychischen Aktes mit der Entität, auf die sich der Akt intentional richtet, eigent­ lich nichts zu tun hat« (ebd., 142). Dieser Position schließt sich die Phänomenologie – wie etwa an Husserls Kritik an Twardowski deut­ lich wird – nicht an: »Husserl’s own solution involves the suggestion that ›subjective‹ research on presentations must, in the description or characterization of the presentation, refer to something which is not immanent to the presentation, namely the object« (Cavallin 1997, 152). Auch hierbei ist Husserls Zurückweisung des Psychologismus von Bedeutung. Entscheidend ist jedoch, dass die phänomenologische Transformation des Immanentismus dazu führt, die Verwobenheit des Subjektes in seine Umwelt zu betonen. Statt den intentionalen Inhalt von der Transzendenz zu trennen, gibt die Phänomenologie den Bezug nicht preis, beantwortet also die Frage: »wie kann Erkenntnis über sich hinaus, wie kann sie ein Sein treffen, das im Rahmen des Bewußtseins nicht zu finden ist?« (Hua I, 4). Die Antwort führt die Phänomenologie jedoch über die Empirie, nämlich über die streitbare Wirklichkeit des immanenten Objektes als tatsächliche, hinaus: Ist mir unklar, wie Erkenntnis Transzendentes treffen kann, nicht Selbstgegebenes sondern ›Hinausgemeintes‹, so kann mir zur Klarheit sicher keine der transzendenten Erkenntnisse und Wissenschaften etwas helfen. Was ich will ist Klarheit, verstehen will ich die Möglich­ keit dieses Treffens, d.h. aber, wenn wir den Sinn davon erwägen: das Wesen der Möglichkeit dieses Treffens will ich zu Gesicht bekommen, es schauend zur Gegebenheit bringen. Ein Schauen läßt sich nicht demonstrieren; der Blinde, der sehend werden will, der wird es nicht durch wissenschaftliche Demonstrationen; physikalische und physio­ logische Farbentheorien ergeben keine schauende Klarheit des Sinnes von Farbe, wie ihn der Sehende hat (ebd., 6).

Intentionalität ist in der Phänomenologie keine Beschreibung eines empirischen Zusammenhangs, sondern eine Analyse der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Die Phänomenologie – erneut am Beispiel Husserls – bricht mit Brentano folglich in dreifacher Hin­ sicht. Erstens stellt Husserl in Abrede, dass sich der Unterschied von psychischen und physischen Phänomenen empirisch eindeutig

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2.2 Phänomenologie und Erscheinung

beobachten lassen könne und vielmehr »unter dem bei Brentano äquivok fungierenden Titel ›physische Phänomene‹ sich ein guter Teil von wahrhaft psychischen Phänomenen findet« (Hua XIX/I, 378). Zweitens betont Husserl, dass es Erlebnisse gibt, die nicht intentional sind. So sagt er: Daß nicht alle Erlebnisse intentionale sind, zeigen die Empfindungen und Empfindungskomplexionen. Irgendein Stück des empfundenen Gesichtsfeldes, wie immer es durch visuelle Inhalte erfüllt sein mag, ist ein Erlebnis, das vielerlei Teilinhalte in sich fassen mag, aber diese Inhalte sind nicht etwa von dem ganzen intendierte, in ihm intentionale Gegenstände (ebd., 382f.).

Er spricht also von Erlebnissen, die der Bewusstseinseinheit eines intentionalen Erlebnisses zugeordnet sind, aber selbst nicht intentio­ nal sind, nicht aber von eigenständigen nicht-intentionalen Gefühlen, die von anderen Phänomenologinnen und Phänomenologen erwogen worden sind. Drittens, und hierin besteht die entscheidende Kritik an Bren­ tanos Intentionalitätsbegriff, stellt Husserl Brentanos Rede von psy­ chischen Phänomenen als denjenigen, »welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten« (Brentano 1874, 116), in Frage. Die­ ser Widerspruch deutet sich bereits dort an, wo Husserl sich der Behauptung, »der Unterschied zwischen dem in der Wahrnehmung bewußten Inhalt und dem in ihr wahrgenommenen […] äußeren Gegenstand sei ein bloßer Unterschied der Betrachtungsweise« (Hua XIX/I, 359), entgegenstellt, weil vielmehr die Erscheinung als Erleb­ nis und deren Äquivokation als das erscheinende Objekt als solches klar voneinander zu trennen seien. In diesem Sinne liegen nach Hus­ serls Lesart zwei Missdeutungen von Brentanos Terminologie nahe. Einerseits könnte vermutet werden, im Erlebnis handele es sich um ein »reales sich Beziehen« (ebd., 385) zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand. Zweitens werde durch die Terminologie denkbar, es gäbe »ein Verhältnis zwischen zwei gleicherweise im Bewußtsein reell zu findenden Sachen, Akt und intentionales Objekt« (ebd.). Husserl betont als Quintessenz des Gedankens der Intentionalität demgegenüber, dass »nur eines […] präsent [ist], das intentionale Erlebnis, dessen wesentlicher deskriptiver Charakter eben die bezüg­ liche Intention ist« (ebd., 386). In anderen Worten: Das Erlebnis stellt den Gegenstand meinend vor, ohne dass der Gegenstand dabei selbst existieren muss, weder mental noch extra mentem. Erst unter dieser radikalen Voraussetzung lässt sich klar nachvollziehen, dass die

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»wahrhaft immanenten Inhalte« des intentionalen Erlebnisses nicht intendiert und nicht deren Gegenstand sind, weil »das Erlebnis nicht selbst das ist, was ›in‹ ihm intentional gegenwärtig ist« (ebd., 360).

2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes Vor dem Hintergrund der Abgrenzung gegenüber Brentano wird es möglich, die Intentionalität in ihrem eigentlich phänomenologischen Sinne zu thematisieren. An dieser Stelle fällt die Wahl eines Beispiel­ textes erneut auf Husserls Frühwerk, das in der phänomenologischen Bewegung einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Denkströ­ mung geleistet hat. Dabei ist zu erwähnen, dass – wie zuvor mehrfach betont – dieser Einzelbeitrag zum Verständnis der Intentionalität keinen Konsens in der phänomenologischen Bewegung erwirkt hat. Im Gegenteil hat auch Husserl selbst seine Auffassung im Zuge der Weiterentwicklung seines Ansatzes mehrfach neu ausgerichtet. Deswegen soll die anschließende Darstellung nicht dazu dienen, eine kanonische Begriffsbestimmung zu präsentieren, sondern einen Eindruck von der Arbeitsweise der Phänomenologie zu vermitteln. Die dabei entwickelten Begriffsbestimmungen sind Elemente der sog. Intentionalanalyse als Untersuchungsart, die insbesondere in der Transzendentalphänomenologie zur Anwendung kommt. In der fünften logischen Untersuchung bestimmt Husserl die Intentionalität als Gattungscharakter des Aktes: Akte sind intentio­ nale Erlebnisse und können von nicht-intentionalen Erlebnissen (ins­ besondere den Empfindungen) geschieden werden. Intentionalität zu verstehen, bedeutet also, den Akt als Bewusstseinsstruktur in sei­ nem intentionalen und folglich durch Idealität qualifizierten Aufbau zu verstehen. Dass Husserl mit dem phänomenologischen Begriff vom Akt grundsätzlich über die deskriptive Psychologie und damit auch über die Aktpsychologie hinausgeht, lässt sich am Beispiel der phänomenologischen Analyse der Farbwahrnehmung verdeutlichen. Der deskriptive Psychologe bezeichne die Farbempfindung wie die tatsächliche, objektive Farbigkeit des Gegenstandes gleichermaßen als Erlebnis42, »so wie sie in unserem Bewußtsein vonstatten gehen« (ebd., 357). Der phänomenologische Erlebnisbegriff schalte demgegenüber aus, ob es sich um richtige oder trügerische Wahrnehmung der

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2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes

objektiven Farbigkeit des Gegenstandes handele, trennt also den Cha­ rakter der Wahrnehmung von ihrem Gegenstand. Diese Trennung erst erlaubt es, die Farbe des Gegenstandes nicht für das Erlebnis zu halten, wie es alltagssprachlich und deskriptiv psychologisch der Fall ist. Die Farbe als phänomenales Objekt des Erlebnisses erfahre vielmehr erst durch die Farbempfindung, »das qualitativ bestimmte phänomenologische Farbenmoment« (ebd., 358), den Charakter der objektivierenden Auffassung, nicht durch den bloßen Umstand, Gegenstand des Erlebnisses zu sein. Es ist folglich der Begriff der ›Auffassung‹, mit dem die phänomenologische Intentionalanalyse die empirischen Empfindungen integriert. Den einzelnen Gegenstand beständig als roten zu sehen, bedeutet nicht, seine objektive Farbigkeit im Erlebnis mitzuvollziehen, sondern die kontinuierlich wechselnden Farbempfindungen abzuschatten. Zwar mag über die Wiese der Schat­ ten einer Wolke hinziehen, doch uns ist ihr saftiges Grün in seiner Idealität beständig gegeben. In dieser Umkehrung der Verhältnisse der deskriptiven Psychologie, die der empirischen Erfahrung einen Primat zugesteht, zugunsten einer separaten, wenngleich verschränk­ ten Analyse von Erlebnis und Erlebnisinhalt, liegt ein genuiner Ent­ wicklungsfortschritt der Phänomenologie. Um Erlebnisse in ihrer Vollzugs- und Gegenstandsseite analy­ tisch zu scheiden, verwendet Husserl die Begriffe Aktcharakter und Aktinhalt. Für den Begriff des Aktinhalts verdeutlicht er am Beispiel, dass die phänomenologische Analyse eines Lautgebildes »Laute und abstrakte Teile oder Einheitsformen von Lauten«, nicht aber »Ton­ schwingungen« (ebd., 412) betrifft. Der Aktinhalt nun könne jeweils in erfahrungswissenschaftlicher und idealwissenschaftlicher Einstel­ lung beschrieben werden, wobei sich die letztgenannte durch eine Um den Unterschied zwischen Erlebnis und Akt zu verdeutlichen, lässt sich auf den Unterschied zwischen ›bemerkt‹ und ›bewusst‹ zurückzugreifen. So ist es möglich, dass ein Gegenstand zwar bewusst, aber nicht bemerkt ist, d.h. »in den erfassenden Blick der Wahrnehmung« (Hua XIV/I, 376) fällt. Wenn das Bewusstsein im Sinne Brentanos als innere Wahrnehmung verstanden wird, so sind Gegenstände, die nicht bemerkt werden, zwar wahrgenommen, aber nicht durch den »erfassenden Blick«, d.i. die Aufmerksamkeit, intentional gegenständlich. Deshalb spricht Husserl davon, dass andernfalls »das Erlebtsein, im Sinne des schlichten Daseins eines Inhaltes im Bewußtsein, mit der intentionalen Gegenständlichkeit vermengt« (ebd., 423) wird. Weder die ersten beiden Begriffe des Bewusstseins noch der Begriff des Erlebnisses, sondern erst der Akt als dritter Begriff des Bewusstseins ist exklusiv durch die Intentionalität und die Aufmerksamkeit als »eine auszeichnende Funktion« (ebd.) charakteristisch. 42

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Ausschaltung der speziell erfahrungswissenschaftlichen Eigenheiten auszeichnet. So scheidet sich der reelle, erfahrungswissenschaftlich festgestellte vom intentionalen, idealwissenschaftlich festgestellten Aktinhalt. Dieser ist es allerdings erst, der das tatsächliche Erlebnis nur mehr als »bloßen exemplarischen Untergrund für Ideation« (ebd.) betrachtet, um »aus ihm ideativ allgemeine Wesen und Wesenszu­ sammenhänge« (ebd.) herauszuschauen. Auf diese Weise ist die Setzung des realen Daseins des Erlebnisses nicht mehr vorausgesetzt, sodass die spezifische Natur der Akte zutage treten kann. Es lässt sich festhalten, dass die Bestimmung des Aktinhalts auf empirisch-reale Erlebnisse nur als »Durchgangsstadium« (ebd., 413) zur Ideation zurückgreift – eine methodologische Weggabelung auch inmitten der phänomenologischen Bewegung. Die hier beschriebene Abkehr vom empirischen Seienden erlaubt den Blick auf drei Facetten der Intentionalität, nämlich 1. die inten­ tionale Materie im Gegensatz zur intentionalen Qualität, 2. das intentionale Wesen als Erkenntniszweck der Aktanalyse und 3. den intentionalen Gegenstand, anhand dessen sich der Begriff des Aktinhalts spezifizieren lässt. Der intentionale Gegenstand kann die »Gegenständlichkeit, auf die sich ein Akt voll und ganz genommen richtet« (ebd., 415), oder Gegenstände, »auf die sich die verschiede­ nen Teilakte richten« (ebd.), betreffen, wobei die Gegenständlichkeit des vollständigen Aktes, d.i. der Sachverhalt, auf den sich der Akt richtet, der primäre Sinn ist. Anders gesagt: Gegenständlichkeit ist nicht gleich Gegenstand, denn jene ist relational. Das Verhältnis der Teilakte bestimmt nun deren Funktion im gesamten Akt: Husserl unterscheidet einfache und zusammengesetzte, fundierende und fun­ dierte Akte, wobei sich hierunter nicht subsumieren lässt, was als Aktcharakter zu begreifen ist. Der Autor stellt klar: Wie das Urteil nicht neben oder zwischen den Subjekt- und Prädika­ takten, den voraussetzenden und folgernden Akten ist, sondern in ihnen als die durchwaltende Einheit, so ist auf der korrelativen Seite der geurteilte Sachverhalt die objektive Einheit, die als das, was sie hier erscheint, aus Subjekt und Prädikat, aus Vorausgesetztem und daraufhin Gesetztem sich aufbaut (ebd., 418).

Diese ›durchwaltende Einheit‹, die das Urteil ist, bleibt nicht auf Urteile beschränkt. Vielmehr unterscheidet Husserl als Aktcharaktere verschiedene Formen, in denen sich ein Akt auf seinen Gegenstand intentional beziehen kann; er spricht beispielhaft von Vermutung, Zweifel und Hoffnung, die in ihrer spezifischen Verschiedenheit »der

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empirisch psychologischen Faktizität als ein Apriori vorausgehen« (ebd., 418). Auch ließen sich die Aktcharaktere nicht auf elementare Unterarten reduzieren, wie es sich für das Urteil oder die Vorstellung erwägen ließe. Aus diesem Grundverständnis des Aktcharakters ergeben sich zwei Fragestellungen. Zunächst gilt es zu klären, ob sich die Aktcha­ raktere nach Empfindungen richten, wie es Hume von den ideas sagt, die in simple impressions fundiert seien (vgl. Hume 1748) – eine Denkart, die mit der apperzeptionspsychologischen Idee der Erscheinung verwandt ist. Husserl widerspricht diesem Gedanken deutlich, indem er »die Unterschiede zwischen dem Dasein des Inhalts im Sinne der bewußten, aber nicht selbst zum Wahrnehmungsobjekt gewordenen Empfindung und des Inhalts im Sinne eben des Wahr­ nehmungsobjekts« (Hua XIV/I, 395) betont, kurz: »Verschiedene Akte können dasselbe wahrnehmen und doch ganz Verschiedenes empfinden« (ebd.). Auf Grundlage einer anderen Textstelle lässt sich dem empiristischen Verständnis der Wahrnehmung eine phänome­ nologische Sichtweise entgegenhalten: Gemäß unserer wiederholten Geltendmachung des deskriptiven Wesens der Wahrnehmung besagt dies phänomenologisch nichts anderes, als daß wir einen gewissen Belauf von Erlebnissen aus der Klasse Empfindung haben, sinnlich vereinheitlicht in ihrer so und so bestimmten Aneinanderreihung und durchgeistigt von einem gewis­ sen ihnen objektiven Sinn verleihenden Aktcharakter der ›Auffassung‹. Dieser Aktcharakter macht es, daß uns ein Gegenstand, eben dieses Tintenfaß in der Weise der Wahrnehmung erscheint (ebd., 559).

Die Empfindungen werden gleichsam erst durch den Aktcharakter der Auffassung als objektiv sinnvolle Wahrnehmungen aktualisiert, d.h. zur gegenständlichen Grundlage eines intentionalen Erlebnis­ ses, eines Aktes, also bewusst im Sinne des phänomenologischen Begriffes vom Bewusstsein: »Die Empfindungen und desgleichen die sie ›auffassenden‹ oder ›apperzipierenden‹ Akte werden hierbei erlebt« (ebd., 399), ihr Gegenstand hingegen erscheint, nämlich der Aktinhalt, wird aber nicht erlebt (mit Ausnahme der adäquaten Wahr­ nehmung). In diesem Sinne wird Husserls Rede von Empfindungen als die »als Fundamente der Auffassung fungierenden Inhalte« (ebd.) gerechtfertigt. ›Auffassung‹ ist allerdings ein Akt und kein funktio­ naler Mechanismus. Sein ›Auffassungssinn‹ gestattet es, dass ein intentionales Erlebnis durch einen konkreten Gegenstand ›erfüllt‹ wird, dass sich also unsere Erfahrung auf etwas jeweils Gegebenes

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bezieht. Dieses Verhältnis zwischen idealem Meinen einer Gegen­ ständlichkeit und ihrer konkreten Erfüllung versteht Husserl als das Verhältnis zwischen Intentionalität und »Bedeuten in concreto« (ebd., 435). Die Bedeutung der Akte wiederholt sich »in den mannigfaltigen Einzelakten eben als dieselbe« (ebd.). Zweitens jedoch lässt sich fragen, ob Husserl an Brentanos zuvor erwähnter Überzeugung festhält, dass alle psychischen Phänomene auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen. Husserls bezieht seine eigene Position gegenüber Brentano im Zuge seiner Begriffsbe­ stimmung der Aktmaterie. Während die Dichotomie von Aktinhalt und Aktcharakter dazu dient, den Begriff des Aktes zu klären und Aktarten voneinander zu unterscheiden, qualifiziert das Begriffspaar Aktqualität und -materie die jeweiligen Aktarten im Speziellen. Dies verdeutlicht Husserl bereits eingangs an einem Beispiel: »So sind z.B. die beiden Behauptungen 2 x 2 = 4 und Ibsen gilt als Haupt­ begründer des modernen Realismus in der dramatischen Kunst als Behauptungen von einer Art, jedes ist als Behauptung qualifiziert. Dieses Gemeinsame nennen wir die Urteilsqualität« (ebd., 426). Was die Aktqualität vom Aktcharakter in ihrer deskriptiven Leistung unterscheidet, ist, dass mit dem Begriff des Aktcharakters der gesamte Akt gemeint ist, während die Aktqualität den Aktcharakter ohne Berücksichtigung der Aktmaterie beschreibt, also von der konkreten Einheit des Erlebnisses abstrahiert. Anderes gesagt: Der Aktcharakter ist dasjenige, was in mannigfacher Weise ein Erlebnis zum Akt macht, nämlich die Spielarten der Intentionalität. Aktqualität ist eine Bestimmung dieser Spielarten in Absehung von der Gegenständlich­ keit als Bedeutung der intentionalen Erlebnisse. Es ist daher logisch nachvollziehbar, dass das Verständnis der Aktqualität mit demjenigen der Aktmaterie einhergehen muss, insofern als es sich bei ihnen um komplementäre »Konstituentien aller Akte« (ebd., 441) handelt. Es ergibt Sinn, angesichts der anspruchsvollen Terminologie, die hier entwickelt wird, innezuhalten und die bisher vorgestellten Begriffe noch einmal am bereits etablierten Beispiel der Wahrneh­ mung zu verdeutlichen. Stellen wir uns vor, dass ein Apfel vor uns läge. Dass wir den Apfel wahrnehmen, ist ein Akt. Was diesen Akt von anderen wie der Erinnerung an den Apfel unterscheidet, ist sein Aktcharakter. Der Inhalt des Aktes ist der Apfel als Gegenstand, doch dieser Aktinhalt ist aus Empfindungen (reell, also in seiner Gegenständlichkeit) aufgebaut. Zu diesen Empfindungen gehören beispielsweise die Sinnesreizungen durch Farbe und Gewicht des

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2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes

Apfels. Diese beiden Arten von Inhalten unserer Erfahrung, nämlich Gegenstände und Empfindungen, sind uns auf jeweils unterschiedli­ che Art gegeben. Nur der Apfel als Gegenstand ist ein Aktinhalt. Das bedeutet, dass nur er intentional ist. Empfindungen sind für Husserl nicht intentional und daher nicht Inhalte eines Aktes, sondern der Auffassung, die er auch Apperzeption nennt – wobei diese nicht mit tatsächlichen Reizen zu verwechseln sind. Nichtsdestoweniger gehören Empfindungen zum Akt der Wahr­ nehmung. Anders gesagt: In unserem Erleben des Apfels sind die Farb-, Größen-, Abstandsempfindungen etc. aufgehoben. Wie bereits mit dem Verweis auf Hume erläutert, bedeutet dies allerdings nicht, dass sich die Wahrnehmung des Apfels mit mechanischer Notwendig­ keit aus der Kombination von Empfindungen ergäbe. Was wir heute als einen schmackhaften Apfel sehen, kann uns morgen als Attrappe erscheinen. Anstelle dieser mechanischen Kombinatorik, die der Assoziations- und Apperzeptionspsychologie entspricht, nutzt Hus­ serl die phänomenologische Erklärung für den Aufbau der Erfahrung. Das heißt, dass die Wahrnehmung des Apfels in ihrer Konstitution spezifisch analysiert wird. Der Aktcharakter ist die Wahrnehmung, ihr Inhalt der Apfel als Gegenstand. Um sie genauer zu bestimmen, sind die Begriffe Aktmaterie und -qualität verfügbar. Aktmaterie definiert Husserl »als dasjenige im Akte […], was ihm allererst die Beziehung auf ein Gegenständliches verleiht, und zwar diese Beziehung in so vollkommener Bestimmtheit, daß durch die Materie nicht nur das Gegenständliche überhaupt, welches der Akt meint, sondern auch die Weise, in welcher er es meint, fest bestimmt ist« (ebd., 429). Aktmaterie ist zunächst eine allgemeine Bestimmung des intentionalen Wesens. So zeigt sich uns im Wahr­ nehmungsakt immer etwas als die Materie des Aktes. Dass es sich dabei um den konkreten Apfel handelt, den wir meinen, ist eine Konkretion der Aktmaterie durch den ›Auffassungssinn‹ und folg­ lich erst Teil des ›bedeutungsmäßigen Wesens‹, nicht schon des ›intentionalen Wesens‹, das die Phänomenologie in seiner Idealität analysiert. Dem Akt wird Gegenständlichkeit als Bezugspunkt durch die Aktmaterie verliehen, nicht aber im Sinne eines Synonyms für den wirklichen Gegenstand, sondern vielmehr die Ausrichtung auf Gegenständliches, die gegenständliche Richtung des Gesamtaktes, die den wirklichen Gegenstand zu bedeuten ermöglicht. Es handelt sich bei der Aktmaterie allerdings um eine intentionalanalytische Kategorie, die auf den komplementären Begriff der Aktqualität ange­

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wiesen bleibt, die »zweifellos ein abstraktes Moment des Aktes [ist], das von jedweder Materie abgelöst schlechterdings undenkbar wäre« (ebd., 430). Am Beispiel des Apfels gesprochen: Unabhängig davon, wel­ che Empfindungen vorliegen, meinen wir beides Mal den Apfel als Gegenstand, wenn wir ihn heute sehend wahrnehmen und uns morgen an ihn erinnern. Was in beiden Fällen gleich ist, der Apfel mit »identisch denselben phänomenalen Bestimmtheiten« (ebd., 460), ist die Aktmaterie, in der unser Erleben auf den konkreten, einzelnen Apfel gerichtet ist. Aktmaterie ist ein engerer Begriff als Aktinhalt, denn Akte können, wie wir es am Beispiel der Empfindungen darge­ stellt haben, auch Inhalte vorweisen, die keine Aktmaterien sind. Hierzu gehört auch der außerintentionale Inhalt eines Gegenstandes wie die reale Rückseite des Apfels. Zwar sind uns in unserem Erleben Äpfel meist mit einer Rückseite gegeben (sonst würden wir nicht nach ihnen greifen können), doch diese Rückseite ist als Aktmate­ rie nicht deckungsgleich mit der wirklichen Rückseite des Apfels, die uns in ihrer Möglichkeit nichtsdestoweniger in der Erfahrung gegeben sein kann – z.B. als ungewisse Erwartung, dass auf der Rückseite ein Wurm aus dem Apfel schaut. Dass wir in unserem Akt – insbesondere im Wahrnehmungsakt – den tatsächlichen Apfel auffassen und sich der Aktinhalt der Wahrnehmung bisweilen mit dem Apfel deckt (ihn repräsentiert43), der Akt also erfüllt ist und den konkreten Apfel bedeutet, ist eine andere analytische Ebene, der die sechste Logische Untersuchung gewidmet ist, nämlich eine Analyse des ›bedeutungsmäßigen Wesens‹, in der Sinn und Form der Auffassung untersucht werden, wohingegen die Intentionalanalyse zuvörderst auf das ›intentionale Wesen‹ abzielt. Husserl beschäftigt des Weiteren die Frage, ob Vorstellungen im Aufbau der Akte eine Sonderstellung zukomme, so wie es bei seinem Lehrer Brentano der Fall ist. Diese Sonderstellung könnte darin bestehen, dass »[d]ie Identität der Materie bei wechselnder Qualität […] auf der ›wesentlichen‹ Identität der zugrunde liegenden Vorstellung [beruht]« (ebd., 445). Die Erwägung, dass alle Akte Vorstellungen oder durch Vorstellungen fundiert seien, bedeutet hier also, dass die Vorstellungen die Materie der jeweiligen Akte seien. Das Verhältnis des frühen Husserls zum Gedanken der Repräsentation ist eine exegetische Streitfrage. Einerseits weist er den Gedanken der Vorstellung seines Leh­ rers Brentano zurück, andererseits finden sich Spuren des Hume’schen Empirismus (vgl. Schuhmann 2001).

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2.3 Analyse des Erscheinens am Beispiel des Intentionalitätsbegriffes

In anderen Worten: »das intentionale Wesen der Vorstellung [ist] bloße Materie« (ebd., 446). Gegen diesen Ansatz wendet Husserl allerdings ein, dass »die vorstellende Intention als solche« (ebd., 449) nicht ausreiche, um den Unterschied zwischen Vorstellungen in specie zu erklären, weswegen zur Vorstellung ein zweiter Charakter, der Inhalt, hinzutreten müsse. Dieser Zusatz widerspräche aber der vorherigen Bestimmung der Identität von Materie und dem intentio­ nalen Wesen der Vorstellung, weil nötig wäre, »einen wesentlichen Unterschied von Aktqualität und Materie zu statuieren« (ebd.). Auf­ grund dieses Einwands kommt Husserl zu dem Entschluss, Brenta­ nos Annahme der grundsätzlichen Sonderstellung der Vorstellungen nicht beizupflichten. Dies ist ein Ausdruck der phänomenologischen Transformation des Immanentismus – und der Abwendung von der Aktpsychologie. Vielmehr generalisiert und relativiert er das Fundierungsverhältnis, das Brentano für die Vorstellung postuliert, wesentlich auf die Beziehung aller Aktarten: Es mag durch die Besonderheit mancher Aktarten eine Vermittlung gesetzlich gefordert sein; es mag vorkommen, daß manche Aktqua­ litäten nur in Komplexion auftreten können, derart, daß ihnen im Aktganzen andere, und zwar auf dieselbe Materie bezogene Aktquali­ täten, z.B. ein Vorstellen dieser Materie, notwendig zugrunde liegen, somit ihre Anknüpfung an die Materie eine mittelbare sein muß. Daß sich dies aber immer und überall so verhalten müsse, vor allem daß die hier fragliche Aktart des ›bloßen Vorstellens‹ eine so bedeutsame Rolle spiele und daß nun jeder Akt, der nicht selbst ein bloßes Vorstellen ist, nur durch das Medium eines solchen Vorstellens seine Materie gewinnen könne – das erscheint nun nicht als selbstverständlich und von vornherein auch nicht als wahrscheinlich (ebd., 454f.).

Während der Aktinhalt die Gegenstände der Teilakte wie die Gegen­ ständlichkeit des gesamten Aktes und ihre Verhältnisse, die bemerkt oder unbemerkt sein können, reell oder intentional meint, betrifft der Aktcharakter die Formen der Gestaltung von Akten, d.i. die »Modi­ fikation« (ebd., 398) des Aktes. Wesentlich ist ihnen beiden, dass sie den Akt als intentionalen aufbauen, nicht aber die Gegenstände, die im Akt vorgestellt sind, meinen müssen, denn „›Akte‹ sollen die Erlebnisse des Bedeutens sein, und das Bedeutungsmäßige im jewei­ ligen Einzelakte soll gerade im Akterlebnis und nicht im Gegenstande liegen« (ebd., 353). Dies gilt vielmehr für die Aktmaterie, die durch die Richtung auf die Gegenständlichkeit, die im Akt vorgestellt wird, zu erfassen ist. Ohne die gegenständliche Richtung lässt sich der Akt

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

demgemäß nicht denken – diesem Umstand trägt Husserl mit der Rede von der Intentionalität als dem deskriptiven Gattungscharakter des Aktes Rechnung. Am Beispiel der Apfelwahrnehmung gespro­ chen: Was die Wahrnehmung des Apfels zu dem macht, was sie ist, ist für Husserl die Spezifität des Wahrnehmens. Es handelt sich bei der Eigenart des Erlebnisses um keine Informationsverarbeitung, in der Sinnesreize, die von einem in der Umwelt vorhandenen Apfel hervor­ gerufen werden, prozessiert werden. Der Begriff der Aktmaterie hilft, auf den Apfel zu blicken, insofern als er in einem Akt gegeben ist und daher unabhängig davon, welche nicht-intentionalen Empfindungen ihn aufbauen. Die Bedeutung des Apfelerlebnisses koinzidiert nicht mit seiner Farbe, Ausdehnung oder Position im Raum, ist von ihnen vielmehr prinzipiell unabhängig, wie sich im Erlebnis der Erinnerung oder Fantasie zeigt. Aktqualität und -materie lassen sich als »zwei einander wechsel­ seitig fordernde Momente« (ebd., 431) beschreiben, die die innere Struktur eines Aktes qualifizieren. Die Aktqualität ist dabei ein Teil des Aktes, der variieren kann, obwohl die Aktmaterie identisch bleibt, nämlich die »bestimmte Weise« (ebd., 429), in der die Gegenständ­ lichkeit vorstellig gemacht wird bzw. gegeben ist. Diese Gegenständ­ lichkeit, zuletzt, auf die sich der Akt intentional richtet, ist »die Eigenart von Akten, in denen etwas erscheint« (ebd., 375), oder »das empirische Ich und […] seine Beziehung auf den Gegenstand« (ebd.). Die »objektivierende Beziehung, die wir der in der Erscheinung erlebten Empfindungskomplexion zu dem erscheinenden Gegenstand zuschreiben« (ebd., 360), ist dem Aktcharakter dabei strukturell vollkommen kontingent und vielmehr eine Frage der Beziehung zwi­ schen Dingerscheinung und erscheinendem Ding als Aktinhalt. Die Aktanalyse des Wahrnehmens zeigt nämlich, dass dem Wahrnehmen wesentlich ist, »ein vermeintliches Erfassen des Gegenstandes zu sein, nicht aber ein adäquates Anschauen« (ebd., 375). Die Frage der Adäquatheit tangiert allerdings erneut das Thema der sechsten logischen Untersuchung: der Wahrheit. Diesen Zusammenhang können wir ein letztes Mal am Beispiel des Apfels nachvollziehen: Wenn wir einen Apfel wahrnehmen, ist er als Gegenstand bestimmt, ohne dass dabei seine Bestimmung als Apfel anders ausfallen muss, als es in unserer Erinnerung geschieht. Wenn wir einen Apfel vor Augen haben oder uns an ihn erinnern, meinen wir vielleicht, er sei rot gewesen, obwohl er grün war. Es handelt sich dabei um einen Irrtum. Dieser Irrtum ist von phäno­

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2.4 Zwischen den Bewusstseinspsychologien

menologischem Interesse und die Phänomenologie ermöglicht eine präzise Analyse des Irrtumserlebnisses, für die Apfelwahrnehmung als Wahrnehmung ist es jedoch in Isolation betrachtet nicht erheblich, ob sie den wirklichen Apfel trifft oder nicht44. Erst wenn ein weiterer Akt hinzutritt, der die Erfüllung der Apfelwahrnehmung enthält, also den Unterschied zur Wirklichkeit zur Bedeutung hat, wird der Irrtum erlebt. Diese verschiedenen Facetten des Erlebniszusammenhangs werden in der Phänomenologie analytisch erschlossen, weil diese sich durch ihre Verfahrensweise auf die Phänomene in ihrer Phänomena­ lität konzentriert, ohne dabei in einen subjektivistischen Immanen­ tismus zurückzufallen, der bei Brentano gegeben war.

2.4 Zwischen den Bewusstseinspsychologien Der Begriff der Intentionalität dient dem Versuch, die Einheit von Erlebnis und Erlebtem zu erfassen, ohne ein Subjekt zu präsup­ ponieren, dem ein Objekt gegenübersteht – die Subjektivität ent­ steht (im logischen, nicht im genetischen Sinne) vielmehr erst in dieser Beziehung. Husserls Bemühungen, die Intentionalität durch funktionale Verhältnisse wie denjenigen zwischen Aktcharakter und -inhalt sowie Aktqualität und -materie zu bestimmen, müssen jedoch nicht als gelungen gelten, um den phänomenologischen Diskurs zu ermöglichen. Die Unternehmung der Phänomenologie besteht gerade darin, diese Ebene des Seinsverständnisses zur Sprache zu bringen, also zur eigenständigen Analyse des Erlebens vorzudringen. Anders gesagt: Phänomenologie zu betreiben setzt nicht zwingend voraus, sich der soeben präsentierten Auffassung Husserls anzuschließen, nach der Intentionalität als entscheidende Eigenschaft bedeutsamer Erlebnisse verstanden wird. Vielmehr ist der phänomenologische Diskurs wesentlich dadurch bestimmt, die Fragehaltung gegenüber der Erfahrung selbst einzunehmen – eine Fragehaltung also, die in Apperzeptions- und Aktpsychologie aufgrund ihrer konzeptuellen Vorannahmen nicht eingenommen werden konnte. Wie lässt sich die erscheinungskundige Seelenlehre letztlich bestimmen? In Assoziations-, Apperzeptions-, Akt- und Vermögens­ psychologie folgt die Idee der Erscheinung des Seelenlebens einer 44 Eine phänomenologische Analyse von Täuschung und Irrtum findet sich in Schelers Schrift Die Idole der Selbsterkenntnis (1915; SGW III).

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

Auffassung vom Seelenleben, die der Suche nach seinen Erschei­ nungen zugrunde gelegt wird. Dabei gibt es rationalistische45 und empiristische, idealistische und materialistische Traditionen, die den Blick des empirischen Beobachters lenken. Dieser Blick selbst wird dabei jedoch zumeist nicht problematisiert und die konkurrieren­ den Positionen jeweils nur vom eigenen Standpunkt aus kritisiert. Anders in der Phänomenologie: Hier folgt die Idee des Seelenlebens dem Verständnis seiner Erscheinungen. Dies ist nur möglich, weil ein authentischer Zugang zum Wesen der Erscheinungen gewählt wird, statt ihnen mit einem Phänomenalismus oder Transzendenta­ lismus bereits eine Gestalt unterzuschieben. Daraus resultiert eine forschende Haltung, die durch nichts mehr als durch Offenheit gegenüber der Gegebenheit von Phänomenen selbst gekennzeichnet ist. Erscheinungen sind in der Phänomenologie wie in kaum einer anderen Geistesströmung problematisch. Daher ergibt sich aus der Umkehr des Verhältnisses zwischen Seelenleben und Erscheinung keine Eindeutigkeit. Stattdessen wartet die Phänomenologie mit ver­ schiedenen Bestimmungen der Erscheinung auf, die dasselbe Prob­ lem, nicht aber notwendigerweise dieselben Inhalte einen. Aus dem Dialog zwischen diesen Bestimmungen ergibt sich ein Diskurs, in dem auch der Sinn der Rede vom Seelenleben, von der Subjektivität und dem Bewusstsein verhandelt wird. Welche Auffassungen vom Seelenleben dabei zutage gefördert werden, wird das vierte Kapitel anhand einiger Beispiele anzeigen. An dieser Stelle steht zunächst der Problemaufriss im Mittelpunkt. Den Pfad der Phänomenologie zu beschreiten, bedeutet, an der Gegebenheit der Erscheinung, also am Erscheinen, dessen Struk­ tur deskriptiv und seinen Aufbau konstitutiv zu untersuchen. Dass dabei auch das Bewusstsein angesprochen wird, weil die Wirklichkeit der Subjektivität kein historischer Zufall, sondern im Wesen der Erfahrung beschlossen ist, schlägt die Brücke zum psychologischen Diskurs. Allerdings ist es nicht trivial, aus dem phänomenologischen Blickwinkel eine Stellungnahme zur Bewusstseinspsychologie abzu­ leiten. Im Gegenteil vermag die psychologische Phänomenologie verschiedene Ansätze hervorzubringen. Die Vielfalt dieser Ansätze reicht so weit, als dass sie den Bewusstseinsbegriff selbst infrage zu stellen vermag. Das einflussreichste Beispiel für einen Beitrag zur Brentanos Denken wird beispielsweise von seinem Schüler Utitz als rationalistisch charakterisiert (vgl. Utitz 1918, 227).

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2.4 Zwischen den Bewusstseinspsychologien

psychologischen Phänomenologie, der den konventionellen Bewusst­ seinsbegriff unterminiert, statt ihn lediglich durch Intentional- und Konstitutionsanalyse mit einem phänomenologischen Unterbau zu versehen, ist Heideggers Forschung. Im Übergang von dessen Ein­ führung in die phänomenologische Forschung (HGA XVII) und den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (HGA XX) zu Sein und Zeit (HGA II) zeigt sich eine kritische Distanznahme zum Bewusstseins­ begriff und dessen Ablösung durch die Idee des Daseins. In der Idee einer phänomenologischen Bewusstseinspsychologie liegt das Erfordernis, mit der Erweiterung des Diskurses auch die Veränderung des Sinns vom Bewusstseinsbegriff zu gestatten. Aller­ dings ist damit nicht gesagt, dass die Bewusstseinspsychologie durch die Phänomenologie in jeder Hinsicht überwunden wird, sodass in letzter Instanz keine Kontinuität zu Apperzeptions- und Aktpsycho­ logie bestünde und daher die Rede von der phänomenologischen Bewusstseinspsychologie irreführend wäre. Im Gegenteil besteht im Geiste der obigen Andeutungen zur Vollendung der Aktpsychologie durch die frühe Phänomenologie die Pointe der Überlegung darin, dass die Dissonanz zwischen Wundt und Brentano, zwischen Objektund Subjektpsychologie, zwischen Erscheinungs- und Funktionspsy­ chologie, zwischen Reizverarbeitung und Selbsttätigkeit die Grenz­ bereiche des durch die Phänomenologie eröffneten psychologischen Spannungsfeldes markiert – und zwar als dessen in gewissem Sinne naive Vorläufer. Die heideggerianische Idee einer Überwindung des Bewusstseins- durch den Daseinsbegriff vermag, im Gegensatz zu Apperzeptions- und Aktpsychologie, den zentralen psychologischen Konflikt in sich auszutragen, statt ihn qua Präsupposition einer Konzeption vom Seelenleben zu überspringen, mag diese Idee auch radikal und – aus der natürlichen Einstellung gesprochen – fremdartig erscheinen. Zum Verständnis des phänomenologischen Beitrags ist es unbedingt erforderlich, das Missverständnis zu vermeiden, dem Begriff des dritten Weges der Bewusstseinspsychologie die Präsuppo­ sition eines mentalistischen Bewusstseinsbegriffs unterzuschieben. Im Gegenteil umfasst der neue Diskurs auch anti-mentalistische und anti-egologische Positionen. Gewissermaßen führt der dritte Weg aus der vormaligen Problematik heraus, verläuft nicht in der gleichen Form wie die beiden ersten Wege, sondern in psychologische terra incognita. Eine phänomenologische Bewusstseinspsychologie ist demnach keine Psychologie mit einem spezifischen Bewusstseinsbegriff in

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2. Die phänomenologische Psychologie als dritter Weg

ihrem Zentrum, sondern eine Psychologie, die die Frage nach dem Bewusstsein stellt und in ihre Forschung integriert. Das Vermögen zu dieser Fragestellung gewinnt sie durch die phänomenologische Forschungsart, deren Habitus darin besteht, Präsuppositionen stets aufzulösen und sich an ihrer statt auf den Grund der Gegebenheit zu begeben. Dadurch wird sie zu einer Unternehmung, die das Zurückstärker als das Weiterfragen begünstigt. Hierin liegt der innerphäno­ menologische Pluralismus begründet. Wenn die phänomenologische hier als dritter Weg der Bewusst­ seinspsychologie inszeniert wird, so ist damit zunächst eine dritte Alternative zu Akt- und Apperzeptionspsychologie gemeint. Genauer besehen handelt es sich jedoch um den nächsten Schritt im meta­ psychologischen Diskurs: So wie die Konfrontation zwischen Vermö­ gens- und Assoziationspsychologie durch diejenige von Akt- und Apperzeptionspsychologie abgelöst worden ist, wird diese nun durch Kontroversen innerhalb der phänomenologischen Psychologie über­ wunden. Der dritte Weg führt nicht geradewegs zur endgültigen Lösung des Bewusstseinsproblems, sondern vermag diesem besser als die vorherigen Ansätze der Psychologie gerecht zu werden. Das entscheidende Dilemma, das sich aus diesem Forschungsan­ satz mit Blick auf die Experimentalpsychologie als Dialogpartner der philosophischen Phänomenologie ergibt, besteht darin, dass die rigo­ rose Überprüfung der wesensmäßigen Grundlagen des Erlebens und Lebens die hypothesengenerierende und -überprüfende Forschung der Empiriker nicht nur ausklammert, sondern auszuschließen droht: Es scheint eine Wahl zwischen Reflexion auf das Bewusstsein und des­ sen tatsächlicher Erforschung erzwungen zu sein – zwischen Paralyse des beobachtenden Blickes in die Welt und Arglosigkeit desselben. Dieses Dilemma beschreibt die Lage am Übergang zwischen psycho­ logischer Phänomenologie und phänomenologischer Psychologie. Der nächste Abschnitt versucht ihm zu begegnen, indem er eine Weise des Forschens skizziert, die sowohl die Vorsicht in der Kontemplation der Philosophie als auch die Initiative im Experimentieren der Psycho­ logie integriert, ohne auf die Zurückhaltung gegenüber der Empirie, die jener eignet, oder die Unbedachtheit auf Präsuppositionen, zu der diese verführt wird, zurückzufallen.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie in statischer und dynamischer Betrachtung

Die bisherige Argumentation hat im ersten Kapitel eine Differen­ zierung der innerpsychologischen Auffassungen vom Seelenleben, dann im zweiten Kapitel eine methodologische Opposition zur klas­ sischen Bewusstseinspsychologie durch den Ansatz der Phänomeno­ logie gesehen. Die Binnendifferenzierung innerhalb der Psychologie zwischen Apperzeptions- und Aktpsychologie ist im zweiten Schritt in den Hintergrund getreten, um den Standpunkt der phänomeno­ logischen Forschung zu verdeutlichen. Auch in diesem Kapitel soll die psychologische Forschung zunächst in einem einheitlichen Sinne adressiert werden. Dafür verwenden wir die Bezeichnung ›Experi­ mentalpsychologie‹ in einem weiteren Sinne. Es soll mit diesem Begriff keine Betonung des experimentellen Teils der Forschung aus-, sondern die Art und Weise des psychologischen Forschens angespro­ chen werden, die mit der Experimentalmethode Wundt’scher Prägung ihren Ausgang genommen hat. Dass dabei auch in der Gegenwart auf Ebene der Konzepte Gedankengut nicht nur der Apperzeptions­ psychologie, sondern aus der Assoziations- und Aktpsychologie, bis­ weilen sogar aus der Vermögenspsychologie von Einfluss sein kann, soll an dieser Stelle nur implizit bleiben. Wenn von ›Experimentalpsy­ chologie‹ die Rede ist, wird Bezug auf einen schwachen performativen Konsens genommen, der im Bannkreis einer pragmatischen, empi­ ristischen und teilweise konstruktivistischen Weltanschauung steht, Forschungsweisen wie Operationalismus, Observationalismus oder Positivismus begünstigt und in Paradigmen wie Kognitivismus, Kon­ nektionismus oder Behaviorismus zum Ausdruck kommt. Kurzum: Der Ausdruck ›Experimentalpsychologie‹ verweist auf den als die Dis­ ziplin Psychologie institutionalisierten Mainstream in der okzidental geprägten Wissenschaft. Dieses Kapitel dient der Bemühung, die phänomenologische Bewegung und die Experimentalpsychologie jeweils im allgemeins­

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

ten Sinne anhand von sie konstituierenden Schlüsselbegriffen zu charakterisieren. Dabei wird das am Ende des letzten Kapitels artiku­ lierte Dilemma – gar die drohende Aporie – aufgegriffen, dass sich Phänomenologie und empirische Forschung auszuschließen schei­ nen. Dieses Dilemma ergibt sich, so die zentrale Behauptung des Kapitels, durch eine statische Auffassung von Phänomenologie und Psychologie. Die Überwindung des Dilemmas besteht also in einer Dynamisierung der Beziehung zwischen beiden Dialogpartnern. Der Vorschlag für diese Dynamisierung weist bereits in Richtung der ›Erneuerung der phänomenologischen Psychologie‹, bereitet aber vielmehr im Allgemeinen die Perspektive vor, die im zweiten Teil der Arbeit mit Leben gefüllt werden wird.

3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung Über die Gründungsphase der phänomenologischen Bewegung, aber auch über ihr Verhältnis zur Psychologie sind erschöpfende Darstel­ lungen geschrieben worden (insbesondere Spiegelberg 1960; 1972). Sie beziehen allerdings zumeist eine von der frühen Phänomenolo­ gie voranschauende Stellung, der das Spätere am Früheren misst. Das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie muss unter diesen Voraussetzungen statisch erscheinen, nämlich wie der Abgleich zweier Standpunkte. Dass diese Betrachtungsweise ihr eige­ nes historiographisches Recht hat, ist nicht zu leugnen, doch sie muss durch einen dynamischen Gesichtspunkt ergänzt werden. Im Mittel­ punkt steht dann die wechselseitige Befruchtung und Standpunktbe­ stimmung im Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie in einer Phase, in der die Psychologen noch nicht mit Gewissheit keine Philosophen waren und die Phänomenologen durchaus zurecht als Psychologen betrachtet werden konnten. Erst vor diesem Hintergrund erhält der Begriff der phänomenologischen Psychologie seine eigent­ liche Brisanz. Einer geistesgeschichtlichen Bedeutungsklärung der phänome­ nologischen Psychologie müssen jedoch einige begriffliche und kon­ zeptuelle Klärungen vorangestellt werden. In den vorherigen Kapiteln ist bereits artikuliert worden, dass das Verhältnis zwischen Phänome­ nologie und Psychologie der Sache nach von Anfang an offen gewesen ist, aber auch noch in der Gegenwart fruchtbare Potenziale birgt.

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

Dementsprechend ist die phänomenologische Psychologie weder eine ›interdisziplinäre‹ Kooperation noch eine Mischung, sondern der Ausdruck der ursprünglichen Durchdringung beider wissenschaftli­ chen Problemfelder. An dieser Stelle sollen die drei Begriffe Wesen, Erfahrung und Bedeutung als Kern des phänomenologischen Denkens behauptet werden. Allerdings gibt es keine Konvention und keinen Standard für Schlüsselbegriffe der Phänomenologie. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass jede Phänomenologin und jeder Phänomenologe ein idiosyn­ kratisches Mobile an Begriffen anzuführen imstande ist. Den drei Begriffen Wesen, Erfahrung und Bedeutung soll hier jedoch nicht aus Neigung, sondern auf der Grundlage einer wissenschaftstheo­ retischen Reflexion der Vorrang gegeben werden: Begriffe aus der Objektsprache oder Methodik der phänomenologischen Deskription, wie Intentionalität, Bewusstsein oder Reduktion, zu Kernmerkmalen der Phänomenologie zu erklären, die nur für eine der größeren Strömungen innerhalb der Bewegung, etwa die transzendentale Phä­ nomenologie (z.B. Fink, Husserl), die Gegenstandsphänomenologie (z.B. Scheler, Pfänder), die hermeneutische Phänomenologie (z.B. Heidegger, Gadamer) oder die existenzielle Phänomenologie (z.B. Jaspers, Sartre), Priorität behaupten können, begründet eher Zweifel an der Einheitlichkeit der Bewegung (zu diesen Strömungen mehr in Kapitel 4). Die drei hier gewählten Begriffe mögen demgegenüber generisch anmuten, weil sie in nicht-phänomenologischen Denkströmungen einen ähnlichen Rang einnehmen, doch es ist ihre spezifische phä­ nomenologische Färbung, die der Bewegung ihr Profil gibt. Ferner lassen sie die Anschlussfähigkeit der Argumentationen erkennen, die durch ein esoterisches Vokabular verhindert wird. Die Priorität des Forschungsgegenstandes, der ›Sachen selbst‹, bringt zum Aus­ druck, dass phänomenologische Arbeit nicht an einer hermetischen Systematik interessiert ist, sondern an gegenstandsangemessenem Wissen, das der Fülle der Erfahrung gerecht wird. Von Wesen, Erfah­ rung und Bedeutung als Kernmerkmale der phänomenologischen Bewegung zu sprechen, erlaubt somit, nachzuzeichnen, wie Probleme entstanden sind, ohne dafür konzeptuelle Präsuppositionen (zu denen sogar der einflussreiche Begriff der Intentionalität führen kann) in Kauf nehmen zu müssen. Zugleich wird bereits an der Frage nach dem Essenzialismus klar, dass diese drei Begriffe nicht zu weit und

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

daher konturenlos sind, sondern sich eine markante und eigenwillige phänomenologische Position abzeichnet.

Wesen Als Vordenker ist der bereits zuvor genannte Prager Mathematiker und Philosoph Bernard Bolzano erwähnenswert, dessen Lehren vom Satz an sich, ebenso wie die Idee der Eidologie46 (bei Husserl: Eidetik), den Weg für den Begriff des Wesens in der Phänomenologie gebahnt haben. Diesen Begriff an erster Stelle zur Charakterisierung der Phänomenologie anzuführen, ist weder beliebig noch unstrittig. Mit Moritz Geiger kann die Position bezogen werden, dass der Wesensbe­ griff das bestimmende Merkmal des phänomenologischen Denkens sei. So schrieb der Münchner Phänomenologe: Es ist begreiflich, daß, wer vom Husserl der ›Logischen Untersuchun­ gen‹ herkommt, eine andere phänomenologische Ästhetik propagiert als derjenige, der sich an den Husserl der ›Ideen‹ anschließt; die phänomenologische Ästhetik der Münchner Schule sieht anders aus als die Schelers. Was allen Richtungen gemeinsam ist, ist nur eines: daß sie sich auf die Wesensanalyse, auf die Wesensintuition konzentrieren (Geiger 1932, 107).

Das zentrale Motiv des Wesens ist keine Reminiszenz an den Neu­ platonismus, also nicht mit der Behauptung verbunden, es gäbe Universalien, die der Wirklichkeit vorausgingen, sondern vielmehr mit realistischen Begriffen wie ›Struktur‹, der sich etwa in Maurice Merleau-Pontys Die Struktur des Verhaltens (original 1942) findet, oder ›Aufbau‹, im Sinne von Kurt Goldsteins Der Aufbau des Organis­ mus (1934), vereinbar – in Husserls Worten: »Zunächst bezeichnete ›Wesen‹ das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche« (Hua III/1, 13). Wesen ist also Washeit – quidditas. Diese Formulierung lässt sich mit dem Begriff der ›Sachverhaltsfunk­ tion‹ paraphrasieren: Wesen im weitesten Sinn sind also nichts anderes als Sachverhalts­ funktionen […], also dasjenige, was ich – in intentio recta gegen­ ständlich eingestellt – im Blick habe als dasjenige, was ich einem 46 Der Begriff der Eidologie lässt sich beispielsweise in den Werken Johann Friedrich Herbart finden (Herbart 1829).

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

Gegenstand als allgemeine Bestimmung zuschreibe oder ›zumeine‹, wenn ich urteilend einen Sachverhalt entwerfe, und was diesem Gegen­ stand zukommt, wenn meine Sachverhaltsmeinung wahr ist (Sowa 2007, 15).

Der Begriff des Wesens transzendiert die Erfahrung also nicht, son­ dern entspricht ihrer fundamentalen Struktur. Demnach ist er kein metaphysischer Begriff, doch ebenso wenig lässt er sich als eindeutig erkenntnistheoretisch bezeichnen. Im Gegenteil wird am Begriff des Wesens deutlich, dass die Phänomenologie als πρώτη φιλοσοφία jenseits von Metaphysik und Epistemologie oder zumindest durch sie hindurch auf ihr Fundament in den Erscheinungen selbst zu reichen versucht. Gerade weil der Wesensbegriff in der Phänomenologie tief und kontrovers ist, ist zu seinem Verständnis der zeitgeschichtliche Hin­ tergrund zur Kenntnis zu nehmen. So sagt schon 1926 Fels über Bolzanos Idee des ›Satzes an sich‹: wenn wir in der ›Wissenschaftslehre‹ lesen, daß wir auf den Sinn achten sollen, ›den eine gewisse Verbindung von Worten ausdrücken kann‹, dann denken wie unwillkürlich an Husserls ›Wesensschau‹, die ›originär gebende Anschauung‹, ›die Ideation‹ und die ›ideierende Abstraktion‹, die ja hier in dem Bolzanoschen ›Ansich‹ ihren legitimen Ursprung hat (Fels 1926, 398).

Die Brücke, die Fels dabei meint, ist Husserls erste logische Unter­ suchung über Ausdruck und Bedeutung, in der die Bedeutung als intentionaler Gehalt des Ausdrucks jenseits des stofflichen Zeichens dargestellt wird. Dass die ›eidetische Variation‹ als methodologische Errungen­ schaft der Phänomenologie beschrieben wird, ist auf den phänomeno­ logischen εἶδος- und Wesensbegriff zurückzuführen. Auch die ἐποχή und die verschiedenen reduktiven Schritte setzen voraus, dass es eine Sphäre der Eigentlichkeit bzw. Schlechthinnigkeit gibt, die durch die phänomenologische Methode zu Tage gefördert werden kann. Dieser Zusammenhang wird in Darstellungen der Phänomenologie, zumal im allgemeinwissenschaftlichen Kontext, oftmals unterschla­ gen. Dass es einen Aufbau der Erfahrungswelt oder eine Struktur des Bewusstseins erlebnisimmanent durch Intuition zu untersuchen gibt, ist an einen phänomenologischen Essenzialismus gebunden. Nur weil diese Spielart des Essenzialismus nicht metaphysisch ist, sondern die Phänomenologie zur ersten Philosophie (vgl. Hua VI/

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

VII) wird, können die epistemischen Implikationen nicht als weniger drastisch aufgefasst werden. Im Gegenteil verlangt die Annahme einer wesentlichen Struktur eine rigorose Prüfung, um Fehler der Geistesgeschichte, etwa der Scholastik, nicht zu wiederholen. Dieser Umstand ist ein maßgeblicher Gesichtspunkt für den Dialog mit geltungstheoretischen Ansätzen (s. Kapitel 9). Es ist schlechterdings nicht möglich, eine Simplifizierung des Wesensbegriffes vorzunehmen. In der Erfahrung scheint er als ihre Bedeutung mit Evidenzcharakter auf, wenn trotz der sich bestän­ dig verändernden Mannigfaltigkeit ein Gegenstand verfügbar wird. Damit ist nicht gesagt, dass beispielsweise ein erblicktes Objekt durch das Wesen seinen Schein bewahren würde, als fiele er aus dem steten Wandel der Eindrücke heraus. Vielmehr durchdringt das Wesen die Veränderung des Scheins, ohne hinter den Schein als Ding-an-sich zurückzufallen. Somit ist es da Wesen (bei Sartre ›das Absolute‹), das im Phänomen selbst als seine originäre Bedeutung gegeben ist: Denn das Sein eines Existierenden ist genau das, als was es scheint. So gelangen wir zur Idee des Phänomens, wie man sie zum Beispiel in der ›Phänomenologie‹ Husserls oder Heideggers antreffen kann, zum Phänomen oder Relativen-Absoluten. Relativ bleibt das Phänomen, denn das ›Erscheinen‹ setzt seinem Wesen nach jemanden voraus, dem etwas erscheint. Aber es hat nicht die doppelte Relativität der Kantischen Erscheinung. Es zeigt nicht über seine Schulter hinweg ein wahres Sein an, das seinerseits das Absolute wäre. Was es ist, ist es absolut, denn es enthüllt sich, wie es ist. Das Phänomen kann als solches untersucht und beschrieben werden, denn es ist absolut sich selbst anzeigend (Sartre 2010, 10f.).

Es besteht in der Interpretation dieser Aussagen die Gefahr, die Phänomenologie zu nahe an den Empirismus zu rücken. Diese Lesart ist insbesondere in der Gegenstandsphänomenologie naheliegend oder bei Phänomenologinnen und Phänomenologen, die, wie Herzog, Nähe zum pragmatistischen Denken suchen, das sich bei James findet: »Methodologisch nimmt die phänomenologische Psychologie die Grundhaltung des ›offenen Empirismus‹ ein« (Herzog 1992, 28). Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass die Wesenserkenntnis nicht nach dem Muster der für den Empirismus charakteristischen Induktion abläuft. Dies wird bei Geiger klargestellt: »Daher bedarf es nicht künstlicher Prinzipien, durch die das Allgemeine aus den Ähn­ lichkeitsreihen individueller Gegenstände heraus ›gebildet‹ werde, sondern die allgemeinen Wesen und Wesensbeziehungen werden am

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

Einzelnen und in gewissem Sinn im Einzelnen vorgefunden« (Geiger 1930, 8). Die ausführlichste Besinnung auf den Begriff des Wesens findet sich bei Husserl. Er bestimmt die Ideation als Akt, in dem das Wesen eines Sachverhalts aufscheint: »Überall, ob wahrgenommen ist oder frisch erinnert oder wiedererinnert, das Wesen, das darin ›gegeben‹ ist, kann dasselbe sein, und ich kann darauf hinsehen. Der gegenwärtige, der noch erinnerte, der wiedererinnerte Ton ist vom selben Inhalt, vom selben Wesen« (Hua XLI, 31). Mit dieser Aussage nimmt Husserl die Eigenheit der Erfahrung zur Kenntnis, dass etwas durch verschiedene Erlebnisse hindurch beständig als etwas erscheinen kann. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass Wesen­ heiten im epistemologischen Sinne nur durch den Vergleich und dementsprechend abstraktiv bestimmt wären. So würde der Begriff des Wesens mit der Allgemeinheit zusammenfallen und sich die Phä­ nomenologie auf den Nominalismus zubewegen. Allerdings kennt Husserl nicht nur allgemeine Wesenheiten, die Spezies, sondern auch konkrete und »[k]onkrete Wesen bedürfen nicht der ›Vergleichung‹“ (ebd., 214). Diese konkreten Wesen zu erfassen ist nun die Vorausset­ zung für die Erfassung jener allgemeinen: »Erst muss Ähnlichkeit – oder Gleichheit – (das ist nicht Identität) bewusst sein, und dann kann sich darauf eine Identifikation höherer Stufe bauen: das ens similitu­ dinis, das Identische im Ähnlichen als solchen, z.B. das Allgemeine Farbe, die Spezies« (ebd., 217). Somit ist der phänomenologische Wesensbegriff nicht mit einer nominalistischen Abstraktion verein­ bar: »Von jedem individuellen Sein (zeitlichen Sein), sei es nun ein Immanentes (Ton), sei es ein Transeuntes (Ding, Person), können wir sagen, dass es ein Wesen (Essenz, Inhalt) hat« (ebd., 212). Was den Empirismus herausfordert, ist der Charakter der Invarianz, der dem konkreten Wesen zukommt: »Ich sehe diesen Gegenstand, ich achte aber nur auf den Inhalt, auf das, was unempfindlich ist gegen ›Wahrnehmung‹ und ›Phantasie‹ oder Erinnerung« (ebd., 213). Der späte Husserl wendet sich von der epistemologischen Bestimmung des Wesens, das in der Ideation konkret gegeben ist, auf die ontologische Betrachtungsebene zurück und artikuliert »die ungeheure Aufgabe einer systematischen Erschöpfung der ontologi­ schen Konkretion« (ebd., 248). Dieses Projekt der Phänomenologie, anhand der Bestimmung von Wesenheiten die Struktur des Seins zu untersuchen, ist mit dem Begriff der ›Regionen‹ identifiziert, mit

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

dem sich Husserls Schüler Landgrebe ausführlich auseinandergesetzt hat. Er spricht von einer »Ordnung alles Seienden nach ›Regionen‹ mit ihren sie umreißenden Wesensbegriffen« (Landgrebe 1982, 11). Auch die Psychologie findet durch diese ›ungeheure Aufgabe‹ ihren Platz: »Die eidetische Psychologie ist eine regionale Ontologie so wie die reine Naturwissenschaft. Sie hat das Eidos einer abstraktiv heraus­ zuhebenden und in der Abstraktion frei variablen Universalstruktur einer möglichen Welt zum Thema« (Hua XLI, 359). Diese Position ist im phänomenologischen Diskurs allerdings umstritten und zeigt eine objektiv-idealistische Schlagseite. Insgesamt ist der phänomenologische Wesensbegriff der Anhaltspunkt des gesamten Forschungsprogramms. Seine logische und mereologische Tiefenstruktur liegt in der Behauptung, dass Iden­ tität in der Erfahrung möglich ist und unmittelbar erfasst wird. Mehr noch: Etwas intentional als Gegenstand zu erleben setzt hinsichtlich der Gegenständlichkeit voraus, dass dieses etwas sich selbst gleich ist. Jeder Sachverhalt, der uns bewusst ist, gründet auf diese Möglichkeit der Identifikation, sodass nicht davon gesprochen werden kann, dass die Identifikation eine nachträgliche und empirische sei. Dies ist der phänomenologische Sinn der Apriorizität. Sie rechtfertigt eine Unter­ suchungsart, die die Intentionalstruktur und Konstitutionsweise von jedwedem Erlebnis als logisches Gerüst der empirischen Erfahrung thematisiert, wobei diese Analysen nicht transzendental und rein in Absehung von der Erfahrung entwickelt werden, sondern in ihr.

Erfahrung Wie bereits für die Erfahrungsimmanenz des Wesensbegriffes sicht­ bar geworden ist, steht der Schlüsselbegriff der phänomenologischen Forschung, das Wesen, die Essenz, die quidditas oder die Washeit, in einem ursprünglichen Zusammenhang mit dem Begriff der Erfahrung selbst, ohne welchen Missverständnisse der Phänomenologie als Idealismus nicht vermieden werden können. Auch der Begriff der Erfahrung hatte bereits vor seiner Verwendung in der phänomenolo­ gischen Bewegung eine einflussreiche Prägung erfahren. Während im philosophischen Zusammenhang Kants Auseinandersetzung mit dem humeschen Konzept der experience und das Verhältnis zwischen Rezeptivität und Spontaneität im Vordergrund steht, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also am Vorabend der phäno­

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

menologischen Bewegung, insbesondere die Philosophie Wilhelm Diltheys einen epochemachenden Einfluss, weil sie der Erfahrung das Erlebnis koordinierte und ihr diffiziles Verhältnis für die phänomeno­ logische Analyse erschloss: ,Erlebnis‘ bezieht sich seit Husserl als Begriff auf das Bewußtsein und dessen Inhalt; dagegen verweist der Begriff ,Erfahrung‘, richtig verstan­ den und nicht alltagssprachlich verharmlost, auf einen Vorgang, der sich nicht in Ganze einer Leistung des Bewußtseins zuschreiben läßt. Denn von ,Erfahren‘ im eigentlichen Sinne des Wortes kann nur dort die Rede sein, wo etwas Neues, Unvorhergesehenes, Unverhofftes und letztlich überraschendes ins Bewußtsein tritt (Tengelyi 2007, xi).

Dieser Verweis des reinen Erlebniszusammenhangs auf seine Reali­ sierung in der gelebten Erfahrung ist auch bei Dilthey im Verhält­ nis zwischen Erlebnis und Leben angelegt: »Leben ist als Realität ein Letztes, für das Denken Unhintergehbares« (van Kerckhoven 2006, 34). Zwar nimmt die phänomenologische Bewegung jenseits dieses erfahrungs- bzw. lebensimmanenten Standpunktes einen von Diltheys Historismus abweichende Wendung, doch der Impuls der kritischen Abgrenzung, die in Husserls Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1910) zum Ausdruck gekommen ist, verdankt sich einer gemeinsamen Haltung gegenüber der Grundbeschaffenheit der erlebten und lebendigen Erfahrung. In diesem Sinne spricht auch Heidegger von dem »Leben als Ursprungsgebiet der Phänomenolo­ gie« (HGA LVIII, 25). In der jüngeren phänomenologischen Forschung findet der Schlüsselbegriff der Erfahrung vermehrte Berücksichtigung durch die Auseinandersetzung mit der sog. Präreflexivität. So sei es »gerade die Phänomenologie des präreflexiven, impliziten oder stillschweigend gelebten Leibes, wie sie vor allem Merleau-Ponty konzipiert hat, die den Prozessen des Lebens am nächsten kommt« (Fuchs 2015, 805). Die Korporalität bzw. die Leiblichkeit ist dabei eine der regionalen Ontologien, in denen sich die Eigenart des Lebens in der Erfahrung manifestiert. Analog lassen sich andere Erfahrungsregionen wie die Intersubjektivität bzw. Mitweltlichkeit oder die Historizität bzw. Zeit­ lichkeit als Bestimmungen der Erfahrung als ausgezeichnete Interes­ sen der phänomenologischen Forschung aufweisen. Ihre Integration in einen einzigen welthaften Zusammenhang deutet hingegen auf den dritten Schlüsselbegriff der phänomenologischen Forschung hin, die Bedeutung.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Ob Erfahrung stets bewusst und einem Subjekt gegeben ist, ergibt sich als zentrales Problem der Phänomenologie. Von nichtegologischen Auffassungen der Erfahrungen über minimalistische Lösungen wie dem Begriff des stream of consciousness bei William James zu transzendentalphilosophischen Anleihen sind diverse Posi­ tionen vertreten worden. Gewissermaßen lässt sich sagen, dass die epistemische Einstellung der Phänomenologie ihren größten Nutzen darin hat, dieses Problem zu isolieren, nicht aber, es zu lösen. Die Sub­ jektivität wird in der phänomenologischen Einstellung als Facette der Erfahrung sichtbar, was anderen Denkformen zumeist vorenthalten bleibt. Subjektivität ist dennoch kein einheitlicher Schlüsselbegriff der Phänomenologie, sondern vielmehr ihr vornehmliches Forschungsin­ teresse. Im Zusammenhang der Erfahrung erhält der Begriff des Phäno­ mens seinen Sinn. Wenn etwas erfahren wird – unabhängig davon, ob ein Bewusstsein als Subjekt oder ein natürlicher, insbesondere neuronaler Vorgang dafür verursachend ist –, so gibt sich etwas als etwas. Dies ist der phänomenologische Anhaltspunkt. Um Erfahrung zu verstehen, gilt es dieses Gegebenheitsverhältnis zu bestimmen: Nur sofern etwas überhaupt seinem Sinne nach prätendiert, sich zu zeigen, d. h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als etwas, was es nicht ist, kann es ›nur so aussehen wie...‹. In der Bedeutung φαινόμενον (›Schein‹) liegt schon die ursprüngliche Bedeutung (Phänomen: das Offenbare) mitbeschlossen als die zweite fundierend. Wir weisen den Titel ›Phänomen‹ terminologisch der positiven und ursprünglichen Bedeutung von φαινόμενον zu und unterscheiden Phänomen von Schein als der privativen Modifikation von Phänomen. Was aber beide Termini ausdrücken, hat zunächst ganz und gar nichts zu tun mit dem, was man ›Er-scheinung‹ oder gar ›bloße Erscheinung‹ nennt (HGA II, 39).

Heidegger unterscheidet zwei Bedeutungen des Phänomens. Den ers­ ten Sinn des Wortes kennen wir aus unserem alltäglichen Verständnis der Naturwissenschaften. Wenn wir in die Natur blicken, glauben wir nicht, dass die materielle Beschaffenheit der Welt tatsächlich so sei, wie wir sie sehen. Im Gegenteil vermuten wir, dass das Blatt am Baum, das wir in die Hand nehmen, in Wirklichkeit der Zusammenhang von mikrobiologischen Prozessen sei. Die Ansicht des Blattes in seiner grünen Farbe oder seiner ledrigen Oberfläche gibt darüber keine Auskunft. Sie ist bloßes Phänomen.

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

Dennoch zeigt sich uns als Menschen und unserem menschli­ chen Auge eben jene mikrobio-logische Natur des Blattes als Blatt. Auch wenn unser Auge nicht bezeugen kann, was die physikalischen letzten Einheiten des Blattes sind, liegt die wahrhaftige Beschaffen­ heit des Blattes als Gegenstand und Begriff auch in dem enthalten, was wir als Blatt kennen. Das Sein des Blattes offenbart sich uns. Die phänomenologische Bestimmung der Erfahrung wendet sich an diese Gegebenheit: Im Gegensatz zur cartesischen oder kantischen Methode beschränkt sich die phänomenologische Methode, auch wenn sie Phänomene kon­ stituiert, darauf, sie sich manifestieren zu lassen. Konstituieren heißt nicht konstruieren oder synthetisieren, sondern einen Sinn geben oder genauer den Sinn erkennen, den das Phänomen selbst von sich und sich selbst gibt. Die Methode läuft dem Phänomen nicht voraus, indem sie es voraussieht, voraussagt und produziert, um es von vornherein am Ende des Pfades (meta-hodos), auf den es gerade erst aufgebrochen ist, zu erwarten. Von nun an begleitet es das Phänomen, als würde sie es schützen und ihm einen Weg ebnen, indem es Barrieren beseitigt. […] Die phänomenologische Methode beansprucht also eine Wendung, die nicht einfach vom Beweisen zum Aufzeigen geht, sondern vom Zeigen in der Art und Weise, wie ein Ich einen Gegenstand sichtbar macht, dazu die Erscheinung sich als Erscheinung zeigen zu lassen: eine Methode der Umwendung, die sich gegen sich selbst wendet und in dieser Umkehrung selbst besteht — Gegenmethode« (Marion 1997, 16f; Übersetzung ANW).

Phänomenalität ist die immanente Bestimmung der Erfahrung und die Analyse der Gegebenheit bzw. des Sich-Zeigens der Beitrag der Phänomenologie zum Verständnis der Erfahrung. Dass Erfahrung eine synchrone und diachrone Einheit bildet, die sowohl die Vielfalt von Erlebnissen als auch deren zeitliche Beziehung umfasst, führt zum Minimalbegriff des Bewusstseins: Bewusstsein ist die Einheit der Erfahrung – ein starker Subjektbegriff eines empirischen oder transzendentalen Ichs ist nicht präsupponiert. Der phänomenologi­ sche Diskurs ist der Versuch, den Begriff der Erfahrung wesentlich, also in seiner Struktur zu bestimmen. Die zentrale Kategorie ist dabei die Bedeutung.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Bedeutung Der Begriff der Bedeutung ist verhältnismäßig jungen philosophi­ schen Diskursen zugehörig, insbesondere der Logik des späten 19. Jahrhunderts – allen anderen Arbeiten voran in Gottlob Freges Über Sinn und Bedeutung von 1892. Freges semantische Verwendung des Bedeutungsbegriffes steht mit Husserls noematischer Auffassung des Begriffes in einem Verwandtschaftsverhältnis: Wie das Noema Husserls als sein ›innerstes Moment‹ und ›zentralen Einheitspunkt‹ stets den ›Gegenstand schlechthin‹, das ›immerfort als dasselbe bewußte X‹ als die notwendige Bedingung für alle ›Synthesen der Identifikation‹ in sich trägt, so trägt der Sinn Freges stets eine ›Bedeutung‹ in sich, nämlich eine ›Bedeutung‹ qua Identitätspotenzia (Hoche 1982, 192).

Noema meint hierbei »das vollständige Korrelat eines intentionalen Bewußtseinserlebnisses, also das ›Bewußte als solches‹“ (ebd., 187). Die Bedeutung steht im Zentrum des phänomenologischen Denkens, denn sie ist der wesentliche Erfahrungsgehalt. In ihr erschließt sich dem Subjekt der »Grundcharakter der Welt, die Bedeutsamkeit« (HGA LXIV, 22): Das Verweisen ist die Art des sich zeigenden Begegnens der Welt. Die Verweisung (etwas beiträglich zu etwas, etwas von Belang für etwas, etwas hergestellt aus etwas) ist ein ›Deuten auf‹ und zwar so, daß das Worauf des Deutens, das ›Bedeutete‹ selbst im Bedeuten liegt. Dieses deutende Bedeuten adressiert sich ursprünglich an den besorgenden Umgang. Das besorgende In-der-Welt-sein hat seine Welt auf diese Begegnismöglichkeit hin erschlossen. Als Besorgen hat es sich dieser Umweltführung überantwortet. Das Bedeuten ist die Begegnisart der Umwelt. Das besorgende Aufgehen in der Welt und das Sichverlieren an sie läßt sich vom Bedeuten gleichsam mitnehmen. Damit ist der Grundcharakter des Weltbegegnens – die Bedeutsamkeit – abgehoben (ebd., 23).

Keinesfalls sollte der phänomenologische Bedeutungsbegriff also als repräsentativer verstanden werden. Vielmehr lässt sich die frühe phänomenologische Bewegung durch die Abgrenzung von ›Reprä­ sentations-‘ und ›Abbildtheorien‹ auffassen, wie de Almeida (1972) dargestellt hat. Dafür ist insbesondere der im zweiten Kapitel bereits etablierte Begriff der Intentionalität ausschlaggebend, der jedoch in verschiedenen Spielarten der Phänomenologie, etwa bei Scheler, eine

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3.1 Statische Charakterisierung der phänomenologischen Bewegung

nebensächlichere Rolle spielt als bei Husserl. Wichtiger ist, dass die Bedeutung – unabhängig von idealistischer oder realistischer Spielart der Phänomenologie – eine anti-nominalistische Gewähr für die Eigenständigkeit und Tiefe des Phänomens ist. In dieser Einsicht spiegelt sich das Motto der phänomenologischen Bewegung, ›zu den Sachen selbst!‹, sowie der Sinn der Rede von der Evidenz wider – in Gadamers Worten: »Die ,Sachen selbst‘ sind nicht ,objektive Gegenstände‘ in transzendenter Seinssetzung, sondern die in der Erfüllung intentionaler Akte erfahrenen Vermeintheiten als solche, die ,unmittelbar‘, und nicht durch Zeichen oder Symbole vertreten, ›erschaut‹ werden« (Gadamer 1963, 6). In anderen Worten: Phäno­ mene lassen sich nicht strukturell auf bedeutungslose Konstellationen von Elementen reduzieren, denn sie sind – weitgehend idiosynkra­ tisch – bedeutungsvoll. Dieses Strukturmoment der Bedeutsamkeit, das die wesentliche Fülle der Welt, die sich in der Erfahrung offenbart, auszeichnet, ist der Nachhall des ›Urphänomen‹-Gedankens bei Goe­ the: Das, was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. Diese subordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerläßliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekannt­ werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erschei­ nung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann. Ein solches Urphänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück (Goethe 1810, 367f.).

Die Untersuchung des Bedeutungsbegriffes zeichnet somit nach, wie die Erfahrung zum Wesen gelangt. Ähnlich wie zuvor betont wurde, dass die Methode der Phänomenologie und die Subjektivität als ihr zentrales Problem weniger Schlüsselbegriffe als Bereich größter

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Varianz zwischen den verschiedenen Protagonisten der Bewegung sind, ergibt sich auch für die konkrete Auffassung der Bedeutung ein virulenter Spielraum. Der Bedeutung entspricht gleichermaßen ›Ver­ meinen‹ wie ›Verstehen‹ und ›Vernehmen‹ von etwas als etwas, die sich in der Erfahrung durch spontane und rezeptive Tendenzen abbil­ den. Zwischen diesen Akzenten besteht allerdings kein weltanschau­ licher Entscheidungszwang, etwa im Sinne einer rationalistischen und empiristischen Phänomenologie. Es ist erneut das Problem selbst, also das Verhältnis von ›Sinnstiftung‹ und ›Sinnauffassung‹, das in der Phänomenologie diskutabel wird, ohne dass eine epistemologi­ sche Vorentscheidung zu treffen ist, also beispielsweise im Sinne des Kantianismus die Priorität der Apperzeption eingestanden werden muss. Die Phänomenologie ist gleichsam meta-epistemologisch.

3.2 Das statische Verständnis der Psychologie Das zum Zwecke der Einführung angenommene statische Verhält­ nis zwischen Phänomenologie und Psychologie gestattet auch die Fixierung der Psychologie, mag sie auch anders als die Beschreibung der Phänomenologie erfolgen. Ungleich der Phänomenologie, die als ›Einstellung‹, ›Methode‹ oder ›Haltung‹ beschrieben worden ist, kennzeichnet die Psychologie der Verweis auf einen Gegenstand, selbst wenn der Platz, den einst die ›Seele‹ eingenommen hat, vakant ist und die Gegenstandsfrage, die zuvor etablierte Frage nach dem See­ lenleben also, in der gegenwärtigen disziplinären Praxis von nachran­ giger Bedeutung ist. Die Erscheinung als Pendant des Seelenlebens, also das ›Phänomen‹, hat in der Phänomenologie hingegen einen anderen Rang, insofern als es sich aus der Erfahrung mit größter Natürlichkeit ergibt: »Jedem psychischen Erlebnis entspricht […] auf dem Wege phänomenologischer Reduktion ein reines Phänomen, das sein immanentes Wesen (vereinzelt genommen) als absolute Gegebenheit herausstellt« (Hua II, 45). Die Phänomenologie nimmt das Phänomen allerdings nicht leichtgläubig hin, denn sie wehrt einen unkritischen Intuitionismus ab. Ihr Gegenstand erscheint dank ihrer gründlichen und gewissenhaften Arbeit im Phänomen, sei er die Subjektivität, das Bewusstsein oder Sein und Zeit. Demgegenüber entzieht sich der Gegenstand der Psychologie ihrer Untersuchung. Nichts ist dieser Disziplin weniger verfügbar als die ψυχή, deren Wesen als Denken oder kognitives System nicht

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3.2 Das statische Verständnis der Psychologie

erschöpfend beschrieben werden kann. Zugleich ist eine implizite Prä­ supposition eines Untersuchungsgegenstands in der psychologischen Forschung unaustilgbar: das Seelenleben (im obigen Sinne). Selbst den nominalistischen Operationalismus leitet das latente Verständnis des Psychischen, obwohl es nicht expliziert werden kann. Hier zeigt sich das Erbe des Konfliktes zwischen Apperzeptions- und Aktpsycho­ logie. Aus diesem Grund (nicht, weil sie empirisch sind!) sind expe­ rimentalpsychologische Untersuchungsergebnisse vorläufig. Könnte eine Psychologin oder ein Psychologe dereinst den Finger auf die Seele legen, so wäre ein absoluter Maßstab gewonnen, um die Validität aller psychologischen Untersuchungen zu bestimmen. Es lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen, dass diese Einsicht faktisch ausgeschlossen ist, sodass der Gegenstand der Psychologie in letzter Instanz nur eine regulative Idee bleibt. Welche Rolle die Phänomenologie in diesem Zusammenhang spielt, ist eine Frage, die erst in der Untersuchung des dynamischen Verhältnisses beider Denkarten (s.u.) beantwortet wer­ den kann. Letztlich bedeutet für Phänomenologie und Psychologie λογία jeweils Unterschiedliches: Während die Phänomenologie aus dem verfügbaren Phänomen eine Lehre über sein Wesen gewinnt, ist die Psychologie eine Lehre vom notwendig unverfügbaren Seelischen anhand des uns an ihm vertrauten Teil, nämlich des Seelenlebens. Indessen darf die Geltung einer statischen Darstellung der Psychologie nicht überschätzt werden, selbst wenn die gegenwär­ tig dominante Form der psychologischen Forschung seit einigen Jahrzehnten paradigmatische Stabilität erreicht hat. Die Psychologie überhaupt, nicht die Disziplin der Psychologie, umfasst nicht nur die vielfältigen historischen Strömungen, die beispielsweise als phi­ losophische, physiologische oder Sozialpsychologie elementar von­ einander abweichende Formen angenommen haben, sondern auch die bisher rein fiktive oder noch ungedachte Forschung. Dennoch scheint ein Wesen der Psychologie überhaupt in dieser Diversität auf. Es kann hinsichtlich der Schlüsselbegriffe Ereignis, Wirkungszusam­ menhang und Versuchsperson als Untersuchungsobjekt bestimmt werden. Die Einführung dieser konzeptuellen Grundbegriffe in den folgenden Absätzen vernachlässigt bewusst die bereits etablierten Konfliktlinien innerhalb der Psychologie, die als ›Kontroversen‹ – etwa zwischen Apperzeptions- und Aktpsychologie – insbesondere das Thema der theoretischen Psychologie sind (vgl. Fahrenberg 2015; Galliker 2016). Anstelle der disziplinimmanenten Kontroverse soll hier ein statisches Grundverständnis der Experimentalpsychologie

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

im Allgemeinen ermöglicht werden. Die kontroversen Detailfragen werden sodann auf der Ebene des konkreten Dialogs mit der Phäno­ menologie wieder relevant.

Ereignis Weil es allzu selbstverständlich zu sein scheint, droht übersehen zu werden, dass jede psychologische Forschung Realismus voraus­ setzt. Außer Frage steht es, dass es wirkliche Vorkommnisse gibt, die untersucht werden, selbst wenn ihre Beschaffenheit unklar ist. Damit ist unmittelbar der Begriff des Datums verbunden: Wenn eine psychologische Messung oder Beobachtung stattfindet, ›geben‹ sie der Versuchsleiterin oder dem Versuchsleiter Messwerte. Damit ist zweierlei gesagt: Einerseits hat das Gemessene und andererseits die Messung tatsächlich stattgefunden. Die Daten sind somit eine Funk­ tion der Realität, selbst wenn es Messfehler gegeben hat. Allerdings bedeutet der Ereignischarakter des psychologischen Objekts nicht, dass Veränderungen notwendig sind. Auch die Änderungslosigkeit ist ein Ereignis: Der Grenzfall der Änderung in den Messwerten trotz Änderungslosigkeit des Objektes bedeutet noch keinen Bruch des Realismus, sondern zeigt das Erfordernis der Interpretation an. Falls hieran Zweifel zugelassen wird, also der epistemologische Gedanke, dass es ein bloßer Schein sei, dass gemessen wurde oder etwas geschehen sei, kollabiert der Unterschied zwischen Psychologie und (konstruktivistischen) Kulturwissenschaften. Messungen und Beobachtungen als rein kommunikative Konstruktionen aufzufassen, liegt jenseits der Psychologie. Dass hingegen Messungen und Beob­ achtungen auch Kommunikation sind, steht dabei außer Frage. Die kritische Reflexion auf die Laborbedingungen im psychologischen Experiment ist Ausdruck dieses Umstandes (bspw. Wendt 2018). Der Ereignischarakter des psychologischen Gegenstandes ist nicht mit der sog. Konstanzannahme zu verwechseln. Dabei handelt es sich um die »Annahme der ausschließlichen Abhängigkeit der Sinnes-Daten von physikalischen Reizen« (Gurwitsch 1975, 78). Dass alles Psychische ereignishaft ist, bedeutet also nicht, dass es durch sein materielles Substrat determiniert sein muss. Die Gestalt­ psychologen haben als maßgebliche Kritiker der Konstanzannahme auf die Entkopplung des Psychischen vom Physischen im Falle der Gestaltphänomene hingewiesen: So ist beispielsweise eine Melodie

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3.2 Das statische Verständnis der Psychologie

zu hören mehr als die Summe von Tonempfindungen. Dennoch ist eine Gestaltwahrnehmung ein Ereignis. In diesem Zusammenhang hat es oftmals, insbesondere unter Philosophen, Missverständnisse gegeben, die zu der Meinung führten, die Gestaltpsychologie sei ein geeigneter Konföderierter des Antireduktionismus. Die Zurück­ haltung der psychologisch kenntnisreicheren Philosophen gegenüber dieser Allianz ist allerdings begründet. Sowohl die von Wolfgang Köhler vertretene Überzeugung der Isomorphie zwischen Psyche und Physis als auch die Idee der Gestaltgesetze bezeugen, dass aus der Zurückweisung der Konstanzannahme noch keine Befreiung von deterministischen Reduktionen resultiert. Allerdings besteht hierin bereits der Verweis auf das zweite Charakteristikum der Psychologie.

Wirkungszusammenhang Der Ereignisrealismus des Psychischen wäre auch als metaphysischer Atomismus47 denkbar. Das würde bedeuten, dass die psychischen Ereignisse in letzter Instanz auf organische, chemische, physikalische Elemente reduziert werden könnten – eine der Assoziationspsycholo­ gie nahestehende Position. Unter diesen Bedingungen, die bis hin zur Zurückweisung des Kausalzusammenhangs der Wirklichkeit reichen, ließe sich jedoch nicht mehr von einer eigenständigen psychologi­ schen Wissenschaft sprechen: Das Psychische würde mit dem Phy­ sischen, die Psychologie mit den Naturwissenschaften zusammen­ fallen. Dieses Szenario erfreut sich aus wissenschaftssoziologischer Perspektive unter den zeitgenössischen Umständen größerer Akzep­ tanz als die Reduktion auf Kulturwissenschaften. In letzter Instanz bleibt jedoch auch in der eliminativ-materialistischen Forschung, also der Auffassung, dass die Komplexität psychischer Ereignisse ohne Verlust auf die Interaktion ihrer materiellen Aufbauelemente zurückgeführt werden kann und sollte, eine irreduzible Beweislast – die Auffassung, dass das Psychische als Eigenständiges eine bloße Illusion sei, ist metaphysisch voraussetzungsreich. Vor diesem Hintergrund ist es also selbst in der reduktiven Minimalposition erforderlich, bis auf weitere Einsichten, die die voll­ ständige Reduktion bzw. Elimination des Psychischen rechtfertigen Partikularismus im Sinne der Assoziations- und Apperzeptionspsychologie, vgl. Kapitel 1.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

würden, die Plausibilität der Darstellung des Psychischen als Zusam­ menhang hinzunehmen. Für weniger radikale Positionen als den Physikalismus ist damit gesagt, dass das Psychische einen strukturel­ len Wirkungszusammenhang darstellt – der Ereignisrealismus lässt sich also als Strukturrealismus spezifizieren (hier liegt die Schwelle zwischen Assoziations- und Apperzeptionspsychologie). Damit ist beispielsweise die Möglichkeit gegeben, (auf Kosten weiterer Impli­ kationen) psychische Ereignisse als Mechanismen darzustellen. Im Kern bedeutet der Strukturrealismus der Psychologie jedoch nur, dass die Ereignisse nicht als unverbunden aufgefasst werden. Der Unterschied zwischen der Struktur und bloßen Elementarbeziehun­ gen ist, dass die Teile des psychischen Ganzen unselbständig sind: Ein Gedanke ist nur für ein Bewusstsein ein Gedanke und kann nicht von ihm isoliert werden. Eine der prominentesten Formalisierungen dieses ganzheitlichen Wirkungszusammenhangs ist der stream of consciousness. Seine essenzielle Eigenschaft ist es, dass die psychi­ schen Ereignisse nicht desintegriert werden, sondern aufeinander einwirken, sei es als unmittelbare Verursachung oder mittelbar als bloßer Kontext. Diese Auffassung des Psychischen als eigenständiger Wirkungszusammenhang ist ebenfalls von Wundt befördert worden: Wundt postuliert […] eine psychische Kausalität, welche den eigenen Zusammenhang der Bewusstseinsinhalte herstellt. Die Stetigkeit des psychischen Geschehens ist Bedingung und zugleich Folge dieser psy­ chischen Kausalität. Die psychische und die physische Kausalität sind nicht im dualistisch-metaphysischen Sinne einander entgegengesetzt, sondern ein und dieselbe Kausalität ist es, die je nach dem Standpunkt der Betrachtung und nach der Art der denkenden Verarbeitung sich als psychische (geistige) oder als physische Kausalität darstellt. ›Auch in dieser Hinsicht [auf die Lebensvorgänge bezogen] sind aber psychische und physische Kausalität nicht Erkenntnisformen, die sich aufheben, sondern sich ergänzen, da sie beide lediglich verschiedenen, sich ergänzenden Standpunkten einem und demselben Erfahrungsinhalte gegenüber angehören‹ (Fahrenberg 2011, 88f.).

Hierin unterscheidet sich Wundt maßgeblich von Theodor Fechner als Protagonisten der Psychophysik. Für Fechner war »es fast ausschließ­ lich der Begriff der ›Schwelle‹“ (Wundt 1901, 83), der in Fragen der Psychologie als ›innere Psychophysik‹ eine hinreichende Antwort gestattete. Wundt versuchte stattdessen der Komplexität des Psychi­ schen beispielsweise durch eine ›psychologische Kategorienlehre‹ gerecht zu werden, zu der »die Aktualität (Prozesshaftigkeit), der

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3.2 Das statische Verständnis der Psychologie

Subjektbezug, die Wertbestimmung, die Zwecksetzung, die Willens­ tätigkeit, also der Mensch als wollendes und denkendes Subjekt« (Fahrenberg 2011, 92) gezählt wurden. Zwar mag der Anschein entstehen, dass die jüngere Forschung eher in der Tradition der Psychophysik stünde, doch auch in der sog. black box des Behaviorismus oder im Kognitivismus ist der psychische Wirkungszusammenhang konzeptuell erhalten. Erst eine radikale Dezentralisierung der Psyche, wie sie beispielsweise der in Tradition der Kybernetik stehende Konnektionismus vorschlägt, bricht mit diesem Strukturmerkmal der Psychologie. Es ist deswegen allerdings eher gerechtfertigt, den konnektionistischen Modellen der Kognition den Status abzusprechen, psychologisch zu sein, als das Strukturmerkmal des Wirkungszusammenhangs infrage zu stellen (s. Abschnitte 3.3 und 6.1).

Subjekt Dass Ereignisse in einem Wirkungszusammenhang stehen, ist keine ausreichende Charakterisierung für den Gegenstandsbereich einer einzelnen Wissenschaft. Es sollte jedoch dabei nicht pauschalisiert werden, dass diese beiden Kriterien vollkommen generisch seien. Sowohl zur Wissenschaft von Ereignissen als auch zu derjenigen von Wirkungszusammenhängen gibt es klare Alternativen. So the­ matisieren, wie erwähnt, die Kulturwissenschaften weniger Ereig­ nisse als vielmehr kommunikative Konstruktionen und die Literatur­ wissenschaften semiotische Zusammenhänge. Ferner untersuchen die Naturwissenschaften keine ganzheitlichen Wirkungszusammen­ hänge, sondern elementare Relationen. Auch der biologische Emer­ genzbegriff holt die Eigenständigkeit des Psychischen nicht ein. Das zeigt sich bereits am sog Qualia-Problem, also der Frage nach dem Ursprung und der Beschaffenheit sekundärer Qualitäten wie Farben in ihrer erlebten Selbstständigkeit. Dennoch lassen sich nicht-psycho­ logische Forschungsbereiche beschreiben, in denen Wirkungszusam­ menhänge von Ereignissen untersucht werden, beispielsweise die Soziologie (in ihrem nicht-konstruktivistischen Teil), in der soziale Ereignisse im Zusammenhang gesellschaftlicher Komplexität, also einem ganzheitlichen Wirkungszusammenhang, analysiert werden. Anders als die Soziologie erforscht die Psychologie jedoch Sub­ jekte. Damit ist nicht die Subjektivität im selben Sinne, wie sie als

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Problem der Phänomenologie thematisiert wird, gemeint. Subjekt ist vielmehr im etymologischen und wiederholt kulturkritisch bemän­ gelten Sinne der Untertanenschaft zu verstehen. Derivate dieses Subjektbegriffes sind ›Versuchsperson‹ oder ›Proband‹. Einen Unter­ schied gibt es unterdessen zu den Begriffen ›Person‹ oder ›Akteur‹ im rollen- oder handlungstheoretischen Sinne, denn das Subjekt wird in der Psychologie als tatsächlicher Wirkungsort des Ereigniszusam­ menhangs, nicht als konventioneller Träger aufgefasst. Erst die Berücksichtigung des Leib-Seele-Problems, insbeson­ dere hinsichtlich der Autonomie des einzelnen Subjektes als geschlos­ senem Wirkungszusammenhang, und der psychologischen Anthro­ pologie zur Explikation der »verborgene[n] anthropologische[n] Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie« (Holzkamp 1973) ermöglicht es, den abstrakten Subjektbegriff als konkreten Begriff des Menschen zu thematisieren. Dadurch ist die psychologische Experimentalforschung nicht unmittelbar eingeschränkt, denn ihr gelingt es auch ohne die Klärung ihrer Voraussetzungen zu operieren (ein im philosophischen Diskurs unterschätzter Umstand). Erst die Interpretation ihrer Ergebnisse hängt davon ab, zu bestimmen, wer tatsächlich untersucht worden ist, d.h. in wessen Wirkungszusam­ menhang Ereignisse geschehen sind. Dass die zeitgenössische Ausprägung der Psychologie angesichts dieser Bedingungen für die Validität ihrer Forschung keinen größeren Eifer zeigt, einen Fortschritt in den Fragen des Leib-Seele-Problems und der psychologischen Anthropologie zu erlangen, ist teils durch Resignation verschuldet, teils durch die empiristische Auffassung, dass sich diese Fragen erst im Lichte erweiterter empirischer Unter­ suchungen, also anderer Ereignisse, beantworten lassen. Letztlich ist die beständig aufflammende Bemühung um Erneuerung einer Psy­ chologie, die ihre verborgenen Voraussetzungen reflektiert, Ausdruck dieses Spannungsverhältnisses. Solange psychologische Forschung betrieben wird, werden Psychologen aus der Natur der Sache zu den fundamentalen Fragen nach dem Status des Subjektes zurückkehren. Diese Eigenschaft der Psychologie zeigt sich in einer wellenförmigen Bewegung unablässig wiederkehrender Zweifel, etwa über die Rolle der Geschichte oder Theorie in der Psychologie, die an das Ufer der Experimentalforschung anbranden. Maßgeblich ist, dass die Psychologie durch die Untersuchung ihres Subjekts charakterisiert ist. Zwar ist die endgültige anthropolo­ gische Kenntnis dieses Subjekts ebenso wenig wie die Bestimmung

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

der ψυχή möglich, doch die Gegenwart des unergründlichen Anderen ist die Legitimation des psychologischen Forschungsinteresses. De facto wird der Messung von Ereignissen nicht bereits Bedeutung dadurch verliehen, dass es einen Wirkungszusammenhang gibt, son­ dern durch seine zumindest potenziell in den Daten gegenwärtige Autonomie, die es bemerkenswert macht, eine Ordnung, ein Muster oder eine Gesetzmäßigkeit zu finden. In anderen Worten: Während die Durchherrschung der Natur von Gesetzen eine Selbstverständ­ lichkeit der Naturwissenschaften ist, so muss die Regelmäßigkeit in der Psychologie eine Überraschung sein, weil sie ihren Gegenstand, die ψυχή, nicht kennt, ihm aber begegnet.

3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses Es mag gerechtfertigt sein, zwischen der Phänomenologie als phi­ losophischer und der phänomenologischen Psychologie einen kate­ gorischen Unterschied zu behaupten, denn er trägt zur propädeu­ tischen Klärung der Ausgangslage bei. Weil die philosophische Phänomenologie eine der treibenden geistesgeschichtlichen Strö­ mungen der Moderne gewesen ist, besteht allerdings die Gefahr des Missverständnisses, den philosophischen Anspruch als statischen für das Hauptmerkmal der Phänomenologie zu halten und somit ihm die phänomenologische Psychologie nachzuordnen. Eine solche Ein­ schätzung bleibt allerdings abstrakt, insofern als sie die dynamische Entwicklung der Bewegung nicht berücksichtigt. Bei inhaltlicher Betrachtung ergeben sich drei maßgebliche Ein­ wände gegen eine Pauschalisierung der Phänomenologie als (bloß) philosophische. Erstens fällt die Entstehung der Bewegung in den Zeitraum der disziplinären Ablösung der Psychologie von der Philo­ sophie. Folglich übersieht der pauschalisierende Rückblick, dass psy­ chologische Forschung zu dieser Zeit gemeinhin eine Arbeit innerhalb der Philosophie gewesen ist. Die Ergebnisse der Experimentalpsycho­ logen waren eher als ein innovativer Beitrag zur philosophischen Psychologie zu betrachten. Deswegen war es in der akademischen Tradition keine Ausnahme, in dieser Gründungsphase der experimen­ tellen Psychologie über psychologische Themen zu sprechen, aber eigentlich einen philosophischen Diskurs zu betreiben. Im abstrakten Rückblick mag der Schein entstehen, dass es sich dabei um bloße Philosophie gehandelt hat.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Zweitens war in dieser Phase die Haltung der Phänomenolo­ ginnen und Phänomenologen durchaus ambitioniert. Ihnen ging es sowohl um eine Korrektur ungerechtfertigter Ansätze – wie etwa der empiristischen Assoziationspsychologie oder des Psychologismus – als auch um die Erwägung einer philosophischen Grundlegung der psychologischen Wissenschaft. Dementsprechend waren die Dis­ ziplinen nicht etwa nur noch miteinander verbunden, sondern der Ansatz einiger Mitglieder der phänomenologischen Bewegung sogar progressiv zugunsten einer Stärkung der Psychologie ausgerichtet. In diesem Sinne schreibt Max Scheler: »Hier erst zeigt sich die Not­ wendigkeit einer gleichzeitigen phänomenologischen Begründung sowohl der Psychologie als der Ethik in ihrem vollen Lichte« (SGW II, 207). Der wichtigste Punkt ist jedoch drittens, dass der Ursprung des philosophisch-phänomenologischen Denkens nicht von der Psycho­ logie getrennt werden kann. Die protophänomenologischen Arbei­ ten von Brentano, Stumpf (Gründer des psychologischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin) oder Lipps (Gründer des psychologischen Instituts an der Ludwig-Maximilians-Univer­ sität zu München) geben einer ursprünglichen Verwobenheit von Phänomenologie und Experimentalpsychologie Ausdruck. Die Phä­ nomenologie selbst ist in ihrer Bemühung um einen epistemologi­ schen Unterbau der Psychologie für diese eine eigenständige Wissen­ schaftstheorie (Gurwitsch) und daher unmittelbar ein Beitrag zur theoretischen Psychologie. Wichtiger noch als die Argumentation gegen die statische Inter­ pretation des Verhältnisses ist indes der Gegenbeweis seiner Dyna­ mik. Im Zentrum dieser Dynamik steht das wissenschaftstheoreti­ sche Programm (ungeachtet philosophischer Hauptanliegen, etwa die Bestimmung der Erfahrungsstruktur) der Phänomenologie, nämlich die Wissenschaften aus der Umklammerung des transzendentalen Idealismus (etwa in der Südwestdeutschen Schule des Neukantianis­ mus) zu befreien, ohne sie an den Empirismus preiszugeben. Phäno­ menologische Psychologie ist durch die epistemologische Suche nach einem dritten Weg jenseits von rationalistischer und empiristischer Psychologie ausgezeichnet. Das Fundament dieser Bemühungen ist die Reflexion auf die »originär gebende Anschauung« als »Rechts­ quelle der Erkenntnis« (Hua III, 44), also die Analyse der Erfahrung. So offenbart sich die Verschränkung der Merkmale, die in der statischen Darstellung von Phänomenologie und Psychologie zum

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

Vorschein getreten sind. Es ergeben sich, zunächst abstrakt betrachtet, verschiedene Problemfelder der phänomenologischen Psychologie: 1.

2.

3.

Die phänomenologische Bestimmung der Erfahrung korrespon­ diert mit der psychologischen Forschung am Ereignis. Die funda­ mentale Frage ist dabei: Ereignet sich das Erlebnis oder wird das Ereignis erlebt? Die phänomenologische Wesensanalytik interagiert mit der psychologischen Untersuchung des Wirkungszusammenhangs. Dabei ermöglicht die phänomenologische Strukturanalyse die Bestimmung der psychischen Ganzheit. Der phänomenologische Bedeutungsbegriff erlaubt die Analyse der Voraussetzungen für den psychologischen Subjektbegriff. Obwohl sich das psychische Subjekt einer empirischen ebenso wie begrifflichen Feststellung entzieht, gestattet ein phänomeno­ logischer Beitrag einen Fortschritt, weil er ›Sinnstiftung‹ und ›Sinnauffassung‹ als Kategorien der Bedeutsamkeit für das Ver­ ständnis des psychologischen Subjekts offeriert.

Diese drei Problemfelder der phänomenologischen Psychologie wur­ den im Laufe der jüngeren Geistesgeschichte in verschiedenen For­ men erschlossen. Grundsätzlich lässt sich dabei zwischen zwei Phasen unterscheiden: Zunächst die phänomenologische Psychologie in der Gründungszeit der phänomenologischen Bewegung, also in den letz­ ten Jahrzehnten des 19. und ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um Beiträge, die, obgleich inhaltlich bereits dynamisch, formal in der Diskurstradition der Philosophie stehen. Sie standen in einem fruchtbaren kooperativen, aber auch kritischen Austausch mit der frühen Experimentalpsychologie, beispielsweise der Denkpsychologie. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts entstand demgegenüber eine phänomenologische Psychologie im disziplinä­ ren Kontext der Psychologie, etwa unter Zuhilfenahme experimen­ teller Ergebnisse. An dieser Stelle sollen zunächst selektive Bezüge hergestellt werden, um die Problembereiche des dynamischen Ver­ hältnisses zwischen Phänomenologie und Psychologie zu illustrieren (eine historische Zusammenfassung der phänomenologischen Psy­ chologie erfolgt in Kapitel 5). Ferner sind die drei Problemfelder nicht exklusiv, denn einerseits bilden die statischen Merkmale von Phänomenologie und Psychologie keine erschöpfende Darstellung und andererseits ergeben sich notwendigerweise weitere Themen der phänomenologischen Psychologie, wie sich anhand der Frage nach der

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Bedeutung von Ereignissen oder der Erfahrung des psychologischen Subjekts nachvollziehen lässt. Die hier gewählten Problembereiche sind also paradigmatisch in einem weiten Feld möglicher Forschung der phänomenologischen Psychologie.

Erfahrung – Ereignis Ob sich die Eigenheit der Erfahrung, die in der Phänomenologie analysiert wird, auch empirisch feststellen lässt, ist eine der zentralen Fragen der Denkpsychologie gewesen. Der Gründer der Würzburger Schule, Oswald Külpe, schrieb in diesem Sinne: Schon vor der experimentellen Untersuchung des Denkens war beson­ ders von Twardowski, Husserl, Freytag nachdrücklich darauf hinge­ wiesen worden, daß der Inhalt des Denkens und sein Gegenstand voneinander verschieden sind, und daß es nicht auf sich selbst, sondern auf etwas Transzendentes, außerhalb seiner eigenen Sphäre Liegendes gerichtet ist (Külpe 1920, 320).

Am deutlichsten tritt die psychologische Agenda, den Zusammen­ hang von logischen und psychologischen Denkgesetzen zu überprü­ fen, und damit die Ereignishaftigkeit der Erfahrung, bei Karl Büh­ ler hervor: Wir werden auf Grund unserer methodisch ganz anders fundierten Untersuchung zu der Behauptung kommen, daß jene von Husserl nicht geprüfte Korrespondenz in der Tat besteht und daß sie uns zwingt, unsere Anschauungen von dem Charakter der psychischen Gesetzlich­ keit überhaupt von Grund aus zu revidieren (Bühler 1907, 299).

Bühlers Untersuchungen hatten zur Wesensbestimmung dreier fun­ damentaler Formen des Denkens, nämlich des Regelbewusstseins, des Beziehungsbewusstseins und der Intentionen, geführt, wobei für den letzten Fall die Bemühung um Nähe zur Phänomenologie unmittelbar ersichtlich ist: Zu den auffälligsten Denkerlebnissen gehören die Gedanken, die Husserl als rein signitive Akte bezeichnen würde. In ihnen tritt das Meinen selbst, nicht das, was gemeint wird, in den Vordergrund; es ist so, als ob dieses Was selbstverständlich oder irgendwie schon festgesetzt wäre und der Gedanke nur darin bestände, daß er eine Beziehung auf dieses schon Gegebene enthielte. Wir wollen diese Gedanken daher Intentionen nennen. Zweierlei ist es, was an ihnen den

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

Vp. sofort in die Augen springt und ihre Verwunderung hervorruft: der außerordentliche Umfang, den in ihnen das Bewußtsein zu gewinnen scheint und die fast absolute Substratlosigkeit des in ihnen liegenden aktuellen Wissens (ebd., 346f.).

Es steht außer Frage, dass Bühlers Behauptung, dass sich ›signitive Akte‹ als empirische Ereignisse in den Selbstbeobachtungen seiner Versuchspersonen zu erkennen geben würden, nicht kritiklos akzep­ tiert werden kann. Sie ist gewissermaßen zu optimistisch auf eine phä­ nomenologische Psychologie eingestellt – sie unterschätzt die episte­ mische Herausforderung. Als einer ihrer strengsten Prüfer ist Husserl selbst aufzufassen, wie sich beispielsweise in seinem Briefwechsel mit August Messer, der ebenfalls zu den Denkpsychologen gezählt wer­ den kann, zeigt (vgl. Staiti & Clarke 2018). Husserl äußerte deutliche Zweifel daran, dass die psychologischen Untersuchungen der Würz­ burger im eigentlichen Sinne als Phänomenologie bezeichnet werden können, doch hierin zeigte sich in erster Linie seine streitbare Tendenz zur Transzendentalphilosophie. Andere Mitglieder der phänomeno­ logischen Bewegung, insbesondere im Münchner Kreis, vertraten eine offenere Einstellung zu den empirischen Potenzialen der Phäno­ menologie. Tatsächlich sind beide Haltungen, Skepsis und Zuversicht, gegenüber dem denkpsychologischen Ansatz ein deutliches Indiz für die Relevanz der Frage. Dass es verhandelt wurde, die empirischen Ansätze Messers oder Bühlers als phänomenologische zu verstehen, bezeugt bereits die Dynamik der phänomenologischen Psychologie. Ein hinsichtlich der Forschungsrichtung umgekehrtes Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ereignis und Erfahrung in der phänomenologischen Psychologie ist Maurice Mer­ leau-Pontys Phénoménologie de la perception, deren Einleitungskapi­ tel als epistemologische Kritik der Psychologie formuliert ist. Mer­ leau-Ponty weist statische Konzeptionen von Empfindung, etwa als unmittelbare Folge des Reizes, mit phänomenologischen Argumenten zurück. Damit vermag er aufzuzeigen, dass Konzeptionen der Erfah­ rung als Ereignis die eigentliche Erfahrung zu verkennen drohen, wenn sie beliebig sind. Die Phänomenologie wird somit als Grundlage für die Entwicklung von Gütekriterien für Bestimmungen von Erfah­ rung als Ereignis etabliert. Dass diese Kritik keine langfristige Wirkung auf die Experi­ mentalpsychologie ausüben konnte, ist einerseits den historischen Umständen, d.h. der Unverfügbarkeit für den in der Psycholo­ gie dominanten englischsprachigen Diskurs zur Zeit der Veröf­

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

fentlichung, sowie andererseits dem Mangel an experimentell anschlussfähigen Gegenentwürfen geschuldet. Insbesondere der zweite Gesichtspunkt, der Mangel an konstruktiven Vorschlägen für die Experimentalpsychologie, ist ein Anliegen für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. Ihre philosophische Tiefe erhält die Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung und Ereignis dann, wenn Ereignisse nicht als Tatsa­ chen im Sinne eines empirischen Naturvorganges betrachtet werden (im Sinne von Abschnitt 1.3), sondern als diese ›bloße‹ Ontologie überschreitende fundamentalontologische Kategorie: »Das Ereignis ist nicht bloß das, was sich ereignet, es ist das, dessen Sich-Ereignen das Heraus-Treten aus der Ontologie in ihrer Naivität der Gegen­ standssetzung ist« (Pirktina 2019, 26). Es handelt sich gleichsam um eine kritische Invertierung des Immanentismus: Während am Anfang der Phänomenologie die kantianische Einsicht steht, dass die phänomenale Welt auf ihre Gegebenheit zurückverwiesen ist und daher Ereignisse im Sinne von Naturvorgängen nicht ohne Rücksichtnahme auf die Struktur der Erfahrung verstanden werden können, verweist in der modernen Ereignisphilosophie die Erfahrung auf eine Vorgegebenheit des Ereignisses zurück. Gemeint ist damit etwa die Primordialität der Leiblichkeit, die den Widerstand der Welt der Erfahrung voraussetzt, ohne dass diese jemals zu reflexiver Gegebenheit kommen kann, also präreflexiv und verborgen bleibt. Folglich wird das Verständnis der Verborgenheit zur anthropologi­ schen Voraussetzung psychologischer Forschung (Wendler 2021). Das Verhältnis zwischen Erfahrung und Ereignis im psycholo­ gischen Diskurs zu thematisieren, bedeutet keine einseitige Zuwen­ dung zur Subjektivität als ein antireduktionistischer Reflex. Diese Form eines zur Geisteswissenschaft drängenden Läuterungsversu­ ches der Experimentalforschung hat sich im 20. Jahrhundert als wenig fruchtbar erwiesen. Vielmehr bietet die Entwicklung einer kritischen phänomenologischen Psychologie die Möglichkeit, die fun­ damentalen Probleme der psychologischen Erkenntnislehre – etwa die Gegenstandsfrage oder das Leib-Seele-Problem – aus bisher nicht für die Experimentalpsychologie erschlossenen Perspektiven zu konfrontieren. Diese Potenziale finden im ersten Programmpunkt für die Erneuerung, der den Gedanken der ›Radikalisierung‹ fasst, eine konkrete Entwicklungsrichtung (Abschnitt 7.1 und Kapitel 8). Die dabei entstehende Form der psychologischen Forschung, die eine kritische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Erfahrung und

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

Ereignis berücksichtigt, ist die ›Realpsychologie‹ (Abschnitt 7.3 und Kapitel 10).

Wesen – Wirkungszusammenhang Zur methodischen Stabilisierung der Wesensintuition wurden in der phänomenologischen Bewegung verschiedentlich Ansätze vorge­ tragen. Am bekanntesten sind dabei Husserls Begriffe ›eidetische Variation‹, ›Reduktion‹ und ›epoché‹, aber auch ›Intentional-‘ und ›Konstitutionsanalyse‹, die in jeweils eigener Form dazu dienen, die phänomenologische Forschung zu strukturieren. Im Zentrum der Methodik steht die ›Aussetzung des Daseinsurteils‹. Damit ist beispielsweise gemeint, dass sich jemand einen Apfel, der existieren mag, oder den Gott Jupiter, der freilich nicht existiert, vorstellen kann, in der deskriptiven Analyse des jeweiligen Vorstellens jedoch kein Unterschied gegeben ist: Die Inexistenz Jupiters hindert nicht, daß jenes den-Gott-Jupiter-Vorstellen real ist, ein so geartetes Erlebnis, eine so bestimmte Weise des Zumuteseins, daß, wer es in sich erfährt, mit Recht sagen kann, er stelle sich jenen mythischen Götterkönig vor, von dem dies und jenes gefabelt werde (Hua XIX, 387).

Dieser die Phänomenologie als strenge Wissenschaft begründende Ansatz wird gemeinhin metaphorisch mit einer Ausklammerung umschrieben: um die Konstitution der Erfahrung als Bewusstseins­ strom zu begreifen, ist es erforderlich, die Sachen, die erfahren wer­ den, unabhängig davon zu thematisieren, ob sie real sind – relevant ist abschließend vor allem die Intentionalität der Erfahrung, also, dass etwas als etwas intendiert bzw. vermeint wird. Bei Scheler wird dieser die Phänomenologie einleitende Schritt sogar so weit radikalisiert, dass sich die Phänomenologin oder der Phänomenologe der Daseins­ setzung (nicht nur des Daseinsurteils) enthält. Bernhard Waldenfels spricht zur Beschreibung der Intentionalität von der »Als-Struktur« (Waldenfels 2015, 242). Wandelt sich die Bedeutung eines Bildes in einer neuropsychologischen Zeitschrift im Laufe des psychologischen Studiums von einem eingefärbten Oval zur Abbildung des Blutsauer­ stoffgehalts im Gehirn, so hat sich nicht das Bild gewandelt. Vielmehr gab es eine Veränderung in dem, als was das Bild vermeint wurde, eine Veränderung in der Als-Struktur.

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

Ein zwischen Wesensschau und Beobachtung fluoreszierende Ansatz ist in methodologischer Hinsicht für die phänomenologische Psychologie charakteristisch. Gleichermaßen wird die Fixierung der Phänomenologie auf reflexive Intuition sowie der Psychologie auf empiristische Datenanalyse zurückgewiesen. Entweder verläuft die Richtung der phänomenologischen Psychologie von der Reflexion (resp. der Wesensschau) zur Empirie oder sie sucht in den empirischen Wirkungszusammenhängen nach Wesenheiten. Es handelt sich um einen Wandel zwischen Welten des Wissens, der den Wissenschaften fremd ist, weil mit Nachdruck keine Priorität eingestanden wird: Weder handelt es sich um eine Übung in theoretischer Meditation, deren Geltung allein von den Gesetzen der Logik abhinge, noch um den nackten Blick ins wilde Treiben der Welt, dem die Theorien nur lose aufsitzen und mit jeder unerwarteten Erfahrung abspringen. Vielmehr bemisst sich der Wert der Arbeit an ihrer Tauglichkeit für die Befruchtung der empirischen Forschung, ohne dabei jedoch die Gren­ zen zu verwischen; denn mag jener Wert, der sich erst am Resultat ergibt, von der Bewährung in der Empirie abhängen, die Reflexion in ihrem Verlaufe bewährt sich allein im Lichte der Vernunft. Praktisch lässt sich dieses Vorgehen der phänomenologischen Psychologie beispielsweise am Forschungsprogramm der phänomenologischen Psychologie Amadeo Giorgis nachvollziehen (s.u. Abschnitt 5.2). Ebenso wie die Vorgehensweise der Denkpsychologie ist es für die Untersuchung von Wirkungszusammenhängen als wesentlichen Strukturen mithilfe von Methoden wie Giorgis ›Angepasstem husser­ lianischen Ansatz‹ strittig, ob diese Methoden sachgerecht sind. Diese Kritik ist allerdings innerhalb des phänomenologischen Diskurses selbst möglich und wird beständig durchgeführt. Jüngst hat Zahavi (2019) in explizitem Widerspruch zu Giorgi dafür argumentiert, dass angewandte phänomenologische Forschung auch ohne den Voll­ zug von Reduktion und epoché möglich ist. Darin zeigt sich, dass die Phänomenologie nicht nur dazu in der Lage ist, methodische Angebote für die Psychologie bereitzustellen, sondern ebenfalls ihre methodologische Besprechung durchzuführen. Somit erweist sich die phänomenologische Psychologie als vollgültiges wissenschaftstheo­ retisches Fundament psychologischer Forschung. Die Diskussion des psychischen Wirkungszusammenhangs ver­ mittels phänomenologischer Psychologie lässt sich anhand der Denk­ psychologie von Otto Selz illustrieren. Sein Aufsatz mit dem Titel Die Aufbauprinzipien der phänomenalen Welt von 1941 ist zugleich eine

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

Kritik der Assoziations- und Gestaltpsychologie sowie ein genetischpsychologischer Beitrag zur Erklärung von Ganzheits- und Gestalt­ qualitäten in Wahrnehmungserlebnissen. Das Hauptargument der Kritik besteht darin, anzuzeigen, dass »dynamische Gestaltgesetze nicht den Aufbau der phänomenalen Ganzen selbst, sondern bes­ tenfalls den Aufbau des physiologischen Geschehens im Wahrneh­ mungsfeld, das ihrer Entstehung zugrundeliegt, [erklären]« (Selz 1941, 10). Zwar gelingt es Selz nur teilweise, eine Position im Sinne der phänomenologischen Bewegung zu etablieren, doch seine Diskussion der Themen »phänomenale Einheit, phänomenale Größe, phänome­ nale Ordnung, phänomenaler Zusammenhang und phänomenale Gliederung« (ebd.) bezeugt den Versuch, eine positive Bestimmung des psychischen Wirkungszusammenhangs mithilfe von Reflexionen über Phänomenalität zu gewinnen. Hier wie an anderen Stellen in seinem Œuvre manifestiert sich die Bemühung um eine strukturelle Klärung des Psychischen, die wiederholt den methodischen Essen­ zialismus der Phänomenologie tangiert, wenn die etablierten Erklä­ rungsmuster, insbesondere die Assoziationspsychologie, zurückge­ wiesen werden. Angesichts von Beispielen dieser Art erweist sich, dass die psy­ chologische Forschung bei der Auseinandersetzung mit grundlegen­ den Fragen über den Wirkungszusammenhang des Psychischen die phänomenologische Perspektive aus eigener Kraft zu entwickeln ten­ diert. Die wesentliche Struktur der Erfahrung ist gleichsam der natür­ liche Gegenstand der Untersuchung der Integration einzelner psychi­ scher Ereignisse. Phänomenologische Psychologie als systematische Unternehmung sollte an diesem Punkt des psychologischen Denkens die Führung übernehmen, um Verwirrungen und Fehlschlüsse zu ver­ meiden.

Bedeutung – Subjekt Die Frage nach dem Subjekt der psychologischen Forschung, nach dem Probanden, ist ebenso weitreichend wie facettenreich. Sie ist beispielsweise mit Institution des Labors als Standard der psycholo­ gischen Untersuchung, aber auch mit Kommunikation als Medium zwischen Psychologie und Versuchsperson verbunden. Hinter forma­ len Gesichtspunkten dieser Art treten jedoch die Grundprobleme

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

der Psychologie zu Tage: etwa die Frage der Fremdwahrnehmung und des Ausdrucks – wie ist es möglich, dass sich ein Subjekt ausdrückt und sein Ausdruck verstanden wird? – oder die Frage nach Handlungs- und Willensfreiheit. In letzter Instanz konvergieren diese fundamentalen Bestimmungen des psychologischen Subjekts in der Anthropologie. Sie sind allerdings nicht für die empirische Forschung maßgeblich. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die Kenntnis über die ungeklärte epistemologische Ausgangslage der psychologi­ schen Forschung im wissenschaftlichen Diskurs randständig bleibt. Der phänomenologische Ansatz ist in diesem Zusammenhang ein anderer. Nicht geht es um eine endgültige Beantwortung metaphysischer und epistemologischer Aporien, sondern darum, zu begreifen, welche Implikationen die Forschung hat, wenn sie eine ›wissenschaftliche Einstellung‹ annimmt, also empirische Unter­ suchung unter Ausblendung anthropologischer Präsuppositionen durchführt. Damit ist gesagt, dass es ausgeschlossen ist, keine Stel­ lung zu beziehen. Die Zurückhaltung gegenüber der Bestimmung des psychologischen Subjekts verschiebt die ›wissenschaftliche Ein­ stellung‹ nur ins Implizite, z.B. in den ›gesunden Menschenverstand‹, den sensus communis. Daraus folgt für die phänomenologische Psychologie jedoch keine bloße Abgrenzung gegenüber der in dieser Einstellung durch­ geführten Forschung, etwa im Sinne der kritischen Psychologie. Stattdessen legt die Phänomenologie die Bedeutung der ›wissen­ schaftlichen Einstellung‹ frei, also beispielsweise die lebensweltlichen Strukturen, die es gestatten, eine Versuchsperson zu rekrutieren. Es geht darum, die Bedeutung der Forschung zu verstehen. Damit sind nicht, bzw. nicht vorrangig, die sozialen Strukturen gemeint, sondern elementare Aspekte der Erfahrung wie Intersubjektivität, Alterität, Sozialität, Historizität. In anderen Worten: Dass ein Mit­ mensch als das Subjekt einer psychologischen Untersuchung gelten kann, setzt voraus, ihm mitweltlich als Anderem zu begegnen, seine Personalität zu affirmieren und eine gemeinsame Situation zu eta­ blieren. Diese Erfahrungen müssen als Sinnstiftungen verstanden werden, die normativ ein Feld für relevantes Verhalten etablieren. Auch wenn das Labor als Forschungsinstitution darauf ausgelegt ist, von diesen Umständen qua Standardisierung abzusehen, kann nicht geleugnet werden, dass die beobachtete Verhaltensvarianz stets unter den Voraussetzungen steht, die es ursprünglich gestatten, Verhalten zu identifizieren.

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3.3 Perspektiven eines dynamischen Verhältnisses

Die sog. Philosophische Anthropologie, die auf Grundlage phä­ nomenologischer Gedanken in den 1920er Jahren entstanden ist (siehe bspw. Fischer 2008), dient mit Blick auf die Frage nach dem psychologischen Subjekt nicht zur endgültigen Bestimmung des Pro­ banden im Experiment, etwa zur Klärung des Freiheits- und LeibSeele-Problems, sondern dazu, das Thema des Subjekts schlichtweg diskursfähig zu machen. Um die angemessene psychologische Inter­ pretation einer neurophysiologischen Studie zu ermöglichen, kann es nicht ausreichen, die Situation der Versuchsperson im Labor als regu­ läre Variation der Alltäglichkeit zu betrachten. Selbst wenn die Studie der Untersuchung von subpersonalen Prozessen, z.B. Hirnaktivität, dient, kann nur gerechtfertigt davon gesprochen werden, dass es sich um eine psychologisch relevante Situation handelt, wenn eine Zuge­ hörigkeit dieser Prozesse zum psychologischen Subjekt angenommen wird. Naheliegenderweise besteht diese Annahme zumeist implizit darin, dass die subpersonalen Prozesse Elemente des psychischen Wirkungszusammenhangs seien, also als Ereignisse innerhalb dieses Zusammenhangs aufgefasst werden können. Inwiefern aber jeweils spezifische subpersonale Ereignisse, etwa die Hirnaktivität, oder auch personale Prozesse, wie die Erinnerung, zur Versuchsperson gehören, andere Ereignisse, etwa die Aktivität der Darmflora oder die Farbe ihrer Kleidung, allerdings nicht, ist nicht Bestandteil des Ereignisses selbst, aber auch keine bloße Konvention, sondern Ausdruck der Bedeutsamkeit in der jeweiligen Experimentalsituation. Wenn die phänomenologische Psychologie die Bedeutsamkeit als Textur der psychologischen Situation aufzeigt, wird es möglich, die empirische Forschung in dieser Hinsicht zu diskutieren, also die eindimensionale Auffassung, dass die Standardisierung von Experi­ mentalsituationen einen objektiven Vergleich zwischen Verhaltens­ weisen ermögliche, infrage zu stellen. Welche Konsequenzen hieraus für die Forschung gezogen werden können, ist an anderer Stelle diskutiert worden (Wendt 2018). Hier ist allein maßgeblich, dass die Skepsis gegenüber der Bestimmung des Subjekts in der psychologi­ schen Forschung die Geltung von impliziten Annahmen über dieses Subjekt nicht aufheben kann. Die phänomenologische Psychologie expliziert diese Annahmen als Bedeutsamkeit, die das Subjekt erst als Subjekt zu konstituieren gestattet. Auf diesem Wege wird es einerseits möglich, die empirische Forschung anhand der Diskussion ihrer Bedeutsamkeit zu gestalten, und andererseits die Fissur zwischen der empirischen Forschung und den anthropologischen Fundamen­

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3. Das systematische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie

talfragen zu bewältigen, ohne einen Absolutheitsanspruch stellen zu müssen. Ein Beispiel für phänomenologische Psychologie, die das Subjekt in seiner Bedeutsamkeit erschließt, ist die Forschung Carl Friedrich Graumanns zu den Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität (1960). Seine Untersuchung ist ein idealtypischer Fall der phänomenologischen Psychologie als dynamischer Integra­ tion von Empirie und Reflexion. Ihr Gegenstand ist die Perspektivität als Grundstruktur der Erfahrung und deren Struktur sowie Erschei­ nungsweise in diversen Gebieten der Geistesgeschichte und psycho­ logischen Beobachtung. Dabei erkennt Graumann, dass der einzelne Blick nicht ohne seinen Bezug auf die Ganzheit der Perspektive möglich ist: Alles, was wir anblicken, begrenzt unseren Blick, verweist aber zugleich als Anblick (Aspekt) auf das Übergreifende, dessen Anblick es ist, und das als Ganzes originärer Anschauung nicht gegeben ist. Hori­ zontale Verweisungs-Ganze umgreifen also Anschauliches und Unan­ schauliches, Jetziges und Früheres bzw. Späteres, originär Gegebenes und Mitgehabtes. Der Einzelanblick, auf den angewiesen wir gerichtet sind, erweist sich als prinzipiell ungenügend, er verweist auf weiteres zu Erblickendes, ist Motiv der sich im kontinuierlichen ›Durchgehen‹ erfüllenden Wahrnehmung. Diese motivationale Gerichtetheit ,durch‘ Aspekte auf das Ganze ist die Dynamik unseres Gewahrens schlechthin (Graumann 1960, 178f.).

Dass das Ganze nicht im Blick enthalten ist, dass auch in der Sicht das Auge selbst nie gesehen werden kann, ist eine Reminiszenz an die Unergründbarkeit des psychologischen Subjekts, deren Berücksichti­ gung erst den adäquaten Rahmen für die Interpretation empirischer Ergebnisse stiftet. Den dritten Weg der Bewusstseinspsychologie zu beschreiten, bedeutet eine kritische Haltung zu artikulieren: Sowohl Immanentisten, die meinen, dass nur Erlebtes (insbesondere die Introspektion) wirklich psychisch sei, als auch Externalisten, die anhand biologischer Strukturen (insbesondere des Nervensystems) die Konstitution der Erfahrung zu erklären trachten, müssen an dieser Einsicht in die Perspektivität relativiert werden. So zeigt sich, wie phänomenologische Psychologie als Korrektiv der psychologischen Empirie dient.

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Mit der Dynamisierung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Psychologie ist eine Stoßrichtung gewonnen worden, in der der dritte Weg der phänomenologischen Bewusstseinspsychologie gebahnt werden kann. Die Grundbeziehung zwischen Phänomeno­ logie und Psychologie ist nicht diejenige einer klaren Abgrenzung, sondern einer dynamischen Reziprozität: »So übernimmt die Psycho­ logie, mitunter sogar für denselben Autor, unterschiedliche Rollen im Rahmen der phänomenologischen Selbstverständigung; mal ist sie Gegner, mal Helfer auf dem Weg in die Phänomenologie. Gele­ gentlich erscheint sie sogar – wie beim späten Husserl – als eine Art Protophänomenologie« (Mertens 2011, 231). Die entscheidende Frage ist nun, mit welchen Schwierigkeiten das Projekt konfrontiert ist, was also – um im Bild zu bleiben – der phänomenologischen Psychologie im Wege steht. Diese Frage ist einesteils systematisch, muss also thematisieren, welche strukturellen Hindernisse das Ver­ hältnis auszeichnet, andernteils historisch, denn auch dann, wenn es Hindernisse geben mag, erweist erst die Geschichte, wie hoch die Anforderung ist, sie zu überwinden. Dieses Kapitel sowie das anschließende als Abschlusskapitel des ersten Teils, der sich mit den Voraussetzungen und Grundlagen für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie auseinandersetzt, dienen der Klärung dieser verbliebenen Frage nach den Schwierig­ keiten, gewissermaßen also der Frage, warum es bisher noch nicht gelungen ist, die phänomenologische Psychologie so zu etablieren, dass sie die Experimentalpsychologie grundsätzlich prägt. In diesem Kapitel wird der Blick auf denjenigen Teil der phänomenologischen Psychologie i.w.S. gewendet, der als psychologische Phänomenologie den Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychologie betrifft. Dabei gilt es zu erläutern, weswegen sich eine phänomenologische Seite der Experimentalpsychologie nicht natürlicherweise aus dem philosophischen Diskurs der Phänomenologie ergibt.

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Psychologische Phänomenologie ist, wie zuvor dargestellt, derje­ nige Teil der phänomenologischen Bewegung, der – im Unterschied zur psychologischen Methodologie der phänomenologischen Psycho­ logie – mit dem Blick der philosophischen Phänomenologie auf das Psychische blickt, also das Verhältnis zwischen Erscheinung und Seelenleben extradisziplinär, d.h. nicht psychologisch, sondern philosophisch untersucht. Dabei können streng genommen so viele Formen psychologischer Phänomenologie unterschieden werden, wie es Phänomenologinnen und Phänomenologen gegeben hat, gibt und geben wird, deren Denken auf das Psychische gerichtet ist. Um den Überblick zu behalten, ist eine allgemeine Gliederung in die zuvor erwähnten vier Grundströmungen der phänomenologischen Bewe­ gung ratsam. Dabei bilden Transzendental- und Gegenstandsphäno­ menologie als »Antithese Freiburg-München« (Avé-Lallemant 1975) den Kern der innerphänomenologischen Kontroverse. Sie war bereits vor Erscheinen der Logischen Untersuchungen angelegt, da Veröffent­ lichungen wie Alexander Pfänders Phänomenologie des Wollens sowie Max Schelers Die transzendentale und die psychologische Methode (SGW I) wie jene auf das Jahr 1900 datierten, phänomenologische Ansätze darstellen und nicht in jeder Hinsicht mit Husserls For­ schung vereinbar sind. Damit soll nicht behauptet werden, dass diese beiden Werke auf einer methodologischen Linie lägen48 oder die phänomenologische Bewegung in gleicher Weise wie Husserls Arbeit ermöglicht haben, doch, um die Position der Gegenstandsphänome­ nologie zu verstehen, ist es entscheidend, zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Wurzeln auch jenseits von Husserl liegen. Der Name der ›Gegenstandsphänomenologie‹ deutet dabei bereits die Konfliktlinie an, denn während die Transzendentalphänomenologie eine Analyse der Konstitutionsbedingungen für Subjektivität thematisierte, findet jene den Zweck ihrer Forschung durch die Interpretation des phäno­ menologischen Wahlspruchs »zu den Sachen selbst« als »Wendung Im Gegenteil nimmt das Denken Schelers innerhalb der phänomenologischen Bewegung eher eine Sonderstellung ein, widerstrebt also – ähnlich wie Merleau-Ponty – der Klassifizierung. Die größte Nähe – wenngleich nicht ohne Dissens – lässt sich indessen gegenüber der Gegenstandsphänomenologie feststellen. Ein Hinweis auf die Wertfrage als ein Beispiel für den Unterschied zwischen Pfänder und Scheler findet sich bei Geiger: »Sich von solchen Wertvorgriffen freizuhalten, gerade das war Pfänders erstes Bestreben; und überall, wo er – wie etwa in Schelers Schriften aus seiner katholischen Zeit – innerhalb der phänomenologischen Richtung das Ideal der Reinheit der Deskription durch Wertvorgriffe gefährdet sah, da hat er sich äußerst dagegen gewehrt, hier noch von Phänomenologie zu reden« (Geiger 1930, 6). 48

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

zum Objekt« (Geiger 1930, 13). Der Unterschied wird in einer Zusammenfassung Geigers mit Deutlichkeit herausgestellt. Er spricht von einer »Zweideutigkeit […] im Gedanken des Ausgangs von der Gegebenheit« (ebd., 14): Dieser Gedanke ließ sich für zwei verschiedene Interessenrichtungen verwerten. Die eine Richtung untersucht in erster Linie die Gegen­ stände, die selbstgegeben sind; phänomenologische Methode ist von hier aus gesehen eine Methode – vor aller Realwissenschaft –, die intentionalen Gegenstände in ihrer höchsten Ichzugänglichkeit in unmittelbarer Anschauung zu erfassen –, und zwar in ihren Wesens­ momenten und Wesensgesetzlichkeiten, nicht in ihren zufälligen Ein­ zelheiten (ebd.).

In Abgrenzung von dieser Pfänder zugeordneten gegenstandsphäno­ menologischen Position spricht Geiger von Husserls transzendenta­ lem Ansatz: Er unterschied sich hierin wesentlich von Husserl, der schon in den ›Logischen Untersuchungen‹ nicht so sehr die Analyse des Gegebenen, sondern die Art des Gegebenseins des Gegebenen ins Auge gefaßt hatte. Im Interesse der reinen Logik wie der Erkenntnistheorie sollte die phänomenologische Analyse der Akte betrieben werden, in denen die logischen Fundamentalbegriffe ihre Erfüllung finden (ebd., 14f.).

Hermeneutische und Existenzielle Phänomenologie sind Ergänzun­ gen späteren Datums, deren Verselbstständigung nichtsdestoweniger in ähnlicher Weise bedeutsam gewesen ist. Die Abwendung der Fundamentalontologie Heideggers von Husserls Bewusstseinsphilo­ sophie mit dem Vorwurf des subjektiven Idealismus ebenso wie von Scheler mit dem Zweifel an Anthropologie und Personalismus mar­ kiert eine Ruptur in der phänomenologischen Bewegung und kann gar als Versuch der vollständigen Ablösung von der Phänomenologie interpretiert werden. Diese Sezessionsbemühungen bieten den Nähr­ boden für hermeneutische wie existenzielle Forschung. Hermeneutik rückt in mancher Darstellung näher an die existenzielle Phänomeno­ logie heran (bspw. von Eckartsberg 1998), in anderen jedoch von ihr ab (bspw. Tuckett 2018). Mit Unschärfe lässt sich sagen, dass herme­ neutische Phänomenologie ein spezifischerer Begriff ist und zu einem gewissen Grad als Bestandteil der existenziellen Phänomenologie, dem weiteren Begriff, aufzufassen ist. Präziser ist es, zu betonen, dass es jeweils einander ausschließende Teile gibt. Die phänomeno­ logische Existenzphilosophie hat eine beträchtliche Prägung durch

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

die französische Renaissance des Existenzialismus erfahren, etwa in den Werken de Beauvoirs oder Sartres. Dabei kommen Anleihen aus der Dialektik zum Tragen, die der Phänomenologie ansonsten fremd geblieben sind. Die Hermeneutik hat ihre Bedeutung in der phänomenologischen Bewegung hingegen durch die Fortsetzung von Ideen des 19. Jahrhunderts, vor allem Schleiermachers und Diltheys, gewonnen. Ihr später Protagonist ab der Mitte des 20. Jahrhunderts war Gadamer. In letzter Instanz haben diese Kategorien nur weiche Grenzen und dienen der Orientierung. Die exklusive Klassifikation einzelner Autorinnen und Autoren – ein gutes Beispiel ist Merleau-Ponty – ist unsinnig. Dessen phänomenologisches Denken nimmt auf Tran­ szendental- und Gegenstandsphänomenologie Bezug und enthält ein lebhaftes Verhältnis zur existenziellen Phänomenologie. Für uns ist die Frage entscheidend, auf welche Weise in der phänomenologischen Bewegung philosophisch über das Psychische nachgedacht worden ist und welche Probleme für die Vermittlung mit der empirischen Arbeit sich daraus ergeben haben. Dabei geht es nicht um historiographische Vollständigkeit. Entsprechende Erläuterungen lassen sich bei Spiegel­ berg (1960; 1972) finden. Stattdessen soll in den Blick genommen werden, was die maßgeblichen Probleme in der psychologischen Phänomenologie gewesen sind.

4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie Die für die Beziehung zur Psychologie bekannteste (aber nicht not­ wendiger Weise wichtigste) Position ist die transzendentalphänome­ nologische49. Sie entwickelte sich auf den Schultern Husserls im Aus­ gang von, aber auch in Abgrenzung zu den Logischen Untersuchungen kontinuierlich zu der Position, die sich in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (Hua III), finden lässt. In ihnen bestimmt der Verfasser die Psychologie als eine Wissenschaft von Tatsachen und Realitäten, also realen Vorkommnis­ sen. Er bedient sich folglich einer statischen Charakterisierung der Psychologie, um die Phänomenologie als Wesenswissenschaft von ihr abzugrenzen. Wie bereits an anderer Stelle argumentiert (vgl. Ein alternativer und weiterer Begriff ist der, der ›Aktphänomenologie‹, der die Kontinuität zu den Logischen Untersuchungen in Husserls Werk betont.

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

Wendt 2021a, 160), sollte diese Abgrenzung jedoch nicht so missver­ standen werden, dass Husserl die Bedeutung der psychologischen Forschung für die Phänomenologie leugnete. Im Gegenteil spricht jede präzise Interpretation seines Werks (hervorzuheben sei Drüe 1963) dafür, dass Husserl die strikte Trennung zwischen Tatsachenund Wesenswissenschaft vollzogen hat, um die Eigenständigkeit der Phänomenologie in ihrer Gründungsphase zu etablieren und sie gegenüber der ihrerseits noch philosophisch verfassten Psycholo­ gie abzugrenzen. Es handelt sich bei Husserls Bemühung um eine unzweideutige Trennung, daher um den Ausdruck einer Phase der Positionsbestimmung. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten wird auch Husserls Polemik gegen die »erfahrungsstolze Psycholo­ gie« (Hua III, 49) verständlich. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass sich Husserl im selben Atemzug, in dem er sein Denken von der Experimentalpsycho­ logie abzugrenzen suchte, die Phänomenologie für ihre Fundierung anbot. So kommentiert er einige Ausführungen des Denkpsychologen Henry Watt, indem er feststellt, »wie fremd der modernen Psycho­ logie die immanente Wesensanalyse noch ist, obschon sie doch die einzig mögliche Methode für die Fixierung der Begriffe bildet, welche in aller immanenten psychologischen Deskription als bestimmende zu fungieren haben« (ebd., 192f.). Diese Behauptung der grundle­ genden Bedeutung der Phänomenologie für die Psychologie ist mit Husserls Konzeption des Verhältnisses zwischen Tatsachen- und Wesenswissenschaft kongruent. Nach seiner Auffassung verhalte sich die Phänomenologie zur Psychologie wie die Geometrie zur Physik. Diese »Parallelisierung der reinen Phänomenologie mit der reinen Geometrie« (Hua XXV, 114) ist ein mächtiges Bild für das Selbstver­ ständnis der Transzendentalphänomenologie. Es ist unmittelbar mit der Überzeugung verbunden, dass »sich die rein-phänomenologische Psychologie erst in ihrer Aufhebung in die transzendentale Phänome­ nologie vollendenden kann« (Landgrebe 1968, 160). Diese Idee ist das Resultat der Weiterentwicklung des husserlschen Frühwerks zur Transzendentalphänomenologie und bestimmt bis in die Gegenwart die Haltung dieses Lagers in der Phänomenologie, wie sich etwa am Ansatz Javier San Martins nachvollziehen lassen kann (bspw. San Martin 2002; 2020). Das Bild der Parallelisierung ist auch in Husserls Vorlesungen über phänomenologische Psychologie an der Universität Freiburg aus dem Sommersemester 1925 präsent. Bemerkenswerterweise bezeich­

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

net er die Phänomenologie im Zusammenhang dieser Vorlesungen auch als ›apriorische Psychologie‹, die sich nach dem Muster der besagten Parallelstellung zur ›deskriptiven Psychologie‹ so verhalte wie die »reine Geometrie und konkreter [die] apriorische Naturwis­ senschaft« (Hua IX, 43) zur empirischen. Die phänomenologische Psychologie nimmt in Husserls Konzeption eine Mittlerstellung in der asymmetrischen Beziehung zwischen Psychologie und Phänomeno­ logie ein, die sich als einseitiges Begründungsverhältnis beschreiben lässt. Die Asymmetrie besteht darin, dass die Transzendentalphäno­ menologie von einem Fortschritt von Psychologie zu Transzendental­ philosophie ausgeht: »Auf der Grundlage der eidetischen Psychologie, die ›noch‹ nicht transzendentale Phänomenologie ist, soll zu dieser fortgegangen werden, und dieser Fortgang soll zugleich auch einen Fortschritt der Einsicht für die eidetische Psychologie selber bringen« (Ströker 1983, 18f.). Die Mittlerrolle der phänomenologischen Psy­ chologie im husserlianischen Aufstieg zur Transzendentalphänome­ nologie ist beispielsweise von Drüe (1963) und Kockelmans (1987) dargestellt worden. Es wird deutlich, dass die statische Charakterisierung der Expe­ rimentalpsychologie, als deren »Erzvater« (Hua IX, 350) Husserl John Locke betrachtet, kaum Kenntnis von den tatsächlichen intra­ disziplinären Kontroversen genommen hat und womöglich – was sich an Husserls spärlichen Verweisen auf die psychologische Litera­ tur erkennen lässt – auch nicht nehmen wollte. Seine Auffassung von der Experimentalpsychologie fällt weitgehend mit der Assoziati­ onspsychologie britischer Prägung zusammen und es muss ergänzt werden, dass selbst für sie anspruchsvollere Positionen entwickelt worden sind, z.B. durch Theodor Ziehen oder Georg Elias Müller, Husserls Auffassung der Psychologie also selbst für die Assoziations­ psychologie trivialisierend ist. Den Versuch, den Austausch zwischen Husserls Phänomenologie und dem experimentalpsychologischen Diskurs herzustellen, hat etwa sein Zeitgenosse, der bereits erwähnte Denkpsychologe Messer, in seinem Aufsatz Husserls Phänomenologie in ihrem Verhältnis zur Psychologie (1911) unternommen. Mit der Bereitschaft, die grundlegende Rolle der Phänomenologie in der Psychologie anzuerkennen, bringt Messer die Auffassung zum Aus­ druck, dass »der Gegensatz zwischen den modernen Psychologen und Husserl lange nicht so scharf sein [dürfte], als er meint« (Messer 1911, 120). Hier zeigt sich die ausgestreckte Hand der anpassungswilligen

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

Seite der Experimentalpsychologie – den Handschlag hat Husserl allerdings ausgeschlagen. Statt diesen Dialog zu suchen, zeichnet Husserl das Bild einer unflexiblen und sachlich beschränkten Psychologie, das der Phäno­ menologie als Kontrastfolie dient, aber der Sache nach nur ein Strohmann-Argument, also eine fälschlicherweise angenommene Statik der Gegenposition, bleibt. So charakterisiert er die Experimen­ talpsychologie vornehmlich über die Methode, also über die aus der Physiologie entlehnte Laborforschung, ohne von den paradigma­ tischen Kontroversen zwischen Assoziations-, Apperzeptions- und Aktpsychologie genauere Kenntnis zu nehmen. Kursorisch bringt er eine »naturalistische Psychologie« bzw. »psychophysische, physiolo­ gische, experimentelle Psychologie« (Hua IX, 4) in Stellung, um ihr gegenüber die psychologische Geistesgeschichte als Entwicklung von Diltheys Kritik zu Brentanos Aktpsychologie und deren letztlicher Überwindung durch die Phänomenologie zu skizzieren. Mag diese Betrachtung der Psychologiegeschichte auch verkürzt und polemisch, bisweilen herablassend anmuten, so kommt sie doch zugleich – wenn auch ohne Berücksichtigung der einschlägigen Beiträge aus der Psychologie selbst – auf die entscheidende Kontroverse über die Grundlegung der Psychologie zu sprechen, die in den ersten beiden Kapiteln erörtert worden ist. Über Dilthey sagt er in diesem Zusam­ menhang: In umfassenden Darlegungen sucht er zu zeigen, daß es gegenüber dieser »erklärenden« oder »konstruktiven« Psychologie, wie er sich ausdrückt, einer »beschreibenden und zergliedernden« Psychologie bedürfe, deren Idee er ausführlich zu entwerfen versucht in fortlaufen­ der Kritik der herrschend gewordenen experimentellen Psychologie. Diese experimentelle folgt, sagt er, dem Ideal der exakten Naturwissen­ schaft, insbesondere dem der neuzeitlichen atomistischen Physik. So wie diese die physischen Erscheinungen, will sie die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang unterordnen vermit­ tels einer begrenzten Anzahl eindeutig bestimmter Elemente. Sie verfährt dabei so wie die Physik hypothetisch und konstruktiv mittels Schlüssen, welche die erfahrende Anschauung transzendieren. Also auf Grund der Erfahrung entwirft sie hypothetische Substruktionen nicht erfahrener kausaler Zusammenhänge und auf sie bezügliche Gesetzeshypothesen. Aber dieses ganze Verfahren ist dem Wesen des Psychischen ganz unangemessen. Es ist entsprungen aus einer unberechtigten Erweiterung naturwissenschaftlicher Begriffe über das Gebiet des Seelenlebens und der Geschichte (ebd., 8).

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Zustimmung verdient diese Darstellung dahingehend, dass sie zurecht auf hypothetische Substruktionen als Fehler des Naturalis­ mus hinweist. Damit ist gemeint, dass die Annahme einer naturkau­ salen Determination des Seelenlebens eine Präsupposition ist, die nicht erfahrungsimmanent begründet werden kann. Diese Kritik an der naturwissenschaftlichen Psychologie findet sich mehrfach in der phänomenologischen Bewegung, beispielsweise bei Scheler, der verschiedene wesensontologische Voraussetzungen der empirischen Psychologie benennt. Sie setze u.a. voraus, »es gäbe einen realen Abfluß von Erlebnissen in der objektiven Zeit, es gebe nicht nur die wesensmäßig immer nur je gegenwärtigen Erlebnisbewußtheiten, sondern auch reale gegenwärtige, vergangene und zukünftige Erleb­ nisse« (SGW VII, 254). Mit einem für ihn charakteristischen Pathos führt Scheler diese Kritik an experimentalpsychologischen Präsuppo­ sitionen, zu denen auch die Annahme eines ›realen Substrats‹ bzw. – mit Husserl – einer ›Substruktion‹, nämlich des Gehirns, zu dem Verdikt: »Aber lassen wir doch an dieser Stelle solche fragwürdigen metaphysischen Hypothesen zunächst beiseite!« (ebd., 239) Mag diese Kritik auch sachdienlich und trotz ihrer Sprengkraft in der gesamten phänomenologischen Bewegung wenig kontrovers sein, so sind es die anschließenden Schlussfolgerungen Husserls, die ihn zur Entwicklung der Idee einer reinen Transzendentalphänome­ nologie führen umso mehr. Die Vorstellung, dass eine Patronage der Wissenschaften durch die Philosophie gerechtfertigt sei, ist Ausdruck des philosophischen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert und insofern keine Ausnahme, sondern eher ein zeitgeistlicher Umstand. Entscheidend ist indessen die Argumentation, die Husserl zu diesem Standpunkt führt, also die Überlegung, dass die Psychologie ohne Zweifel als Tatsachen-, die Phänomenologie aber als Wesenswissen­ schaft charakterisiert werden müsse, denn auf den Überlegungen im Zusammenhang dieser Überzeugung fußt auch das Urteil, dass eine phänomenologische Psychologie i.e.S. nur als deskriptive und die Transzendentalforschung vorbereitende, nicht aber als im vollen Sinne phänomenologische Untersuchung betrieben werden könne. Des Weiteren ergibt sich aus seinen Überlegungen die strenge metho­ dologische Trennung zwischen Experimentalpsychologie und demje­ nigen, was Husserl ›apriorische‹ oder ›rationale‹ Psychologie nennt, also der psychologischen Phänomenologie im salienten Sinne. Husserls Auffassung muss jedoch nicht notwendigerweise widerlegt werden, um das Projekt einer phänomenologischen Experi­

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

mentalpsychologie zu rehabilitieren. Eine Kompromisslösung besteht darin, sie anders zu verstehen zu suchen, als es Husserl mit seiner Polemik nahelegt: Die Trennung zwischen Tatsachen- und Wesens­ wissenschaften sollte nicht als eine deskriptive, sondern als ideali­ sierte verstanden werden. Damit wird an erster Stelle keine Norm für das richtige Forschen angelegt, sondern dem Unterschied zwischen Tatsachen- und Wesenswissenschaft der richtige Platz zugewiesen. In dieser Lesart geht es Husserl nicht darum, die historisch reale psychologische Forschung in toto als Tatsachenwissenschaft von der Phänomenologie zu trennen, sondern einen idealisierten Teil zu cha­ rakterisieren, der sich unabhängig von historischen Disziplingrenzen den Tatsachen zuwendet, während sich ein anderer der Wesensbe­ stimmung widmet. In Umkehrung bedeutet dies, dass die historisch reale Psychologie als eine Sammlung von Projekten aufgefasst werden kann, die idealisiert gefasst teils zur Tatsachen-, teils zur Wesenswis­ senschaft gehören. Zwar ist damit das Problem nur verlagert, das auf fundamentaler Ebene den Dualismus von Wesen und Tatsache betrifft, doch für die phänomenologische Psychologie wird gerade der Platz der Bewältigung dieses Problems attraktiv. Anders gesagt: Wenn die Trennung zwischen Tatsachen- und Wesenswissenschaften nicht deskriptiv ist, lässt sich die phänomenologische Psychologie in concreto als Zwitterwissenschaft und Grenzgängerin konzipieren. Kockelmans beschreibt, wie auch Husserl im obigen Sinne eines Übergangs zur Transzendentalforschung mit dem Gedanken gespielt hat, in diesem Zwischenbereich ein Forschungsfeld zu etablieren, nämlich das der phänomenologischen als ›rationalen Psychologie‹50: Gradually it became clear to him that it is possible and even necessary to bridge the gap between empirical psychology and transcendental phenomenology with the help of a completely new science which was called ›rational psychology‹, or ›eidetic psychology‹ first, and ›phe­ nomenological psychology‹ afterward (Kockelmans 1987, 5f.).

50 Der Begriff der ›rationalen Psychologie‹ ist geistesgeschichtlich belastet und sollte für die Phänomenologie nicht uneingeschränkt in Kontinuität zum vorkantianischen Rationalismus interpretiert werden, wie Gurwitsch betont: »eidetic psychology in Husserl’s sense must not be misconstrued as a revival of the ›rational psychology‹ of the eighteenth century, which Kant uprooted. The latter proceeded in a construc­ tive and deductive way and had a speculative-metaphysical orientation« (Gurwitsch 1974, 85).

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Ein anderer Lösungsversuch, der insofern drastischer ist, als er die Transzendentalphänomenologie angreift, besteht darin, den episte­ mologischen Dualismus aufzugeben. Der maßgebliche Bezugsrah­ men dafür ist die innerphänomenologische Kontroverse um das Verhältnis zwischen Tatsache und Wesen. Dabei handelt es sich um ein weites Feld, das von zahlreichen Phänomenologinnen und Phänomenologen problematisiert worden ist. Beispiele sind Ingar­ dens begriffliche Problematisierung des Wesens (Ingarden 1925) und die anschließende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Realismus und Idealismus (Ingarden 1933), ferner Steins Differen­ zierung zwischen ›Wesenhaftem und wirklichem Sein‹ mithilfe der aristotelischen Begriffe τί εἶναι und ποῖον εἶναι im dritten Kapitel von Endliches und ewiges Sein (Stein 1950) oder Schelers Lehre von den drei Tatsachen (SGW X). Eine angemessene Ausführung der Problematik kann hier nicht erfolgen, sie füllt Bibliotheken. Es sei jedoch gesagt, dass sich eine Kritik an Husserls transzendenta­ lem Idealismus rechtfertigen lässt, sodass die rigorose Segregation zwischen Wesens- und Tatsachenwissenschaft fragwürdig wird. So zeigt Ingarden beispielsweise, dass Husserl für die Trennung keine ausreichenden Grundlagen schafft: Husserl behandelt die einzelnen realen Gegenstände, z.B. die Dinge, und die ganze reale Welt auf eine ganz analoge Weise. Und doch soll die Welt eine ganze eigene Seinsregion bilden, welche zugleich dem Bewußtseinsstrom – als einer anderen Seinsregion – gegen­ übergestellt wird. Wir werden dabei im Unklaren gelassen, ob ein einzelnes Ding und eine ganze Seinsregion des Typus ›Welt‹ völlig die­ selbe formale Struktur hat oder ob da etwa wesentliche Unterschiede bestehen, die für die Fassung des Idealismus-Realismus-Problems von Bedeutung sein könnten. Es wird auch nicht untersucht, ob ein Bewußtseinsstrom wirklich eine ganze Seinsregion ist oder etwa ein eigentümlicher individueller Gegenstand, der dann nicht die Form einer besonderen Seinsregion zu haben brauchte. So wird diese Frage nach der existentialen Beziehung zwischen Welt und Bewußtsein in dieser Hinsicht unbestimmt gelassen (Ingarden 1998, 221f.).

Konsequenterweise muss diese Argumentation zu der Frage führen, ob die Phänomenologie mit der Kritik des Wesen-Tatsache-Dualis­ mus nicht ihre eigenen Grundlagen aufhebt. Allerdings widerspricht dieser Vermutung die Tiefe des phänomenologischen Wesensbegrif­ fes. Wie bereits zuvor angedeutet, kann er auf verschiedene Weise ausbuchstabiert werden. Die strikte Exklusion der Tatsachen zu pro­

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

blematisieren, bedeutet zudem keinesfalls automatisch einen Monis­ mus, für den es nur Tatsachen gäbe (auch wenn sich diese Denkweise an der Schwelle der Phänomenologie zum Pragmatismus merklicher Popularität erfreut). Kurzum: Die rigorose Trennung zwischen empi­ rischer Phänomenologie und psychologischer Phänomenologie ist nicht unstrittig. Der Kollaps der scharfen Trennung kann jedoch zweierlei bedeuten. Entweder wird für phänomenologische Untersu­ chungen auch tatsachenwissenschaftliche Forschung relevant oder wesenswissenschaftliche Arbeit kann in die empirische Wissenschaft getragen werden. Diesen beiden Möglichkeiten für die Gestaltung der phänome­ nologischen Psychologie i.w.S. entsprechen praktische Ansätze. Nicht selten findet sich der Versuch – die Transzendentalphänomenologie müsste von ›Verführung‹ sprechen – phänomenologische Analysen anhand von empirischen Beobachtungen zu unternehmen. Der wich­ tigste – transzendentalphänomenologisch gesagt: verhängnisvollste – Kandidat für diesen Versuch ist die Introspektion. Das bedeutet, dass es verschiedene Forschungsprogramme gibt, die introspektive Untersuchungen als phänomenologische deklarieren (siehe zu die­ sem Thema Gutland 2018). Diese Art und Weise der Forschung steht in markanter Opposition zum Ansatz der Transzendentalphänome­ nologie, die davon ausgeht, dass ihre eigenen Einsichten von anderer Natur und epistemischer Dignität als die tatsächliche Introspektion bzw. Selbstbeobachtung sind, denn es gelte, »daß die Erkenntnis der ›Mög1ichkeiten‹ der der Wirk1ichkeiten vorhergehen müsse« (Hua III, 194). Der Versuch, auf Grundlage beliebiger tatsächlicher Erfahrungen Phänomenologie zu betreiben, birgt die Gefahr des naiven Intuitionismus, der aufgrund mangelnder Erkenntniskritik nicht valide ist. Ansätze dieser Art sind aus transzendentalphänome­ nologischer Perspektive als »Bilderbuch-“ (Spiegelberg 1960, 170) oder »Bilderbogen-Phänomenologie« (vgl. bspw. Löwith 1930, 49) karikiert worden – eine Kritik, die, wie im Folgenden zu thematisieren sein wird, von dieser Seite auch gegenüber der Gegenstandsphänome­ nologie geäußert worden ist. Mag die transzendentale Phänomenologie die Bedeutung der Empirie für ihre Arbeit leugnen, so sollte ihre Zurückweisung doch nicht kritiklos anerkannt werden. Die Problematik ist von Hegg in sei­ ner Arbeit Das Verhältnis der phänomenologischen Lehre von Edmund Husserl zur empirischen Psychologie formuliert worden, indem er fragt, »wie es uns empirisch befangenen Wesen überhaupt noch gelin­

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

gen kann, zur Wahrheit zu gelangen, wenn sie grundsätzlich nicht Bewußtseinserlebnis sein soll und darf?« (Hegg 1920, 7). Hegg stellt also infrage, dass die Wesensintuition der Phänomenologie als eine eidetische Erfahrungsart tatsächlich von der empirischen geschieden werden kann. Es handelt sich um die Frage nach der methodologi­ schen Gültigkeit der transzendentalphänomenologischen Forschung, nach der Validität der phänomenologischen und der transzendentalen Reduktion. Hegg bezweifelt, dass es Husserl gelingt, zu erweisen, »wie das reine Bewußtsein sozusagen in die reale Welt hineinkom­ men, wie das an sich Absolute seine Immanenz preisgeben und den Charakter der Transzendenz annehmen kann« (ebd., 22). Er führt seinen Zweifel zur Behauptung: »die reduktive phänomenologische Methode kann nicht leisten, was sie verspricht, sie führt über die Wirklichkeit nicht hinaus« (ebd., 34). Damit ist die Möglichkeit einer reinen Untersuchung von Wesenheiten, die unabhängig von der tatsächlichen Wirklichkeit ist, bestritten. Heggs Argumentation ist dabei, dass Husserls Reduktion lediglich die Seite der sinnlich erfahrbaren, also der Gegenstandswelt, nicht aber das Seelenleben ausschaltet. Dieser Gedankengang führt ihn zu Schlussfolgerungen, die dem Selbstverständnis der Transzendentalphänomenologie dia­ metral gegenüberstehen: Die Erfahrung von psychischen Realitäten, von realen Erlebnissen erweist sich somit gar als die notwendige Voraussetzung für alle phä­ nomenologische Beschreibung, die erst nachfolgen kann. Daran ändert die Tatsache nichts, daß das Eidos sich auch in ›bloßen Phantasiegege­ benheiten‹ und ›bloß einbildenden Anschauungen‹ soll exemplifizie­ ren können; denn wenn auch das Phantasierte und Eingebildete als solches keine Erfahrung ist und kein Dasein erfaßt, wie Husserl sagt, so sind umsomehr Phantasie und Fiktion in allererster Linie reale Erleb­ nisse und als solche Gegebenheiten einer psychologischen Erfahrung. Neben der deutlichen Verneinung finden wir also bei Husserl eine ebenso deutliche Anerkennung eines Daseins von psychischen Reali­ täten und die psychische Wirklichkeit steht auch nicht logisch, doch tatsächlich am Anfang der phänomenologischen Erkenntnis (ebd., 42).

Die Argumente Heggs sind ein kritisches Korrektiv des transzen­ dentalphänomenologischen Selbstvertrauens in die Unabhängigkeit der Wesenseinsicht von der tatsächlichen Erfahrung. Mehr noch: Sie zeigen, dass phänomenologische Psychologie nicht einfach eine Ausweitung philosophischer Forschung auf die Wissenschaft sein kann, sondern das Schicksal der philosophischen Phänomenologie

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

mithin auch von psychologischer Arbeit abhängt. Anders gesagt: Eine kritische Haltung gegenüber der transzendentalphilosophischen Patronage der Wissenschaft kann bis zu dem Punkt führen, in dem das strittige Fundierungsverhältnis umgekehrt wird. Freilich wird durch diesen Schritt der Psychologismus wieder zur Gefahr. Das wird auch mit Blick auf einen denkwürdigen Tagebucheintrag Binswangers aus dem März 1920 deutlich. Dort heißt es: »Diskussion mit Prof. Pfänder über Phänomenologie […]. Er und Scheler. Empfindung = körperlich, im Gegensatz zu Husserl. Rückkehr zu Brentano. Phänomenologie der Leiblichkeit« (zit. nach Kuhn 1982, 61). In diesem an Bedeutung überreichen Auszug sei hier nur der Satz ›Rückkehr zu Brentano‹ her­ vorgehoben, der freilich auf die Schwierigkeit des Automorphismus’ anspielt, die zuvor thematisiert worden ist (vgl. 2.1). Es darf weder die eine noch die andere Fundierungsrichtung im Verhältnis von philo­ sophischer und psychologischer Psychologie kritiklos hingenommen werden. Nur ein beständiger Dialog zwischen beiden kann einen psychologistischen oder logizistischen Dogmatismus vermeiden und so dem eigentlichen phänomenologischen Programm, von dem selbst Husserl abzuweichen drohte, gerecht werden. Heggs Argumente gehen bis zur Behauptung, dass dann, wenn das Psychische grundlos verabsolutiert werde – hier erkennen wir den Vorwurf des transzendentalen Idealismus wieder –, keine Möglichkeit mehr bestehe, »das Feld der phänomenologisch reinen Erlebnisse grundsätzlich zu unterscheiden von der Sphäre der real psychologi­ schen Erlebnisse« (ebd., 52). Es handelt sich letztlich um eine Kritik, die den anderen Formen der Phänomenologie zuspielt und folglich die ›Bilderbuch-Phänomenologie‹ als ehrlichere Form der Forschung rehabilitiert. Die Geltung der Argumentation ist jedoch vom Begriff des Wesens selbst abhängig und weist daher in die Tiefe der Phi­ losophie zurück. An dieser Stelle sei lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage nach dem Wesen mit der Frage nach der transzendentalen Subjektivität verschwistert ist. Landgrebe verweist, um den Übergang von der singulären Intuition zum Allgemeinen zu erläutern, auf ebendiese: Die transzendentale Subjektivität ist nicht ein ›Bewußtsein über­ haupt‹, sondern das, was ich als der meiner selbst Bewußte schon immer bin, wenn auch in einer für mich zunächst verborgenen Weise, in einer ›Anonymität‹, die nur durch konsequente transzendentalphänomenologische Reflexion aufgedeckt werden kann (Landgrebe 1968, 156).

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Neben die problematische Möglichkeit, die Forschung am Wesen mit Empirie zu verwässern – oder zu bereichern –, tritt die zweite Alternative, nämlich die phänomenologische Arbeit in der Tatsachen­ wissenschaft selbst fruchtbar zu machen. Diese Möglichkeit ist von der Transzendentalphänomenologie nicht mit derselben Vehemenz abgewehrt worden, was leicht nachvollziehbar ist, insofern als diese Stoßrichtung die ›Reinheit‹ der transzendentalen Forschung nicht zu kontaminieren droht. Dennoch muss die skeptische Frage gestellt werden, ob eine wissenschaftliche Arbeit dieser Art überhaupt logisch möglich ist und keine contradictio in adiecto enthält. Für diese Skepsis spricht, dass empirische Forschung im strengen Sinne immer die induktive Auswertung von weltlichen Vorkommnissen bedeutet und die Bedingung ihrer Möglichkeit unbeachtet lässt. Das würde also bedeuten, dass es für die Phänomenologie in einer empirischen – genauer: einer empiristischen – Wissenschaft keinen Nutzen gibt. Dieses Verständnis der Wissenschaft ist jedoch antiquiert; es hätte nur Sinn, solange jede Form von Theoriebildung, Wissenschaftstheorie oder Methodologie Anliegen der Philosophie, nicht aber der Wissen­ schaft selbst ist. Die Wissenschaftsgeschichte hat jedoch gezeigt, dass das Mono­ pol der Philosophie auf die Grundlegung der Wissenschaften keine Selbstverständlichkeit ist. Insbesondere die positivistische Revolu­ tion in den Wissenschaften hat zu einer Emanzipation der Forschun­ gen geführt. Das soll nicht heißen, dass diese Emanzipation erfolg­ reich gewesen ist, also die Philosophie tatsächlich obsolet machen konnte. Der historische Umstand soll schlichtweg als Beweis der Möglichkeit eines Wissenschaftssystems gelten, in dem der monar­ chistische Anspruch der Philosophie nicht ausreichend legitimiert ist. Ob diese Ausrichtung der Wissenschaft gelungen ist, ist eine separate Frage. Es lässt sich zu ihrer Beantwortung zumindest sagen, dass sich ein Wissenschaftssystem, in dem die Arbeit der Empiriker grund­ sätzlich von ihrer Grundlegung durch die Philosophie getrennt ist, selbst ad absurdum führt, weil die Anschlussfähigkeit der empirischen Forschung nicht mehr gewährleistet ist. Anders gesagt: Nur dann, wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Verständnis von den Erwägungen der Philosophinnen und Philosophen haben, werden sie sie aufgreifen können. Und dieses Verständnis ist nicht ohne eine intellektuelle Teilhabe, in letzter Instanz also auch Mitwirkung möglich, da Kenntnis für Verständnis nicht ausreicht. Aus diesem Grund ist die Idee einer rein ausführenden und der Philosophie

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4.1 Psychologische Transzendentalphänomenologie

konzeptuell dienenden Wissenschaft nur dann nicht absurd, wenn der Wissenschaftlerin und dem Wissenschaftler zugleich die Möglich­ keit eingestanden wird, Philosophin oder Philosoph zu sein – und umgekehrt. Genau besehen hebt sich diese Doppelrolle für dieselbe Person jedoch auf. Daher lässt sich sagen, dass die Auffassung, dass Wissenschaften das empirisch ausführende Organ der Philosophie seien, nicht aufrechterhalten werden kann. Phänomenologie in den Wissenschaften zu betreiben ist in einem modernen Sinne des Begriffes der Wissenschaften, der für die frühe Transzendentalphänomenologie möglicherweise nicht ver­ fügbar gewesen ist, denkbar. Damit soll jedoch nicht allein gesagt sein, dass derjenige Teil der Wissenschaft, der in anachronistischer Auffassung Philosophie gewesen wäre, allein Nutzen von dieser Bezugnahme haben würde. Wissenschaftstheorie und Methodologie haben ihre Bedeutung und Funktion in der modernen Wissenschaft verändert und wirken unmittelbar auf allen Ebenen des empirischen Erkenntnisprozesses. Phänomenologische Psychologie in diesem engeren Sinne zu betreiben, meint also nicht allein eine Wirkung auf Theoriebildung und Methodenkritik, sondern eine ganzheitliche Prägung der Forschung. Diese Idee ist allerdings von Beginn der phä­ nomenologischen Bewegung an in der Gegenstandsphänomenologie deutlicher attraktiver gewesen als in der Transzendentalphänomeno­ logie. Mag sich die durch Husserls Vorbild gestaltete Akt- oder Tran­ szendentalphänomenologie auch historisch wie systematisch gegen­ über der Zusammenarbeit mit und Integration in die Experimental­ psychologie verschlossen haben, so ist es doch allzu leicht, Husserls Beitrag als Blockade des Projektes einer phänomenologischen Psy­ chologie, die mehr ist als Magd der reinen Phänomenologie, zu verkennen. Zwar ist es angemessen, die strikte methodologische Trennung zwischen Tatsachen- und Wesenswissenschaften zu hin­ terfragen, doch das transzendentalphänomenologische Denken ist nichtsdestoweniger reich an Anregungen für die Experimentalpsy­ chologie. Der entscheidende Beitrag liegt jedoch darin, ein Korrek­ tiv für eine Form der phänomenologischen Psychologie zu bilden, die leichtfertigerweise auf Grundlage empirischen Materials wie der Introspektion unkritische Wesensaussagen zu formulieren ver­ sucht. Diese Art der phänomenologischen Forschung macht sich des Intuitionismus schuldig, und es ist sachdienlich, die Kriterien der ›Philosophie als strengen Wissenschaft‹ gegen sie anzuführen.

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Eine ausgewogene Einschätzung der Bedeutung des transzendentalen Ansatzes für die phänomenologische Psychologie findet Buytendijk: The only thing that is certain is that psychology will fail in its mission if it remains mere factual knowledge. Its contribution to the decisions of our time is determined by an inner bond with philosophical reflection. It was Husserl who laid down permanently the basis for this bond. After him, psychology has developed as a science of human being and a science of the human world; it has brought about a new climate in the life of the spirit and in the human sciences, which perhaps promises a new freedom for the West (Buytendijk 1987, 44).

4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie Es ist wichtig zu verstehen, dass die methodologische Positionierung des transzendentalen Rigorismus auch der Immunisierung gegen den Vorwurf des Intuitionismus dient. Das bedeutet, dass es augenschein­ lich außer Frage steht, dass die ›reine Phänomenologie‹ als ›Bilder­ buch-Phänomenologie‹ gelten könnte, also als Forschungsart, die allerlei Phänomene der persönlichen Erfahrung zusammenträgt, statt ihre transzendentale Intentional- und Konstitutionsanalyse zu entwi­ ckeln. Es muss allerdings die grundsätzliche Frage gestellt werden, ob eine Abwehr dieses Vorwurfs auch auf anderem Wege gelingen kann. Dabei gilt es zu bedenken, dass er als innerphänomenologischer Vorwurf insbesondere gegen die sog. Gegenstandsphänomenologie51 geäußert worden ist. Es gibt also zwei Ebenen: Erstens die Ausräu­ mung des Intuitionismus für die Phänomenologie schlechthin und dann für die Gegenstandsphänomenologie im Speziellen. Ein Beispiel für den allgemeinen Vorwurf des Intuitionismus gegenüber der Phänomenologie ist die Kritik an Max Schelers Den­ ken. So schreibt Altmann in einer Auseinandersetzung mit Schelers Wertphilosophie: »Somit gelangt Scheler zu einer Bestimmung des Wesens der Wahrheit, die ganz auf der Idee des absolutistischen Intuitionismus aufgebaut ist« (Altmann 1931, 16). In dieser Zuord­ nung zum Intuitionismus kommt Altmann mit anderen Kritikern der Phänomenologie überein, so etwa Popper (1928). Eine Erwide­ rung gegenüber der im Allgemeinen an die Phänomenologie gerich­ 51 Der Begriff der Gegenstandsphänomenologie wurde von Moritz Geiger und Paul Ferdinand Linke geprägt (vgl. Smid 1982, 133ff).

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4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie

teten Intuitionismus-Vorwurf, der auf den Kritizismus z.B. Rickerts zurückzuführen ist, findet sich bei Fink. Er fasst den Vorwurf folgen­ dermaßen zusammen: die Phänomenologie ist dogmatisch. D.h. sie bleibt bei der ›Selbstgege­ benheit‹ der Gegenstände der Erfahrung stehen, verharrt und beruhigt sich in der ›Evidenz‹ – ohne die Rechtsfrage an die einfach und schlicht hingenommene Selbstgegebenheit zu stellen, ohne die Möglichkeit der Erfahrung und damit die Objektivität zu einem ausdrücklichen Problem zu machen (Fink 1966, 324).

Mit Klarheit erwidert Fink allerdings, dass der Intuitionismus-Vor­ wurf auf einem Missverständnis der Phänomenologie ruht, das aus dem kritizistischen Systemdenken resultiert. Er stellt klar, dass der phänomenologische Begriff der Anschauung nicht ein Erkenntnisver­ mögen, sondern den »Primat der Anschaulichkeit jeder Erkenntnis« (ebd., 328) meint: Erkenntnis (im prägnanten Sinne aktueller Evidenz) ist überall, ist für alle Evidenzarten Selbstgebung der in ihr evidenten Sachen (Sachver­ halte, Werte und Wertverhalte usw.) bzw. deren Erfassung und Habe als ›sie selbst‹. Davon ist schlichte Selbstgebung, das sich in einem Schlage selbst Darstellen, ein besonderer Fall, der für die sinnliche Wahrnehmung charakteristische. Ihm steht gegenüber die kategoriale und die Wesenserkenntnis, deren Selbstgebung wesensmäßig nur in einem Aufbau durch eventuell höchst mannigfaltige Fundierungen möglich ist (ebd.).

Die Zurückweisung des prinzipiellen Intuitionismus-Vorwurfes kann demnach lediglich erfolgen, wenn das Systemdenken des Kritizismus in Richtung auf die Phänomenologie geöffnet wird. Gilt Finks Argumentation nun ausschließlich für die Transzen­ dentalphänomenologie? Wenig spricht dafür, denn das ›Primat der Anschaulichkeit‹ verlangt keine transzendentalphilosophischen Kon­ zessionen. Folglich gilt, dass die Vermeidung des Intuitionismus prinzipiell in der gesamten Phänomenologie und nicht nur in der transzendentalen möglich ist – allerdings auch scheitern kann. Indes, die Protagonisten der Gegenstandsphänomenologie haben zusätzli­ che Argumente gegen den Intuitionismus-Verdacht im Allgemeinen, aber auch gegen den innerphänomenologischen, der zum Beispiel von Husserl gegenüber der Münchner Phänomenologie mit der Anklage der ›Bilderbuchphänomenologie gerichtet worden ist, gewonnen.

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Diese Gegenargumente sind ein wichtiger Bezugspunkt für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie (s. Abschnitt 9.1). Es wird ersichtlich, dass im Spott der ›Bilderbuch-Phänomeno­ logie‹ ein Vorurteil angelegt ist, das unzureichend begründet gewe­ sen ist und mutmaßlich der Verleumdung der innerphänomenolo­ gischen Konkurrenz diente. Tatsächlich sind, wie das Zitat zeigt, auch die gegenstandsphänomenologischen Untersuchungen in einem strengen Sinne methodisch. Besser gesagt: Sie sind imstande, in angemessener Komplexität auf die Gefahr des Intuitionismus zu reagieren. Damit ist freilich noch nicht die gesamte Idealismus-Rea­ lismus-Problematik ausgeräumt, doch zumindest gezeigt, dass die Gegenstandsphänomenologie als realistische Phänomenologie prin­ zipiell zu einem Lösungsversuch jenseits der Naivität imstande ist. Eine Ursache für den Zweifel an der nicht-transzendentalen Phäno­ menologie besteht darin, zu vermuten, sie suche die Phänomene, die sie bestimmt, qua »Hypostasierung idealer Existenzen« (Altmann 1931, 6) als reale und verlasse sich gleichsam auf einen naiven Realismus. Auf diese Weise ist der Intuitionismus-Vorwurf mit einem Ontologismus-Vorwurf verschwistert (vgl. Fink 1966, 324). Beiden Vorwürfen kann jedoch durch eine angemessene Erläuterung der phänomenologischen Forschungsart begegnet werden. Zugleich zeigt sich, dass sich Ansätze, die des strengen Funda­ mentes der phänomenologischen Forschung entbehren, tatsächlich des Intuitionismus oder Ontologismus schuldig machen. Somit lässt sich für die Intuitionismusfrage abschließend feststellen, dass die Gegenstandsphänomenologie entgegen der transzendentalphänome­ nologischen Polemik prinzipiell durchaus dazu imstande ist, die Gefahr von Intuitionismus oder Ontologismus zu vermeiden, doch das Risiko selbst bleibt für jeden Einzelbeitrag bestehen. Das soll bedeuten, dass Gegenstandsphänomenologie stets Gefahr läuft, in Intuitionismus umzuschlagen, wenn sie methodologischer Präzision ermangelt. Dieser Umstand kann nicht ausreichend betont werden, weil die Öffnung der phänomenologischen Forschung zu den empi­ rischen Wissenschaften mit der Möglichkeit der methodologischen Verwässerung einhergeht. Es ist daher wichtig, die epistemologische Strenge der Phänomenologie im Zuge der Erneuerung der phänome­ nologischen Psychologie nicht aufzugeben und den IntuitionismusVerdacht als Korrektiv gewissenhaft zu überprüfen. Nachdem die transzendentalphänomenologische Behauptung (zumindest kursorisch) ausgeräumt worden ist, dass jede Form

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4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie

von Gegenstandsphänomenologie methodologisch unzureichend ist, stellt sich die konkrete Frage nach ihrer Beziehung zur Experimen­ talpsychologie – und nach den Schwierigkeiten, die die Etablie­ rung einer gegenstandsphänomenologischen Psychologie verhindert haben. Im Kontrast zur Transzendentalphänomenologie findet sich dabei zunächst für die klassischen Gegenstandsphänomenologen wie Pfänder und Geiger eine Kooperationsbereitschaft im Hinblick auf die Wissenschaften: »Die Phänomenologie weiß sich dabei im Einklang – zwar nicht mit der üblichen modernen Theorie naturwissenschaftli­ cher Erkenntnis, aber doch – auf weite Strecken hinaus – mit der Pra­ xis der Naturwissenschaften, soweit sie beschreibender Art ist« (Gei­ ger 1930, 8f.). Zum Ausdruck kommt diese Offenheit jedoch nicht nur im systematischen Bezug, sondern auch in der aktiven Bemühung von Gegenstandsphänomenologinnen und -phänomenologen in die psy­ chologische Forschung zu wirken bzw. sich in sie zu integrieren. So hat Pfänder etwa eine Einführung in die Psychologie (1904) veröffentlicht, während Geiger für das Archiv für die gesamte Psychologie (bspw. 1904) schrieb und auf dem Kongress für experimentelle Psychologie sprach (1911). Eine Wirkungsgeschichte von Pfänders Denken in der Psychiatrie findet sich bei Kuhn (1982). Es sei nur eine kurze, aber für Pfänders Stellung in der Psychologie charakteristische Passage aus einem Kommentar von Kronfeld zitiert: »Als Pfänders Buch vor anderthalb Jahrzehnten zum ersten Male erschien, begann die Hochflut der physiologischen Psychologie gerade etwas abzuebben. Noch aber beherrschte sie damals das Feld fest unbestritten, und Pfänders Werk war die Tat eines ziemlich einsamen Opponenten« (zit. nach Kuhn 1982, 52). Mit Blick auf Pfänders Arbeit Die Seele des Menschen (1933) fasst Kunz unter dem Schlagwort der ›verstehenden Psychologie‹, was diese gegenstandsphänomenologische Art und Weise, empirische Psychologie zu treiben, auszeichnet: Mit einer geradezu wunderbaren Schlichtheit, die nicht gewollt, son­ dern offenbar echter Ausdruck seiner Menschlichkeit ist, breitet Pfän­ der den unverkürzten Reichtum seelischen Geschehens aus. Man darf behaupten, daß es keine Psychologie gibt, die gewaltloser und mit dem gleichen wachen Fernhalten von Konstruktionen sich der einfachen Anschauung dessen, was sich der Selbstbesinnung zeigt, hingibt und es beschreibt. Keine Furcht vor Trivialitäten und kein Fasziniertwerden von fragwürdigen ›Tiefsinnigkeiten‹ hat Pfänder davon abbringen können, das zu sagen, was ist; die ursprüngliche von ihm am reinsten

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

bewahrte phänomenologische Einstellung hat es ihm erlaubt, schlech­ terdings nichts vorzumachen (Kunz 1982, 184).

Diese Beschreibung hilft, die Stellung der Gegenstandsphänomenolo­ gie in der Psychologie zu verstehen. So unterscheidet sich Pfänders psychologische Forschung methodologisch von – um Diltheys Diffe­ renzierung aufzugreifen – der zergliedernden Psychologie. Das heißt, dass die ›verstehende Psychologie‹ im Geiste der ›beschreibenden Psychologie‹ eine kausalgenetische Bestimmung des Seelenlebens, wie sie für Assoziations- und Apperzeptionspsychologie charakteris­ tisch ist, methodologisch ausklammert: »Die intuitive Erkenntnis durch Einfühlung liefert dem Psychologen vor allem das Material seiner Untersuchung. Die Einfühlung ist das eigentliche Experiment des Psychologen; von ihrer Güte und Treffsicherheit hängt zuerst und vor allem der Wert seiner Arbeit ab« (Pfänder 1904, 29). Weil das ›Abebben‹ der ›Hochflut der physiologischen Psychologie‹ nur scheinbar erfolgt ist, ist diese methodologische Positionierung von kritischer Tragweite. Um es pointiert zu formulieren: Mit der Ent­ scheidung für die bloße Beschreibung ist auch die Entscheidung gegen eine Teilhabe an der Experimentalpsychologie erfolgt – teilweise sogar in vollem Bewusstsein, wie sich an Pfänders Begünstigung der subjektiven Methode gegenüber dem Experiment erweist: »Die experimentelle Methode steht also in gar keinem Gegensatz zur sub­ jektiven Methode, sondern sie ist nur ein schon immer gebrauchtes Hilfsmittel für die subjektive Methode« (ebd., 119). Daraus ergibt sich eine praktisch periphere Rolle der Gegenstandsphänomenologie im disziplinären Zusammenhang. Zwar lässt sich sagen, dass diese peri­ phere Rolle große Bedeutung hat, insofern als sie das Explanandum der Forschung bestimmt, und eine Kritik an der Rolle des Experiments in der Psychologie angebracht ist, doch, solange die naturalistische Forschung im Geiste von Assoziations-, Apperzeptions- und phy­ siologischer Psychologie den disziplinären Diskurs dominiert, kann eine phänomenologische Psychologie nach dem Vorbild Pfänders nur schwerlich eine prägende Wirkung entfalten. Des Weiteren zeigt sich, dass die ›verstehende Psychologie‹ Pfänders einen geisteswis­ senschaftlichen Kern hat, also nicht im strengen Sinne experimentell ist. Die Reichweite dieses Umstands wird in seiner Bedeutung im nächsten Kapitel thematisiert werden, doch es sei an dieser Stelle bereits gesagt, dass eine geisteswissenschaftliche Psychologie als idio­ graphische Forschung keinen Beitrag zur experimentellen Forschung im eigentlichen Sinne zu leisten vermag.

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4.2 Psychologische Gegenstandsphänomenologie

Dieser Kommentar mag einen ernüchternden Eindruck vermit­ teln, da das Potenzial einer konstruktiven Verschränkung von phäno­ menologischer und psychologischer Forschung verfehlt wurde, doch stattdessen sollten zwei Schlussfolgerungen aus dem Versuch, einen gegenstandsphänomenologischen Ansatz in der Psychologie zu ent­ wickeln, gezogen werden. Erstens ist zur wechselseitigen Befruchtung mehr erforderlich, als die Phänomenanalyse auf den Bereich des Psy­ chischen auszuweiten. Die Phänomenologie muss methodologisch entwicklungsfähig sein, um in die Experimentalpsychologie zu wir­ ken. Pfänder unterschätzt den Wert des experimentellen Forschens, wenn er sagt, dass »die experimentelle Methode keine neue selb­ ständige Quelle psychologischer Erkenntnis neben der subjektiven Methode« (ebd., 128) eröffne. Zweitens muss aus der Feststellung, dass die Phänomenologie selbst für die Bestimmung des Explanan­ dums in der Psychologie keine Bedeutung hat, die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sie auch rhetorisch nicht anschlussfähig ist. Es lässt sich sagen, dass die psychologische Phänomenologie als philosophischer Beitrag den Kontakt zum psychologischen Diskurs verloren hat. Um in dieser Hinsicht Erfolg zu haben, ist ein zusätzli­ cher transformativer Aufwand erforderlich. Im Gegensatz zur Transzendentalphänomenologie ist die gegen­ standsphänomenologische Forschung nichtsdestoweniger eine taug­ liche Grundlage für weitere Entwicklungen. Während jene, wie bereits artikuliert, vornehmlich als Korrektiv zur Vermeidung des Intuitio­ nismus dient, ist diese prinzipiell dazu in der Lage, einen substan­ ziellen Beitrag zum psychologischen Diskurs zu leisten. Dazu ist jedoch erforderlich, die Experimentalforschung in der Phänomenolo­ gie methodologisch zu thematisieren. Wie dies gelingen kann, ist Gegenstand des zweiten Teils. Insbesondere der Begriff der Realpsy­ chologie, der auch im psychologischen Werk von Geiger und Scheler seinen Ausgang nimmt, ist Ausdruck dieser Weiterentwicklung. Es sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass Scheler im Gegen­ satz zu Pfänder größeres Gespür für den Wert der experimentellen Methode in der Psychologie bewiesen hat, sich aber nicht um einen systematischen Ansatz für psychologische Forschung bemüht hat. So kommentiert er die Ausführungen Carl Heinrich Beckers mit einem bezeichnenden Optimismus: Die angewandte Psychologie hat eine große Zukunft vor sich, ich kann das hier nicht in wenigen Worten beweisen. Ich bin nicht einig mit Herrn Becker, wenn er, wie es scheint hier einseitig beraten, die experi­

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

mentelle Psychologie überhaupt etwas zurückstellen will. In der jungen experimentellen Psychologie steckt oft mehr selbst philosophischer Wert als in den meisten völlig erstarrten philosophischen Schulen. Nur darauf ist zu sehen, daß nicht ausschließliche experimentelle Fachpsychologen philosophische Professuren an der philosophischen Fakultät erhalten. Die experimentelle Psychologie hat eben endlich als Fachwissenschaft behandelt zu werden und soll zum mindesten auch stark an der medizinischen Fakultät gepflegt werden (Scheler GW IV, 494).

In bemerkenswerter Parallelstellung spricht Scheler gar vom »Gesamtergebnis der phänomenologischen und experimentalphäno­ menologischen und -psychologischen Untersuchungen« (Scheler GW V, 350) und kritisiert – ganz im Gegenteil zu Pfänder – die »Schein­ gründe, mit denen man häufig das Vorrecht einer auf Selbstbeobach­ tung beruhenden Psychologie gegenüber allen objektiven Methoden, wie experimenteller Psychologie und historisch-völkerpsychologi­ scher Erkenntnisart, vertreten hört« (Scheler GW III, 286). Diese »Anerkennung ihrer Leistungen innerhalb der Psychologie« (Scheler GW I, 311) ufert jedoch nicht in Szientismus aus. Scheler ist sich der epistemologischen Abhängigkeit der experimentalpsychologischen Forschung bewusst: Die Grenze aller vergegenständlichenden Psychologie überhaupt (und der Experimentalpsychologie im besonderen) kann ja erst deutlich, und falsche Ansprüche dieser Wissenschaften können erst sinnvoll abge­ wehrt werden, wenn Natur und Schichtung seelischgeistigen Seins genau festgestellt ist, bis zu der ›Beobachtung‹ überhaupt ferner die Grenze, bis zu der das pure Reaktionsexperiment (bei dem ›Beobach­ ter‹ der Versuchsleiter ist) und das durch ›systematische Selbstbeob­ achtung‹ unterstützte Experiment (bei dem Beobachter die Versuchs­ person ist), schließlich aber das nur der Veranschaulichung eines ›Gemeinten‹ dienende (nichtinduktive) phänomenologische Experi­ ment vorzudringen vermögen (Scheler GW VII, 210).

Hier bekundet sich zugleich Schelers Tendenz zur Metaphysik, von der im gegebenen Zusammenhang jedoch einstweilen abgesehen werden sollte. Entscheidend ist, dass die Gegenstandsphänomenolo­ gie, insofern als sie von Scheler beeinflusst worden ist, das Potenzial einer konstruktiven Bezugnahme auf die Experimentalpsychologie birgt. Es ist allerdings nicht zur Entfaltung gekommen, denn Scheler hat abgesehen von einigen beiläufigen Skizzen die Realpsychologie

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4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie

nicht vorangetrieben. Dieses Potenzial wiederzubeleben, ist ein Ziel für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie.

4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie Die dritte und vierte Position der psychologischen Phänomenolo­ gie können wegen ihrer historischen Verschwisterung gemeinsam behandelt werden. Insofern als Heidegger als Epizentrum beider Forschungsrichtungen gelten kann, schwebt – der transzendentalphä­ nomenologischen Tendenz zur philosophischen Patronage der Wis­ senschaft nicht unähnlich – sein Verdikt über ihrem Verhältnis zur Psychologie: »Die existenziale Analytik des Daseins liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie« (HGA II, 60). Dieses Fundierungsverhältnis sei zunächst ein ontologisches, wobei Heidegger herausstreicht, dass in der Psychologie ebenso wie in der Anthropologie die Notwendigkeit dieser Fundierung in Verges­ senheit geraten sei: »Sofern aber auch die cogitationes ontologisch unbestimmt bleiben, bzw. wiederum unausdrücklich ›selbstverständ­ lich‹ als etwas ›Gegebenes‹ genommen werden, dessen ›Sein‹ keiner Frage untersteht, bleibt die anthropologische Problematik in ihren entscheidenden ontologischen Fundamenten unbestimmt« (ebd., 66). Auch hier findet sich also zunächst eine statische Charakterisierung der Psychologie, die bereitwillig die wissenschaftstheoretische Dürf­ tigkeit des disziplinären Diskurses hinnimmt, statt in ihm nach Komplexität zu suchen, die über jene Selbstverständlichkeit ihres Gegenstandes hinausweist. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Auffassung opportunistisch oder ungerechtfertigt sei. Im Gegenteil ist die ontologische Kritik Heideggers an der Psychologie zu weiten Teilen berechtigt und kann in fruchtbare Impulse umgewandelt wer­ den, doch der traditionell philosophische Habitus eines Monopols auf Wissenschaftstheorie verkennt die Möglichkeiten einer innerpsycho­ logischen Dynamik. Die Genese von Heideggers Auffassung der Psychologie lässt sich in der Schaffensphase vor der Veröffentlichung von Sein und Zeit (1927; HGA II) rekonstruieren. Dabei ist einesteils die Beziehung zu seinem Lehrer Husserl von Bedeutung, wobei ihr Lehrer-Schü­ ler-Verhältnis in dessen transzendentalphänomenologische Periode fällt. Andernteils ist Heideggers Beziehung zu Jaspers von Inter­

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

esse, der ebenfalls als Protagonist der existenziellen Phänomenolo­ gie bzw. Existenzphilosophie gelten muss, aber im Gegensatz zu Heidegger eine konstruktive Beziehung zu Psychologie und Psychi­ atrie unterhalten hat. Eine abschließende Rekonstruktion der Genese von Heideggers Opposition zur Experimentalpsychologie kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden, doch zur Charakterisierung der existenzphänomenologischen und hermeneutischen Auffassung von der Psychologie sei zumindest auf einige Merkmale der Kri­ tik hingewiesen. So weist auch Heidegger auf die Schwächen des Naturalismus hin: »Das seelische Sein wird, als Natur gesehen, im Sinne naturwissenschaftlicher Kategorien bestimmt. Die einheitliche Organisation dieses Mißverständnisses ist das, was man als Experi­ mentalpsychologie bezeichnen kann, sofern diese den Anspruch auf grundsätzliche Bedeutung erhebt« (HGA XVII, 59). Weiter: »Dieses eigentümliche Sein der Natur ist der unausgesprochene Horizont, in den hinein nun die Tatbestände genommen werden, die diese Psychologie unklar und willkürlich aus der Tradition aufnimmt: Phantasie, Wahrnehmung, Vorstellung« (ebd., 68f.). Entscheidend ist jedoch die folgende Anmerkung, die, ähnlich wie es für Husserl gilt, die Zweiseitigkeit der Beziehung Heideggers zur Psychologie anzeigt. Heidegger behauptet, dass »die Psychologie übersieht, daß ihr spezifisches Gebiet kein solches wie das der Naturwissenschaft ist« (ebd., 69). Es lässt sich, um es psychologisierend auszudrücken, eine gewisse Entrüstung gegenüber dem Stand der psychologischen Forschung feststellen, die sich aus der eigentlichen Erwartung speist, dass Psychologie anders denn als naturwissenschaftliche möglich sein müsste. Hier deutet sich also das konstruktive Potenzial von Heideggers bisweilen psychologie-feindlichen Position an. Dieses Potenzial einer existenzphilosophischen Reform der empirischen Psychologie ist vielfach und allemal euphorischer als es für die gegenstandsphänomenologische Perspektive gilt aufge­ nommen worden. Im deutschsprachigen Raum ist diese Euphorie beispielsweise von Detlef von Uslar getragen worden: »Auf dem Boden der Philosophie Heideggers ist eine neue Orientierung der Psychologie möglich« (von Uslar 1990, 1161). Den Ansatzpunkt findet er in einer Überwindung der cartesianischen Opposition des Subjektes zur Umwelt durch die Idee des In-der-Welt-Seins: Es ist klar, daß diese Auffassung der Welt einen unmittelbaren Zugang zu den Fragestellungen und Bedeutungszusammenhängen der Psycho­ logie eröffnet. Denn diese hat es in der Praxis immer mit den Verwei­

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4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie

sungszusammenhängen in der Lebenswelt und den Lebenssituationen eines Menschen zu tun. Alle Psychologie ist letztlich Deutung unseres In-der-Welt-Seins und unseres Daseins. So deutet zum Beispiel der Psychotherapeut seinem Klienten die Art und Weise, wie ihm seine Welt und seine Lebenssituation erscheint, und schafft ihm dadurch neue Perspektiven und neue Möglichkeiten des Handelns und Existie­ rens (ebd., 1163).

Eine noch stärkere Resonanz hat Heideggers Denken in der Psycho­ logie Nordamerikas erreicht. Selbst namhafte Forscher, am promi­ nesteten wohl Hubert Dreyfus (bspw. Dreyfus 1991), suchten den Bezug zur Fundamentalontologie, um Grundsatzfragen der kogniti­ ven Wissenschaften zu beantworten. Es muss dabei jedoch betont werden, dass sich diese Interpretationen vom Zusammenhang des phänomenologischen Diskurses abgelöst haben und oftmals idio­ synkratische Einzelexegesen oder Transformationen sind, statt eine Integration in dasjenige zu suchen, was sich mit einem wertvollen Ausdruck Schelers als ›phänomenologischer Streit‹ (vgl. SGW X, 391ff.) bezeichnen lässt, nämlich die kritische Bezugnahme auf alter­ native (phänomenologische) Denkrichtungen. Die Konvergenz zwischen Heidegger und Jaspers findet sich am Anfang der 1920er Jahre, insbesondere im Zusammenhang von Jas­ pers Psychologie der Weltanschauungen (1919). In einer ausführlichen kritischen Rezension, die Heidegger 1921 Jaspers unveröffentlicht zugesendet hat, lässt sich erkennen, dass die Gemeinsamkeit beider Autoren nicht die Psychologie als empirische, sondern als philoso­ phische betrifft: »Die konkrete Tendenz aber als Bemühung um das Ganze der Psychologie, um die prinzipielle Horizont- und Regionge­ winnung für sie, ist schon als ›philosophische‹ anzusprechen« (HGA IX, 2). Von Bedeutung wird die Psychologie qua Weltanschauungs­ psychologie, denn sie »schreitet die Grenzen der Seele ab« (ebd., 7). So wird ersichtlich, dass auch in dieser Phase der Grundlegung der existenziellen und hermeneutischen Phänomenologie Heideggers Interesse an der Psychologie Jaspers nicht auf empirische Zusammen­ hänge abzielte, wie sie etwa in dessen Allgemeiner Psychopathologie (1913) entwickelt worden sind, sondern sich allenfalls auf die Fundie­ rung der Wissenschaften, eigentlich aber auf streng ontologische oder epistemologische Sachverhalte richtete. Zugleich muss jedoch klarge­ stellt werden, dass kein Alleinvertretungsanspruch der existenziellen oder hermeneutischen Phänomenologie durch Heidegger vorliegt

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

oder gerechtfertigt werden kann und Jaspers psychologisches Schaffen folglich in anderen Kontexten relevant wird. An der Weggabelung zwischen existenzieller und hermeneuti­ scher Phänomenologie, die weitgehend jenseits von Heideggers Werk verläuft, werden andere Anschlussstellen oder zumindest Bezugs­ punkte für die Psychologie ermöglicht. Für die Hermeneutik, ins­ besondere Gadamer, zeigt sich allerdings keine Abwendung von der Grundausrichtung Heideggers. Das wird an einem Beispiel deut­ lich. In der vor-phänomenologischen Hermeneutik, die Gadamer kommentiert, findet sich bei Schleiermacher die Idee einer ›psycho­ logischen Hermeneutik‹, die durch ›grammatische Hermeneutik‹ komplementiert wird (vgl. Vedder 2003). Während diese beim Text­ verständnis auf eine »Gleichsetzung mit dem ursprünglichen Leser« (Berger 1988, 177) abziele, erfolge jene durch die »Gleichsetzung mit dem Verfasser« (ebd.). Trotz der Bedeutung der grammatischen Hermeneutik sei es letztlich, wie Grondin meint, die psychologische Orientierung der Hermeneutik Schleiermachers gewesen, »die am stärksten auf die Nachwelt (positiv bei Dilthey, negativ bei Gadamer) gewirkt hat« (Grondin 2001, 35). Neben Dilthey waren es Max Weber und Johann Gustav Droysen, die das Konzept der psychologischen Hermeneutik konstruktiv aufgegriffen haben (vgl. Köchler 1983). Ihr Denken konvergiert weitgehend mit dem zweiten Weg, auf dem auch Brentano schreitet, und ist für die Phänomenologie aus den oben artikulierten Gründen (Kapitel 2) als ›deskriptive Psychologie‹ wichtiger Bezugspunkt für eine kritische Abgrenzung. Eine praktische Umsetzung in der empirischen Psychologie für die Idee der hermeneutischen Psychologie findet sich, wie Hettlage argumentiert, ferner in der Psychoanalyse: »Psychologische Herme­ neutik nun soll die Selbstdurchsichtigkeit unseres Daseins erhöhen, indem sie das unerhellte Unbewußte, dessen Sinn bisher auch nicht bewußt werden durfte, von Verstehensblockaden befreit und damit seine Steuerungskraft kontrollierbar macht« (Hettlage 1988, 202). Diese Entwicklungslinie der hermeneutischen Psychologie ist allerdings weitgehend von der phänomenologischen Hermeneutik Gadamers unabhängig und steht vielmehr im Zusammenhang der ›hermeneutischen Wende‹ in den Sozialwissenschaften. Gadamers Rezeption von Schleiermachers Zweiteilung der her­ meneutischen Methode ist kritisch. Beispielsweise bemüht er sich um eine Desambiguierung des ›Verstehens‹ als fundamentaler her­ meneutischer Operation: »Verstehen als Nachvollziehen fremden

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4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie

Seelenlebens (psychologisch) und Verstehen als Begreifen von ›Sein‹ (Wirklichkeit). Beides wird – ohne Hinweis auf den grundlegenden kategorialen Unterschied – mit demselben Wort ›Verstehen‹ bezeich­ net« (Köchler 1983, 335). Von der psychologischen Interpretation schreibt Gadamer in Wahrheit und Methode: »Sie ist letzten Endes ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfas­ sung des Schriftstellers, eine Auffassung des inneren Herganges der Abfassung eines Werkes, ein Nachbilden des schöpferischen Aktes« (GGW I, 191). Die Bedeutung der psychologischen Hermeneutik kommentiert er allerdings folgendermaßen: Eine solche isolierende Beschreibung des Verstehens bedeutet aber, daß das Gedankengebilde, das wir als Rede oder als Text verstehen wol­ len, nicht auf seinen sachlichen Inhalt hin, sondern als ein ästhetisches Gebilde verstanden wird, als Kunstwerk oder ›künstlerisches Denken‹. Hält man das fest, so versteht man, warum es hier gar nicht auf das Verhältnis zur Sache (Schl. ›das Sein‹) ankommen soll. Schleiermacher folgt ästhetischen Grundbestimmungen Kants, wenn er sagt, daß das ›künstlerische Denken‹ ›nur unterschieden wird an dem größeren oder geringeren Wohlgefallen‹ und ›eigentlich nur der momentane Akt des Subjekts‹ ist (ebd.).

Unmittelbar ersichtlich ist, dass Gadamer die Psychologisierung der Hermeneutik widerstrebt, weil er an ihr eine Hypostasierung und Priorisierung des Subjektes ahnt. Diese Haltung ist im Rückblick auf Heidegger und auch Husserl nachvollziehbar, insofern als ein psychologischer Subjektivismus hinter der genuin phänomenologi­ schen Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung zurückbleibt. So ergibt sich für Gadamer mit Blick auf Dilthey das »Problem des Über­ gangs von der psychologischen zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften« (ebd., 228). Im Kern des Problems steht die Auffassung, dass in fundamentalontologischer Betrachtung die Psychologie einer Begründung verlangt. Gadamer meint also, »[d]aß jeglicher Vorgang des Verstehens eines Menschen durch einen jeweils vorausgesetzten praktischen ›Weltvollzug‹ des Interpretierenden fun­ diert ist und daß somit eine existenzialontologische ›Hermeneutik‹ jegliche psychologische Hermeneutik fundiert« (Köchler 1983, 336). Es sei jedoch angemerkt, dass auch in der hermeneutischen Phäno­ menologie keine ausschließliche Ablehnung der Psychologie erfolgt ist. Gadamer findet lobende Worte für den Marburger Neukantianer Natorp, der in seiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888) die Entwicklungstendenzen der Kantischen Psycho­

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

logie fortgesetzt habe und so »der herrschenden Psychologie entge­ gentrat« (GGW I, 74). Nichtsdestoweniger wendet er sich gegen die experimentelle Methode im naturwissenschaftlichen Sinne und damit implizit auch gegen ihre Anwendung in der Psychologie, um ihr dann eine andere Idee des Experimentes gegenüberzustellen, die mit Schelers Idee des Veranschaulichungsexperiments verwandt ist: Die Methode, die Bacon fordert, nennt er selbst eine experimentelle. Dabei ist aber zu bedenken, daß das Experiment bei Bacon nicht immer nur die technische Veranstaltung des Naturforschers meint, der unter isolierenden Bedingungen Abläufe künstlich herbeiführt und meßbar macht. Experiment ist vielmehr auch und vor allem die kunstvolle Leitung unseres Geistes, der verhindert wird, sich voreiligen Verallgemeinerungen zu überlassen, und der bewußt die Beobachtungen, die er an der Natur anstellt, zu variieren, bewußt die entlegensten, scheinbar am meisten voneinander abstehenden Fälle zu konfrontieren, und so schrittweise und kontinuierlich auf dem Wege eines Ausschließungsverfahrens zu den Axiomata zu gelangen lernt (ebd., 354).

Zur methodologischen Prägung einer phänomenologisch-hermeneu­ tischen Psychologie kommt es nicht und die Bezugnahme auf den intradisziplinären Diskurs der Psychologie bleibt statisch und äußer­ lich, doch – wie erwähnt – sind mehrere Anregungen aus der Hermeneutik in der Psychologie aufgenommen worden. Weil diese Übernahme von Ideen allerdings nicht systematisch erfolgt ist, bleibt das Grundproblem der phänomenologischen Psychologie erhalten, das auch für die psychologischen Transzendentalphänomenologie aufkommt: Die Ansätze, die in Anlehnung an die Hermeneutik ent­ stehen, sind nicht im eigentlichen Sinne experimentalpsychologisch oder nicht zum konstruktiven Dialog mit der Experimentalpsycho­ logie fähig, sondern gehören zur Peripherie des kognitionswissen­ schaftlichen Diskurses. Für die existenzielle Phänomenologie im engeren Sinne, der sich insbesondere unter dem Einfluss der französischen Phänomenologie herausgebildet hat52, ist die Beziehung zur Experimentalpsychologie komplexer als es für die Hermeneutik gilt. Dies zeigt sich z.B. in 52 Die Unterscheidung Bollnows zwischen »deutscher Existenzphilosophie und fran­ zösischem Existenzialismus« (Bollnow 1947) ist auch sinnvoll, um die Entwicklungs­ linie in der phänomenologischen Bewegung, die an dieser Stelle als ›existenzielle Phänomenologie‹ bezeichnet wird, zu klassifizieren.

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4.3 Psychologische Hermeneutik und Existenzphänomenologie

Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, die zwar nicht im Kern, so doch aber im Umkreis der Existenzphänomenologie steht. Merleau-Pontys Kritik am Behaviorismus sowie seine konstruktive Bezugnahme auf die Gestaltpsychologie entbehren der argumentati­ ven Ferne zur Empirie, die für Heideggers Denken gilt. Das gilt auch für Merleau-Pontys frühere Arbeiten wie Die Struktur des Verhaltens (original 1942), seine Promotionsarbeit, die bereits im Titel den Einfluss des Psychopathologen Kurt Goldsteins erkennen lässt. Der Beitrag der existenziellen Phänomenologie schlechthin bleibt jedoch vornehmlich kritisch, insbesondere gegenüber dem experimentalpsy­ chologischen Objektivismus: Die Psychologie, sagt Sartre in seinem Abriß einer Theorie des emotio­ nalen Bewußtseins, ist eine Disziplin, die positiv, d.h. rein empirisch vorgehen will. Sie will sich nur auf dem Boden von Tatsachen bewegen. Die Tatsachen sind füreinander und für den sie Betrachtenden äußer­ lich. Die Psychologie auf Tatsachen gründen, heißt es bei Psychologen dieser Richtung, bedeutet Psychologie zu einer objektiven Wissen­ schaft erheben. In Wirklichkeit aber ermöglichen reine Tatsachen nicht einmal eine Umgrenzung des Gebietes der Psychologie. Von reinen Tatsachen kommt man nie zum Wesen, höchstens zu empirischen Schemen und Gesetzen von hypothetischer Relevanz. Die empirische Psychologie betrachtet körperliche Reaktionen, Verhaltensweisen und den eigentlichen Bewußtseinszustand als unterschiedene Vorgangs­ phasen und sucht zwischen diesen Faktoren eine nicht umkehrbare zeitliche Ordnung festzustellen. Dieser Art Psychologie setzt nun Sartre die Phänomenologie entgegen (Patočka 1968, 176f.).

Hier wiederholen sich mehrere Motive, die für die Phänomenologie schlechthin charakteristisch sind, etwa der Zweifel an der Eignung von tatsachen- und naturwissenschaftlicher Methodologie für das Verständnis des Seelenlebens. In der Opposition des phänomenologi­ schen Ansatzes lässt sich erneut erkennen, wie eine statische Charak­ terisierung der Psychologie die Möglichkeit des Dialogs unterminiert. Die bloße Kontraposition der phänomenologischen Wissenschaft führt nicht zu einer konstruktiven Veränderung der Experimentalfor­ schung. Daher ist es begrüßenswert, dass Sartre – zumindest in Patočkas Lesart – die phänomenologische Wesenserkenntnis nicht anstelle der empirischen Forschung vorschlägt, sondern als Ergän­ zung: »Ohne auf Erfahrung als Grundlage dieser Wissenschaft zu ver­ zichten, erweitert die Phänomenologie die Erfahrungsidee auf Wesen­ heiten und Werte« (ebd., 177). Für die konkrete Realisierung dieses

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4. Psychologische Phänomenologie als philosophische Forschung

Entwicklungspotenzials greift Sartre Heideggers Daseinsanalyse auf: »Er deutet das Heideggersche Dasein als Selbstbezug des Bewußt­ seins, wobei das Sich-verstehen des Bewußtseins die Existenzweise des Daseins ist« (ebd.). Dabei tritt auch das für Merleau-Pontys Denken charakteristische Thema der Leiblichkeit auf den Plan: »Der subjektive Leib ist ein doppelt Unausdrückliches, Unthematisches: Als praktisches Walten und Verhalten, als Wahrgenommen-werdenkönnen. In diesem doppelten Können ruht die welteröffnende Macht des Leibes« (ebd., 182). Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass die existenzielle Phänomenologie im Gegensatz zur Hermeneutik dazu in der Lage gewesen ist, auf Augenhöhe mit der Experimentalpsychologie zu argumentieren und mit verschiedenen Thematiken einen Dialog zu lancieren – allerdings erst mit der Weiterentwicklung über Heidegger hinaus. Der bereits erwähnte Leibbegriff, aber auch die Thematik der Intersubjektivität sind dabei von herausragender Bedeutung und finden sich in zeitgenössischen kognitionswissenschaftlichen Para­ digmen wie Enaktivismus und Embodiment wieder (Noë 2004; Fuchs 2008). Es müssen jedoch zweierlei Kommentare ergänzt werden. Erstens sind die besagten Themenkomplexe (Leib, Intersubjektivi­ tät) zwar historisch durch die Existenzphänomenologie begünstigt worden, aber keinesfalls für ihren Diskurs exklusiv. Sie können auch transzendental- und gegenstandsphänomenologisch eingeholt werden. Zweitens bleibt in entscheidender Weise die methodologi­ sche Bezugnahme auf die Experimentalpsychologie aus. Daher ist es gerechtfertigt, von diesen Tendenzen innerhalb der Existenzphäno­ menologie als psychologische Phänomenologie und noch nicht als phänomenologische Psychologie i.e.S. zu sprechen. Diese Formen der Forschung, in denen tatsächliche empirische Forschung mit phä­ nomenologischen Mitteln zu unternehmen versucht worden ist, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

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5. Phänomenologie in der Psychologie

Es hat sich gezeigt, dass die Idee der psychologischen Phänomeno­ logie in den verschiedenen Richtungen der phänomenologischen Bewegung auf unterschiedliche Weise interpretiert worden ist. Trans­ zendentale und hermeneutische Phänomenologie weisen die Experi­ mentalpsychologie als Gesprächspartnerin eher zurück oder opponie­ ren ihr, indem sie ihr in statischer Charakterisierung Naturalismus als Kernmerkmal zuschreiben. Existenzielle und Gegenstandsphä­ nomenologie nehmen nicht auf dieselbe Weise Abstand, doch es gelingt ihnen nicht, oder – wie bei Merleau-Ponty und Scheler – nur im Ansatz, auf die Experimentalmethodologie konzeptuell ein­ zugehen. Ein Beispiel ist die Bezugnahme von Phänomenologinnen und Phänomenologen auf Gestalt- und Denkpsychologie. So finden sich zwar Kommentare zum epistemologischen Hintergrund oder die allgemeine Anerkennung der Forschungsbemühungen, doch die Teilnahme am innerpsychologischen Diskurs bleibt letztlich aus. In diesem weiteren Schritt der Teilnahme auf Ebene methodologi­ scher Fragestellungen besteht jedoch der Übergang von psycholo­ gischer Phänomenologie zu phänomenologischer Psychologie im engeren Sinne. Die Schwierigkeiten, mit denen die psychologische Phänome­ nologie in der Auseinandersetzung mit der Experimentalpsycholo­ gie konfrontiert gewesen ist, lassen sich mit einigen Stichpunkten zusammenfassen. Erstens ist es mehrheitlich nicht gelungen, die Anschlussfähigkeit philosophischer Terminologie und Reflexion an empirische Forschung zu gewährleisten. Ein Fundierungsverhältnis ist wiederholt behauptet, doch die Relevanz des phänomenologischen Fundaments für das experimentalpsychologische Gebäude nicht aus Perspektive der Wissenschaft selbst, sondern stets nur im philosophi­ schen Diskurs erwiesen worden. Am Beispiel gesprochen bedeutet dies, dass eine empiristisch verfahrende Psychologie zwar epistemo­ logisch infrage stand, aber die Konsequenzen ihrer Fragwürdigkeit für die empirische Arbeit ohne Bedeutung blieb, weil die philosophische Kritik nicht bis in diesen Bereich reichte. Zweitens wurde das Ver­

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5. Phänomenologie in der Psychologie

hältnis zwischen philosophischer Phänomenologie und Psychologie oftmals als dasjenige einer Abgrenzung von der Naturwissenschaft artikuliert. Entsprechend wurde Distanz, beispielsweise durch eine statische Charakterisierung der Experimentalpsychologie, auf- statt abgebaut. Drittens muss dem historischen Umstand Rechnung getra­ gen werden, dass die Philosophie spätestens seit dem beginnenden 20. Jahrhundert im Angesicht selbstständiger Wissenschaften mit einer Legitimitätseinbuße zu kämpfen hatte (zu diesem historischen Zusammenhang s. Benetka 2021). Für die phänomenologische Bewe­ gung bedeutet das konkret, dass sich geisteswissenschaftliche Ansätze wie die Psychologie Pfänders ursprünglich auf die zwar schwindende, aber gesamtwissenschaftlich noch einflussreiche philosophische Tra­ dition gründen konnten, über die Entwicklung des 20. Jahrhunderts hinweg dieser Geltungsanspruch auf Grundlage philosophischer Argumente allein für die Relevanz im innerwissenschaftlichen Dis­ kurs nicht mehr ausreichen konnte. Anders gesagt: Die Tauglichkeit phänomenologischer Psychologie kann nicht allein in der psychologi­ schen Phänomenologie, also im philosophischen Diskurs, erwiesen werden, sondern verlangt die Bewährung in der Experimentalpsycho­ logie. Die Bewältigung dieser Schwierigkeiten ist der Prüfstein für die phänomenologische Psychologie i.e.S. Sie grenzt sich von psy­ chologischer Phänomenologie dadurch ab, dass sie eine innerpsy­ chologische Forschungsorientierung vorweist und dementsprechend zumindest einen methodologischen Bezug zur Experimentalpsycho­ logie unterhält oder gar ihr Bestandteil ist. Das bedeutet nicht, dass jede Untersuchung phänomenologischer Psychologie in diesem Sinne durch einen Versuchsplan oder eine Experimentalmanipulation ausgezeichnet sei. Das gilt ebenso wenig für andere Beiträge zur Experimentalpsychologie. Es bedeutet, dass die Orientierung an der Empirie über die Wissenschaftstheorie hinausgeht und tatsächliche Erhebungen entweder besprochen oder durchgeführt werden. Welche Facetten der Forschungspraxis im Einzelnen dieser Charakterisierung entsprechen, wird im Folgenden erläutert. Der Blick fällt dabei jedoch erneut nicht auf den historischen Hintergrund, der an anderer Stelle skizziert worden ist (bspw. Wendt 2021a)53. Stattdessen dienen die 53 Eine erschöpfende wissenschaftsgeschichtliche Darstellung ist noch nicht erfolgt und würde für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie eine sinnfällige Grundlage schaffen.

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5. Phänomenologie in der Psychologie

nachstehenden Beispiele dazu, den systematischen Zusammenhang zu verdeutlichen. Es gibt keine einheitliche phänomenologische Psychologie i.e.S. Es lässt sich vermuten, dass dieser Umstand ebenso wie die Diversität der psychologischen Phänomenologie auf den für die phänomeno­ logische Bewegung charakteristischen Pluralismus zurückzuführen sei, doch im innerdisziplinären Rahmen der Psychologie betrachtet muss ein anderer Maßstab angelegt werden. So ist es zwar denkbar, dass verschiedene Ansätze der Theoriebildung, interpretative Para­ digmen oder Formen der Hypothesengenerierung koexistieren, doch empirische Forschung in der Psychologie strebt letztlich nach Verein­ heitlichung auf dem Wege der methodologischen Standardisierung. Somit ist der Bestand an verschiedenen Ansätzen der phänomeno­ logischen Psychologie nur sekundär Ausdruck phänomenologischer Heterogenität und primär Resultat mangelnden Erfolgs. Wenn phä­ nomenologische Psychologie systematisch von einer Gruppe statt Einzelpersonen betrieben worden ist, konnte es bisher noch nicht zur Bildung eines eigenständigen Paradigmas kommen. Lediglich die Forschungsgruppe aus Pittsburgh und die sog. Kopenhagener Schule (s. Abschnitt 5.2) sind in dieser Hinsicht in Richtung der Systematisierung vorangeschritten, doch in letzter Instanz nicht über eine regionale Stabilisierung hinausgelangt. Dieses Kapitel untersucht, welche Ansätze historisch bestanden haben, um den Schritt von psychologischer Phänomenologie zur phänomenologischen Psychologie i.e.S. zu gehen. Diese Ansätze sind es, die als mehr oder weniger gelungen die Vorläufer für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie bilden, deren Pro­ gramm im zweiten Teil dieser Arbeit vorgestellt werden wird. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es also, einen Eindruck von den methodologischen Perspektiven zu vermitteln, die durch die in der bisherigen Geistesgeschichte entwickelten Formen phänome­ nologischer Psychologie eröffnet worden sind. Dabei lassen sich vier Gruppen voneinander unterscheiden (vgl. Wendt 2020b): Ers­ tens die Psychologi naturaliter phaenomenologici, also psychologisch forschende Phänomenologinnen und Phänomenologen, die dieser zeitlich vorhergehend und daher ohne die methodologische Bestre­ bung eine phänomenologische Psychologie zu etablieren bereits experimentalpsychologische Forschung betrieben haben, die mit der Idee der phänomenologischen Psychologie konvergiert. Zweitens gibt es regionale Gruppierungen, die eine experimentalpsychologische

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5. Phänomenologie in der Psychologie

Methodologie phänomenologischer Prägung im weiteren Sinne ent­ wickelt haben. Damit sind Ansätze gemeint, die – ähnlich Pfänders Forschung – zwar empirische Forschung betreiben, darunter aller­ dings vornehmlich Selbst- und Fremdberichtforschung (qualitative Forschung) verstehen, also keine Experimente im eigentlichen Sinne durchführen. An dieser Stelle soll der nicht unmissverständliche Ausdruck ›erlebniswissenschaftlicher phänomenologischer Psycho­ logie‹ in einem methodologischen Sinne verwendet werden, der zwar streitbare Konnotationen trägt, aber den wesentlichen Unter­ schied zur nächsten Gruppe gut hervorhebt. Von ihnen grenzen sich nämlich drittens diejenigen Ansätze ab, die Psychologie als phänomenologische Verhaltenswissenschaft54 zu etablieren versucht haben, also um eine experimentalpsychologische Methodologie im engeren Sinne bemüht waren. Diese Gruppierungen kommen der Idee der phänomenologischen Psychologie als authentischem Beitrag zur Experimentalpsychologie am nächsten und sollen kursorisch als ›erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psy­ chologie‹ bezeichnet werden. Viertens ist eine offene Menge von nicht regional Gruppierten zu nennen, die einen kontinuierlichen Beitrag zur phänomenologischen Psychologie i.w.S. leisten bzw. geleistet haben, ohne schul- oder paradigmenbildend zu wirken. Die folgende Darstellung muss exemplarisch bleiben, denn his­ toriografische Vollständigkeit ist an dieser Stelle nicht unser Ziel, sie muss für spätere Arbeiten, die sich an der Ausführlichkeit der phä­ nomenologie- und psychologiegeschichtlichen Traditionen messen, vorbehalten bleiben. Folglich werden in den Abschnitten dieses Kapi­ tels verschiedentlich Beiträge außer Acht gelassen. Insbesondere die internationale Forschung zur phänomenologischen Psychologie ver­ langt einer eigenständigen wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung an anderer Stelle, doch auch der deutschsprachige Diskurs kann hier nicht erschöpfend abgebildet werden. So bleiben ältere (bspw. Paul Ferdinand Linke), aber auch jüngere Beiträge (bspw. Dieter Münch) unbeachtet. Wir behalten uns vor, dieses Versäumnis in Zukunft nachzuholen. Wertvolle Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der 54 Die Beschreibung der Psychologie als Erlebnis- und Verhaltenswissenschaft ist strittig. In der jüngeren theoretischen Psychologie ist der Dichotomie der Begriff der Handlung gegenübergestellt worden. Auch in der phänomenologischen Psychologie wurde eine Kritik der Begriffe Erlebnis und Verhalten entwickelt (bspw. Graumann, 1960). Eine integrative Begrifflichkeit ist ›Erfahrungswissenschaft‹.

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5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici

phänomenologischen Psychologie liegen bei Spiegelberg (1972) und Herzog (1992) vor.

5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici Schon Aristoteles ist als anima naturaliter phaenomenologica (Gada­ mer 1987, 20) bezeichnet worden, als Phänomenologe avant la lettre. Zahlreiche philosophische, aber auch psychologische Gedanken las­ sen sich in ähnlicher Weise als proto-phänomenologisch klassifizie­ ren und ein Ausschluss aus dieser geistesgeschichtlichen Ahnenfolge ist im Einzelfall schwer zu rechtfertigen. Klug ist es jedoch, diese Ahnherrenschaft nicht inflationär zu behaupten, da mit ihr auch die Kontur der bereits ohne diese Erweiterung heteromorphen phänome­ nologischen Bewegung geopfert wird. Nichtsdestoweniger lässt sich mit dem Blick auf die Idee eines phänomenologischen Beitrags zur Experimentalpsychologie, also der phänomenologischen Psychologie i.e.S., guten Gewissens von einer Reihe protophänomenologischer Diskurse sprechen. Es seien an dieser Stelle drei wichtige Bezüge her­ gestellt. 1. Carl Stumpf war Schüler Lotzes – so »lernte Stumpf bei Lotze grundsätzlich zwischen Beschreibung, Erklärung und teleologischer Deutung zu differenzieren« (Herzog 1995, 269) – und Freund Bren­ tanos, auf dessen Lehrstuhl in Würzburg er bei seinem Abgang nach Wien 1873 nachfolgte. Bereits diese beiden persönlichen Verbindun­ gen sind für die Psychologiegeschichte von großer Bedeutung, doch darüber hinaus hat Stumpf mit zahllosen weiteren Pionieren der Geisteskultur seiner Zeit in engem Kontakt gestanden, etwa Marty, Mach, James und nicht zuletzt Husserl, dessen Habilitation (1887) er während seiner Professur in Halle betreute. Bereits zu diesem Zeit­ punkt konnte Stumpf als Pionier auf dem Gebiet der Tonpsychologie eine prägende Wirkung auf die Psychologie und Philosophie seiner Zeit entfalten. Es ist daher nicht abwegig, Stumpf als Gründervater oder zumindest einen der Gründerväter der phänomenologischen Bewegung zu betrachten (vgl. Kaiser-El-Safti & Werbik 2021). Diese bereits beindruckende wissenschaftlich Karriere kam aller­ dings erst mit dem Antritt von Stumpfs Professur in Berlin zu ihrem Höhepunkt. Dabei ist insbesondere von Bedeutung, dass er als Initiator der Gestaltpsychologie gelten kann. Zu seinen Schülern gehörten Köhler, Koffka, Lewin, Brunswik oder Gelb. Insofern als

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5. Phänomenologie in der Psychologie

die Ton- und Gestaltpsychologie durch elaborierte Experimentalpsy­ chologie ausgezeichnet sind, ist Stumpf als Paradebeispiel eines phä­ nomenologischen Psychologen zu betrachten. Mehr noch als seine gestaltpsychologischen Schülerinnen und Schüler, denen oftmals die Experimentalpsychologie näher als die Philosophie gestanden hat, ist ausschlaggebend, dass Stumpf zeitlebens einen konstruktiven Beitrag zu beiden Disziplinen geleistet hat. Angesichts seines Erfolgs liegt die Frage nahe, weswegen es Stumpf nicht gelingen konnte, dauerhaft eine phänomenologische Psychologie stricto sensu zu etablieren. Es handelt sich dabei um eine kontroverse exegetische Frage. An dieser Stelle sei als Antwort erwogen, dass für Stumpf die konzeptuelle Bewegung natürlicher Weise von der Experimentalforschung in die geistesgeschichtlich hegemoniale Philosophie hineinwirkte. Zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts war es kaum absehbar, dass die Stellung der Philosophie zur Experimentalpsychologie in der folgenden Zeit bis zur Bedeutungs­ losigkeit herabsinken würde. Die Bewegung der Erneuerung muss daher einen umgekehrten Akzent vorweisen: Nicht die Experimental­ psychologie erweist ihre Bedeutung für die Philosophie, sondern die Philosophie erweist, dass mit ihrer Hilfe die Experimentalpsychologie besser gelingen kann. 2. Die Grazer Schule um Alexius Meinong hat ihre psycholo­ giegeschichtliche Bedeutung durch einen kontroversen Beitrag zur Wahrnehmungspsychologie erhalten. Die mit Christian von Ehren­ fels in Verbindung stehende Entdeckung der sog. Gestaltqualitäten stellte eine gewichtige Herausforderung für das elementaristische Verständnis der Wahrnehmung durch die Assoziationspsychologie dar. Gestaltqualitäten hat von Ehrenfels an denjenigen Erlebnissen festgestellt, in denen Sinneseindrücke nicht allein nebeneinander, sondern in Relation zueinander erscheinen, so etwa beim Blick in den Himmel und auf die Sterne, die als organisierte Vielheit wahr­ genommen würden. Meinong (1907) versuchte, das von seinem Schüler aufgezeigte Phänomen mit seiner sog. Gegenstandstheorie zu erklären. Im Kern stand dabei, dass die bloßen Sinneseindrücke als inferiora der Wahrnehmung, d.h. als elementare Sinnesreizungen, um superiora ergänzt würden, also Gegenstände höherer Ordnung, die durch die Inferiora fundiert seien wie Melodien durch einzelne Töne. Von der Lehre der Gestaltpsychologie unterscheidet sich der Ansatz der Grazer Schule in verschiedenen, insbesondere theoreti­ schen Hinsichten. Gurwitsch hat den Bezug zwischen der Grazer

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5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici

Schule und der Phänomenologie hervorgehoben. So habe Meinong beispielsweise Husserls Begriff der »kollektiven Verbindung« (Gur­ witsch 1975, 55) in seiner Gegenstandstheorie verwendet, und Hus­ serl umgekehrt die »Unterscheidung zwischen vorgestelltem Gegen­ stand und Vorstellung« als einen »überaus wertvolle[n] Beitrag der Grazer Schule« (ebd., 58f) diskutiert. Gemeinsam sei der Grazer Schule und den phänomenologischen Überlegungen, dass bei dem Verständnis der Gestaltqualitäten, die bei Husserl als »figurale Momente« bezeichnet werden, die Konstanz­ annahme, »daß Sinnesdaten durch sinnliche Gegebenheiten höherer Ordnung – die sie fundieren – weder modifiziert noch qualifiziert werden« (ebd., 78) nicht aufgegeben wird: hierin besteht der Gegen­ satz zur Gestaltpsychologie. Daraus folgt, dass die Grazer Schule und die Phänomenologie bei der Beschreibung von Gestaltqualitäten nicht-sinnliche Gegebenheiten thematisieren. Die superiora sind hier also nicht selbst in den Sinneseindrücken, sondern in anderen, die Vielheit der Sinneseindrücke organisierenden Akten gegeben – wobei diese Akte bei Husserl gleichfalls anschaulich, aber nicht sinnlich sind. Den inferiora entsprechen in Husserls Denkart die Apperzeptionen oder Auffassungen genannten Akte, während superiora mit den kom­ plexen Akten, die sich durch ein Fundierungsverhältnis auszeichnen, parallelisiert werden können. Eine Kritik dieser Bestimmung der Erfahrung findet sich bei Asemissen (1957). Es ist unstrittig, dass die Arbeit der Grazer Schule, deren pro­ duktivste Schaffensphase in den Zeitraum 1880–1920 fällt (Stock 1989), als Experimentalpsychologie gelten kann. Allerdings muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass in der Experimen­ talforschung des beginnenden 21. Jahrhunderts Fragen der Wahr­ nehmungspsychologie selten von Bedeutung sind. Während diese Fragen bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert worden sind, haben sie ihre Bedeutung mit dem Erstarken des Kognitivismus verloren. Eine weitere Einschränkung muss dahin­ gehend ausgesprochen werden, dass es zwar Konvergenz zwischen Grazern und der Phänomenologie gegeben hat, doch nicht erwartet werden kann, dass sich aus der Arbeit der Grazer Schule der Gedanke einer phänomenologischen Psychologie selbstständig entwickelt. Die Forschung aus Graz ist zwar auch durch philosophischen Anspruch ausgezeichnet gewesen, doch nicht im Sinne eines aktiven Beitrags zur phänomenologischen Bewegung.

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5. Phänomenologie in der Psychologie

3. Die Denkpsychologie weist hingegen ein komplexeres Ver­ hältnis zur Phänomenologie vor (vgl. Wendt 2019b). 1894, also in dem Jahr, in dem Meinong in Graz das erste österreichische Experimentallabor für Psychologie etablierte, wurde Oswald Külpe, ein Schüler Wundts, nach Würzburg berufen, wo er 1896 das Institut für Psychologie einrichtete. In dieser Zeit war Külpes eigenes Forschen eher durch den Wunsch der Radikalisierung der physiologischen Psy­ chologie über Wundts Position hinaus interessiert. Sie wandelte sich jedoch dank der Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragen seiner Zeit zu einem wichtigen Beitrag zu einer Psychologie, die ihre Experimentalmethodik zur Untersuchung komplexerer Erfahrungen verwendete, statt sich im Labor auf möglichst schlichte Reize zu beschränken. In der zeitgenössischen Terminologie des Kognitivis­ mus findet sich dieser Gegenstandsbereich unter dem Titel ›höhere kognitive Funktionen‹, doch seinerzeit war die Forschergruppe um Külpe bis 1909 in Würzburg und dann in Bonn an der Untersuchung von Gedanken, Gefühlen und Willensregungen interessiert. Auf diese Weise ergibt sich die Nähe zur Phänomenologie, deren Bewusstseinsund Aktbegriff ein konzeptuelles Fundament für die empirische Untersuchung der höheren kognitiven Funktionen bietet. Innerhalb der Denkpsychologie lassen sich zwei Entwicklungen als Beispiel nennen, um die Arbeitsweise der Denkpsychologinnen und -psychologen zu verdeutlichen. Erstens waren sie um die Standar­ disierung der Fremdbeobachtung durch die sog. systematische expe­ rimentelle Selbstbeobachtung bemüht. Der Grundgedanke, der bis in den gegenwärtigen Kognitivismus wirkt, ist dabei, dass es möglich ist, durch eine Aufteilung der experimentellen Aufgaben auf Versuchs­ person und -leiter Kontrollierbarkeit herzustellen. Diese methodolo­ gische Stoßrichtung ist kontrovers, da sie einem naiven Introspektio­ nismus Vorschub leistet und daher zurecht infrage gestellt worden ist, beispielsweise durch Wundt, der die Vorgehensweise als ›Ausfra­ geexperimente‹ karikierte. Dennoch birgt die Vorgehensweise der Würzburger größeres Potenzial, als dem kritischen Auge scheinen mag (Benetka & Slunecko 2021). Durch eine Ergänzung der Vor­ gehensweise um eine phänomenologische Epistemologie kann die Gefahr des Introspektionismus thematisiert und vielleicht sogar über­ wunden werden. Diese methodenkritische Weiterentwicklung der Denkpsychologie hat eine Entwicklungslinie bis zur ›phänomenolo­ gischen Orientierung in der Psychologie‹, also dem erlebnis- und

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5.1 Psychologi naturaliter phaenomenologici

verhaltenswissenschaftlichen Ansatz, der in Heidelberg entwickelt worden ist. Zweitens steht im Mittelpunkt des psychologischen Interesses der Würzburger dasjenige, was Mayer und Orth 1901 zum ersten Mal experimentell festgestellt haben und mit dem Ausdruck »Bewusst­ seinslage« bezeichneten. Es handele sich dabei um etwas, das die Versuchspersonen »weder als bestimmte Vorstellungen, noch auch als Willensacte bezeichnen konnten« (Mayer & Orth 1901, 5). Die Deutung dieses eigenwilligen Zustands, der sich der psychologischen Klassifizierung entzieht, ist das Faszinosum der Denkpsychologie und stellt für die naturalistische Psychologie eine ähnliche Herausfor­ derung dar wie die Gestaltqualitäten. Entscheidend ist dabei, dass Bewusstseinslagen im Gegensatz zu Vorstellungen ohne Gegebenheit einer Anschauung erlebt werden. Messer greift auf Konzepte wie Bedeutungshaftigkeit oder Begrifflichkeit zurück, um die eigenwilli­ gen Bewusstseinslagen zu erklären, denen er ferner mit der Idee des »Sphärenbewusstseins« (Messer 1906, 77) habhaft zu werden versucht. Die größte Nähe zur Phänomenologie erreichen in diesem Zusammenhang Bühler (1907) und Lindworsky (1916). Die Problemstellungen der Denkpsychologie sind, das lässt sich an beiden Beispielen nachvollziehen, mit denjenigen der Phä­ nomenologie verwandt. Die Bezüge zwischen beiden Denkrichtun­ gen sind, wie zuvor passim angeführt, vielfältig, wenn auch nicht immer kooperativ. Neben Husserls Zurückweisung Messers steht etwa Schelers Offenheit für seinen Kölner Kollegen Lindworsky. Es handelt sich gleichsam um eine der fruchtbarsten Beziehungen zur Experimentalpsychologie, die die Phänomenologie unterhalten hat. Es ist jedoch ein historisches Faktum, dass der Denkpsychologie keine Kontinuität beschieden blieb. Spätestens seit den 1920er Jahren ist die Forschungsrichtung nicht wesentlich fortgesetzt worden bzw. durch andere, oftmals kognitivistische Strömungen verdrängt wor­ den. Allerdings finden sich in der allgemeinen Psychologie der Gegen­ wart noch immer Spuren der Denkpsychologie und somit auch die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Dialogs (vgl. Wendt 2019b).

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5. Phänomenologie in der Psychologie

5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie Anders als die zuvor genannten psychologi naturaliter phaenomeno­ logici haben die folgenden experimentalpsychologischen Ansätze in ihrer Konzeption expliziten Bezug auf die Phänomenologie genom­ men. Dabei entspricht ihre Grundausrichtung jedoch stärker demjeni­ gen, was Spranger im Anschluss an seinen Lehrer Dilthey ›geisteswis­ senschaftliche Psychologie‹ genannt hat (vgl. Gundlach 2014). Damit ist auf die methodologische Kontroverse innerhalb der empirischen Psychologie Bezug genommen, die einen zergliedernden, naturwis­ senschaftlichen von einem beschreibenden, geisteswissenschaftlichen (im obigen Sinne: verstehenden) Ansatz abgrenzt. Es bedarf kaum einer Erläuterung des Umstandes, dass die momentan konsensuelle operationalistische Praxis stärker der Idee der naturwissenschaftli­ chen Forschung entspricht. Es ist möglich, im Umgang mit dieser Kontroverse so weit zu gehen, dass geisteswissenschaftliche Forschung aus der Experimen­ talpsychologie ausgeschlossen bzw. als ihr nicht zugehörig aufgefasst wird. Im Sinne der phänomenologischen Wissenschaftstheorie (bspw. Herzog 1992) soll davon an dieser Stelle jedoch Abstand genommen werden. Anstelle einer methodologischen Sezession wird Integration begünstigt. Deswegen werden die phänomenologischen Konzepte in diesem Abschnitt nicht als geistes-, sondern als erlebniswissenschaft­ liche vorgestellt55. Das bedeutet allerdings auch, dass diese Ansätze Kritik verlangen, insofern als ihre bloß erlebniswissenschaftliche Methodologie die verhaltenswissenschaftliche Facette der Experi­ mentalpsychologie vernachlässigt. Phänomenologische Psychologie kann so keine ausreichende Wirkung auf die Experimentalpsycholo­ 55 Während die Opposition von Geistes- und Naturwissenschaft als methodologische Dichotomie zu verstehen ist, benennen Erlebnis- und Verhaltenswissenschaft Facetten einer ansonsten ganzheitlich verstandenen Psychologie. Die Gefahr, die von dieser begrifflichen Alternative ausgeht, ist, dass der methodische Kontrast zwischen Geis­ tes- und Naturwissenschaften unterschätzt wird. Denkbar wird die Annahme, die Ein­ sichten der verhaltenswissenschaftlichen Experimentalpsychologie ließen sich auch erlebniswissenschaftlich gewinnen. Diese Auffassung ist etwa in Pfänders Denken angelegt. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, machen wir darauf aufmerksam, dass eine rein erlebniswissenschaftliche Forschung nicht im vollgültigen Sinne am experimentalpsychologischen Diskurs teilzuhaben vermag, also in der Peripherie der empirischen Psychologie bleibt. Die Erneuerung der phänomenologischen Phänome­ nologie verlangt, das Problem der Verhaltenswissenschaft zu konfrontieren.

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5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

gie entfalten. Für die nachstehenden sieben erlebniswissenschaftli­ chen Ansätze der phänomenologischen Psychologie besteht daher das Desideratum einer systematischen experimentalmethodologischen Erweiterung zugunsten der Verhaltenswissenschaft. 1. Die Kopenhagener Schule der Phänomenologie nimmt von Edgar Rubin ihren Ausgang. Der Däne Rubin hatte ab 1911 einige Jahre in Göttingen als Assistent des Assoziationspsychologen Georg Elias Müller verbracht und in diesem Zusammenhang auch bei Husserl Vorlesungen zur Phänomenologie gehört (Huggler 2018). Rubin war allerdings nicht von Husserls Ansatz überzeugt und entwi­ ckelte einen stärker von Müller und dessen Assistenten David Katz beeinflussten Ansatz mit dem Namen ›aspektivische Psychologie‹ (aspective psychology, vgl. Pind 2014). Der Grazer Schule sowie der Gestaltpsychologie ähnlich setzte sich diese Forschungsrichtung mit der Gegebenheitsweise von Ganzheiten in der Wahrnehmung ausein­ ander. Der ›Kopenhagener Schule der Phänomenologie‹ hat Rubin letztlich nur vorgearbeitet. Seine Schüler Edgar Tranekjaer-Rasmus­ sen, Franz From und Ib Moustgaard haben der regionalen Gruppie­ rung – wobei sich der Schwerpunkt teilweise nach Aarhus verlagert hat – ihren phänomenologischen Charakter verliehen. Rasmussen ist vor allem für die Entwicklung der intersubjektiven Übereinstim­ mungsanalyse bekannt, eine Methode, die sicherstellen soll, dass zwei Personen unter einem Gesprächsgegenstand dasselbe verste­ hen. From (1971) übertrug die Psychologie Rubins auf das Gebiet der Persönlichkeit und der sozialen Interaktionen und betonte, im sozialen Miteinander müsse zwischen der Bedeutung und dem Han­ deln einer Person und der Absicht, die sie selbst diesen Handlungen zuschreibt, unterschieden werden. Die Vorgehensweise der Kopenhagener lässt sich vor dem bereits etablierten systematischen psychologischen und phänome­ nologischen Hintergrund als subjektivistisch bezeichnen. Die Bezie­ hung zur Phänomenologie ist nur schwach konzeptuell etabliert und droht daher in eine ›Bilderbuch-Phänomenologie‹ umzuschlagen. Die größte Nähe besteht zu Ansätzen wie demjenigen Pfänders. Aus methodologischer Perspektive der Psychologie dienen die Ana­ lysen der Kopenhagener – abgesehen von Rubins Wahrnehmungs­ psychologie, die auf klassischem experimentellem Vorgehen basiert – vornehmlich der erlebniswissenschaftlichen Forschung, etwa der Gesprächsanalyse. Das gilt auch für die aktuellen dänischen Bei­

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5. Phänomenologie in der Psychologie

träge zur qualitativen Forschung in der Psychologie, insbesondere Svend Brinkmann (2013), dessen Forschung auf Interviewtechniken spezialisiert ist, dabei aber stärkeren Bezug auf Sartre und MerleauPonty sowie Giorgi (und somit auf die deskriptive phänomenologi­ sche Methode, s.u.) nimmt als auf die Kopenhagener Schule. 2. Die deskriptive phänomenologische Methode hat ihren Ursprung in Pittsburgh und kann als konzeptuell am weitesten entwickelte Form der phänomenologischen Psychologie beschrieben werden. Den Mittelpunkt der Schule bildet die Arbeit Amadeo Giorgis, der sich seit den 1960er Jahren um die Kultivierung einer Methodologie für phänomenologische Untersuchungen in der Psy­ chologie bemüht hat. Sein Ausgangspunkt war einerseits die Lehre seines Lehrers und Vorgängers an der Duquesne Universität, näm­ lich Adriaan van Kaams, dessen Schwerpunkt auf anthropologischen und existenzialistischen Untersuchungen lag, für die Merleau-Ponty, aber auch die Utrechter Schule (s.u.) der phänomenologische Bezugs­ rahmen gewesen sind. Andererseits verfügte Giorgi über ein ausge­ dehntes Netzwerk von akademischen Kontakten, das er im Zuge seiner Aufenthalte in Europa oder anlässlich der zahlreichen Besuche europäischer Phänomenologinnen und Phänomenologen an seinem Lehrstuhl knüpfen konnte. Nachdem er seinen Ansatz mehr als 40 Jahre entwickelt hatte, fasste Giorgi seine ›deskriptive Phänomenologische Methode‹ als »modified Husserlian approach« (Giorgi 2009) zusammen. Bereits im Titel zeigt sich die transzendentalphänomenologische Anleihe und folglich der Anspruch, denjenigen Teil der psychologischen Phänome­ nologie zu versöhnen, der den Brückenschlag zur Empirie zumeist verweigert hat. Die Hauptkomponente der Methode ist die »free imaginative variation« (ebd., 69), die eine modifizierte Fassung der Husserlianischen eidetischen Variation ist. Ihr Ziel ist es, »level of a series of ideas, essences, or invariant meanings« (ebd., 75) zu erreichen. Giorgi schreibt: One has to have an eidetic intuition, with the help of imaginative variation, that enables one to be present to a type of invariant meaning that not only accounts for the many disparate facts but also clarifies them in a deeper way (ebd., 85).

Dabei beruft er sich auf »what is ›given‹ to consciousness« (ebd., 68) als Gegenstand der deskriptiven Analyse. Auf dieser Grundlage wird die deskriptive phänomenologische Methode in drei praktischen Schritten entwickelt, die auf Interview­

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5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

daten angewendet werden können. Im ersten Schritt ist die »psycho­ logical phenomenological reduction« (ebd., 98) zu vollziehen: Im Wesentlichen dient sie dazu, Existenzurteile und den historischen Kontext auszuklammern. Giorgi schreibt: »Everything in the raw data is taken to be how the objects were experienced by the describer, and no claim is made that the events described really happened as they were described« (ebd., 99). Im zweiten Schritt der Analyse wer­ den sog. Bedeutungseinheiten vorgetragen. In Giorgis Worten: »one makes an appropriate mark in the data every time one experiences a significant shift in meaning« (ebd., 130). Diese Bedeutungseinheiten sind jedoch das Ergebnis der Inter­ pretenperspektive. Deswegen ist es in einem dritten und entschei­ denden Schritt notwendig, die imaginative Variation anzuwenden, um den unveränderlichen Sinn in den Daten zu entdecken. Giorgi sagt: »each meaning unit, originally expressed in the participant’s own words, is transformed by the researcher by means of a careful descriptive process into psychologically pertinent expressions« (ebd., 137). Auf diese Weise könne die Psychologie die Grundlage für das Verständnis der allgemeinen Struktur der Erfahrung gewinnen. Unter Giorgis Einfluss haben im weiteren Umfeld der Duquesne Universität mehrere Forscherinnen und Forscher die ›deskriptive phä­ nomenologische Methode‹ zur Anwendung gebracht. Ihre Beiträge haben die Rahmen der qualitativen Analyse im Sinne der erlebnis­ wissenschaftlichen Methodologie teilweise übertroffen, wie sich am Beispiel der Beiträge Christopher Aanstoos (1983) nachvollziehen lässt, der in einen kritischen Dialog mit der kognitivistischen Pro­ blemlösungsforschung der 1970er getreten ist. Allerdings sind diese Erweiterungen des Diskurses auf die Verhaltenswissenschaft nicht systematisch in der ›deskriptiven phänomenologischen Methode‹ selbst angelegt, weswegen nicht davon gesprochen werden kann, dass sie eine konsequente Integration in den gesamten experimen­ talpsychologischen Diskurs gestattet. Wie die Kopenhagener Schule bleibt der Schwerpunkte die erlebniswissenschaftliche bzw. qualita­ tive Forschung (für eine ausführlichere Kritik an der deskriptiven phänomenologischen Methode siehe Wendt 2021a). 3. Deutende Phänomenologie (interpretive phenomenology) ist im Gegensatz zur Kopenhagener Schule und der Pittsburgher For­ schung kein ausgewiesen psychologischer Ansatz. Er lässt sich jedoch auch für psychologische Forschung verwenden (vgl. Giorgi & Giorgi 2008). Die deutende Phänomenologie kann als Beispiel für einen

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5. Phänomenologie in der Psychologie

durch psychologische Hermeneutik inspirierten Ansatz gelten. Das Vorgehen bei der Analyse wird als spiralförmig illustriert und durch hermeneutische Prinzipien der Forschung (›Hermeneutical Principles of Research‹) standardisiert (vgl. Conroy 2003). Ein jüngeres Beispiel für die deutende Phänomenologie ist die Interpretative Phänomenologische Analyse (IPA) von Jonathan Smith. Smith beschreibt seinen Ansatz als idiografisch, induktiv und interrogativ: »IPA is strongly idiographic, starting with the detailed examination of one case until some degree of closure or gestalt has been achieved, then moving to a detailed analysis of the second case, and so on through the corpus of cases« (Smith 2008, 41). Er regt grundsätzlich dazu an, ganze Untersuchungen nur einem einzelnen Fall zu widmen, sofern es eine komplexe und vielschichtige Interpretation ermögliche: »at the heart of IPA is the idiographic commitment to the case« (ebd., 51). Die IPA sei zudem induktiv, weil der Interpretation der Beschrei­ bungen auf Basis qualitativer Daten der Vorrang vor theoriegestütz­ ten Vorannahmen eingeräumt werde. In diesem Sinne sind die halbstrukturierten Interviews als explorative Untersuchungen zu verstehen, deren Ziel es ist, den Umfang der interpretierbaren Phäno­ mene zu erweitern. Interrogativ bedeutet gleichsam, dass die Absicht des Interviews darin besteht, durch geschickte Fragen die Tiefe und Reichweite des Einzelfalls zu vergrößern. Dennoch gestatte es die IPA, Konstrukte zu validieren, die auch in der etablierten Kognitions­ psychologie Verwendung finden, sodass ein konstruktiver Dialog möglich sei. Allerdings kann es sich auch hier nicht um einen Dialog handeln, der die strikt experimentelle Seite der Psychologie betrifft. Deutende Phänomenologie bleibt erlebniswissenschaftlich und daher experimentalpsychologisch peripher. 4. Die humanistische Psychologie ist nicht als phänomenolo­ gischer Ansatz entstanden (vgl. Wendt 2021b). Carl Rogers hat als Pionier der Bewegung zwar auf verschiedenen Wegen direkten oder indirekten Kontakt mit der Phänomenologie gehabt, doch es kann schlechterdings nicht davon gesprochen werden, dass der For­ schung und Therapie die phänomenologische Bewegung systematisch zugrunde liegt. Dennoch gibt es verschiedene Verzahnungen beider Denkweisen: Rogers (vgl. 2006) und Eugene Gendlin (vgl. 2015) sahen in der Phänomenologie indes in erster Linie eine deskriptive Psychologie. Letzterer bezog sich insbesondere auf Dilthey. Im Vor­ dergrund stand dabei, die Beschreibung der Erfahrung zu schulen

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5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

und die sog. Erste-Person-Perspektive (Wiltschko 2008, 184) ein­ zunehmen. Die psychologische Phänomenologie, die mit der huma­ nistischen Psychologie die größte Kompatibilität vorweist, ist die existenzielle oder die hermeneutische. So beschäftigte sich Rogers in den 1960er Jahren mit dem Werk Merleau-Pontys (Moreira, 2012). Weil eine systematische Grundlegung ausbleibt, sind die Bezugnah­ men allerdings akzidentell und eher Erweiterungen als Kerngedanken der humanistischen Psychologie. Der Unterschied zu den drei zuvor angeführten Fassungen der erlebniswissenschaftlichen phänomenologischen Psychologie besteht im markanten Therapiebezug der humanistischen Psychologie, dem Personenzentrierten Ansatz (PZA). Auch seine Validierung im Rah­ men der humanistischen Psychologie begünstigt indessen die erleb­ niswissenschaftliche Perspektive. Die methodologische Dichotomie zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Forschung reicht hier bis in die Therapieforschung. In Falle dieses Konflikts wird ersichtlich, dass ein rein erlebniswissenschaftlicher Zugang nicht zum Dialog mit dem experimentalpsychologischen Mainstream in der Lage ist. Misserfolge des PZA, etwa der Umstand, dass bisher keine Kassenzu­ lassung der Therapieform erfolgt ist, sind auch auf den erlebniswis­ senschaftlichen Vorrang der humanistischen Psychologie zurückzu­ führen. Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie kann hier neue Perspektiven eröffnen. 5. Der ›Wengener Kreis‹ war ein loser Verbund wichtiger phä­ nomenologische Psychiater, deren Wirken, wie Passie (1992) argu­ mentiert, auch als ›Fundierung einer phänomenologisch-anthropolo­ gischen Psychologie‹ verstanden werden kann. Dem Wengener Kreis – dessen Name als scherzhafte Anspielung an den gemeinsamen Urlaubsort gewählt worden ist (vgl. Passie 1992) – sind Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski, Victor Emil Freiherr von Gebsattel und Erwin Straus zu zählen. Ihre Verbindung war jedoch stärker durch die ihnen gemeinsame Professionalisierung als Psychiater denn durch die Bemühung um phänomenologische Psychologie gekenn­ zeichnet. Dennoch haben die vier Protagonisten jeweils auch eigene Beiträge zur Frage nach der Methodologie erbracht. Unter diesen ist Straus Vom Sinn der Sinne (1956) wegen der ausführlichen Kritik des Behaviorismus sowie der an Merleau-Ponty erinnernden Analyse der Bedeutung der Versuchssituation in der Psychologie gesondert hervorzuheben. Seine kritische Position kündigt sich bereits in dem früheren Werk Geschehnis und Erlebnis (1930) an, in dem Straus, wie

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5. Phänomenologie in der Psychologie

der Titel anzeigt, neben der psychiatrischen Auseinandersetzung mit dem Thema des Traumas auf die für das dynamische Verhältnis zwi­ schen Experimentalpsychologie und Phänomenologie maßgebliche Problematik einer Vermittlung der Begriffe Ereignis bzw. Geschehnis und Erlebnis zu sprechen kommt. Auch die Daseinsanalyse hat einen klaren klinischen Bezug. Allerdings ist das Denken Ludwig Binswangers grundsätzlicher phä­ nomenologisch geprägt als es für die Pioniere der humanistischen Psychologie gilt. Darüber hinaus hat er mit seiner Einführung in die Probleme der Allgemeinen Psychologie (1922) einen konstruktiven Beitrag zur theoretischen und folglich auch zur Methodologie der Experimentalpsychologie geleistet. Die Ausrichtung seines psycho­ logischen Denkens ist nichtsdestoweniger erlebniswissenschaftlich: »Wie wichtig die begriffliche Analyse der psychologischen Wortbe­ deutungen ist und wie unerläßlich ihre genaue Durchführung gerade im Hinblick auf das Experiment, können wir, abgesehen etwa von Husserl, bei keinem Begründer der Logik der Psychologie besser lernen als bei Brentano« (Binswanger 1922, 118). Darin sollte keine sachliche Schwäche gesehen werden. Im Gegenteil ist Binswangers phänomenologische Psychologie an Einsichten reich, wie Herzog in einer ausführlichen Analyse darzustellen gelungen ist (Herzog 1994). Für die Grundlegung eines phänomenologischen Beitrags zur Experimentalpsychologie ist jedoch die verhaltenswissenschaftliche Erweiterung erforderlich. Für die Entwicklung von Heideggers philosophischer Grund­ legung der Daseinsanalyse zu einem therapeutischen Verfahren sind neben Binswanger gegenwärtig Autorinnen und Autoren wie Alice Holzhey-Kunz (vgl. Holzhey-Kunz 1994) und ursprüng­ lich der Schweizer Medard Boss von Bedeutung, wobei sich die­ ser im Gegensatz zu Binswanger um eine textnähere Auslegung Heideggers bemühte: Heideggerianer ist Binswanger also ebensowenig geworden wie Freu­ dianer. Anders etwa als Binswangers Schüler Medard Boss konnte Binswanger der späteren Entwicklung von Heideggers Denken psychi­ atrisch nurmehr wenig abgewinnen. Stattdessen verfolgte Binswanger philosophisch und psychologisch seinen eigenen Weg weiter, den er selbst später als produktives Mißverständnis der Daseinsanalytik Heideggers bezeichnete, und der sich nicht mehr wie Heidegger an der ›Eigentlichkeit‹ des Daseins, sondern […] am Wir, an der Ich-DuBeziehung orientierte (Herzog 1994, 86).

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5.2 Erlebniswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

6. Posttranszendentale phänomenologische Psychologie ist ein Begriff, der von dem spanischen Husserl-Exegeten Javier San Martin verwendet wird (vgl. Mercado Vásquez & Wendt, 2021). Es handelt sich um diejenige Form von phänomenologischer Psychologie, die dem System der Transzendentalphänomenologie am treuesten bleibt. Der Grundgedanke ist dabei, dass Husserls Schema eines Übergangs der deskriptiven über die phänomenologische Psychologie zur trans­ zendentalen Phänomenologie aufrecht erhalten bleibt, aber an diesen Durchgang eine Reform der Psychologie angeschlossen wird: Die post-transzendentale Psychologie geht von einem Modell des Menschseins aus, das vollständig von demjenigen, mit dem normaler­ weise die kognitivistische oder sogar konnektionistische Psychologie operiert, verschieden ist. Tatsächlich geht sie davon aus, dass das Menschsein in einem aktiven tierischen Leib, der in einem Medium, das ausschließlich für ihn Bedeutung hat, verkörpert ist. Auf diese Weise ist das menschliche Leben kein auf einen physiologischen Organismus reduziertes tierisches Subjekt, sondern eine andere Entität (San Martin 2005, 57; Übersetzung ANW).

Der wesentliche Unterschied zwischen der prä- zur post-transzenden­ talen Psychologie ist die Überwindung des Repräsentationalismus, die das besagte ›Modell vom Menschsein‹ denkbar macht. Diese anthropologische Grundlegung der phänomenologischen Psycholo­ gie ist mit dem Enaktivismus verwandt, der als philosophischer Ansatz seine Wirkung in der phänomenologischen Psychiatrie entfal­ tet hat (etwa Fuchs 2008; 2018). Zudem findet sich ein vergleichbares Konzept für die For­ schungsweise, nämlich die Rückkehr aus der Transzendentalität bei Larry Davidson, einem Schüler Georgis (vgl. Davidson & Cosgrove 1991; Cosgrove & Davidson 2002). Die Idee der Post-Transzenden­ talität in der phänomenologischen Psychologie ist bisher jedoch ein bloßes Versprechen geblieben. Zwar nennt San Martin James Gibson sowie Albert Michotte und seinen Schüler George Thinès als Gewährsmänner posttranszendentaler Arbeit in der Psychologie (vgl. San Martin 2005, 59), aber es lässt sich auch im Falle dieser Autoren mit Blick auf die Experimentalpsychologie von einer peri­ pheren Rolle sprechen, die vornehmlich auf Theoriebildung und nicht auf empirische Arbeit gerichtet gewesen ist. Kompatibilität mit verhaltenswissenschaftlicher Methodologie ist der Idee nach dennoch gegeben, sodass die Vision einer posttranszendentalen Phänomeno­

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5. Phänomenologie in der Psychologie

logie als konzeptuelle Anregung für die Erneuerung der phänomeno­ logischen Psychologie von Bedeutung sein kann. 7. Neurophänomenologie ist einer der jüngsten phänomenologi­ schen Beiträge zur Kognitionswissenschaft. Sie wurde im Anschluss an den Chilenen Francisco Varela (1996) etabliert und kann als Bestandteil der Verkörperungs-Philosophie verstanden werden (s.u. Abschnitt 5.1). Als Beitrag zur erlebniswissenschaftlichen phänome­ nologischen Psychologie innerhalb des neurophänomenologischen Ansatzes, der sich durch die Öffnung zum Naturalismus, also die ›Naturalisierung der Phänomenologie‹ auszeichnet, kann das sog. Micro-phenomenological Interview (MpI) verstanden werden (Depraz et al. 2003). In ihm gelangen Personen durch den retrospektiven Zugriff auf ein Erlebnis zu einer präzisen Beschreibung ihrer Erfah­ rung. Die Methode sieht drei Schritte vor: »The first key to the microphenomenological interview consists in triggering a form of ›phenomenological reduction‹“ (Bitbol & Petitmengin 2017, 733). Dabei wird die Aufmerksamkeit auf eine spezifische Episode der eigenen Erfahrung gelenkt. Daraufhin werden im zweiten Schritt kontinuierlich detailliertere Aspekte an dieser Episode willentlich hervorgerufen. Der dritte Schritt erfolgt durch den Aufmerksam­ keitssprung zwischen diesen verschiedenen Aspekten, der durch die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner angeregt wird. Die empirische Vorgehensweise der Neurophänomenologie ist mit der Denkpsychologie verwandt, gründet allerdings auf eine epis­ temologische Rechtfertigung, die sich als Antwort auf die Introspek­ tionskritik versteht (Bitbol & Petitmengin 2013). In dieser Hinsicht wird ein konstruktiver Beitrag zur Dynamisierung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Psychologie geleistet. Zwar ist der methodologische Charakter der Untersuchungen vorrangig erlebnis­ wissenschaftlicher Art, doch es besteht zugleich eine darüber hin­ ausweisende Tendenz, denn zur Neurophänomenologie gehört die Bemühung um die Interpretation neurowissenschaftlicher Befunde. Letztlich stellt sich jedoch die Frage, ob Neurophänomenologie durch die Öffnung zum Naturalismus und die introspektionistische Vorge­ hensweise der phänomenologischen Bewegung treu bleibt. Gewis­ sermaßen handelt es sich bei Neurophänomenologie um die Bemü­ hung um einen Kompromiss, der droht, das phänomenologische Denken der Integration in die Neurowissenschaften zu opfern. Der Weg der Erneuerung der phänomenologischen Psychologie ist ein anderer, nämlich nicht derjenige des Kompromisses, in dem die

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5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

Phänomenologie sich um ihre wesenswissenschaftliche Eigenheit bringt. Nichtsdestoweniger ist die Neurophänomenologie ein kon­ struktiver Gesprächspartner.

5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie Erlebniswissenschaftliche Methodologie scheint der phänomenologi­ schen Forschung natürlicher Weise zu entsprechen. Der Erlebnisbe­ griff ist in der Phänomenologie des Bewusstseins prominent und die Tendenz zu komplexen oder subtilen Phänomenbeschreibungen sug­ geriert eine Verwandtschaft mit für Philologie oder Geschichtswis­ senschaften charakteristischen Verbalanalysen. Dieser Schein wird dem Projekt der phänomenologischen Psychologie zum Verhängnis, denn ihr eigentliches Vorgehen sollte keine deskriptive Psychologie, sondern deren Überwindung sein. Eine rein erlebniswissenschaftliche Methodologie für die phänomenologische Psychologie fällt auf den Intuitionismus des ›Bilderbuchs‹ zurück oder schwenkt vom dritten Weg auf den zweiten zurück, nämlich auf die beschreibende Psycholo­ gie Diltheys und Brentanos. Die Rigidität Husserls, mag sie ansonsten auch einer für die Empirie offene und sie nicht nur philosophisch bevormundende Forschung ein Hindernis sein, ist an dieser Stelle angebracht, um der Bequemlichkeit des Subjektivismus vorzubeugen. Phänomenologische Psychologie kann sich also nicht auf Erleb­ nisanalysen gründen, selbst wenn, wie in Giorgis Ansatz, der Anspruch einer Wesensbestimmung vorgetragen wird. Es muss die Integration der verhaltenswissenschaftlichen Forschungsart erfolgen, aber nicht als Mischung aus beiden empirischen Richtung, sondern erneut als ihre Aufhebung – so wie der dritte Weg der Bewusst­ seinspsychologie Apperzeptions- und Aktpsychologie überformt. Mit Klarheit haben dies nur wenige gesehen. Daher ist die Menge der Beiträge zur erlebnis- und verhaltenswissenschaftlichen phänomeno­ logischen Psychologie, also der phänomenologischen Psychologie im voll entwickelten Sinne, im Vergleich mit den bloß erlebniswissen­ schaftlichen ungleich kleiner. Bisher ist es nur in Utrecht und Heidel­ berg gelungen, in diese Richtung einen Vorstoß zu unternehmen. Insbesondere bei Graumann finden sich Überlegungen für die phäno­ menologische Integration von Erlebnis- und Verhaltenswissenschaft:

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5. Phänomenologie in der Psychologie

Die für die Entwicklung der neueren Psychologie wohl entscheidenste [sic] Erkenntnis ist die aus ganzheitstheoretischem Denken erwach­ sene Einsicht, daß das verbindliche Bezugssystem psychologischer Analyse der Mensch in seiner Situation sein muß. Die Analyse auch vereinzelnd herausgegriffener Verhaltens- und Erlebnisweisen ist erst dann gegen vorschnelle Abblendungen geschützt und nur dann als vollständig anzusehen, wenn sie den situativen Zusammenhang miter­ faßt, innerhalb dessen es zu einem bestimmten Verhalten oder Erleben kommt. Weder die bloß ›binnenseelische‹, letztlich auf Introspektio­ nen beruhende, noch die nur an äußerlich beobachtbaren ›Reizen‹ und ›Reaktionen‹ orientierte Analyse können diese Aufgabe erfüllen. Ein ›Verhalten zu einer bestimmten Zeit‹ (Lewin) ist, was es ist, nur in seiner situativen Bedingtheit (Graumann 1960, 1f.).

Der geistesgeschichtliche Hintergrund und die systematische Einord­ nung der Forscherinnen und Forscher aus Utrecht und Heidelberg ist an anderer Stelle erfolgt (Wendt 2019b; 2020b; 2021a). Uns interessiert hier hauptsächlich, wie weit ihre methodologische Kon­ zeption der phänomenologischen Psychologie ausreifen konnte und woran es gescheitert ist, sie in der Experimentalpsychologie dauerhaft zu etablieren. 1. Die Utrechter Schule verdankt ihre Entstehung dem Anthropo­ logen und Arzt Frederik Buytendijk, der bereits als Student an der Frühphase der phänomenologischen Bewegung, insbesondere in Köln bei Scheler, Driesch oder Lindworsky, teilgehabt hat. Trotz seines beständigen Interesses für die Psychologie, das sich in zahllosen Pas­ sagen seines Werkes, beispielsweise in seiner Psychologie des Romans (1966), abzeichnet, hat er selbst keine Experimentalforschung betrie­ ben. Dies war seinen Schülern vorbehalten, unter denen Johannes Linschoten die größten Ambitionen hinsichtlich einer phänomeno­ logischen Psychologie entwickelte. Der wissenschaftsgeschichtlich problematische Name der ›Utrechter Schule‹ (vgl. van Hezewijk et al. 2002) findet seine streitbare Rechtfertigung im weiteren akademi­ schen Kontext des psychologischen Instituts in Utrecht. So findet sich eine Reihe phänomenologisch interessierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Umkreis von Buytendijk und Linschoten, die als Dialogpartner eine konstruktive Atmosphäre ermöglicht haben. Ein wichtiges Beispiel ist der Psychiater Jan Hendrik van den Berg, dessen The Phenomenological Approach to Psychiatry (1955) einen lebendigen Eindruck vom phänomenologischen Diskurs dieser Tage zu vermitteln vermag.

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5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

Trotz der günstigen Voraussetzungen wäre es irrig, in Linschoten bereits zu Beginn seines wissenschaftlichen Schaffens einen Systema­ tiker der phänomenologischen Psychologie zu vermuten. So beschäf­ tigte sich seine Dissertation nicht mit entsprechender Methodologie, auch wenn sein Thema, die Tiefenwahrnehmung, inhaltlich mit dem phänomenologischen Diskurs verbunden ist, insofern er die Position verteidigt, dass Tiefenwahrnehmung bedeute, die Tiefe selbst zu erfahren. Die Dissertation kann als eine Art von phänomenologisch inspiriertem Empirismus betrachtet werden (van Hezewijk & Stam 2008, 185). Ende der 1950er Jahre Begann Linschoten letztlich, methodologische Überlegungen zur phänomenologischen Psycholo­ gie anzustellen. Zwei Werke sind von herausragender Bedeutung: Auf dem Weg zu einer phänomenologischen Psychologie und Idolen van de psycholoog. Die erste dieser Schriften ist eine Auslegung der Werke von William James, insbesondere der Principles of Psychology (1890). Linschoten vertritt die Vorstellung, dass James einige phänomenolo­ gische Gedanken vorweggegriffen habe, wie etwa den Begriff des Bewusstseinsstroms. Dementsprechend vergleicht er James’ Ansätze mit der ausgereiften phänomenologischen Geisteshaltung, wobei er zum Ergebnis kommt, dass James’ Begriff der ›conception‹ Husserls Intentionalität (Linschoten 1961, 136), die sensation dem Erlebnis (ebd., 138) und die world of pure experience der Lebenswelt ähnelten (ebd., 195). Um naheliegende Einwände vorwegzugreifen, relativiert Linschoten zugleich James’ Pragmatismus, Biologismus und Psycho­ logismus, sodass ihm das Bild eines phänomenologischen James entsteht, welches er dem Behaviorismus gewissermaßen entreißt. In diesem Ansatz offenbart sich, dass Linschoten die psychologi­ sche Gegenstandsphänomenologie gegenüber anderen Strömungen innerhalb der phänomenologischen Bewegung begünstigt. Eine Ten­ denz zur ›Bilderbuch-Phänomenologie‹ kann nicht verkannt werden. Sie ist repräsentativ für die Forschungsart der gesamten Utrechter Schule, die die Komplexität und Tiefe der Intentional- und Konstituti­ onsanalysen der reifen Phänomenologie weitgehend außer Acht lässt und deswegen zum Intuitionismus neigt. Nichtsdestoweniger ist Linschotens erste methodologische Ver­ öffentlichung ein konstruktiver Vorstoß, der zwar keine konkrete Experimentalmethodologie vorschlägt, doch zumindest den Diskurs eröffnet. Mit dem konstruktiven Betreiben einer dieser Veröffentli­ chung entgegengesetzten Geisteshaltung publizierte Linschoten die

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5. Phänomenologie in der Psychologie

Idolen van de psycholoog im Anschluss an einen Besuch in den Vereinigten Staaten, wo er die Gelegenheit hatte, die frühe Phase der phänomenologischen Psychologie in Pittsburgh zu begutachten. Seine Überlegungen brachten ihn jedoch zu einem Skeptizismus gegenüber dem Projekt. Obwohl diese scheinbare Abwendung von der Phänomenologie als Resignation interpretiert worden ist (Van Hezewijk & Stam 2008, 201), bei der für sie nur noch die Aufgabe bliebe, Kritik an der natürlichen Einstellung des alltäglichen Lebens zu üben, statt Antworten auf wissenschaftliche psychologische Fragen zu liefern, ist es zugleich möglich, dass Linschoten sich nur gegen einen bestimmten Ansatz wandte, nämlich denjenigen, dem er in Pittsburgh begegnet war. Dies ist gerade deswegen plausibel, weil er insbeson­ dere die Dürftigkeit sprach-basierter Methodologie hervorhebt. Letztendlich ist den Historikern der Utrechter Psychologie van Hezewijk und Stam (2008) darin recht zu geben, dass Linschotens Arbeiten nicht den Weg zur phänomenologischen Psychologie weiter­ verfolgten. Sie drücken die konzeptuellen Probleme aus, die durch das Projekt entstehen, Phänomenologie und empirische Psychologie zu integrieren. Dadurch wird Linschotens Werk zur Pionierleistung für die ›phänomenologische Orientierung in der Psychologie‹, um die Bezeichnung, die Graumann und Métraux später etablieren sollten, aufzugreifen. Mit seiner James-Interpretation kündigte Linschoten diesen Konflikt an. Sein verfrühter Tod im Jahre 1964 verhinderte jedoch, dass er selbst die Schwierigkeiten, die er benannt hatte, überwinden konnte. Die Erneuerung der phänomenologischen Psy­ chologie muss sich ihnen stellen (s.u. Kapitel 10). Mit Linschoten verschwand auch das wesentliche Potenzial für die Utrechter Phäno­ menologie. Nur ihre Heidelberger Verbündeten trugen die Fackel einer erlebnis- und verhaltenswissenschaftlichen phänomenologi­ schen Psychologie weiter. 2. ›Phänomenologische Orientierung in der Psychologie‹ ist der Titel, den die Heidelberger Psychologen Carl Friedrich Graumann und Alexandre Métraux der Forschungsart gegeben haben, die sie zu entwickeln versuchten (vgl. Graumann & Métraux 1977). Sie wählten diese Bezeichnung, um die Assoziation mit der transzendentalphä­ nomenologischen Auffassung von phänomenologischer Psychologie zu vermeiden. Hierin drückt sich eine Stellungnahme zu den inner­ phänomenologischen Kontroversen aus: Ähnlich wie die Utrechter war die Heidelberger Forschungsart gegenstandsphänomenologisch ausgerichtet und nahm wie jene Anleihen bei der pragmatisch gepräg­

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5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

ten Lehre James’. Zugleich war ihr konzeptueller Hintergrund jedoch komplexer, was darauf zurückgeführt werden muss, dass die Denk­ weise ihrer Protagonisten anders als die durch Buytendijks physio­ logische Untersuchungsart geprägte Utrechter Schule stärker durch philosophische Reflexionen gekennzeichnet war. Ausdruck dieses Umstands sind beispielsweise die entsprechende Ausbildung, denn Graumann hatte in Köln bei dem Husserl-Schüler Landgrebe und dem Gadamer-Schüler Volkmann-Schluck gehört, Métraux wurde in Basel bei Hansjörg Salmony und Hans Kunz mit einer Arbeit zu Husserl promoviert, ferner die Teilnahme an entsprechenden Kongressen, etwa Graumanns 1957 am dritten Colloque international de phéno­ ménologie in der Abtei Royaumont (vgl. Béra 1959) oder Métrauxs 1971 am internationalen Kongress für Phänomenologie in München (vgl. Métraux 1971), aber auch die stärker geisteswissenschaftliche Prägung der Psychologie in Heidelberg. Graumanns Vorgänger, der Ganzheitspsychologe Johannes Rudert ist dank einer Empfehlung durch Willy Hellpach, dem namhaften Vordenker der Umweltpsy­ chologie und Förderer der Heidelberger Psychologie, 1951 nach Heidelberg berufen worden (vgl. Klüpfel & Graumann 1986) und gab der Disziplin die für die Ganzheitspsychologie charakteristische theoriereiche Prägung. Das lässt sich am Beispiel seines Mitarbeiters Joseph Schön illustrieren, der mit der Arbeit Zum Verständnis des empirischen Phänomens in psychologischer Fragestellung promoviert worden war und für die ausdruckspsychologische Experimentalme­ thodik am Institut verantwortlich gewesen ist (vgl. Jung 2000, 45f). Ähnlich wie für das Denken der Utrechter Schule im akademi­ schen Kontext phänomenologisch interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere aber Psychiaterinnen und Psychi­ ater, förderlich gewesen sind, waren auch das universitäre Umfeld in Heidelberg dem Projekt wohlgesonnen. Genannt werden muss eines­ teils die Philosophie, die durch Gadamers Anwesenheit sowie dieje­ nige seiner Schüler und Kollegen wie Karl Löwith phänomenologisch gesonnen gewesen ist. Andernteils gab es eine Reihe phänomenolo­ gischer Psychiater, allen voran Hubertus Tellenbach und Wolfgang Blankenburg, die für den Dialog mit der Psychologie zur Verfügung standen. Eine historische Kuriosität, ist, dass die phänomenologische Tradition in der Heidelberger Psychiatrie diejenige in der Psychologie überlebt hat. Im beginnenden 21. Jahrhundert ist es Thomas Fuchs, der die Denkart fortsetzt, während am psychologischen Institut der

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5. Phänomenologie in der Psychologie

Universität Heidelberg beinahe keine Spuren der vier Jahrzehnte zu finden sind, in denen Graumann es aufgebaut hat. Nichtsdestoweniger ist Graumann die zentrale Figur für die phä­ nomenologische Psychologie in Heidelberg. Nach seiner Promotion in Köln und der Habilitation in Bonn wurde er 1963 als Nachfolger Ruderts auf den einzigen psychologischen Lehrstuhl in Heidelberg berufen. Seine phänomenologische Bildung war organisch mit seiner psychologischen Forschung verwachsen, wie sich an seiner Habilita­ tionsschrift Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität (1960) zeigt. Graumanns Ambition, die Phänomeno­ logie in der Psychologie zu stärken, findet beispielsweise in der von Linschoten und ihm initiierten Schriftenreihe Phänomenologischpsychologische Forschungen bei Walter de Gruyter ihren Ausdruck. Dennoch ist die Phänomenologie nicht die bestimmende Orientie­ rung seiner wissenschaftlichen Arbeit gewesen. Stattdessen lässt sich Graumanns wissenschaftspolitische Geisteshaltung in Hinblick auf die Paradigmen der Psychologie als liberal bezeichnen. Sein Werk ist die Schnittstelle diverser Untersuchungsarten. So enthält es, den Umständen seiner Zeit entsprechenden, auch Elemente aus dem Behaviorismus und dem Kognitivismus. Folglich finden sich unter seinen zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die seit den 1960er bis in die 1990er Jahre bei ihm angestellt gewesen sind, nicht hauptsächlich phänomenologische Psychologinnen und Psychologen. Im Gegenteil scheint die Spur der Phänomenologie eher beiläu­ fig zu sein. Zu nennen ist neben Métraux zunächst Lenelis KruseGraumann, die Anfang der 1970er bei Graumann im Schnittfeld von Umweltpsychologie und Phänomenologie promoviert wurde und bis zum gegenwärtigen Tag zu diesem Thema forscht. Zwar hat Graumann auch andere Promovenden zu phänomenologisch-psy­ chologischen Themen angenommen, doch es ist bezeichnend, dass mit seiner Emeritierung die phänomenologische Psychologie keine institutionelle Perspektive mehr an deutschsprachigen Universitäten gehabt hat. Zwei Beispiele können diese historische Eigenheit ver­ deutlichen. Friedhelm Streiffeler wurde 1969 bei Graumann zu den Beziehungen zwischen französischer Phänomenologie und Psychologie promoviert, wandte sich auf biographischen Umwegen jedoch von der Psychologie ab und forschte später als Agrarsoziologe (vgl. Jung 2000, 93). Mag dieses Beispiel auch wie ein Zufall klingen, so offenbart es doch, dass mit der Liberalität von Graumanns Geisteshal­

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5.3 Erlebnis- und verhaltenswissenschaftliche phänomenologische Psychologie

tung die potenzielle Zugkraft einer akademischen Schule oder einer wissenschaftlichen Bewegung preisgegeben worden ist. Das zweite Beispiel ist derjenige Fall, der gewissermaßen der Todesstoß der deutschen phänomenologischen Psychologie gewesen ist, nämlich Maximilian Herzog. Herzog ist 1983 in Zürich mit einer Arbeit zum für die phänomenologische Psychologie wichtigen Basler Botaniker und Psychologen Hans Kunz promoviert worden (zu Kunz s.u.). Anschließend begab er sich zur Habilitation an die TU Berlin. Dabei kann seine Habilitationsschrift mit dem Titel Phä­ nomenologische Psychologie (1992) bis zum heutigen Tag als die letzte systematische und umfassende Aktualisierung der Methodologie sowie Historiographie der phänomenologischen Orientierung in der Psychologie gelten. Herzogs Karriere endete jedoch ohne den Erfolg einer professoralen Berufung – auch nicht als Nachfolger Detlef von Uslars in Zürich –, sodass er sich 1997 und damit sechs Jahre nach Graumanns Emeritierung für eine außerakademische Beschäftigung entschied. Zwar ist Herzog kein direkter Schüler Graumanns gewe­ sen, doch hat verschiedentlich inhaltlicher und persönlicher Kontakt bestanden. Das Überleben der ›phänomenologischen Orientierung in der Psychologie‹, hinsichtlich dessen die Hoffnungen auf Herzog gerichtet waren, ist jedoch nicht möglich gewesen. Die Entwicklung der in Heidelberg geprägten phänomenologi­ schen Psychologie ist zunächst auf Zeitumstände zurückzuführen. Die konkurrierende Attraktion des Kognitivismus war durch die Erfolge der Computerisierung der Zivilisation größer, sodass die phänomenologische Psychologie gewissermaßen im Abwehrkampf zu stehen hatte: Hatte sie in den 1960er Jahren noch die Tradition der Geisteswissenschaft und das Prestige der Philosophie auf ihrer Seite, stand sie in den 1990er Jahren als anachronistische Forschungsart im Abseits. Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie muss aus diesen Umständen lernen. Das bedeutet, dass die elabo­ rierte philosophische Rechtfertigung keine Gewähr für die Salienz in der Wissenschaft garantiert. Es muss der phänomenologischen Psychologie gelingen, die konkurrierenden Ansätze im Wettstreit der Experimentalmethodologie zu schlagen. Was aber hat die ›phänomenologische Orientierung in der Psy­ chologie‹ als konzeptuell fortgeschrittenste Fassung der verhaltensund erlebniswissenschaftlichen phänomenologischen Psychologie systematisch ausgezeichnet? Die Antwort fällt analog zu Graumanns wissenschaftspolitischem Stil aus: Die Heidelberger phänomenolo­

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5. Phänomenologie in der Psychologie

gische Psychologie wurde nicht auf ein systematisch entwickeltes methodologisches Fundament gegründet, sondern performativ inte­ griert. Mit performativer Integration ist gemeint, dass Phänomenolo­ gie als eine Offenheit gegenüber dem Erscheinen des Seelenlebens aufgefasst wurde und gleichsam einer Standardisierung widerstrebte. Konzeptuelle Bekenntnisse zu einer einheitlichen Richtung des phä­ nomenologischen Forschens sind deswegen selten. Ein Beispiel ist der Aufsatz Die Phänomenologische Orientierung in der Psychologie (1977) von Graumann und Métraux. Er präsentiert vier Kennzeichen des Ansatzes: Erstens schlugen Métraux und Graumann die Kritik des Reduktionismus als wichtigste Aufgabe vor. Als ebenso defensiv ist der zweite Punkt zu sehen, welcher vorschlug, den Gegenstand der Subjektivität, der in der modernen Psychologie verloren gegangen sei, wiederzugewinnen. Die Charakterisierung dieser Aufgaben als Defensive rührt daher, dass sie im innerpsychologischen Diskurs zunächst die Funktion der Kritik übernehmen. Der dritte und vierte Gesichtspunkt sind demgegenüber eher konstruktive als defensive Beiträge, nämlich das Prinzip der Intentionalität und die Situations­ analyse. Es ist wichtig, zu betonen, dass der Begriff der Intentionalität an dieser Stelle von der transzendentalphänomenologischen Tradition abweicht. Herzog verdeutlicht diesen Unterschied mit dem Ausdruck eines ›mundanen‹ Intentionalitätsbegriff (Herzog 1992, 449). Damit, ein Intentionalitätsprinzip vorzuschlagen, beabsichtigen Métraux und Graumann somit nicht, eine rein eidetische Perspektive in die Psychologie zu reintegrieren. Vielmehr ist seine wichtigste Funktion darzustellen, dass alle psychologisch relevanten Akte bedeutungsvoll sind und nicht unabhängig von den subjektiven Bedingungen ihrer Konstitution verstanden werden können. Mit der Situationsanalyse kam die phänomenologische Psycho­ logie aus Heidelberg und Utrecht der Möglichkeit einer eigenständi­ gen Methode am nächsten. Graumann und Métraux charakterisieren ihr Vorgehen als eine Strukturanalyse (Graumann & Métraux 1977, 47), in der die jeweilige Situation, also die intentionale Beziehung des Subjekts zu seiner Lebenswelt, hinsichtlich bestimmter, die Erfahrung konstituierender Kategorien untersucht wird. Dazu zählten maßgeb­ lich Umwelt, Leiblichkeit, Sozialität und Geschichtlichkeit (hierzu: Schott 1991). Praktisch bediente sich Graumann dabei verschiedener zuvor in der Psychologie etablierter Untersuchungsformen, etwa derjenigen Lewins. Diese Form der Situationsanalyse empirisch zu

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5.4 Phänomenologische Einzelgänger

implementieren, war eines von Graumanns Zielen in den 80ern und 90ern, wobei er sie insbesondere auf Sprache und Umwelt anwandte. Zur Entwicklung einer vollständigen Methodologie ist es jedoch nicht gekommen. Die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie muss diese Fäden wieder aufnehmen. Ein zweites Beispiel für Ansätze einer methodologischen Aus­ richtung sind die Ausführungen Herzogs. Weil seine Habilitations­ schrift an historischen Analysen reicher als an Entwicklungsper­ spektiven ist, müssen sie aus seinen Beiträgen herausdestilliert werden – hier spiegelt sich wider, dass Herzog psychologietheore­ tisch und -historisch wertvolle Untersuchungen vorgelegt hat, aber selbst nicht zur experimentalpsychologischen Arbeit gekommen ist. Dementsprechend sind seine methodologischen Anreize selten an der tatsächlichen empirischen Arbeit orientiert, sondern bedienen einen vornehmlich theoretischen Diskurs. Charakteristisch für seine methodologischen Auffassungen ist ähnlich wie für Linschoten die kritikwürdige Nähe zu James: »Methodologisch nimmt die phänome­ nologische Psychologie die Grundhaltung des ›offenen Empirismus‹ ein« (Herzog 1992, 28). Ferner stellt er – repräsentativ für die Hei­ delberger Denkart – sowohl die Situationalität als auch die Leiblich­ keit des Seelenlebens in den Mittelpunkt. So gelangt er zu »drei unabdingbare methodologische[n] Voraussetzungen: Gegenstand der Psychologie ist die intentionale Person-Umwelt-Relation (l); die intentionale Relation ist sinnhaft (2); die Sache bestimmt über die Methode (3)« (ebd., 508). Sie geben einen akkuraten Eindruck vom Forschungsspektrum der ›phänomenologischen Orientierung in der Psychologie‹, die im Folgenden einer der wichtigsten Dialogpartner für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie sein wird.

5.4 Phänomenologische Einzelgänger Neben den neun Ansätzen der phänomenologischen Psychologie, die als Schulen oder Forschergemeinschaften im Sinne der bloßen Erlebniswissenschaften oder vereinten Verhaltens- und Erlebniswis­ senschaft gelten können, gab es im Rahmen der phänomenologischen Bewegung eine Reihe von Forscherinnen und Forschern, die den Gedanken der phänomenologischen Psychologie aufgegriffen, aber weder regionalisierend noch systematisierend gewirkt haben. Diese Menge von Einzelpersönlichkeiten muss notwendig offen bleiben und

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5. Phänomenologie in der Psychologie

es ist geistesgeschichtlich streitbar, wer zu ihr gehört. Deswegen kann hier lediglich eine Auswahl präsentiert werden, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit einen allgemeinen Eindruck von der Bedeutung der Wissenschaftler für die phänomenologische Bewegung bzw. die phänomenologische Psychologie zu geben versucht. 1. Aron Gurwitsch ist eine Schlüsselfigur der phänomenologi­ schen Bewegung. Seine Biografie bringt zahlreiche Mitglieder und Forschungsarten miteinander in Berührung. Dazu zählen bereits philosophisch die Transzendental-, Gegenstands- und Existenzphä­ nomenologie, mit denen Gurwitsch auf seinen Stationen in Berlin bei Stumpf, in Göttingen bei Geiger, in Freiburg bei Husserl, in Frankfurt bei Goldstein, aber auch in Paris bei Koyré und Lévy-Bruhl sowie als Lehrer von Merleau-Ponty in Berührungen gekommen ist (vgl. Embree 2009). Darüber hinaus hat Gurwitsch aber auch auf die phänomenologische Psychologie gewirkt. Seine Theorie du Champ de la Conscience ist für die Verbindung zwischen Grazer Schule und Phänomenologie hervorzuheben, ebnet aber auch den Weg zur Vermittlung zwischen James und der Phänomenologie (s. Kapitel 8). Im nordamerikanischen Exil konnte er ferner ebenso wie in Europa nach dem zweiten Weltkrieg Impulse in der Forschung setzen. Das gilt auch für die ›phänomenologische Orientierung in der Psychologie‹, da sein Werk auf Graumann gewirkt hat und ihn eine persönliche Freundschaft bis zu seinem Tode mit Alexandre Métraux verbunden hat, der Die mitmenschliche Begegnung in der Milieuwelt posthum herausgegeben hat. Gurwitschs Denken ist durch die transzendentalphänomenolo­ gische Geisteshaltung geprägt. Seine Untersuchungen fokussieren die von Husserl in der mittleren Schaffensperiode entwickelten Begriffsdyade Noema-Noesis, die er insbesondere in der Konstitu­ tionsanalyse zur Anwendung bringt. Nichtsdestoweniger hat ihn das Verhältnis zwischen Gestaltpsychologie und Phänomenologie zeitlebens beschäftigt, sodass seine Forschung einen klaren Bezug zur Experimentalpsychologie hat, selbst wenn sie nicht empirisch gewesen ist. So ist Gurwitsch ein günstiges Beispiel für ein Mitglied des philosophischen Teils der phänomenologischen Bewegung, das die Auseinandersetzung mit der Experimentalpsychologie gesucht hat und so für die phänomenologische Psychologie förderlich gewe­ sen ist. Allerdings ist die Experimentalforschung, die in Gurwitschs Analysen thematisiert wird, also die Gestaltpsychologie, ihrerseits Peripherie der psychologischen Gegenwartsforschung. Aus diesem

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5.4 Phänomenologische Einzelgänger

Grund kann Gurwitsch für die Integration der Phänomenologie in den psychologischen Diskurs im Rahmen der Erneuerung der phäno­ menologischen Psychologie kaum direkte Impulse geben, auch wenn seine Untersuchungen von großer Fruchtbarkeit sind. Es bedarf einer vermittelnden Aktualisierung. 2. Hans Kunz ist ähnlich wie Gurwitsch über Métraux mit der ›phänomenologischen Orientierung in der Psychologie‹ verbunden. Er gehört zu einem Kreis phänomenologisch Denkender, die im 20. Jahrhundert in Basel zunächst Philosophie, im Falle von Kunz aber auch Psychologie betrieben haben. Im Hintergrund dieses Baseler Kreises steht die anthropologische Philosophie Paul Häberlins, die allerdings von Kunz in weiten Teilen zugunsten einer weniger meta­ physischen Forschungsart, die die für ihn charakteristische Form der Phänomenologie ist, überwunden worden ist. Wie Hüttenmoser (1982) in seinem Nachruf auf Kunz berichtet, war diese Untersu­ chungsart an erster Stelle durch eine natürliche Phänomenorientie­ rung und Präzision der Beschreibung ausgezeichnet, die auf organi­ sche Weise mit Kunz’ zweitem Forschungsfeld, nämlich der Botanik konvergierten. So war Kunz tatsächlich ein empirisch forschender Mensch, doch nicht im Sinne der Experimentalpsychologie. Kunz’ Beitrag zur phänomenologischen Psychologie ist viel­ schichtig, zunächst aber theoretisch. So beschäftigte er sich beispiels­ weise in seiner Dissertation mit der Ausdruckspsychologie (1938), aber auch mit der anthropologischen Betrachtungsweise in der Psycho­ pathologie (1941), wobei er in der Nähe Binswangers stand. Für das Verhältnis zur Experimentalpsychologie sind zum Beispiel seine Abhandlung Über den Sinn und die Grenzen des psychologischen Erkennens (1957) oder der Aufsatz Experimentelle und philosophische Psychologie (1956) von Interesse. In ihnen wird ersichtlich, dass sich Kunz in offensiver Weise zu einer Position bekannte, die mit der Gegenstandsphänomenologie, insbesondere im Sinne Pfänders, verwand ist und sich daher der methodologischen Gefahr der intuitio­ nistischen ›Bilderbuch‹-Phänomenologie aussetzt. Offensiv ist diese Position insofern, als sie die Analyse der Gegebenheit gegen die Transzendentalphänomenologie ausspielte und in die Polemik gegen Husserl mündete, die vielfach für denjenigen Teil der phänomeno­ logischen Bewegung charakteristisch ist, der affin für empirische Untersuchungen ist: In der Phänomenologie Husserls und seiner Schule war, möchte ich wenigstens glauben, jener Ansatz ursprünglich enthalten, den ich dem

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5. Phänomenologie in der Psychologie

vernehmenden Anteil des Denkens zugewiesen habe. Aber er ist in Wirklichkeit nie zur vollen Entfaltung gekommen, am ehesten noch in der von Jaspers geführten, gegen das Überwuchern der erdachten theoretischen Konstruktionen in der Psychopathologie gerichteten empirischen Abwandlung der phänomenologischen Forschung. Hus­ serls Leidenschaft, apriorisch gültige, absolut gewisse, deshalb aller Erfahrung überlegene und Einwänden von dieser her von vornherein entzogene ›Wesenseinsichten‹ und ›Wesensgesetze‹ zu gewinnen, ist zwar aus seiner Herkunft von der Mathematik verständlich und mag auch durch den philosophischen Anspruch der eidetisch-transzenden­ talen Phänomenologie gefordert worden sein […]. Allein faktisch lief dies zumeist auf das denkende Hervorbringen von irreal-eidetischen ›Erlebnissen‹ hinaus, die sich mit einem gewissen Recht als ›überzeitli­ che‹ ausgeben konnten – so wie eben die erdachten ›möglichen Welten‹ zeitentrückte Gebilde darstellen (Kunz 1956, 49).

3. Wilhelm Keller war wie Kunz, dem er in Freundschaft verbun­ den war, ein Schweizer Phänomenologe. Bereits mit seiner 1935 in Bern abgeschlossenen Dissertation zum Sinnbegriff als Kategorie der Geisteswissenschaften artikulierte sich die Ausrichtung seiner philosophischen Reflexionen auf die Wissenschaften. Nach der Habi­ litation verbrachte er drei Jahre bei Häberlin in Basel, bevor er 1947 in Zürich den Lehrstuhl für ›systematische Philosophie und Psychologie‹ übernahm. Keller war ein besonnener Phänomenologe, zu dessen Themenschwerpunkten die Bewusstseinsphilosophie sowie die Anthropologie gehörten, und ein Förderer der Experimentalpsy­ chologie. So plante Keller Mitte der 1960er Jahre die Einführung einer Professur für Allgemeine und Theoretische Psychologie, wobei er im Zuge der Planungen auch mit Graumann, Strasser, Wellek, Thomae und Metzger (s.u.) in Verbindung gestanden hat – er sich also in dezidiert phänomenologischen Kontexten bewegte. Zu Kellers Bemühungen um die Förderungen der phänomenologischen Psycho­ logie in Zürich gehört auch die Unterstützung des bereits erwähnten Detlef von Uslar, der ebenda 1967 berufen worden ist. Fördernd wirkte Keller allerdings nicht nur auf die Phänomenologie, sondern auch auf die Experimentalpsychologie, wie aus Maerckers Bericht über die Geschichte des Psychologischen Instituts der Universität Zürich (Maercker 2007) hervorgeht. Helmut Holzhey, dessen philosophische Forschungen zum Kan­ tianismus und Neukantianismus regelmäßig den Grenzbereich zur Phänomenologie streiften, beschrieb den psychologischen Teil an Kel­ lers Wirken als »anthropologisch fundierte theoretische Psychologie«

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5.4 Phänomenologische Einzelgänger

(Holzhey 1987, 10). Dass Holzhey den Einfluss Pfänders auf Keller hervorhebt, lässt jedoch erkennen, dass dieser sich trotz gleichzeiti­ ger Förderung der Experimentalforschung nicht für eine erlebnisund verhaltenswissenschaftliche Vermittlung zwischen beiden, son­ dern für eine Komplementaritätsposition eingesetzt hat, also für die Kooperation beider Forschungsarten, die auch von Kunz begünstigt worden ist (vgl. Kunz 1956). 4. Stephan Strasser war österreichischer Abstammung, doch das geografische Zentrum seines Wirkens lag in den Niederlanden, nämlich an der Katholieke Universiteit Nijmegen. Strasser ist für die phänomenologische Bewegung bereits aus historischer Sicht von großer Bedeutung, da er Herman Leo Van Breda bei der Rettung und Übertragung von Husserls Nachlasses in den Wirren der 1940er Jahre helfen konnte. Darüber hinaus ist Strasser jedoch auch ein Wegbereiter und Kommentator der phänomenologischen Psycholo­ gie gewesen. Insbesondere seine Arbeiten Seele und Beseeltes (1955) sowie die in Graumanns und Linschotens Reihe phänomenologischpsychologische Forschung erschienene Abhandlung Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen (1964) sind von herausra­ gender Bedeutung. Im erstgenannten Werk zeigt sich seine in dieser Schaffensphase durch Heidegger hermeneutisch geprägte Denkweise: »Wir betrach­ ten die Phänomenologie als eine Methode der Seins-Metaphysik« (Strasser 1955, XI). Er wendet sich von Transzendental- und Gegen­ standsphänomenologie ab, um das Verhältnis zwischen Seelenleben und Erscheinung metaphysisch zu bestimmen. So sagt Strasser, daß der Seelenbegriff der Bewußtseinspsychologie kaum etwas gemein hat mit dem der metaphysischen Menschenbetrachtung. Für den Bewußtseinspsychologen ist die Seele in erster Linie ein ›Erlebnis­ träger‹, der die Wirklichkeit widerspiegelt; für den Vertreter einer Seinsphilosophie ist die Seele dasjenige ontologische Prinzip, das mein Sein als leibliches Wesen erklärbar macht (ebd., 20).

Auf den Wegen dieser Reflexion entwickelte Strasser seine Auffas­ sung der phänomenologischen Psychologie, die sich sowohl vom Objektivismus abgrenzt, den er mit dem Behaviorismus identifiziert und dessen Betrachtungsweisen dazu führen, »daß die Menschen­ kunde der empirischen Methode aufgeopfert wird« (Strasser 1965, 25), als auch vom Subjektivismus, den Strasser mit Sartres existen­ zieller Phänomenologie identifiziert. Strasser wendet sich beispiels­ weise von Sartres Bewusstseinsbegriff ab, den er folgendermaßen

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5. Phänomenologie in der Psychologie

interpretiert: »Das Bewußtsein ist seiner Ansicht nach wesentlich transzendierendes Bewußtsein. Das heißt, daß alle bewußten Inten­ tionen gleichsam ›nach außen‹ gerichtet, auf das andere gerichtet sind« (ebd., 29). Der dritte Weg, den Strasser Objektivismus und Subjektivismus entgegenhält, ist ein hermeneutischer Begriff vom Verstehen sowie in einer späteren Schaffensphase die Alteritätsphilo­ sophie Emmanuel Levinas’. Zu einem Dialog mit der Experimentalpsychologie kommt es dabei wegen der Zurückweisung des Objektivismus’ nicht. Das wird auch in einem Nachruf Struyker Boudiers deutlich, wenn es heißt, dass für Strassers Denkart eine Abneigung gegenüber der wechsel­ seitigen »Kontamination« (Boudier 1991, 740) von philosophischer und empirischer Psychologie charakteristisch gewesen sei, die Stras­ ser mit der Utrechter Schule identifiziert habe. Hier lässt sich die strenge innerphänomenologische Prüfung der Forschung erkennen, die ungerechtfertigte Verkürzungen der Argumentation wie den Intuitionismus vermeiden will. Der Weg, den Strasser eingeschlagen hat, nämlich die Koexistenz von Experimentalpsychologie und phä­ nomenologischer Psychologie, ist ein möglicher Rückzugspunkt, der jedoch eine Kapitulation vor der Aufgabe der Integration bedeutet. Die Bestrebung der Erneuerung der phänomenologischen Psycholo­ gie ist die entgegengesetzte Richtung, nämlich einer Integration ohne Kontamination – Strassers Bedenken können dabei ein hilfreiches Korrektiv sein. 5. Joseph Kockelmans ist mit Strasser durch die Niederlande verbunden, aber auch durch das Emigrationsschicksal – wendete sich Strasser den Niederlanden zu, so wendete sich ihnen Kockelmans ab, da ihn das Leben in den frühen 1960er Jahren in die Vereinig­ ten Staaten brachte. Auch inhaltlich lassen sich Parallelen zwischen beiden Autoren erkennen, wie Boudier und Kollegen herausstel­ len: »Jede Wissenschaft hat einen eigentümlichen Sinnbereich zum Gegenstand, der durch eine bestimmte Weise von Weltauffassung konstituiert wird, behauptet Kockelmans, so wie übrigens auch Stras­ ser« (Boudier et al. 1980, 184). Kockelmans Position in der phäno­ menologischen Psychologie gründet ebenso wie Strassers auf die hermeneutische Phänomenologie: »Kockelmans’ own position can be aptly referred to as ›hermeneutic phenomenology,‘ a position which is deeply influenced by Heidegger« (Kerszberg 1994, X). Ein Unterschied zwischen Strasser und Kockelmans ist, dass sich dieser um eine konstruktive Bezugnahme auf Husserl bemüht hat,

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5.4 Phänomenologische Einzelgänger

wie sich an seinem Entwurf einer psychologischen Methodologie De fenomenologische psychologie volgens Husserl (1964) erkennen lässt. Auch in seiner Darstellung von Husserls Phänomenologie vermittels einzelner Textkommentare aus dem Jahr 1994 zeigt sich die Zentrali­ tät der Psychologie für Kockelmans Interpretation. Das sechste Kapitel des Buches, The Function of Phenomenological Psychology for Empirical Psychology, lässt die Perspektive einer konstruktiven Bezugnahme klar erkennen. Dort heißt es: Yet phenomenological psychology, as the a priori science of the psy­ chical as such, does not exhaust the entire a priori of psychology insofar as empirical psychology is the science of the psychical that manifests itself in the real world as a real moment of a material thing, an organism that is alive. Thus the a priori of empirical psychology includes that of the natural sciences, in addition to that to be brought to light by phenomenological psychology. In the final analysis, empirical psychology rests on the a priori of the psychophysical as such; the latter constitutes a domain that until now has remained unexamined (Kockelmans 1994, 153).

Diese Passage lässt die Bemühung um eine Versöhnung der tran­ szendentalphänomenologischen Patronage der Experimentalwissen­ schaften mit dem Selbstständigkeitsanspruch dieser Wissenschaf­ ten selbst erkennen. Kockelmans’ denkwürdiger Vorschlag zeichnet sich an erster Stelle dadurch aus, dass er um eine Aufhebung der Diskursblockade durch die Erschließung eines gemeinsamen Terri­ toriums bemüht ist. Ob er gelungen ist, bedarf einer konstrukti­ ven Überprüfung. Festzuhalten ist hinsichtlich Kockelmans’ Beitrag zur Gestaltung einer phänomenologischen Psychologie, dass sein umfangreiches Œuvre verschiedene bisher noch nicht hinreichend erschlossene und diskutierte Anschlusspunkte vorweist. Seine Ideen wurden zum Beispiel von Dimitri Ginev in die Richtung einer phäno­ menologischen Hermeneutik der Wissenschaften (vgl. Ginev 2016) fortgedacht. In letzter Instanz ist Kockelmans selbst allerdings nicht anders als Strasser nicht zu einer Methodologie vorgedrungen, die den gewünschten Dialog mit der Experimentalforschung tatsächlich realisieren kann. Sein Betreiben in dieser Richtung fortzusetzen, ist Anliegen der Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. 6. Wolfgang Metzger ist nicht zuerst phänomenologischer Psy­ chologe, sondern Gestaltpsychologe gewesen. Es ist sinnfälliger ihn als Konföderierten der phänomenologischen Psychologie zu beschrei­ ben, da sich seine Forschung in der Regel weder auf die phänomeno­

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5. Phänomenologie in der Psychologie

logische Bewegung bezogen hat noch ihrem Diskurs im strengen Sinne entsprach. Dennoch ist es möglich, wenn beispielsweise mit Gurwitsch die Brücke zwischen Phänomenologie und Gestaltpsy­ chologie geschlagen wird, eine Verbindung herzustellen. Dabei ist vor allem von Bedeutung, dass Metzgers Werk beständig von der phänomenologischen Position Kenntnis genommen hat und er in regelmäßigem persönlichen Austausch mit Phänomenologinnen und Phänomenologen, insbesondere aus dem Heidelberger Lager, stand. Metzgers wissenschaftliche Position ist weitgehend deskriptiv psychologisch. Die gestaltpsychologische Forschungsart, durch die Metzger geprägt worden ist, beschreibt Walter als »vorbehaltloses Interesse an menschlichen Phänomenen, bedingungsloses Fragen nach den Zusammenhängen menschlicher Existenz und – darauf gründend – überzeugende Gedankengänge statt Ideologie« (Walter 1999, 79). Dieser Haltung entspricht auf Seiten der psychologischen Phänomenologie die gegenstandsphänomenologische Auffassung am besten, was gleichfalls mit Metzgers Nähe zu den Heidelbergern har­ moniert. In seinen Veröffentlichungen findet sich eine entsprechende realistische Ausdrucksweise: Es gibt nicht außer den Leuten und Sachen, die wir um uns vorfinden und mit denen wir umzugehen haben, noch besondere ›Empfindungs-‘ bzw. ›Wahrnehmungskomplexe‹, die auf jene ›hinweisen‹, sie ›meinen‹ oder ›intendieren‹, oder von denen unser Verstand auf die wirklichen Dinge ›zurückschließt‹; es gibt für uns nur die wirklichen Leute und Sachen selbst, wie sie vor uns hintreten und in Wechselwirkung mit uns stehen (Metzger 1941, 17).

Kurzum: Als Hauptvertreter der zweiten Generation der Gestalt­ psychologie war Metzger der Phänomenologie gegenüber aufge­ schlossen, hat jedoch nicht aktiv zur Entwicklung einer phäno­ menologischen Psychologie beigetragen. Wenn wir von ihm als ›phänomenologischem Einzelgänger‹ sprechen, dann, weil die Reich­ weite der phänomenologischen Bewegung Forschungsarten umfasst, insbesondere in der Gegenstandsphänomenologie, die mit Metz­ gers Forschung vergleichbar sind. Ein analoger Vergleich ließe sich zwischen den Untersuchungen Merleau-Pontys und der Berliner Gestaltpsychologie, etwa Kurt Koffka oder Kurt Lewin, auf die sich Merleau-Ponty wiederholt bezieht (vgl. Merleau-Ponty 1966), ent­ wickeln. Insgesamt steht der Name Metzgers hier repräsentativ für eine zu einem wesentlichen Teil deskriptiv forschende Gruppe von Psychologinnen und Psychologen, in deren Arbeit phänomenologi­

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5.4 Phänomenologische Einzelgänger

sche Argumente, aber auch der Bezug auf die phänomenologische Bewegung, mit Natürlichkeit angeführt werden. 7. Hans Thomae ist womöglich das beste Beispiel für einen Experimentalpsychologen, der zwar nicht zur phänomenologischen Bewegung gehörte, aber in vielen seiner Untersuchungen sein Funda­ ment in ihr findet. Das bedeutet, dass der Bezug auf sie im Gegensatz zu Metzger nicht vornehmlich implizit oder durch zur phänomenolo­ gischen Psychologie analoge Argumente erfolgt, sondern ausdrückli­ cher Gegenstand seiner Arbeit ist. Zugleich ist Thomae ein Bindeglied zu gleich mehreren phänomenologisch-psychologischen Kontexten, die bisher nicht angesprochen worden sind. Zu nennen ist erstens der Bonner Philosoph Erich Rothacker, der in München unter dem Einfluss Geigers und Schelers gestanden hatte und an für seine anthropologischen Reflexionen bekannt geworden ist. Thomae hatte »1940 bei Rothacker mit einer Rekapitulation philosophischer Theo­ rien des Bewusstseins promoviert« (Stöwer 2012, 313). Rothackers Einfluss auf Thomae betrifft z.B. die Vorstellung einer Schichtung der Persönlichkeitsstruktur. Neben Thomae ist auch Hermann Schmitz als Schüler Rothackers zu nennen, dessen ›Neue Phänomenologie‹ genannte leibphänomenologisch orientierte philosophische Lehre sich verschiedentlich für die phänomenologische Psychologie als fruchtbar erweisen konnte (bspw. Schmitz 2006). Ein weiterer Kontext ist die phänomenologisch inspirierte Per­ sönlichkeitspsychologie Philipp Lerschs, dessen Assistent Thomae gewesen ist. Lersch kann zusammen mit Albert Wellek einer zumin­ dest nominell phänomenologischen Form der Persönlichkeitspsycho­ logie zugeordnet werden, deren Beziehung zur phänomenologischen Bewegung jedoch schwach ist, insofern als es ihr methodologisches Fundament eher intuitionistisch ist als den Bezug zum komplexen epistemologischen Diskurs der Phänomenologie zu suchen – in diesem Sinne ist für die Interpretation von Lersch und Wellek als phänomenologischen Psychologen der Verdacht der ›Bilderbuch‹Phänomenologie ein wichtiges Korrektiv. Dessen ungeachtet ist für die Biografie Thomaes der Aufenthalt bei Lersch in Leipzig von Bedeutung, weil er dort das für ihn prägende Thema der Motivations­ psychologie, das er in seiner Habilitationsschrift von 1942 aufgriff, erschlossen hat. Thomaes weiteres psychologisches Schaffen ist facettenreich und hoch produktiv. Neben der Motivationspsychologie machte er sich in der Gerontopsychologie verdient und entwickelt in seinem umfäng­

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lichen Werk Das Individuum und seine Welt (1968) eine Persönlich­ keitstheorie mit vorwiegend erlebniswissenschaftlicher Methodik. Nicht zuletzt ist jedoch zu erwähnen, dass der acht Jahre ältere Thomae auf Graumann während seiner Studienzeit eine prägende Wirkung entfalten konnte, die sich in eine lebenslange Kooperation übersetzte. Mag Thomaes Beitrag zur methodologischen Grundle­ gung der phänomenologischen Psychologie auch geringfügig sein und seine Forschung im operationalistischen Sinne der Experimental­ psychologie die verhaltenswissenschaftliche Forschungsart in unzu­ reichendem Umfang einsetzen, so ist er doch ein günstiges Beispiel für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren experimental­ psychologische Forschung mit phänomenologischer Psychologie kon­ vergieren. 8. Eduardo Nicol kann als beispielhafter Repräsentant einer größeren Gruppe von Forscherinnen und Forschern gelten, die auch geografisch eher in der Peripherie des psychologischen MainstreamDiskurses gestanden haben und stehen, obschon ihr Schaffen und Denken zu einem wertvollen Beitrag taugt. Nicol, gebürtiger Spanier im mexikanischen Exil, legte mit seiner 1941 verfassten Psychologie der vitalen Situationen (1996) einen phänomenologischen Ansatz vor, der ähnlich wie die Heidelberger ›phänomenologische Orientierung in der Psychologie‹ den Situationsbegriff fokussiert. Das Zentrum seiner Überlegungen ist es, das Leben des Menschen aus seinen Situationen heraus zu erschließen. In dieser Hinsicht besteht eine Verwandtschaft mit der psychologischen Existenzphänomenologie, die sich auch in seinen Bezügen auf Sartre, Klages, Kierkegaard und Heidegger widerspiegelt. Eine der Positionen aus Nicols zuerst 1953 erschienenen Meta­ physik der Ausdrücke (2003) ist, dass die Psychologie ihrem Auftrag der Fremdbeobachtung nur gerecht wird, wenn klar bleibt, dass alles beobachtete Verhalten im Horizont eines bedeutungsvollen Handelns steht und für das bewusst erlebende Subjekt nur im Zusammen­ hang von Situationen möglich ist. Methodologische Reflexionen wie diese, die mit dem Begriff des Ausdrucks Zusammenhänge in den Blick nehmen, die zu den selten thematisierten Präsuppositionen der Experimentalpsychologie gehören, können auch für eine erneuerte phänomenologische Psychologie von Nutzen sein. Ein unmittelbarer Bezug zur Experimentalforschung ist jedoch in Nicols Ansatz, der

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als »dialektische Phänomenologie« (Cortés Sánchez 2014) bezeichnet worden ist, nicht gegeben und muss folglich erst entwickelt werden.

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II. Teil: Der Anspruch der Erneuerung

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Statt in die Psychologie einen externen philosophischen Ansatz hin­ einzutragen, dem die disziplinäre Lage letztlich fremd bleiben muss, ist das Programm der Erneuerung daran orientiert, sich organisch innerhalb der Psychologie zu entwickeln und an den disziplinimma­ nenten Problemen zu orientieren. Die wichtigste methodologische Bezugsgröße ist dabei, was in der bisherigen Argumentation mit einer spezifischen Bedeutung ›Experimentalpsychologie‹ genannt worden ist. Damit ist nicht die Methode des Experiments schlechthin gemeint, denn das Experiment ist in der Psychologie mitnichten eine bloß kontingente Technik. Das Experiment hat die empirische Psychologie historisch geprägt und fungiert gewissermaßen, im Angesicht der kontinuierlichen Partikularisierung des Faches, als Lückenbüßer für die Einheit der Wissenschaft. Der Begriff ›Experimentalpsychologie‹ lässt sich gleichsam als Standardfassung der psychologischen Forschung in ihrer Entwicklung im kulturellen Einflussbereich des sog. Westens bestimmen – Opera­ tionalismus, Observationalismus oder Positivismus sind bereits als exemplarische Eigenschaften genannt worden. Mag der Kognitivis­ mus ihr einflussreichstes Paradigma gewesen sein, so wäre der Begriff in Anbetracht einiger weiterer Entwicklungen zu eng. Selbst eine phä­ nomenologische Psychologie, deren Programm eine markante Wei­ terentwicklung der Disziplin beabsichtigt, nimmt vom experimentel­ len Kern keinen Abstand, wäre also ›Experimentalpsychologie‹. Indes, in dieser Hinsicht ist der Begriff doppeldeutig: Die ›Experimental­ psychologie‹ des status quo, d.i. insbesondere die prospektivische Psychologie seit Wundt (vgl. Fahrenberg, 2015), bleibt zunächst der Gesprächspartner der phänomenologischen Psychologie, selbst wenn eine künftige Experimentalpsychologie auch phänomenologisch sein sollte. Im Gegensatz zur statischen Charakterisierung der Psychologie Dieser Abschnitt ist eine Überarbeitung der entsprechenden Passage aus Wendt (2019a).

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ist ›Experimentalpsychologie‹ folglich ein engerer Begriff, weil er die als ›Lehnstuhlpsychologie‹ persiflierte Fassung der Disziplin, in der nicht experimentell geforscht wird, ausschließt – also zu Teilen die Aktpsychologie und die psychologische Phänomenologie. Dennoch handelt es sich um einen verhältnismäßig weiten Begriff, zumal er alle jüngeren Paradigmen der psychologischen Forschung, insbesondere jedoch die verhaltenswissenschaftliche Tradition, umspannt. Die Auseinandersetzung kann sich jedoch nicht allein auf die gegenwärtige Lage konzentrieren, denn das Projekt einer phänome­ nologischen Psychologie ist nicht auf die bloße Stellungnahme – zu der interdisziplinäre Ansätze neigen – beschränkt, also kein externer Kommentar. Der eigentliche Konvergenzpunkt besteht im Sinne des Schlagworts der ›Realpsychologie‹ in einer möglichen Experi­ mentalpsychologie, die inhärent phänomenologisch ist. Deswegen ist die historische Perspektive, in der alternative Entwicklungsmög­ lichkeiten aufgezeigt werden, von größter Bedeutung. Sie muss als Spurensuche nach den Möglichkeiten einer phänomenologischen Experimentalpsychologie beansprucht werden. In diesen Spuren kön­ nen sodann an denjenigen Systemstellen, welche die zeitgenössische Forschung prägen, aber keine Stabilität vorweisen, also Sollbruchstel­ len sind, alternative Grundlagen für die Experimentalpsychologie vorgeschlagen werden. Kognition, Funktion und Information sind ubiquitäre Begriffe der psychologischen Erklärung – operative Begriffe im Sinne Finks (s.o. Kapitel 1) –, auf deren Präsuppositionen umso schwieriger zu reflektieren ist, je selbstverständlicher ihre meist nur alltagssprach­ liche Verwendung ist. Zu behaupten, es bedürfe keiner Reflexion, wird zumeist nur nominalistisch gestützt: kognitive Funktionen bei­ spielsweise seien mehr nicht als der Name für eine Menge von Konstrukten. Wer sich dieses Nominalismus’ bedient, gibt allerdings sogleich den Anspruch auf, eine Einheit des psychischen Subjekts, also das Seelenleben, zu untersuchen, sodass die besagte Menge grundlos eingeschränkt oder erweitert werden kann – es entsteht eine konfuse Gruppierung von zusammenhangslosen Ideen. Willkür herrscht in nominalistischer, konstruktivistischer oder relativistischer Psycholo­ gie allemal – falsch ist sie hingegen allein deswegen, weil selbst diejenigen Forscherinnen und Forscher, die den Gegenstand ihrer Untersuchungen für ein zufälliges Produkt der Geistesgeschichte halten, eigentlich etwas erleben und dieses Erleben schlichtweg als Konstruktion vermeinen, statt die Präsupposition der Bedeutsamkeit

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zu thematisieren. Hier leistet die Phänomenologie eine Aufklärung, die mit jeder Form des Nominalismus brechen muss: Aber nicht dürfen wir dies als das Wesentliche des Nominalismus auffassen, daß er in der Absicht, Sinn und theoretische Leistung des Allgemeinen aufzuklären, sich in das blinde assoziative Spiel der Namen als bloßer Wortlaute verliert; sondern daß er überhaupt, und zwar in Absicht auf solche Aufklärung, das eigentümliche Bewußtsein übersieht (Hua XIX, 149).

Der Ansatz für die Bereicherung der Experimentalpsychologie durch phänomenologische Anregungen muss darin bestehen, die begriffli­ chen Brücken, die in der historischen Betrachtung entdeckt wurden, zu beschreiten, also den Dialog zwischen den etablierten Paradigmen der Experimentalpsychologie und phänomenologischer Psychologie über die Kernbegriffe jenes Paradigmas zu beginnen. Dieser Schritt ist entscheidend, um Kommensurabilität zwischen den Ansätzen herzustellen und einen forschungspraktischen Anschluss für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie zu gewinnen. Er erfolgt in der historisch entgegengesetzten Richtung als eine Annä­ herung und Erschließung der impliziten Präsuppositionen der Gegen­ wartspsychologie, also als die Freilegung ihrer Ideengeschichte. Die grundlegende Ideenkonstellation lässt sich in einem Schema (Abb. 1) verdeutlichen.

Abbildung 2. Allgemeine Orientierungen in der Psychologie. a: Antagonismus von Funktionspsychologie und Erscheinungspsychologie; b: Synthese von Konstrukten auf der erfahrungsabstrakten Konstitutionsebene; c: Genetische Phänomenologie der Subjekt-Objekt-Trennung; d: Antagonismus von konstruktivistischer und phänomenologischer Psychologie.

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Wie oben ausgeführt worden ist, hat Stumpf (1907) die Ausgangs­ lage in der psychologischen Wissenschaft – gewissermaßen: das Leib-Seele-Problem – als Alternative von Funktions- und Erschei­ nungspsychologie beschrieben. Dieser Antagonismus (a) lässt sich – in einer erfahrungsanalytischen Hinsicht – durch die Pole Subjektivis­ mus und Objektivismus beschreiben (wobei diese Erfahrungsanalyse freilich erst in der Kritik dieses Antagonismus sichtbar wird). Auf ihn gründet für den Begriff der Kognition eine immanentistische und eine externalistische Variante. In der jüngeren Geschichte der Disziplin wurde dieser Gegensatz unter Einfluss des Pragmatismus und der analytischen Philosophie zugunsten einer konstruktivistischen Psy­ chologie (b) zu überwinden versucht. Die Eigenheit dieses Schrittes ist, die Subjekt-Objekt-Trennung, also das Verhältnis von Innenund Außenwelt vorauszusetzen und eine Synthese zu bilden, die allerdings keinen Zweifel an der Authentizität der Trennung selbst bekundet, sondern sie in einer Synthese zu überformen versucht. Die phänomenologische Psychologie ist demgegenüber der Ver­ such, die Herkunft der Spaltung von Subjekt und Objekt genetisch mit Blick auf die primordiale Erfahrung zu erklären (c), ohne dabei auf eine spekulative Transzendentalphilosophie zurückzufallen, sich also an ›den Sachen selbst‹ zu orientieren. Es ergibt sich der – hier maßgebliche – Antagonismus zwischen konstruktivistischer und phänomenologischer Psychologie (d), der sich für alle Fundamental­ begriffe (im Nachfolgenden beispielhaft Kognition, Funktion und Information) wiederholt. Diese Begriffe beanspruchen in der zeitge­ nössischen Theoriebildung Selbstverständlichkeit, wie sich etwa bei Allen Newell und Herbert Simon, deren Forschung wegweisenden für den Kognitivismus und die Denk- und Problemlösungsforschung gewesen ist, zeigt: »Both of these notions – information and proces­ sing – are long-established, highly general concepts« (Newell & Simon 1972, 5). Es wäre ein Missverständnis, zu meinen, dass dieser Antagonismus ausschlösse, die Einsichten anderer psychologischer Orientierungen in der phänomenologischen Psychologie zu verwen­ den. Merleau-Ponty betont, dass die phänomenologische Reduktion nicht abgeschlossen werden könne – sie ist gewissermaßen eine idealisierte Einstellung. Vielmehr gilt, wie Holzhey (1991) darstellt, dass auch der phänomenologische Beitrag zur Forschung Phasen der Konstruktion fordere. Entscheidend ist dabei indessen, stets zur Phä­ nomenologie zurückzukehren. Die Aufgabe der phänomenologischen Psychologie ist folglich, die Erkenntnisse der anderen Orientierungen

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zu analysieren und zu revidieren, statt sie schlichtweg zu verwerfen. Diese Geisteshaltung kommt bereits in einem Satz Diltheys zum Ausdruck, den Stumpf 1924 und Herzog 1995 hervorgehoben haben: »Wir verschmähen die Konstruktion, lieben die Untersuchung, ver­ halten uns skeptisch gegen die Maschinerie eines Systems« (Herzog 1995, 269). Die ideengeschichtliche Darstellung der Ausgangslage soll an dieser Stelle jedoch nicht auf die Standardkritik, also etwa AntiReduktionismus, Anti-Nominalismus, Anti-Formalismus, abzielen, welche zum gewöhnlichen Umgang der Philosophie mit den Wis­ senschaften gehört. Es ist unsere Überzeugung, dass Kritik dieser Art abgesehen von der Fremdgruppen-Abgrenzung keinen bedeut­ samen Beitrag leistet. Wenn Kritiker erfolgreich, also sachdienlich sein wollen, müssen sie in der Psychologie psychologisch argumen­ tieren. Es reicht nicht, diskursfremde Ansprüche zu stellen. Es kann ihr Anliegen nicht sein, die kognitive Psychologie brach liegen zu lassen, nachdem ihr geistesgeschichtlicher Anspruch auf Legitimität geleugnet wurde. Kursorische philosophische Antworten dienen den psychologischen Problemen nicht. Das Territorium der Psychologie ist von lebendiger Fülle und wird die Gewalt der Reflexion nicht als alleingültig anerkennen. Dass im Folgenden die drei Schlagwörter Kognition, Funktion und Information hinterfragt werden, dient zwei wesentlichen Zwe­ cken. Erstens soll die Inkohärenz der bestehenden Grundlage für die psychologische Forschung sichtbar gemacht werden. Damit ist nicht behauptet, dass eine begriffskritische Perspektive für die Revision der gesamten Experimentalpsychologie ausreichend wäre. Im Gegenteil steht, wie bereits zuvor erwähnt, außer Frage, dass die empirische psychologische Forschung unabhängig von der (In-)Kohärenz ihrer Fundamente ist. In anderen Worten: Spätestens seit der Etablierung positivistischer Wissenschaftstheorien ist die empirische Forschung unabhängig von der Deduktion ihres Verfahrens aus epistemologi­ schen Prinzipien. Die Kritik dient in Anbetracht dieses Umstandes vielmehr der Explikation des mangelnden Geltungsanspruchs der­ jenigen Erklärungsmuster, die sich bisher etabliert haben. Damit ist gesagt, dass die Darstellung der Inkohärenz von Schlüsselbegrif­ fen der Experimentalpsychologie verdeutlicht, dass die bestehenden Erklärungs- und Interpretationsmuster keine Vorteile gegenüber Alternativen, zumal der Phänomenologie, vorweisen können.

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Zweitens dient die Kritik dazu, Potenziale aufzuzeigen. Dass es unter den gegebenen Bedingungen keinen ausreichend kohärenten Geltungsanspruch der etablierten experimentalpsychologischen Deu­ tungsmuster gibt, bedeutet nicht, dass es sich epistemologisch not­ wendiger Weise so verhält. Diese Behauptung steht in klarem Wider­ spruch zu skeptizistischen Wissenschaftstheorien, beispielsweise dem Erkenntnisrelativismus, für die wissenschaftliche Wahrheitsan­ sprüche allenfalls soziale Konventionen sind (z.B. die Konsenstheorie; s. Apel 1973). Die phänomenologische Bewegung statuiert erkenn­ bare Unterschiede der Qualität von Geltungsansprüchen. Dement­ sprechend ist es möglich, kohärentere Alternativen der Erklärung von psychologischen Beobachtungen zu liefern als das begriffliche Stützgerüst der vorherrschenden Experimentalpsychologie. Die Fest­ stellung begrifflicher Defizite stellt die Erneuerung der phänomeno­ logischen Psychologie in die Verantwortung, einerseits eine Wissen­ schaftstheorie zu entwickeln, in der es besser als gegenwärtig möglich ist, die Theorie- und Begriffsdefizite der Psychologie zu erkennen – Defizite, die hier an drei Schlüsselbegriffen exemplifiziert werden –, und andererseits ein kohärenteres begriffliches Bezugssystem für die Explikation, Erklärung und Interpretation psychologischer Befunde bereitzustellen.

6.1 Kognition Mitnichten ist das Schlüsselwort der jüngeren Psychologiegeschichte, die Kognition, ein eindeutiger Begriff. (Vgl. Scheerer 1985) Einerseits ist seine Genealogie unsicher, andererseits konkurrieren diverse Defi­ nitionen. Es herrscht eine operative Verwendung vor, deren Vagheit subtile Differenzen, z.B. zu Emotion oder Motivation, aufzulösen droht. Darunter leidet die empirische Anwendung nur indirekt, aber schleichend, nämlich zunächst nicht in der Praxis, sondern in der Begriffsbildung und der Interpretation. Zugleich droht ein vermeint­ licher Vorteil, nämlich die chaotische Fruchtbarkeit, welche in der Unbestimmtheit liegt, und dazu verführt, die begriffliche Klarheit zu vernachlässigen. Tatsächlich scheitert die Bestimmung der Kognition jedoch nicht an der Volatilität des Gegenstandes, sondern an der definitorischen Bodenlosigkeit, die sich aus einem konstruktivisti­ schen Blick auf die Frage nach dem Psychischen und einer Blindheit gegenüber den psychischen Phänomenen ergibt.

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Die Etymologie des psychologischen Begriffes ›Kognition‹ mag zunächst an die cartesianischen cogitationes und die antike γνῶσις denken lassen und although many proponents of cognitivism claim that it has transcended its Cartesian roots by invoking essentially ›materialist‹ understand­ ings of the mind-brain-behaviour relationship, there still remains an undissolved Cartesian core to their ways of thinking (Coulter 1991, 176).

Doch letztlich gilt: »it should be noted that the cogito of philosophy is not synonymous with the cognition of psychology« (Aanstoos 1987, 250). Freilich soll mit dieser Referenz nicht bestritten werden, dass es ein rationalistisches Erbe des zeitgenössischen Kognitionsbegriffes gibt. Es soll im Gegenteil sogar ausdrücklich anerkannt werden: The rationalist conception of cognition was explicitly formulated at the beginning of ›the cognitive revolution‹ by Chomsky in his theory of the generative grammar and subsequently in Fodor’s contention that the human organism comes ready built with a language of thought (Keijzer & Bem 1996, 451).

Zum anderen mögen allerdings auch Empiristen wie Hume als Vor­ denker der kognitiven Psychologie in Anspruch genommen werden (z.B. Garrett 1997), doch in der Psychologie nimmt die Entwicklung des Kognitionsbegriffes letztlich erst mit dem Pragmatismus seine prägnante Form an: »It may be wise to begin with William James. He is […] one of the first psychologists to introduce and to define cognition as a psychological construct« (Graumann 1988a, 19). Graumann argumentiert auf der Grundlage geistesgeschicht­ licher Überlegungen, »that cognition when introduced into psycho­ logy about one hundred years ago still referred to the processes and products of knowing« (Graumann 1988a, 22). Unter ›knowledge‹ kann allerdings sowohl ›Wissen‹ als auch ›Erkenntnis‹ verstanden werden. Dessen ungeachtet lasse sich vor diesem Hintergrund eine immanentistische von einer externalistischen Fassung der Kognition unterscheiden. Jene könne klassisch als Gefäßmodell des Wissens verstanden werden: [T]here was the epistemological theory of immanentism which placed reality as the correlate of all experience inside our mind or conscious­ ness, which later, in the tradition of Locke, was an immaterial entity containing ideas or any other mental elements or contents (ebd., 19f.).

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Angeregt durch den Pragmatismus stellte sich dem Immanentismus der Externalismus – in der Psychologie als Behaviorismus – gegen­ über, der die Kognition in Abhängigkeit von der materiellen Kon­ figuration der Umwelt konzipiert: »radical externalization of the knowledge problem, anchoring knowledge and cognition as deeply as possible in the outer world« (ebd., 25). Diese konzeptuellen Grundla­ gen verbinden den (Neo-)Behaviorismus als Vorläufer mit der kogni­ tivistischen Theorie der Informationsverarbeitung (vgl. Lachman et al. 1979, 39ff.). Warum, so ließe sich fragen, muss Kognition an dieser Stelle als Konstrukt begriffen werden, insofern als mit Begriffen wie dem Denken eine Alternative zur Verfügung steht? Allein, die moderne Psychologie – und daran zeigt sich sowohl die Anlage zum Bündnis mit dem Konstruktivismus als auch die Nähe zur Sprachphilosophie – äußert eine Skepsis gegenüber natürlichsprachigen Ausdrücken (im Sinne von ordinary language), welche als missverständlich beurteilt werden, etwa bei Ryle: Nor are the boundaries between what is and what is not intellectual made much clearer by referring to the notion of thinking, since ›think­ ing‹ is not only just as vague as ›intellectual‹, but also has extra ambiguities of its own. In one sense, the English verb ›think‹ is a synonym of ›believe‹ and ›suppose‹; so it is possible for a person, in this sense, to think a great number of silly things, but, in another sense, to think very little. Such a person is both credulous and intellectually idle. There is yet another sense in which a person may be said to be ›thinking hard what he is doing‹, when he is paying close heed to, say, playing the piano; but he is not pondering or being in any way pensive. If asked what premisses he had considered, what conclusions he had drawn or, in a word, what thoughts he had had, his proper answer might well be, »None. I had neither the time nor the interest to construct or manipulate any propositions at all. I was applying my mind to playing, not to speculating on problems, or even to lecturing to myself on how to play« (Ryle 2009, 257).

Zwar mag im 18. und 19. Jahrhundert ein lebendiger vermögenspsy­ chologischer Diskurs Bestand gehabt haben, der das Denken von anderen Fakultäten der Seele, wie Fühlen, Wahrnehmen und Wollen, abzugrenzen versuchte, doch der Begriff der Kognition bricht mit dieser Tradition. Ob der Bruch gelungen ist, sich also die Kognition ohne begriffliche Spuren des Denkens konzipieren lässt, ist eine denk­ würdige Frage, die mit größter Relevanz am Horizont des Kognitions­

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begriffes stehen muss. Im psychologischen Jargon erfolgt zumeist keine deutliche Trennung. Dennoch soll diese Frage, die für die Phäno­ menologie der Kognition unumgänglich ist, zunächst ausgeklammert werden, um die kognitionspsychologische Argumentationsweise zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Verwendung des Begriffes Kognition, so lässt es sich sagen, diente bereits früh in der Geschichte der Disziplin der Kompensation des notorischen Mangels an Einheit der Wissenschaft. Deswegen ist auch der Versuch der Desambiguierung einer ›prozeduralen‹ und einer ›topischen‹ Kognition (vgl. Graumann 1988b, 16) bzw. ›Prozess‹ und ›Produkt‹ (vgl. Brandimonte et al. 2006), wie Graumann betont, nur oberflächlich. Es folgt daraus, dass eine kaum zu überblickende definitorische Willkür in der Psychologie Einzug gehalten hat, die von Serrano und Kollegen (2014) dokumentiert wurde. Um aus einer Vielzahl nur drei beliebige Beispiele zu nennen: »Cognition is the ability to ground perceptions in concepts together with the ability to manipulate concepts in order to proceed toward goals« (Serrano et al. 2014, 3); »Cognition allows to perceive, learn, reason, plan and express itself through language and action and do so intentionally, i.e. it must be able to understand the intentionality of others and demon­ strate intentionality when engaged in communication« (ebd.); »Cog­ nition is the conscious process of the mind by which one becomes aware of thoughts and perceptions, including all aspects of perceiving, thinking, and remembering« (ebd.). Mögen diese Definitionen auch nicht unbrauchbar sein, so sind sie im eigentlichen Sinne keine Begriffsbestimmungen und werden weder der diffizilen Lage in der Wissenschaft noch der Möglichkeit einer Phänomenologie der Kogni­ tion, also eines Rückgangs auf den Ort des Begriffes in Bezug auf die originär gebende Erfahrung, gerecht. Wichtiger ist, zu berücksichtigen, in welcher Form der Begriff in den unterschiedlichen disziplinären Ansätzen benutzt wurde. Wäh­ rend es mit dem Immanentismus die Aktpsychologie des 19. Jahrhun­ derts und mit dem Externalismus den Behaviorismus in Tradition der Assoziationspsychologie weitgehend abzubilden gelingt, sind die Entwicklungen der jüngeren Psychologiegeschichte spezifischer. Vor der Auseinandersetzung mit den jüngeren disziplinär psycholo­ gischen Paradigmen steht jedoch die Aufklärung der übergeordneten wissenschaftlichen Bewegung namens ›cognitive sciences‹: The ›birth‹ of cognitive science is often traced back to the Symposium on Information Theory held on September 10–12, 1956 at M.I.T. There,

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researchers from various disciplines gathered to exchange ideas on communication and the human sciences. Three talks in particular, Miller’s The magical number seven, Chomsky’s Three models of lan­ guage, and Newell and Simon’s Logic theory machine, have been singled out as instrumental in seeding the cognitive science movement. Following these talks, a perception began to emerge that ›human experimental psychology, theoretical linguistics, and computer simula­ tions of cognitive processes were all pieces of a larger whole‹ (Medler 1998, 20).

Aus dieser Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven resul­ tierte cognitive science als »interdisciplinary study of mind« (ebd.), aber: At this time cognitive science is not yet established as a mature science. It does not have a clearly agreed upon sense of direction and a large number of researchers constituting a community, as is the case with, say, atomic physics or molecular biology. Rather, it is really more of a loose affiliation of disciplines than a discipline of its own. Interestingly, an important pole is occupied by artificial intelligence – thus the computer model of the mind is a dominant aspect of the entire field. The other affiliated disciplines are generally taken to consist of linguistics, neuroscience, psychology, sometimes anthropology, and the philosophy of mind. Each discipline would give a somewhat different answer to the question of what is mind or cognition, an answer that would reflect its own specific concerns (Varela et al. 1991, 4f.).

Ohne an dieser Stelle die bereits artikulierte Kritik der Interdisziplina­ rität überreizen zu wollen, sei erneut betont, dass die Eigenheit des Interdisziplinären die Angewiesenheit auf ursprünglich disziplinäre Dynamiken und Potenziale sowie die Rückwirkung auf diese Poten­ ziale ist. Der Maßstab für den Erfolg der Bewegung ist in diesem Sinne der Einfluss auf die jeweilige fachliche Forschung. Während das Interesse an künstlicher Intelligenz seit den 1950er Jahren unver­ mindert anhält, lässt sich jedoch auch dafür argumentieren, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Interesse handelt, welches womöglich durch die cognitive sciences Bewegung gefördert wurde, aber in letzter Instanz auf die Kuriosität des Fremden zurückfällt. Die Bedeutung der cognitive sciences sollte folglich nicht überschätzt werden, insofern als es sich zwar um ein thematisches Konglomerat handelt, das seit der alltäglichen Gegenwart von Computern Interesse garantiert, doch nicht zwingender Weise den Einfluss auf die an

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dieser Bewegung teilhabenden Disziplinen verschafft, wie leicht an der weitgehenden Gleichgültigkeit der zeitgenössischen Experimen­ talpsychologie gegenüber beispielsweise der Anthropologie zu sehen ist. In der Psychologie hat die intradisziplinäre Entwicklung Priorität. Sie verlief zunächst vom Externalismus zum Kognitivismus. Der (externalistische) Neobehaviorismus hatte mit der Stimu­ lus-Response-Doktrin als der Relation von Input- zu Output-Varia­ blen zu brechen begonnen, als intervening variables etwa von Clark Hull (1942) eingeführt wurden, um jene Relation zu erklären. Sie fanden ihre empirische Entsprechung in den Tier-Experimenten Tol­ mans (1948), bei denen Ratten in einer Explorations-Phase sich mit einem Y-Labyrinth vertraut gemacht hatten, obwohl sie weder hungrig noch durstig gewesen sind, um dann bei Hunger die Lage des Futters oder bei Durst die Tränke überzufällig häufig ohne zu suchen wiederzufinden. Tolman erklärte dieses Geschehnis durch den Begriff der »cognitive map« (Tolman 1948, 196) und widersprach damit dem radikalen Behaviorismus Skinners. Weil Tolman jedoch cognitive maps theoretisch auf Grundlage einer Verhaltens-Zielori­ entierung erklärte (»mental processes are to be identified in terms of the behaviors to which they lead«; Tolman 1932, zit. nach Lefran­ cois 2000, 171), kann dieser Vorstoß noch nicht im eigentlichen Sinne als Kognitivismus bezeichnet werden, weil der teleologische Grundgedanke mit dem (Neo-)Behaviorismus vereinbar bleibt: »In other words, his intervening variables, like those described by Hull, are tied to observable behaviors« (Lefrancois 2000, 171). Ein weiterer Beitrag vom Behaviorismus zum Kognitivismus bestand demgegenüber in Hebbs Überlegungen zu higher mental processes, die in Vermittlung von Reiz und Reaktion als Gedanken erlebt werden: »Sensory stimulation arouses a central process, which at first occurs only when that stimulation occurs; but with repetition the central process changes, becomes internally organized, so that it is capable of an independent existence« (Hebb 1958, 48). Der Gedanke einer zentralen Operation oder Prozessierung ist im Sinne von Lachman und Kollegen (1979) ein wichtiger Übergang zum systemtheoretischen Begriff eines ›zentralen Prozessors‹, welcher den informationsverarbeitenden Ansatz des Kognitivismus auszeichnet. Der Unterschied besteht wesentlich in der hinzutretenden ›Physical Symbol System Hypothesis‹, die eine bezeichnende Parallele zur Reflexbogen-Hypothese (s. Abschnitt 6.2) enthält:

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Apart from its sensory organs, the system operates almost entirely serially, one process at a time, rather than in parallel fashion. This seriality is reflected in the narrowness of its momentary focus of attention. The elementary processes of the information-processing system arc executed in tens or hundreds of milliseconds. The inputs and outputs of these processes are held in a small short-term memory with a capacity of only a few (between, say. four and seven) familiar symbols, or chunks. The system has access to an essentially unlimited long-term memory, but the time required to store a new chunk in that memory is of the order of seconds or tens of seconds (Simon 1978, 273).

Die wichtigsten Aspekte dieser Hypothese sind einerseits die serielle Verarbeitung durch einen zentralen Prozessor nach dem Vorbild der Von-Neumann-Architektur in Rechenmaschinen, die repräsentative Funktion des Informations-Begriffes, die in seiner späteren Bespre­ chung zu thematisieren sein wird, und die Transformierbarkeit der Symbole: »Basically, the hypothesis states that cognition is based upon patterns of information, that these patterns of information can be represented as symbols, and that these symbols can be mani­ pulated« (Mendler 1998, 20). Die Funktionsweise des Prozessors muss dabei als Herzstück des impliziten Kognitionsbegriffes verstan­ den werden. Die operativen Muster des Arbeitsgedächtnisses wurden von Anderson und Bower untersucht und in einem kognitiven Modell dar­ gestellt. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Auseinan­ dersetzung mit assoziationspsychologischen Konzepten des Gedächt­ nisses – die mit dem Behaviorismus vereinbar sind –, nach denen die Verbindung zwischen Gedächtniseinträgen (eine Konzession an den Immanentismus) als paarweise Zuordnung mit einem einfa­ chen Stärkemaß der Assoziation beschrieben werden könne. Diese Annahme wurde infrage gestellt, weil ihre Anwendung am Vergleich mit menschlichem Verhalten versagte, insofern als die Suche nach dem stärksten Gedächtniseintrag als eine vollständige Bearbeitung der Liste von Einträgen deutlich langsamer abläuft. Deswegen ent­ warfen Anderson und Bower eine Regulationsebene, die die Kriterien für den Suchprozess ergänzte: »One obviously needs a directed search process, and the model to be described accomplishes this by searching only those associative pathways which have been recently tagged as useful for retrieving the word set under consideration« (Anderson & Bower 1972, 105f.). Das kognitive Modell, das diese Regulations­ ebene – welche wegen ihrer intern regulierenden Funktion nicht

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mit den Prinzipien des klassischen oder radikalen Behaviorismus vereinbar ist, aber als »neo-associationist« (Wilson 1980, 13) einer moderateren Form des funktionalen Behaviorismus zugeordnet wer­ den kann – implementierte, war das Free Recall in an Associative Network (FRAN), welches im Laufe der folgenden Forschungsdeka­ den bis zum sog. Adaptive Control of Thought-Rational (ACT-R) weiterentwickelt wurde. Ähnlich wie zuvor epistemologisch der Begriff der Ähnlichkeit im Zusammenhang der quantitativen Empirie überprüft wurde, ist an dieser Stelle zu fragen, wodurch die Auswahl elementarer Prozesse in kognitiven Architekturen wie ACT-R oder dem General Problem Solver gerechtfertigt wird. Newell und Simon benennen sieben dieser fundamental operations, nämlich Discrimination‚ Tests and Comparis­ ons, Symbol Creation, Writing Symbol Structures, Reading and Writing Externally, Designating Symbol Structures und Storing Symbol Struc­ tures (vgl. Newell & Simon 1972, 29f.). Diese Operatoren entspre­ chen einer inhomogenen Auswahl an phänomenologisch verfügbaren Strukturen der Erfahrung – eine Reflexion von Newell und Simon auf diesen Umstand bleibt jedoch aus. Wird die unstrukturierte Auswahl aufrechterhalten, bleiben die auf sie gründenden Überlegungen nicht etwa nur unvollständig, sondern werden fehlerhaft, wie sich etwa für die unzureichende Reflexion der Repräsentation als Grundlage des Informationsbegriffes zeigen wird. In anderen Worten: An der selbstverständlichen Verwendung von Operatoren dieser Art offenba­ ren sich die Präsuppositionen des Ansatzes, deren wissenschaftliche Thematisierung eine Veränderung der Betrachtungsebene verlangt, nämlich zugunsten der phänomenologischen Psychologie. Es zeigt sich letztlich, dass der Kognitionsbegriff, der innerhalb des Kognitivismus als »Information processing framework« (Newell & Simon 1972, 787) bezeichnet werden kann im Kern als eine Fort­ entwicklung der Assoziationspsychologie zu verstehen ist. Bereits Theodor Ziehen hatte am Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der Assoziation über die paarweise Assoziation hinaus weiterentwi­ ckelt. Der Begriff der heuristic search als regulierter Abruf ist jedoch ein wesentliches Merkmal einer systematischen Selbstregulation auf mehreren Ebenen, welche den Kognitivismus in erster Linie als unver­ einbar mit dem Behaviorismus in Erscheinung treten ließ. Allerdings sollte der Kognitionsbegriff nicht auf diese Fassung reduziert wer­ den. Die Bewegung des Kognitivismus umfasste zusätzlich weitere

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Ansätze, die nicht vollständig mit dem Konzept der Informationsver­ arbeitung übereinstimmten. Neisser zeigt entgegen der Physical Symbol System Hypothesis eine Zurückhaltung gegenüber der von Newell und Simon propa­ gierten Parallele zwischen Mensch und Maschine: »Unlike men, ›artificially intelligent‹ programs tend to be single-minded, undis­ tractable, and unemotional« (Neisser 2014, 9) und betont damit die Abgrenzung der Kognition zu anderen psychischen Funktionen. Stattdessen artikuliert er einen biologistischen Kognitivismus: »I do not doubt that human behavior and consciousness depend entirely on the activity of the brain« (ebd., 6). Zugleich finden sich die in der Psychologiegeschichte perennierenden Motive von Pragmatismus und Konstruktivismus: »The central assertion is that seeing, hearing, and remembering are all acts of construction« (ebd., 10). Auf der Grundlage von Neissers Überlegungen (»the construc­ tive processes themselves never appear in consciousness, their pro­ ducts do«; ebd. 301) äußerten Nisbett und Wilson (1977) Kritik an der Methode, die bei Newell und Simon zur Untersuchung kamen, näm­ lich die think aloud protocols. Damit halfen sie, den Grundstein für den sog. biases and heuristics Ansatz des Kognitivismus zu legen, welcher insbesondere von Tversky und Kahneman (1974) vertreten wurde und – in einem teilweisen Konflikt mit Anderson (vgl. Smith & Miller 1978) – von der Fehlbarkeit und Intransparenz der Selbstregulation handelt. Nisbett und Wilson hatten dabei anhand einiger Verhaltens­ experimente dagegen argumentiert, dass der Selbstbeobachtung die Feststellung von der Gegenwart und dem Inhalt kognitiver Prozesse möglich sei: »Sometimes, as in dissonance and attribution studies, and in the reports of creative artists and scientists, people appear to be unable to report that a cognitive process has occurred« (Nisbett & Wilson 1977, 246). Daraus schlussfolgerten sie, dass Selbstbes­ chreibungen nur unter bestimmten Plausibilitätsbedingungen zutref­ fend seien: »These conditions may be summarized briefly by saying that reports will be accurate when influential stimuli are (a) available and (b) plausible causes of the response, and when (c) few or no plausible but noninfluential factors are available« (ebd., 253). Somit zeigt sich, dass das Gros der kognitivistischen Ansätze zwar dadurch charakterisiert werden kann, dass Kognition als eine Funktion bzw. ein Prozess definiert wird, der mechanistisch (z.B. computational) instanziiert ist, doch dessen Zugänglichkeit für die psychologische Beobachtung strittig ist – eine Debatte, die bereits

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zum Ende des 19. Jahrhunderts geführt wurde. Jenseits dieser epis­ temologischen Kontroverse besteht also ein konzeptueller Konsens zwischen den Kognitivisten, der sich mit Marr auf drei methodologi­ schen Ebenen beschreiben lässt: »the levels of computational theory, algorithm, and of implementation« (Marr 1982, 103). Dabei kann beispielsweise die computational theory im weiteren Sinne wie bei Chomsky als Menge grammatikalischer Regeln oder im engeren Sinne als maschinelle Theorie der Symbolverarbeitung verstanden werden. Allein, eine derart weitläufige Zusammenfassung der kogni­ tivistischen Ansätze vernachlässigt die spezifischen Differenzen zu anderen psychologischen Paradigmen. Auch der Konnektionismus lässt sich durch Marrs drei metho­ dologische Schritte beschreiben; der Unterschied zu den kogniti­ vistischen Theorien ist subtiler – sie betrifft insbesondere das Verhältnis von algorithm und implementation, insofern als der Konnektionismus die Grundannahme der Kognition als serieller Verarbeitung in einem Zentralprozessor infrage stellt und folglich anstelle eines einzigen Algorithmus die parallele, dezentrale und möglicherweise heteronome Verarbeitung mehrerer Algorithmen erwägt. Das Muster der Implementierung ist folglich nicht wie im Kognitivismus physikalisch-logisch, sondern biologisch-statistisch, weswegen die implementation weniger als Trägerschaft für einen ratio­ nalistisch konstruierten Code zu verstehen ist denn als funktionale Beschreibung neuropsychologischer Strukturen, wobei der zugrunde­ liegende Begriff der Funktion einer ausführlichen Reflexion bedarf (s. Abschnitt 6.2). Diese Konzeption der Kognition findet bereits im 19. Jahrhundert ihre Vordenker in den Arbeiten von Spencer und James: »When two elementary brain-processes have been active together or in immedi­ ate succession, one of them, on reoccurring, tends to propagate its excitement into the other« (James 1890, 566). Auch im Behavioris­ mus lassen sich in Hebbs Arbeiten zu neuralen Zellverbänden als geschlossenen Systemen konnektionistische Gedanken wiederfinden. Seine eigentliche konzeptuelle Fassung fand er aber erst im Rahmen der cognitive sciences Bewegung, wobei insbesondere der Formalisie­ rungsversuch durch McCulloch und Pitts hervorzuheben ist: We shall make the following physical assumptions for our calculus. 1. The activity of the neuron is an ›all-or-none‹ process.

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2. A certain fixed number of synapses must be excited within the period of latent addition in order to excite a neuron at any time, and this number is independent of previous activity and position on the neuron. 3. The only significant delay within the nervous system is syn­ aptic delay. 4. The activity of any inhibitory synapse absolutely prevents excitation of the neuron at that time. 5. The structure of the net does not change with time (McCulloch & Pitts 1943).

Mithilfe dieser syntaktischen Grundregeln ließen sich die ersten konnektionistischen kognitiven Modelle – gewissermaßen in direk­ ter Konkurrenz zu Andersons FRAN – etablieren, etwa Selfridges Pandemonium und insbesondere Rosenblatts Perceptron, welches als Anstoßstein für das gegenwärtig vielbeachtete Forschungsprogramm der machine pattern recognition und des machine learning wirkte: Basically, the perceptron is a theoretically parallel computation device composed of (i) a layer of sensory units (S-unit) which transduce physical energy (e.g. light, sound, etc.) into a signal based on some transformation of the input energy, (ii) any number of layers of asso­ ciation units (A-unit) which have both input and output connections, and (iii) a final layer of response units (R-unit) which emit a signal that is transmitted to the outside world (Medler 1998, 34).

Mit der Präferenz biologischer statt physikalischer Erklärungen der psychischen Funktionen ergaben sich nicht nur in Hinsicht auf die Implementierung paralleler Computation fruchtbare Bezugspunkte für die konnektionistische Psychologie. Von großer Bedeutung ist erstens der Bezug zur Evolutionstheorie und dadurch die Nähe zum Funktionalismus, welcher sich, wie noch zu zeigen ist, in pragmati­ scher Tradition entwickelt hatte. Zweitens – und dies ist für die Frage nach der Kognition von entscheidender Bedeutung – gestattet es sich für den Konnektionismus, Kognition als heterogenes Agglome­ rat diverser, sogar strukturell unverbundener paralleler Prozesse zu betrachten. Hierin besteht der stärkste Unterschied zum Kognitivis­ mus, der die Zentralität oder Einheit der kognitiven Funktionen im Sinne von Neumanns axiomatisiert. Zugleich ergibt sich aus Perspek­ tive der deskriptiven Psychologie, die Herausforderung, konnektio­ nistisch zu erklären, weswegen ein einheitlicher Bewusstseinsstrom erlebt werden kann – oder, biologisch gesprochen, weswegen die separaten Module der Kognition nicht desintegrieren oder sich sogar

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gegenseitig eliminieren. Weil auch der Konnektionismus im Kern ein Paradigma der Informationsverarbeitung ist, ergibt sich auch für ihn das Problem der Repräsentation, welches epistemologisch auf einen indirekten Realismus zurückfällt und wesentlich mit dem Begriff der Information, der noch zu diskutieren sein wird, verbunden ist (s. Abschnitt 6.3). Aus der Antwort auf diese Probleme – aber auch aus neuen Impulsen – ergab sich in jüngerer Zeit ein Ansatz, der zu einem gewis­ sen Grad als Fortsetzung der cognitive sciences Bewegung beschrieben werden kann, aber auch als deren Überwindung, nämlich der Emodi­ ment-Ansatz im Allgemeinen, und phänomenologisch geprägt der Enaktivismus im Speziellen. Als Gründungsdokument gilt die von Varela und Kollegen 1991 veröffentlichte Arbeit The Embodied Mind. Seitdem hat sich der Ansatz diversifiziert und auf teils voneinander abweichende Weisen einen Einfluss auf die Experimentalpsychologie zu nehmen begonnen. Während Kognitivismus und Konnektionis­ mus im Schema von Immanentismus und Externalismus eher zu einer – wenn auch aus phänomenologischer Warte beurteilt nur schein­ baren – Verinnerlichung des Kognitionsbegriffes geführt hatten, so zeichnet sich die Wirkung des Enaktivismus in der Psychologie – wenngleich nicht immer in Übereinstimmung mit dem Gründungs­ gedanken des Enaktivismus-Ansatzes – als eine Gegenbewegung in Begriffen wie distributed cognition oder situated cognition und insbesondere embodiment ab: Embodiment is nowadays by many researchers considered a conditio sine qua non for any form of natural or artificial intelligence. Pfeifer and Scheier, for example, argued that »intelligence cannot merely exist in the form of an abstract algorithm but requires a physical instantiation, a body«. Furthermore, embodiment is commonly considered one of the key ideas that distinguish recent work on situated, embodied and distributed theories of cognition, from the approach of classical cognitive science which, based on functionalism, had its focus on ›dis­ embodied‹ computation (Ziemke 2003, 1305).

Die Abweichung von einem Repräsentationsgedanken, der einen Hiatus zwischen Abbild und Abgebildetem unterstellt, ergibt sich aus einer konsequenten Anwendung der Verkörperungs-Idee: Wenn Kognition nicht mehr nur einen Körper als Träger in Anspruch nimmt bzw. in ihn ›implementiert‹ wird, sondern der Körper selbst zum Bestandteil der Kognition wird, so kann keine strukturelle Scheidung zwischen den beiden Sphären mehr vorgenommen werden: »while

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a cognitive process is being carried out, perceptual information continues to come in that affects processing, and motor activity is executed that affects the environment in task-relevant ways« (Wilson 2002, 626). Auf diesem naturalistischen Wege zum Konzept des Embodiments liegt eine Rückkehr zum Monismus nahe, sodass der Versuch der Überwindung von Kognitivismus und Konnektionismus von einem Lager der Enaktivisten zum Anlass genommen wurde, sich restlos auf einen Neuro-Reduktionismus einzulassen. Der Enaktivis­ mus als zweiter Weg zum Embodiment, der explizit von den Gründern des Ansatzes berücksichtigt wurde, führt durch die Leibphänomeno­ logie und erkennt einen Bewusstseinsbegriff an: The central insight of this nonobjectivist orientation is the view that knowledge is the result of an ongoing interpretation that emerges from our capacities of understanding. These capacities are rooted in the structures of our biological embodiment but are lived and experienced within a domain of consensual action and cultural history. They enable us to make sense of our world; or in more phenomenological language, they are the structures by which we exist in the manner of ›having a world‹ (Varela et al. 1991, 149f.).

Es ist strittig (dazu etwa Thompson 2010), ob es sich dabei tat­ sächlich um ein Bekenntnis zur Phänomenologie handelt oder ob die Philosophie vielmehr bloße Anregung bleibt (vgl. Abschnitt 5.2 zur Neurophänomenologie). In jedem Fall enthält der Ansatz eine Offenheit für diese Bezugnahme und eine entsprechende Anpassung des Kognitionsbegriffes: The forces that drive cognitive activity do not reside solely inside the head of the individual, but instead are distributed across the individual and the situation as they interact. Therefore, to understand cognition we must study the situation and the situated cognition together as a single, unified system« (Wilson 2002, 630).

Insbesondere die Leibphänomenologie Merleau-Pontys kann an die­ ser Stelle eine fruchtbare Grundlage schaffen. Ein vollständig entwi­ ckelter enaktivistischer Ansatz findet sich bei Fuchs (2008; 2018). Aller Offenheit des Enaktivismus zum Trotz kann er bisher nicht als mehr als ein kontroverser Beitrag zur Bewegung der cognitive scie­ nes betrachtet werden. Die experimentalpsychologische Forschung ist kaum betroffen, weil die Natur des enaktivistischen Grundlagen­ diskurses keinen kompatiblen Einfluss auf sie auszuüben vermag. Vielmehr ist der Enaktivismus eine offene Diskursgrundlage, die

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ihrerseits vermittels weniger interpretativer Kompromisse mit der psychologischen Standardforschung kompatibel erscheint. In ande­ ren Worten, er dient seinerseits nicht dazu, eine klare Opposition zu etablieren, die einen fruchtbaren intra-psychologischen Diskurs auszulösen vermag. Aus diesen Gründen sollte sich die phänomeno­ logische Psychologie nicht auf vermeintlich revolutionäre Potenziale im Enaktivismus einlassen, obschon die Anerkennung der besagten Offenheit keiner Einschränkung bedarf. Der Kognitionsbegriff muss auf dem Boden der Psychologie diskutiert werden. Hierzu ist mehr nötig, als den in der empirischen Praxis weitgehend generisch ver­ wendeten Kognitionsbegriff infrage zu stellen, wenngleich sich alle weiteren Reflexionen auf ihn zurückbeziehen mögen. Zu diesem Ende sollen mit der Diskussion des Funktions- und Informationsbegriffe die Tiefenstrukturen der zeitgenössischen Experimentalpsychologie erreicht und die Bedingungen für einen Wandel in der psychologi­ schen Wissenschaft aufgeklärt werden.

6.2 Funktion Bereits der Ausdruck ›kognitive Funktion‹ ist missverständlich: Han­ delt es sich um Funktionen, deren Träger bzw. Agens die Kognition ist, oder um Funktionen, die, ›kognitiv‹ genannt werden, insofern als sie die Kognition konstituieren? Beide Alternativen sind wegen der bereits besprochenen funktionalen Auffassung der Kognition aus Sicht der die Experimentalpsychologie dominierenden Paradigmen unzureichend. Tatsächlich qualifiziert der Ausdruck der Funktion das Kognitive. Was jedoch eine Funktion ist, bleibt strittig, denn der Umstand, dass der Begriff der Kognition in der psychologischen For­ schung kaum reflektiert wird, gilt auch für denjenigen der Funktion. Deswegen ist es notwendig, seine Herkunft zu desambiguieren. Als Funktionalismus wird eine historisch mehrschichtige Theo­ rietradition mit Wurzeln in Chicago bezeichnet (Backe 2001), in deren Mittelpunkt der Philosoph John Dewey gestanden hat und die in Konkurrenz zum psychologischen Strukturalismus insbesondere Wundts und seines Schülers Titchener stand. Sie lässt sich reduktiv auf einige Kerngedanken festlegen: (1) Functionalism is the (empiricist) view that human thought and action are to be understood (explained) by the way a person’s exper­ ience shapes his or her development; (2) equally, functionalism is

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the view that people, being in and of the biological world, are to be understood (explained) via evolutionary principles, including inherited potentials for behavior and especially for adjustment; (3) equally again, adaptation in the individual (adjustment) follows empirically derivable (scientific) principles, such as those of association, motivation, intelli­ gence, cognition, and so on. Basic to all three statements is (4) the prior assumption that it is essential to search for and understand processes (i.e., functions) (Buxton 1985, 108).

Im Herzen des Funktionalismus steht die Übertragung des darwi­ nistischen Evolutionismus auf die Psychologie nach dem Vorbild von Herbert Spencers Principles of Psychology (1855). In der JamesLange-Theorie der Gefühle findet der Funktionalismus in seiner radikalsten Lesart ein klassisches Beispiel der empirischen Theorie­ bildung. Die Funktion von Gefühlszuständen sei, körperliche Verän­ derungen anzuzeigen. Funktionen sind dabei – im Sinne der obigen Auseinandersetzung mit James – teleologische Sachverhalte, die der Adaptation ihres Trägers dienen. In diesem Sinne versteht auch die kognitivistische Problemlösungsforschung das problemlösende Verhalten als Anpassung: The argument starts from the observation that adaptive devices shape themselves to the environment in which they are embedded. For problem solving can be effective only if significant information about the objective environment is encoded in the program space, where it can be used by the problem solver (Newell & Simon 1972, 789).

Die Bestimmung des Funktionsbegriffes ist dem Funktionalismus allerdings nur äußerlich, was bereits an Buxtons Verlegenheit sicht­ bar wird, Prozesse und Funktionen gleichzusetzen. Der klassische Chicagoer Funktionalismus unterstellt gewissermaßen bereits ein Verständnis der Funktion, das er etwa von Dewey und damit aus dem Pragmatismus ableitet. Dewey stellt zum einen Funktion und Struktur oder Existenz einander gegenüber, wobei er dazu neigt, Funktionen ähnlich zu Operationen57 oder Veränderungen58 dynamisch zu verstehen. Die Operation ist dabei allerdings nicht identisch mit der Funktion, sondern wird erst in ihr ermöglicht. So sagt Dewey mit Blick auf den ›funktionalen Charakter der Proposition‹: »It accomplishes this 57 Bspw. »when it actually functions – that is, when it is put into operation« (Dewey 1938, 110); oder bei der Bestimmung des operationalen Charakters von Fakten: »Being functional, they are necessarily operational« (ebd., 113).

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function by means of actual execution of the mode of operation which as a proposition it formulates. For an actualized operation is performed upon existential conditions and has consequences in the literal or existential sense« (ebd., 272). Zum anderen betont er den Relevanzcharakter der Funktion, also ihre Zielgerichtetheit bzw. Teleologie: »Only functional position in a contextual situation can discriminate an actual this from an indefinite number of potential thises« (ebd., 242). Dabei gestattet die Funktion, Mittel (means) zur Zielerreichung anzuwenden: »red light on a street corner is a traffic signal; except in this function little or no attention is paid to its intrinsic quality« (ebd., 270). In diesem Sinne ist auch die Aussage zu verstehen, dass ›funktional‹ die »capacity to serve as a condition in delimitation of a problem« (ebd., 342) bedeute. Hierbei wird der maßgebliche Bezug zur Handlung deutlich, der den Pragmatismus auszeichnet, und Dewey selbst das Wesen der Kausalität funktional fassen lässt: »The term ›causal laws‹ is, accordingly, inspite of its general use, a figure of speech. It is a case of metonymy in which a law is designated not in terms of its own content but in terms of consequences of execution of its function« (ebd., 445). Die Grundlage des funktionalistischen Funktionsbegriffes ist jedoch letztlich biologisch, denn Deweys Überlegungen gründen auf eine Prozess-Metaphysik des Lebens als Interaktion von Organismus und Umwelt, die an Aristoteles ἐνέργεια und Avenarius’ Vorstellung von der Homöostase des Lebens (vgl. Abschnitt 8.1) erinnert: Whatever else organic life is or is not, it is a process of activity that involves an environment. It is a transaction extending beyond the spatial limits of the organism. An organism does not live in an envir­ onment; it lives by means of an environment. Breathing, the ingestion of food, the ejection of waste products, are cases of direct integration; the circulation of the blood and the energizing of the nervous system are relatively indirect. But every organic function is an interaction of intra-organic and extra-organic energies, either directly or indirectly. For life involves expenditure of energy and the energy expended can be replenished only as the activities performed succeed in making return drafts upon the environment – the only source of restoration of energy. Bspw. »such transitory events as lightning and such variable things as the weather become subjects of scientific judgments when they are determined as constituents of a systematic set of changes which as changes are in functional correspondence. Such facts exemplify what is meant by the functional nature of substantial objects« (ebd., 130). 58

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Not even a hibernating animal can live indefinitely upon itself. The energy that is drawn is not forced in from without; it is a consequence of energy expended. If there is a surplus balance, growth occurs. If there is a deficit balance, degeneration commences. There are things in the world that are indifferent to the lifeactivities of an organism. But they are not parts of its environment, save potentially. The processes of living are enacted by the environment as truly as by the organism; for they are an integration (ebd., 25).

Ungeachtet ausführlicher Kritiken an den Schwächen dieses Ansat­ zes (Kirk & Squires 1974; Searle 1980) haben sich funktionalisti­ sche Argumentationen im 20. Jahrhundert in vielen Wissenschaften weiterentwickelt, wobei nach van Gulick (2007) ein mechanischer, kausaler und teleologischer Funktionalismus unterschieden werden kann. Verbindend gelte: »Most functionalist are also physicalists and regard minds much as we do biological organisms, that is as a special subset of physical systems distinguished by their forms and complex organization« (van Gulick 2007, 431). Methodologisch entspricht dieser Entwicklung eine Kontroverse um die Salienz der »funktionalen Analyse«. In einer deutlichen Kritik stellte Hempel 1959 klar, dass Argumentationen in funktionalistischer Tradition weder deduktiv noch induktiv gültige Schlüsse hervorbrächten, aber auch keinen ausgezeichneten prädiktiven Wert hätten: In sum then, the information typically provided by a functional analysis of an item i affords neither deductively nor inductively adequate grounds for expecting i rather than one of its alternatives. The impres­ sion that a functional analysis does provide such grounds, and thus explains the occurrence of i, is no doubt at least partly due to the benefit of hindsight: when we seek to explain an item i, we presumably know already that i has occurred (Hempel 1965, 315).

Weiter: A second flaw that may vitiate the scientific role of a proposed hypotheses of self-regulation consists in using key terms of func­ tional analysis, such as ›need‹ and ›adequate (proper) functioning‹ in a nonempirical manner, i.e., without giving them a clear ›operational definition,‘ or more generally, without specifying objective criteria of application for them. If functionalist terms are used in this manner, then the sentences containing them have no clear empirical meaning; they lead to no specific predictions and thus cannot be put to an objective test; nor, of course, can they be used for explanatory purposes (ebd., 319f.).

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Hempels Kritik konzentriert sich indessen auf die teleologische Spielart des Funktionalismus: »the idea of function often remains closely associated with that of purpose« (ebd., 326), was Cummins 16 Jahre später zum Anlass nahm, die funktionale Analyse gegen Einwände dieser Art zu verteidigen, und ihren Kritikern »a failure to distinguish teleological explanation from functional explanation, per­ haps because functional concepts do loom large in ›explanations‹ hav­ ing a teleological form« (Cummins 1975, 747) zu attestieren. Anstelle der teleologischen Fassung des Funktionalismus, welche Funktionen im Sinne von beabsichtigten Effekten denkt, bezieht er sich auf Dis­ positionen: »Thus, function-ascribing statements imply disposition statements; to attribute a function to something is, in part, to attrib­ ute a disposition to it« (ebd., 758). Diese auf Kausalität abhebende Denkweise kulminiert in einem dem Kognitivismus verwandten Gedanken: »These capacities are in turn analyzed into capacities of component organs and structures. Ideally, this strategy is pressed until pure physiology takes over, i.e., until the analyzing capacities are amenable to the subsumption strategy« (ebd., 760f.). Wenn Cummins hierbei dafür argumentiert, komplexere ›kogni­ tive Funktionen‹ durch einfache physiologische Funktionen zu erklä­ ren, ist seine Argumentation nichtsdestoweniger konvergent mit dem Ansatz der systemtheoretischen Kognitivisten seiner Zeit, etwa Fodor (1974), die gegen einen naturalistischen Reduktionismus argumen­ tierten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist, dass Cummins die Physiologie als Beschreibung des Organismus als Gesamtsystem betrachtet, also nicht naturalistisch. Dadurch ergibt sich ihm als zusammenfassende Formel für die Bestimmung der Funk­ tion eine konstruktivistische Formel, die auch den in der Gegenwarts­ psychologie implizit vorherrschenden Funktionsbegriff umreißt: »To ascribe a function to something is to ascribe a capacity to it which is singled out by its role in an analysis of some capacity of a con­ taining system« (Cummins 1975, 765). Ebenfalls konstruktivistisch argumentiert beispielsweise Piaget (vgl. Piaget 1970), der Funktionen im psychologischen Sinne als »expressions of the schemes of assimi­ lation of actions« (Piaget et al. 1977, 3) beschreibt und zwischen kon­ stitutiven und konstituierten Funktionen unterscheidet. Jene seien prä-operativ, während diese durch Operationen ›quantifiziert‹, also in Form von Gesetzmäßigkeiten artikuliert würden. Der ursprünglich teleologische Funktionsbegriff des Funktiona­ lismus hatte sich somit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

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zu einem kausalen fortentwickelt. Eine weitere Entwicklung ist der sog. machine state functionalism, der nach Putnam (1967) als eine probabilistische Übertragung von dem Modell der Turing Maschine auf psychische Phänomene zu verstehen ist. Dabei wird der psycholo­ gischen Erklärung durch ›funktionale Zustände‹ ein Vorteil gegenüber derjenigen durch ›Zustände des Gehirns‹ eingestanden, der als Mul­ tirealisierbarkeitstheorem bezeichnet werden kann: Derselbe funk­ tionale Zustand könne auch in unterschiedlichen physiologischen Zuständen realisiert werden. Der Funktionsbegriff ist in dieser Form des Funktionalismus computational: »the function which controls the behavior of the machine« (ebd., 410). Sie ist als rationales Prinzip zu verstehen und verweist in der Tradition von z.B. von Neumann auf die Vorstellung, dass das Wesen der Funktion in der Zuordnung bestehe, etwa »assigning a ›utility‹ to ›possible worlds‹“ (ebd., 409). Rational bedeutet folglich eine Nutzenmaximierung, woraus folgt, dass als ›Funktion‹ die Gesetzmäßigkeit eines Mechanismus bezeichnet wird, den es zu regulieren gilt. Diese Vorstellung illustrieren von Neumann und Morgenstern bevorzugt in Reinform an der ›Robinson Crusoe Wirtschaft‹, also einer Situation ohne soziale Interaktion: This economy is confronted with certain quantities of commodities and a number of wants which they may satisfy. The problem is to obtain a maximum satisfaction. This is considering in particular our above assumption of the numerical character of utility indeed an ordinary maximum problem, its difficulty depending apparently on the number of variables and on the nature of the function to be maximized (Morgenstern & von Neumann 1953, 9f.).

Was allen funktionalistischen und funktionsanalytischen Begriffen von der Funktion eignet, ist eine abstraktive Vereinheitlichung sämt­ licher Erlebens- und Verhaltensformen: Empfindung, Bewegung, Bewusstsein sind Funktionen, weil sie der Organismus-UmweltInteraktion dienen. Dieses organische Ganze, dem sie angehö­ ren, heißt bei Dewey in Tradition der psychologischen Physiolo­ gie ›Reflexbogen‹: The conscious stimulus or sensation, and the conscious response or motion, have a special genesis or motivation, and a special end or function. The reflex arc theory, by neglecting, by abstracting from, this genesis and this function gives us one disjointed part of a process as if it were the whole (Dewey 1896, 370).

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Der Begriff der Funktion verweist an dieser Stelle erneut auf denjeni­ gen des Prozesses zurück. Um ihn zu verstehen, sollten letztlich seine systematischen Grundlagen im metaphysischen Konstruktivismus konsultiert werden, insbesondere Whiteheads Process and Reality (1929), denn zwischen Whitehead und Dewey hatte eine fruchtbare Beziehung Bestand, die als Ausdruck für die konzeptuelle Grund­ lage des klassischen Konstruktivismus betrachtet werden kann (zu erwähnen ist auch Whiteheads Bezugnahme auf James und Bergson). McKeon legt eine gelungene Zusammenfassung des Verhältnisses zwischen den Begriffen ›Funktion‹ und ›Prozess‹ in der Philosophie von Dewey und Whitehead vor, in der er aufzeigt, dass sie einerseits unterschiedliche naturwissenschaftliche Domänen, nämlich organi­ sche und anorganische Materie betreffen, und andererseits in den metaphysischen Spekulationen des Konstruktivismus die Tendenz besteht, sie wechselweise aufeinander zurückzuführen: ›Process‹ and ›function‹ are used in broad senses to distinguish two kinds of problems, ›process‹ being applied to physical phenom­ ena, ›function‹ to biological phenomena. ›Process,‘ so conceived, is change ordered in a manifold or field by which its characteristics are determined and in which its path is traced; ›function‹ is change ordered to an agent or organism by which it is exercised and to which it is attributed. But once these broad distinctions have been made, functions may be treated as processes in one philosophic theory, and processes may be reduced to functions in another. The philosophy of events of Whitehead and the philosophy of experience of Dewey are opposed basically as philosophies of ›process‹ and of ›function‹ respectively (McKeon 1953, 229).

Die etablierte Verwendung der Begriffe ›kognitive Funktionen‹ und ›kognitive Prozesse‹ fällt also auf eine konstruktivistische Bezug­ nahme auf Veränderung (change) im weitesten ontologischen Sinne zurück. Dass diese Veränderung durch Funktion oder Prozess wie­ derum ›geordnet‹ werden, entspricht der universalen, doch insbe­ sondere in der Mathematik relevanten formalen Bestimmung der Funktion als rule of mapping – »in which the elements from one set or ›domain‹ are matched to elements of another set or ›codomain‹“ (Bradley 2002, 256). Bradley zeigt auf, wie in Whiteheads Philoso­ phie eine Generalisierung in zweierlei Hinsicht vorgenommen wird: Bedeutung und Reichweite von Funktionen. Diese Generalisierung kann zur Beschreibung des in der Psychologie präsupponierten Funk­

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tionsbegriffes aufgegriffen werden. Er vereinheitlicht die psychischen Phänomene ebenso wie Deweys Reflexbogen-Konzeption. Die Kopplung der Begriffe Funktion und Prozess hat überdies – insbesondere für den Funktionalismus – die Bedeutung einer Abgren­ zung von strukturalistischen Auffassungen der Kognition. Unter Strukturalismus ist hier zunächst eine Spielart des Kognitivismus zu verstehen: »All contemporary structural theorists in psychology will agree that there are central processes involved in behavior or cognition which do not correspond directly to stimuli, responses, or other peripheral observable events« (Wilson 1980, 11). Genau besehen ist unter diesen ›Prozessen‹ jedoch nicht die dynamistische Auffassung der Prozessphilosophie zu verstehen. Vielmehr lässt sich der Strukturalismus in seinen klassischen Formen als nativistisch und rationalistisch beschreiben, sodass er die Annahme von stabilen Zuständen enthält. Funktions- und Prozessbegriffe dienen demge­ genüber der Auflösung sämtlicher Statik in Dynamik. Der Strukturalismus ist unterdessen nicht die einzige Möglich­ keit, den Begriff der Struktur aufzufassen: »A structure consists of elements, their relations and rules for the generation of new elements and relations from previous elements« (ebd., 27). Diese Definition widerspricht der Prozessphilosophie nicht, solange die Elemente nicht physikalistisch als atomare Ereignisse verstanden werden. Strukturen sind unter diesen Voraussetzungen in erster Linie regelhafte Pro­ zesse und entsprechen Wiederholungen von einzelnen oder komplex miteinander in Beziehung stehenden Funktionen. Mit ›regelhaften Prozessen‹ ergibt sich ein Verweis auf ›Informationen‹ als Elementen von Strukturen, insofern als Wiederholungen zwar nicht in der phy­ sikalischen Konfiguration eines Organismus’, aber in der repräsenta­ tionalen Kognition möglich ist, welche Stimuli durch Abstraktion in Äquivalenzklassen homogenisiert: »A rule describes an operation in which information coded in one form is recoded into another« (ebd., 25). Das Verständnis dieser Konzeption wird durch die folgende Dar­ stellung des Informationsbegriffes erleichtert werden. An dieser Stelle ist von vorrangiger Bedeutung, dass der Strukturbegriff einerseits, solange er als strukturalistischer dem Funktionalismus opponiert, als Kontrastbegriff zur Funktion zu verstehen ist. Andererseits können Struktur und Funktion ohne Widerspruch verwendet werden, wenn ihnen eine einheitliche Metaphysik zugrunde liegt. Die epistemologische Besinnung auf die wissenschaftstheoreti­ sche Entwicklung zugunsten des Funktionsbegriffes ist Ernst Cassirer

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mit seiner Abhandlung über Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) gelungen. So wie McKeon darstellt, dass die Begriffe von Prozess und Funktion bei Whitehead eine Reaktion auf die Einsichten der modernen Physik, insbesondere die Feldtheorie Einsteins, darstel­ len, zeigt Cassirer die systematische Überwindung der klassischen Ding-Ontologie durch den Funktionsbegriff auf. Im Herzen seiner Argumentation steht dabei die Rehabilitation der Abstraktion: Solange man alle Bestimmtheit in konstanten Merkmalen, in Dingen und ihren Eigenschaften erschöpft glaubt, so lange scheint freilich jede begriffliche Verallgemeinerung zugleich eine Verkümmerung des begrifflichen Inhalts zu bedeuten. Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtreihe möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen. Diese Verwandlung, diese Umsetzung in eine neue Form des logischen ›Seins‹ bildet die eigentlich positive Leistung der Abstraktion (Cassirer 1910, 29).

Abstraktion bedeutete in der aristotelischen Formalisierung der Logik den Aufstieg von Individuen zu allgemeinen Gattungen: »sie scheidet die Bestandteile des Sinneseindrucks, aber sie fügt ihnen kein neues Datum hinzu« (ebd., 18). Der Funktionsbegriff erlaube demgegen­ über eine ›eigentümliche positive Leistung‹, die für Cassirer aber – und darin besteht der wesentliche Unterschied zu Whitehead – nicht metaphysischer Provenienz sei, sondern aktpsychologischer. Funktion bedeutet hier also an erster Stelle »kategoriale Funktionen« (ebd., 21) – »[u]nd die eigentliche Aufgabe, die der logischen Theorie gegenüber einem bestimmten Begriff zukommt, besteht eben darin, diese Funktionen in ihrer Eigentümlichkeit darzulegen und ihre for­ malen Grundmomente zu entwickeln« (ebd.). Es ist eine Parallaxe notwendig, um diesen Unterschied zu mar­ kieren: Der Funktionsbegriff in funktionalistischer Tradition meint einen ontologischen Sachverhalt, bei Cassirers neukantianischer Kri­ tik der Wissenschaften aber handelt es sich zunächst um einen episte­ mologischen Blick auf jene konzeptuellen Entwicklungen. Nichtsdes­ toweniger beurteilt Cassirer zugleich die Entwicklungen und ergreift Partei für »ein rein funktionales Prozeßdenken« (Möckel 2001, 253). Für ihn handelt es sich beim Übergang »vom Größenbegriff zum Funktionsbegriff« (Cassirer 1910, 131) zugleich um einen Übergang »von der ›Quantität‹ zur ›Qualität‹“ (ebd.). In dieser Hinsicht ergibt

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sich ein augenscheinlicher Widerspruch zur erwähnten ›Generalisie­ rung‹ durch den Funktionsbegriff, dessen Vereinheitlichung die Qua­ lität nachgerade zu verkennen scheint. Tatsächlich konvergieren beide Perspektiven darin, dass Cassirer die Qualität in der Konstruktion, nicht in der Anschauung, finden zu können meint: Immer schärfer und deutlicher hatte es sich gezeigt, daß aller Inhalt, der den mathematischen Begriffen eignet, auf einer reinen Konstruktion beruht. Das Gegebene der Anschauung bildet lediglich den psycholo­ gischen Ausgangspunkt: mathematisch erkannt ist es erst, sobald es einer Umdeutung unterworfen worden ist, durch die es in eine andere Form der Mannigfaltigkeit umgeprägt wird, die wir nach rationalen Gesetzen hervorbringen und beherrschen können (ebd., 153).

Diese Geisteshaltung spiegelt Cassirers Zugehörigkeit zum Marbur­ ger Neukantianismus wider – so lässt sich Hermann Cohens philoso­ phisches Programm in Schelers Worten folgendermaßen zusammen­ fassen: ›Wir fangen mit dem Denken an‹; nichts darf dem Verstande gegeben sein, wenn er alles durch sich selbst erst bestimmen und erzeugen soll. ›Empfindung‹ sei ein Ausdruck, der selbst erst mit Hilfe der Kausalrelation und des Reizgedankens zu definieren sei als dasjenige, was an unserem Wahrnehmungsgehalt reizbedingt sei; also können Empfindungen nicht gegeben sein; auch sie sind ein gesuchtes X, ein ›Problem des Verstandes‹ (SGW VII, 282).

Zwar besteht zwischen den idealistischen Tendenzen des Neukan­ tianismus und dem Anti-Intellektualismus der Pragmatisten eine grundsätzliche Opposition, doch bezüglich des »funktionellen Kon­ struktivismus« (Mancuso 2008, 139) findet sich eine gemeinsame Pointe, denn Whiteheads Auffassung von der Abstraktion ähnelt in prägnanter Weise derjenigen Cassirers: In order to think abstractions in Whitehead’s sense, we need to forget about nouns like ›a table‹ or ›a human being‹, and to think rather about a mathematical circle. Such a circle is not abstracted from concrete circular forms; its mode of abstraction is related to its functioning as a lure for mathematical thought – it lures mathematicians into adventures which produce new aspects of what it means to be a circle into a mathematical mode of existence (Stengers 2008, 96).

Marburger Neukantianismus und Konstruktivismus gehen in ähnli­ cher Weise davon aus, dass Funktionen (oder Prozesse) eine Ordnung

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konstruieren. Diese Ordnung ist ungleich aller eventuellen physi­ schen Grundlage der Wahrnehmung und lässt sich deswegen als rein symbolische Sphäre formalisieren, wie etwa bei Newell und Simon: »the mechanics of processing are determined by the nature of the processor and not by what the primitive symbols designate in the external world« (Newell & Simon 1972, 29). Allerdings formuliert der Konstruktivismus sein Theorem als Gegenstand des Evolutionismus, während der Neukantianismus sich auf die transzendentalen Bedingungen besinnt. Diese Besinnung ist ein maßgeblicher Unterschied, denn der Konstruktivismus bei Dewey und Whitehead bleibt in seinem Evolutionismus letztlich objektivistisch, was Fodor zu einem prägnanten Urteil kommen lässt: »It is, I think, most unlikely, even on empirical grounds, that Darwin is going to pull Brentano's chestnuts out of the fire« (Fodor 1990, 70). Damit bezieht er sich auf das Problem der Intentionalität, auf welches Brentano durch das Diktum der ›intentionalen Inexistenz‹ die psychologische Aufmerksamkeit gelenkt hatte. Für den Objekti­ vismus von Dewey, Whitehead und der gesamten funktionalistischen Tradition ist demgegenüber die einzige Strategie, dieses Problem zu beheben, so Walsh, eine Reduktion von Intentionalität auf Evolution vorzunehmen, also die Naturalisierung des Bewusstseins. Jenseits solcher »fragwürdigen metaphysischen Hypothesen« (SGW VII, 239) ergibt sich allerdings die Notwendigkeit, Funktionen zu differenzieren und ›psychische Funktionen‹ nicht ohne Weiteres als Sonderfall der biologischen Funktionen, also »unter dem Gesichtspunkt ihrer biologischen Zweckmäßigkeit« (Rohracher 1976, 77) zu betrachten. Eine erste grundsätzliche Alternative ist ein teleologischer, aber nicht evolutionärer Funktionsbegriff, der etwa von Rohracher vorge­ schlagen wurde: »er umfaßt alle psychischen Vorgänge, die innerhalb des bewußten Erlebens eine bestimmte Aufgabe im Dienste ande­ rer, ›zielsetzender‹ Vorgänge (der psychischen Kräfte) zu erfüllen haben« (ebd.). Funktionen werden hier als intellektueller Überbau der psychischen Kräfte verstanden: »Es gibt also zwei Arten bewuß­ ter Erlebnisse: die psychischen Kräfte (Triebe, Interessen, Gefühle, Willensvorgänge) und die psychischen Funktionen (Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken); die ersteren erteilen – bildlich gesprochen – die Aufträge, die von den letzteren ausgeführt werden« (ebd., 75). Diese Auffassung ist jedoch wegen ihres die Sphäre der psychischen Phäno­ mene kategorisch inhomogenisierenden Dualismus fehleranfällig.

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Als eine weitere Alternative steht dem generalisierten Funkti­ onsbegriff die Verwendung des Ausdrucks in der Funktionspsycholo­ gie Stumpfs gegenüber, die sich der Frage nach der Intentionalität nicht entzieht und, statt zu vereinheitlichen, differenziert. Auch hier lässt sich keine vollständige Genealogie anführen, wenngleich anzumerken ist, dass die Funktionspsychologie Stumpfs auf Lotze zurückverweist. Es gilt nun zu eruieren, was sich am Begriff der Funk­ tion durch diesen Perspektivwechsel ändert. Beispielhaft bezeichnet Stumpf »psychische Funktionen (Akte, Zustände, Erlebnisse) [als] das Bemerken von Erscheinungen und ihren Verhältnissen, das Zusam­ menfassen von Erscheinungen zu Komplexen, die Begriffsbildung, das Auffassen und Urteilen, die Gemütsbewegungen, das Begehren und Wollen« (Stumpf 1907, 5). Der Begriff der Funktion ist hier »im Sinne der Tätigkeit, des Vorganges oder Erlebnisses selbst« (ebd.), nicht aber – so versteht er den pragmatischen Funktionsbegriff im Sinne Deweys, von dem er sich explizit abgrenzt – »einer durch einen Vorgang erzielten Folge verstanden« (ebd.). Dabei bedient er das Beispiel der Herz­ kontraktion, das sich in Abhandlungen über die Funktion großer Popularität erfreut. Während aber die funktionalistischen Autoren den Herzschlag als Träger einer Funktion, etwa »circulating the blood« (Hempel 1965, 305) oder »soothe a distressed baby« (Ariew et al. 2002, 1), beschreiben, sagt Stumpf, dass »die Herzkontraktion selbst als eine organische Funktion bezeichnet wird« (Stumpf 1907, 5). Dabei sei aber nicht mehr gemeint als »die Anerkennung einer Anzahl von Variablen, die man außer den in den Erscheinungen selbst gegebenen (Qualität, Intensität usf.) zur Beschreibung des unmittelbaren Tatbestandes und seiner Veränderungen für erforder­ lich hält« (ebd., 9). Hinzu kommt eine Spielform des Multirealisier­ barkeitstheorem: »bei gleichen Erscheinungen können verschiedene Funktionen, bei verschiedenen Erscheinungen gleiche Funktionen stattfinden« (ebd., 15). Diese Überlegungen der Funktionspsychologie sind dem kon­ struktivistischen Funktionalismus fremd, insofern als dieser von einer realen Homogenität als Grundlage der psychischen Phänomene ausgeht, er lässt, in Stumpfs Worten, »das Psychische restlos in Erscheinungen und ihren Verknüpfungen aufgehen« (ebd., 39). Der Dialog zwischen beiden Positionen ist das Terrain der Frage nach den psychischen Phänomenen und deswegen ein ausgezeichneter Gegenstand der Phänomenologie. Von der Prozess-Metaphysik bis zu

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6.2 Funktion

den »Funktionen mit all ihren ›Gebilden‹ [als; ANW] das eigentliche Wesen des psychischen Lebens« (ebd.) bedarf es einer phänomenolo­ gisch psychologischen Analyse. Eine wichtige Differenzierung findet sich beispielsweise bei Scheler: Der Unterschied zwischen Funktionen und Akten besteht also: 1. In der Weise des Seins und Gegebenseins: Akte werden vollzogen (durch Personen); Funktionen vollziehen sich, laufen ab (als psychische). 2. Funktionen werden noch in innerer Wahrnehmung gegenständlich, zum mindesten in unmittelbarer Erinnerung, Akte nicht. 3. Psychische Funktionen sind wechselnde Weisen des Verhaltens und des Ablaufs, die irgend einen Aktvollzug und eine Gegebenheit in ihm bereits vor aussetzen (SGW III, 235).

Es kann hier, in der Vorarbeit, die das Programm der Erneuerung ist, nicht die Aufgabe sein, diese Reflexionen erschöpfend durchzuführen. Doch es ist klarzustellen, dass der in der Gegenwartspsychologie allseits verwendete Begriff der ›kognitiven Funktionen‹ wie derjenige der ›kognitiven Prozesse‹ keinesfalls eindeutig ist. Vielmehr sollte diesen Begriffen mit Skepsis begegnet werden. Eine Argumentation, die der phänomenologischen Kritik des naiven Zahlbegriffes in der logischen Figur ähnelt, wurde von Malcolm vorgetragen. Er wen­ det sich gegen die ›myth of cognitive processes and structures‹ und kommt zu einem wichtigen Ergebnis: »Our understanding of human cognitive powers is not advanced by replacing the stimulus-response mythology with a mythology of inner guidance systems« (Malcolm 1971, 392). Damit meint er, dass die Suche nach Prozessen, Strukturen und – im Sinne der vorliegenden Darstellungen – Funktionen durch eine Annahme (»The assumption is that […] a person must be guided«; ebd., 389) motiviert wird, die nicht selbst der unmittelbaren Erfahrung der psychischen Phänomene entspricht. Den Gegensatz verdeutlicht er an einem Beispiel: If we switch to more humble words of everyday language, such as ›memory‹ or ›thinking,‘ the talk of ›processes‹ and ›struc­ tures‹ remains obscure. This becomes evident if we reflect on such a question as, ›What is the process of remembering?‹ When asked by a philosopher or psychologist, this question assumes that whenever a person remembers something there is a process of remembering. Consideration of a few examples shows that this is not so. Sometimes we go through a process of trying to remember. Suppose that you cannot locate your briefcase. You remember that you were carrying it when you left your office. You review in your mind, or aloud, your

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

itinerary on the way home. ›I walked to the bank and cashed a check. Did I have the briefcase when I left the bank? I’m not sure. I then went to the bookstore and bought an atlas. Now I know that I did take the briefcase into the bookstore, for I remember putting it down when I paid the cashier. And also I remember now that I had the atlas in one hand and my umbrella in the other when I left the store. So I left it in the book store.‹ While saying or thinking these things you may have had feelings of anxiety; images of the streets, the bank, and the store may have passed swiftly through your mind; finally, when the solution came, you may have had a feeling of relief as if a weight had been lifted from you (ebd., 385).

Der Anspruch der phänomenologischen Psychologie ist, nicht nur ›Definitionen‹ von Funktionen und Prozessen herzustellen, sondern dem ursprünglichen Erlebnis gerecht zu werden, also Beschreibung und Erfahrung zu versöhnen. Auch das Beispiel der sog. exekutiven Funktionen (vgl. Miyake et al. 2000), welche etwa die Aufmerk­ samkeitssteuerung umfassen, zeigt, dass keine Gewissheit darüber besteht, was mit ›Funktion‹ gemeint ist: ein organischer Vorgang ähnlich dem Blutkreislauf (so wie der Funktionalismus den Begriff der Funktion fasst), deren Träger das Gehirn ist, oder (im Sinne der Funktionspsychologie) z.B. das Erleben der Aufmerksamkeit, welches als eine »auszeichnende Funktion« (Hua XIX, 423) bestimmt werden kann, wobei »gehirnbedingt die Selektion dieses Inhalts aus der Fülle der sonst existierenden Inhalte« (SGW III, 251) ist, also lediglich das »Ins-Spiel-treten der Funktionen« (ebd., 20)?

6.3 Information Die universelle Verwendung des Begriffes ›Information‹ ist durch seine Ambiguität bedingt. Harms unterscheidet drei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen der Information: Originally, it seems, to ›inform‹ someone was to mold or give form to their mind […]. Today, the ordinary language concept of information still seems to bear traces of this sort of image (that there is somehow information in a shape) as well as of the correlations of information theory (quantities of information) and information processing (copy­ ing pieces of information) (Harms 2006, 231).

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6.3 Information

Diese Ambiguität entstand aus einer die gesamte Geistesgeschichte durchwirkenden Entwicklung, die von Capurro in einer kompendiari­ schen Darstellung zusammengefasst worden ist. Schon in der klassischen Antike, in der sich das Lateinische forma aus den Begriffen μορφή, τύπος und ἰδέα gebildet hat, habe es eine grundsätzliche Mehrdeutigkeit zwischen der »Handlung des For­ mens (actus informandi) sowie de[m] Zustand der Formung (status informati)« (Capurro 1978, 55) gegeben. Die in jener Variante zum Ausdruck kommende prozessuale Auffassung der Information habe sich indes erst im scholastischen Mittelalter durchgesetzt: »informatio ist das, was die (substantielle oder akzidentelle) Form in dem Stoff erzeugt, wenn sie mit diesem vereinigt ist. Diese Einheit ist nicht ein Nebeneinander, sondern eine wirkliche Veränderung des Stoffes, wie z.B. beim lebendigen Stoff« (ebd., 121). Die Ambiguität von Prozess und Produkt ist allerdings auch im Kognitivismus noch nicht aufgehoben, wie sich etwa bei Newell und Simon zeigt: »programs […] that will accomplish the processing and produce the indicated information as output« (Newell & Simon 1972, 71). Einen weiteren begriffsgeschichtlichen Schritt stellt der Unter­ schied zwischen der Information im rationalistischen und empiristi­ schen Sinne dar. Während im Rationalismus die Information »sich nicht auf die organologische Formung des Gehirns, sondern, da die Ideen geistiger Natur sind, auf den geistigen Mitteilungsprozeß von Erkenntnis« (Capurro 1978, 153) bezieht, liegt dem Empirismus die Auffassung der Information als Eindruck (impression) bzw. »als Mitteilungsprozeß der Natur bzw. unserer Mitmenschen, wodurch wir objektives Wissen empfangen« (ebd., 166), nahe. Die zweit­ genannte Deutung lässt zudem den Verweis von ›Mitteilung‹ auf Kommunikation und damit auf symbolische Vermittlung erkennen, die für den modernen Informationsbegriff von Vorrang ist: Auf der Grundlage einer 1928 veröffentlichten Theorie über die Nachrichten­ übermittlung von Hartley entwickelten Shannon und Weaver The Mathematical Theory of Communication (1949). Ihr Informationsbe­ griff beschränkte sich darauf, »ein Maß der Entscheidungsfreiheit, wenn man eine Nachricht aus anderen aussucht« (Capurro 1978, 211), zu sein. Die Verbreitung und Verallgemeinerung dieses Informati­ onsbegriffes jenseits der Kommunikationswissenschaften lassen sich hingegen auf seine Interpreten wie insbesondere den Kybernetiker Norbert Wieners zurückführen:

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

Wiener übernimmt den mathematisch-statistischen Informationsbe­ griff, setzt ihn aber in Verbindung mit Übertragungsprozessen ›im Lebewesen und in der Maschine‹, wie es im Untertitel heißt. Der Informationsbegriff bezieht sich hiermit erneut nicht auf das, was über­ tragen und gespeichert wird, sondern auf das Wie. Information, also Auswahl von Möglichkeiten, ist ein Prozeß, der in allen materiellen Systemen unabhängig von ihren qualitativen Unterschieden gemessen werden kann. So kann z.B. der menschliche Wahrnehmungsprozeß als ein Prozeß der Aufnahme und Kombination von Nachrichten bzw. Eindrücken (impressions) unabhängig von deren gedanklichen Gehalt aufgefaßt werden (ebd., 213).

Die Idee eines ›Übertragungsprozesses‹ impliziert an dieser Stelle die Vermittlung und veranlasst zu einer symbolischen bzw. semiotischen Deutung, wie sie sich etwa im Pragmatismus anbietet: »Ein vermit­ teltes Zeichen kann also als informativ bezeichnet werden, wenn dieses im Interpret [sic] eine vom Hersteller beabsichtigte Handlung erwirkt« (ebd., 220). Dieser Ansatz findet auch für die Formulie­ rung des information processing system (IPS) der kognitivistischen Forschungstradition Verwendung: »The smallest units of information held in the memories of the IPS are symbols« (Newell & Simon 1972, 792). Als Minimalformel ergibt sich für diesen pragmatisch geprägten Informationsbegriff eine »operationale Definition, nämlich Information ist das, was auf etwas wirkt« (Capurro 1978, 226). Es kann jedoch nicht vernachlässigt werden, dass auch hierin eine Ambiguität bestehen bleibt: »Information bezeichnet also sowohl die Wirkung der Formen bzw. Strukturen der Wirklichkeit für sich, als auch die Wirkung dieser Formen auf die Erkenntnis. In beiden Fällen bleibt das pragmatische bzw. prozessuale Moment der Wir­ kung grundlegend für die Deutung eines allgemeinen Informations­ begriffs« (ebd., 229f.). Mit phänomenologischem Blick der Analyse lässt sich eine grundsätzliche Bifurkation im Informationsbegriff feststellen. Auf der einen Seite steht die Information als zu verstehende, als Gegenstand des Verstehens, und deswegen Träger von Bedeutung. Begriffe dieser Art implizieren ein Subjekt des Verstehens, das sich zumeist als das bewusste Subjekt der Erfahrung denken lässt. Auf der anderen Seite werden die Informationen »etwas unglücklich Zeichen, besser schon Symbole, am neutralsten Signale genannt« (Böhme 1974, 18). Signale können dabei entweder symbolisch oder subsymbolisch verstanden warden. Signale als Symbole finden sich beispielsweise

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6.3 Information

in der kognitivistischen Theorie des Problemlösens: »In information processing systems the state is a collection of symbolic structures in a memory, rather than the set of values of position and momentum of a physical system in some coordinate system« (Newell & Simon 1972, 11). Sub- oder asymbolische Signale gehören hingegen zum biologischen Verständnis von vitalen Prozessen und werden in der Psychologie im Konnektionismus zur Erklärung vorgebracht. Ein Subjekt bleibt in beiden Fällen äußerlich, allenfalls ein kontingenter Signalsender und -empfänger. Informationsbegriffe dieser Art beziehen sich nicht auf Bedeu­ tung: »information must not be confused with meaning« (Shannon & Weaver 1949, 8). Neuropsychologisch lässt sich dieser Informations­ begriff als »afferent-input information« (Gibson 1972, 79) bezeich­ nen, wobei die physische Form des Signals bloßer Träger der Infor­ mation bleibt: »There may be nothing inside the system itself that corresponds to the program, but only a mechanism that behaves in the manner described by the program« (Newell & Simon 1972, 33). Im Diskurs gilt für beide Fassungen der Information ein impliziter Anspruch auf Exklusivität. Insbesondere von Vertretern des ersten, dem Verstehens-Begriff der Information, ergeht eine Zurückweisung an ihre Gegner, weil diese den Kriterien jener, nämlich das Verstehen zu berücksichtigen, nicht genügen: »Information ist nur, was verstan­ den wird« (von Weizsäcker 1971, zit. nach Böhme 1974, 18). Zwar mag es denkbar sein, dass der Ausdruck ›Information‹ auf dem separaten Terrain unterschiedlicher Wissenschaften einerseits im Sinne des Verstehens und andererseits im Sinne des Signals verwendet wird, doch der psychologische Begriff der Information steht im Schnittpunkt beider Auffassungen – und dies notwendiger­ weise, insofern als etwa der physiologische Teil der Disziplin auch im a-subjektiven Bereich des Lebens forscht, ohne damit einen sepa­ raten Gesamtgegenstand zu konstituieren. Die phänomenologische Psychologie darf sich deswegen nicht auf den Standpunkt des Verste­ hens zurückziehen. Der gegenwärtig verfügbare Vermittlungsversuch ist durch die Zeichenlehre der Semiotik gegeben, ein bloß äußerlicher Ansatz, der im Kern auf eine repräsentationale Kommunikation abzielt: Informa­ tion hat eine relationale Funktion, durch die eine Veränderung in der Umwelt eine Veränderung im System bewirken kann, beispiels­ weise als Wissensaneignung: »The conditional probabilities used to compute noise, equivocation, and amount of transmitted information

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

(and therefore the conditional probabilities defining the informational content of the signal) are all determined by the lawful relations that exist between source and signal« (Dretske 1981, zit. nach Lombardi 2004, 115). Dem Begriff der Bedeutung wird dabei Genüge zu tun ver­ sucht, indem, fataler Weise dem Wortlaut der phänomenologischen Argumentation ähnlich, Intentionalität als Prinzip der Repräsentation in Anspruch genommen wird. Repräsentationale Intentionalität stellt folglich die Grundlage eines Informationsbegriffes dar, der als seman­ tischer bezeichnet werden kann: What makes symbols symbolic is their ability to designate – i.e., to have a referent. This means that an information process can take a symbol (more precisely a symbol token) as input and gain access to the referenced object to affect it or be affected by it in some way – to read it, modify it, build a new structure with it, and so on (Newell & Simon 1972, 24).

Diese äquivoke Auffassung der Intention entstammt der sprachphilo­ sophischen Tradition und trägt ihre Blüte im Denken Searles: Searle connects Intentional states to speech acts, claiming that an Intentional state is a form that is intrinsically directed at or represents some object or state of affairs in the same sense that derived forms of speech acts represent objects or states of affairs (Cicourel 1987, 642).

Die sprechakt-theoretische Intentionalität lässt sich als die Verände­ rung aufgrund des Nachvollziehens der Sprecher-Intention in der Kommunikation verstehen: [T]he Speaker’s (S) intention in uttering a speech act and the effects s/he hopes it will have on the Hearer (H). Meaning is linked to intention by the way H is said to understand S’s intention in producing an utterance and hence in performing an action (ebd., 641).

Entscheidend ist, dass Sprache als Handlung verstanden und diese Handlung als Modell der Intentionalität aufgegriffen wird. Dretske paraphrasiert die Übertragung dieser Position auf die Wahrnehmung: »The object we perceive must cause, in us, an expe­ rience of it« (Dretske 2003, 154). Kausalität zur Erklärung der intentionalen Relation aufzugreifen, bedeutet allerdings letztlich die Naturalisierung des Intentionalitätsbegriffes in einem realistischen und objektivistischen Sinne, die der phänomenologischen Denkweise fundamental widerspricht. Diesem Umstand gibt Meixner in einer Vergleichsarbeit Ausdruck, worin er resümiert:

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6.3 Information

[T]he classical conception of intentionality which was expounded in its most sophisticated form by Edmund Husserl. This conception is today largely eclipsed in the philosophy of mind by the functionalist and by the representationalist account of intentionality, the former adopted by Daniel Dennett and David Chalmers, the latter by John Searle and Fred Dretske (Meixner 2006, 25).

Dretske entwickelte 1981 in Knowledge and the Flow of Information einen Versuch, den mathematisch-statistischen Informationsbegriff in der Tradition von Shannon und Weaver für die Verwendung im gesamten Gegenstandsfeld der Verhaltenswissenschaften zu überar­ beiten, indem er Bedeutung im Sinne der semantischen Intentionali­ tät Searles zu reintegrieren versuchte. Als wesentlicher Beitrag ergibt sich, dass Information von einem allgemeinen Maß von Quantitäten durch die Referenzialität der Intentionalität zu einem partikularisie­ renden Konzept weiterentwickelt werden soll: »Whereas different equiprobable signals are all alike in their degree of non-semantic informativeness, they differ in their degree of semantic informativen­ ess, insofar as the selection of each of them stands for something different« (Piccinini & Scarantino 2010, 241). In anderen Worten: Statt lediglich ein ›Maß der Entscheidungsfreiheit‹ zu sein, soll Infor­ mation Aufklärung über individuelle Ereignisse vermitteln: If we can say how much information these messages represent, then we can speak about their average. But this tells us nothing about what information is being communicated. Hence, the quantities of interest in engineering […] are not the quantities of interest to someone, like myself, concerned to develop an account of what information travels from source to receiver (object to receptor, receptor to brain, brain to brain) during communication (Dretske 1983, 56).

Um die Partikularisierung der Information präziser zu bestimmen, bedient sich Dretske der bereits dargestellten objektivistischen Präsuppositionen: »When there is a lawful regularity between two events, statistical or otherwise, as there is between your dialing my number and my phone’s ringing, then we can speak of one event’s carrying information about the other« (ebd.). Über regelhafte Geschehnisse kann Information existieren. Dieser Sprung in den Strukturrealismus, der gewissermaßen naiv über die Frage nach der phänomenalen Gegebenheit ebendieser Regeln hinweggeht, ist ein wichtiger Anschlussstein für zahlreiche zeitgenössische psychologi­ sche Theorien, die, wie etwa Simon und Lea (1974), davon ausgehen, dass rule detection eine cognitive function sei. Dasselbe gilt für Choms­

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

kys Vorstellung einer immanenten Universalgrammatik, die als eine endliche Menge von Regeln beschrieben werden könne. Die genauere Bestimmung der semantischen Relation, die in der Repräsentation als Inhalt der Information hergestellt wird, kennt außerdem drei Perspektiven: »probabilistic, nomic, and counterfactual« (Piccinini & Scarantino 2010, 241), wobei die ›lawful regularities‹ als ›nomic‹ bezeichnet werden. Es ist nun eine philosophisch strittige Frage, wie vehement der Einspruch der Phänomenologie gegen diesen Intentionalitätsund Informationsbegriff ausfallen soll, insofern als sich einerseits eine prononcierter Anti-Repräsentationalismus anbietet (etwa Hutto 2008), andererseits die moderatere Position der kompromissbereiten Kritik verfügbar ist (etwa Zahavi & Gallagher 2008), psychologisch ist diese Frage hingegen nicht. Deswegen darf sich die phänomenolo­ gische Psychologie nicht von der rein epistemologischen Perspektive lenken lassen. Ihr Interesse muss überprüfen, ob die Fülle der psy­ chischen Phänomene durch einen semantischen Informationsbegriff unterschätzt wird. Dieser Zweifel wird alsbald bestätigt, wenn der vergleichende Blick auf die bloße Erfahrung fällt. Der semantische (Intentionali­ täts- und) Informationsbegriff resultiert aus einer Generalisierung der Sprechakttheorie. Bezeichnender Weise wurde John L. Austins Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1955, welche die Sprechakttheorie begründete, in Harvard als William James Lectures vorgetragen. In pragmatischer Tradition bedeutet der (Sprech-)Akt gleichsam die Handlung, nicht den Akt der Aktpsychologie. Die Sprechakttheorie wendet sich vielmehr der Performanz zu: »The name is derived, of course, from ›perform‹, the usual verb with the noun ›action‹: it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action« (Austin 1962, 6). Der Unterschied zur Aktpsychologie betrifft insbesondere die­ sen Grundgedanken. Während die ›Erfüllung‹ für Husserl nicht wesentlich ist (vgl. z.B. Hua XIX, 38), also auch anschauungsleere Bedeutungsintentionen uneingeschränkt als Akte beschrieben wer­ den können, muss der semantische Intentionalitätsbegriff wesentlich auf seine Erfüllung (satisfaction, vgl. Searle 1983, 10ff.) bezogen sein. Terminologisch ergibt sich daraus die Nähe der Intentionalität zu den Intentionen (Absichten) bei Searle, wobei diese Nähe nicht für Phäno­ menologie gilt. Auch der phänomenologische Begriff der Bedeutung ist für Searle unzugänglich, insofern als ›meaning‹ für ihn lediglich ein

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6.3 Information

psychisches Repräsentationsverhältnis, insbesondere die »speakers’ intentions« (ebd., 161) meint. Im Hintergrund dieser Unterschiede steht der indirekte Realismus des Repräsentationalismus, also die Auffassung einer verfügbaren Wirklichkeit, die mit dem Bewusstsein – und es sei hier nicht erörtert, was der Bewusstseinsbegriff der Philosophy of Mind sei – korrespondiere. So verwundert es nicht, bei Dretske eine Bindung des Informationsbegriffes an ein Wahrheitskri­ terium zu finden: According to this usage, then, signals may have a meaning but they carry information. What information a signal carries is what it is capable of ›telling‹ us, telling us truly, about another state of affairs. Roughly speaking, information is that commodity capable of yielding knowledge, and what information a signal carries is what we can learn from it (Dretske 1981, 44).

Dieser indexikalische Charakter der Information erinnert an den Unterschied von ›Index‹ und ›Symbol‹ bei Peirce bzw. den analogen Unterschied von natural und non-natural bei Grice, also kausalen und bloß konventionellen Formen der Zeichen. Information, so lässt es sich resümieren, hat nach ihrer semantischen Fassung nur als Darstellung von Tatsachen eine Bedeutung und verkennt folglich die eigentliche Aktsphäre. Indes, Informationskonzepte, die nicht repräsentational sind, stellen keine Garantie dafür dar, den Kriterien einer phänomenologischen Revision zu genügen. Ein Beispiel für einen nicht semantischen externalistischen Informationsbegriff, der zugleich nicht auf den mathematisch-statistischen zurückfällt und dennoch für die phänomenologische Kritik problematisch bleiben muss, findet sich bei Gibson. Am Beispiel der Lichtwahrnehmung bezeichnet er ihn als optic-array information: It is information in light, not in nervous impulses. It involves geomet­ rical projection to a point of observation, not transmission between a sender and a receiver. It is outside the observer and available to him, not inside his head. In my theory, perception is not supposed to occur in the brain but to arise in the retino-neuro-muscular system as an activity of the whole system. The information does not consist of signals to be interpreted but of structural invariants which need only be attended to (Gibson 1972, 79).

Auch hier, wie zuvor für die Begriffe ›Kognition‹ und ›Funktion‹, muss eine erschöpfende theoretische Auseinandersetzung mit den in der Psychologie aktuell verfügbaren Denkweise ein Desiderat

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

bleiben. Es geht an dieser Stelle nicht darum, eine umfassende wis­ senschaftstheoretische Kritik des Informationsbegriffes vorzulegen, sondern den Anschlussstein für die phänomenologische Psychologie zu suchen. Für den Fall der Information lässt er sich in der Arbeit Hans Titzes finden, der in seiner Abhandlung Ist Information ein Prinzip? (1971) ein Kapitel der »Phänomenologie der Information« widmet. Statt in einem rein theoretischen Diskurs vom Sprechakt auf die Intentionalität und von der Intentionalität auf die Information zu kommen, bemüht sich Titze um eine Anschauungsgrundlage, indem er die »Erscheinungsformen der Information« (ebd., 100) aufsucht. Dabei kommt er »auf zwei Arten Informationen« (ebd., 117), innere und äußere Information, wobei diese im Sinne der »Einformung« die »Aufnahme von Ordnungszuständen, die die körperliche Ordnung aufrechterhalten oder […] erhöhen sollen, ist« (ebd., 118), jene hin­ gegen »die Suchfähigkeit« (ebd., 117) bessert, insofern als »bewußt systematischer« (ebd.) gesucht werden kann. Um die Bedeutung der Information für die Aktsphäre, also die lebendige Erfahrung von Information, nicht nur ihre kognitive Funktion, zu berücksichtigen, ließe sich dieser Dualismus des Infor­ mationsbegriff aufgreifen, also eine prozessuale Information für die Repräsentation und eine experientielle Information für die Aktsphäre – die Alternativen der »mind-dependent property […] or […] mindindependent property« (Piccinini & Scarantino 2010, 240) –, doch damit wäre nichts gewonnen, denn es muss der phänomenologischen Psychologie um die Frage bestellt sein, welche Bedeutung jener Information konstitutiv zukommt. Vielmehr geht es also darum, eine phänomenologische Ansicht der Information zu ihrer bloß funktio­ nalen hinzuzufügen. Titze findet in diesem Sinne eine gemeinsame Wurzel der beiden Informationsformen im Begriff der Ordnung: »Die vollzogene Informierung erzeugt also einen Zustand höherer Ordnung« (Titze 1971, 128). Ordnung wiederum stehe mit Finalität in Verbindung: »Das finale Setzen von Determinanten ist eine Infor­ mation, die einen Vorgang ablaufen lassen soll« (ebd., 134). Als Wesen der Information ergibt sich ihm deswegen: »Information ist weiter nichts wie Ursache […] als Verursachung oder […] Grund als Begründung« (ebd., 135). Mag diese Argumentation auch fragwürdig sein, weil der Unter­ schied von Ursache und Grund den Dualismus letztlich nicht voll­ ständig überwinden kann und durch die anthropologische Debatte um den Freiheitsbegriff belastet ist, so ist sie methodologisch doch

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6.3 Information

von anderer Couleur als die etablierten Darstellungen, weil versucht wird, die rein äußerliche Relationalität zugunsten einer wesentlichen Bestimmung zu überwinden. Erst auf diese Weise gestatten sich psychologische Fragestellungen, für die der Informationsbegriff nicht präsupponiert bzw. ihm eine affirmative Theorie zur Seite gestellt wird. Der Ansatz von Titze allein ist dafür aber letztlich nicht ausrei­ chend. Die phänomenologische Psychologie muss sich vielmehr denje­ nigen Themen zuwenden, welche das Erscheinen des Seelenlebens nicht nur in seinen begrifflichen Grundlagen, sondern im Speziellen betreffen, etwa dem Problemlösen und dem Erleben des Problems (vgl. Wendt 2019a). Der sich hierin aufdrängende Unterschied zwi­ schen dem Problem und seiner Lösung verweist auf den zumeist als isomorph interpretierten Unterschied zwischen einer Information und deren Verarbeitung. Die Informationsverarbeitung bzw. »Trans­ formations into the problem space« (Newell & Simon 1972, 59) lässt sich dabei wiederum von Computation abgrenzen, etwa im Sinne des zuvor diskutierten computationalen Funktionalismus, der Kognition formal in Analogie zur Turing-Maschine auffasst. In einer prägnanten Analyse stellen Piccinini und Scarantino infrage, ob Kognition bzw. Computation tatsächlich als Informationsverarbeitung zu denken ist. Sie kommen zu einem wichtigen Ergebnis: Regardless of what kind of computation cognition may involve, it doesn’t follow that cognition involves the processing of information. In fact, there are theories according to which cognition involves computa­ tion (or at least may involve computation), but it does not involve the processing of information. More precisely, what these authors reject is the role of representation in a theory of mind (Piccinini & Scarantino 2010, 245).

Die Vermittlung zwischen den konzeptionellen Alternativen kann nicht unabhängig von der Phänomenologie erfolgen, die jenseits des semantischen Intentionalitätsbegriffes steht, welcher nicht als gesicherter Grund der psychologischen Theoriebildung gelten kann. Ob Information tatsächlich wesentlich als Repräsentation bestimmt werden sollte, ist eine Frage der Phänomenologie der Information59. Die kognitivistische Problemlösungsforschung präsupponiert diesen Zusammenhang jedoch, ohne ihn zu überprüfen, worin sich auch Zur Thematisierung der mentalen Repräsentation in der kognitiven Psychologie siehe bspw. Scheerer (1993).

59

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6. Eine begriffliche Kritik an der Experimentalpsychologie

ihr assoziationspsychologisches Erbe zeigt: »All that is needed for a representation is some scheme of associations, together with a set of information processes that can extract the appropriate information about the connections« (Newell & Simon 1972, 27f.). Hier kulmi­ nieren die Grundsatzfragen der theoretischen Psychologie darin, Präsuppositionen dieser Art zu überprüfen. Das gilt insbesondere auch mit Blick auf den Versuch, Informationsverarbeitung als ›neurale Computation‹ zu naturalisieren: The theory that cognition is computation became so popular that it progressively led to a stretching of the operative notion of computation. In many quarters, especially neuroscientific ones, the term ›computa­ tion‹ is used, more or less, for whatever internal processes explain cognition. We have included this notion under the rubric of ›generic computation‹. Unlike ›digital computation‹, which stands for a math­ ematical apparatus in search of applications, ›neural computation‹ is a label in search of a theory (ebd., 244).

Diese Begriffsanalyse kann die Vorarbeit für die phänomenologische Auseinandersetzung sein. Es ist jedoch entscheidend, zu betonen, dass die Beiträge der phänomenologischen Psychologie grundsätzlich von den diskurs-externen oder bloß interdisziplinären Kritiken unter­ schieden sind, insofern als ein rein epistemologischer oder wissen­ schaftstheoretischer Blickwinkel (etwa die ausschließliche Zurück­ weisung einzelner Positionen) nicht ausreicht. Erst der spezifische Blick auf das einzelne Phänomen rechtfertigt die Reflexion und jeder Beitrag muss sich konstruktiv auf eine genuin psychologische Frage­ stellung richten.

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7. Das Programm

Die Darstellung der begriffsgeschichtlichen Ausgangslage in Hinsicht auf die Präsuppositionen der Disziplin führt zum kritischen Punkt, an dem die Experimentalpsychologie mit möglicher Veränderung konfrontiert wird. Freilich sind verschiedene Veränderungen möglich und gewiss auch Verschlechterungen. Es gibt keine Garantie für den gelungenen Übergang von der Kritik zur Verbesserung. Deswegen muss das Herzstück einer alternativen Bewegung im Beweis ihrer Güte liegen (Wendt & Funke, 2022). Die Form des Programms ist dafür angemessen, weil es das Momentum, den Impuls, den Schwung der Bewegung charakterisiert, ohne ihren Inhalt abschlie­ ßend behandeln zu müssen. So werden vor allem Potenziale sichtbar, die auszufüllen an künftige Beiträge überantwortet wird. Zugleich ist die Form des Programms verbindlicher als ein bloßer Entwurf im Sinne einer skizzenhaften Ideensammlung, die lediglich Vorschlag sein will. Das Programm für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie wird mit dem Anspruch auf Geltung als Impulsgeber des psychologischen Fortschritts vorgetragen, sodass es hierfür rechen­ schaftspflichtig wird, also an seinem Erfolg gemessen werden kann. Der Anspruch, um es klar zu fassen, ist also gerade nicht die Beigabe von philosophischer Kontemplation zu einem experimental­ psychologischen Monolithen (selbst wenn dies unter den gegenwär­ tigen Bedingungen die faktische Konsequenz sein mag), sondern eine phänomenologische Neuinterpretation der Psychologie. Im Gegen­ satz zur unreflektierten, bisweilen wildwüchsigen Theoriebildung konkurrierender psychologischer Paradigmen wird die Psychologie erst als phänomenologische Psychologie zur strengen Wissenschaft, also von der Abhängigkeit von Alltagskonzepten befreit. Mag die Experimentalpsychologie auch eine minutiöse Aus­ arbeitung des Begründungszusammenhangs (Reichenbach 1938) begünstigt haben, so ist der Entdeckungszusammenhang zu keiner Systematisierung geführt worden. Hierfür mag die einseitige Ver­ pflichtung auf den Empirismus und das positivistische Vertrauen gegenüber der datengetriebener Theoriebildung verantwortlich sein

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7. Das Programm

– das ist eine Frage für die psychologiegeschichtliche Forschung. Die wissenschaftliche Strenge der Phänomenologie wird also durch eine Wissenschaftstheorie der Theoriebildung gewonnen, welche mit etwaigen Darstellungen des Begründungszusammenhangs (etwa kritischem Rationalismus) durchaus kompatibel sein kann bzw. sie weiterentwickelt. Phänomenologie bedeutet deswegen nicht nur eine Alternative, sondern auch eine Ergänzung der zeitgenössischen Psy­ chologie – nicht aber eine ihr bloß äußerliche Anregung. Die historische Betrachtung stellt die phänomenologische Psy­ chologie vor eine zwiefältige Herausforderung. Während ihre der Experimentalpsychologie nahestehenden Ansätze, also die erlebnisund verhaltenswissenschaftliche Forschung, weder Eigenständigkeit noch Kontinuität erringen konnten, hat sich ein anderer Teil der Bewegung vorwiegend in Richtung einer an Pfänder erinnernden verstehenden, also lediglich erlebniswissenschaftlichen Psychologie entwickelt (vgl. Abschnitt 5.2). Die Bemühungen um eine Erneue­ rung sind als Programm aufzufassen, jene Entwürfe aufzugreifen und von dieser Richtung der jüngsten Entwicklungen Abstand zu nehmen. Allerdings ist es nicht ausreichend, eine Wiederbelebung der Forschung aus Utrecht und Heidelberg zu versuchen. Es bedarf des kritischen Abstands von einzelnen Entwicklungstendenzen. Diese kritische Überarbeitung ist durch den ersten und dritten Programm­ punkt beabsichtigt. Der erste Programmpunkt greift Michel Henrys Begriff der ›radikalen Phänomenologie‹ auf, um die Tendenz beider erlebnisund verhaltenswissenschaftlichen Untersuchungsarten zu einer Alli­ anz mit dem Pragmatismus zu konterkarieren. Das achte Kapitel stellt dementsprechend zwei wesentliche Schwachpunkte des Prag­ matismus vor, nämlich – am Beispiel der Frage nach dem Neuen – den neutralen Monismus und den Finalismus, der für evolutions­ psychologisches und funktionalistisches Denken charakteristisch ist. ›Radikale Phänomenologie‹ im Sinne Henrys ist eine strenge und gewissenhafte Intentionalanalyse, die beispielsweise Anleihen in der Gegenstandsphänomenologie macht. Für die Psychologie kann eine radikalphänomenologische Ausrichtung bedeuten, dass für komplexe ontologische Fragestellungen echte Alternativen zum Naturalismus entstehen, die durch die Beschränkungen des Pragmatismus bisher verdeckt waren. Der dritte Programmpunkt wendet sich ebenfalls kritisch auf die Geschichte der phänomenologischen Psychologie zurück. Er betrifft

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7. Das Programm

die Tendenz, Kompromisse mit dem ersten oder zweiten Weg der psychologischen Forschung einzugehen, also mit der bloßen Erlebnisoder Verhaltenswissenschaft. Für die im Abschnitt 5.2 thematisierten Ansätze60 droht in der Regel der Übergang vom phänomenologischen auf den Weg der verstehenden oder Aktpsychologie. Auf der anderen Seite ist ein Umschwenken der erlebnis- und verhaltenswissenschaft­ lichen Forschung aus Utrecht und Heidelberg zur Apperzeptionspsy­ chologie oder zum Kognitivismus erwogen worden. Das gilt insbeson­ dere für Linschoten. Diesen beiden Tendenzen stellt sich der dritte Programmpunkt als Forderung nach phänomenologischer Rigidität gegenüber. Mit dem Schlagwort ›Realpsychologie‹ ist die Idee ver­ bunden, den dritten Weg der Bewusstseinspsychologie beizubehalten, indem Eigenständigkeit gegenüber beiden Alternativen etabliert wird. Der realpsychologische Ansatz hat seine Wurzeln als immanenter Realismus im gegenstandsphänomenologischen Denken, ist jedoch Entwurf geblieben. Zukünftige psychologische Phänomenologie wird ihn fortentwickeln müssen, um der phänomenologischen Psychologie ein stabiles Fundament zu bieten. Mit der Metapher der ›Verjüngung‹ kann dem Ziel der beiden kritischen Programmpunkte ein bildhafter Ausdruck verliehen wer­ den: Wie bei einem Setzling soll die Trägheit des belastenden Wurzel­ werks durch Kappung beseitigt werden, ohne die Natur ihrer Entwick­ lung, also die phänomenologische Tradition, aufzugeben. Zugleich ist eine Jugend wiederherzustellen, welche zuletzt in Heidelberg und Utrecht in den 1960er und 1970er Jahren lebendig war. Jugend bedeu­ tet dabei, dass die Plastizität und Offenheit der phänomenologischen Psychologie zu erneuern sind, ihre Disponibilität für das dynamische Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychologie. Auf diese Weise werden die Empfänglichkeit für methodologische Impulse und der fruchtbare Boden für innovative empirische Forschung erschlos­ sen. Die Idee der Erneuerung weist also notwendig über die histori­ schen Ansätze hinaus. Der zweite und vierte Programmpunkt geben einen Ausblick auf die möglichen Erweiterungen des phänomenolo­ gischen Denkens in bisher nur unzureichend von ihm thematisierte Bereiche der Experimentalpsychologie. Ein wesentlicher Bestandteil der experimentellen Forschung ist die Überprüfung von empirischen Hypothesen. Dafür ist nicht nur die 60 Eine Ausnahme ist das Verkörperungsparadigma, das zu verhaltenswissenschaft­ lichen Kompromissen neigt.

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7. Das Programm

Beobachtung und Messung, sondern auch ein logisches Kriterium für die Geltung von Schlüssen erforderlich. Im Zuge des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Geltungstheorien in der Forschung etabliert, unter denen der kritische Rationalismus das schillerndste Beispiel ist. Ein Dialog zwischen Phänomenologie und wissenschaftstheoreti­ schen Positionen dieser Art ist jedoch bisher nicht in angemessener Form erfolgt. Nichtsdestoweniger ist leicht ersichtlich, dass sich für die Herausforderungen, die sich in der Wissenschaftstheorie erge­ ben, mithilfe der phänomenologischen Perspektive neue Formen der Bewältigung ergeben können. Hierin liegt auch für die Psychologie großes Potenzial. Der zweite Programmpunkt entwickelt daher die Vision einer phänomenologischen Geltungstheorie, durch die tages­ aktuelle Schwierigkeiten wie die sog. Replikationskrise61 überwunden oder vermieden werden könnten. Der vierte Programmpunkt zeigt ebenfalls eine methodologische Perspektive auf. Experimentalpsychologische Arbeit ist in der Gegen­ wart von Formalisierungen und einem komplexen deskriptiv- und inferenzstatistischen Methodenkanon geprägt. Die für die bisherige phänomenologische Psychologie charakteristische Form der Bezug­ nahme auf diesen Umstand ist der Anti-Reduktionismus und AntiFormalismus. Es ist jedoch nicht der einzige denkbare Standpunkt. Im Gegenteil ist es möglich, eine phänomenologische Messtheorie zu entwickeln, die ähnlich wie die phänomenologische Geltungstheorie die Integration der phänomenologischen Perspektive in die Psycho­ logie gestattet, ohne den experimentalpsychologischen Diskurs zu verlassen. In anderen Worten: Die Besinnung auf die methodenge­ nerierenden Potenziale der Phänomenologie erlaubt es der phäno­ menologischen Experimentalpsychologie, nicht nur auf der Ebene von Begriffs- oder Phänomenbestimmungen in der Psychologie zu wirken, sondern ihr kontroverses Potenzial auch in der Analyse, im Kommentar und in der Gestaltung von messpraktischen und -interpretativen Operationen zu entfalten. Die folgenden Kapitel (8–11) dienen der Einzelanalyse der vier Programmpunkte, deren Umsetzung die Etablierung einer phäno­ menologischen Experimentalpsychologie voraussetzt. Sie wenden sich einerseits gegen die phänomenologische Psychologie in ihrer 61 Die Experimentalpsychologie des frühen 21. Jahrhunderts sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Effekte, die sie empirisch festgestellt hat, nicht zuverlässig von unabhängigen Studien repliziert werden können. Die methodologi­ schen Konsequenzen dieses Umstandes werden als ›Replikationskrise‹ diskutiert.

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7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie

verfügbaren Form, denn es ist sachgerecht zu urteilen, dass diese bisher daran gescheitert ist, die Experimentalpsychologie strukturell und dauerhaft zu prägen. Zwar hat es entsprechende Versuche und verschiedene Forschungsprogramme gegeben, doch es sollte das Ziel sein, anstelle einer bloßen Interdisziplinarität die psychologische For­ schung durch phänomenologische Maßstäbe, nämlich eine phänome­ nologische Geltungstheorie (vgl. Kapitel 9), zu führen. Andererseits zeigen die Programmpunkte potenzielle Arbeitsfelder in der Psycho­ logie auf, die phänomenologisch vorangetrieben werden sollten. Die Wahl ist auf diese vier Programmpunkte gefallen, weil jeder von ihnen eine markante Eigenheit vorweist. Im Zuge ihrer Darstellung wird sich jedoch zeigen, dass das Programm nicht auf vier Ziele festgelegt werden kann, sondern Unterpunkte, Zwischenziele und Ergänzungen des Programms möglich und erforderlich sind. Die Programmatik der Erneuerung verlangt es, dass die Verände­ rungen, die an der phänomenologischen Psychologie vorgeschlagen und in die Experimentalpsychologie getragen werden sollen, zunächst pointiert darzustellen sind. Vor den Einzelanalysen der folgenden vier Kapitel muss an dieser Stelle deswegen zunächst eine fokussierte For­ mulierung der vier Programmpunkte erfolgen. Ihrer Rechtfertigung dienen die anschließenden Ausführungen.

7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie Der erste Programmpunkt betrifft das Verhältnis der phänomenolo­ gischen Psychologie zum gesamtphänomenologischen Diskurs. Im ersten Teil dieses Buches ist sichtbar geworden, dass sie als heterogene Geistesströmung durch immanente Kontroversen gekennzeichnet ist. Eine denkbare Lösung für diese Ausgangslage wäre es, einen – beispielsweise den transzendentalphänomenologischen – Ansatz für die Psychologie zu begünstigen und die alternativen Formen der Phä­ nomenologie zurückzuweisen. Vorgehensweisen dieser Art finden sich etwa bei Javier San Martin (vgl. Mercado Vásquez & Wendt 2021) oder Vincenzo Costa (2018). Der Nachteil dieser Beschränkung der Phänomenologie auf eine Richtung ist der Verlust des fruchtbaren Pluralismus. Im Gegensatz zu anderen Denkrichtungen zeichnet sich die Phänomenologie dadurch aus, dass sie nicht nur systematische und methodologische Beiträge zur Wissenschaft leisten kann, son­

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7. Das Programm

dern zugleich mehrere Perspektiven auf die Theoriebildung gestattet. Daher zielt der erste Programmpunkt nicht darauf ab, den kontrover­ sen Diskurs innerhalb der Phänomenologie aufzuheben, sondern zu ordnen, sodass er für die Gestaltung der psychologischen Forschung dienlich wird. Das Ziel, den Pluralismus der Phänomenologie aufrechtzuerhal­ ten, verlangt zugleich, die bisherigen Forschungsansätze der phäno­ menologischen Psychologie in dieser Hinsicht zu revidieren. Das gilt insbesondere für Versuche, die Phänomenologie mit anderen Paradig­ men kompatibel zu machen und dadurch die Eigenart der phänome­ nologischen Forschung zu riskieren: Der Kompromiss mit anderen Positionen, insbesondere mit Pragmatismus, radikalem Empirismus und neutralem Monismus sensu James, hat zu einem Verlust des phänomenologischen Profils geführt. Unter diesen Voraussetzungen ist keine Prägung der Psychologie möglich, weil es einer kontroversen Gegenposition ermangelt. Die phänomenologische Psychologie muss deswegen ihre ursprüngliche wissenschaftliche Strenge erneuern und danach streben, die Bedeutung und das Wesen der Erfahrung der Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit und lebendigen Fülle zu unter­ suchen. Das bedeutet auch, die zugrundeliegenden Auffassungen der psychologischen Phänomenologie infrage zu stellen und Begriffe wie ›Intentionalität‹ radikal zu überprüfen – dies ist das Augenmerk von Henrys ›radikaler Phänomenologie‹. Die phänomenologische Psychologie muss ihre eigenen Ansätze und Errungenschaften kritisch prüfen. Dazu gehören insbesondere die bloß erlebniswissenschaftlichen Vorgehensweisen phänomenolo­ gischer Psychologie (vgl. Abschnitt 5.2). Das Erleben zu thematisie­ ren, darf keinen Rückfall in naive Selbstbericht-Forschung bedeuten. Zur Ausarbeitung einer zur Kontroverse fähigen Methodologie ist beispielsweise erforderlich, als markanten Kontrapunkt eine ›radikale Phänomenologie des Verhaltens‹ zu diskutieren, um »den Gegensatz zwischen ›klassischem‹ Behaviorismus und Introspektionismus zu überwinden« (Kvale & Genness 1967, 261). In ähnlicher Weise hat sich Graumann (1970) mit dem Neobehaviorismus als Perspektive für phänomenologische Psychologie auseinandergesetzt. Die Aufgabe der Erneuerung ist es, diese Entwicklungslinien konsequent fortzu­ setzen, also keine Zurückhaltung zu üben, die zwar die Konvergenz mit den etablierten psychologischen Paradigmen erhalten würde, aber dafür das streng phänomenologische Profil opfern müsste.

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7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie

Wenn von ›radikaler Phänomenologie‹ die Rede ist, sind zwei Gesichtspunkte von zentraler Bedeutung. Der erste, der in den folgen­ den Absätzen erläutert wird, findet in Henrys Idee, den Diskurs der Phänomenologie durch eine kritische Haltung voranzutreiben, seinen Ausdruck. Für die Psychologie bedeutet dies, dass Phänomenologie nicht als grundlagenwissenschaftlicher Rahmen versteinert werden darf. Wenn die Experimentalpsychologie phänomenologisch verfährt, muss sie sich als konstruktiver Beitrag zum phänomenologischen Diskurs verstehen. Nur dann, wenn dieser Diskurs für die Psycholo­ gie von lebendiger Bedeutung ist, lässt sich eine Entfremdung der empirischen Methodologie von ihrer Grundlage verhindern. Daraus folgt zweitens, dass der aktive Grundlagendiskurs der theoretischen Psychologie (im Sinne von Wendt & Funke 2022) die Kontroverse begünstigen und suchen sollte. Wie diese Form der grundlagenwis­ senschaftlichen Selbstkritik erfolgen kann, ist Gegenstand des ach­ ten Kapitels. Was ist der Gegenstand der ›radikalen Phänomenologie‹? Diese Frage lässt sich im Allgemeinen philosophisch und sodann im Spe­ ziellen für den gegebenen Kontext der Psychologie beantworten. Zunächst ist die radikale Phänomenologie ein insbesondere von Henry geprägter Begriff für eine kritische Auseinandersetzung mit den phänomenologischen Klassikern. Im Herzen seines Denkens steht die Kritik des Intentionalitätsbegriffes, dessen Einheitlichkeit er eine »Grunddualität der Erscheinungsweisen« (Gondek & Tengelyi 2011, 117) gegenüberstellt: »Von der eigentümlichen (als ›ekstatisch‹ bezeichneten) Erscheinungsweise der Welt wird die Selbstoffenba­ rung des Lebens abgehoben« (ebd.). Weiter: In der Wahrnehmung wird etwas wahrgenommen, das in der Regel selbst keine Wahrnehmung ist, in der Erinnerung etwas ins Gedächtnis gerufen, das in der Regel selbst keine Erinnerung (das heißt hier: kein Erinnerungsakt) ist usw. Dagegen wird im Schmerz nichts anderes gefühlt oder empfunden als eben nur Schmerz, in der Angst nichts anderes als eben nur Angst, in der Freude nichts anderes als eben nur Freude (ebd., 118).

An dieser zweiten Klasse von Erfahrungen weist Henry die »Selb­ staffektion des Lebens« (ebd., 120) auf und vermeidet dadurch eine Bewusstseinsmetaphysik, die Subjektivität als schlichte Gegebenheit hinnimmt. Die Selbstaffektion wird in kritischer Auseinandersetzung mit Husserls Begriff der ›Urimpression‹ etabliert, die letztlich empi­ ristische Züge trägt, insofern als die Idee der Transzendenz des

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7. Das Programm

Gegebenen der Immanenz der Erfahrung gegenübergestellt bleibt: »Der Immanenzbereich eines transzendentalen Bewusstseins mit sei­ nen cogitationes konstituiert einen objektiven noematischen Außen­ bereich, der weder zur transzendenten Welt noch zum Bewusstsein im engeren Sinne gehört und dem das Sein kraft des Erscheinens verliehen wird« (Dopatka 2019, 199). In Konfrontation mit diesem cartesianischen Erbe wird durch Henrys Ansatz Raum für die Unter­ suchung der affektiven Selbstgebung von Erfahrung geschaffen, die sich im Werk Marions fortsetzt (vgl. Serban 2020). Infrage steht dabei also, ob die klassische Phänomenologie der Gegebenheit des lebendigen Seins in der Erfahrung gerecht werden kann: Durch das Setzen der Anschauung als Prinzip jeglicher Erfahrung ent­ faltet die Phänomenologie jene Art von Erscheinen, wo das Sein nie­ mals in seinem ursprünglichsten Wesen wirklich ›ist‹. Das heißt, dieses ›Sein‹ entspricht nicht dem unendlichen Leben, das uns unaufhörlich an uns selbst gibt, indem es sich in seiner ständigen Selbstaffektion selbst erzeugt (Kühn 1992, 701).

Es ist an dieser Stelle nicht entscheidend, die Eigenheiten des phänomenologischen Denkens, das von Henry als ›materiale Phä­ nomenologie‹62 entwickelt worden ist und neben den im vierten Kapitel vorgestellten Ansätzen einen konstruktiven Beitrag zum innerphänomenologischen Pluralismus leisten kann, im Detail wei­ terzuverfolgen – dies ist Anliegen der Umsetzung und nicht des Programms. Maßgeblich ist, was Kühn mit Blick auf die Prinzipien der Phänomenologie formuliert: Die Leitsätze der Phänomenologie ent­ hielten »innere Spannungen, die letztlich zu Widersprüchen fuhren und augenscheinlich dem zunächst systematischen Anspruch ihrer Voraussetzungsfunktion entgegenstehen« (ebd., 694). In anderen Worten: Die Phänomenologie ist kein abgeschlossenes System und die diskursimmanenten Widersprüche müssen thematisiert werden. Diese Geisteshaltung gibt der phänomenologischen Psychologie ihre Bedeutung. Es handelt sich um keine ›Anwendung‹ der Phänomeno­ logie auf den empirischen Bereich des Psychischen, sondern um eine selbst um Kontroverse bemühte Perspektive des Seinsverständnisses. Konkret bedeutet dies, dass die Idee der ›Radikalisierung‹ im Anschluss an Henry und Marion in die Psychologie zu tragen ist. Damit ist keine ›materialistische‹ Phänomenologie gemeint. Vielmehr wird in ihr die ›Materialität‹ des Erscheinens selbst im Sinne seiner Substanzialität thematisiert (vgl. Kühn, 1992).

62

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7.1 Die radikalphänomenologische Transformation der Psychologie

Folglich darf empirische Forschung nicht als ein statisches Tableau der Anwendung allgemeiner epistemologischer Prinzipien gestaltet werden, sondern muss ihrerseits als Beitrag auf dem kontroversen Feld von Epistemologie und Ontologie gelten. Das heißt freilich nicht, dass der Zweck psychologischer Forschung in der Verhandlung philosophischer Probleme besteht. Wichtig ist lediglich, dass Psycho­ loginnen und Psychologen wissenschaftliche Verantwortung für die Problematik ihres jeweiligen Ansatzes übernehmen. Dafür gestaltet die innerphänomenologische Kontroverse einen nomologischen Rah­ men. Auf inhaltlicher Seite bietet der Diskurs der ›materialen Phä­ nomenologie‹ beispielsweise die Möglichkeit, die psychologische Schlüsselfrage nach dem ontologischen Status von Erfahrungen sowie das Leib-Seele-Problem aus einer kontroversen Perspektive zu the­ matisieren, die die phänomenologische Auffassung dieser Zusam­ menhänge verhandelt. Der Unterschied zwischen ideellen Akten als Gegenstand der Wesenswissenschaft und faktischen Funktionen in der Tatsachenwissenschaft ist eine grundsätzliche Problematik, die für die phänomenologische Gestaltung der Psychologie eine metho­ dologische Einschränkung darstellt. Allerdings ist der Sinn des ersten Programmpunktes nicht, die ›materiale Phänomenologie‹ als weitere Standardposition neben den bereits existierenden (vgl. Kapitel 4) zu etablieren. Zwar ist Henrys Position auch für die Psychologie von Wert, doch der Gestus der Radikalisierung weist über den speziellen Fall seines Ansatzes hinaus. Im weiteren Sinne des Programmpunktes besteht sie darin, den Diskurs der Phänomenologie als offenen in der Psychologie fruchtbar zu machen, statt ihn lediglich vorauszu­ setzen, denn ansonsten droht das statische Verhältnis zu den epis­ temologischen Voraussetzungen repliziert zu werden, das auch zur Wissenschaftstheorie besteht (hierzu der zweite Programmpunkt). Mit Fraisopi kann Radikalisierung als ein konstruktives Verhältnis zur Häresie betrachtet werden: Entweder man versteht die Phänomenologie als eine Sekte, d.h. als eine geschlossene – dogmatisch begründete – Gemeinschaft oder als eine Bewegung, als ein geistig dynamisches Phänomen, eine Konkretion der Vernunft. Im ersten Fall könnte man auch eine normative Idee der Entgegensetzung zwischen Häresie und Orthodoxie verwenden und sich vormachen zu wissen, was phänomenologisch bzw. was nicht phänomenologisch ist. Im zweiten Fall zeigt sich die Idee der Häresie als intrinsisch, als wesentlich für die Idee und die Konstitution

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7. Das Programm

einer phänomenologisch-philosophischen Praxis selbst, wenn nicht gar wesentlich für ihre Weiterentwicklung (Fraisopi 2020, 6).

Prinzipiell lässt sich »[j]ede Form phänomenologischer Forschung, im Sinne einer Fortführung und Radikalisierung derselben« (ebd., 9), als »Suche nach einer deutlicheren und konsistenteren Auffassung der komplexen und immer komplexeren Problematik der Phänome­ nalität« (ebd., 10) begreifen und insofern »sowohl als eine Form der Häresie als auch als eine Form der Horizonterweiterung und Vertiefung der ursprünglichen begrifflichen Konstellation« (ebd., 9). Wenn auch die phänomenologische Psychologie diesem Aufruf zur Häresie folgt, wird sie der Möglichkeit und Verantwortung gerecht, psychologische Forschung zu ganzheitlicher und nicht nur spezialwis­ senschaftlicher Erkenntnis zu entwickeln.

7.2 Phänomenologische Geltungstheorie für die Experimentalpsychologie Das Herzstück der experimentalpsychologischen Forschung als induktive empirische Wissenschaft sind prognostische Hypothesen und ihre formallogische Überprüfung. Diese Hypothesen haben ihre Genese in der Theoriebildung, die wissenschaftstheoretisch als ›Entdeckungszusammenhang‹ thematisiert wird, und werden im ›Überprüfungszusammenhang‹ hinsichtlich ihrer Geltung unter­ sucht. Dementsprechend gliedert sich der wissenschaftstheoretische Diskurs in die Untersuchung der Genese und der Geltung, wobei die einflussreichen Positionen, nämlich logischer Empirismus und kritischer Rationalismus, in ihrer konstitutiven Phase vornehmlich die Frage der Geltung behandelt haben. Phänomenologisches Denken vermag einen Beitrag zu beiden Teildiskursen zu leisten. Hinsichtlich der Genese scheint dies nahelie­ gend zu sein, insofern als die Strukturanalyse der Erfahrung episte­ mologisch sowie als regionale Ontologie des Seelenlebens die psycho­ logische Theoriebildung zu ordnen vermag. Damit ist gesagt, dass sich psychologische Theorien anhand phänomenologisch erschlossener Zusammenhänge entwickeln können. Gallagher bezeichnet diese Art der phänomenologischen Prägung der Wissenschaft als front-loading: The idea is to front‐load phenomenological insights into the design of experiments, that is, to allow the insights developed in phenomeno­

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7.2 Phänomenologische Geltungstheorie für die Experimentalpsychologie

logical analyses (modeled on Husserlian description, or the more empirically oriented phenomenological analyses found, for example, in Merleau‐Ponty or in neurophenomenology) to inform the way experiments are set up (Gallagher 2003, 92).

Diese Verfahrensweise droht der Phänomenologie aus Blick der Expe­ rimentalpsychologie jedoch lediglich einen propädeutischen Wert zuzuschreiben. Wenn Phänomenologie im Sinne Gallaghers nur Anreize für die Experimentalforschung gibt, bleibt ihr Beitrag letzt­ lich kontingent. Für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie bedarf es der Umgestaltung der psychologischen Methodologie. Der not­ wendige Ansatzpunkt ist dabei, nicht nur die Theoriegenese zu infor­ mieren, sondern zudem einen Beitrag zum geltungstheoretischen Diskurs der Wissenschaft zu leisten. Das darf nicht bedeuten, parallele Kriterien für die Gültigkeit psychologischer Theorien zu behaupten. Vielmehr ist ein konstruktiver und kommensurabler Beitrag zur theo­ retischen Psychologie zu leisten, die den bisher etablierten Formen der Geltungsbestimmung, etwa dem Falsifikationismus, nach logischen Kriterien überlegen ist. Um auf diese Weise auf den disziplinären Diskurs einzuwirken, müssen jedoch zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden. Das heißt konkret, dass zwei wissenschaftstheo­ retische Missverständnisse zu bekämpfen sind: Erstens herrscht im disziplinären Selbstverständnis der Psycho­ logie die Auffassung vor, dass sie auf einem sicheren geltungstheore­ tischen Fundament ruhe. Wissenschaftstheorie findet in der Lehre zumeist in der Form einer kursorischen Einführung Erwähnung, ohne dass dabei Probleme und kritische Perspektiven etabliert werden. In der Forschung stellen wissenschaftstheoretische Standardpositionen einen impliziten Hintergrund dar – etwa im auf dem Falsifikationis­ mus beruhendes binäres Testen –, werden aber nicht kontrovers ver­ handelt. Eine wissenschaftshistorische und -philosophische Bestim­ mung des geltungstheoretischen Diskurses (bspw. Wendt & Funke 2022) kann unterdessen zeigen, dass die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der induktiven Wissenschaften keineswegs überzeitliche Selbstverständlichkeit besitzen. Im Gegenteil besteht die Möglichkeit eines lebendigen wissenschaftstheoretischen Diskurses. Der kritische Rationalismus ist weder epistemologisch vollständig noch alternativ­ los. Zweitens droht die phänomenologische Psychologie als bloß deskriptiver Beitrag missverstanden zu werden, der nicht zur Hypo­

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thesentestung und Leitung der empirischen Forschung in der Lage ist. Wie Kapitel 9 zu skizzieren versucht, ist die Phänomenologie allerdings durchaus in der Lage, auch einen geltungstheoretischen Beitrag zu den Grundlagen der Psychologie zu leisten. Es lässt sich gar von dem »Geltungsproblem als Grundmotiv phänomenologischen Philosophierens« (Hartmann 1999, 125) sprechen. Dieser Beitrag ist als Positionierung im Diskurs der Wissenschaftstheorie zu verstehen, also als eine Kritik und Erweiterung der bisher etablierten Positionen von logischem Empirismus und kritischem Rationalismus. Für eine entsprechende Argumentation bieten verschiedene Vor­ arbeiten einen Anhaltspunkt. Schon die klassische Phänomenologie setzt sich mit dem Thema auseinander: »Die Bemühungen um eine philosophisch reflektierte Theorie der Wissenschaft stellen für Husserl zugleich eine Grundmotivation dar, den Weg in die Phä­ nomenologie als transzendentale Wissenschaft allererst einzuschla­ gen« (Staiti 2017, 173). Ferner sind auch nicht-transzendentale For­ men phänomenologischen Denkens wie die hermeneutische für die Wissenschaftstheorie anschlussfähig (vgl. Pöggeler 1986). Ein jün­ gerer phänomenologischer Beitrag zum wissenschaftstheoretischen Diskurs findet sich in der Nähe zur konstruktivistischen Sprachphi­ losophie in der Erlanger Schule, insbesondere bei Carl Friedrich Gethmann, der klarstellt: »Hier soll jedoch nicht unterstellt werden, die Konstruktive Wissenschaftstheorie sei die Wissenschaftstheorie der Phänomenologie. Vielmehr handelt es sich um eine mögliche Entfaltung phänomenologischer Ansätze« (Gethmann 2007, 42). Die Betonung der logischen und wissenschaftstheoretischen Elemente der phänomenologischen Bewegung sowie der Dialog mit den etablierten Theorien, insbesondere mit dem kritischen Rationalismus, ist ein zentrales Anliegen für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie, weil sie den eingeschränkten wis­ senschaftstheoretischen Diskurs beleben und den Grundstein für eine phänomenologische Experimentalpsychologie legen können. Allerdings gilt: »Eine phänomenologische Wissenschaftstheorie im engeren Sinne des Wortes gibt es nur in Ansätzen« (ebd.)63. Aus diesem Grund zielt der zweite Programmpunkt darauf ab, einen systematischen geltungstheoretischen Ansatz der Phänomenologie 63 Erwähnenswert ist insbesondere der Ansatz der hermeneutischen Wissenschafts­ theorie in phänomenologischer Tradition bei Kockelmans und im Anschluss etwa bei Dimitri Ginev.

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7.3 Realpsychologie als Forschungsart

für die Psychologie zu entwickeln und auf diese Weise nicht nur propädeutisch auf die Theoriebildung, sondern auch in der Tiefe des Diskurses zu wirken. Erforderlich ist eine Pluralisierung des wissenschaftstheoreti­ schen Diskurses und somit ein metawissenschaftstheoretischer Dia­ log zwischen Phänomenologie, kritischem Rationalismus und wei­ teren die Forschung ausrichtenden Denkformen. Der Beitrag der Phänomenologie zur Wissenschaftstheorie besteht etwa in der Bemü­ hung »um Aufklärung und Rechtfertigung der Grundoperationen wissenschaftlicher Theoriebildung, wenn sie z.B. wissenschaftliches Urteilen und Erkennen auf Leistungen einer vorprädikativen Erfah­ rung zurückzuführen oder den Ursprung wissenschaftlich-mathema­ tischer Idealisierungen im ›vorwissenschaftlichen Erfahrungsleben‹ aufzudecken versucht« (Mertens 2011, 233). Von phänomenologi­ scher Geltungstheorie zu sprechen, bedeutet folglich, die zumeist unzureichend diskutierte Trennung von Geltungs- und Entdeckungs­ zusammenhang zu problematisieren. Dafür ist die »Analyse des unbefragten Bodens jeder Wissenschaft« (ebd.) ein Anhaltspunkt, »die Husserl in seiner Spätphilosophie unter dem Titel der Lebenswelt entfaltet hat« (ebd.).

7.3 Realpsychologie als Forschungsart Der aus der romantischen Philosophie stammende Begriff der ›Real­ psychologie‹ findet in der Phänomenologie seine Prägung durch Gei­ ger und Scheler. Geiger bezeichnet seine Position als ›erlebnistran­ szendenten psychisch-immanenten Realismus‹. Diese stellt er sowohl der Auffassung entgegen, dass nur Erlebnisse selbst Gegenstand der Psychologie seien – eine Position, die Geiger ›Erlebnisrealismus‹ nennt und die mit der Aktpsychologie identifiziert werden kann – als auch derjenigen Auffassung, dass die realen Prozesse, die die Erlebnisse fundieren, nur erschlossen, aber nicht direkt erfahren werden können. Diese Position bezeichnet Geiger als ›erschlossenen psychischen Realismus‹, wobei ihr zu Geigers Zeiten die Apperzep­ tionspsychologie sowie heutzutage weitgehend der indirekte Realis­ mus bzw. der Repräsentationalismus entsprechen. Bewusstseinsphilosophisch entspricht dieser Abgrenzung der Unterschied zwischen drei Begriffen vom Bewusstsein, die Geiger bespricht. Der ,Erlebnisrealismus‘ ist zumeist mit einem »inhaltli­

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7. Das Programm

chen oder räumlichen Bewusstseinsbegriff« (Geiger 1921, 32) verbun­ den, der das Bewusstsein als Behältnis auffasst. Der ›erschlossene psychische Realismus‹ hingegen entspricht dem »adjektivische[n] Bewusstseinsbegriff« (ebd., 30), für den Bewusstsein nicht mehr als eine Eigenschaft von Materie ist, weswegen dieser Begriff mit der naturalistischen bzw. materialistischen Psychologie kompatibel ist. Von beiden Auffassungen grenzt sich Geiger mit dem sog. verbalen Bewusstseinsbegriff ab, der zwei Seiten vorweist, eine passive und eine aktive. Dabei ist die aktive Seite als das ›Bewusstsein von‹ intentional charakterisiert und die passive dementsprechend eine noematische Charakterisierung des Erfahrungsinhalts. Nur dieses Verständnis vom Bewusstsein gestattet es, so meint Geiger, »Erleben von Erlebtem« (ebd., 47) zu trennen. Für den ›verbalen Bewusstseinsbegriff‹ kommt psychische Rea­ lität nicht dem Erlebnis, gewissermaßen der Noesis, sondern dem passiv bewussten Erfahrungsinhalt zu. In diesem Sinne sagt Geiger: »Das Urmaterial der Psychologie sind reale Vorkommnisse des Ichs, nicht ›Erlebnisse‹ – das ist die richtige Angabe des Gegenstandes der Psychologie« (ebd., 41). Diese »Ichtaten, Ichzuständlichkeiten, Ichfunktionen« (ebd., 52) sind ihrem Wesen nach allerdings nicht mit »dem Ich gegenüberstehenden Objektivitäten« (ebd.) identisch, also etwa Häusern oder Farben. Während im Erleben einer Farbe diese Farbe »von einem Bewußtseinsstrahl erfaßt« (ebd.) wird, ist das Erleben der psychischen Realitäten vielmehr ein ›Innewerden‹. Um dieses Innewerden zu umschreiben, bedient sich Geiger der Metapher des Lichtnebels. Am Beispiel des Wollens sagt er: Die eine Realität – das Erleben – steht nicht gleichberechtigt und unabhängig neben der andern, der Sinn der Erlebnisrealität beruht vielmehr darin, daß in ihr die andere Realität gegeben ist, daß die Erlebnisrealität die erlebte psychische Realität beleuchtet. Während das Wollen Eigenrealität besitzt, ist das Erleben des Wollens nichts als ein Lichtnebel, der das Wollen umhüllt, dem Wollen funktionell dienstbar ist. Das ist der Grund, weshalb die erlebte Realität (das Wollen usw.) als die ›Realitätensphäre‹ schlechthin bezeichnet und von der Erlebens-Realität als der ›Erlebenssphäre‹ ausdrücklich geschieden werden soll (ebd., 53).

Hieran wird ersichtlich, weswegen der realpsychologische Standpunkt des immanenten Realismus auch für die Psychologie relevant ist. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Max Scheler auf Oswald Külpe verweist, der eine dreibändige Abhandlung über den

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7.3 Realpsychologie als Forschungsart

kritischen Realismus verfasst hatte. Scheler konnte zumindest vom ersten und dem posthum erschienenen zweiten Band Kenntnis und an verschiedenen Stellen auf diese Texte Bezug nehmen. Weil Külpes Arbeiten sich im selben thematischen Kontext bewegen, formulierte Scheler das Desiderat einer realpsychologischen Bewegung: »Für die Begründung einer Realpsychologie traten außer Külpe auch ein Scheler […], M. Geiger und H. Driesch« (SGW VII, 301). Dass es zur Ausbildung dieser Bewegung nicht gekommen ist, schließt sie nicht als Bezugspunkt für die Erneuerung der phänomenologischen Psychologie aus. Der Standpunkt der phänomenologischen Psychologie soll den Ansatz der Realpsychologie aufgreifen, deren Ausbildung bisher nicht über die ursprüngliche Idee, insbesondere in den Arbeiten Schelers, hinaus entwickelt worden ist. Dadurch wird zugleich eine Ver­ änderung der bisherigen phänomenologisch-psychologischen For­ schungsart möglich, wie sich an der Kritik der Utrechter Schule im 10. Kapitel zeigt. Hierbei stehen drei Aspekte im Mittelpunkt. Erstens bedeutet eine realpsychologische Psychologie einen immanenten und pluralistischen Realismus gegen den neutralen Monismus zu positio­ nieren. Psychische Realitäten haben ihr eigenes Wesen und es ist der Psychologie möglich, die Eigenständigkeit dieser Realitäten empirisch in ihrer Erscheinungsweise und Natur zu bestimmen. Daraus ergibt sich zweitens, dass die phänomenologische Psychologie das Seelenle­ ben (vgl. Abschnitt 1.2) als Gegenstand der Disziplin zu bestimmen in der Lage ist. Dies geschieht allerdings nicht auf spekulativem Wege der rationalen Psychologie oder durch naiven Empirismus, sondern unter Maßgabe der phänomenologischen Geltungstheorie. Drittens ist die Bestimmung des Seelenlebens als Gegenstand der Realpsychologie auf die Arbeit einer psychologischen Anthropologie angewiesen. Die Skepsis gegenüber der Anthropologie lässt sich auf unzureichende Kenntnis der historischen Genese der modernen Anthropologie zurückführen, sodass die phänomenologische Psycho­ logie den Weg für eine psychologische Bestimmung des Menschen bereitet. Aus diesen drei Aspekten, die das realpsychologische Pro­ fil der phänomenologischen Psychologie konturieren, ergeben sich methodologische sowie theorie- und hypothesenbildende Beiträge für eine phänomenologische Experimentalpsychologie. Auf diesem Wege kann die Realpsychologie das Potenzial des ›dritten Weges der Bewusstseinspsychologie‹ einholen (Kapitel 2).

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7. Das Programm

7.4 Phänomenologische Messtheorie als Methodologie Experimentalpsychologie ist im operationalistischen Sinne eine Datenwissenschaft. Daten sind, so lässt sich beispielsweise mit DIN 44300 (Nr. 19) von 1985 sagen, »Gebilde aus Zeichen oder kontinu­ ierliche Funktionen, die aufgrund bekannter oder unterstellter Abma­ chungen Information darstellen, vorrangig zum Zwecke der Verar­ beitung und als deren Ergebnis« (Deutsches Institut für Normung e. V. 1988). Diese Definition verweist auf die Informations- und Zei­ chentheorie, wobei es sich nach derselben Norm bei einem Zeichen um »[e]in Element (als Typ) aus einer zur Darstellung von Informa­ tion vereinbarten endlichen Menge von Objekten (Zeichenvorrat, character set), auch jedes Abbild (als Exemplar) eines solchen Ele­ ments« (ebd.) handelt. Die Idee der Information ist folglich für das epistemologische Verständnis von Daten eine zentrale Vorausset­ zung. Nach Walliman (2011) lassen sich Primär- und Sekundärdaten unterscheiden, wobei jene beispielsweise Messungen und Beobach­ tungen entstammen, wohingegen diese als Interpretationen von Pri­ märdaten entstehen. Eine hinsichtlich der Entstehung von Daten epis­ temologisch aufschlussreichere Differenzierung erfolgt in der Theorie von Coombs (1960), der Einzelreiz-, Vorzugs-, Reizvergleichs- und Ähnlichkeitsdaten dahingehend voneinander unterscheidet, welche Stimuli in den jeweiligen Experimentaldesigns gegeben sind. Insofern als Reizungen als Naturgeschehnisse, Sachverhalte oder Tatsachen aufgefasst werden können, ist die Quelle für Experimentaldaten letztlich der Vorgang der Messung. Messungen werden gemeinhin mengentheoretisch als Abbil­ dungen aufgefasst: Eine Menge W  , welche die Realität repräsentiert, wird durch eine feststehende Vorschrift s  auf eine Menge Z   von Zahlen abgebildet64. Die Vorstellung ist, dass dabei einem realen Objekt a ∈ W  eine Zahl z = s a  , sein Messwert, zugeordnet wird. Der Messwert ist eine Merkmalsbeschreibung, die stochastisch als Konstante oder Realisation einer Variablen aufgefasst werden kann. Mengen bilden die Grundlage mathematischen Denkens. Eine Menge ist eine (gedachte) Zusammenfassung von (wirklichen oder gedach­ Dieses doppelte Repräsentationsverhältnis (zwischen Menge und Realität sowie zwischen der Menge der empirischen Ereignisse und dem numerischen Relativ) ist eine denkwürdige Schwierigkeit der Mengentheorie. 64

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7.4 Phänomenologische Messtheorie als Methodologie

ten) Objekten, die die Elemente der Menge genannt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Interpretation von Datensätzen mithilfe mathematischer, insbesondere stochastischer Verfahren gerechtfer­ tigt. Es ergibt sich ein Zusammenhang von Empirie und Statistik, der sich als performatives Herzstück der Experimentalpsychologie bezeichnen lässt, in seiner epistemologischen Grundstruktur aller­ dings zumeist nicht reflektiert wird. Weil dieser Zusammenhang zum operativen Selbstverständnis der Forschung gehört, kann ebenso wie im Falle der Wissenschaftstheorie der Schein entstehen, als handele es sich um logische Notwendigkeiten, aus denen sich die psychologischen Verfahrensweisen ergeben. Tatsächlich ist eine Kritik der Datengewinnung und -interpretation jedoch nicht nur möglich, sondern für die Entwicklung psychologischer Forschung von größter Bedeutung. Das gilt nicht nur für mathematische Psychologie, also eine Teildisziplin, die sich mit der Weiterentwicklung der Deskriptivund Inferenzstatistik auseinandersetzt. Auch die Thematisierung auf Grundlagenniveau ist von Wert, wie sich beispielsweise an der Arbeit von Saint-Mont (2011) zeigt. Saint-Mont entwickelt eine umfassende und detaillierte Dar­ stellung der statistischen Fundamente der Wissenschaft, wobei er die Zusammenhänge zwischen Messtheorie, Induktion und Wissen­ schaftstheorie aufzeigt. Dadurch eröffnet er eine Diskursebene, die Statistik nicht nur instrumentell auffasst, sondern methodologische Fragestellungen gegenstandsangemessen zu beurteilen ermöglicht, ohne die Expertise oder den Jargon der Mathematik vollständig vor­ auszusetzen. Zwar gilt auch für Saint-Monts mathematische Wissen­ schaftsphilosophie, dass mathematische Zusammenhänge nicht ohne mathematische Argumentationsfiguren möglich sind, doch damit ist nicht die disziplinäre Stochastik gemeint. So durchbricht Saint-Mont den Anschein, als ließe sich über die Grundlagen der statistischen Verfahren, die in der Experimentalpsychologie zur Anwendung kom­ men nur als Mathematikerin oder Mathematiker sprechen. Das soll freilich nicht bedeuten, die Forschungsmethodik könne sich von der Mathematik emanzipieren – im Gegenteil ist die wissenschaftstheo­ retisch orientierte Interdisziplinarität eine wertvolle Perspektive –, doch die Entwicklung quantitativer Mess- und Interpretationsformen liegt nicht jenseits der Psychologie. Das am Beispiel der Analysen Saint-Monts aufgezeigte Potenzial bietet sich auch der phänomenologischen Psychologie: Die statisti­

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7. Das Programm

schen Verfahren der Psychologie können anhand epistemologischer und ontologischer Alternativpositionen neu ausgerichtet werden. Dafür ist allerdings eine Öffnung des phänomenologischen Diskurses in der Psychologie hin zur quantitativen Methodologie erforderlich. Das bisherige Versagen der phänomenologischen Psychologie ist, abgesehen von historischen Umständen, darauf zurückzuführen, dass die Bemühung um Kompatibilität mit der durch quantitative Methodik strukturierten Experimentalpsychologie ausgeblieben ist. Aus diesem Mangel resultierte einerseits, dass phänomenologische Überlegungen in der Peripherie der Theorienbildung nur durch parti­ kuläre Interessen einzelner Wissenschaftler repräsentiert wurden und jeweils idiosynkratisch in den experimentalpsychologischen Diskurs zu übersetzen waren. Andererseits blieben sie auf eine Synthese mit nicht-phänomenologischer Experimentalmethodik angewiesen, sodass die eigentliche phänomenologische Perspektive zumeist nicht mit der notwendigen Strenge experimentalpsychologisch repräsen­ tiert werden konnte. Vor diesem Hintergrund zeigt sich klar, weswe­ gen die phänomenologische Bewegung keinen Erfolg haben konnte: Ihre Stärken ließen sich nicht in die Experimentalmethodik überfüh­ ren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich keine phänomenolo­ gische Psychologie etablieren konnte. Letztlich liegt im Umgang mit diesem Umstand der Schlüssel zum Erfolg der Erneuerung. Es bedarf einer mit größter Gewissenhaf­ tigkeit und Sorgfalt entwickelten phänomenologischen Messtheorie, die sich durch drei Aspekte auszeichnet. Erstens muss es gelingen, diese Messtheorie so zu gestalten, dass sie der Phänomenologie einen Zugang zum experimentalpsychologischen Diskurs verschafft. Das bedeutet, dass eine quantitativ-methodische Sprache gesucht werden muss, die ein direkter Ausdruck der phänomenologischen Einstellung ist, also weder reduktionistisch noch formalistisch ist. Dafür verlangt es einer organischen Beziehung zwischen mathematischer Psycholo­ gie und Phänomenologie, die allerdings an verschiedenen Stellen der phänomenologischen Psychologie bereits angelegt ist, wie Kapitel 11 diskutiert. Zweitens muss die neue Messtheorie kompatibel mit dem bestehenden Diskurs sein, darf also keinen hermetischen Paral­ leldiskurs eröffnen. Gewissermaßen ist es auch erst diese Messtheorie und Experimentalmethodik, die die phänomenologischen Analysen kommensurabel und anschlussfähig machen. Drittens muss die Mess­ theorie dazu in der Lage sein, Experimentalmethodik nicht nur zu for­ mulieren und für den phänomenologischen Diskurs anschlussfähig zu

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7.4 Phänomenologische Messtheorie als Methodologie

machen, sondern sie muss auch Innovationspotenziale bergen, die mit den bestehenden methodischen Alternativen nach methodologischen – nicht nur nach geltungstheoretischen oder epistemologischen – Kriterien konkurrenzfähig sind. Um diese drei Aspekte der phänome­ nologischen Messtheorie und Experimentalmethodik zu realisieren, ist eine Vorbereitung und kontinuierliche Transformation des phäno­ menologisch-psychologischen Diskurses erforderlich, damit er sich methodologischen und mathematikphilosophischen Anforderungen gegenüber als tauglich erweist.

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Die Phase, in der die phänomenologische Psychologie als erlebnisund verhaltenswissenschaftliche Forschungsart in ihrer kontinentalen Ausprägung ihre größte Produktivität entfalten konnte, wird von zwei Veröffentlichungsdaten gesäumt, zunächst 1960/61 Linschotens und Graumanns jeweilige Habilitationsschriften, dann 1992 Herzogs enzyklopädische Darstellung der Phänomenologischen Psychologie. Was insbesondere Linschoten und Herzog miteinander verbindet, ist das Bekenntnis zu William James als entscheidendem Vordenker ihres Ansatzes. Beide Texte gewinnen diese Idee allerdings erst auf der Grundlage von Gurwitschs Theorie du Champ de la Conscience, welches »[i]n deutscher Sprache konzipiert, in englischer Sprache niedergeschrieben, in den USA der fünfziger Jahre zuerst keinen Verleger [fand], ins Französische übersetzt [wurde] und erstmals 1957 [erschien]« (Métraux 1975, Vorwort zu Gurwitsch 1975). Doch während Gurwitsch James neben der Wertschätzung als Vorden­ ker zugleich in die Kritik stellte, heben Linschotens und Herzogs Kommentare James’ Beitrag zur phänomenologischen Psychologie bisweilen sogar über denjenigen der europäischen Phänomenologen hinaus. Sie konzentrieren sich auf die innovativen deskriptiv-psycho­ logischen Einsichten, die James hervorgebracht hat, etwa die Begriffe des Bewusstseinsstroms oder des durch Aufmerksamkeit strukturier­ ten Erlebnisfeldes. Allein, aus diesem Optimismus gegenüber James’ Psychologie ergeben sich fragwürdige Konsequenzen für die Methodologie der phänomenologischen Psychologie. Einerseits kann der Rückgriff zwar als ein wissenschaftshistorischer Anspruch aufgefasst werden, James – zumal als prestigeträchtigen Gründervater der amerikanischen Psychologie – für die Phänomenologie zu vereinnahmen und die Experimentalpsychologen somit gewissermaßen rückwirkend über 65 Dieser und die folgenden drei Abschnitte sind eine Überarbeitung der entsprechen­ den Passagen aus Wendt (2019a).

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

die Identifikation mit ihrem Patron für das phänomenologische Pro­ gramm zu gewinnen; insbesondere Linschotens und Herzogs Bemü­ hung, James von den gleichfalls durch sein Schaffen beeinflussten Bewegungen des Pragmatismus und Behaviourismus abzugrenzen, deuten auf diesen Anspruch hin. Doch andererseits ergibt sich aus dieser Inanspruchnahme die Unschärfe des phänomenologischen Profils. Die Vorstellung einer ›mundanen Phänomenologie‹, die Her­ zog vertritt, bewegt sich in Konvergenz mit James auf einen »offenen Empirismus« (Herzog 1992, 28) und »kritischen Realismus« (ebd., 29) zu und übergeht damit, dass diese Einordnung innerhalb des innerphänomenologischen Diskurses nicht selbstverständlich ist. In letzter Konsequenz wird die Möglichkeit eines eigenständi­ gen phänomenologisch-psychologischen Programms durch diesen Kompromiss erschwert. Insofern als die Beschreibung von James’ Werk durch den Begriff der »produktiven Paradoxien« (Herzog 1992, 109) durchaus angemessen ist, lassen sich die Auswirkungen auf die Methodologie nicht ohne Weiteres überblicken. Dieser konzeptuellen Unschärfe zum Trotz sollte der Blick auf zwei wichtige Problemfelder gerichtet werden, welche die Reichweite aller aus der Nähe zu James resultierenden Gefahren sichtbar machen und im Kern einheitlich die grundsätzliche Schwierigkeit mit seinem Denken umreißen. Um die die Abgrenzung gegenüber James zu rechtfertigen, ist es erforderlich, die Schwächen aufzuzeigen, die sich ergeben, wenn man die phä­ nomenologische Psychologie auf seine philosophische Psychologie gründen möchte. Es handelt sich erstens um den bereits von Gurwitsch thema­ tisierten Zusammenhang, welcher in Rückgriff auf Koffka als »Leis­ tungsproblem«66 bezeichnet werden kann: »wie kommt die erste Leistung zustande?« (Gurwitsch 1975, 28) »Erste Leistung« ist dabei im Sinne des ontogenetischen Grenzfalls eines Anfangs, der Urapper­ zeption, gemeint – der Stein des Anstoßes67: »Phänomenal gesehen besteht die Leistung in der Ablösung einer ungegliederten und undif­ ferenzierten Wahrnehmung durch die Wahrnehmung einer vom Rest abgehobenen Gegebenheit« (ebd.). Aus dem empiristischen Erbe sei­ 66 Bei Koffka ist allerdings vom »Erfolg-Problem« (Koffka 1921, 109) die Rede. Der begriffliche Unterschied mag auf die verschiedenen Übersetzungen zurückzuführen sein, denn in der deutschen Übersetzung von Gurwitschs Werk wird nur die englische Ausgabe von Koffkas Text angeführt. 67 Leistung kann hier auch als Ereignis im Sinne der modernen Ereignisphilosophie verstanden werden (vgl. 7.1).

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

ner Philosophie ergibt sich für James gleichsam die Schwierigkeit, das Wesen des Neuen zu bestimmen. Weil sich Linschoten und Herzog jedoch vorrangig auf die Principles of Psychology (1890) beziehen, vernachlässigen sie das Leistungsproblem, dem sich James erst in der letzten Dekade seines Schaffens gewidmet hat, auch wenn es bereits zuvor in seinem Denken angelegt gewesen war. Das zweite Problemfeld resultiert aus dem »Begriff, der das Denken James’ in allen Perioden seiner Entwicklung beherrscht, nämlich […] seiner teleologischen Auffassung des menschlichen Geistes« (Gurwitsch 1975, 23): »Das teleologische Moment gewinnt hierdurch bei James den Status eines Grundbegriffs der Psychologie« (Herzog 1992, 131). Der Einfluss der Darstellung des menschlichen Verhaltens als zielgerichtet kann kaum überschätzt werden. Er hat sich in der Gegenwartsforschung zu einer Präsupposition entwickelt, die zu thematisieren sich kaum gestattet, weil sie selbst die Struktur der zeitgenössischen Menschenbilder und – insbesondere humanisti­ schen – Weltanschauungen noch fundiert. Mitnichten sei behauptet, wie der objektivistische Naturalismus zu argumentieren pflegt, dass es sich bei dem Gedanken der Teleologie selbst um eine inadäquate Beschreibung des Erlebens handele (etwa Hempel 1965). Sie hat ihren Platz im bewussten Leben, doch es hat Vorsicht zu gelten, welche Stelle im System der Psychologie die Teleologie bezieht. Anhand dieser beiden Problemfelder will dieses Kapitel die Schwächen des Bündnisses zwischen der phänomenologischen Psy­ chologie und James’ Psychologie aufzeigen. Die nur scheinbar nach­ rangige Frage nach dem Wesen des Neuen gewinnt dabei eine große Bedeutung. Es ist das Phänomen des Neuen, an dem James’ Denk­ weise, nämlich der neutrale Monismus, an seine Grenzen stößt. Dasselbe gilt für den Gedanken der Teleologie, der für James’ evolutio­ nistischen Funktionalismus charakteristisch ist. Beide Überzeugun­ gen, neutraler Monismus und Finalismus, reduzieren das Problemfeld der Psychologie durch Präsuppositionen. Wenn sich die phänomeno­ logische Psychologie ihnen anschließt, verliert sie ihren Anspruch auf einen dritten Weg in der Experimentalpsychologie. Deswegen wird mit dem Begriff der Radikalphänomenologie, den Michel Henry verwendet, eine alternative Ausrichtung der phänomenologischen Psychologie vorgeschlagen, die sich den Pluralismus, der in der phänomenologischen Bewegung vorherrscht, zunutze macht.

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

8.1 Das Leistungsproblem Trotz der kopernikanischen Wende in der Philosophie, die durch Kants Kritik der reinen Vernunft (1787) ermöglicht worden ist und die extre­ men Positionen des reinen Empirismus und Rationalismus zugleich widerlegte, lassen sich die nach-kantischen philosophischen Lehren durchaus in tendenziell entweder empiristische oder rationalistische gruppieren. Während die kontinentalen Traditionen gemeinhin stär­ ker zum Rationalismus tendierten, gingen die anglo-amerikanischen Strömungen eine natürlichere Verbindung mit der weltanschaulichen Grundhaltung des Empirismus ein. Diese Tendenzen entsprechen inhaltlich auf empiristischer Seite dem Vorrang der Rezeptivität und der Sinne, auf rationalistischer Seite hingegen dem der Spontanei­ tät und des Geistes, sodass sich die eigentliche Herausforderung der Ansätze letztlich aus den jeweils gegenübergestellten Aspekten ergibt68. Auch James’ Denken widmet sich in dieser Façon bereits in den ersten Kapiteln der Principles zunächst der Betrachtung der neuronalen Stimulation durch die »great blooming, buzzing confu­ sion« (James 1890, 1124), also der Rezeptivität. Costa gelingt es, den Unterschied zwischen den Spielarten des Empirismus (die er als konstruktivistische spezifiziert) zu markieren: Oftmals geht der Begriff des Konstruktivismus von der Idee aus, nach der es, zumindest am Anfang, einfache, elementare Empfindungen gäbe, an deren Zusammensetzung, Verarbeitung, Verbindung sich das Seelenleben dann begeben muss. Allerdings kann ein konstruktivisti­ scher Ansatz auch von einem anderen Gesichtspunkt seinen Ausgang nehmen. Wir könnten auch denken, dass in den Sinnen ursprünglich ein unbestimmtes Chaos an Empfindungen vorherrsche, das sich lediglich durch spezifische Interessen zu artikulieren beginnt, aber an sich einer eigenen Organisation sowie internen Strukturbeziehungen zu den Inhalten selbst entbehrt (Costa, 2018, 55; Übersetzung ANW).

Aus der zweiten konstruktivistischen Position, die Costa mit James identifiziert, ergibt sich, wie Gurwitsch anmerkt, zunächst im Allge­ meinen »die Frage nach den Anhaltspunkten für diejenigen Faktoren, 68 Eine sinnfällige Darstellung der Bedeutung dieser Kontroverse in der phänome­ nologischen Bewegung wurde von San Martin vorgelegt, wobei er insbesondere Hinblick auf die Konfliktlinie zwischen der nordamerikanischen (am Beispiel Følles­ dal, Dreyfus) und der kontinentalen Phänomenologie (Gurwitsch) blickt (vgl. San Martin 1995).

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8.1 Das Leistungsproblem

die die Organisation [der ›great blooming, buzzing confusion‹; ANW] zustande bringen sollen« (Gurwitsch 1975, 29): Wird eingestanden, dass die Organisation ein Beitrag des Bewusstseins sei, ist dem Rationalismus der Weg bereitet. Wird hingegen erwogen, dass die Organisation aus der chaotischen Mannigfaltigkeit hervorgehe, muss die Idee dieses Chaos zugunsten eines Strukturrealismus aufgegeben werden, und folglich bleibt zu erklären, wie diese Strukturen erkannt werden können69. Phänomenologisch gesprochen handelt es sich um die Frage nach der Möglichkeit von Invarianten: Wie kann es sein, dass in unserer Erfahrung, die doch augenscheinlich ein bestän­ diges und sich niemals gleiches Werden ist, Gegenstände dauerhaft identifiziert werden? James bietet zur Erklärung die Unterscheidung von substanziellen Teilen, die über die Zeit bestehen bleiben, und transitiven Teilen des Bewusstseinsstroms an. Allerdings verändert sich dadurch die Grundidee des Empirismus nicht, dass es in den Sinnesempfindungen keine Konstanten, sondern nur das Werden gibt, sodass diese Erklärung nicht in Anspruch genommen werden kann, um zu erklären, wie Objektpermanenz in der Erfahrung logisch möglich ist. Das Leistungsproblem bleibt ein grundsätzliches für jede Form des Empirismus. Hier zeigt sich, dass »James nie ganz zu einem Intentionalitäts­ begriff vorgestossen [ist]« (Herzog 1992, 117), welcher das Auftreten jener Organisation unmittelbar zu erklären vermag, weil er die Spal­ tung von Spontaneität und Rezeptivität aufhebt. Der Begriff des Chaos wird hierdurch ausgeschlossen: Die Hypothese eines impressionalen Moments des Bewußtseins vor jeder Dingauffassung, d. i. die Hypothese des impressionalen Chaos impliziert nämlich, daß diese Impression die Form der Intentionali­ tät überhaupt nicht annehmen kann. Intendieren heißt nämlich bei einer aktuellen Impression und aufgrund eines retentional »Schon-imGriff-haben« von vergangenen Impressionen, durch das protentionale Vorgreifen auf weitere Gegebenheiten (weitere Impressionen) einen selben Gegenstand intendieren. Es erhellt daraus, daß die zeitliche Form der Intentionalität, die in erster Linie für die genetische Phäno­ menologie in Frage kommt, zugleich die objektivierende Auffassungs­ 69 Es handelt sich, um es mit Gilles Deleuze zu fassen, um das Problem von Différence et Répétition (1968), denn, wenn zur Lösung des Leistungsproblems von James das zufällige Hervorspringen beliebiger Stimuli angeboten wird ›saliency, vgl. Gurwitsch 1975, 24), kann wiederum nicht erklärt werden, weswegen diese disparaten Zufälle miteinander als Wiederholungen desselben Phänomens verbunden sein sollten.

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

form ist. Die Hypothese eines impressionalen Chaos, – [sic] von an sich ersten Impressionen vor der Auffassung –, muß somit auf die Idee einer retentions- und protentionslosen Impression hinauslaufen. Dies stellt für Husserl eine Unmöglichkeit dar: nämlich die Unmöglichkeit eines nicht verlaufenden Zeitverlaufes, einer Zeitstrecke, die nicht mehr Zeit, zeitlich ist (De Almeida 1972, 17).

Die von Gurwitsch thematisierte Fassung des Leistungsproblems ist dementsprechend zu weitläufig, um eine bedeutsame Konsequenz für das Verhältnis der phänomenologischen Psychologie zu James hervorzurufen – in dieser Fassung ist das Problem bereits durch die Ergänzung um Intentionalität erwidert. Wichtiger ist ein spezi­ eller Aspekt, den Gurwitsch bei der Auseinandersetzung mit dem Leistungsproblem kursorisch ausklammert: »Nichts liegt daran, ob das, was auftaucht, überraschend neu ist oder dem entspricht, was das Subjekt erwartete und aktiv suchte« (Gurwitsch 1975, 28). James selbst erkannte hingegen in seinem Spätwerk, dass sein Ansatz durch die Möglichkeit des Neuen vor eine maßgebliche Herausforderung gestellt wurde. Indes, weil James den Anspruch erhob, mit seinen pragmatischen Anschauungen dem Neuen in ausgezeichneter Weise begegnen zu können, mögen die Schwierigkeiten, die sich ihm tat­ sächlich ergaben, übersehen werden. In seinem Aufsatz The Locus of Novelty von 1938 gelingt es Whitmore, den Finger auf diesen Sachverhalt zu legen: William James, for instance, one of the most vigorous defenders of novelty, seems at times to mean by it nothing more than numerical difference. »New men and women,“ he assures us, »books, accidents, events, inventions, enterprises, burst unceasingly upon the world«; but only too many of them prove on examination to be merely cases of something already long familiar. On the other hand, he sometimes spoke as if the acceptance of novelty carried with it the acceptance of indeterminism in the world at large, a consequence which, if true, would be philosophically important (Whitmore 1938, 141).

Dieser Sachverhalt findet in James’ Vorlesungen über den Pragmatis­ mus einen klaren Ausdruck: »As a matter of fact we can hardly take in an impression at all, in the absence of a preconception of what impres­ sions there may be possible« (James 1907, 248). Weil James – nicht ungleich Locke – den Bestand der jeweils subjektiven Perspektive nur als Kontinuität der im Bewusstseinsstrom auftretenden Erlebnisse zu denken bereit ist, muss seine Darstellung gegenüber dem radikal Neuen blind bleiben:

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8.1 Das Leistungsproblem

[C]hanges are not complete annihilations followed by complete cre­ ations of something absolutely novel. There is partial decay and partial growth, and all the while a nucleus of relative constancy from which what decays drops off, and which takes into itself whatever is grafted on, until at length something wholly different has taken its place (James 1909, 58f.).

Whitmores Kritik ist folglich insofern beizupflichten, als für James das Neue eine bloße Alteration der Stimulation ist, die letztendlich in der Wahrnehmung keinen Unterschied zu der great blooming, buzzing confusion bedeuten kann: Für James ist das Neue schlichtweg das Andere – eine »Transsubstantiation des Empfindungsinhaltes« (Stumpf 1907, 17). Für eine rein logische Betrachtung mag sich hierin zwar noch kein Schwachpunkt offenbaren, doch der phänomenologische Blick kann über diesen Sachverhalt nicht ohne Prüfung hinweggehen. Nicht allein spezifische Sachfragen, sondern bereits das grundsätzliche Ver­ ständnis jeder Form von Erfahrung ist von dieser Problematik betrof­ fen. Das Neue ist gewissermaßen der Begriff des Phänomens selbst; es ausgehend vom Anderen begreifen zu wollen bzw. die beiden Begriffe indifferent zu denken, hat zwei fundamentale Konsequenzen, welche die systematische Bedeutung des Phänomen-Begriffs für die Psychologie unterschlagen. Erstens – mag es auch selbstverständlich klingen – wird das Neue relativ auf das Alte. Damit will gesagt sein, dass Neues vornehmlich als Relation gedacht wird, als Unbekanntes im bloß negativen Sinne des Nicht-Bekannten. Daraus folgt zweitens ein Absolutismus des status quo, insofern als eine qualitative Transpa­ renz des Neuen vorausgesetzt wird: Wenn das Neue nur eine Form des Anderen ist, ist sein Inhalt jeweils bloße Rekonfiguration des Alten und Bekannten. Das Überraschende und Verwirrende ist nur im Sinne eines Durcheinanders, nicht eines radikalen Fremden denkbar. Deswegen kann James’ Begriff des Neuen – im Sinne Shannons und Weavers (1949) – als ein entropischer verstanden werden, zumal es sich im Wesentlichen um die Zunahme des Informationsgehal­ tes handelt. Diese Geisteshaltung ist der Ausdruck von James’ neutralem Monismus bzw. Empfindungsmonismus, der sein Denken mit den Empiriokritizisten verschwägert (Banks 2014). Es handelt sich dabei um eine Überdehnung des Empfindungsbegriffes (die nicht mit Sensualismus zusammenfällt) zugunsten seiner Allmacht über die Erfahrung – ein direkter Weg zum »myth of the given« (Sellars,

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

1956), der die Inhomogenität des Lebens verkennt, weil er bereits die Idee des Lebens zurückweist, um einer unzweideutigen Aktualität der Empfindung Vorrang zu verschaffen. Konkreter: Der neutrale Monismus bedient sich der Erklärung des bewussten Erlebens durch die Ökonomie eines »Gegeneinander[s] von konsumtiven und resti­ tutiven organischen Abläufen« (Sommer 1985, 21), also der den Orga­ nismus betreffenden Homöostase von destabilisierenden Reizen und stabilisierenden Prozessen wie insbesondere des Stoffwechsels. Form und Eigenheit der Erfahrung werden dieser Erklärung unterworfen, denn ihre jeweilige Bedeutung für den Organismus bleibt letztlich die Destabilisierung. Auch jede neue Erfahrung ist deswegen für den neutralen Monis­ mus immer bereits darauf beschränkt, eine Destabilisierung zu sein. So wird es klar, weswegen es James vor keine Herausforderung stellt, das Neue zu besprechen – doch deswegen begreift er es noch nicht. Sommer spricht vom »empiriokritizistischen Geburtstrauma« (Sommer 1985, 20), welches in Hinsicht auf das Neue auch als Beschreibung für James’ Denken angewendet werden kann: Das, was Avenarius den ›Gewaltakt der Geburt‹ nennt, ist völlig irrational und unbegreiflich, ein kontingentes Ereignis von der Art einer eschatologischen Katastrophe, ein Ereignis indes, das zugleich konstitutives Element der empiriokritizistischen Protologie ist: »Aus dem Mutterschoß, diesem Sanktuarium der Erhaltung, wird das Kind vertrieben: ausgestoßen in eine fast absolut andere, neue, ungewohnte, nur zum Teil noch erhaltungsfreundliche Umgebung« (ebd., 27).

Für das Neue wird dieses ›Geburtstrauma‹ darin relevant, dass im Empiriokritizismus gewissermaßen »[j]ede Umgebungsänderung, jede externe Störung eine Geburt en miniature [ist]« (ebd., 31). Mag also das Neue im universalen Medium neutraler Erfahrung qua organischer Destabilisierung angezeigt werden können, es wird nicht selbst erfasst, bleibt ›unbegreiflich‹. Bezeichnend ist, dass James das Neue κατ' ἐξοχήν auch in seiner fünf Kapitel umfassenden Auseinan­ dersetzung mit novelty von 1911 nicht qualitativ zu thematisieren vermochte. Statt dem Phänomen wirklich gerecht werden zu können, nutzt er es vielmehr als Sprungbrett, um über Unendlichkeit und Kausalität zu sinnieren, zugleich aber den Anspruch vorzutragen, dabei das Neue zu begreifen. Am Problem des Neuen offenbart sich also ein wichtiger Stolperstein für die phänomenologische Psycholo­ gie, die sich – zumindest bei Linschoten und Herzog – zu stark an James orientiert.

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8.1 Das Leistungsproblem

Die Wurzel für dieses Problemfeld als Sollbruchstelle des neutra­ len Monismus ist allerdings an wiederum grundsätzlicherer Stelle zu finden und kann mit Zahavi als non-egological challenge bezeich­ net werden: An egological theory would claim that when I watch a movie by Bergman, I am not only intentionally directed at the movie, nor merely aware of the movie being watched, I am also aware that it is being watched by me, that is, that I am watching the movie. In short, there is an object of experience (the movie), there is an experience (the watching), and there is a subject of experience, myself. Thus, an egological theory would typically claim that it is a conceptual and experiential truth that any episode of experiencing necessarily includes a subject of experience. In contrast, a non-egological theory, also known as the no-ownership view, would deny that every experience is for a subject. It would, in other words, omit any reference to a subject of experience and simply say that there is an awareness of the watching of the movie. Experiences are egoless; they are anonymous mental events that simply occur (Zahavi 2005, 99f.).

Als Initiatoren des nicht-egologischen Ansatzes seien, wie Zahavi und zuvor bereits Métraux (1975) darstellten, Sartre und insbesondere Gurwitsch zu sehen. Der wesentliche Gesichtspunkt des Ansatzes, so Métraux, betreffe dabei die Privatheit der Akte resp. deren intersub­ jektive Verfügbarkeit: Egologisches Denken impliziere eine Intrans­ parenz des Anderen und tendiere somit zum Solipsismus. James kann dabei als Vordenker des nicht-egologischen Ansatzes betrachtet werden (Natsoulas 1999). Bei der Besprechung dieser Kontroverse ist das Neue jedoch zumeist kein Streitpunkt, insofern als es auf die Seite des Aktinhalts und nicht der Akte selbst zu fallen scheint. Demgegenüber lässt sich allerdings argumentieren, dass das Verständnis des phänomenalen Neuen gerade nicht nur eine Frage der Alteration auf Inhaltsseite ist – die besagte ›great blooming, buzzing confusion‹ –, sondern qua intentionaler Einheit von Akt und Aktinhalt, Noesis und Noema, von der Tiefe des Bewusstseins­ begriffes abhängt. In anderen Worten: Der nicht-egologische Begriff des Bewusstseinsstroms ist womöglich nicht ausreichend, um das authentisch Neue zu begreifen. Vielmehr führt er, wie in Avenarius’ Empiriokritizismus, dazu, jede Veränderung als Neuerung zu fassen: »Statt einer wenn auch noch unvollendeten Vertrautheit haben wir nun ›ein minder Seiendes, minder Sicheres, minder Bekanntes‹ – bei hinreichender Variationsgröße ein ›Nicht-seiendes, Unsicheres,

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

Unbekanntes‹. Diese Modifikation nennt Avenarius auch ›Problema­ tisation‹“70 (Sommer 1985, 31). Den nicht-egologischen Ansatz wegen seiner unzureichenden Möglichkeiten, das Neue zu erfassen, zu kritisieren, heißt jedoch nicht, sich zugleich auf ein egologisches Denken zu verpflichten, dass so weitreichend wie Husserls Transzendentalphilosophie wäre. In ihrer Subtilität vergleichbar mit Zahavis Begriff eines minimal self eröffnet sich der phänomenologischen Psychologie vielmehr eine andere Perspektive und Aufgabe. Für den Sachverhalt des Neuen ist der Pionier dieser Perspektive Henri Bergson: Wie die gewöhnliche Erkenntnis, behält auch die Wissenschaft von den Dingen nur den Aspekt der Wiederholung. Ist aber das Ganze neuartig, so behilft sie sich damit, es in Elemente oder Aspekte zu zergliedern, die beinahe eine Reproduktion des Vergangenen sind. Sie kann nur mit dem operieren, bei dem man davon ausgehen kann, daß es sich wiederholt, das heißt, mit dem, was der Voraussetzung nach der Wirkung der Dauer entzogen ist. Was an Unreduzierbarem und Unumkehrbaren in den aufeinanderfolgenden Momenten einer Geschichte liegt, entgeht ihr. Um sich diese Unreduzierbarkeit und Unumkehrbarkeit zu vergegenwärtigen, muß man mit wissenschaftli­ chen Gewohnheiten brechen, die den fundamentalen Anforderungen des Denkens entsprechen, muß dem Geist Gewalt antun und gegen den natürlichen Hang der Intelligenz wieder bergan klimmen (Bergson 2013, 42f.).

Das Neue der Wiederholung gegenüberzustellen, unterscheidet es nun klar von der bloßen Änderung und eröffnet die Perspektive einer qualitativen Bestimmung als »radical newness« (vgl. Hausman 1975, 19). Angesichts der Eigenheit des Neuen kann es sich dabei allerdings noch um eine beliebige Bestimmung unter weiteren handeln. Somit gelingt mit Bergson nur der erste, formale Schritt auf dem Weg zum Neuen, wobei dieser Schritt darin besteht, das Neue als Unmittelba­ res, also gerade nicht auf das Alte Bezogene, zu begreifen: »the new no longer coincides with a near or faraway future. What comes next, tomorrow or the day after tomorrow, may well be just a slightly modified version of the old« (Marrati 2011, 49). Dass Bergson nun mit James nicht nur befreundet war, sondern beide auch mehrfach affirmierend aufeinander Bezug genommen Hier deutet sich die Grundlage für Poppers ubiquitären Problembegriff an, den es unten zu diskutieren gilt.

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8.1 Das Leistungsproblem

haben, mag oberflächlich als Grund zum Widerspruch gereichen, doch die Geschichte der Exegese der beiden Philosophen zeigt, dass dieser Punkt umstritten ist (z.B. Marchetti 2012), denn das auf den jeweils anderen geworfene Bild scheint letztlich nicht vollständig mit dessen eigener Schwerpunktsetzung übereinzustimmen. Während sich ihr Konsens vorwiegend auf den gemeinsamen Anti-Intellektualismus gründet, ist es unter anderem die Lesart des Pragmatismus, die unter­ schiedliche Richtungen erkennen lässt: Bergsons Begriff des Lebens steht James’ neutral monistischem Empfindungsbegriff, der sich als reine Aktualität verstehen lässt, markant gegenüber – er ist intuitio­ nistisch, nicht neutral monistisch, und die Tiefe des Lebens offenbart im Kontrast zur absoluten Aktualität der Empfindung den Begriff der Virtualität. Es ist Deleuzes 1966 unter dem Titel Le Bergsonisme veröffentlichter Interpretation der Werke Bergsons zu verdanken, diesen Aspekt hervorgekehrt zu haben. Deleuze spricht von two types of multiplicity. One is represented by space (or rather, if all the nuances are taken into account, by the impure combination of homogeneous time): It is a multiplicity of exteriority, of simultaneity, of juxtaposition, of order, of quantitative differentiation, of difference in degree; it is a numerical multiplicity, discontinuous and actual. The other type of multiplicity appears in pure duration: It is an internal multiplicity of succession, of fusion, of organization, of heterogeneity, of qualitative discrimination, or of difference in kind; it is a virtual and continuous multiplicity that cannot be reduced to numbers (Deleuze 1988, 38).

Das Neue wird auf diese Weise in der Domäne des inneren Zeitbe­ wusstseins sichtbar. Wenn James abstrakt davon spricht, dass »Time keeps budding into new moments, every one of which presents a content which in its individuality never was before and never will be again« (James 1911, 148), so reicht diese Darstellung nicht aus, um das Neue wirklich zu erfassen, denn sie bleibt einem homogenen Zeitbegriff – also der ersten Form von multiplicity – verpflichtet. Die erlebte Dauer bei Bergson hingegen ist demgegenüber mehr als der leere Anspruch individueller Momente: [A] nonnumerical multiplicity by which duration or subjectivity is defined, plunges into another dimension, which is no longer spatial and is purely temporal: It moves from the virtual to its actualization, it actualizes itself by creating lines of differentiation that correspond to its differences in kind (Deleuze 1988, 43).

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

Diese maßgebliche Bezugnahme auf Artunterschiede ist gleichfalls das von Hausman in Anspruch genommene Kriterium für radi­ cal newness: Novelty, then, may occur in connection with the distinguishing com­ plex of characteristics of a thing that is thought to be created. Thus, novelty is sometimes recognized in the difference between the kind to which a thing belongs and other kinds – in the contrast between what is already identifiable and the complex of characteristics that enables us to know what the thing is which is novel. When something that occurs for the first time is an example of a kind never known before, that thing is new in a more radical or fundamental sense than novelty of sheer difference (Hausman 1975, 9).

Hausmans Beispiel für diese radical newness ist die biologische Evo­ lution, die er wiederum im Sinne Bergsons als schöpferische Evolution – und damit gerade nicht durch den mechanistischen Evolutionis­ mus wie z.B. den Darwinismus – begreift. Sowohl der von Deleuze gelesene Bergson als auch Hausman bleiben letztlich jedoch in der Bestimmung der Artunterschiede im Wesentlichen formal. Deswegen muss zur inhaltlichen Bestimmung die Phänomenologie auf den Plan gerufen werden. Zwar beansprucht auch die Methode der Intuition Bergsons, hier einen Beitrag leisten zu können, doch dieser wurde aus phänomenologischer Sicht bereits von Scheler grundsätzlich kri­ tisiert: Die Intuition sei »so persönlich, so von der eigenartigen künstlerischen Bildkraft seines [Bergsons; ANW] Geistes abhängig, daß er wohl Jünger und Affen, keinesfalls aber Schüler zu haben vermag« (SGW III, 324). Komplementär zu Deleuzes Reflexionen in Différence et Répéti­ tion (1968) und Logique du sens (1969), die das Denken der qualitati­ ven Eigenheiten formal erschließen, wird dieses Denken also inhalt­ lich durch die Phänomenologie erkundet, wobei der von Edmund Husserl in der sechsten logischen Untersuchung etablierte und von Max Scheler aufgegriffene Begriff der Fülle, der sein Œuvre wie ein Leitmotiv durchzieht, dieser Erkundung den Anspruch verleiht: Die Welt wird sofort ein flaches Rechenexempel, wenn wir das geistige Organ der Ehrfurcht ausschalten. Sie allein gibt uns das Bewußtsein der Tiefe und Fülle der Welt und unseres Ichs und bringt uns zur Klarheit, daß die Welt und unser Wesen einen nie austrinkbaren Wertreichtum in sich tragen; daß jeder Schritt uns ewig Neues und Jugendliches, Unerhörtes und Ungesehenes zur Erscheinung bringen kann (SGW

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8.1 Das Leistungsproblem

III, 27) – Leben ist wesentlich Entfaltung, Entwicklung, Wachstum an Fülle (ebd., 75).

Sich dieser Fülle zu widmen, die sich in ihr gebenden qualitativen Unterschiede aus der durch Zeitlichkeit komplexen Bewusstseins­ struktur zu gewinnen und so das Neue als Fremdartiges, nicht bloß Anderes zu verstehen, ist die Aufgabe der phänomenologischen Psy­ chologie. Strukturell ist Fülle dabei in erster Linie als Sinnhaftigkeit zu verstehen, wie De Almeidas Husserlinterpretation andeutet: Die Frage der Sinnhaftigkeit des gegebenen Inhaltes in der Erkennt­ nissynthese hat deswegen einen anderen theoretischen Stellenwert in Husserls Denken als die Frage des Empfindungsinhaltes. Es gilt jetzt vom neuen Standpunkt aus zu zeigen, daß der sinnliche Inhalt in der vorprädikativen Bestimmungssynthese kein pures Datum ist, sondern ein an sich sinnhaftes Gebilde. Dem sinnlichen Inhalt – verstanden als Fülle einer meinenden Intention – kommt eine ursprüngliche Sinnhaftigkeit zu, d.h. eine, die aus ihm selbst in seiner Funktion als Fülle im intentionalen Erkenntnisprozeß und nicht aus einem von ihm getrennten signitiven Akt erwächst. Die ursprüngliche Sinnhaf­ tigkeit der Fülle liegt nach den LU darin, daß die Fülle keine bloß faktische Gegebenheit eines faktischen Aktes ist, sondern vielmehr einen Wesenscharakter hat (De Almeida 1972, 27).

Das fundamentale Begriffsfeld von Sinnhaftigkeit und Bedeutsam­ keit verweist auf den allgemeinen phänomenologischen Diskurs. Neben der Intentionalität ist es insbesondere durch die Horizontali­ tät gekennzeichnet. Für die phänomenologische Psychologie ist es entscheidend, dieses Begriffsfeld in den Mittelpunkt des disziplinä­ ren Diskurses zu bewegen. Entscheidend ist in jedem Fall, dass die Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutung nicht auf die Gegebenheit von Emp­ findungen zurückgeführt werden kann. Diesem Sachverhalt verleiht Cassirer unter explizitem Bezug auf Husserl Ausdruck: Neben dasjenige, was der Inhalt seinem materialen sinnlichen Gehalt nach ist, tritt dasjenige, was er im Zusammenhang der Erkenntnis bedeutet; und diese seine Bedeutung erwächst ihm aus den wechseln­ den logischen ›Aktcharakteren‹, die sich an ihn heften können. Diese Aktcharaktere, die den sinnlich einheitlichen Inhalt differenzieren, indem sie ihm verschiedene gegenständliche ›Intentionen‹ aufprägen, sind auch psychologisch ein völlig ursprüngliches Moment; es sind eigene Weisen des Bewußtseins, die auf das Bewußtsein der Empfin­ dung oder Wahrnehmung in keiner Weise zurückführbar sind (Cassi­ rer 1910, 32).

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

Dass der Pragmatismus das Leistungsproblem nicht beheben kann, ist auf die mangelnde Komplexität des neutralen Monismus zurückzu­ führen. Er scheitert am Verständnis des Neuen in der Erfahrung, weil er auf Seite der Subjektivität zu einem nicht-egologischen Bewusst­ seinsbegriff neigt. Auf der Seite des Erfahrungsinhalts ermangelt es zudem der Berücksichtigung der phänomenalen Fülle. Beiden Mängeln lässt sich durch eine phänomenologische Realpsychologie begegnen, die jenseits des Pragmatismus der Prägung James-Dewey steht und die Fülle der psychischen Phänomene thematisiert. Die Fülle der psychischen Phänomene zu untersuchen, bedeutet also, von dem pragmatischen Kompromiss, den die phänomenologi­ sche Psychologie eingegangen ist, Abstand zu nehmen. An seine Stelle tritt eine distinkte psychologische Position, die nicht darauf ausgelegt ist, konzeptuell mit anderen Paradigmen zu konvergieren (also nur ein phänomenologisch angestrichener Kognitivismus ist), sondern zur Kontroverse fähig zu sein. In diesem Sinne lässt sich von einer radikalphänomenologischen Transformation der phänome­ nologischen Psychologie sprechen. ›Radikale Phänomenologie‹ ist dabei eine Weiterentwicklung der phänomenologischen Bewegung, die insbesondere von Michel Henry vorangetrieben worden ist: Henry hinterfragte die irreale transzendentale Begrifflichkeit der klassischen Phänomenologie, insbesondere den Begriff der Intentionalität. Dabei gelangte er zu der Einsicht, dass prä-intentionale Gegebenheitsweisen erschlossen werden müssten, um die Phänomenologie zu konkreti­ sieren – also um den Begriff des Phänomens als Grundlage der phänomenologischen Arbeit zu seinem Abschluss zu bringen. Im Zentrum dieser Überlegungen stand – woran sich das Potenzial offenbart, die Tradition der Schelerianischen Philosophie mit Henry weiterzudenken – die Affektivität (zum Verhältnis zwischen Scheler und Henry siehe auch Welten 2016): Kann sich die einfachste Erfahrung, nämlich diejenige, die sich vor der Ekstase und in ihr herausbildet, die unmittelbare Selbsterfahrung, das ursprünglich Empfinden, das die Wesenheit von sich selbst hat, nicht erkennen und begreifen lassen? Dasjenige, das schlechthin ohne die Mittelbarkeit eines Sinnes empfunden wird, ist seinem Wesen nach Affektivität. Affektivität ist das Wesen der Selbstaffizierung, nicht ihre theoretische oder spekulative Möglichkeit, sondern ihre konkrete, die nicht mehr in der Idealität ihrer Struktur, sondern in ihrem unzweifel­ haften und gewissen Vorkommnis begriffene Immanenz selbst, sie ist die Form, in der sich das Wesen selbst empfängt, sich selbst spürt, in

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8.2 Pragmatismus und Teleologie

der Weise, dass dieses ›sich spüren‹ als ›sich selbst spüren‹ von dem Wesen vorausgesetzt wird und es konstituiert, sich selbst in ihr, in der Affektivität, als ein tatsächliches Selbstfühlen entdeckt, nämlich als Empfindung (Henry 1963, 577f.; Übersetzung ANW).

Für die phänomenologische Psychologie bedeutet eine Radikalisie­ rung die Einsicht, dass die kompromissbereite Vorgehensweise der phänomenologischen Psychologie im 20. Jahrhundert nicht ausreicht, um die Disziplin der Psychologie zu prägen. Es ist im Sinne der ›Verjüngung‹ als Aspekt der Erneuerung eine dezidierte Abwendung von den etablierten Denkschemata erforderlich. Eine Zuwendung, also das Ziel der Radikalität, ist im Folgenden als phänomenologische Realpsychologie zu beschreiben (s. Kapitel 10). Das bedeutet, dass Henrys Begriff der ›radikalen Phänomenologie‹ als eine Fortentwick­ lung der phänomenologischen Psychologie im Sinne einer strengen Gegenstandsphänomenologie aufgefasst wird.

8.2 Pragmatismus und Teleologie Zunächst jedoch zum zweiten Schwachpunkt der an James anschließenden phänomenologischen Psychologie: Er betrifft den durch Teleologie ausgezeichneten Finalismus: »The pragmatic method in such cases is to try to interpret each notion by tracing its respective practical consequences« (James 1907, 45); »The attitude of looking away from first things, principles, ›categories,‘ supposed necessities; and of looking towards last things, fruits, consequences, facts« (ebd., 54). Dieser Punkt steht jedoch in größter Nähe zum ersten, insofern als James’ Denken der Fakten ebenso wie die zuvor besprochene Inkompatibilität mit dem qualitativen Neuen in der Verpflichtung auf den Absolutismus des status quo gründet. Über die pragmatische Teleologie wurde bereits ausführlich am Ende der 1910er Jahren im Journal of Philosophy diskutiert. Stein des Anstoßes war ein kritischer Artikel von John Warbeke aus dem Frühjahr 1919 mit dem Titel A Medieval Aspect of Pragmatism, in dem der Autor an James und dem zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Ferdinand Schiller Kritik übte, weil sich deren Pragmatismus auf einen Humanismus einließe: »Humanism often assumes the guise of a geocentric, or even anthropocentric, teleology which has much in common with medieval theology« (Warbeke 1919a, 208). Eine Ergän­ zung fand diese Kritik durch Ethan Sabins Artikel Pragmatic Teleology,

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

einer Stellungnahme zu Warbekes Artikel, die herausstellte, dass der wichtigste kritische Aspekt an allen Spielarten des Pragmatismus, »functionalists, instrumentalists or behaviorists« (Sabin 1919, 489), nicht der Humanismus, sondern die Teleologie sei. Im September 1919 setzte sich Schiller zur Wehr, indem er klar­ zustellen versuchte, dass die pragmatische Teleologie nur als »metho­ dological teleology« (Schiller 1919), nicht aber als ontologische ver­ standen werden dürfte. Mit einer Antwort, allerdings vornehmlich auf den Text von Sabin, und der Erweiterung seiner Kritik meldete sich daraufhin Warbeke selbst im Dezember desselben Jahres zu Wort. Nicht zu vernachlässigen ist, dass im Laufe dieser Zeit zudem weitere Texte mit der identischen Thematik veröffentlicht wurden, etwa Alvin Thalheimers Purpose in derselben Ausgabe wie Schillers Beitrag zur methodologischen Teleologie, aber auch Beiträge im folgenden, dem letzten Jahrgang der Zeitschrift, namentlich Texte von Henderson über The Locus of Teleology in a Mechanistic Universe (1920) und Lamprecht zu Ends and Means in Ethical Theory (1920). Es zeigt sich also, dass die Frage nach der Teleologie die pragmatische Forschung auch noch im Jahrzehnt nach James’ Ableben ausführlich beschäftigte. Die für die phänomenologische Psychologie wichtigste Frage stellt Warbeke in seinem zweiten Aufsatz: »What kinds of consequen­ ces are significant?« (Warbeke 1919b, 701f.) Die Bedeutung dieser Frage erschließt sich im Rückblick auf die great blooming, buzzing confusion als Grundgedanke der pragmatischen Wahrnehmungslehre. Es bedarf eines Kriteriums der Auswahl eines bedeutsamen Teiles des sich ewig wandelnden Erfahrungsstroms, um einen salienten Gegenstand zu gewinnen. Konkreter: Wenn Schillers Satz gilt, dass »the objectivity of our perceptions is essentially practical and useful and teleological« (Schiller 1902, 207), so wird die Beständigkeit der Wahrnehmung ihr von den Zielen verliehen, kann sich die Objektivi­ tät nur vor einem bereits strukturierten Feld an Zielen ergeben. In diesem Sinne ist der Pragmatismus teleologisch, weil er diese Ziele notwendig voraussetzt. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob diese Teleologie nur methodologisch ist, denn in jedem Fall wird Erkenntnis nur als Kontinuität eines etablierten und statischen Relevanzsystems denkbar, das gemeinhin als Nützlichkeit bezeichnet werden kann und ethisch mit dem gemeinen Menschenverstand zusammenfällt. Deswegen sagt Schiller, dass es kein unnützes Wissen geben kann: Der Horizont des Wissens ist absolut abgesteckt.

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8.2 Pragmatismus und Teleologie

Die wichtigste systematische Konsequenz aus der Statik der Nützlichkeit als teleologischer ist die Notwendigkeit einer Hand­ lungstheorie, auch wenn sie nur implizit gegeben sein mag: »In pragmatism, action is a universal phenomenon which in itself begs no explanation but rather makes the starting point for explanations« (Kilpinen 2009, 163). Die great blooming, buzzing confusion wird mit einer eher impliziten als expliziten Prozess-Ontologie konterkariert, die letztlich einem Ur-Vertrauen an die Nützlichkeit der Welt ent­ spricht, dem Vertrauen, dass sich das zielorientierte Treiben der Welt nicht selbst aufhebt. Das beste Beispiel für dieser Art Handlungstheo­ rie ist die Theorie der Adaption des Evolutionismus, die eine Harmo­ nie von Umwelt und Organismus veranschlagt, die mit der Ökonomie der Empiriokritizisten verwandt ist und als funktionalistische adap­ tive cognition auch den Kognitivismus prägt. Thalheimer schreibt: We may find the fossil remains of a dinosaur and conclude therefrom that there was an environment to which such a purposive organism was adapted. We may assume in the human body a desire to combat destructive bacteria and look in consequence for the manner in which such a purpose might be achieved. Such arguments that may be based upon the assumption that purpose exists are not at all unusual. And so we find that though the scientist may be rather shy of the concept of teleology, arguments that may be called teleological are neither useless nor unfamiliar in his domain. Final causes, if they exist, are no substitutes for efficient causes. Yet if they exist, the concept of purpose has a place in science as well as in philosophy (Thalheimer 1919, 548).

Die Bedenken, die sich der Phänomenologie mit dieser Denkweise ergeben müssen, betreffen die Verpflichtung auf die natürliche Ein­ stellung. Nicht aber nur in dem Sinne, dass die Pragmatisten sich einem bestimmten historischen oder biologischen status quo anver­ trauen, dessen Konstitution selbst noch zum Gegenstand der Analyse werden müsste. Vielmehr ist es die handlungstheoretische Struktur, die der Teleologie ihre Form gibt, vor allem diejenige der Gewohnheit (vgl. Kilpinen 2009). Zwar kennt auch die Phänomenologie die Habituation, doch nur um die besagte Konstitution der natürlichen Einstellung zu analysieren, nicht um sie zur Verfassung aller bedeu­ tungsvollen Handlung zu erklären. Der Schritt von James zur phä­ nomenologischen Psychologie erfordert also eine Dynamik, die der Statik der Teleologie entgegengesetzt werden kann. Wie Bergson dar­ stellt, findet sich diese Alternative allerdings nicht im Mechanismus, der im Kern seiner Struktur mit dem Finalismus identisch bleibt71:

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

Ein so verstandener Finalismus ist nur ein umgekehrter Mechanismus. Er läßt sich von demselben Postulat leiten, mit dem einzigen Unter­ schied, daß er das Licht, mit dem er unsere endlichen Intelligenzen auf ihrem Lauf entlang des vollständig scheinbaren Nacheinanders der Dinge zu leiten vorgibt, vor uns aufstellt, statt es hinter uns zu plazieren. Mit der Anziehungskraft der Zukunft ersetzt er die Antriebskraft der Vergangenheit. Doch bleibt darum das Nacheinander nichtsdestoweniger purer Schein, ebenso übrigens wie der Lauf selbst (Bergson 2013, 53f.). Kurz, die strikte Anwendung des Finalitätsprin­ zips, genauso wie die des Prinzips mechanischer Kausalität, führt zu dem Schluß, daß ›alles gegeben ist‹. Beide Prinzipien sagen in ihren zwei Sprachen dasselbe, weil sie demselben Bedürfnis entsprechen (ebd., 60). Mechanismus und Finalismus sind also nur äußerliche Anblicke, die man von unserem Verhalten einfängt. Sie heben seine Intellektualität heraus. Unser Verhalten selbst aber schlüpft zwischen den beiden hindurch und erstreckt sich noch sehr viel weiter (ebd., 62).

Statt der Ordnung der Ziele ist bloße Kausalität keine adäquate Beschreibung des Erlebnisstroms, weil die erlebte Dauer für sie ebenfalls keine Rolle spielt. Bergson sucht stattdessen im élan vital einen Erklärungsansatz, der die Dynamik schöpferischer Evolution abbilden kann. Dieser mit der creatio continua verwandte Ansatz ist metaphysisch stark durch die Lebensphilosophie beeinflusst und kann die phänomenologische Psychologie nicht leiten – von Bedeutung ist an dieser Stelle wie zuvor in Bezug auf das Neue vornehmlich die kri­ tische Funktion, welche einer Öffnung gegenüber der phänomenalen Fülle gleichkommt. Hier ist der Einsatz von Schelers Kritik am Prag­ matismus aus seiner Schrift Erkenntnis und Arbeit (1926) gefunden. Wie Bergson zuvor hält auch er dem finalistischen Denken entgegen: Der vorwiegend mechanische Eindruck der anorganischen Kausalität ist genauso anthropomorph wie der vorwiegend teleologische Ein­ druck der Vitalgeschehnisse. Die Natur in ihrem Selbstsein weiß wahrscheinlich nichts von dem einem und nichts von dem anderen. Sie kennt weder rein mechanisch wirksame Ursachen noch Zwecke (SGW VIII, 278).

Die wichtigste Konsequenz des finalistischen Denkens lässt sich nun mit Scheler als die Preisgabe des Wissensbegriffes beschreiben. Ist das Handeln des Organismus zu jedem Zeitpunkt durch die implizite 71 Das zeigt sich bereits an Wundts methodologischem Finalismus (vgl. Abschnitt 1.3).

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8.2 Pragmatismus und Teleologie

ökonomische Adaptation an eine organismische Homöostase regu­ liert, wird jeder Bewusstseinsakt unter Nutzenkategorien subsumiert. Wissen ist folglich niemals Erkenntnis mit einem eigenständigen Wert, sondern immer nur eine jeweils nützlichere oder weniger nützliche Funktion der Daseinsbewältigung. Dies wird an einem Beispiel deutlich: Setzen wir den Fall, es betrage sich ein psychophysischer Organismus gegen alle Reize seiner Umwelt stets und immer optimal zielmäßig und zweckmäßig, also so, wie es ja annähernd schon die Pflanzen und niederen Tiere sicher ohne ›Wissen‹ von den Gegenständen tun, von denen die Reize herkommen. Es ist nicht einzusehen, warum und wozu sich zwischen Reiz und Reaktion über deren zweckmäßige je typische Verbindung hinaus noch etwas in die Mitte schieben müßte wie ein ›Wissen vom Gegenstande‹. Und setzen wir umgekehrt ein alles wissendes Wesen: Es ist nicht einzusehen, wieso bloßes und reines Wissen von den Dingen. diesem Wesen irgend etwas nütze sein soll zu jenem Bewegen und Handeln, durch das sich ein Wesen seiner Umwelt anzupassen vermag, respektive seine Umwelt seinen Wünschen und Bedürfnissen anzupassen vermag (SGW VIII, 228).

Mit dem Blick auf die Psychologie des Problems ist unmittelbar ersichtlich, wie weitreichend die Konsequenzen dieser Geisteshal­ tung sind. Eine pragmatische Psychologie wäre nicht dazu imstande, die Eigenständigkeit des jeweiligen Problems zu würdigen, denn es müsste jeweils auf die ›Problematisation‹ (im Sinne des Empiriokriti­ zismus) einer Umwelt-Adaptation zurückgeführt werden. Tatsächlich schafft das Akterleben jedoch eine Domäne der Bedeutung, in der Probleme eine autonome Wirklichkeit etablieren. Solange finalistisch stets nach der Nützlichkeit der Problemlösung für die Herstellung eines Äquilibriums gesucht wird, muss der Psychologie diese Facette des Lebens verborgen bleiben. Gleichermaßen erhellt, weswegen die zuvor gestellte Frage nach dem Neuen eine große Bedeutung für die Psychologie birgt. Wird das Neue auf Alteration reduziert, können neue Probleme stets nur die Belastung des Organismus bedeuten, sodass sie gelöst werden müssen – eine andere Bedeutung des Problems ist nicht denkbar. Dass neue Probleme allerdings Gelegenheit für die Erweiterung der bedeu­ tungsvollen Welt eröffnen, wird erst sichtbar, wenn die qualitative Bereicherung durch Probleme sichtbar ist. So sagt Deleuze: »Von den Ereignissen läßt sich nur in den Problemen sprechen, deren Bedingun­ gen sie festlegen. Von den Ereignissen läßt sich nur als von Singula­

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8. Jenseits von James: Die Rehabilitation der Fülle

ritäten sprechen, die sich in einem problematischen Feld entfalten und in deren Nachbarschaft die Lösungen zustande kommen« (Deleuze 1993, 81). Der Sinn der einzelnen Handlungen ist dem jeweiligen Problem nicht durch absolute Nützlichkeit vorgelagert, sondern ergibt sich erst in der erlebten Dynamik, in der sich die Bedeutung der Handlungen spontan angesichts neuer Qualitäten ergibt. Solange sich die phänomenologische Psychologie auf James bezieht, droht ihr dieser subtile Unterschied zu entgehen. Sich nicht eindeutig gegen den neutralen Monismus abzugrenzen, um eine ›mundane Phänomenologie‹ möglichst kompatibel mit der Experi­ mentalpsychologie zu denken, verkennt die Gefahr eines Absolutis­ mus des status quo. Phänomenologische Psychologie würde so in die deskriptive Psychologie zurückfallen, welche die radikale Origina­ lität des Bewusstseins aus den Augen verliert. Die Konsequenz ist beispielsweise – und im Kontext dieser Arbeit maßgeblicherweise – ein auf die Lösung konzentrierter Problembegriff. Das wird besonders klar, wenn die Präsuppositionen des Finalismus infrage gestellt wer­ den. Dieser Zusammenhang kann an beliebigen Beispielen verdeut­ licht werden: Fällt ein Problem, etwa die Erkrankung einer Person, in ein Schema materieller Nützlichkeit, bedeutet die Problemfindung allenfalls eine Auslotung der für die prädeterminierte Lösung rele­ vanten Faktoren. Tatsächlich erzeugt sich die Krankheit jedoch ihr eigenes Problemfeld, in dem einzelne Handlungen mehr bedeuten können als Rehabilitation oder Therapie. Die Krankheit kann ihren Träger vor die existenzielle Konfrontation mit Sterblichkeit oder vor eine Nostalgie der Gesundheit stellen, deren Bedeutung sich nicht auf Kontrasteffekte zu einem homöostatischen Normalzustand beschränkt. Vielmehr ist es, wie sich an den Beschreibungen Friedells (2009, 21ff) illustrieren lässt, gerade die Krankheit, die eine eigenwil­ lige Produktivität und Inspiration ihrer Träger anregen kann. Damit soll nicht impliziert sein, dass krank zu sein die Voraussetzung für außergewöhnliche Leistungen sei, doch der Blick sei darauf gerichtet, dass die Dynamik des Problematischen als Feld des Neuen, dessen Ziele nicht automatisch aus einer absoluten Normativität resultieren, Gegenstand der Psychologie werden muss. Wie man der phänomenalen Fülle in der psychologischen For­ schung gerecht werden kann, ist letztlich eine Frage der individuellen Untersuchung, nicht der methodologischen Propädeutik. Der Wert dieser Propädeutik besteht darin, einer konzeptuellen Beschränkung

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8.3 Bedeutung der Analyse für den ersten Programmpunkt

vorzubeugen. Auch die Methodenfrage ist also, wie es Herzog richtig gesehen hat, eine Angelegenheit des einzelnen Untersuchungsgegen­ standes. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Neuartigkeit der individuellen Erfahrungsformen erst untersucht werden kann, wenn ausreichend berücksichtigt wird, dass sie keiner statischen Struktur wie der organismischen Homöostase oder einer Teleologie untersteht. In diesem Sinne ist phänomenologische Psychologie eine wissenschaftstheoretische Befreiung von Präsuppositionen und eine Rehabilitation der Fülle des je individuellen Phänomens.

8.3 Bedeutung der Analyse für den ersten Programmpunkt Die phänomenologische Psychologie muss die Assoziation als Begriff im Sinne der Assoziationspsychologie zurückweisen.72 Insbesondere gegen den Pragmatismus und neutralen Monismus Stellung zu bezie­ hen, bedeutet den Gewinn eines eigenständigen Profils, denn das Gros der bereits bestehenden Alternativen in der Psychologie ist auf die Prinzipien dieser Denkweisen zurückzuführen. Ohne diese Abgrenzung droht die Verwässerung des Ansatzes, insofern als eine – so ließe sich sagen – bloße Hypertrophie des historischen Kontextes, also der Versuch, phänomenologische Psychologie lediglich durch den Bezug auf die klassischen Vordenker in eine selbstständige Position zu bringen, in der zeitgenössischen Psychologie keine Rechtfertigung für die Berücksichtigung im Diskurs darstellt. Nur wenn sich die phä­ nomenologische Psychologie als wertvoller, weil bisher unerreichter Beitrag zur Psychologie erweist, wird sie sich Gehör verschaffen kön­ nen. Dieser Wert besteht unterdessen in der radikalen Bezugnahme auf die lebendige Erfahrung. Letztlich ergibt sich also das Desidera­ tum, die phänomenologische Psychologie als Träger einer radikalen Besinnung auf die Fülle psychischer Phänomene zu artikulieren, die für bestehenden Formen der psychologischen Forschung nicht nur anschlussfähig ist, sondern eine kontroverse Alternative bietet.

Für eine differenzierte Bestimmung des Verhältnisses der Phänomenologie zum Begriff der Assoziation im weiteren Sinne s. Holenstein (1972).

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9. Antwort auf den kritischen Rationalismus

Eine eigenständige phänomenologisch-psychologische Wissen­ schaftstheorie zu entwickeln, verlangt nicht, den Dialog mit etablier­ ten Konzepten zu vermeiden. Dass dieser Dialog zwischen Phänome­ nologie und kritischem Rationalismus als der in der zeitgenössischen Psychologie und ggf. in der gesamten empirischen Wissenschaft dominanten Wissenschaftstheorie (bzw. als konsensfähige Grund­ lage nomologischer Erklärungen) nie systematisch zustande gekom­ men ist, ist das Resultat eines bereits früh verschuldeten Fehlers. In seiner Dissertation von 1928 Zur Methodenfrage der Denkpsycholo­ gie rubrizierte Popper in der Listung der verfügbaren alternativen Begriffe vom Denken die phänomenologische Psychologie unter einen Intuitionismus: So spricht er von »neueren, von der ›Phäno­ menologie‹ herkommenden Psychologen, z.B. Aloys Müller, der das Denken für eine Art von intuitivem Erfassen der objektiven Gedan­ ken hält« (Popper 2006, 249). Zwar ist es durchaus gerechtfertigt, Müller als Intuitionisten zu bezeichnen. Falsch hingegen ist, ihn als beispielhaften Repräsentanten der phänomenologischen Psychologie zu bezeichnen, da seine Arbeiten zwar den Titel der Phänomenologie aufgriffen, doch methodisch wesentlich von der phänomenologischen Bewegung abwichen, etwa im Versuch der Naturalisierung. Der Intuitionismusverdacht (vgl. Abschnitt 4.2) wurde im frühen 20. Jahrhundert gegenüber der Phänomenologie durch die kritizisti­ schen Neukantianer wie Rickert popularisiert. Wie bereits in der obi­ gen Abgrenzung zwischen Bergson und Scheler dargestellt, bemühte sich die Phänomenologie diesen Intuitionismus-Vorwurf zurückzu­ weisen. An dieser Stelle soll eine dezidiert gegenstandsphänomeno­ logische Position verteidigt werden, die nicht nur den Intuitionismus­ verdacht zurückweist, sondern auch Perspektiven einer konstruktiven Bezugnahme zur Geltungstheorie entwickelt.

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9. Antwort auf den kritischen Rationalismus

9.1 Gegen den Intuitionismusvorwurf Wir haben oben erläutert, wie Eugen Fink eine Zurückweisung des allgemeinen Intuitionsmusvorwurfs gelungen ist (s. Abschnitt 4.2). Während Fink in der – gewissermaßen defensiven – Auseinander­ setzung mit der Kritik den phänomenologischen Evidenz-Begriff erläutert, gelingt Scheler aus dem gegenstandsphänomenologischen Denken heraus eine weiterführende Darstellung von Evidenz und Gegebenheit, um sie gegen das kantianische Denken vorzutragen, welches dem Kritizismus zugrunde liegt: Der Fehler ist, daß man anstatt schlicht zu fragen, was in der meinenden Intention selbst gegeben ist, sofort außerintentionale, objektive, ja kausale Gesichtspunkte und Theorien (und seien es auch nur natürliche Alltagstheorien) in die Frage hineinmischt. In der schlichten Frage, was gegeben sei (in einem Akte), hat man aber allein auf dies Was hinzusehen; alle nur denkbaren objektiven außerintentionalen Bedin­ gungen des Stattfindens des Aktes, z.B. daß ein ›Ich‹ oder ›Subjekt‹ ihn vollziehe, daß dieses ›Sinnesfunktionen‹, ›Sinnesorgane‹, daß es einen Leib habe usw., gehören in die Frage, was in dem Haben eines Tones oder einer Farbe Rot ›gegeben‹ sei und wie die Art jener Gegebenheit aussehe, so wenig herein als die Feststellung, daß der Mensch, der die Farbe sieht, eine Lunge hat und zwei Beine. Nur in die Richtung der aus der Person, dem Ich und dem Weltzusammenhang herausgelösten Aktintention blicken wir und sehen, was da und wie es erscheint; ganz unbeirrt von der Frage, wie es erscheinen kann, wie es uns nach irgendwelchen realen Voraussetzungen bestehender Dinge, Reize, Menschen usw. zugeht (SGW II, 74).

Aus diesen Anmerkungen erhellt, dass aus Schelers phänomenologi­ schem Denken keine Realsetzung von Erkenntnis erfolgt, sondern die Analyse der Akte auf ideale Wesenheit zu beziehen ist. Schelers Kritiker Altmann hält dennoch an dem kritizistischen Systemdenken als Grundlage seines Vorwurfes gegenüber Schelers Wertphilosophie fest, wobei ihm das phänomenologische Denken nicht nur fremd bleibt, sondern es sogar dort zurückgewiesen wird, wo die Divergenz durchscheinen könnte (und philosophiehistorisch müsste): Auch bei Scheler finden sich Ansätze zu einer rein immanenten Fas­ sung der Wesenheit. So, wenn gesagt wird: unter dem Phänomen sei das im lebendigen Akt unmittelbar Gegebene gemeint, das, was in Selbstgegebenheit vor mir stehe, so sei, wie es gemeint sei. Ferner heißt es einmal ausdrücklich, phänomenologische Erfahrung sei ›rein

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9.1 Gegen den Intuitionismusvorwurf

immanente Erfahrung‹. Im Wesen werde nichts transzendiert, decke sich Gegebenes und Gemeintes. Aber diese Sätze können nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es bei Scheler in Wirklichkeit mit einem abso­ lutistischen Ontologismus der Wesenheiten zu tun haben (Altmann 1931, 42).

Bei Cusinato findet sich eine Lesart Schelers, die eine direkte Erwide­ rung zum Systemdenken des Kritizismus darstellt: »Ein Scheler, der zugibt, daß nicht nur die Sterne, sondern auch die Werte und die Ideen werden und vergehen. Ein Scheler, der bemerkt: es gibt im Weltprozeß keine ewigen Formen des Seins, keine absoluten Ideenkonstanten, keine absoluten Prinzipien« (Cusinato 1997, 62); weiter: Absolute Werte sind jene, die für ein reines Fühlen gegeben sind, d.h. unabhängig von der Sinnlichkeit und vom Leben. Der Begriff ›absoluter‹ Wert hat nichts mit einem angenommenen universalen und kontemplativen Charakter des Wertes zu tun, sondern bezieht sich auf den Grad der Reinheit, mit dem der Wert das Phänomen zur Gegebenheit bringt (ebd., 69).

Der wichtigste Gesichtspunkt wird unterdessen von Scheler selbst in seiner Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie hervorge­ hoben: Hier liegt vielleicht der entscheidendste Drehpunkt, den die ›Philoso­ phie des Lebens‹ gegen alle ›kritische Philosophie‹, allen ›Kritizismus‹ vollzieht. Und eben in der Stellung zu dieser Frage weiß sich auch die deutsche ›Phänomenologie‹ mit Bergson einig. Wie sie die Gegeben­ heit des Seins selbst der Wahrheit des Urteils mit vollem Bewußtsein voranstellt, so auch die Evidenz im Haben des Seins, im erlebten Daseinskontakt mit der Sache, allen Fragen nach sog. ›Kriterien‹ oder ›Geltungen‹ (SGW III, 328).

In kantianischer Tradition verkennt der kritizistische Ansatz, den auch der kritische Rationalismus wählt, den Primat des Phänomens, weil er sich auf die Frage der Geltung konzentriert73. Als analog lässt sich Poppers Schwierigkeit verstehen, die Phänomenologie zu würdigen. Auch in der Logik der Forschung (1934) findet sich der einzige indi­ rekte Literaturverweis auf Husserl im Kontext des Intuitionismus, nämlich bei der Besprechung der »unmittelbaren Erkenntnis« (Popper 1934, 52). Der Versuch, den Vorwurf zu überwinden, kann folglich den Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Scheler und dem Kritizismus am Beispiel der Wertphilosophie Heinrich Rickerts s. Wendt (2021c).

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eigentlichen Dialog zwischen beiden Denkweisen allererst ermögli­ chen. Weswegen – so mag unterdessen von der anderen, phänomeno­ logischen Seite in dieser Kontaktaufnahme gefragt werden – sollte sich die Phänomenologie auf diese Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus überhaupt einlassen? Insofern sich die phi­ losophische Phänomenologie als Idealwissenschaft versteht, ist sie für empirische Deduktionen in der Tatsachenwissenschaft einerseits nicht ausreichend vorbereitet, aber andererseits zugleich nicht mit ihnen im Widerspruch. Der Dialog mit dem kritischen Rationalis­ mus führt nicht zu einer kritiklosen Affirmation des Falsifikationis­ mus, sondern zur Integration geltungstheoretischer Gedanken in der Grundlegung einer empirischen phänomenologischen Psychologie.

9.2 Der wissenschaftstheoretische Diskurs Die konzeptuelle Grundlage des kritischen Rationalismus spiegelt sich in folgender Aussage Reichenbachs wider: »the distinction between the context of discovery and the context of justification. We emphasized that epistemology cannot be concerned with the first but only with the latter« (Reichenbach 1938, 381f.). Den Entde­ ckungszusammenhang zugunsten des Begründungszusammenhangs zu vernachlässigen, bildet den Schwerpunkt des frühen kritisch-ratio­ nalistischen Ansatzes, doch letzten Endes führte ihn sein Weg zurück zur Frage nach der Entdeckung. In Poppers Spätwerk nimmt sie die Form der Auseinandersetzung mit der Idee der ›Welt 3‹ an: »We can discover new problems in world 3 which were there before they were discovered and before they ever became conscious; that is, before anything corresponding to them appeared in world 2« (Popper 1972, 74). Die falsifikationistische Methodologie des kritischen Rationalis­ mus, der systematisch betrachtet, wie Petersen (1984, 242) darstellt, ein deduktiver Empirismus ist, gründet auf die Geltung logischer Gesetze, sodass sich als ihr Komplement eine Ontologie ergeben muss, die nach dem Status ebenjener logischen Gesetze fragt. Popper schlägt deswegen, im Anschluss an Frege, die Drei-Welten-Lehre vor: »We can call the physical world ›world 1‹, the world of our conscious experiences ›world 2‹, and the world of the logical contents of books, libraries, computer memories, and suchlike ›world 3‹“ (Pop­

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9.2 Der wissenschaftstheoretische Diskurs

per 1972, 74). Es handelt sich um einen pluralistischen Realismus, der drei Teile der (Gesamt-)Welt und jeweils korrespondierende Gegenstandsklassen postuliert. Als ausgezeichneten Träger der drit­ ten Welt betrachtet Popper die Sprache, was den Vergleich mit der phänomenologischen Sprachanalyse, etwa in der ersten logischen Untersuchung Husserls zu ›Ausdruck und Bedeutung‹ nahelegt. Ob nun der methodologische Teil des kritischen Rationalismus von seinem ontologischen abhängt, ist eine strittige Frage (Carr 1977; Bernhard 1987; Kaiser 1988): Wenn die Abhängigkeit besteht, fällt mit den Schwächen der Drei-Welten-Lehre auch die Methodologie. Besteht hingegen eine bloß lose Kopplung, lässt sich erwägen, ob auch eine andere ontologische Reflexion, etwa eine phänomenologische, mit der kritisch rationalen Geltungstheorie kompatibel ist. Doch auch im ersten Fall ließe sich fragen, in welcher Hinsicht sich die Methodologie anpassen würde, sofern Poppers Welten-Realismus infrage gestellt wird. Zunächst aber lässt sich feststellen, dass selbst der RealitätsBegriff Poppers eine limitierte Ähnlichkeit zum Realismus vorweist, der in einigen Teilen der phänomenologischen Bewegung vorgetragen wurde, etwa bei Scheler: Die Richtung des voluntativen Realismus ist vor allem – ich sehe hier ab von ihren historischen Vorformen bei Maine de Biran, Bouterweek und Schopenhauer – in neuester Zeit in einer Akademieabhandlung von Dilthey, Frischeisen-Köhler, Scheler und E. Jaensch vertreten wor­ den. Nach dieser Auffassung führt erst das unmittelbare Widerstand­ serlebnis irgendwelcher Gegenstände als wirklicher und möglicher ›Widerstände‹ zur Setzung einer Realität überhaupt (SGW VII, 301).

Im Vergleich hierzu Popper: Ein Kind lernt, was wirklich ist, durch die Wirkung, durch den Wider­ stand. Die Wand, das Gitter ist wirklich. Was man in die Hand oder den Mund nehmen kann, ist wirklich. Wirklich sind vor allem feste Gegenstände, die uns entgegenstehen, entgegenwirken. Die materiel­ len Dinge: das ist der zentrale Grundbegriff der Wirklichkeit, und von diesem Zentrum aus erweitert sich der Begriff. Wirklich ist alles, was auf diese Gegenstände, die materiellen Dinge, einwirken kann (Popper 1984, 19).

Trotz der offenkundigen Ähnlichkeit besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Ansätzen darin, dass Popper Wider­ stand objektivistisch (im Beispiel des Kindes sogar materialistisch)

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9. Antwort auf den kritischen Rationalismus

auffasst. Hieraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen, z.B. die Kompatibilität des kritischen Rationalismus mit dem Pragmatismus (vgl. Carr 1977, 222). Analog zu Poppers Opposition gegenüber dem Intuitionismus ist auch sein Bekenntnis zum Objektivismus antagonistisch zum sog. Subjektivismus konzipiert. Indes, so wie sich jene Opposition durch den Blick auf den dritten Weg der Phänomenologie abwenden ließ, kann auch diese hinterfragt werden. Die Phänomenologie über­ windet die einseitige Beschränkung auf physische oder psychische Phänomene, gewissermaßen also Welt 1 und 2, durch den Fortschritt gegenüber Brentanos deskriptiver Psychologie. Hierzu gehört sowohl die Feststellung, dass »unter dem bei Brentano äquivok fungierenden Titel ›physische Phänomene‹ sich ein guter Teil von wahrhaft psychi­ schen Phänomenen findet« (Hua XIX, 378), als auch der mit dieser Kritik korrespondierende Umstand, dass »der Vorzug der Evidenz der inneren Wahrnehmung vor der äußeren (wie sie Descartes und Brentano lehren) bestritten wird« (SGW III, 215). Mit Herzog lässt sich folglich festhalten: »Phänomenologische Psychologie ist nicht eine ›objektive‹ (=›objektivistische‹), aber auch nicht eine ›subjekti­ vistische‹ Wissenschaft. Die Bedeutungshaftigkeit von Erleben und Verhalten in bestimmten Situationen liegt vor der Subjekt-ObjektSpaltung« (Herzog 1992, 29). Für den kritischen Rationalismus ergibt sich daraus die Möglich­ keit, den Entdeckungszusammenhang in ebendieser Bedeutungshaf­ tigkeit zu finden und dadurch Poppers Prophezeiung umzusetzen: I suggest that one day we will have to revolutionize psychology by looking at the human mind as an organ for interacting with the objects of the third world; for understanding them, contributing to them, participating in them; and for bringing them to bear on the first world (Popper 1972, 156).

Die Drei-Welten-Lehre ist aufgrund ihrer objektivistischen Verpflich­ tungen auf eine ›Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt‹ kompromittiert und vermag deswegen diesen Pfad nicht zu sehen. Nur so ist es nachzuvollziehen, wie Popper zu jener Haltung entspre­ chenden Aussagen kommt: One of the main reasons for the mistaken subjective approach to knowledge is the feeling that a book is nothing without a reader: only if it is understood does it really become a book; otherwise it is just paper with black spots on it. This view is mistaken in many ways. A wasps’

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9.2 Der wissenschaftstheoretische Diskurs

nest is a wasps’ nest even after it has been deserted; even though it is never again used by wasps as a nest. A bird’s nest is a bird’s nest even if it was never lived in. Similarly a book remains a book—a certain type of product – even if it is never read (as may easily happen nowadays) (ebd., 115).

Auch die Phänomenologie konzediert, dass die Erfahrung in der eidetischen Reduktion unabhängig von den tatsächlichen psychischen Erlebnissen gedacht werden muss, doch die Subjektivität selbst bleibt dabei Bestandteil der Erfahrung – etwas ist immer nur etwas für ein Bewusstsein, die intentionale Struktur ist das Wesen von Erfahrung als einem Subjekt zugehöriger. Zugleich ist Popper methodisch von diesem Schritt allerdings nicht allzu weit entfernt, insofern als er sich in seinem ›dynamischen‹ oder ›hoffnungsvollen‹ Skeptizismus mit Sextus Empiricus auf »forceful critical inquiry« (ebd., 99) besinnt, also gewissermaßen auf (phänomenologische) epoché. Nichtsdestoweni­ ger ist diese kritische Besinnung in seinen Gedanken nur vage und unsystematisch angelegt, weswegen die Unternehmung, die Überle­ gungen des kritischen Rationalismus durch adäquate Reflexionen zu erweitern und, wenn nötig, zu revidieren, ein wichtiges Anliegen der phänomenologischen Kritik bleiben muss. Der Ort dieser Reflexionen ist unterdessen, wie De Almeida dar­ stellt, nicht die rein deskriptive resp. statische, sondern die genetische Phänomenologie: »Indem die genetische Phänomenologie […] die Intentionalität als einen aktiv erzeugenden Prozeß versteht, will sie Sinn und Inhalt selbst als die Leistung eines konkreten Subjektes ansehen« (De Almeida 1972, 6f.). Während also deskriptiv die logi­ schen Ideen – gewissermaßen analog zum kritischen Rationalismus – als Medium der Deskription selbst zu verstehen sind, Phänomenolo­ gie also als ›Logische Untersuchungen‹, ist der genetische Ansatz, sich auf die Konstitution der Erfahrung, die die Geltung jener logischen Gesetze anerkennt, selbst zu besinnen. Husserl, so De Almeidas Zusammenfassung, stellt dabei den Akt der Idealisierung in den Mittelpunkt: »Bei einer transzendentalen Begründung der Logik geht es natürlich nicht nur um die Herausstel­ lung des idealen Charakters dieses Cogitatum, sondern hauptsächlich um die Explizierung des Vorausgesetzten dieser Ideen, nämlich die Methode der Idealisierung, d.h. der subjektiven Konstitution dieser Idee« (ebd., 149). Bei diesen Worten mag oberflächlich zunächst die popperianische Kritik am Subjektivismus greifen, doch tatsächlich

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gereicht dieser neuralgische Punkt dieser Kritik selbst zur Einsicht in die Beschränkung der Perspektive, denn [d]as ideale Denkgebilde, das in ursprünglicher Evidenz nur in einem aktuellen Denkvollzug gegeben sein kann, hat […] nicht selbst ›das flüchtige Dasein des im thematischen Feld als aktuelle Bildung Auf­ tretenden und Vergehenden. Es hat auch den Seinssinn bleibender Fortgeltung, ja sogar den objektiver Gültigkeit in besonderem Sinn, über die aktuell erkennende Subjektivität und ihre Akte hinausrei­ chend‹(ebd., 130).

Die genetische Phänomenologie bleibt also im Gegensatz zur ›DreiWelten-Lehre‹ nicht bei der logischen Geltung wie dem ›Wespennest‹ als etwas der Erfahrung Transzendentem stehen, sondern analysiert, wie es dank Idealisierung möglich sein kann, dass sich in der wan­ delbaren Erfahrung beständige Gegenstände einstellen können. Die Gegenstandswahrnehmung im engeren Sinne ist für diese Analyse das wichtigste Beispiel: »Soll eine Aktivität als ein Subjekt-ObjektBezug definiert werden, so darf man sagen, daß erst die kategoriale Bezugnahme eine Aktivität ist, weil erst durch sie ein Bezug auf ein Objekt möglich ist« (ebd., 139). De Almeida hebt innerhalb dieser Analyse zwei ›idealisierende Voraussetzungen‹ der Logik heraus, die ›ideale Identität‹ und die ›Wahrheit an sich‹. Während jene die Grundlagen der Gegenstands­ erkenntnis artikuliert, ist diese der Horizontintentionalität gewidmet. Das Medium ihre Aneignung ist dabei die ›Habitualität‹. In letzter Instanz führt ihn seine Husserl-Deutung zur »Welt als ›Idee‹ und als ›Erfahrungsboden‹“ (ebd., 180). Ohne auf diese Analysen im Detail einzugehen, erhellt, dass diese Denkweise der Vorteil gegenüber Pop­ pers ontologischen Ansätzen auszeichnet, keine Sezession zwischen Geltungs- und Seinszusammenhang lancieren zu müssen. Weil sich die Phänomenologie innerhalb der unmittelbaren Erfahrung und ihrem Sinn bewegt, bewahrt sie sich vor der Willkür, von einer dritten Welt weitgehend austauschbarer Gesetzmäßigkeiten auszugehen. Auch auf der Ebene des context of justification ist jedoch der Dialog zwischen kritischem Rationalismus und Phänomenologie für die psychologische Wissenschaftstheorie wertvoll. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung mit dem Psychologismus als Lösungsversuch für das Münchhausen-Trilemma, also der Frage nach möglicher Letzt­ begründung wissenschaftlicher Aussagen. Der Begriff des Psychologismus hat philosophiegeschichtliche Wandlungen vollzogen. Freilich mag es sich dabei, wie Husserl dar­

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stellt (vgl. Hua XVIII, 108), wesentlich um verschiedene Begriffe handeln, die durch denselben Ausdruck äquivoziert werden. Diese Äquivokation bedarf dennoch der Klärung. Zwar steht für Popper einige Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchun­ gen bereits fest, dass die psychologistische Begründung der Logik ungenügend sei (vgl. Popper 1934, 64), doch meint er, darüber hinaus einem weiteren Begriff des Psychologismus widersprechen zu können. Er charakterisiert diesen fragwürdigen Psychologismus als die Überzeugung, »[d]aß die Erfahrungswissenschaften auf Sinnes­ wahrnehmungen, auf Erlebnisse zurückführbar sind« (ebd., 60). Poppers »Ausschaltung des Psychologismus« (ebd., 6) bedeute eine epistemologische Beschränkung auf die Methoden der Überprü­ fung der Geltung empirischer Forschung und eine Abwendung von der Frage nach der Herkunft ihrer Inhalte. Es ist dabei bereits zu Beginn offenkundig, dass Popper Husserl widerspricht und ihn als Essentialisten ablehnt. Es ist daher wichtig, zur Desambiguierung des Begriffs des Psychologismus zu fragen, was Popper unter dem Erlebnis als Quelle der Erkenntnis im Psychologismus versteht und ablehnt. Entscheidend ist, dass sich Poppers Psychologismuskritik nicht an die gleiche Adresse richtet, wie es für Husserls Arbeit gilt. Er versucht sich vielmehr von dem logischen Empirismus und dem Positivismus abzugrenzen und bezieht seine Kritik deswegen auf den Sensualismus, im Speziellen auf den Begriff der Protokollsätze, die er gleichfalls als psychologistisch ablehnt. Poppers Argument zur Ablehnung des Psychologismus leitet sich aus dem Induktionsproblem und der rationalistischen Ablehnung des Induktionsschlusses ab. Es erhellt also, dass Poppers Begriff des Erlebnisses keine gemeinsame Basis mit Husserls Verständnis hat, weil jener auf Sinnesdaten als Tatsachen statt auf die logischen Bedingungen der Spezies des Aktes rekurriert. Obschon er die psy­ chologische Grundlegung der Logik mit Husserl konvergierend für nichtig hält, kann Poppers Kritik allenfalls als vorphänomenologisch klassifiziert werden, insofern als der Begriff der Sinnesdaten weder die artifizielle Trennung von psychischen und physischen Phänomenen, die Husserl an Brentano kritisiert, noch Poppers Ansatz Husserls Kritik des Relativismus, die auch Aprioristen betrifft, entgeht.

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9. Antwort auf den kritischen Rationalismus

9.3 Bedeutung der Analyse für den zweiten Programmpunkt Die Kriterien der Validierung und Korrektur von Theorien in der Psychologie haben sich in den letzten Jahrzehnten zugunsten eines (Lippen-)Bekenntnisse zum kritischen Rationalismus entwickelt (vgl. Galliker 2016). Die etablierte Forschungstradition neigt dazu, davon auszugehen, dass der theoretische Fortschritt in den Bahnen der klassischen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität ver­ laufen muss. Die Beschränkungen dieser Sichtweise treten allerdings nur dann in Erscheinung, wenn eine Meta-(Wissenschafts-)Theorie zugrunde gelegt wird, die nicht, wie Popper ›Drei-Welten-Lehre‹, lediglich auf die Rechtfertigung eines Geltungssystems hinausläuft. Dieser Anspruch wird von der genetischen Phänomenologie erfüllt, weil sie die Konstitution der logischen Erfahrungsformen selbst zu bestimmen sucht. Auf ihrer Grundlage zeichnet sich das Desiderat einer phänomenologisch-psychologischen Geltungstheorie ab.

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Linschotens Idolen van de psycholoog (1964) stellt die phänomenolo­ gische Psychologie vor eine bedeutsame Herausforderung. Das Nar­ rativ phänomenologisch Belesener ist gemeinhin, dass denjenigen, die sich auf einen naturwissenschaftlichen Ansatz in der Psychologie beschränken, die Kenntnis fehle, dass der Mensch, das Leben oder die Psyche zu ihrer Untersuchung eines weiteren methodischen Reper­ toires bedürften. Linschoten kann dieser Mangel an Kenntnis kaum vorgeworfen werden, zumal er in dem ersten Jahrzehnt seines Schaf­ fens durchaus als Vertreter eines phänomenologischen Ansatzes in der Psychologie zu betrachten war. Dass die Idolen van de psycholoog jedoch als eine Brandschrift gegen verschiedene Denkweisen, die sich ohne Weiteres als phänomenologisch – zumal erlebniswissenschaft­ lich-phänomenologische – beschreiben lassen, gar als ein Plädoyer für eine formale und reduktive Psychologie gelesen werden müssen, ist folglich eine das Selbstverständnis der phänomenologischen Psy­ chologie infrage stellende Begebenheit. Allein, das pauschale Urteil darf hier nicht ausschlaggebend sein. Der Blick in den Text hilft zu begreifen, wogegen sich Linschoten an erster Stelle richtet, wie seine Argumentation verläuft und welche Einschränkungen sie hat. Linschotens Arbeit stellt sich zunächst und hauptsächlich als eine Kritik des sensus communis dar74: »Im Sensus communis liegen die Prinzipien beschlossen, die für das alltägliche Handeln und Denken des Menschen entscheidend sind, die anthropologischen Axiome, die Urteile‚ welche die Motive aller anderen enthalten« (Linscho­ 74 Der Begriff sensus communis ist mehrdeutig. Einerseits handelt es sich um die aris­ totelische Konzeption einer Integration der Wahrnehmung und Einheit des Bewusst­ seins: Sensus communis (bzw. κοινὴ αἴσθησις) als »Zentralsensorium, in dem die Formen aus den peripheren Sinnen ›notwendig zusammentreffen‹“ und »mit dessen Affektion es allererst zur bewussten Wahrnehmung kommt« (Krieger 2016, 319). Andererseits ist die Rede vom common sense, dem natürlichen Menschenverstand als alltäglichen Gewohnheiten, Handlungsmustern und Kenntnissen – dieser Begriff steht in pragmatisch-funktionalistischer Tradition. An dieser Stelle wird der zweite Begriff thematisiert.

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ten 1964, 63; Übersetzung ANW). Er fasst ihn als die alltägliche Grundlage der ›Idole‹ auf, welche ihrerseits auf den psychologischen Forschungsbetrieb wirken, weil es sich bei der Psychologie um eine durch Selbstreferenzialität (zelfbetrokkenheid) ausgezeichnete Wis­ senschaft handele, also eine Wissenschaft, deren Arbeit zunächst aus dem sensus communis auf diesen selbst reflektiere. Wegen dieser Sonderstellung der psychologischen Wissenschaft sei es erforderlich, in Tradition des Novum Organum Bacons sich jener Idole bewusst zu werden, um methodischen Fortschritt zu ermöglichen. Dieser Fortschritt einer Abwendung vom sensus communis bestehe allerdings gerade nicht in den phänomenologisch-erlebniswissenschaftlichen Ansätzen, sondern in Formalisierung, Funktionalisierung und Quan­ tifizierung (»Formalizering, funktionalizering, kwantificering«, ebd., 24). Mit Husserl ließe sich sagen, dass Linschoten gegenüber der ›natürlichen Einstellung‹ die ›wissenschaftliche Einstellung‹ begüns­ tigt – eine Einstellung also, die ihrerseits von der Phänomenologie in eine von Linschoten nicht anerkannte Kritik gestellt wurde. Die Skepsis des epistemologisch Geschulten muss erregen, dass zu diesem anscheinenden Szientismus das Bekenntnis zu einem naiven Struktu­ ralismus hinzutritt: Was auch immer jemandes philosophische Position sein mag, wir kön­ nen hier darin übereinkommen, dass in der Wissenschaft Phänomene in der Funktion anderer Phänomene beschrieben werden; sicherlich, wenn wir den Begriff ›Phänomen‹ im weitesten Sinne nehmen. Wis­ senschaft bezieht sich immer auf das Wissen von dem Zusammenhang der Phänomene. Mit ›Phänomen‹ meinen wir niemals das Gegebene in seiner vollen konkreten inhaltlichen Bestimmung, sondern ein Ding oder ein Ereignis, das durch jene Qualitäten bestimmt wird, durch die wir es in Beziehung zu einem anderen Ding oder Ereignis betrachten können. Genau das ist hier mit formalen Qualitäten gemeint (ebd., 25; Übersetzung ANW).

Diese Bestimmung des Phänomenbegriffs zeigt die szientistische Grundhaltung Linschotens, der – und hier offenbart sich zugleich die Affinität zur nicht-egologischen Denkweise bei James – auf eine phänomenologische Reflexion des Erfahrungsbegriffes zugunsten eines Phänomenalismus verzichtet: »Das wissenschaftliche ›Phäno­ men‹ ist ein Reduktum« (ebd., 28, Übersetzung ANW). Hier zeigt sich, dass der phänomenologischen Psychologie dieser Façon eine Tendenz zur Vereinfachung der epistemologischen Grundlagenpro­ bleme innewohnt, die auf dem pragmatisch geprägten Weg Linscho­

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tens sogar in einen Observationalismus umzuschlagen droht, dem zurecht die Kritik der ›Bilderbuch‹-Phänomenologie zu entgegnen ist (s. Abschnitt 4.2). Die Rechtfertigung für diese wissenschaftstheo­ retische Verkürzung ergibt sich allerdings ausschließlich aus der Sorge um die Unschärfe einer alltagssprachlichen Psychologie, die den sensus communis nicht reflektiert und deswegen nur durch For­ malisierung, Funktionalisierung und Quantifizierung zur objektiven Wissenschaft in Tradition der Psychophysik Fechners werden könne: »Auch die Psychologie will eine quantifizierende und experimentelle Wissenschaft sein« (ebd., 27; Übersetzung ANW). Es ließe sich vermuten, dass Linschoten der Phänomenologie zumindest eine Rolle bei der Aufklärung der Fehler, die er auf die unreflektierte Übertragung des sensus communis auf die Wissenschaft zurückzuführen versucht, zukommen lässt. Doch auch in dieser Hin­ sicht bleibt er sehr zurückhaltend: In der Bewegung, die sich ›phänomenologische Psychologie‹ nennt, hat dieser Gesichtspunkt zu der unrechtmäßigen Behauptung geführt, dass die Psychologie in ihrer phänomenologisch fundierten Wissenschafts­ form Verhalten und Erleben in Begriffen der leiblichen Subjektivität beschreiben und analysieren solle. Auch wenn man diesen Standpunkt verwirft, kann man in philosophischer Hinsicht Phänomenologe blei­ ben und den Gedanken des In-der-Welt-Seins des Forschers anerken­ nen (ebd., 45; Übersetzung ANW).

In Anbetracht dieser Worte scheint Linschoten vielmehr bis zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Projekt einer phänomenolo­ gischen Psychologie vorgedrungen zu sein. Der Kern von Linschotens Argumentation ist jedoch ein radi­ kaler Anti-Mentalismus, der die pragmatische Tradition von James aufscheinen lässt, die Linschoten bereits in Auf dem Weg zu einer phänomenologischen Psychologie (1961) gesucht hatte, und an Gilbert Ryles The Concept of Mind (2009) erinnert. Linschoten argumentiert, dass die Psychologie sich in ihrer disziplinären Geschichte zu leicht auf die Auffassung des sensus communis eingelassen habe, dass der Geist eine eigenständige Sphäre des Erlebens sei. Stattdessen gelte: »Geist ist ein Wort für Verhaltensaufhebung [gedragssuspensie] in Situationen, wenn wir eine Stellungnahme erwarten würden« (Linschoten 1964, 297; Übersetzung ANW). Dabei stützt er seine Argumentation zu Teilen auf die phänomenologische Bewegung. Allerdings wählt er als Referenz insbesondere den frühen Sartre, der mit seinen nicht-egologischen Überzeugungen größte Kompatibilität

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mit dem Anti-Mentalismus vorweist, zugleich aber nicht ohne seine spätere Entwicklung zugunsten einer ausführlicheren Reflexion des Bewusstseinsbegriffs angeführt werden sollte. Gewissermaßen ver­ kürzt Linschoten also den phänomenologischen Diskurs, um einen radikalen Verhaltensbegriff für die Grundlegung der Psychologie in Position zu bringen.

10.1 Exkurs: Psychologie und Anthropologie Auf der anderen Seite führt ihn diese Haltung zu einer deutlichen Ablehnung der Philosophischen Anthropologie: Die philosophische Anthropologie stellt sich damit in die Erweiterung des sensus communis; dies ist die subtile nachträgliche Rechtfertigung des alltäglichen Vorurteils, dass der Mensch in seinem Wesen nicht dieser sterbliche Leib ist, sondern ein unvergänglicher Geist; sie hält den Mythos für die Wahrheit, das Wort für Beweis. Kein Wunder, dass sich der Philosoph von der Psychologie als objektiver Wissenschaft im Aufruf an die Geisteswissenschaft abwendet (Linschoten 1964, 319; Übersetzung ANW).

Diese Argumentation entspricht einer Geisteshaltung seitens des Szientismus gegenüber der Philosophischen Anthropologie, die sich als Weltanschauungs-Vorwurf zusammenfassen lässt. Linschotens Ablehnung gegenüber der Philosophischen Anthropologie, die vor­ nehmlich im Werk Plessners, aber auch demjenigen Buytendijks, dem Lehrer Linschotens, aus Schelers Vorarbeit hervorgegangen ist, fällt auf die Phänomenologie zurück. Um den argumentativen Horizont Linschotens besser nachvollziehen zu können, taugt der Vergleich mit Joachim Ritters Antrittsvorlesung von 1933 an der Universität Hamburg unter dem Titel Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen, weil es sich um eine ausführlichere Ausein­ andersetzung mit der philosophischen Anthropologie, namentlich derjenigen Schelers und Heideggers, handelt, die im Kern diesel­ ben Gesichtspunkte bedient. Ritter artikuliert vier kritische Argu­ mente: Die Weltanschaulichkeit des anthropologischen Programms, den Widerspruch zur Methodologie der Naturwissenschaften, den Geist-Leben-Dualismus und den Subjektivismus. Sie lassen sich im Resümee des Autors zusammenfassen: »Die Philosophie gewinnt in der Anthropologie den glänzenden Schein einer Weltanschauung,

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aber sie verliert ihre wissenschaftliche Funktion, ihre Rolle als För­ derin und Helferin entwicklungsfähiger, die bloßen Subjektivismen einschränkender Erkenntnis« (Ritter 1974, 60; original 1933). Ritters erstes Argument besagt, dass der Ansatz der Philosophi­ schen Anthropologie sich auf eine »überwissenschaftliche, eine welt­ anschauliche Absicht« (ebd., 38) gründe. Analog spricht Linschoten von der Philosophischen Anthropologie als »geschlossenem System« (Linschoten 1964, 19). Diese Tendenz sei bereits in der Grundlegung der Philosophischen Anthropologie bei Dilthey verankert, die sich sowohl in Schelers als auch in Heideggers Werk nachvollziehen lasse. Das Anliegen sei dabei, die fragwürdig gewordenen sozialinstitutio­ nellen Antworten auf die Frage nach dem Menschen, wie es sie z. B. in der Religion gegeben habe, durch eine philosophisch legitimierte ›Gesinnung‹ zu ersetzen. Es handele sich um eine Reaktion auf zeit­ genössische Veränderungen, »[d]enn wo im Felde der Wissenschaft die Idee einer Erneuerung und Umordnung so stark und so allgemein wirksam wird, da liegen ihr Störungen und Krisenerscheinungen vor­ aus, die die bisher gültigen Grundlagen in Frage stellen und über sie hinaustreiben« (Ritter 1974, 37). Ritter teilt Haerings Einschätzung, »daß eine nur auf objektive Tatsachen gestützte Anthropologie ohne weltanschauliche Begründung unmöglich sei« (ebd., 39), in der sich bereits ein pejoratives Verständnis des Subjektiven andeutet, da ihm die Wissenschaft begründende Geltung abgesprochen wird. Im Kern ist Ritters Anliegen, mit dieser Kritik herauszustellen, dass sich die Philosophische Anthropologie vor einer wissenschaftli­ chen Rechtfertigung auf moralisches Terrain zurückziehe, um ihr Pro­ jekt zu legitimieren: Weil die Feststellung des Menschen auf empiri­ schem Wege nicht verlässlich gelinge, erfordere es eine Subordination der Wissenschaften unter die Metaphysik. Für die Unterstützung die­ ser Behauptung zitiert Ritter Passagen, in denen Scheler hervorhebt, dass der Begriff des Menschen problematisch geworden sei, wie etwa aus den einleitenden Sätzen in Die Stellung des Menschen im Kosmos (2010), doch diese Haltung ist nicht vollständig repräsentativ für die Arbeit Schelers. Ferner ist von Bedeutung, dass er seine Gedanken aus der Einleitung des Werkes mit früheren Schriften kontextualisiert hat. In Ursprung und Zukunft des Menschen (1927) gibt Scheler sehr klare Merkmale der empirischen Forschung an, um sich dem Menschen als Phänomen zu nähern. So erwähnt er einerseits, dass sich das geistige Prinzip auf einer bestimmten Entwicklungsstufe manifestiert habe, nämlich dem aufrechten Gang, der Hirnvolumenzunahme,

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der Umkehr der Energieverteilung zwischen Organsystem und dem höheren, der Erweiterung des Nervensystems. Andererseits stellt er klar heraus, dass eine zweite Betrachtung vom »Exemplar vom Wesen des Menschen« (SGW XII, 89) dessen empirische Verfassung zu ergründen habe. Zwar lässt sich die Kritik aufrechterhalten, dass Scheler den Geist als Prinzip präsupponiert, doch die Legitimation der Anthropologie erfolgt nicht durch weltanschauliche Über-Wis­ senschaftlichkeit, sondern durch eine begriffliche Differenzierung zwischen der empirischen Gattung des Menschen und seinem Wesen. Auf diesen Unterschied ist in der Auseinandersetzung mit Ritters zweitem Argument genauer einzugehen. Ritters Zeitdiagnose kann in gewissem Rahmen zugestimmt werden. Die Veränderungen des 19. Jahrhunderts haben durchaus eine Verstärkung der Kritik gegenüber vormals dominanten Erklärungen gefördert. Das gilt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, was sich sozio­ logisch an Säkularisierungsbewegungen nachvollziehen lässt, wie auch im Speziellen in der Philosophie, in der durch den Zuwachs des naturwissenschaftlichen Denkens, etwa im Neukantianismus, aber auch anderer anti-idealistischer Strömungen, wie etwa der Lebens­ philosophie oder des Irrationalismus, die Geltung der klassischen Anthropologien infrage gestellt wurde. Andererseits offenbart sich in Ritters Zustimmung zu Haerings Weltanschauungs-Vorwurf die mangelnde Tiefe der historischen Analyse. In Tradition zu Nietzsches Begriff vom »noch nicht festgestellten Thier« (Nietzsche 1999, 81) enthält die Philosophische Anthropologie eine Abwendung von einer ideologischen Verabsolutierung des Begriffes vom Menschen. Etwa in der Diktion Schelers, der den Menschen in explorativer Vielfalt als »Exzentriker des Lebens«, »gelungenes Zufallsprodukt des Lebens« oder »symphonisches Kunstwerk« (Scheler 1994, 3) begreift, zeigt sich, dass der Mensch von einer Antwort – wie etwa in der christlichen Katechese – zur Frage, von einer Lösung zum Problem geworden ist. Es handelt sich bei der Philosophischen Anthropologie somit nicht einfach um eine reaktionäre Bewegung, die Ordnung durch ›Gesinnung‹ zu erhalten sucht. Das wird etwa dort deutlich, wo Scheler eine pauschale Prädikation des Menschlichen zurückweist: Wenn ich den Satz ausspreche, der Mensch ist Träger einer Tendenz, welche alle möglichen Lebenswerte transzendiert und deren Richtung auf das ›Göttliche‹ geht, oder kürzer gesagt, er ist der Gottsucher, so ist also damit durchaus keine Prädizierung ausgesprochen, deren Subjekt eine schon vorhandene definierbare Einheit des Menschlichen,

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sei sie biologischer oder psychologischer Natur, wäre. Eine solche Einheit ist es ja gerade, die ich ausdrücklich leugne; er ist vielmehr seinem Wesen nach nur das lebendige X eben dieses Suchens, das nach allen möglichen psychophysischen Organisationen hin betrachtet noch völlig variabel gedacht werden muß, so daß also die Organisation des faktischen, irdischen Menschen nur eine verwirklichte Möglichkeit unter all jenen darstellt, für die jenes X einen unendlichen Spielraum läßt (SGW II, 296).

Unter Berücksichtigung dieser Worte ist es bezeichnend, dass sich Linschoten des Beispiels der Wolfskinder bedient, um gegen den Begriff des Geistes zu argumentieren. Menschlichkeit ist für ihn lediglich eine Beschreibung der Sozialisation. So schreibt er über das Wolfskind Kamala »Die Menschheit des aufgezogenen Kamala ist keine erste, sondern eine zweite Natur« (Linschoten 1964, 306; Übersetzung ANW), und daraufhin: »Die zweite Natur entwickelt sich innerhalb der Grenzen der ersten Natur« (ebd.; Übersetzung ANW). Im klaren Gegensatz zu Scheler erkennt Linschoten also keinen Wesensbegriff des Menschen an, sondern versucht ihn als empirisches Datum zu kritisieren. Dass die Drastik dieses Wider­ spruchs nicht nur philosophisch unhaltbar ist, sondern auch empi­ risch angesichts der eingeschränkten Quellenlage fragwürdig bleibt (vgl. Aroles 2007), verdeutlicht, wie anspruchsvoll auch die nur scheinbar kritische Gegenposition ist. Bereits an dieser Stelle lässt sich für die Analogie von Ritters pau­ schaler Kritik an der Philosophischen Anthropologie zu Linschotens Argumentation festhalten, dass es sich um gleichermaßen inadäquate Einschätzungen handelt, ihr naiven Animismus vorzuwerfen wie zu meinen, dass sie daran weltanschaulich festhielte. Anstelle einer differenzierten Auseinandersetzung polemisiert Linschoten gegen die Anthropologie: Van den Berg nannte die theologische Anthropologie und Psychologie zwei Töchter aus demselben Haus, die nach vielen Wanderungen zum Evangelium zurückkehren. Mit einer solchen Äußerung gibt man Psy­ chologie als Wissenschaft auf. In der Psychologie gilt das Bild Gottes als das schädlichste aller Götzen (ebd., 383; Übersetzung ANW).

Damit offenbart er allerdings gerade, dass er gegenüber dem Ansatz der philosophischen Anthropologen, welche die Sonderstellung des Menschen gerade nicht präsupponierten, sondern in fundamentalster Weise hinterfragten, zugunsten der Präsumtion von deren Ungültig­

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keit optiert – sich damit aber auf die Invertierung des Dogmatismus einlässt, den er zu bekämpfen meint. Auch Ritters zweites Argument hilft Linschotens Denkweise einzuordnen. Er schreibt: »Es ist deshalb wichtig, sich klarzuma­ chen, weshalb in den anthropologischen Wissenschaften eine solche Wesenserkenntnis in der Tat nicht gegeben wird und zweitens, weshalb auf ihrem Boden der Schein entstehen kann, es sei eine solche Wesenserkenntnis notwendig« (Ritter 1974, 40). Um Ritters Kritik nachzuvollziehen, ist es wichtig, zu sehen, dass er mit dem Begriff Wesen, den er mit Heideggers Begriff der Ursprünglichkeit gleichsetzt, ›den Menschen überhaupt‹ meint, also einen klassisch idealistischen Wesensbegriff anwendet, der in der kantischen Diktion auf das ›Ding an sich‹ abzielt. Im Sinne ebendieser kantischen Diffe­ renzierung von noumena und phenomena markiert Ritter den Bereich der wissenschaftlichen Forschung als – und darin zeigt sich die Nähe zu Linschotens Tendenz zum Phänomenalismus – den Erscheinungen zugewandt: »Was sie aber als Forschung, als Wissenschaft kenn­ zeichnet, das ist, daß sie diese allgemeinen Fragen stets hinsichtlich bestimmter und spezieller Erscheinungen und Erscheinungsgruppen stellen« (ebd., 40f.). Der Vorwurf gegen die Philosophische Anthro­ pologie ist somit derjenige eines naiven Idealismus, der vom Ding an sich handeln zu können glaubt. Mit einer empirischen Argumentation hält Ritter nun gegen diesen Idealismus den Methodenpluralismus der Wissenschaften, in denen nicht der ›Mensch überhaupt‹, sondern »das Nebeneinander mehrerer Definitionen vom Menschen« (ebd., 42) zu finden sei. Wei­ ter: »Das Postulat aus der ›Grundstruktur des Menschseins‹ alles dies zu entwickeln, ist, wie man sieht, dem einzelwissenschaftlichen Ver­ fahren und seiner ständigen Erweiterung und fortschreitenden Dif­ ferenzierung unseres Erfahrungsbereiches entgegengesetzt« (ebd., 42f.). Ritter weist somit die Suche nach dem Wesen des Menschen zurück, weil dieser Methodenpluralismus unaufhebbar sei: »Sobald man nun in dieser Entfremdung die eigentliche und die unaufhebbare Voraussetzung der Forschung sieht und nicht ihre möglicherweise kri­ tisch zu behebende Schranke, muß man dazu kommen, sich von den Einzelwissenschaften freizumachen, um das Wesen des Menschen zu suchen« (ebd. 43). Sofern diese Behauptung nicht nur empirisch gelten soll, ist davon auszugehen, dass Ritter auch hier auf Kants apriorische Trennung der Wissenschaften zurückgeht.

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Ritters Überzeugung kulminiert also in dem Primat der Methode vor dem Gegenstand: Für sie [die Naturwissenschaften; ANW] ist die Inkonstanz ihrer Prinzipien nichts anders [sic] als die selbstverständliche Folge der ständigen Erweiterung ihres Erfahrungsbereiches. Neue Tatsachen, neue Probleme stellen sie vor die Notwendigkeit, neue Hypothesen auszubilden, bzw. die alten Hypothesen zu revidieren. Anders für Scheler. Aus der Relativität und Inkonstanz der Prinzipien wird das Postulat wahrhaft konstanter Fundamente abgeleitet (ebd., 46).

Dabei ist Ritter davon überzeugt, dass die Grenzen der Forschung eben nicht durch metaphysische Voraussetzungen gegeben sind, son­ dern tatsächlich durch den Fortschritt kontinuierlich revidiert würden. Aus diesem Grundkonflikt zwischen dem Primat der Methode in Rit­ ters Szientismus und der Philosophischen Anthropologie ergibt sich die Behauptung, dass die Anthropologie den Zusammenhang mit den Wissenschaften verlieren müsse. Dabei begibt sich Ritter auf die Seite der wissenschaftlichen Methoden und stellt fest, dass die anthropolo­ gischen Bestimmungen nicht theoretisch kontrolliert werden können. Diese Kritik wendet er gleichermaßen explizit auf Heidegger an, der den Wissenschaften die Daseinsfrage vorordne und deswegen die »nicht ursprüngliche Gegenständlichkeit wissenschaftlichen Denkens bekräftigt« (ebd., 52). Er stelle die Bestimmung des Wesens in den Mittelpunkt und gehe dabei vom unsicheren Boden der subjektiven Erkenntnis des »eigenen individuellen Daseins« aus (ebd.). Diesen Ansatz kritisiert Ritter bereits empirisch: »Wer einigermaßen mit der Arbeit etwa der Psychologie vertraut ist, der weiß, wie umstritten gerade heute das Problem der Individualität ist« (ebd., 57). Es ist wichtig, zu sehen, dass dieses Argument zwei Vorausset­ zungen hat. Erstens verabsolutiert Ritter die Geltung der empirischen Wissenschaften. Dabei handelt es sich um Szientismus. Zweitens unterstellt er der Philosophischen Anthropologie einen unreflektier­ ten Wesensbegriff. Das ist auf eine ungenügende Repräsentation des phänomenologischen Diskurses zurückzuführen, der für das Denken Schelers wie Heideggers prägend gewesen ist. Zum Szientismus lässt sich erwähnen, dass seine Bedingungen nicht nur Berücksichtigung finden, sondern auch argumentativ eingeholt werden. In seiner Schrift Kant und das Problem der Metaphysik (2010) kritisiert Heidegger die epistemologische Lesart der Kritik der reinen Vernunft, die er im Neukantianismus vorfindet: »Der Wandel des Ausdrucks ›Kritik der reinen Vernunft‹ zu ›Erkenntniskritik‹ sollte eine prinzipielle

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Überzeugung Cohens zum Ausdruck bringen, die später seinen eige­ nen Systemaufbau beherrschte: Erkenntnis ist Wissenschaft und streng genommen mathematische Naturwissenschaft« (HGA III, 306). Ohne die Argumentation aus der Kant-Schrift vollständig zu replizieren, ist hervorzuheben, dass das epistemologische Prob­ lem der Vermittlung von Anschauung und Denken in Heideggers Lesart auf die Frage nach der Einbildungskraft zurückgeführt wird. Dieser Frage ließe sich indes in der transzendentalen Deduktion auf zwei Weisen begegnen, einerseits in ihrer objektiven Seite, die von Kant elaboriert wurde, andererseits in der „›subjektiven‹ Seite der Deduktion« (HGA III, 165), vor der Kant zurückgewichen sei. Ohne also die Geltung einer objektiven Analyse der Erkenntnis, für die Ritter argumentiert, zu vernachlässigen oder herabzumindern, erweitert Heidegger seine Analyse. Es ist also allererst nicht von einer Ablehnung der Autorität der Naturwissenschaften im Gedankenge­ bäude der Philosophischen Anthropologie zu reden. Sie wird jedoch erkenntniskritisch artikuliert, was bei Heidegger bedeutet, dass sie eine fundamentalontologische Genetik der Erkenntnis im Geiste der kantischen Kritik vorangestellt wird. Der wichtigere und für die Erwiderung auf Ritters Kritik ent­ scheidende Gesichtspunkt ist jedoch, dass er einen Vorwurf gegen­ über der Philosophischen Anthropologie äußert, den Kant und noch eher die deutschen Idealisten gegen den naiven Idealismus gerichtet haben. Er kann mit Waldenfels als ein ›intuitionistischer Essentialis­ mus‹ bezeichnet werden. Hier verfehlt die Kritik aber entscheidend Schelers und Heideggers phänomenologischen Begriff vom Wesen. Auf dieselbe Weise richtet sich Linschoten gegen Husserl: »Die gesuchte Allgemeinheit (Husserls im Wesentlichen ungenaues mor­ phologisches Wesen) ist im Voraus gegeben, wenn auch vage und unrein« (Linschoten 1964, 386; Übersetzung ANW). Demgegenüber ist es indes nicht der Fall, dass die Phänomenologinnen und Phäno­ menologen schlichtweg ›den Menschen überhaupt‹ hypostasieren. Waldenfels schreibt: Der Grundansatz der Phänomenologie, den wir mit Hilfe einer Grund­ differenz erläutert haben, würde hinfällig, wenn Wesensstrukturen sich als höheres Was und Wesenserfassung sich als direkte Erfassung eines solchen Was darstellen würden. Einen solchen intuitionistischen Essentialismus dürfen wir Husserl nicht unterstellen, selbst Platon war kein solch grobschlächtiger Platonist. Die signifikative Differenz des ›etwas als etwas‹ wird durch die eidetische Differenz von Tatsache und

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Wesen nicht überboten, vielmehr wird das ›als etwas‹ thematisiert und expliziert. Wie wir zwischen fungierender Regel und ihrer Explikation zu unterscheiden haben, so zwischen fungierendem Wesen und seiner Explikation (Waldenfels 1991, 72f.).

Vom Wesen des Menschen zu sprechen, bedeutet mithin phänomeno­ logisch nach der Voraussetzung der empirischen Faktizität zu fragen, die also in ihr selbst zur Geltung kommt. Die Wesenszusammen­ hänge sind der empirischen Realität als ihre Spezies immanent. In diesem Sinne spricht auch Hegel vom εἶδος als »bestimmte[r] Allgemeinheit, Art« (Hegel 1987, 49). Das Wesen des Menschen geht seiner empirischen Manifestation nicht ontologisch voraus, sodass die beiden oben dargestellten Facetten der Frage nach dem Menschen bei Scheler nur methodologisch separiert werden können: Das Wesen des Menschen ist im Exemplar des Menschen, nicht als sein Prinzip oder τέλος, sondern als seine Spezies. Die methodologische Trennung, die verbleibt, ist somit nicht auf einen substanziellen Dualismus zurückzuführen, sondern auf die husserlsche Trennung von Idealwis­ senschaften und Realwissenschaften (vgl. Hua XIX, 181). Dabei steht die phänomenologische Idealwissenschaft dem erfahrenden Erleben nicht ferner als die Realwissenschaft. Deswegen ist Ritters Urteil, dass »Die Wesenserkenntnis und damit die Metaphysik […] nichts anderes als die Verabsolutierung der Grenzprobleme und Grundpro­ bleme« (Ritter 1974, 47) sei, unzutreffend. Außerdem lässt sich ebenso wenig wie die Kritik am Wesensbegriff, der einem tieferen Blick in die originalen Quellen standhält, die partikuläre Kritik an Heideggers Fokus auf den individuellen Standpunkt aufrechterhalten, da es eben innerhalb der phänomenologischen Denktradition, etwa bei Löwith (2013), zu einer Kritik des Mangels einer intersubjektiven Perspektive kommt, sodass Ritters Kritikpunkt nicht für die gesamte Denkrichtung, sondern allenfalls idiosynkratisch für Heidegger greift. Diese verkürzte Repräsentation des phänomenologischen Wesensbegriffes findet sich auch bei Linschoten, wenn er Hedwig Conrad-Martius phänomenologische Analysen dekontextualisiert zurückweist, um daraufhin kursorisch zu behaupten: Die Wissenschaft folgt nicht dem Weg von Bild und Hermeneutik, sondern demjenigen von Modell und Experiment. Erklärung, Vorher­ sage und Kontrolle von Phänomenen erfordern Wissen, das nicht durch spekulative Reflexion erlangt werden kann, sondern nur durch die sorgfältige Untersuchung der tatsächlichen Zusammenhänge (Lin­ schoten 1964, 389f.; Übersetzung ANW).

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Die fahrlässige Assoziation von phänomenologischer Wesensbestim­ mung und Spekulation ist eine Reminiszenz an die innerhalb der phänomenologischen Bewegung geführten Kontroversen, in denen insbesondere Husserls in den 1910er Jahren vertretene, dem trans­ zendentalen Idealismus zugewandte Position durch diejenigen, die sich vermehrt der empirischen Psychologie widmeten, infrage gestellt wurde (s. Abschnitt 4.2). Es handelt sich bei dieser Kritik um das Resultat eines historischen Antagonismus, der moderatere Ansätze – hier sei vor allem das Denken Schelers erwähnt – außer Acht lässt. Linschoten scheint sich dezidiert gegen husserlianische Ansätze stellen zu wollen, unterschlägt dabei jedoch das Potenzial der phäno­ menologischen Methode. Linschotens Kritik am Geistbegriff ähnelt wiederum Ritters drittem Argument. Dieser wähnt in Schelers Begriff vom Geist ein idealistisches Prinzip, das der empirischen Untersuchung des Lebens vorausgesetzt wird: »Für Scheler dagegen erscheint die Unterschie­ denheit des Geistes vom Leben als die Voraussetzung der gesamten Naturentwicklung« (Ritter 1974, 50). Und weiter: »Damit aber wird der wissenschaftliche Sinn des Problems von Geist und Leben faktisch übersprungen« (ebd., 49). Dieser Vorwurf läuft auf den Vorwurf der Transzendenz der Menschlichkeit hinaus: »Das menschliche Leben wird zur Selbstvergottung« (ebd., 50). Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um eine Banalisierung von Schelers Religionsphilosophie, die mit dem Begriff vom Menschen als dem »Gottsucher« eine entge­ gengesetzte Pointe hat, sondern vor allem um ein Missverständnis von Schelers Begriff des Geistes. Was Ritters Kritik fehlt, ist der Bezug zur Schichtenontologie von Hartmann, die Scheler in seiner Anthropologie anwendet. Wunsch schreibt: »Hartmanns Kategorienlehre liefert die entscheidende onto­ logische Grundlage für die moderne philosophische Anthropologie« (Wunsch 2011, 2). An diesem Stufenmodell werde eine Standardkritik geäußert, die auf Cassirer zurückgeht und auch bei seinem Schüler Ritter repliziert wird. Diese Kritik »besagt, Schelers Anthropologie erneuere mit ihrer strikten Unterscheidung zwischen Geist und Leben den cartesianischen Dualismus und erbe damit auch die für diesen charakteristischen Probleme« (ebd.). Die Schwäche dieser Kritik ist jedoch, dass sie den Vorwurf eines cartesianischen Additionsmodells äußert, was für Hartmanns Gedanken und somit für die Grundlage von Schelers Geist-Begriff eine unzureichende Beschreibung ist. Wunsch schreibt hierzu:

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Sein Dualismus ist daher kein Substanzen-Dualismus wie der Descar­ tes’, sondern ein Prinzipien-Dualismus. Zu dessen Kern gehört der Gedanke, dass das Geistprinzip für ›eine echte neue Wesenstatsache [steht], die als solche überhaupt nicht auf die ›natürliche Lebensevo­ lution‹ zurückgeführt werden kann‘. Das Geistprinzip hat sich zwar irgendwann im Laufe der Naturgeschichte ›zu manifestieren begon­ nen‹, aber es selbst bzw. sein Gehalt ist nicht darauf reduzierbar (ebd., 4).

Ritters Vorwurf der »Abkehr des Geistes vom vitalen Lebensstrom« (Ritter 1974, 48) gründet also auf ein verkürztes Verständnis der Schichtenontologie, die Hartmann entwirft. Die entscheidende anthropologische Konzeption bei Scheler, die dies verdeutlicht, ist die Rede von der »Ohnmächtigkeit des Geistes«. Wunsch schreibt: Auch dabei kann wieder der Blick auf Hartmanns Kategorienlehre weiterhelfen. Als erstes ist daran zu erinnern, dass Hartmanns Rede von der Schwäche der höheren Kategorien, die Scheler dann in die Rede von der Ohnmacht des Geistes transformiert, einen relativ klaren Hintergrund hat. Denn Hartmann präsentiert sie als Konsequenz des oben schon zitierten kategorialen Grundgesetzes, dass die höheren Kategorien immer eine Reihe niederer voraussetzen, aber ihrerseits in diesen nicht vorausgesetzt sind. Das kategoriale Zentrum der Meta­ pher von der Ohnmacht des Geistes besteht also in diesem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis (Wunsch 2011, 7f.).

Der Geist steht somit vielmehr in Abhängigkeit vom ›vitalen Lebens­ strom‹, ohne jedoch einem reduktionistischen Naturalismus Vor­ schub zu leisten. Und eben dieser Aspekt mag es letztlich sein, der Ritters Kritik verbleibt. Die Philosophische Anthropologie lässt sich nicht zu einem konsequenten naturalistischen Reduktionismus verleiten, wie er in naiv empiristischen Konzeptionen der Natur­ wissenschaften nahe zu liegen scheint. Erst aus dieser Perspektive zeigt sich, weswegen Ritter so drastisch davon sprechen kann, dass die Philosophische Anthropologie lediglich eine »Zusammen­ fassung des Forschungsstandes« (Ritter 1974, 48) liefere, denn es handelt sich um eine epistemologische Verabsolutierung der sog. Forschung und Scheler müsse folglich »überall Begründungen geben und Zusammenhänge herstellen, die gar nicht im Bereich der For­ schung liegen« (ebd., 50), denen nach Ritters Position gleichsam kein Wert zukomme. Insofern auch Linschoten unterstellt, dass die Philosophische Anthropologie darauf abziele, den Geistbegriff zu hypostasieren, lässt

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sich auf gleiche Weise erwidern, dass dem Begriff eine andere Bedeu­ tung im Ansatz der Philosophischen Anthropologie und der phäno­ menologisch-hermeneutisch fundierten Psychologie zukommt. Es geht weder um einen Substanzbegriff des Geistes noch um ein supraanimalisches Vermögen, sondern um die Beschreibung der Struktur des Bewusstseins. Gewissermaßen handelt es sich um eine anti-reduktionistische Offenheit gegenüber den psychischen Phäno­ menen, die mit Linschotens Begünstigung der Reduktion als Weg zu einer objektiven Wissenschaft kollidiert. Freilich kapituliert er dabei nicht an einen epistemologischen Reduktionismus, der – wie etwa in Tradition des logischen Empirismus – eine Hierarchie der Wissen­ schaften unterstellt, die im Fortschritt der Erkenntnis die Psychologie über die Biologie letztlich auf die Physik zurückzuführen versucht. Der methodologische Reduktionismus Linschotens ist in erster Linie eine Absage an die sog. subjektiven Aspekte der psychologischen Forschung. Sie koinzidiert mit Ritters viertem Argument. Es handelt sich um den Vorwurf des Subjektivismus an die Phi­ losophische Anthropologie als »subjektivistische Wendung der Phi­ losophie« (Ritter 1974, 52). In diesem Element sieht Ritter zugleich den Verbindungspunkt der beiden Positionen, der sog. objektiv meta­ physischen Anthropologie und der sog. metaphysischen Ontologie: »Man sieht, wie hier [bei Heidegger; ANW] das, was bei Scheler am Schluss stand, an den Anfang tritt: Die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Existenz« (ebd., 58). Weiter schreibt Ritter Heidegger zu, diesen Schritt zum Subjektivismus entschiedener zu gehen als es Scheler tat: »Während Scheler die Grundbegriffe des gegebenen Forschungsstandes zu den konstanten Wesenheiten verabsolutiert, und so gleichsam wider Willen dem Subjektivismus verfällt, macht Heidegger an diesem Punkt den Schritt zum Subjektivismus unmittel­ bar und in bewußter Absicht« (ebd., 56). Der Begriff, mit dem Ritter den Subjektivismus identifiziert, ist die Entscheidung: »Einsatz der Person, das bedeutet eine ethische, eine weltanschauliche, eine subjektive Entscheidung« (ebd., 51). Die Entscheidung werde dabei durch Scheler der gegenständlichen Proble­ matik der menschlichen Welt vorgeordnet, während Heidegger sie gar als Prinzip setze. Die Motivation hierfür sei – im Falle Heideggers –, »ein Instrument zu gewinnen, mit dem sich die Verdeckung der ursprünglichen Daseinsstrukturen durch die wissenschaftliche Den­ kungsart überwinden und durchbrechen lassen soll« (ebd., 54). Diese

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Interpretation fasst Ritter in Bezug auf Heideggers Gedanken des Daseins zum Tode zusammen: Ich muß, wie Heidegger sagt, erst zu meinem Tode vorlaufen, um zu verstehen, was das eigentliche Dasein ist. Diese Erkenntnis ist also nicht die Sache der Untersuchung, der Forschung, der Erfahrung. Sie ist Sache der Entscheidung, der existenziellen Entscheidung, wie Heidegger sagt (ebd., 58).

Diese Kritik an der Philosophischen Anthropologie fällt auf einen Diskurs zurück, der bereits vor den 1920er Jahren begonnen hatte. Es handelt sich um die Kritik am Historismus in der Tradition Diltheys, aber noch entscheidender um die Auseinandersetzung mit dem Dezi­ sionismus. Von Krockow bringt die Bewegung des Dezisionismus mit drei Autoren und für sie charakteristischen Begriffen in Verbindung: Jünger mit dem Begriff des Kampfes, Schmitt mit dem Begriff der Entscheidung und Heidegger mit dem Begriff der Entschlossenheit. Es ist jedoch hervorzuheben, dass von Krockow auch eine Abkehr vom und Auflösung des Dezisionismus konzediert, was Ritter nicht gelingt: »Der Vorgang zeigt bei allen Unterschieden im einzelnen insgesamt eine solche Einheitlichkeit, daß man ihn bei Jünger wie bei Schmitt und Heidegger als den ›Überstieg‹ vom unbezüglich ›entschlossenen‹ zu einem ›wesentlichen‹ Bezüge suchenden Denken beschreiben kann« (Von Krockow 1958, 93). Dabei ist zu sehen, dass von Krockow selbst eine kritische und ablehnende Position gegenüber den Autoren bezieht, aber dennoch dazu in der Lage ist, diesen Unterschied anzuerkennen. Ritter hingegen identifiziert die subjektivistische Wendung des Dezisionismus mit der Wesensanalyse. Das ist erstens auf die feh­ lende Reflexion des phänomenologischen Diskurses zurückzuführen und zweitens auf Ritters eigene Tendenz zu einem Objektivismus in neukantianischer Reflexion. Um diese Opposition nachzuvollziehen, hilft es, auf die ursprünglichen Berührungspunkte zwischen Phäno­ menologie und Neukantianismus zu blicken: Cohen stellt Erkenntnistheorie auf das methodische Fundament einer rein ›noematischen Geltungsreflexion‹, die nicht nach der Konstitu­ tion eines gedanklichen Gehaltes fragt, z.B. die objektive Gültigkeit grundlegender Kategorien nachzuweisen versucht, sondern auf das Geltungsfundament wahrer wissenschaftlicher Aussagen gerichtet ist. Natorp präzisiert und vertieft diese Theorie objektiver Begründung der Erkenntnis. Der Inhalt als der objektive Pol steht der subjektiven Tätigkeit des Erkennens gegenüber. Aber Natorp räumt ein: »Es gibt

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so wenig ein Erkanntes ohne Erkennenden, wie einen Erkennenden ohne Erkanntes«. Die Aufklärung der Erkenntnis kann also sowohl vom subjektiven Bewußtsein ausgehen, um in ihm die subjektive Konstitution des Inhalts aufzuweisen, wie vom Erkenntnisinhalt, um dessen Geltungsbedingungen zu reflektieren. Wenn es aber um Erkenntnisbegründung geht, konkurrieren der subjektstheoretische und der objektstheoretische Ansatz – und nach Natorps wie Cohens Auffassung spricht alles dafür, die objektive Begründung als die pri­ märe anzusehen (Holzhey 1991, 11f.).

Für den Neukantianismus besteht somit aus methodologischen Grün­ den eine Priorität des Objektivismus vor dem Subjektivismus. Ein wichtiges Argument hierfür findet sich in Natorps Kritik der refle­ xiven Phänomenologie. Zahavi fasst zusammen, dass Natorp auf der Grundlage einer transzendentalphilosophischen Trennung von Subjekt und Objekt gegen die Phänomenologie argumentiert habe, dass Erfahrung eine Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt sei. Sich selbst zu erfahren, erfordere demnach, sich selbst zum Objekt zu machen. Sich als Objekt zu erfahren, bedeute für das Subjekt indessen, nicht sich selbst zu erfahren. Gleichsam sei es unmöglich, wahrhafte Subjektivität zu erfahren. Gegen den Zugang zur Subjektivität durch Erfahrung habe Natorp stattdessen das Verständnis des Subjekts als transzendentales Prinzip befürwortet. Zahavi fasst Natorps Kritik in zwei Aspekten zusammen: 1. Phenomenology claims to describe and analyze lived subjectivity itself and, in order to do so, it employs a reflective methodology. Reflection, however, is a kind of internal perception; it is a theoretical attitude involving an objectification. As Natorp then asked, how is this objectifying procedure ever going to provide us with access to lived sub­ jectivity itself? 2. Phenomenology aims at describing the experiential structures in their pretheoretical immediacy. Every description neces­ sarily involves the use of language, of generalizing and subsuming concepts. For that reason, every description and expression involves a mediation and objectification that necessarily estranges us from subjectivity itself (Zahavi 2005, 76).

An dieser Stelle zeigt sich klar, wie Neukantianismus und Phänome­ nologie im Streitpunkt des Subjekt-Objekt Problems opponieren. Ritters Haltung ist das Resultat der einseitigen Auffassung. Auch wenn eine solche Positionierung keinen Mangel bedeuten muss, ist die fehlende Auseinandersetzung mit der Erwiderung der Phäno­ menologie ein Fehler, denn Heidegger lieferte eine Stellungnahme

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zu Natorps Kritik, die die phänomenologische Bewusstseinsphiloso­ phie verteidigt. Es ist also gerade nicht so, dass die Philosophische Anthropologie den Objektivismus ignoriert. Vielmehr bedeutet die Frage nach der Subjektivität eine Auseinandersetzung mit den Vor­ aussetzungen objektiver Forschung. Es mag sein, dass dieser Ansatz in vermeintlicher Kontinuität mit der Bewusstseinsphilosophie des deutschen Idealismus verstanden wird, doch ein derartiger Kurz­ schluss kann ebenfalls nur wegen der Unkenntnis der phänomenolo­ gischen Methodologie erfolgen. Letztlich tendiert Ritter also wegen der mangelnden Reflexion der zugrundeliegenden Kontroversen zum Szientismus. Diese Positionierung indiziert die limitierte Reichweite seiner Argumentation. Mag Linschoten auch durch die von Herzog als ›mundan‹ bezeichnete Tradition der Phänomenologie beeinflusst gewesen sein, so ermangelt es ihm der grundsätzlichen epistemologischen Kennt­ nisse von der gesamten phänomenologischen Bewegung, um die Bedingungen und Konsequenzen seiner in den Idolen vorgetragenen Kritik zu überblicken. Es erweist sich, dass seine durchaus berechtigter Weise vorgetragenen Argumente eine methodologische Verschwis­ terung mit dem Kognitivismus nahelegen, welche die Potenziale eines genuin phänomenologischen Ansatzes in der Psychologie ver­ kennen muss – hieran zeigt sich erneut die Notwendigkeit der radi­ kalphänomenologischen Transformation. Diesem Verhältnis kann nur gerecht werden, wer den wissenschaftstheoretischen Diskurs vollständig berücksichtigt. Von Linschotens Idolen bleibt für die phänomenologische Psychologie deswegen vornehmlich die Funk­ tion eines Korrektivs gegenüber den zu erlebniswissenschaftlicher Methodik tendierenden Ansätzen – insbesondere desjenigen Giorgis. Genau wie Ritter verharrt Linschoten aufgrund der unzureichenden Kenntnis der zugrundeliegenden Epistemologie in der Affirmation des Szientismus. Die wichtigere Aufgabe eines eigenständigen phä­ nomenologisch-psychologischen Programms bleibt demgegenüber ein Desideratum.

10.2 Die Idole der Psychologie Eine günstigere Grundlage für dieses Programm findet sich in Max Schelers Versuch, die ›Idole der Selbsterkenntnis‹ auszuräumen. Auch er stellt sich in die Tradition Bacons, um den sensus communis zu

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überwinden, doch die Pointe seiner Arbeit ist auf entscheidende Weise von Linschotens Denkens unterschieden. Während dieser auf die Ein­ schränkung des Erkenntnisanspruchs der Psychologie Betreibenden zugunsten einer formalisierten Wissenschaft abzielt, liegt es jenem daran, zu verdeutlichen, dass der Einfluss der Idole zur Folge habe, dass das Ausreizen der Potenziale der Psychologen gebremst wird. Schelers Aufklärung richtet sich also darauf, die Schwierigkeiten des psychologischen Forschens aufzuzeigen und auszuräumen – das alltägliche Urteil mag die Psychologenschaft (im Sinne von folk psychology) aller beanspruchen, doch dabei handelt es sich um bloßen Schein. Anstelle einer Einschränkung bedarf es also einer Befreiung, um die Psychologie zu ihrer höchsten Blüte zu entfalten. Anders als Linschotens und Bacons idola tribus, idola specus, idola fori und idola theatri, die vornehmlich ideologische oder soziale sind, blickt Scheler auf die dem Bewusstsein stets notwendig innewohnenden Schwie­ rigkeiten, etwa die »Kryptomechanik« der natürlichen Anschauung, »die wir gerade zerbrechen müssen, um zum phänomenalen Sein zu gelangen« (SGW III, 272). Dadurch gewinnt seine Abhandlung einen grundsätzlich anderen Charakter, keine ausschließlich kritische Per­ spektive, sondern den Horizont einer dank des phänomenologischen Beitrages freigegebenen Weg zu einer phänomenologischen Realpsy­ chologie. Im Vergleich mit Linschotens Denken treten einige markante Gegensätze hervor. Epistemologisch maßgeblich ist etwa, dass Schelers Phänomenbegriff ein eigentlich phänomenologischer ist, während Linschoten phänomenalistisch bleibt, insofern »[d]as Phä­ nomen formal als Beobachtung klassifiziert [wird]« (Linschoten 1964, 25; Übersetzung ANW). Scheler aber hebt hervor, dass »ein ›Phäno­ men‹ auch nicht ›beobachtbar‹, sondern nur ›erschaubar‹ [ist]« (SGW III, 272). Dieser drastische Unterschied gründet in der Bewusstseins­ philosophie der Phänomenologie: »Mit Akten in diesem Sinne, deren Gehaltswesen ›Intentionalität‹, ›Bewußtsein von‹ ist und deren Seinswesen ›Vollzug‹ ist, hat es Psychologie nie und nirgends zu tun. Denn alle Psychologie hat es mit daseienden Gegenständen zu tun« (ebd., 234). Dieser Aktbegriff tritt in der phänomenologischen Reduktion, die das Daseinsmoment der Erfahrung außer Kraft setzt, hervor und ist als Struktur, die ihr zugrunde liegt, zu verstehen. Dem­ entsprechend ist bei Scheler mit ›Phänomen‹ »nicht ein besonderer Daseinsgehalt, sondern eine Form des Daseins« (ebd., 232), also die strukturlogische Grundlage der empirischen Erscheinung gemeint.

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10.2 Die Idole der Psychologie

Was – und das ist der wesentliche Gesichtspunkt der Abhandlung – physische und psychische Phänomene unterscheidet, ist keine Frage einzelner Beobachtungen, die zumeist, wie Scheler hervorhebt, nicht eindeutig als rein physisch oder psychisch bestimmt werden können. Gleichsam lasse sich der Aktbegriff als Korrelat des Phänomens folgendermaßen von den empirischen Gegenständen der Psycholo­ gie abgrenzen: In diesem Akt liegt 1. nichts an Tätigkeit, (wie in allem Beachten) die steigerungsfähig wäre. 2. Nichts von phänomenaler Zeitdauer; Akt ist in diesem Sinne etwas, das jede phänomenale Zeitdauer schneidet und nie sich in ihr erstreckt oder dauert. 3. ›Akt‹ ist weiterhin absolut vom Gegenstand verschieden. Ich kann in dieser (phänomenologischen Betrachtung) noch sagen: Dieser eben vollzogene Akt ist Erinnerungs­ akt, ist Willensakt usw.; nie aber ›dieser Erinnerungsakt ist so und so beschaffen‹ (ebd., 234).

Die oberflächliche Erwiderung auf Schelers scheinbar drastische Auf­ fassung, dass die Psychologie sich dem Akt und den Phänomenen in diesem Sinne nicht zuwende, Phänomenologie folglich strikt von Psychologie getrennt sei, geht an der Idee der ›Realpsychologie‹ vor­ bei. Richtig ist unterdessen, dass die Melange einer phänomenologi­ schen Psychologie, die zugleich Wesens- und Tatsachenwissenschaft ist, nicht infrage kommt. Die unter dem Titel der ›phänomenologi­ schen Psychologie‹ firmierende Kooperation von Phänomenologie und Experimentalpsychologie ist vielmehr ein symbiotisches Handin-Hand einer parallelen Wesens- und Tatsachenanalyse. Deswegen ist für Scheler – im Gegensatz zu Husserls Paternalisierung der Psychologie durch die Phänomenologie – das Experiment auch im Interesse der Wesensanalyse: »Und genau so kann das Experiment auch in psychologischer Hinsicht phänomenologischer Aufhellung dienen. Es hat dann eine analoge Funktion wie die mathematischen, sog. Veranschaulichungsexperimente« (ebd., 286). Programmatisch kommt diese Haltung in folgendem Abschnitt zum Ausdruck: Faktisch setzt alle und jede beobachtende und induktive Psychologie eine Phänomenologie des Psychischen voraus, in der die Konstitution des Psychischen und seine wesenhaften Zusammenhänge dargelegt werden. Aber das gilt für die auf Selbstbeobachtung beruhenden nicht weniger als für die auf Fremdbeobachtung beruhenden. Phäno­ menologie aber hat mit Selbstbeobachtung so wenig zu tun als mit Fremdbeobachtung. Ob die psychischen Wesenheiten und Wesenszu­ sammenhänge, mit denen es eine solche Phänomenologie zu tun

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hat, an unserem oder fremden Erleben erschaut werden, ist ganz gleichgültig; auch ob mit oder ohne Experiment (ebd.).

Die Lesart, die wir für die Erneuerung der phänomenologischen Psy­ chologie entwickeln, ist, die Voraussetzung als bloß logische und nicht praktische zu verstehen. Zugleich ist die unbedingte Betonung der Wesensbestimmung des Psychischen allerdings von entscheidender Bedeutung. Hierin besteht ein weiterer fundamentaler Unterschied zu Linschoten, der sich – erneut in Tradition von James – dem neutral monistischen Begriff des Psychischen anpasst: »Die Verhaltenswei­ sen, die den Psychologen interessieren, hängen mit komplizierten Ereignissen im Organismus zusammen« (Linschoten 1964, 407; Übersetzung ANW). Dieser Art Geisteshaltung erwidert Scheler hin­ gegen: Sagt man mit Mach, Avenarius u.A., ›psychisch‹ sei die Umwelt, bezogen auf einen Organismus, oder die Umwelterscheinungen, so weit sie sich von einem zentralen Nervensystem als abhängig erweisen, so macht man das ›Psychische‹ faktisch zu einer bloßen Beziehung zwischen physischen Phänomenen, aus denen doch auch der ›Organis­ mus‹ oder das ›Nervensystem‹ besteht. Was man hiermit definiert, ist lediglich der Tatsachenkreis der Sinnesphysiologie (SGW III, 237f.).

Die Realpsychologie Schelers stellt sich somit als Apologetin einer Psychologie heraus, die sich auf die Betrachtung eines gegenständli­ chen Psychischen gründet, deren etymologischer Bezug zum Seelen­ leben mehr als ein Lippenbekenntnis ist. Sein Argument ist dabei vornehmlich phänomenologisch, denn die klassischen definitorischen Ansätze wie Descartes’ Versuch, das Psychische als Unausgedehntes zu fassen, scheitern: »Die Untersuchung der Frage zeigt, daß wir die Einheit des ›Psychischen‹ gar nicht anders fassen können, als durch den Hinblick auf die besondere Weise, wie wir es wahrnehmen, und die eben ›innere Wahrnehmung‹ genannt wird« (ebd., 237). Die Beschäftigung mit den Idolen der Selbsterkenntnis wird demgemäß – ähnlich zur radikalen Phänomenologie Henrys – zur Suche nach der inneren Wahrnehmung und der Einsicht in die zugehörigen Schwierigkeiten: »Nun ist es aber von grundlegender Bedeutung für die Psychologie und ihren weiteren Fortgang, daß anerkannt werde, daß auch die innere Wahrnehmung nicht unmittelbar auf das Ich und seine Erlebnisse geht, sondern gleichfalls vermittelt durch einen ›inneren Sinn‹“ (ebd., 243).

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Auch hier ist zunächst der scheinbare Einwand abzuwehren, Scheler verschwistere sich mit Introspektionisten wie Lipps, indem er sich auf ›innere Wahrnehmung‹ bezieht. Mit Bestimmtheit müs­ sen deswegen zwei Erwiderungen erfolgen. Zunächst bekennt sich Scheler klar zu den Grundlagen der Experimentalpsychologie qua Skepsis gegenüber der Introspektion: »Prüft man alles in allem, so sind die Täuschungsquellen bei der Selbstbeobachtung nicht klei­ nere, sondern größere wie bei der Fremdbeobachtung« (ebd., 287); und weiter: »Darum sind es auch bloße Scheingründe, mit denen man häufig das Vorrecht einer auf Selbstbeobachtung beruhenden Psychologie gegenüber allen objektiven Methoden wie experimen­ telle Psychologie und historisch-völkerpsychologischer Erkenntnisart vertreten hört« (ebd., 286). Wichtiger noch ist allerdings die phäno­ menologische Unterscheidung zwischen Selbstwahrnehmung und innerer Wahrnehmung: »Der Selbstwahrnehmung steht nicht die äußere Wahrnehmung, sondern die Fremdwahrnehmung gegenüber. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß diese notwendig mit ›äuße­ rer Wahrnehmung‹ zusammenfalle« (ebd., 228). Beispiele wie die emotionale Ansteckung oder die Tradition zeigten, dass es innere Wahrnehmungen gebe, die Fremdwahrnehmungen seien. Schelers Realpsychologie ist gleichsam nichts weniger als ein naiver Introspek­ tionsglaube und mit ihm sollten auch Husserls »Bewußtseinsreflexio­ nen« (Hua III, 271) aus diesen Gründen nicht verwechselt werden. Die Verfassung des besagten ›inneren Sinnes‹ ist diejenige tatsächlicher, also die Psychologie betreffender Zustände, welche den Zugang zur inneren Wahrnehmung systematisch erschweren. Dies sind die von Scheler statuierten Idole, die das kognitivistische Forschungsprogramm der biases and heuristics vorweggreifen. Abge­ sehen von den allgemeinen Formen der Täuschung wie Sinnes- und Wahrnehmungstäuschungen haben dabei zwei Sachgebiete herausra­ gende Bedeutung, das ›Leibliche‹ und das ›Soziale‹, welche das Ich der unmittelbaren Erfahrung verstellen: »Wie dieses Ich nach frühe­ rem durch das ›Leibich‹ zunächst gleichsam ganz und gar verdeckt ist, so ist es auch durch das ›soziale Ich‹ verdeckt und muß erst mühsam genug hinter diesem gefunden werden« (SGW III, 288). Wenn Linschoten demgegenüber von Idolen spricht, stößt er nicht zu dieser Sphäre der Erfahrungskonstitution vor, sondern verharrt insbesondere in den historischen Konstellationen der Sozialsphäre ohne deren Struktur in ihrem Wesen zu berücksichtigen. Schelers universelle phänomenologische Offenheit für die Fülle der Erfahrung

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hat ihn hingegen auch zum systematischen Vordenker der phänome­ nologischen Soziologie werden lassen, sodass seine Überlegungen deutlich weiter reichen. Für die Psychologie ergibt sich das Programm des Subtilitätsge­ winns der Betrachtungen: Eine Psychologie, die nicht eine generelle Neigung zur Selbsttäuschung zum Prinzip ihrer Forschung machen will, muß daher nicht streben, die seelischen Tatsachen möglichst auf Elemente des Leibzustandes, Organempfindungen und sinnliche Gefühle zurückzuführen, sondern im Gegenteil darnach, die letzteren überall aus dem konkreten Tatbe­ stande herauszuschälen und die Natur und Eigengesetzmäßigkeit des Restes zu erforschen (SGW III, 276).

Die Psychologie kann es ermöglichen, zu Phänomen vorzustoßen, die durch den sensus communis verstellt sind. Als markantes Beispiel lassen sich Schelers Arbeiten zur Emotionspsychologie anführen. Auf Grundlage seiner werttheoretischen Betrachtungen sah er ein, dass in alltäglicher Geisteshaltung eine Tendenz dazu bestehe, »daß wir an seelischem Tatbestand in der inneren Wahrnehmung (auch der sich im Erinnern vollziehenden) nur das zu fassen pflegen, was zu nützlichen und schädlichen Handlungen führen kann« (ebd., 277). Das Ziel der Psychologie müsse folglich eine Emanzipation der Auf­ fassungsformen sein, sodass der Zugang zu subtileren Phänomenen eröffnet werde – eine Schulung des inneren Sinnes. Von dem kognitivistischen Programm der biases and heuristics unterscheidet Scheler letztlich, dass seine Geisteshaltung nicht eine Abwärtskorrektur des psychologischen Vermögens, keinen Pessimis­ mus gegenüber der Reflexion auf das Psychische darstelle, sondern eine Bewegung der Befreiung. Linschotens Bemühungen um eine ›objektive Psychologie‹ hingegen entsprechen jener Tradition, was nachvollziehbar macht, weswegen die Veröffentlichung seiner Idolen van de psycholoog in der kognitivistischen Psychologie auf Zustim­ mung stoßen konnte (van Hezewijk & Stam 2008). Eine grundsätz­ liche Ähnlichkeit besteht zudem in Hinblick auf die Rolle der Sprache, die für Linschoten eine wichtige Quelle psychologischer Irrtümer darstellt: »Ist die fast unendliche Variation und Differenzierung der Gefühle wirklich mehr als Sprachgewohnheit? All diese feinen Gefühlsnuancen, die wir normalerweise für Ausdrücke der inneren Differenzierung halten, sind Artefakte. Sie ›existieren‹ in der Sprache, aber nicht im Inneren« (Linschoten 1964, 294; Übersetzung ANW). Mit Scheler lässt sich erwidern:

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10.3 Bedeutung der Analyse für den dritten Programmpunkt

Der Einwand, daß sich bei der experimentellen Methode das Wort­ verständnis in die Mitte schiebe, mit der die Versuchsperson ihre Erlebnisse beschreibt, gilt erstens nur so weit, als die Rede der Ver­ suchsperson nicht deren Erlebnisse ›ausdrückt‹ und ›kundgibt‹, so daß ich in den Worten die Erlebnisse erfasse (prinzipiell wie in Ausdrucks­ erscheinungen wie Lächeln, die Freude usw.) oder es sich um sonstige ›Reaktionen‹ handelt, in denen das Erlebnis erfaßbar wird, sondern die Rede sich selbst schon an das von der Versuchsperson innerlich Beob­ achtete anzumessen und das Resultat der Beobachtungen ›mitzuteilen‹ sucht (SGW III, 286).

Philosophisch weitsichtig bestimmt Scheler die Angelegenheit der Sprache als die Kardinalfrage der Fremdwahrnehmung. In seinem Œuvre widmet er sich diesem Zusammenhang deswegen ausführlich. Eines pauschalen Urteils, das nur auf dem Rücken pragmatischer Grundüberzeugungen erfolgt, enthält er sich zugunsten einer dif­ ferenzierten Betrachtung. Dennoch kann die Problematik der Aus­ druckspsychologie an dieser Stelle nur aufgezeigt werden. Es handelt sich um die methodologische Gretchenfrage der Psychologie, welche im Kern das Phänomen des Fremdpsychischen betrifft und nicht leichtfertig abgetan werden sollte – hier war Graumann vorsichtiger und differenzierter als Linschoten.

10.3 Bedeutung der Analyse für den dritten Programmpunkt Statt auf Kosten ihres methodologischen Profils den Weg eines Kompromisses zwischen Phänomenologie und alternativen psycho­ logischen Paradigmen, etwa Behaviorismus und Kognitivismus, zu beschreiten, kann sich die phänomenologische Psychologie auf die Kraft ihrer eigenen Einsicht besinnen. Jener Mittelweg bedeutete den Verlust ihrer Eigenständigkeit. Deswegen muss die phänomenologi­ sche Psychologie als autonome Forschungsrichtung auf ihren eigenen – insbesondere wissenschaftstheoretischen – Grundlagen stehen. Der vergessene Ansatz einer Realpsychologie kann als Entwurf dieser phänomenologisch-psychologischen Position aufgegriffen werden. Mit ihr lässt sich die Erneuerung als radikale Neubesinnung auf die phänomenologische Psychologie in statu nascendi begreifen, statt die Konservierung einer verjährten Deutungshoheit der vor-behavioris­ tischen Psychologie zu betreiben. Konkret ergibt sich als Desidera­

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tum eine kontroverse Haltung der phänomenologischen Psychologie als Realpsychologie.

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11. Emanzipation der Zahlen

Als Tenor vornehmlich deskriptiver Betrachtungsweisen gilt folgende Kritik an einer quantitativen Reduktion mathematisierender Ansätze: durch die numerische Abbildung gerieten wichtige Aspekte aus dem Blick der Wissenschaften. Dieser Haltung entspricht für den Aus­ druck ›Emanzipation der Zahlen‹ die Lesart eines genitivus objectivus: Die Wissenschaft müsse von den Zahlen emanzipiert werden, um dem Gegenstand gerecht zu werden. Wenn Phänomenologie als geisteswissenschaftliche Denkweise aufgefasst wird, könnte fälschli­ cherweise geurteilt werden, sie komme mit dieser Haltung überein. Tatsächlich waren die Phänomenologinnen und Phänomenologen aller Epochen eher um die Emanzipation der Zahlen im Sinne eines genitivus subjectivus bemüht: Die Bedeutung der Messung und Quantifizierung herauszustellen, um sie von einer bloß formalen Bestimmung zu emanzipieren – die Zahlen selbst zu befreien. Statt grundsätzlich gegen die Verwendung mathematischer Methoden in den Wissenschaften zu polemisieren, ist der Ansatz der Phänomeno­ logie, die reduktionistische Gefahr abzuwenden, indem die eigentli­ che Bedeutung der numerischen Relationen dargestellt wird. Dadurch werden einseitig formal verstandene Zusammenhänge überwunden und ihr innerhalb der Erfahrung konstituierter Sinn rehabilitiert. In diesem Sinne ringt die Erneuerung der phänomenologischen Psycho­ logie auch gegen die Auffassung der Phänomenologie als Geisteswis­ senschaft.

11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen Die Strukturanalyse der Messung wurde durch Geigers Arbeit über Methodologische und experimentelle Beiträge zur Quantitätslehre (1907) angeregt. Sie ist stilistisch durch die Achtung der Eigenstän­ digkeit der experimentalpsychologischen Methoden gekennzeichnet und unterscheidet sich deswegen deutlich von jeder philosophischen oder geisteswissenschaftlichen Patronage. In diesem Sinne konzediert

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11. Emanzipation der Zahlen

Geiger: »Die methodische Begriffserklärung geht in der Naturwissen­ schaft der Arbeit an den Problemen her, sie geht ihr nicht voraus – und diese Art der Arbeit ist die normale für die Einzelwissenschaft« (Geiger 1907, 328). Unglücklicher Weise ist es über diesen Beitrag hinaus in der phänomenologischen Bewegung kaum zu einflussrei­ chen Beiträgen zur Thematik gekommen. Zumindest ein jüngerer Beitrag zu diesem Zusammenhang stammt von Bredenkamp und Graumann und befasst sich mit Möglichkeiten und Grenzen mathe­ matischen Verfahrens in den Verhaltenswissenschaften (1973). An der Seite einiger weiterer Ansätze stellen diese Texte den Vorstoß zu einer phänomenologischen Erweiterung der Messtheorie dar, die jedoch bisher nicht systematisiert wurde. Den Stand dieses Vorstoßes zu umreißen, hilft, seine Schwierigkeiten und Potenziale zu erfassen. Von großem Wert für den phänomenologischen Blick auf die Messung ist darüber hinaus der Umstand, dass Husserl – als ausgebil­ deter Mathematiker – der Bedeutung der Zahlen in seinem gesamten Œuvre Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die Philosophie der Arithmetik (1891) nimmt dabei eine wichtige Rolle ein, wenngleich ihre Veröf­ fentlichung noch vor Husserls phänomenologischer Schaffensphase erfolgte und deswegen teilweise unter dem Einfluss psychologisti­ schen Denkens steht. Zudem tangieren Husserls Reflexionen die Frage der Messung lediglich und finden den Punkt der größten Annäherung an die Messtheorie in dem Aufsatz Realwissenschaft und Idealisierung – die Mathematisierung der Natur, der nach textkritischer Analyse vor dem Jahre 1928 verfasst wurde. Der Beitrag dieser Analysen besteht also in der intentionalanalytischen Grundlegung der messtheoretischen Überlegungen. Die wichtigste Vorarbeit für eine phänomenologische Messtheo­ rie ist die Analyse des Aktes der Messung: Was tue ich denn, wenn ich messe? Die Antwort ist: ich ordne Gegen­ ständen Zahlen zu. Was ist durch Zahlenzuordnung gewonnen? Die Frage löst sich, wenn wir uns klar machen, was überhaupt Zahlen sind. Nach der formalen Auffassung der Mathematik sind Zahlen Zeichen, die den Rechnungsregeln gehorchen (Geiger 1907, 333).

In ähnlicher Weise statuieren Graumann und Bredenkamp: »Die Zahl ist nämlich dazu geeignet, in die Ununterschiedenheit der gemeinsamen Eigenschaften eine Unterscheidung hineinzubringen, und ebenso auch dazu das Gemeinsame in den Dingen zusammenzu­ fassen« (von Kues). Die Zahl wird zum »Urbild der Begriffe unseres

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11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen

Geistes. Dieser kann ohne die Zahl nichts leisten […] Da also die Zahl soviel wie Erkenntnisweise ist, kann nichts ohne sie erkannt werden«. […] Halten wir fest, daß die Bestimmung der Einheit in der Verschie­ denheit, daß die Feststellung von Unterschieden im Unterschiedenen und die Festlegung von Verhältnissen zwischen Unterschiedenem zu den wichtigsten Leistungen der zählenden und messenden Mens ›gerechnet‹ wurde und wird (Bredenkamp & Graumann 1973, 52f.).

Mit diesem Ansatz ist der Schein präsupponierter Objektivität gebro­ chen, insofern als die Bedeutung der Zahlen fragwürdig geworden ist. Ihre Auffassung als Zeichen eröffnet einen umfangreichen Zusam­ menhang, in dem das Wesen des Zeichens und seiner Beziehung zum Gegenstand bestimmt werden muss. Auch wenn sich diese grundsätzlichen Analysen betreiben lassen, ist die wissenschaftliche, also praktische Verwendung mit ihr noch nicht kritisiert. Vielmehr stellt Geiger fest, dass »[a]lle Sätze der Theorie des Messens sich daraus ableiten [lassen], daß das Messen eine Veranstaltung ist, um eine Gegenstandsreihe an den Vorteilen der Gesetzgebung der Arithmetik teilnehmen zu lassen« (Geiger 1907 334). Als Zweck der mathematischen Abbildung lässt sich die Transformierbarkeit der Zahlen feststellen. Analog stellen Graumann und Bredenkamp fest: »Der zeitgenössische Verhaltenswissenschaftler, der eine andere Konzeption von Zählen und Messen hat, der seine Meßtheorie rein als Metrologie betreibt, wird, sofern er Psychologe ist, jene Operationen der Begriffsbildung zuordnen und als Momente der generalisierenden Abstraktion verstehen, doch fern aller Mathematik« (Bredenkamp & Graumann 1973, 53). Neben der Phänomenologie der Zahlen als kritischer Erweiterung der Mathematik ergibt sich folglich die Möglichkeit einer Phänomenologie der Verwendung von Zahlen als Erweiterung der Metrologie bzw. Messtheorie. Das Beispiel der Aktanalyse der Zeitmessung im Vergleich des Sekundenzählens mit der Verwendung einer Uhr hilft, das Interesse dieser phänomenologischen Messtheorie zu verstehen: Statt daß ich also der Zeitenreihe direkt die Zahlenreihe zuordne, ordne ich erst den Zahlen den Raum, den vom Körper zurückgelegten Weg, zu. Dieser Raum ist seinerseits wieder der Zeit eindeutig zugeordnet, so daß ich die Zeit indirekt messe. Zwischen Zahl und Zeit wird der Raum eingeschoben. Es findet jetzt nicht mehr die Zuordnung Zahl – Zeit statt, sondern Zahl – Raum – Zeit (Geiger 1907, 341).

Mag es sich auch um ein Beispiel handeln, das so voraussetzungsarm ist, dass es keine kritische Wirkung in der Verhaltenswissenschaft

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entfalten kann, so ist es zugleich doch ein erhellender Gedanke, der die phänomenologische Reflexion auf das Messen gelungen verdeutlicht: Die Handlung des Messens darf nicht als camera obscura verklärt werden, deren Produkt numerische Daten sind. Die Bedeutung der resultierenden Zahlen und deren Transformation hängt von der Form des Zugriffs innerhalb der Erfahrung ab. Messtheoretisch ist hiermit das Repräsentationstheorem bezeichnet, das angibt, unter welchen Bedingungen eine Meßskala entwickelt werden kann. Nach diesem Theorem wird ein System empirischer Relationen durch ein System numerischer Relationen repräsentiert, wenn es eine Funktion f  gibt, die jedem Element x  eine Zahl f x   so zuordnet, daß die empirische Relation x1 R x2  die numerische Relation f x1  S f x2   impliziert. ›R‹ und ›S‹ sind Symbole für bestimmte Relationen (Bredenkamp & Graumann 1973, 62).

Repräsentation als fundamentale Erfahrungs-Struktur der Messung kann nicht unreflektiert postuliert werden. Aus der inhomogenen Fülle der Erfahrung Gegenstände zählend, kolligierend (zählend anhäufend), repräsentierend und dadurch homogenisierend heraus­ zugreifen, gründet auf die elementare Frage nach der Ähnlichkeit – Bredenkamp und Graumann paraphrasieren Helmholtz, um auf diesen Aspekt hinzuweisen:

1. Was heißt überhaupt, zwei Objekte in gewisser Hinsicht für gleich zu erklären? Erst dadurch aber, daß wir sie als gleichartig setzen, werden sie im strengen Sinne vergleichbar. 2. Welchen Charakter muß die physische Verknüpfung zweier Objekte haben, damit wir vergleichbare Attribute daneben als additiv verbunden und diese Attribute demzu­ folge als Größen, die durch benannte Zahlen ausgedrückt werden können, ansehen dürfen? (Bredenkamp & Graumann 1973, 55).

Weil die phänomenologische Psychologie keinen Relativismusvor­ wurf vorbringt, kann ihre Reflexion helfen, die Legitimation mathe­ matischer Operationen in der Psychologie zu festigen, indem eine Beziehung zur unmittelbaren Erfahrung als Rechtsquelle der numeri­ schen Repräsentation aufgezeigt wird. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die aktphänomenolo­ gische Haltung eine wichtige Abgrenzung gegenüber den etablier­ ten rationalistischen und empiristischen Ähnlichkeitsbegriffen vor­ nimmt, der auch der kognitivistischen Theorie des Problemlösens zugrunde liegt: »Symbol tokens are patterns that can be compared by the IPS [information processing theory; ANW] and judged equal

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11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen

or different« (Newell & Simon 1972, 23). Während Vertreter dieses Ansatzes entweder »Ähnlichkeit auf Identität und Verschiedenheit einer jeweilig verschieden großen Anzahl oder doch ›Menge‹ von Teilen (identitas partium) in den als ›ähnlich‹ gegebenen Sachen« (SGW II, 440) zurückführen oder »von der Ähnlichkeit ausgehend als Grundphänomen, die Identität als den ›Grenzfall‹ von Ähnlichkeit, nämlich als jenen, wo Ähnliches nicht mehr unterscheidbar oder ›ununterscheidbar‹ ist, [ansehen] und ›Verschiedenheit‹ dann nicht als Voraussetzung der Ähnlichkeit (Gattung zu ihr), sondern nur als Nonidentität zu definieren [ist]« (ebd.), bemühen sich die Phänome­ nologen um eine vollständige intentionale Analyse der Identitätsund Ähnlichkeitsphänomene, ohne deren Form zu präsupponieren. Auch der Gedanke einer ›generalisierenden Abstraktion‹ lässt sich infrage stellen, wobei Begriffsbildung qua Abstraktion das Absehen von allem [meint], was Dinge und Sachverhalte voneinander unterscheidet, zugunsten des Hinsehens auf und Feststellens von Charakteristika, die die in Frage stehenden Gegebenheiten gemeinsam haben, wobei solche Charakte­ ristika Elemente, Relationen oder Funktionen seien und mit Zeichen versehen werden können (Bredenkamp & Graumann 1973, 53f.).

Mit Scheler lässt sich erwidern: Natürlich gibt es solche Ähnlichkeit, die sich nur unter dieser Voraus­ setzung heraushebt und als in dieser und jener ›Hinsicht‹ bestehend bestimmbar und mittelbar ist. So können mehrere Körper sich ›in Hinsicht‹ auf Größe, Gestalt, chemische Zusammensetzung ähnlich und unähnlich sein und dies in den verschiedensten Graden. Aber dieser ›mittelbaren‹ Ähnlichkeit, die eine begriffliche Fassung der Gegenstände, die ähnlich sind, voraussetzt, entspricht als ihre Voraus­ setzung eine unmittelbare Ähnlichkeit. Solche unmittelbare Ähnlich­ keit besteht allein z.B. zwischen einfachen Qualitäten, wie zwischen Rosa und Purpur (gegenüber dem Grün etwa), eine Ähnlichkeit, die nicht voraussetzt, daß ich etwa in beiden Farben die Röte erfasse, oder daß sie in Ton, Helligkeit, Sättigung zerlegt werden […]. Ähnlichkeit ist wesenhaft ›Ähnlichkeit von etwas, X, mit einem anderen, Y‹, und keine Ähnlichkeit kann gegeben sein, ohne daß auch der Hinblick auf zwei Träger mitgegeben ist (SGW II, 440f.).

Für die empirische Praxis bedeutet dieser Gedanke zunächst, dass es keinen methodisch und insofern formal abgesicherten Weg gibt, der die metrologische Homogenisierung von Gegenständen garantiert75.

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11. Emanzipation der Zahlen

Über diesen negativen Aspekt hinaus zeigt sich aber auch, dass jeder Homogenisierungsversuch – implizit oder explizit – auf einen sinn­ haften Zusammenhang gründet und ihn ausdrücken muss. Deswegen spricht Scheler davon, dass »wie jeder Gegenstand, so auch jeder Teil eines Gegenstandes nur in einem Totalakt gegeben [ist], der Wahrnehmung, unmittelbare Erinnerung und unmittelbare Erwar­ tung bereits in sich befaßt« (ebd., 442). Mit diesem Ausdruck des ›Totalaktes‹ ist der bedeutungsmäßige Horizont gemeint, in dem sich – auch der Psychologin und dem Psychologen – der jeweilige Gegen­ stand gibt, der daraufhin in einer bestimmten Hinsicht abstraktiv generalisierend einem numerischen Relativ zugeordnet werden kann. Schelers Argumentation konvergiert an dieser Stelle mit derjeni­ gen Husserls: »Die Urteilstätigkeit des Unterscheidens setzt eviden­ termaßen bereits ausgeschiedene, für sich bemerkte Inhalte voraus; es können also diese Inhalte nicht erst dadurch bemerkbar geworden sein, daß sie voneinander unterschieden wurden« (Hua XII, 57). Der Akt, der diesen Inhalt bemerkt, ist der Einstiegspunkt für die Intentionalanalyse des Kolligierens, welche auch für das Messen von Bedeutung ist, insofern die »Messungen der Größen überall auf Zählungen, d.h. auf Anzahlbestimmungen beruhen« (ebd., 12). Die »Philosophie der Arithmetik« räumt deswegen in einem ersten Schritt inadäquate Vorstellungen vom Zählen, dass es nämlich auf Raum-, Zeit- oder Unterschiedsvorstellungen reduziert werden könne, aus, um daraufhin die Eigenheit des eigentlichen Aktes festzustellen. Systematisch durch phänomenologische Betrachtungen fundiert wird Husserls Analyse des Kolligierens jedoch erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte. In den Ideen zu einer Reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie gelingt es ihm, seine vorhe­ rigen Gedanken in diesem Sinne voranzutreiben. Dort spricht er vom Kolligieren als Fall der »noetischen Synthesen« (Hua III, 284), denen noematisch die »apophantischen Bedeutungsform der forma­ len Logik« (ebd., 293) entsprächen. Während Husserl in der »Philoso­ phie der Arithmetik« den Begriff der kollektiven Verbindungen noch als »Konjunktion Und« (Hua XII, 76) bestimmt, hebt er in seinem phänomenologischen Denken den wesentlichen Bezug allen Zählens und folglich auch Messens zur Bedeutung heraus:

75 Dies ist auch die epistemologische Konsequenz aus der Zurückweisung des neutra­ len Monismus’.

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11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen

Im synthetischen Bewußtsein, sagten wir, konstituiert sich ein synthe­ tischer Gesamtgegenstand. Er ist aber darin in ganz anderem Sinne ›gegenständlich‹ als das Konstituierte einer schlichten These. Das synthetische Bewußtsein, bzw. das reine Ich ›in‹ ihm, richtet sich vielstrahlig auf das Gegenständliche, das schlicht thetische Bewußtsein in einem Strahl. So ist das synthetische Kolligieren ein ›plurales‹ Bewußtsein, es wird eins und eins und eins zusammengenommen. […] Zu jeder solchen vielstrahligen (polythetischen) Konstitution synthe­ tischer Gegenständlichkeiten – die ihrem Wesen nach ›ursprünglich‹ nur synthetisch bewußt werden können – gehört die wesensgesetzliche Möglichkeit, das vielstrahlig Bewußte in ein schlicht in einem Strahl Bewußtes zu verwandeln, das im ersteren synthetisch Konstituierte sich in einem ›monothetischen‹ Akte im spezifischen Sinne ›gegen­ ständlich zu machen‹ (Hua III, 294 ).

Husserls Betrachtungen führen ihn zur Beziehung zwischen mono­ thetischem Bewusstsein – bei Scheler: Totalakt – und polythetischem Bewusstsein, das die gezählten oder gemessenen Gegenständlichkei­ ten unterscheidet bzw. deren Ähnlichkeit beurteilt. Eine phänomeno­ logische Messtheorie kann daran anschließend auf die Funktion der Aufmerksamkeit Bezug nehmen, um den Akt des Messens zu analy­ sieren. Als polythetischen Akt lässt sich die Zuordnung zum numeri­ schen Relativ beschreiben, der auf dem Rücken des attentionalen Totalaktes ruht76, seinerseits jedoch auch einer Analyse bedürftig ist. Unreflektiert kann hier der falsche Eindruck vermittelt werden, der Fehlinterpretationen Vorschub leistet. Eine Gefahr besteht darin, die Zuordnung zu einem numerischen Relativ als Verhältnis zu verstehen, in dem Messwerte den Anschein der Aktivität gewinnen – als prägten sie sich dem Gegenstand der Messung selbst auf. Vermu­ tungen dieser Art begünstigen die Überhöhung der Bedeutung von Messungen, wie sie sich etwa im Falle erfolgreicher Konstrukte – ein Beispiel ist der Intelligenzquotient – zeigt, insofern als verkannt wird, dass es sich letztlich nur um eine Transformation anhand individueller Messereignisse gewonnener metrologischer Zuordnungen handelt. Voraussetzung, um diese Gefahr zu sehen, ist eine Reflexion auf die strukturellen Eigenheiten von verschiedenen Formen der Beziehung. Ein Abriss dieser Art Strukturanalyse findet sich bei Löwith:

76

Zum Begriff der ›Attentionalität‹ in der Phänomenologie s. Breyer (2011).

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11. Emanzipation der Zahlen

Etwas Zuhandenes kann weder es ›selbst‹ sein noch ›sich‹ (selbst) zu einem verhalten, noch sich selbst zu einem ›verhalten‹. Verloren geht so etwas nur, sofern es einer verliert, und finden lässt es sich nur, sofern es einer findet. Was also vorliegt, ist ein prinzipiell einseitiges Verhältnis, und einseitige Verhältnisse liegen überall und nur dort vor, wo sich Einer nicht zu einem andere, sondern zu Etwas verhält. Weil sich aber Etwas auch gar nicht wie ein anderer selbst zu mir ›verhalten‹ kann, liegt streng genommen auch gar kein einseitiges ›Verhältnis‹, sondern ein bloßes Sich-selbst-dazu-Verhalten vor. Wirklich ›einsei­ tige‹ Verhältnisse gibt es nur innerhalb des als Verhältnis immer schon als gegenseitig beanspruchten Verhältnisses des einen zum andern. Das sich nicht zu mir Verhalten des Etwas bedeutet kein negatives SichVerhalten – sich unauffindbar machen kann immer nur Einer – sondern die Abwesenheit jeglichen solchen Könnens (Löwith 2013, 151). In einem Verhältnis zu-ein-ander kann nur einer zu einem andern stehen, denn nur einer und ein anderer verhalten sich selbst und daher zueinander. Ihre Gegenseitigkeit ist eine solche des Ein-ander. Und indem der eine wie der andere sich selbst zum andern verhalten kann, vollzieht sich ihr Verhältnis zueinander im einheitlichen ›sich‹ des Einander (ebd., 152).

Während Löwith das aktive Verhältnis für die Beziehung von jeman­ dem zu jemand anderem vorbehält, markiert er die Relation als die passive Beziehung von etwas zu etwas anderem: Die Relation ist also eine einseitige Beziehung. Einseitig ist eine Relation in Beziehung auf die Möglichkeit einer zweiseitigen Relation, die Korrelation. Korrelativ aufeinander bezogen sind z.B. Schlüssel und Schlüsselloch. Ein jedes dieser beiden verweist seinem Sinne nach auf das andere; die Zweiseitigkeit der Korrelation bedeutet also eine Gegenseitigkeit der Relate. Das eine verweist auf das andere, keines hat Sinn ohne das andere, sie sind füreinander gemacht und passen zuein­ ander. Und trotz ihres Füreinanderseins kann man nicht eigentlich sagen, sie stünden zueinander in einem Verhältnis. Ein Verhältnis ist weder ein bloßer Zusammenhang noch eine bloße Relation, noch eine Korrelation, obgleich es alle drei in gewisser Weise enthält (ebd., 148f.).

Wenn die klassische psychologische Messtheorie von der Zuord­ nung eines numerischen Relativs zu einem empirischen spricht, darf diese folglich nicht als ein Verhältnis der Messung zum Gegenstand betrachtet werden, es stellt sich keine Beziehung des ›Ein-ander‹ ein. Die Messung als Korrelation zu beschreiben, ist gleichfalls frag­ würdig, insofern als die Zahlen selbst keine zusätzliche Bedeutung

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11.1 Der phänomenologische Blick auf das Messen

durch die Beziehung zum Messgegenstand gewinnen. Es handelt sich um eine kontingente Relation, die gegenüber dem Bedeutungsgehalt der beobachteten Prozesse eine äußerliche Abbildung bleibt. In Hus­ serls Worten: »Welche äußeren Gegenstände und wieviele derselben wir kolligieren und zählen, das hängt allein von unserem Interesse ab, und so wird die Einigung des Kolligierten nur bestimmt und vollzogen durch einen psychischen Akt« (Hua XII, 46). Zwar mögen empirische Relationen in der Erfahrung gegeben sein, nicht aber deren numerische Formalisierung. Versuche, psychische Phänomene durch Messwerte, beispielsweise Reaktionszeiten, zu erklären, sind somit argumentativ nicht ausschließlich durch die Messung allein gerechtfertigt. Ihnen muss eine inhaltliche, dem Bedeutungszusam­ menhang dieser Phänomene selbst entstammende Rechtfertigung hinzugefügt werden. Dennoch sind diese metrologischen Abbildungen nicht bedeu­ tungslos – sie sind nur voraussetzungsreich: Richtig eingesetzt vermag die Mathematik in den Verhaltenswissen­ schaften in der Formalisierung und Axiomatisierung mit Hilfe mathe­ matisch-logischer Konstrukte zu besseren Theorien, in der Messung zu gesicherten Forschungsergebnissen zu führen. Falsch – und das heißt v.a. vorzeitig – eingesetzt, verschafft die Mathematik der Ver­ haltenswissenschaft den Glanz einer Peseudoexaktheit oder aber die hochgradig gesicherte Erkenntnis von Trivialitäten (Bredenkamp & Graumann 1973, 61).

Crease schlägt im Anschluss an Heidegger vor, die Bedeutung der Messung im Zusammenhang einer metroscape, also gewissermaßen der ›Landschaft des Messens‹, zu bestimmen, um den Blick auf die zugrundeliegende Sinnstruktur zu richten: The metroscape means that the environment in which we measure is not neutral; this of course is Heidegger’s point about the Gestell. In the modern atmosphere, measuring tends to dazzle and distract us. We tend to look away too much from what we are measuring, and why we are measuring, to the measuring itself. Measuring certainly works, and helps us to get around – but in the modern metroscape, it can lead us to think that it is all we need to get around (Crease 2014, 86).

Heideggers eigene Analysen vermögen hier zu ergänzen, dass durch das ›Gestell‹ der Blick erst auf das ›Ereignis‹ falle – und die Messung des Ereignisses steht gewissermaßen der unmittelbaren Erfahrung gegenüber, welche statt sich punktuell zu ereignen, sich in der Dauer

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11. Emanzipation der Zahlen

ausdehnt: »Im wechselweisen Sichstellen von Mensch und Sein hören wir den Anspruch, der die Konstellation unseres Zeitalters bestimmt« (Heidegger 1957, 27f.). Die Mathematisierung der Naturwissenschaf­ ten wird so zum Prozess der Idealisierung, die sich mit Husserl als »Krisis der Wissenschaften« bezeichnen lässt: »reality is believed to contain, embody, and conceal a mathematical structure« (Gurwitsch 1974, 35). In Husserls Worten: »Mit den qualitativen Unterschieden gehen in gewisser Weise im rohen Hand in Hand quantitative. In der quantitativen Sphäre, in dem Bereich der Extension, drückt sich alles Wahre aus« (Hua VI, 284). Der Begriff »Limesidealisierung« (ebd., 288) beschreibt dementsprechend, dass die mathematisierende Weltanschauung der Wissenschaft das Idealbild der Welt als durch quantifizierbare Gesetze eindeutig bestimmten konstruiert: Man operierte im exakten Ideendenken mit Idealbegriffen der Unver­ änderlichkeit, der Ruhe und der qualitativen Unveränderlichkeit, mit Idealbegriffen der Gleichheit und des Allgemeinen (der Größe, Gestalt), das in beliebig vielen ideal unveränderten und so qualitativ identischen Exemplaren absolute Gleichheiten ergibt, man baute jede Veränderung aus Phasen auf, die wie momentane exakte Unverände­ rungen mit ihren exakten Größen etc. angesehen wurden (ebd., 291).

Hier eint sich die erkenntniskritische Perspektive der Phänomenolo­ gie mit dem Anti-Intellektualismus Bergsons. Indes, die voraussetzungsreichen Messungen bloß skeptisch zu betrachten, ist allzu leicht und führt zu einer geisteswissenschaftli­ chen Isolation. Deswegen ist es wichtig, Geigers grundsätzliche Ehr­ furcht gegenüber den Möglichkeiten mathematisierender Verfahren in den Wissenschaften zu bewahren. Es darf nicht darum gehen, sich das gewaltige Potenzial der arithmetischen Transformationen zu versagen, sondern seine Verwendung zu rechtfertigen und im Zuge der Anwendung seine eigentliche Bedeutung nicht zu verlieren.

11.2 Bedeutung der Analyse für den vierten Programmpunkt Erst wenn die phänomenologische Psychologie von der Kritik der Metrisierung und Mathematisierung zu ihrer Anerkennung über­ geht, ist ein produktiver Dialog mit der Experimentalpsychologie

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11.2 Bedeutung der Analyse für den vierten Programmpunkt

möglich, denn diese ist in ihrer zeitgenössischen Ausprägung wesent­ lich Mosaik ziselierter Einzelmethoden und profitiert nicht von rein geisteswissenschaftlichen Antireduktionismen. Diese Anerkennung muss jedoch als die Entwicklung einer phänomenologischen Mess­ theorie durchgeführt werden, die nicht als Fortsetzung der gegen­ wärtigen methodologischen Tendenzen der Psychologie missverstan­ den werden darf. Weil selbst die wissenschaftlich standardisierte Psychologie in der Erzeugung und Interpretation von Messungen auf eine – zumeist in ihren Fundamenten nicht reflektierte – Mess­ theorie fußt, kann die Phänomenologie die Bedeutung aller experi­ mentellen Methoden durch den Blick auf ihre Struktur erhellen und ihren originären Bezug auf die Erfahrung und deren präreflexive, z.B. lebensweltliche, Verfassung wiederherstellen. Die Bedeutung der Messung darzustellen wird somit zur zwiefältigen Perspektive, sowohl den Zusammenhang der Messung mit deren qualitativem Gehalt zu erschließen als auch die Entwicklung der Messungen selbst methodologisch voranzutreiben. Das resultierende Desideratum ist eine phänomenologische Messtheorie.

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In dem Verhalten, das die Prägung eines Spielraums durch die leben­ dige Einstellung eines Subjekts zu seiner Lage ausdrückt, scheint der Sinn hervor, der mehr als den Nutzen einer Lösung intendieren kann – der auf Werte gerichtet sein kann, die jenseits der utilitarischen Determination liegen. Es ist Die Struktur des Verhaltens (MerleauPonty 1942), die gegenüber dem bloß aktuellen Anlass der sie aktuell manifestierenden psychischen Tatsachen gleichgültig für den lebens­ immanenten Zusammenhang ist. Diese Struktur zum Gegenstand der Experimentalpsychologie zu machen, ist der Sinn der Erneuerung der phänomenologischen Psychologie. Das Erlebnis eines situativen Sinngefüges ist der Ausgangs­ punkt für die Untersuchung der gesamten phänomenalen Fülle im Bereich des Psychischen. Sobald die Begriffe der Psychologie auf eine detailliertere und weniger von Präsuppositionen abhängige Weise verstanden werden, wird die Integration weiterer Sinnfelder unter den Gesichtspunkt ihrer situativen Bedeutsamkeit möglich, ohne den Nimbus einer Einheitswissenschaft annehmen zu müssen, die nach dem Vorbild der Physik nach einer formalen Integration strebt und so die Bedeutung der konkreten Erfahrung preisgibt. Vielmehr ist es die phänomenologische Psychologie, mit der sich theoretische Psy­ chologie als eine »Systematik der Kontroversen« (Fahrenberg 2015) zu denken gestattet77. Die Erneuerung der phänomenologischen Psy­ chologie dient also nicht der Begünstigung einer spezifischen Form psychologischer Phänomenologie, sondern der Zusammenführung des innerphänomenologischen mit dem psychologischen Diskurs zur Förderung eines theoretischen und methodologischen Pluralismus. Das Programm der Erneuerung der phänomenologischen Psy­ chologie appelliert an die forschenden Psychologinnen und Psycholo­ gen, sich einem Projekt anzuschließen, das ohne den Hochmut, eine reine Geistes- oder Naturwissenschaft zu sein, gelingen kann. Aller­ dings ist die Überwindung der etablierten Denkschemata nicht der 77

Hierzu Wendt und Funke (2022).

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Weg des Kompromisses. Diejenigen Forschungsarten, die die Fülle der psychischen Phänomene verkennen, müssen klar in die Kritik genommen werden. An dieser Stelle ist zuvörderst der Pragmatismus infrage gestellt worden. Auch Schütz, der seinerseits nicht frei von pragmatischen Inspirationen war, hat die fundamentale Einschrän­ kung gesehen, die durch den Pragmatismus droht: »Der radikale Pragmatist nimmt das System der Um-zu-Relevanzen fraglos hin, denn daraus besteht der Lebensplan, um dessentwillen und durch den wir mit der Umwelt zurechtkommen. Für ihn ist es eine Art des nicht zugegebenen Apriori« (Schütz 1982, 169). Diese teleologische Grundhaltung korrespondiert mit dem sen­ sus communis und hat in der Experimentalpsychologie zur Verkür­ zung der Forschung geführt. Hellsichtige empirische Psychologinnen und Psychologen sehen bereits seit Jahrzehnten, dass hierin eine Schwächung der Disziplin besteht.78 Sie ahnen, dass die phänomenale Tiefe der Phänomene zu erforschen nach einer methodologischen Öffnung verlangt: Der Pragmatismus ist deshalb keine Philosophie, die sich mit der Totalität der menschlichen Existenz befaßt, sondern eine Beschreibung unseres Lebens auf der Ebene der unbefragten ausgezeichneten Wirk­ lichkeit. Er ist eine Typifizierung und Idealisierung unseres Seins in einer Welt, die in jeder Hinsicht mit Ausnahme unseres Interesses im ›Lebensgeschäft‹ als fraglos gegeben hingenommen wird (Schütz 1982, 169f.).

Anstelle einer weltanschaulichen Limitation der Forschung auf Kon­ sequenzen, Nutzen und Ziele offeriert die phänomenologische Psy­ chologie die Besinnung auf die Bedeutung des im Erleben gründen­ den Verhaltens. Dieser Schritt ist nicht als Ergänzung zu verstehen, sondern als eine Neuinterpretation der bereits verfügbaren Ergebnisse. In diesem Sinne führt die Bewegung der Erneuerung die experimental­ psychologische Forschung an einen neuen Anfang, der die bisherigen Errungenschaften zwar nicht annulliert, doch einen neuen Horizont eröffnet, vor dem sie sich bewähren müssen. Es gilt, die Ehrfurcht vor der lebendigen Fülle zu restaurieren. Ehrfurcht ist dabei weder die kühle Distanz der Naturwissenschaft noch die leidenschaftliche Nähe der Geisteswissenschaft: »Die Ehrfurcht dagegen ist die ›überaktuelle‹ 78 Beispielsweise im Feld der Problemlösungsforschung Getzels (1982), Quesada, Kintsch und Gomez (2005), Ohlsson (2012) sowie Funke (2014).

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Abschluss

Haltung, die bleibt, wenn die erste Erregung des Staunens verklungen ist« (Wolff 1935, 32). Sie ist »ein Sehen, welches das erste Sehen des Staunens, in liebender Hingabe freilich an das Geschaute, weiterführt und vollendet« (ebd., 34). Der Ausblick dieses Ansatzes ist der lebendige phänomenolo­ gisch-psychologische Diskurs mit seinen Hinsichten der Empirie, Theorie und phänomenologischen Besinnung auf die ursprüngliche Erfahrung. Unter der Maßgabe des vorgestellten Programms ist die Priorität forschungspraktisch die Empirie. Im Mittelpunkt dieser Forschung soll jedoch letztlich nicht die Methodologie, sondern allein der Gegenstand stehen.

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