165 53 138MB
German Pages 576 [581] Year 2014
Studien des Zentrum Moderner Orient Herausgegeben von Ulrike Freitag
A Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.
Britta Frede
Die Erneuerung der Tigäniya in Mauretanien Popularisierung religiöser Ideen in der Kolonialzeit
Studien 31
ES
KLAUS SCHWARZ VERLAG-BERLIN
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie - detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. D 188
Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. Studien, herausgegeben von Ulrike Freitag Kirchweg 33 14129 Berlin Tel. 030 / 80307 228 www.zmo.de
© Klaus Schwarz Verlag Berlin Alle Rechte vorbehalten Erstauflage 1. Auflage 2014 Satz und Layout: textintegration.de Einbandgestaltung: Jörg Rückmann, Berlin Abbildung: Saihänis Moschee in Baraina, 2007, Foto: Britta Frede
Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISBN:
978-3-87997-716-1
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
Für meine Tochter Anna-Amina
7
Inhaltsverzeichnis
Kartenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Fotoverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Anmerkung zur Transkription und zur Zitierweise Danksagung
13 14 14 16 17 21
Einleitung
23
Zum Forschungsfeld Sufismus Forschung zum Sufismus in Mauretanien Fragestellung und Aufbau Die Quellen Terminologie I: Was ist ein Idaw 'All? Terminologie II: Was ist eine tarïqa? Die Entwicklung der turuq im maurischen Lebensraum
26 31 35 41 45 49 53
1. Historischer Rückblick: Das S u f i - Z e n t r u m d e r Häfizlya im Li'gul
61
Die Hâfizïya in der Sekundärliteratur 66 Die Quellen zur Hâfizïya 70 Entwicklungsphasen der Häfizlya 75 Die Anfänge der Hâfizïya: Das Sufi-Zentrum im Zelt 78 Die Ahl at-Tulba: Saihänis Familie 84 Herausforderung I: Die tribale Neuordnung in der Qibla 91 Herausforderung ü: Die Etablierung von Scheich Sïdlyâ al-Kabir ....92 Herausforderung DI: Der Erfolg der 'Umarïya 96 Die Etablierung der Häfizlya bei den Idaw cAlï im Tagant und Adrar 99 Die Hâfizïya nach 1847/48 (1264h): Eine doppelte Führungsspitze 104 Die Gabe als Grundlage der Bündnisbildung im Li'gul 107 Gabe I: Frömmigkeitsgaben und die Produktion hierarchischer Ordnung 110 Gabe II: Die Brautgabe als Ausdruck von Egalität 120
8
Gabe DI: Die Schülergabe als Streben nach Kohärenz Kooperation und sozialer Aufstieg: Die Ahl Baddi Die Verbreitung der Häfizlya südlich der Sahara: Die Ahl Fäl Die Verbindung zu Marokko: Die Ahl Abbäh Zusammenfassung: Die tariqa gestaltet die soziale Ordnung der qabila 2. Grundkonzeptionen der Erneuerungsbewegung: faida, tarbiya und gadb
124 129 135 141 143
147
Die Quellenauswahl 149 Was ist faida? 151 Die verschiedenen Bedeutungsebenen des/aida-Konzeptes 155 Überlieferungen zum sähib al-faida in der Tigänlya des westlichen Sahara-Sahel-Raumes 159 Der sähib al-faida als Retter des Glaubens 160 Die unklare Position des sähib al-faida I: Das turgumän-Modell.. .165 Die unklare Position des sähib al-faida ü: Die haqiqa-Debatte 168 Der Begriff tarbiya in der Tradition maurischer Sufi-Bewegungen. 175 Was ist tarbiya? 180 Die tarbiya in der Literatur der Tigänlya 184 Die drei Stationen des Häfizlya-Pfades nach cUbaida b. Anbügä ...187 Station I: isläm 191 Station D: imän 193 Station DI: ihsän 195 Das Pfadmodell von Ibrählm Niasse 199 Vom sälik-sä'ir-Modell zum gadb-sulük-Modell 203 Was ist gadb? 205 Die gadfc-Erfahrung bei der Häfizlya 207 Zum Verhältnis der Begrifflichkeiten faida, tarbiya und gadb 209 Zusammenfassung: Die Wiederherstellung der verloren geglaubten Dynamik 214 3. Einrichtungsstrategien religiöser Akteure im kolonialen Mauretanien: Die Häfizlya
219
Differenzbetonung als Herrschaftsstrategie: Die »politique des races« Kolonialisierung als Kulturprojekt
222 225
9
Die Entstehung der Kolonie Mauretanien 231 Z u m Verhältnis von politischer Macht und religiöser Autorität ....236 Transformation des religiösen Feldes I: Die Stärkung autoritätsorientierter Sufi-Bewegungen 243 Koloniale Wissensproduktion und die Entstehimg von Handlungsmöglichkeiten 246 Die Akteure der Häfiziya richten sich ein: Die Affäre »Scheich Hamälläh« 250 Transformation des religiösen Feldes H: Politisierung 254 Z u m Begriff »islamische Öffentlichkeit« 257 Transformation des religiösen Feldes DI: Die Erweiterung der islamischen Öffentlichkeit 260 Reaktionen auf die militärische Eroberung 262 Die »Idaw 'Ali aus Méderdra« als marabout secondaire 269 Zwei Strategien der Einrichtung in den 1930er Jahren: Muhammad at-Tulba und Hamiyin 273 Die neue Raumordnung: Mauretaniens Einbindung in Französisch-Westafrika 280 Das »Wunder«: Ein »saih al-küri« als sähib al-faida 284 Zusammenfassung: Verschiedene Einrichtungsstrategien der Häfiziya 288 4. Etablierungsphase: Die/a/c/a-Bewegung im Tagant
291
Die ersten Adepten der /aida-Bewegung im Li c gul Periodisierung der maurischen /aida-Bewegung Quellen zur Etablierungsphase im Tagant: Briefe, mündliche Überlieferungen und die hagiografische Aufarbeitung Saihänis Kindheit und Jugend: Ausbildung und göttliche Vorherbestimmung Die Umkehr der etablierten Ordnung und das Kontinuitätsargument Die Rückkehr aus Kosi: Erste Reaktionen der Häfiziya Die Sorge u m die Autorität des sanad hâfizï Saihänis sanad oder die »goldene silsila« Saihänis Vater wird halïfa Saihänis erste Erfolge
291 294 295 299 302 305 308 311 312 314
10
Gewalt und soziale Transformation im kolonisierten Tagant Spannungen zwischen der Kolonialverwaltung und den Bewohnern von Tidjikja Die Idaw cAll Tagant: Palmenhaine und Geschäfte Saihänis Tagant-Reisen Koloniale Lebenswirklichkeit und islamische Frömmigkeit Die »verderbte Zeit« und das »Jahr der faida« Kritik an der faida I: Mystische Exzesse Topoi der Unreinheit Kritik an der faida II: Der zu junge Scheich Die Reaktion der lokalen Beamten auf die Regelverstöße der /aida-Bewegung Die /aida-Bewegung als antikolonialer Widerstand: Ein Augenzeugenbericht Die /aida-Bewegung als antikolonialer Widerstand: Die hagiografische Positionierung Zusammenfassung: Erneuerung durch Kontinuität 5. Spaltungstendenzen im Li'gul: Die soziale Dynamik der/a/c/a-Praxis
316 319 321 326 330 332 336 339 345 346 349 356 360
365
Quellen für die Expansions- und Konsolidierungsphase 367 Reaktionen auf die /aida-Bewegung im Li'gul 373 Berichte von gadè-Erfahrungen in der Gemeinde von Saihäni 379 Die Ausdrucksformen der magädib 385 Der gadb während der dikr-Sitzung: Beobachtungen in Baraina 2009 386 Der gadb als Schwellenzustand 391 Der gadb als individuelle und kollektive Erfahrimg 394 Ibrahim Niasse besucht Licgul 397 Ibrahim Niasses Li'gul-Reise nach dem ar-Rihla al-Kannärlya 399 Ibrahim Niasses Li'gul-Reise nach der Schilderung von Mariyam bt. an-Nahwi 402 Die faida-Bewegang als weibliche Emanzipationsbewegung? 404 Aufruf zur Zurückhaltung der Adeptinnen im öffentlichen Raum 408 Das Recht der Frau auf ungehinderte Ausübimg religiöser Praxis ...412 Frauenengagement bei der Verbreitung sufischer Bewegungen ....416 Ibrahim Niasse bekundet seinen Respekt gegenüber der Häfizlya ...419
11
Das Bündnis von Ibrahim Niasse mit der Tulba-Familie Ausschreitungen in R'kiz Zusammenfassung: Subjektivierung als Kennzeichen der religiösen und sozialen Transformation 6. Konkurrenz und Sedentarisierung: Die Konsolidierung der/a/cfa-Bewegung im Li'gul Expansion der maurischen fa ida-Bewegung und die Entstehung interner Spannungen I: Muhammad al-Amln b. Sldlnä Expansion der maurischen /aida-Bewegung und die Entstehung interner Spannungen II: Muhammad al-Misri Saihäni verliert seine Führungsposition in der maurischen /aida-Bewegung Vielfalt der maurischen faida-Bewegung Gesellschaftlicher und politischer Wandel während der Unabhängigkeitszeit Zum Verhältnis von qabila und tariqa bei den zwäya Sedentarisierung im Li'gul: Entstehung der notwendigen Infrastruktur Die Gründung von Ma'ta Moulana Die Gründung von Baraina Die Sufi-Scheiche des Dorfes als »Helden des Alltags« Trotz Sedentarisierung - die Dynamik bleibt erhalten Zusammenfassung: Zwischen qabila und tariqa Eine Erneuerungsbewegung konsolidiert sich
421 425 428
433 435 440 442 443 445 449 452 460 461 467 475 478
Fazit: Die tariqa als dynamische Gestaltungskraft religiöser Transformationsprozesse
483
Anhang
496
Liste der verwendeten Briefe in chronologischer Reihenfolge Briefe ohne Datum Tabellarische Auswertung der Briefe nach Zeitraum und Adressaten Tabellarische Auswertung der Briefe nach Zeitraum und Themen
496 501 504 506
12
Tabellarische Auswertung der Zeitzeugeninterviews Auszug aus Kassette 1 Saihäni - Seite A Biografische Notiz zu Muhammad al-Amin b. Sldinä
508 510 511
Quellen- und Literaturverzeichnis
515
Unedierte arabische Quellen Edierte arabische Quellen Audio- und Videoquellen Interviews Französische Kolonialakten Publikationen Unveröffentlichte Vorträge und Dissertationen Internetressourcen Nachschlagewerke
515 515 517 518 524 528 543 545 546
Index
547
Glossar
559
Termini Gruppenbezeichnungen Alias-Namen Orts- und Regionsbezeichnungen
559 566 570 572
13
Kartenverzeichnis Die Karten sind, sofern nicht anders angegeben, Eigenanfertigungen auf der Grundlage folgender Dokumente: - Mauretanien: topographische Karten für TTQV 2.5, Maßstab 1.200.000, München, Därr, 2002. - Bouron, Chef de Poste de Mauretanie, illustration et cartes de Maurice Bouron, Paris, Société de journaux et publications du centre 1946. - Charles Toupet, La sédentarisation des nomades en Mauritanie centrale sahélienne, Paris, Champion 1977. - République Islamique de Mauritanie/ Ministère de l'Intérieure des Postes et des Télécommunication, Rapport Préliminaire: Ville de Bareina, Nouakchott, Juin 2005. Alle Rechte vorbehalten. Karte I Karte II Karte 1.1 Karte 1.2. Karte 3.1. Karte 3.2. Karte 3.3. Karte 4.1. Karte Karte Karte Karte
5.1. 6.1. 6.2. 6.3.
Mauretanien (Bouron, 1946) Die Verbreitung der Idaw 'All im maurischen Lebensraum Die Verbreitung der Tigäniya im maurischen Lebensraum (19. Jahrhundert) Für die Geschichte der Häfizlya relevante Orte im Li'gul und Ard Tandagä Französische Kolonien in Nord-, West- und Zentralafrika Französisch-Westafrika Der »Marsch nach Norden« Die Verbreitung der Idaw 'All innerhalb und außerhalb des Tagants nach 1920 Die Reiseroute von Ibrahim Niasse 1952 Die Sedentarisierung im Li'gul Baraina vor 1973 Baraina heute
22 48 63 80 229 230 235 324 401 459 464 465
14
Abbildungsverzeichnis Alle hier verzeichneten Abbildungen sind von mir erstellt worden. Alle Rechte vorbehalten.
Abb. I Abb. II Abb. 1.1. Abb. 1.2. Abb. 1.3. Abb. 1.4. Abb. 1.5. Abb. 1.6. Abb. 2.1. Abb. 2.2. Abb. 2.3. Abb. 5.1. Abb. 5.2.
Überblick zu den turuq im maurischen Lebensraum . .56 Die maurische tariqa Tigänlya 57 Der Führungskreis der Häfizlya im Licgul 64 Die Entwicklung der Häfizlya im Li'gul, 1806-1905 ...72 Die Söhne der Ahl at-Tulba 88 Die dritte Generation der Häfizlya im Li'gul: Die Ahl at-Tulba vergrößern ihren Handlungsraum 102 Drei Beispiel für Brautgaben bei den Ahl Baddi und Ahl at-Tulba 122 Die Rolle der Ahl Fäl bei der Verbreitung der Tigänlya im Senegal 139 Das sälik-sä'ir-Modell von 'Ubaida b. Anbügä 189 Das Modell gadb f i s-sulük von Ibrählm Niasse 201 Das Modell sulükfi l-gadb von Ibrählm Niasse 202 Die Tigänlya im Licgul nach 1945 378 Überblick zu den erwähnten Frauen im ar-Rihla al-Kannänya 406
Fotoverzeichnis Sofern nicht anders vermerkt, sind die Fotos von mir. Alle Rechte vorbehalten.
Foto 1.1. Foto Foto Foto Foto
1.2. 1.3. 2.1. 3.1.
Foto 4.1.
Die Grabstätte von Ahmad at-Tigäm [1737-1815] in Fes, 2009 60 Blick auf den Friedhof in Jarraria, 2009 133 Die Grabinschrift der Ahmadain in Jarraria, 2009 ....134 Ein Porträt von Ibrählm Niasse [1900-1975] 146 Das verlassene Grab von Xavier Coppolani in Tidjikja, 2007 233 Saihäni als junger Scheich 293
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Abbildungsverzeichnis Alle hier verzeichneten Abbildungen sind von mir erstellt worden. Alle Rechte vorbehalten.
Abb. I Abb. II Abb. 1.1. Abb. 1.2. Abb. 1.3. Abb. 1.4. Abb. 1.5. Abb. 1.6. Abb. 2.1. Abb. 2.2. Abb. 2.3. Abb. 5.1. Abb. 5.2.
Überblick zu den turuq im maurischen Lebensraum . .56 Die maurische tariqa Tigänlya 57 Der Führungskreis der Häfizlya im Licgul 64 Die Entwicklung der Häfizlya im Li'gul, 1806-1905 ...72 Die Söhne der Ahl at-Tulba 88 Die dritte Generation der Häfizlya im Li'gul: Die Ahl at-Tulba vergrößern ihren Handlungsraum 102 Drei Beispiel für Brautgaben bei den Ahl Baddi und Ahl at-Tulba 122 Die Rolle der Ahl Fäl bei der Verbreitung der Tigänlya im Senegal 139 Das sälik-sä'ir-Modell von 'Ubaida b. Anbügä 189 Das Modell gadb f i s-sulük von Ibrählm Niasse 201 Das Modell sulükfi l-gadb von Ibrählm Niasse 202 Die Tigänlya im Licgul nach 1945 378 Überblick zu den erwähnten Frauen im ar-Rihla al-Kannänya 406
Fotoverzeichnis Sofern nicht anders vermerkt, sind die Fotos von mir. Alle Rechte vorbehalten.
Foto 1.1. Foto Foto Foto Foto
1.2. 1.3. 2.1. 3.1.
Foto 4.1.
Die Grabstätte von Ahmad at-Tigäm [1737-1815] in Fes, 2009 60 Blick auf den Friedhof in Jarraria, 2009 133 Die Grabinschrift der Ahmadain in Jarraria, 2009 ....134 Ein Porträt von Ibrählm Niasse [1900-1975] 146 Das verlassene Grab von Xavier Coppolani in Tidjikja, 2007 233 Saihäni als junger Scheich 293
15 Foto 4.2. Foto 5.1. Foto 5.2. Foto 5.3. Foto 5.4. Foto 5.5. Foto 5.6. Foto 5.7. Foto 5.8. Foto 5.9. Foto 5.10. Foto 5.11. Foto 5.12. Foto Foto Foto Foto Foto Foto Foto Foto Foto
6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 6.8. 6.9.
Blick auf den Platz der faida »Zirat al-Aqärib« bei Gandal, 2008 333 Zeitzeugeninterview mit A'mär b. Mau [geb. 1926] in Nouakchott, 2009 369 Ami bt Saih [geb. 1946] in Nouakchott, 2009 369 Zeitzeuge und Scheich der Tigänlya Mahfüd b. öiyid [geb. um 1923] in Atar, 2009 369 Zeitzeugeninterview mit Adeptinnen von Saihäni in Atar, 2009 370 Farfar b. Maulüd [geb. um 1940] - Adept und Viehirte von Saihäni, Baraina 2009 370 Zeitzeugeninterview mit 'Aisa bt. al-Häfiz [geb. um 1950] in Baraina, 2009 370 Muhammaddü b. 'All Ahmad [geb. um 1924], Baraina 2009 371 Issilmü b. Limräbut [geb. um 1940] wurde 1974 Adept von Saihäni, Baraina 2009 371 Imrayam bt. At-Tabü [geb. um 1930] Adeptin von Saihäni, Baraina 2009 371 Saihänis Vertraute Imbat bt. at-Tälib Ahmaddü [geb. um 1930] aus dem Tagant, Baraina 2009 372 Zeitzeuge Sayidnä 'Ali [geb. um 1930] wurde 1964 in die /aida-Bewegung initiiert, Baraina 2009 372 Waddü b. HarsI [geb. in den 1930ern] aus Chinguetti wurde 1946 Adept von Saihäni, Atar 2009 372 Porträt von Saihäni aus den 1980ern 434 Blick auf Lac R'kiz, 2009 455 Blick auf Ma'ta Moulana, 2009 460 Saihänis Haus in Baraina, 2007 473 Saihänis Mausoleum in Baraina, 2009 474 Moschee von Boubacar, 2008 477 Moschee von Ribat, 2008 478 Das Grab von Saihäni in Baraina, 2009 480 Saihänis Söhne 482
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Abkürzungsverzeichnis AJIS ALS ANS ANM ASSR AT b.
American Journal of Islamic Studies African Language Studies Archive National du Senegal, Dakar Archive National du Mauritanie, Nouakchott Archives de Sciences Sociales des Religions Africa Today ibn (hocharabisch), bedeuted: Sohn von; Namensbestandteil, der im Hassäniya meist durch «wuld» bzw. «üld» ersetzt wird; im Französischen in der Regel «Ould» geschrieben BCEHSAOF Bulletin du Comité Historiques et Scientifiques de PA.O.F. BSOAS Bulletin of the School of Oriental and African Studies bt. bint (hocharabisch), bedeutet: Tochter von; Namensbestandteil, der im Hassäniya meist durch «mint» ersetzt wird; im Französischen in der Regel «Mint» geschrieben CAOM Centre d'Archivé Outre Mer, Aix-en-Provence CEA Cahiers d'Etudes Africaines EI Encyclopaedia of Islam ES Economy and Society GAL Brockelmann, Carl. Geschichte der arabischen Literatur. Zweite den Supplementbänden angepasste Auflage. Leiden: Brill 1943; Supplementbände I-IQ. Leiden: Brill 1937-1942. h higrï; Zeitangabe nach dem islamischen Mondkalender IMRS Institut de Recherche Scientifique, Nouakchott IJMES International Journal of Middle East Studies ISSS Islam et Sociétés au Sud du Sahara JAH The Journal of African History JRA Journal of Religion in Africa MW The Muslim World RMM Revue du Monde Musulman RSO Revista degli Studi Orientali SAJHS Sudanic Africa. A Journal of Historical Sources ZWG Zeitschrift für Weltgeschichte
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Anmerkung zur Transkription und zur Zitierweise Die Transkription arabischer Namen und Begriffe richtet sich nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG). Abweichende Konventionen gelten lediglich in Bezug auf die Präpositionen bi und Ii und fa, diese werden durch einen Bindestrich mit dem nachfolgenden Wort verbunden. Das anlautende »a« des Artikels und bei »Allah« entfällt, wenn dem determinierten Nomen ein Langvokal vorausgegangen ist. Auf ein Apostroph wird verzichtet. Sonnen- und Mondbuchstaben werden berücksichtigt (as-sams, alqamr). Für Diphthonge gilt die Schreibweise »ai« beziehungsweise »au« (faida, fauda). Literaturtitel werden in Pausalform wiedergegeben, ebenso die verwendeten arabischen Termini. Lediglich der status constructus wird bei ta'mabuta-Endungen durch ein auslautendes »t« angezeigt (Bugiyat al-mustafid). Bei längeren Zitaten wird der wiedergegebene Text vollständig vokalisiert. Für die Schreibweise von Personen-, Orts- und Ländernamen sowie Regions-, und Gruppenbezeichnungen gelten folgende Regeln: Personennamen, die eine eindeutig arabische Einordnung ermöglichen, werden entsprechend den Regeln der DMG transkribiert. Eigenheiten des lokalen gesprochenen Dialektes Hassänlya werden dabei übernommen. So schreibe ich beispielsweise »Limräbut« anstatt »al-Muräbut«. Endet ein Name auf einen Langvokal, so verdoppelt sich der letzte Konsonant, z.B. »Ahmaddü« statt «Ahmad(u)». Eine Ausnahme stellt der Fall »Muhammdl« dar, hier entfällt bereits der Kurzvokal vor dem «d», deswegen wird hier der letzte Konsonant nicht verdoppelt. Ebenso werden zahlreiche Namen mit oder ohne Nunation ausgesprochen; so schreibe ich beispielsweise »Fätimatu« oder »Fätma« oder »Fätima« je noch lokaler Aussprache. In den geschriebenen Quellen existiert sowohl eine Schreibweise, die sich an die lokale Aussprache angepasst hat als auch die im Hocharabischen übliche Orthografie. Deswegen sind Verwechslungen zwischen verschiedenen Personen leicht möglich, selbst innerhalb eines Textes können verschiedene Schreibweisen für eine Person vorkommen. Um Fehler diesbezüglich zu vermeiden, erwies sich die ergänzende mündliche Überlieferung als hilfreich.
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Bekannte Persönlichkeiten haben in der Regel mindestens einen weiteren Rufnamen, der zum Geburtsnamen hinzukommt. So wird Muhammad al-Häfiz Sohn nach seiner Geburt »Ahmaddü« genannt, später aber »Manna« gerufen. Dieser Rufname findet sich nun ebenso in den arabischen Quellen wie der Geburtsname, deswegen habe ich bei bekannten Rufnamen diese als Hauptnamen verwendet und nur bei der Erstnennung einer Person den vollständigen Personennamen angegeben. Titel, wie beispielsweise »Saih«, können sowohl einen Titel als auch einen Eigennamen bezeichnen. Im Zweifelsfalle habe ich solche Titel als Namensbestandteil mit übernommen. Die lokal verwendeten Bezeichnungen wie »mint« statt »bint« oder »üld« statt »ibn« habe ich nicht übernommen, da sie in den von mir verwendeten Schriften in der Regel nicht vorkamen. Anders bei zeitgenössischen Autoren, die in europäischen Sprachen publizieren, hier wurde Ould für »üld« oder Mint für »bint«, je nach Eigenreferenz übernommen. Personennamen nichtarabischer Herkunft werden so wiedergegeben, wie die Leute sich selbst in lateinischer Schrift schreiben. Bei gemischten Namensgebungen wird eine gemischte Schreibweise verwendet, beispielsweise »Ibrâhîm Niasse« statt »Ibrahim Niyäs« oder »Ibrahim Niasse«. Regionsbezeichnungen und Ortsnamen folgen in der Regel nicht den Transkriptionsregeln, sondern richten sich nach den im Deutschen üblicherweise verwendeten oder bei weniger bekannten Orten, der auf den Landkarten zu findenden Orthografie. Ausnahmen bilden Orte, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind und auch heute nicht mehr existieren, wie beispielsweise die vor 1960 häufig besuchte Wasserstelle »al-cAin«. Ländernamen werden im Deutschen wiedergegeben, so auch die Kolonien, wie beispielsweise »Französisch-Westafrika« statt »Afrique-Occidentale Française«. Ebenso sind einige arabische Begriffe, die inzwischen Eingang in die deutsche Zeitungsliteratur gefunden haben nicht transkribiert, wie beispielsweise Kadi, Imam, Koran, Scharia, Sunna, Hadith, Jihad etc. Alle anderen arabischen Termini sind transkribiert, kleingeschrieben und kursiv gesetzt. Termini anderer sprachlicher Herkunft sind ohne Diakritika geschrieben und ebenfalls kursiv gesetzt.
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All diese Regeln sollen die Lesbarkeit des Textes erleichtern. Zur weiteren Unterstützung findet der Leser am Ende der Arbeit ein umfangreiches Glossar, das nach allgemeine Termini, Gruppenbezeichnungen, Alias-Namen sowie Orts- und Regionsnamen differenziert. Jahreszahlen werden in der Regel sowohl nach dem gregorianischen als auch nach dem islamischen Mondkalender angegeben. Die erste Zahl entspricht dem gregorianischen Kalender, die zweite dem ftigra-Datum. Wo nur eine Zahl steht, bezieht sie sich stets auf die gregorianische Zeitrechnung. Die zum 1. August 1998 in Kraft getretene Neuregelung der deutschen Rechtschreibung wird weder auf Zitate aus älterer deutschsprachiger Literatur angewendet noch auf autoreneigene Entscheidungen zur konsequenten Kleinschreibung. Auf die Übersetzung bei englisch- und französischsprachigen Zitaten wurde verzichtet. Längere arabische Zitate sind in der Regel in Transkription und deutscher Übersetzung wiedergegeben. Die Übersetzimg und Transkription ist von mir selbst angefertigt worden, sofern nicht anders vermerkt. Die in der Arbeit verwendete Zitierweise der Literaturangaben unterscheidet zwischen Quellenmaterial und Sekundärliteratur. Quellen werden in ihren lokal gebräuchlichen Kurztiteln zitiert. Lediglich beim ersten Mal wird in der Fußnote die komplette Literaturangabe mit einem Hinweis auf die folgende Kurzzitierweise vermerkt. Bei Handschriften werden die Manuskriptseiten mit einem vorangestellten »f« angegeben, bei Printmedien folgt dem Kurztitel die Seitenzahl als bloße Ziffer. Sekundärliteratur wird bei der ersten Zitation ebenfalls vollständig angeben, dann folgt jede weitere Angabe im Format: »Autor (Erscheinungsjahr der verwendeten Ausgabe), Seitenzahl.« Kolonialquellen werden folgendermaßen zitiert: »Archivabkürzung Archivierungsnummer, evtl. Dokumententitel, evtl. Seitenzahl.«
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Danksagung Dieses Buch ist eine Überarbeitung meiner Dissertationsschrift, die im September 2011 mit dem Titel Zwischen Kontinuität und Erneuerung: Saihäni (Ahmad Mahmüd b. Muhammad at-Tulba alias Mannabba, 1907-1986) und die Geschichte der Tigäniya in Mauretanien am Beispiel der faida-Bewegung von Ibrahim Niasse (1900-1975) an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Geschichts-und Kulturwissenschaften eingereicht wurde. Die Frauenbeauftragte des Fachbereichs verlieh der Verfasserin im Februar 2014 für die Schrift den Hedwig-HintzeFrauenförderpreis. Mein Dank geht an zahlreiche Institutionen und Personen, die mir vom Beginn meiner Forschungsarbeit im Mai 2006 bis zur Fertigstellung des Buchmanuskripts im Januar 2014 unterstützend zur Seite gestanden haben. Namentlich erwähnen möchte ich: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Zentrum Moderner Orient, Berlin (ZMO) Prof. Dr. Ulrike Freitag (ZMO; Freie Universität Berlin) Prof. Dr. Baz Lecocq (Universität Gent, Belgien) Prof. Dr. Rüdiger Seesemann (Universität Bayreuth) Prof. Dr. Ulrich Rebstock (Universität Freiburg) Prof. Dr. Joseph Hill (University of Alberta, Edmonton, Kanada) Prof. Dr. Mohammadou Ould Mohameden Meyine (Universität Nouakchott, Mauritanien) Dr. Benjamin F. Soares (ASC, Leiden, Niederlande) Dr. Katharina Lange (ZMO) PD Dr. Nora Laß (ZMO) PD Dr. Steffen Wippel (ZMO) Dr. Tabea Scharrer (MPI Halle) Dr. Sophie Wagenhofer (ZMO) Muhammad al-Häfiz b. Saihäni (Baraina, Mauretanien); Saih Ahmaddü b. Muhammad al-Häfiz (Nouakchott, Mauretanien); Muhammad b. cAbd al-Qädir (Nouakchott, Mauretanien); Sldl b. Sigäli (Chinguetti, Mauretanien); Doreen Teumer (ZMO); Svenja Becherer (ZMO); Thomas Laschinski; Conny Prugger; Karl-Heinz Frede; Helma Maria Frede.
22
Einleitung
1952 beschreibt Jaques Beyries, ehemaliger Gouverneur Lieutenant der Kolonie Mauretanien in Französisch-Westafrika [Sep. - Okt. 1936; Nov. 1938 - Mai 1944], die Lage des maurischen Sufismus als stagnierend. Diese Stagnation, so seine Argumentation, sei ein Vorbote des unausweichlichen Niedergangs dieser religiösen Strömung im Islam. Einer der Auslöser dafür sei in der Sicherheit zu suchen, welche die französische Besatzung in der Region erfolgreich hergestellt habe. Dadurch sei der Scheich in seiner Funktion als Schutzgebender überflüssig geworden. Außerdem habe es in Mauretanien seinerzeit an großen Persönlichkeiten gemangelt, die als Autorität eine breite Akzeptanz hätten erzielen können. Die Zunahme sufikritischer Positionen innerhalb des islamischen Gelehrtenmilieus habe ebenfalls das Verschwinden des Sufismus in Mauretanien beschleunigt. Diese Auflösungserscheinungen sufischer Strömungen, so endet sein Argument, würden sich insbesondere in dem zunehmenden senegalesischen Einfluss auf die maurischen Sufi-Bewegungen manifestieren. Dieser Einfluss habe das Erbe der großen maurischen Sufi-Persönlichkeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschädigt.1 Zu den „schädlichen, senegalesischen Einflüssen" zählte Beyries, neben der Ausweitung der Fadillya in den Senegal, vor allem den Einfluss von Ibrahim Niasse [1900-1975] auf die maurische Tigänlya.2 Ibrahim Niasse war der Stifter einer Erneuerungsbewegung, die
1 CAOM 1 Aff Pol 2158-3, Rapport de Mission sur la situation de l'Islam en I'AOF, 3 avril - 31 juillet 1952, J. Beyries (Gouverneur de la France d'Outre-Mer en retraite). 2 Ebd.
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Einleitung
anlässlich des Beginns der faida im Herbst 1929 im Saloum, einer Region im Senegal, entstand. Die fa ida-Bewegung verbreitete sich insbesondere im Laufe der 1950er Jahre in ganz Westafrika. 3 Unter dem Begriff »faida« wurde eine einmalige Emanation (faid) verstanden, die alle bisherigen in ihrer Intensität übertreffen werde. Diese Emanation glich, gemäß der Überzeugung ihrer Anhänger, einer „Flut göttlicher Gnade" 4 , die über das Prinzip der Ansteckung zahlreiche Muslime eine spirituelle Öffnung ( f a t h ) erfahren lasse, sie zu Adepten 5 der Tigänlya mache und sie so auf den »rechten Weg« des Glaubens zurückführen werde. In Mauretanien schlössen sich zahlreiche junge Mauren dieser Erneuerungsbewegung an, darunter auch Saihäni (Ahmad Mahmüd b. Muhammad at-Tulba alias Mannabba, 1907-1986). Sein Urgroßvater Muhammad al-Häfiz b. Muhtär [um 1758/59 (1172h) - 1831/32 (1247h)] hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts in Fes von Ahmad at-Tigäni persönlich in die Tigänlya initiieren lassen. Nach der Rückkehr von Muhammad al-Häfiz 1905/06 aus Marokko in die im Südwesten Mauretaniens gelegene Region Li'gul (Trarza) etablierte er die Tigänlya, die lokal auch unter der Bezeichnung Häfiziya bekannt wurde. Saihäni, der zum wichtigsten Pionier der Erneuerungsbewegung von Ibrähim Niasse in Mauretanien wurde, kam also aus einer etablierten maurischen Tigänlya-Familie aus dem Li'gul. Seine Familie galt nicht n u r als Begründer der Häfiziya, sondern gehörte zu den Idaw 'Ali, einer qabila (Stammesgemeinschaft), die sich sowohl einer anerkannten Gelehrtentradition rühmte als auch einer scharifischen Abstammung. Die Tatsache, dass gerade ein Sohn aus einer solch renommierten maurischen Häfiziya-Familie zum Missionar der Nias-
3 Zum Leben und Wirken von Ibrähim Niasse sowie der Entstehung, Etablierung und Expansion der faida-bewegung, siehe: R. Seesemann, Nach der «Flut»: Ibrähim Niasse (1900-1975), Sufik und Gesellschaft in Westafrika, Habilitationsschrift Universität Bayreuth/Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Januar 2004. Im Folgenden zitiert als: Seesemann (2004a); R. Seesemann, The Divine Flood: Ibrähim Niasse and the Roots of a Twentieth-Century Sufi Revival, New York 2011. Im Folgenden zitiert als: Seesemann (2011). 4 Seesemann (2004a; 2011) 5 Arabisch: muridün-, Sg.: murid; Hassänlya: talämid; Sg.: tilmid
25 se'schen /aida-Bewegung werden konnte, irritierte die französische Kolonialadministration. Die Entscheidung, sich als notabler Maure zu einem senegalesischen Sufi-Scheich zur Einweisung in die Tigänlya zu begeben, erweckte den Anschein, dass hier die etablierte Ordnung auf den Kopf gestellt werde. Schließlich galten die Idaw 'Ali, und darunter insbesondere Saihänis Familie, als diejenigen, denen das Verdienst zukam, die Tigäniya von Marokko im westlichen Sahara-Sahel-Raum verbreitet zu haben. In der Überlieferung der faida-Bewegang wird dieser Aspekt auf eigene Art und Weise betont. So heißt es in der 2007 herausgegebenen Hagiografie zu Saihäni, dass er auf seinen ersten Missionsreisen immer wieder mit dem Erstaunen der Menschen konfrontiert gewesen sei, die sich fragten, wie es nur sein könne, dass jemand so weit reise, um sich in dieselbe tariqa (sufischer Pfad) initiieren zu lassen, die bereits sein Urgroßvater nach Mauretanien gebracht habe.6 In senegalesischen mündlichen Überlieferungen zur faida-Bewegung dagegen wird die Tatsache, dass sich damals in den 1930er Jahren junge Mauren aus etablierten Familien in die Obhut eines Wolof-Scheichs begeben haben und somit das übliche Lehrer-Schüler-Verhältnis umkehrten, gerne als Wunder betont, welches die Wahrhaftigkeit der faida belege.7 Sowohl die Häfizlya, als auch die /aida-Bewegung etablierten sich in Mauretanien mehrheitlich bei den Mauren. Ihre Gemeinden sind ethnisch nicht gemischt, obwohl sich die /¿¡¿(¿a-Bewegung seit den 1950er Jahren im gesamten Westafrika etabliert hatte. Die hier vorliegende Abhandlung beschränkt sich aus praktischen Gründen auf maurische Akteure, da sich die ethnischen Trennlinien der mauretanischen Gesellschaft auch in der Herausbildung der religiösen Gemeinschaften widerspiegeln. Aus diesem Grund ließen sich im Rahmen dieses Forschungsprojektes keine Quellen zur Entwicklung der faida-Bewegung bei den mauretanischen Soninke, Halpular oder
6 AhmaddO b. as-Saihäni, Wamadät munlra fi haiyät imäm al-faida wa ttarlqat as-Saihäni b. as-saih Ahmaddü b. al-saih Muhammad al-Häfiz al-'AlawI at-Tigänl, Nouakchott 2007,124f. Im Folgenden zitiert als: Wamadät. 7 Seesemann (2004a), 363.
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Wolof sammeln. Ein solches Vorhaben hätte ein weiteres Forschungsprojekt notwendig gemacht und außerdem neben dem Arabischen und Französischen die Kenntnis weiterer Sprachen erfordert. Weiterhin gilt bei einer solchen Zielsetzung zu bedenken, dass die auf Rassismus basierenden Spannungen ein absolutes Tabuthema in Mauretanien darstellen, insbesondere seit den blutigen Ausschreitungen zwischen Mauren und Halpular Ende der 1980er Jahre. Fragen bezügliche der Beziehungen zwischen Sufi-Gemeinden der Mauren und denjenigen der Halpular, Soninke und Wolof werden somit nur mit großer Vorsicht und hervorragender Ortskenntnis behandelbar sein. Gerade für Sufi-Gemeinschaften wie die Tigäniya, die sowohl in der arabisch-berberisch dominierten Sahara als auch im subsaharischen Sahel verbreitet sind, stellen die anhaltenden ethnischen Spannungen ein ebenso herausforderndes Problem dar, wie der alltägliche festgefahrene Rassismus zwischen »weißen« Mauren und »schwarzen« Subsahariern. 8
Zum Forschungsfeld Sufismus Was in der eingangs erwähnten Anmerkung von Beyries zur Lage des Sufismus in Mauretanien zu lesen ist, enthält zahlreiche Grundannahmen, die sich in verschiedenen Varianten für lange Zeit in der Forschung zum Sufismus als sehr beständig erwiesen haben. Die Forschung zum Sufismus verzeichnet seit den 1990er Jahren einen enormen Zuwachs an Publikationen aus verschiedenen Disziplinen. Einige Arbeiten befassen sich dabei aus einer religions- oder literaturwissenschaftlichen Perspektive mit der Sufi-Literatur. Außerdem wurden Analysen der sozio-politischen Rolle der turuq (Sg.: tariqa; Sufi-Bruderschaft) in zeitgenössischen sowie historischen Zusam-
8 Zur Problematik der Beziehungen von Saharabewohnern mit den Sahelbewohnern und dem Diskussionsstand zum ethnisch basierten Rassismus der Region, siehe: B. Lecocq, Disputed Desert, Leiden 2010, 93-108. Im Folgenden zitiert als: Lecocq (2010). B. S. Hall. A History of Race in Muslim West Africa, 1600-1960, New York, 2011. Im Folgenden zitiert als: Hall (2011).
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menhängen verfasst. Schließlich sind noch Studien zur sufischen Praxis zu erwähnen, die in der Regel von Ethnologen vorgenommen worden sind.9 Mit der Zunahme an neuer Forschungsliteratur formulierte sich Kritik an den bis dahin erschienenen Arbeiten. Der erste Kritikpunkt wird beispielsweise von van Ess formuliert, wenn er darauf hinweist, dass bei der Erforschung des Sufismus bedacht werden müsse, dass zahlreiche Grundlagenstudien zu Sufi-Bewegungen Publikationen der Kolonialzeit seien. Diese haben zentrale Sufi-Begriffe häufig einseitig interpretiert, wie dies am Beispiel des Terminus räbita (Herzensbindung zwischen Scheich und Adept) deutlich werde, der häufig einzig und allein bezüglich seiner Machtaspekte analysiert werde.10 Worauf van Ess hier hinweist, ist das Grundproblem dieses kolonialwissenschaftlichen Erbes, nämlich das sicherheitspolitische Analyseinteresse, mit dem man sich den organisatorischen Erscheinungsformen des Sufismus gewidmet habe. Im Fokus der Analyse stehen dabei die politische Macht und der ökonomische Einfluss des Scheichs, die religiösen Aspekte werden dagegen vernachlässigt. Der Sufi-Scheich wird in dieser Perspektive in erster Linie nicht als religiöser, sondern als politischer Akteur wahrgenommen, demzufolge die zu interpretierenden Phänomene und Begrifflichkeiten nach Machtstrukturen und materiellen Profitmöglichkeiten untersucht werden, was lediglich zu einem oberflächlichen Verständnis führen kann. Aufgrund dieser Problematik betonen beispielsweise Seesemann und Soares, dass es in der zukünftigen Sufismus-Forschung darum gehen müsse, dem religiösen Aspekt gerechter zu werden. 11 Weiterhin macht Soares in Bezug auf ethnologische Studi-
9 Einen Überblick zur Literatur für alle drei Forschungsansätze finden sich bezogen auf Westafrika bei: R. Seesemann, Sufism in West Africa, Religion Compass 4 (10, 2010), 606-614. 10 J. van Ess, Sufism and its Opponents: Reflections on Topoi, Tribulations, and Transformations. In: Islamic Mysticism Contested, ed. by F. de Jong & B. Radtke, Leiden 1999, 22-44, 39f. Im Folgenden zitiert als: Van Ess (1999). 11 Siehe beispielsweise: R. Seesemann & B. F. Soares, Being as Good Muslims as Frenchmen: On Islam and Colonial Modernity in West Africa, Journal of Religion in Africa 39 (2009), 91-120. Im Folgenden zitiert als: Seesemann/Soares
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en zum Islam in Westafrika darauf aufmerksam, dass Islam nicht nur lokal betrachtet werden dürfe, um nicht die geopolitisch motivierte kolonialwissenschaftliche Betrachtungsweise, die einen »afrikanischen Islam« gegen einen »arabischen Islam« setzt, zu reproduzieren.12 Vielmehr solle der Islam auch in diesen häufig der »Peripherie« der islamischen Welt zugeordneten Regionen als integraler Bestandteil der »diskursiven Tradition« des Islams verstanden werden, die lokale und translokale Traditionen miteinander verknüpfe.13 In diesem Sinne konnten islamwissenschaftliche Studien zeigen, dass afrikanische muslimische Gelehrte zum religiösen Diskurs der gesamten islamischen Welt beitrugen und ebenso Ideen aus der gesamten muslimischen Welt aufgriffen.14 Eine zweite Kritik richtet sich seit den 1990ern zunehmend gegen die These vom „Verfall des Sufismus".15 Von den literarisch-philologisch orientierten Studien war die These aufgestellt worden, dass nach der Blütezeit des Sufismus, von Mitte des 9. bis zum späten 11.
(2009). 12 Zur Unterscheidung »afrikanischer Islam« versus »arabischer Islam«, siehe beispielsweise: Ch. Harrison, France and Islam in West Africa, 1860-1960, Cambridge 1988. Im Folgenden zitiert als: Harrison (1988); R. Loimeier, Gibt es einen afrikanischen Islam? Die Muslime in Afrika zwischen lokalen Lehrtraditionen und translokalen Rechtleitungsansprüchen, Africa Spectrum 37 (2, 2002), 175-188. Im Folgenden zitiert als: Loimeier (2002). 13 B. F. Soares, Notes on the Anthropological Study of Islam and Muslim Societies in Africa, Culture & Religion 1 (2, 2000), 277-285. Im Folgenden zitiert als: Soares (2000). Unter Bezugnahme auf: T. Asad, The Idea of an Anthropology of Islam, Occasional Paper Series (March, 1986), 1-22. Im Folgenden zitiert als: Asad (1986). 14 Zu nennen sind für Westafrika beispielsweise: A. Batran, The Qadiryya Brotherhood in West Africa and the Western Sahara, Rabat 2001. Im Folgenden zitiert als: Batran (2001); B. Radtke, Von Iran nach Westafrika. Zwei Quellen für al-Hägg 'Umars Kitäb Rimäh hizb ar-rahlm: Zaynaddin al-ljwâfî und Samsaddin al-Madyanl, Welt des Islams 35 (1995), 37-69. Im Folgenden zitiert als: Radtke (1995); S. Bousbina, Un siècle de savoir islamique en Afrique de l'Ouest (1820-1920), Thèse de doctorat en histoire, Université de Paris I 1996. Im Folgenden zitiert als: Bousbina (1996). 15 Zur Verfallsthese ausführlich: R. Seesemann, Verfall des Sufismus? In: Geschichte und Erinnerung im Islam, hrsg. v. A. Hartmann, Göttingen 2004, 171193. Im Folgenden zitiert als: Seesemann (2004c).
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Jahrhundert, eine Dekadenzphase begonnen habe, die bis heute unaufhaltsam weiterschreite.16 Sozialwissenschaftlich-historisch orientierte Studien haben die ergänzende These aufgestellt, nach der die tariqa, im Sinne einer sich auf eine gemeinsame sufische Lehre und Praxis berufenden sozialen Organisation, an sich ein Auslaufmodell darstelle, welches mit der Moderne nicht kompatibel sei und deswegen infolge der Modernisierung islamischer Gesellschaften verschwinden werde.17 Die These vom Zerfall ist auch an den Publikationen zur Tigänlya nicht spurlos vorübergegangen. Abun-Nasrs Monografie The Tijaniyya. A Sufi Order in the Modern World impliziert bereits im Untertitel, dass es sich bei der Tigänlya um eine Art archaisches Überbleibsel in einer modernen Welt handeln müsse. Schon in der Einleitung erklärt Abun-Nasr dem Leser, dass die Tigänlya zwar von der Kooperation mit der französischen Kolonialmacht zunächst profitiert habe, aber dennoch weder aus doktrinärer noch aus gesellschaftlicher Perspektive den Anforderungen der modernen Zeit gerecht werden könne.18 Gegenüber dieser tendenziell kulturpessimistischen Einschätzung haben inzwischen zahlreiche Studien zum zeitgenössischen Sufismus unter Beweis gestellt, dass ein Zerfall des Sufismus weder auf intellektueller Ebene noch auf sozialer Ebene zu belegen ist.19
16 Siehe beispielsweise: A. J. Arberry, Sufism: An Account of the Mystics of Islam, London 1979, 134. Im Folgenden zitiert als: Arberry (1979); A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Frankfurt 1995, 569-571. Im Folgenden zitiert als: Schimmel (1995); F. Meier, Sufik und Kulturzerfall. In: Klassizismus und Kulturverfall, hrsg. v. G. E. von Grunebaum & W. Hartner, Frankfurt a.M. 1960, 144-180. Im Folgenden zitiert als: Meier (1960). 17 Siehe beispielsweise: J. Sp. Trimingham, The Sufi Orders in Islam, Oxford 1998, 250. Im Folgenden zitiert als: Trimingham (1998); M. Gilsenan, Some Factors in the Decline of Sufi Orders in Modern Egypt, MW 57 (1967), 11-18, 14-17. Im Folgenden zitiert als: Gilsenan (1967). 18 J. M. Abun-Nasr, The Tijaniyya: A Sufi Order in a Modern World, London 1965,13f. Im Folgenden zitiert als: Abun-Nasr (1965). 19 Siehe beispielsweise: V. J. Hoffman, Sufism, Mystics, and Saints in Modern Egypt, Columbia 1995. Im Folgenden zitiert als: Hoffmann (1995); R. Chih et C. Mayeur-Jaouen, Le cheikh Sha'râwî et la télévision. In: Saints et Héros du Moyen-Orient contemporain, dir. C. Mayeur-Jaouen, Paris 2002, 189-209. Im Folgenden zitiert als Chih/Mayeur-Jaouen (2002); Seesemann (2004a).
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Ein dritter Kritikpunkt, der sich seit den 1990er Jahren an der Sufismus-Forschung formuliert, betrifft die Unterscheidung zwischen (tendenziell »heterodoxem«) »populärem« Sufismus und (tendenziell »orthodoxem«) »intellektuellem« Sufismus, ebenso das Gegensatzpaar (sufischer) »Volksislam« versus (offizieller) »Hochislam«. 20 Insbesondere die Vorstellungen von dubiosen Derwischen, orgiastischen Tänzen und anderen Scharlatanen, die nur darauf aus seien, das Hab und Gut des naiven, ungebildeten, meist vom Lande stammenden Gläubigen zu ergattern, stützen auch in wissenschaftlichen Arbeiten eine skeptische Ambivalenz, mit der Erscheinungsformen des nachklassischen Sufismus gegenübergetreten wird. So kommt Abun-Nasr beispielsweise zu dem Schluss, dass „ecstatic tariqas" eine anachronistische Form sufischer Frömmigkeit darstellten, die eine mystische Praxis propagierten, welche mit der Sünna nicht vereinbar sei, selbst wenn sich ihre Protagonisten auf den Propheten selbst berufen würden. 21 Die Problematik, die an derartigen Aussagen deutlich wird, liegt darin, dass die Beschäftigimg mit dem »intellektuellen« (oder auch »philosophischen«) Sufismus auf der sufischen Literatur basiert, während die Erforschung des »populären« Sufismus von seiner Praxis ausgeht. 22 Die Unterschiede, die häufig zwischen der mündlich und schriftlich diskutierten Lehre und der praktisch gelebten Lehre gezogen werden, sind das Resultat einer Forschung, die stets den einen Aspekt des Sufismus betrachtet und dabei den anderen Aspekt ausblendet. Sicher stellt die sufische Lehre eine Angelegenheit der Spezialisten, also der Sufi-Gelehrten, dar, während die Praxis dagegen einer Dynamik zwischen Spezialisten und Laien unterliegt. Diese Dynamik ist beispielsweise von Katz thematisiert worden, der aufgezeigt hat, dass die »populäre« Variante nicht neben der »intellektuellen« Variante stehe, sondern beide
20 Dazu ausführlich. Seesemann (2004a), 18-27. 21 J. M. Abun-Nasr, Muslim Communities of Grace. The Sufi Brotherhoods in Islamic Religious Life, London 2007, 121f. Im Folgenden zitiert als: Abun-Nasr (2007). 22 V. J. Cornell, Realm of the Saint, Austin 1998,197. Im Folgenden zitiert als: Cornell (1998).
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Formen sich gegenseitig entsprechen, da beide Zielgruppen dieselbe Weltsicht miteinander teilen. 23 Mit der Dynamik zwischen »Laien« und »Spezialisten« setzt sich auch Seesemann in seiner Pionierarbeit zum Leben und Wirken von Ibrählm Niasse auseinander. Er wählte, in Anlehnung an das Konzept der »großen« und »kleinen« Tradition von Robert Redfield, die Verbindung zwischen Virtuosenreligiösität und Massenreligiösität als Perspektive. 24
Forschung zum Sufismus in Mauretanien Die Frage, wie die Interaktion zwischen »Laien« und »Spezialisten« zu bewerten sei, stellt sich vermehrt in den jüngeren sozialhistorischen Arbeiten zum Sufismus, da nun nicht mehr ausschließlich die Gelehrten selbst in den Blick der Analyse rücken, sondern zunehmend die Rolle der Anhängerschaft mit in die Forschung einbezogen wird. Dabei stellt sich dieser Anspruch bei Themen zum 20. Jahrhundert als Erfolg versprechend dar, da für diesen Zeitraum das entsprechende Datenmaterial verfügbar gemacht werden kann. Für vergleichbare Studien des 19. Jahrhunderts wäre beispielsweise im Falle Mauretaniens eine umfangreiche Manuskriptdurchsicht notwendig, die beim derzeitigen Forschungsstand zur maurischen Gelehrtenliteratur sehr zeitintensiv wäre, abgesehen von der Schwierigkeit des Quellenzuganges, auf die ich noch zu sprechen komme. Der Trend weg vom Blick auf den Scheich als entscheidende und alleinige Gestaltungskraft einer Sufi-Bewegung hin zur verstärkten Einbeziehung ihrer Anhängerschaft zeigt sich auch bei den Studien zum Sufismus in Mauretanien. Im Folgenden stelle ich fünf nach 1960 verfasste Monografien exemplarisch vor, die sich mit Sufismus in Mauretanien beschäftigen. Sie sind als Pionierwerke zu verstehen, da die Erforschung der maurischen Gelehrtenliteratur noch immer in ihren Anfängen steckt. Während sich die ersten vier Publikationen insbe-
23 J. G. Katz, Dreams, Sufism and Sainthood, Leiden 1996, 16-18. Im Folgenden zitiert als: Katz (1996). 24 Seesemann (2004a), 34-44.
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sondere auf das späte 18. und 19. Jahrhundert beziehen, beschäftigt sich nur die jüngste mit einem Sufi-Scheich aus dem 20. Jahrhundert. Die ersten beiden Werke beschäftigen sich mit der QädiriyaMuhtärlya, der tariqa, zu der zweifelsohne das umfangreichste Material schon in den Kolonialarchiven zu finden ist. Bereits 1971 verfasste Aziz al-Batran an der Universität Birmingham seine Dissertation zum Leben und Wirken von Muhtär b. Ahmad al-Kuntl [17291811], die jedoch erst 2001 in Rabat veröffentlicht wurde. 25 Basierend auf der von seinem Sohn Muhammad al-Hallfa b. Muhtär alKunti [gest. 1826] geschriebenen Hagiografie analysiert Batran das intellektuelle und soziale Wirken Muhtär al-Kuntis, dem Stifter der Qädiriya-Muhtärlya. Bei dem sozialen Wirken geht es ihm dabei weniger um die sufische Praxis selbst, sondern um die Wirkung auf die Kunta, die qabila, der Muhtär al-Kunti angehörte. Mit einem vergleichbaren Ansatz arbeitet die 1973 verfasste Darstellung Charles Stewarts zum Leben eines Schülers Muhtär al-Kuntis, nämlich Sldiyä al-Kabir [1775-1868], der die tariqa Qädiriya-Muhtärlya in Trarza etablierte. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht weniger Sidiyä alKablrs Gelehrtenwerk, sondern der Fokus wird explizit auf die Interaktion zwischen Islam und Gesellschaft gelegt. Die tariqa stellt dabei für ihn eine wichtige soziale Einheit dar, die Anhängern verschiedener qabila-Heikunit einen gemeinsamen Bezugsrahmen gibt und dabei zugleich eine translokale Vernetzung der qabila des Scheichs ermöglicht. Stewarts Ansicht nach gilt es zwischen Sufismus als »wissenschaftlicher Disziplin« und als »sozialer Organisation« zu unterscheiden.26 Eine andere tariqa im maurischen Lebensraum, die das Interesse der Forschung weckte, war die Fädiliya, die von den Kolonialadministratoren als zweitwichtigste maurische tariqa eingeordnet wurde, was sich ebenfalls in der Menge des verfügbaren Materials in den Kolonialarchiven widerspiegelt. Zwei Publikationen beschäftigen
25 Batran (2001). 26 Ch. C. Stewart, Islam and Social Order in Mauritania, Oxford 1973,152. Im Folgenden zitiert als: Stewart (1973).
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sich mit dem Leben und Wirken des Begründers Muhammad Fädil [gest. 1879], McLaughlin beschreibt die Lehre und das Wirken Muhammad Fädils unter Einbeziehung seiner Schriften. Außerdem widmet er sich der Verbreitung der Fädiliya, indem er einige Fädillya-Scheiche der nachfolgenden Generation aus verschiedenen Regionen vorstellt. Neben dem Schließen einer historischen Lücke zum Leben und Werk Muhammad Fädils interessiert den Autor in besonderem Maße, wie der Sufi-Scheich symbolisches Kapital akkumulierte, welches er dann in ökonomisches Kapital umwandelte. Dadurch ist McLaughlin bestrebt, die politische Ökonomie des Heiligen aufzuzeigen, die durch die ideologische Verbindung von Sufismus, Scherifentum und Heiligkeit geschaffen werde.27 Die zweite Studie zur Fädiliya ist nahezu zeitgleich von Rahal Boubrik angefertigt worden. Er betrachtet ebenfalls nicht ausschließlich den Begründer, sondern berücksichtigt auch die nachfolgende Generation während der Kolonialzeit.28 Seine Methodik basiert auf dem umstrittenen von Weber inspirierten Konzept von Charisma und seiner Routinewerdung, welches, wie Chih in ihrer Rezension bemerkt, in der Arbeit von Boubrik die religiösen Akteure häufig auf das Bild eines Strategen und Krisenbewältigers reduziert.29 Bei allen vier Monografien fällt auf, dass eine kritische methodische Überlegung zu den Quellen fehlt. Nun ist das bekannte Quellenmaterial zum 19. Jahrhundert zwar verhältnismäßig spärlich im Vergleich zu dem des 20. Jahrhunderts, dennoch hätte eine kritischere Darstellung in den vier Arbeiten einen größeren Beitrag zu der oben skizzierten Debatte des problematischen kolonialwissenschaftlichen Erbes der Sufismus-Forschung ermöglicht. In dieser Hinsicht
27 G. W. McLaughlin, Sufi, Saint, Sharif: Muhammad Fadil wuld Mamin, PhD Thesis, Northwestern University 1997. Im Folgenden zitiert als: McLaughlin (1997). 28 R. Boubrik, Saints et société en Islam, Paris 1999. Im Folgenden zitiert als: Boubrik (1999). 29 R. Chih, Rahal Boubrik, Saints et société en Islam. La confrérie ouestsaharienne Fâdiliyya, CNRS, 1999, 203 p., RMMM 91-94 (Juillet, 2000), Online-Ausgabe (März, 2005), http://remmm.revues.org/index2756.html [Letzter Zugriff: 3.9.2011], Im Folgenden zitiert als: Chih (2000).
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sticht Hanrettas Monografie zu Yacoub Sylla [1906-1988], einem Tigänlya-Scheich aus dem südlichen Mauretanien hervor. Yacoub Sylla war ein Soninke, musste seine Heimat verlassen und lebte später mit seiner Anhängerschaft in der Elfenbeinküste. Hanretta spürt verschiedene Topoi in den Kolonialquellen auf und bezieht die Selbstdarstellung der Sufi-Gemeinde in seine Analyse ein. Anhängerschaft und Sufi-Scheich stehen bei ihm somit gleichermaßen im Fokus der Betrachtung, so dass die biografische Erzählung des SufiScheichs selbst nicht den Aufbau der Monografie bestimmt, sondern stattdessen die Genese der Sufi-Gemeinde und ihre Topoi im Vordergrund stehen. 30 Das Handeln von Yacoub Sylla wird in seinen Ausführungen nicht auf politische oder ökonomische Strategien reduziert, sondern als spirituelle Errungenschaft eingeordnet. 31 Bei einer Betrachtung der Arbeiten zum Sufismus in Mauretanien gibt es ein Thema, das sich durch alle vorgestellten Publikationen zieht, nämlich die Frage, in welcher Art und Weise Islam und Gesellschaft aufeinander bezogen sind.32 Dabei wird der tariqa als einer gestaltenden sozialen Kraft Aufmerksamkeit geschenkt, die in einer Gesellschaft wirkt, welche von der qabila geprägt ist. Die tariqa erscheint dabei häufig als eine ergänzende soziale Institution, die der qabila erweiterte Möglichkeiten zur besseren Positionierung in der maurischen Gesellschaft bietet. Sie wirkt als festigende Kraft der Gemeinschaftsidentität und zugleich ermöglicht sie, durch ihr Potential der qabila- und ethnienübergreifenden Netzwerkbildung translokale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, die ökonomische und politische Aktivitäten erleichtern. Nun sind die tariqa und die qabila soziale Institutionen, die nicht statisch gleich bleiben. Vielmehr unterliegen sie beide einem steten Wandlungsprozess. Die Dynamik
30 S. Hanretta, Islam and Social Change in French West Africa, New York 2009. Im Folgenden zitiert als: Hanretta (2009). 31 Hanretta (2009), 279. 32 A. W. Ould Cheikh, Nomadisme, islam et pouvoir politique dans la société maure pré-coloniale (Xie au XKe siècle), Thèse d'état Université V, Paris 1985. Im Folgenden zitiert als: Ould Cheikh (1985);T. Cleaveland, Becoming Waläta: a history of Saharan social formation and transformation, Portsmouth 2002. Im Folgenden zitiert als: Cleaveland (2002).
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dieses Wandels entwickelt sich in der maurischen Gesellschaft zum einen aus dem ineinander greifenden Zusammenwirken der Institutionen tarïqa und qabïla. Zum anderen wird die Dynamik ebenso von den verschiedenen Kräften gestaltet, wie sie innerhalb der jeweiligen Institution im Laufe der Zeit entstehen. Die Kolonialzeit war durch den Aufbau einer neuen politischen und ökonomischen Ordnung geprägt, die mittels einer Kontrolle beider Institutionen, der tarïqa und der qabïla, durchgesetzt werden sollte. Diese neue Ordnung wurde nicht aus der tarïqa oder der qabïla heraus entwickelt. Im Gegenteil, diese sozialen Organisationsformen galten als statisch, archaisch und traditionell. Sie sollten im Idealfall durch eine Entwicklung der Gesellschaft auf Dauer überwunden werden. Die Ideologie der mission civilisatrice konnte sich in der Praxis vielfältig darstellen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass sowohl die tarïqa wie auch die qabïla in der maurischen Gesellschaft im Gegensatz zur Auffassung der Kolonialstrategen keineswegs statisch waren, sondern sich im Zuge der sozialen Transformation der Kolonialzeit veränderten.
Fragestellung und A u f b a u Diese Arbeit zeigt am Beispiel einer tarïqa, der maurischen Tigäniya, die Veränderungen des religiösen Feldes in der mauretanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine Mikrostudie, die die Familiengeschichte von Saihäni zum Ausgangspunkt der Betrachtung nimmt und sich entlang der tradierten Überlieferung das religiöse Feld in der Region Li'gul in einer historischen Perspektive erschließt. Dies ermöglicht die Etablierung der /aidcj-Bewegung im Zentrum der maurischen Tigäniya hinsichtlich ihrer Transformationsaspekte zu betrachten. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die religiösen Akteure sich einerseits in den neu entstehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen einrichten, andererseits gestalten sie diese durch ihre Einrichtung mit. Dieser Ansatz verspricht, weitere Erkenntnisse zur Geschichte der yàida-Bewegung in Mauretanien zu gewinnen, die über die bis-
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her geleisteten Beiträge von Stone und Seesemann hinausgehen. 33 Während Stone und Seesemann sich ausschließlich auf die Entwicklung der /aida-Bewegung konzentrieren, soll hier durch eine Miteinbeziehung der historischen Entwicklung der Häfizlya herausgearbeitet werden, wodurch sich die Niasse'sche Erneuerungsbewegung von der zuvor im Li'gul etablierten Sufi-Bewegung unterschied. Ein solcher Vergleich verspricht nicht nur die mauretanischen Verhältnisse besser zu verstehen, sondern führt zu einem lokalhistorischen Einblick in den Kern der Erneuerungsidee von Ibrahim Niasse, der Rückschlüsse für den Erfolg der /aida-Bewegung im Westafrika der 1950er und 1960er Jahre zulässt. Angesichts der Motivation, die /aida-Bewegung in ihrer historischen Dimension durch einen Vergleich mit der Häfiziya zu verstehen, ist es naheliegend, Saihäni zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu wählen. Er war einerseits derjenige, dem das Verdienst der Etablierung der /aida-Bewegung in der maurischen Gesellschaft im Wesentlichen zuzuschreiben ist. Andererseits verkörperte er als Urenkel des Häfiziya-Stifters beide Sufi-Bewegungen der maurischen Tigänlya. Saihänis Sufi-Gemeinde als Ausgangspunkt nehmend, widmet sich diese Studie den verschiedenen Dynamiken, die seit Mitte der 1930er Jahre sowohl die Einrichtung der Sufi-Gemeinde selbst beeinflussten, als auch die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Wandels durch die Scheiche der Sufi-Gemeinden der maurischen Tigänlya im Li'gul. Aus diesem Grund, wird neben Saihäni die Interaktion verschiedener Akteure innerhalb der maurischen faidaBewegung, der maurischen Tigänlya im Li'gul und der anderen maurischen turuq berücksichtigt. Die Arbeit ist in sechs Kapitel aufgeteilt, die sich mit jeweils einem der bisher angesprochenen Aspekte befassen.
33 D. Stone, The Inversion of a Historical Tendency? The Tijaniyya Niass Movement in Mauretania, Workshop Paper, University of Illinois 1996. Im Folgenden zitiert als: Stone (1996). Seesemann (2004a), 339-372; R. Seesemann, The Shurafä' and the 'Blacksmiths'. In: The Transmission of Learning in Islamic Africa, ed. by S. Reese , Leiden 2004, 72-98. Im Folgenden zitiert als: Seesemann (2004b); Seesemann (2011), 159-163.
Fragestellung und Aufbau
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Im ersten Kapitel steht die tariqa als soziale Organisation im Mittelpunkt, deren Entwicklung im 19. Jahrhundert skizziert wird, also von der Etablierung der Häfiziya um 1805/06 bis zur Ausgangssituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf deren Grundlage die faidaBewegung als Erneuerungsbewegung entstanden war. Die Geschichte der Häfiziya ist bislang lediglich von Paul Marty in einem längeren Artikel beschrieben worden. 34 In dieser Daxstellung konzentriert sich der Autor ausschließlich auf die frühe Phase ihrer Etablierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, um dann zur Beschreibung der Häfiziya zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu springen. Hier gilt es Lücken zu schließen, da sich ohne eine Kenntnis der Häfiziya nach dem Ableben ihres Stifters 1831/32 nur schwer bestimmen lässt, welche Art der religiösen und sozialen Transformation die Etablierung der faida-Bewegung darstellte. Anhand von Hagiografien und Überlieferungen werden die Entwicklungen der Häfiziya im 19. Jahrhundert skizziert. Die Häfiziya setzte sich aus vier Führungsfamilien zusammen, deren Verhältnis zueinander herausgearbeitet wird. Dafür werden soziale Institutionen entschlüsselt, wie sie sich aus den Informationen in den verfügbaren Hagiografien rekonstruieren lassen. Außer Acht gelassen werden Aspekte, die in den Schriften keine Erwähnung finden, wie beispielsweise die Rolle von baraka (Segen) in der Konstituierung von spiritueller Autorität. 35 Auch wenn baraka aus der religiösen Alltagspraxis nicht wegzudenken ist, zur Analyse der hier vorgenommenen Sachverhalte erscheint dieser Aspekt nicht geeignet. Baraka ist schwer greifbar, da dieser Begriff in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht wird. Im Gegensatz zum Begriff des baraka, wer-
34 P. Marty, Les Ida Ou Ali chorfa Tidianüa de Mauritanie, RMM 31 (1915), 223-273. Im Folgenden zitiert als: Marty (1915a). 35 Als Grundproblematik seien hier Versuche genannt, die baraka als Bestandteil der von Weber definierten „charismatischen Herrschaft" definieren wollen. Hier handelt es sich meines Erachtens um eine Vereinfachung, die wenig Erkenntnisgewinn verspricht. Ein solcher Versuch mit dem regionalen Bezug auf Westafrika ist bspw. in diesem Sammelband vorgenommen worden: Charisma and Brotherhood in African Islam, ed. by Donal B. Cruise O'Brien; Christian Coulon. Oxford: Clarendon Press, 1988.
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Einleitung
den in den Quellen Gaben erwähnt, die verschiedenen Mitgliedern überreicht wurden. Um das Phänomen der Gabe zu analysieren, wird Marcel Mauss' Schrift Die Gabe zur Hilfe genommen. 36 So werden exemplarisch drei etablierte Formen der Gabe vorgestellt, welche einerseits die Autoritätshierarchie zwischen Scheich und Adept, andererseits zwischen Scheich und Scheich zum Ausdruck bringen. Dabei steht weniger die Frage der tatsächlichen Macht im Vordergrund, sondern vielmehr die Umgangsform der konkurrierenden Autoritäten miteinander. Die Etablierung von vier einflussreichen Gelehrtenfamilien, die dem Führungskreis der Häfizlya zugerechnet werden können, führte dazu, dass die Spannung von Vielfalt und Einheit die religiöse Landschaft im Li'gul bestimmte. Neben dem Zusammenwirken einzelner Sufi-Gemeinden der Häfizlya wird außerdem die Interaktion der Häfizlya mit der qabila berücksichtigt. In diesem Sinne wird die Rolle der qabila bezüglich Autoritätslegitimationen innerhalb der tariqa befragt. Außerdem wird das Verhältnis zur sich ab den späten 1820er Jahren in direkter Nachbarschaft etablierenden Qädirlya-Muhtäriya berücksichtigt, ebenso die Reaktion auf Sufi-Bewegungen innerhalb der tariqa, nämlich am Beispiel der ab den 1850er Jahren populären c Umariya. Im zweiten Kapitel steht die tariqa als sufische Lehre im Fokus der Betrachtung. Die /a/da-Bewegung wird als Erneuerungsbewegung verstanden. Deshalb wird zunächst anhand der Schriften zur Sufi-Bewegungen bestimmt, was eigentlich in Bezug auf die Lehre der Häfizlya »neu« war. Da tarbiya (Erziehung) als eines der entscheidenden Schlagworte der /aida-Bewegung gilt, wird zunächst die Schrift Mlzäb ar-rahma von 'Ubaida b. Anbügä betrachtet, bei der es sich um das Standardwerk der Häfizlya zur tarbiya-Thematik handelt. 37 'Ubaidas farfciya-Konzeption wird mit der von Ibrählm Ni-
36 M. Mauss, Essaie sur le don. In: M. Mauss, Sociologie et Anthropologie, Paris 1991,143-279. (11923/24). Im Folgenden zitiert als: Mauss (1991). 37 'Ubaida b. Muhammad as-Sagir b. Anbüga, Mlzäb ar-rahma ar-rabbänlya fi t-tarbiya bi-t-tariqat at-Tigänlya, Beirut, al-Maktaba as-Sa'blya [s.d.]. Im Folgenden zitiert als: Mlzäb ar-rahma.
Fragestellung und Aufbau
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asse verglichen, um so die neuen Aspekte bestimmen zu können. Dabei werden neben dem Begriff tarbiya zwei weitere Kernbegriffe erläutert, zum einen der Namen stiftende Terminus faida, zum anderen die Rolle des gadb-ZusXanAs (Hinanziehung) im persönlichen Entwicklungsprozess des Adepten. Das dritte Kapitel widmet sich der Transformation des religiösen Feldes durch die Kolonialisierung Mauretaniens. Unter Einbeziehung von französischen Kolonialakten sowie mündlichen und schriftlichen arabischen Quellen wird ein Bild der frühen Kolonialzeit von 1903-1930 in Mauretanien skizziert. Im Mittelpunkt stehen dabei die staatlichen Kontrollbemühungen hinsichtlich religiöser Akteure, die zunächst allgemein bezogen auf die Entwicklungen in Französisch-Westafrika umrissen werden, um dann spezifisch die Situation im Li'gul zu untersuchen. Der Fokus liegt auf den Strategien der Einrichtung der religiösen Akteure im Umgang mit der kolonialen Herrschaft und beleuchtet auch hier wieder die Frage der Dynamik innerhalb der tariqa, in dem die verschiedenen Haltungen nachgezeichnet werden. Das vierte Kapitel skizziert die Etablierungsphase (1933-1945) der maurischen /aida-Bewegung. Saihäni verzeichnete seine ersten Erfolge außerhalb Li'guls, insbesondere bei den Idaw 'Ali Tagant. Es wird dargestellt, mit welcher Botschaft er seine neuen Anhänger gewinnen konnte und welche Strategien sich dabei als hilfreich erwiesen. Die Etablierung einer neuen Sufi-Bewegung stellte während der Kolonialzeit eine schwierige Angelegenheit dar. Im Tagant gab es dabei besonders viel Konkurrenz und zugleich auch eine sehr angespannte politische Lage, die mit den kolonialhistorisch spezifischen lokalen Bedingungen im Zusammenhang stehen. Diese werden bei der Analyse des Quellenmaterials in Betracht gezogen und dabei die verschiedenen Narrative der Selbstdarstellung der /aüfa-Bewegung beleuchtet. Es gab zahlreiche kritische Stimmen, die sich insbesondere in den Kolonialakten widerspiegeln. Diese werden mittels eines Vergleichs zur Darstellung der Guzfiya in Odette du Puigaudeaus Reisebericht in den Tagant untersucht, um so die Topoi der Kolonialakten herauszustellen, die beiden Sufi-Bewegungen gleichermaßen
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Einleitung
entgegengebracht wurden. 38 In Anlehnung an Douglas Thesen in ihrer Schrift Purity and Danger werden diese Topoi als »Topoi der Unreinheit« bezeichnet. 39 Basierend auf dem gesammelten Interviewmaterial widmet sich das fünfte Kapitel dem Verhältnis zwischen der Häfizlya und der /aida-Bewegung während der Expansionsphase (1945-1965). 1952 besuchte Ibrahim Niasse den Li'gul. Anhand unterschiedlicher Präsentationen dieses Besuches wird die zunehmende Spaltung der Häfizlya in Kritiker und Befürworter der /aida-Bewegung herausgearbeitet. Außerdem behandelt dieses Kapitel den dritten Aspekt des Terminus tariqa, die sufische Praxis. Es wird insbesondere der Fokus auf Beobachtungen und Erzählungen der religiösen Praxis der faidaBewegung gelegt, deren Ausdrucksformen der gadfc-Erfahrung mithilfe des von van Gennep und Turner entwickelten Begriffs »Übergangsriten« beschrieben werden. 40 Die soziale Dynamik der faidaBewegung kann dabei insbesondere durch die individuellen und kollektiven Aspekte der gadfc-Erfahrung aufgezeigt werden. Anhand einer Diskussion zur Rolle der Frauen innerhalb der /aida-Bewegung wird Hinweisen auf emanzipatorische Motivationen der Anhängerschaft nachgegangen. Das sechste Kapitel schließt die chronologische Entwicklung der maurischen /aida-Bewegung ab und legt seinen Schwerpunkt auf die Konsolidierungsphase (1965-1986). Dabei wird erneut die soziale Dimension der tariqa betrachtet. Es werden zwei Themen skizziert, die sich im weitesten Sinne auf Fragen nach den relevanten stratifikatorischen Kategorien der sozialen Ordnung beziehen. Das erste Thema beschäftigt sich mit der Rolle der qabila innerhalb der maurischen /aida-Bewegung: Anhand der Überlieferungen zu zwei erfolgreichen muqaddamün (zur Initiierung autorisierte Adepten) der
38 O. du Puigaudeau, Tagant, Paris 1993 ('1949). Im Folgenden zitiert als: Puigaudeau (1993). 39 M. Douglas, Purity and Danger, London 1995. Im Folgenden zitiert als: Douglas (1995). 40 A. v. Gennep, Übergangsriten, Frankfurt 2005 ('1909). Im Folgenden zitiert als: Gennep (2005); V. Turner, Das Ritual, Frankfurt 2005 (*1969). Im Folgenden zitiert als: Turner (2005).
Fragestellung und Aufbau
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maurischen /aida-Bewegung, Muhammad al-Amin b. Sldinä [um 1921-2003] und Muhammad al-Misri [1917-1975], werden Autoritätskonflikte mit Saihäni erläutert. In einem zweiten Schritt wird mittels der Dorfgründungsgeschichte im Licgul die Problematik der unterschiedlichen Dorfgemeinschaftskonzepte hinsichtlich des Verhältnisses der qabila und tariqa beleuchtet. Beide Beispiele zeigen, dass infolge der sozialen Transformationsprozesse der Kolonialzeit die Bedeutung von qabila- und tariga-Zugehörigkeit ebenso neu bestimmt wurden, wie ihr Verhältnis zueinander.
Die Q u e l l e n Die Arbeit basiert auf zwei Forschungsprojekten, die im Zeitraum von Mai 2006 bis September 2011 am Zentrum Moderner Orient in Berlin eingebettet waren. Das erste Projekt (Mai 2006-Mai 2008) trug den Titel Translokale Diskurse islamischer Reform bei den Idaw 'Ali während der französischen kolonialen Expansion, 1830-1935. Es war Teil des übergeordneten Projekts Translokalität im SaharaSahel-Raum im Forschungsprogramm Translokalität. Im diesem Rahmen sammelte ich zahlreiche arabische Manuskripte, orale Überlieferungen sowie Kolonialakten zur Geschichte der Häfizlya und der Idaw cAlI, deren Auswertung sich im ersten Kapitel der Arbeit findet. Das zweite Projekt (Mai 2008-September 2011) trug den Titel: Saihäni (Manna Abba b. Muhammad at-Tulba, 1908-1986) und die Erneuerung der Tigäniya in Mauretanien, und bildete ein Teilprojekt in der Forschungsgruppe Mikrokosmen und Praktiken des Lokalen, dass im BMBF-Forschungsprogramm Muslimische Welten - Welt des Islams? integriert war.41 Die Vielfalt der verwendeten Genres und die lange Zeitspanne, welche die Dissertation umfassen, ließen es mir sinnvoll erscheinen,
41 Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Fkz 01UG1413). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin.
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Einleitung
die methodischen Fragen und die Vorstellung der einzelnen Dokumente jeweils an der Stelle vorzunehmen, an der die Auswertung präsentiert wird. Somit werde ich jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel ausführlich auf die verwendeten Quellen dieser Arbeit eingehen. An dieser Stelle möchte ich lediglich die Umstände erörtern, unter denen diese Quellen gesammelt wurden und wie sich im Zusammenspiel damit das Dissertationsthema entwickelte. Als ich 2006 zu meinem ersten Feldaufenthalt nach Mauretanien aufbrach, hatte ich vor, eine Geschichte der Häfizlya nach dem Tod des Stifters Muhammad al-Häfiz bis zur etablierten kolonialen Besatzimg zu Beginn der 1930er Jahre zu schreiben. Mich interessierte dabei vor allem, welchen Einfluss die Etablierung der Häfizlya auf das Selbstverständnis der Idaw cAli hatte. Bald musste ich feststellen, dass ein solches Vorhaben erhebliche Schwierigkeiten in sich birgt. In Mauretanien befinden sich zwar in verschiedenen Familienbibliotheken zahlreiche Handschriften zu dieser Thematik, doch ist der Zugang zu diesem Material alles andere als verlässlich. Das staatliche Handschriftenarchiv in Nouakchott (Institut Mauritanienne de Recherche Scientifique (IMRS)) bewahrt ebenfalls Handschriften auf - meist als Kopien, teils als Originale - , allerdings ergab sich für mich vor Ort weder eine Arbeitsmöglichkeit noch erhielt ich eine Kopiererlaubnis. Der Entschluss, zunächst die Bestände des Nationalarchivs zu bearbeiten, in der Hoffnung, in den französischen Kolonialakten Material zu finden erwies sich ebenfalls als Sackgasse. Das Nationalarchiv war gerade umgezogen und blieb bis zum Ende meiner Forschungsarbeit unzugänglich. In den vergangenen Jahrzehnten ist viel geleistet worden, was die Katalogisierung arabischer Handschriften der Sahara- und Sahelregion anbelangt. 42 Für Mauretanien hat Rebstock sich dieser Aufga-
42 Für einen ersten Oberblick der Katalogisierungsprojekte, siehe: J. Hunwick, Arabic Sources for African History. In: Writing African History, ed. by J. E. Philips, Woodbridge, University of Rochester Press 2005, 216-253, 227-238. Im Folgenden zitiert als: Hunwick (2005); U. Rebstock, Une Histoire de la Littérature Maure, L'Ouest Saharien 1 (1998), 165-168. Im Folgenden zitiert als: Rebstock (1998).
Die Quellen
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be gewidmet und 2001 eine dreibändige Maurische Literaturgeschichte herausgegeben, die nach Autoren geordnet einen großen Teil des unüberschaubaren Bestandes der von maurischen Gelehrten verfassten Handschriften in und außerhalb Mauretaniens dokumentiert. 43 Der Anspruch, eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme der Schriften maurischer Gelehrter zu erstellen, hat ein umfangreiches Datenmaterial ergeben. In der praktischen Verwendung dieses Materials ergibt sich allerdings das grundlegende Problem, dass ein Auffinden eines Manuskripts häufig mit großem Zeitaufwand verbunden ist. Viele Schriften sind ausschließlich in privaten Familienbibliotheken vorhanden. Solche Bibliotheken haben weder einheitliche Zugangsregeln, noch bleiben die Handschriftensammlungen in derselben registrierten Zusammenstellung bestehen. Beim Tod eines Besitzers kann es passieren, dass die Manuskripte unter den Erbberechtigten aufgeteilt werden und sich über das Land verstreuen. Nicht jeder Erbe kann den ihm überlassenen Schatz wertschätzen und so enden zahlreiche Handschriften als Souvenir in den Privathaushalten wohlhabender Golfstaatenbewohner. Der Ausverkauf der saharischen Handschriften an Sammler stellt aufgrund der häufig prekären Lebensbedingungen ihrer Besitzer grundsätzlich ein großes Problem dar. Viele Schriften existieren in den für Touristen eröffneten größeren Bibliotheken Chinguettis nur noch als Fotokopie, während das Original bereits verkauft ist. Deswegen entschied ich mich, den Zugang zum Forschungsfeld in erster Linie über die Menschen zu erschließen. Ich nahm Kontakt zu verschiedenen maurischen Häfiziya-Scheichen auf und fuhr in die Lokalitäten, in denen Idaw 'Ali-Gemeinschaften leben, wie Atar (Adrar), Chinguetti (Adrar), Tidjikja (Tagant) und in die Dörfer im LFgul (Trarza). Ich führte Interviews mit Notabein, Sufi-Scheichen und Lokalhistorikern, teils allein, teils gemeinsam mit meinem Forschungsassistenten Sidi b. Sigäli. Diese in den Jahren 2006 und 2007 vorgenommenen Interviews folgten einem von mir zuvor aufgestell-
43 U. Rebstock, Maurische Literaturgeschichte, 3 Bde., Würzburg 2001. Im Folgenden zitiert als: Rebstock (2001).
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ten Fragenkatalog, der mir in den Gesprächen als Leitfaden diente. Die Interviews wurden in Form von Notizen aufgezeichnet, die ich meist am selben Tag zu einem Text in deutscher Sprache ausformulierte. In Chinguetti und Tidjikja sammelte ich relevante Handschriften, die ich digital abfotografieren durfte, in Nouakchott fand ich gedruckte Publikationen zur Tigänlya. Bei meinem zweiten Forschungsaufenthalt 2007 bekam ich von Saih Ahmaddü b. Muhammad al-Häfiz, einem Enkel von Saihäni, die Hagiografie Wamadät geschenkt. Über Saihäni war mir bereits viel berichtet worden, insbesondere in Firdous, einem kleinen Dorf bei Kiffa (Assaba), welches von einer faida-Gemeinde gegründet wurde. Aber auch in Tidjikja gibt es eine lebendige faida-Gemeinde, die auf Saihäni zurückgeht. In Baraina war ich bereits bei seinen Nachfahren zu Gast und hatte dort sehr viel Unterstützung für meine Materialsuche erhalten. Die Tatsache, dass ich zum Leben von Saihäni noch zahlreiche Zeitzeugen interviewen und so einen besseren Einblick in die Tradierung der Hagiografie Wamadät erhalten konnte, motivierte mich letztlich dazu, die Arbeit auf Saihäni zu fokussieren. Dabei strebte ich weniger eine Biografié an, vielmehr nahm ich seine Familie, die Ahl atTulba, mit ihrer Geschichte und ihrem Wirken in der maurischen Tigänlya als Ausgangspunkt, um die Dynamiken innerhalb der tariqa zu untersuchen. Saihäni hat kein umfangreiches schriftliches Werk hinterlassen. Abgesehen von seinen Gedichten, die in zwei Editionen herausgegeben wurden, 44 existieren lediglich einige Minuten Videoaufnahmen von 1980, bei der er seine erste Ankunft bei Ibrahim Niasse beschreibt. Außerdem kursieren in seiner Anhängerschaft einige Kassetten, auf denen er Fragen von Adepten beantwortet. Einen wichtigen Quellenkorpus stellen Briefe von Ibrählm Niasse an Saihäni
44 Diwan as-Saihän Mannabba b. at-Tulba al-'Alawi as-Sinqitl at-Tigänl, Nouakchott, Mu'assasat Munlr 1986. Im Folgenden zitiert als: Diwan; Riyäd alqulüb wa madäd al-arwäh: Diwan as-Saihän b. as-Saih Ahmaddü b. as-§aih Muhammad al-Häfiz, gama'a Ahmaddü b. as-Saihän, Nouakchott, 2007. Im Folgenden zitiert als: Riyäd al-qulüb.
Die Quellen
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dar.45 Diese sind weitestgehend im Wamadät und öawähir ar-rasä'il publiziert worden. 46 Unter den in Dakar und Aix-en-Provence aufbewahrten Kolonialakten finden sich nur wenige, die sich auf Saihäni beziehen. Als die entscheidenden Quellen für diese Arbeit gelten somit die Zeitzeugeninterviews, die ich größtenteils während meines dritten und letzten Forschungsaufenthalts 2009 gemeinsam mit Saih Ahmaddü b. Muhammad al-Häfiz in Baraina, R'kiz, Ma'ta Moulana, Boubacar, Nouakchott, Atar und Chinguetti durchgeführt habe. Diese Interviews sind, soweit die Gesprächspartner eingewilligt haben, aufgenommen worden.
Terminologie 1: Was ist ein Idaw 'Ali? Saihäni war ein Idaw 'Ali. Der Name Idaw 'Ali bezeichnet eine qabila (PI. qabä'il) von ungefähr 150 der maurischen Gesellschaft.47 Neben der Existenz von qabä'il ordnet sich die maurische Gesellschaft in soziale Statusgruppen, deren hierarchische Ordnung zueinander je nach Zeit und Ort variiert. Eine solche Variation findet sich auch bezüglich der Hierarchie zwischen den einzelnen qabä'il. Die Grundzüge dieser sozialen Stratifizierung, so heißt es, seien im 17. Jahrhundert infolge des Surr Bubba-Krieges entstanden, aus dem eine soziale Statusgruppe siegreich hervorgegangen sei und Emirate gegründet habe, die im Laufe des 18. Jahrhunderts die politische Kontrolle über weite Teile des maurischen Lebensraumes erlangt hätten. 48 Diese soziale Statusgruppe wurde mit dem Begriff hassän
45 Eine Auflistung, siehe: Anhang 1: Liste der verwendeten Briefe in chronologischer Reihenfolge. 46 Ibrahim Niasse, Kitäb öawähir ar-rasä'il wa yalllyat ziyädat al-gawähir, tahqiq Ahmad b. 'Ali at-Tigäni, öuz' I-III, [s.l.] [s.d.]. Im Folgenden zitiert als: öawähir ar-rasä'il. 47 Z. Ould Ahmed Salem, Une « illusion bien fondée »: la centralité de la mobilisation tribale dans l'action politique en Mauritanie, L'Ouest saharien 2 (1999), 127-156,128. Im Folgenden zitiert als Ould Ahmed Salem (1999). 48 Sidi Ahmad b. al-Amin as-Sinqitî, al-Wasït fï tarägim 'udabä' Sinqit, Nouakchott, 1989, 475-511. Im Folgenden zitiert als: Wasit.
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Einleitung
(»Kriegerstamm«; tribù guerrière) bezeichnet. Sie stellte gemeinsam mit den z-wäya (»Gelehrtenstamm«; tribù maraboutique) die Elite der maurischen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts dar. Die restliche maurische Gesellschaft ordnete sich entlang weiterer sozialer Gruppen, die, wie schon bei der Einteilung der Elite in Gelehrte und Krieger, entlang einer verübten Tätigkeit klassifiziert werden können. So gab es znäga (»Tributärstämme«; auch lahma genannt), die das Vieh der zwäya und hassän hüteten. Außerdem gab es die Gruppe der m'ällimin (Schmiede; Handwerker), die Leder- und Metallarbeiten erledigen konnten, sowie die iggäwin, die mit Lobgesängen von Zeltlager zu Zeltlager zogen. Darüber hinaus bleiben noch die harätin (Sg.: hartänv, ehemalige Sklaven) und 'abld (Sg.: 'abd; Sklaven) zu erwähnen, die für wohlhabende Notabelnfamilien alle möglichen Dienste vom Wäschewaschen und Brennholz sammeln bis hin zu eigenverantwortlichen Händlertätigkeiten verrichteten. Bei einer maurischen qabila handelt es sich grundsätzlich um Gemeinschaften, die sich auf eine gemeinsame genealogische Abstammung berufen. Diese kann in Einzelfällen eine scherifische Abstammung sein, d.h. sie geht auf die Familie des Propheten zurück. Eine qabila lebt aber nicht unbedingt im gleichen territorialen Raum. So finden sich im maurischen Lebensraum verschiedene Regionen, in denen Idaw 'Ali-Gemeinschaften leben: 1. 2. 3.
4.
eine Idaw 'Ali-Gemeinschaft in Chinguetti, einer Handelsoase im nördlich gelegenen Adrar; die Idaw 'Ali-Gemeinschaft im Gelehrten- und Handelszentrum Tidjikja, im östlich gelegenen Tagant; ungefähr 70 km südlich von Tidjikja, die Idaw 'All 1-Wästa, die bis in die 1930er Jahre in der Region von El Gheddiya nomadisierten; die Idaw 'All Qibla, die bis in die 1950er Jahre im Li'gul (Trarza) im Südwesten Mauretaniens einer transhumanten Lebensweise nachgingen;
Die Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Gemeinschaften beruht auf einer tradierten Überlieferung, die 1790 (1205h) von 'Abdallah b. al-Hägg Ibrahim [gest. 1814/15 (1230h)], einem Gelehrten der Idaw
Terminologie I: Was ist ein Idaw 'All?
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'Ali aus Tidjikja, schriftlich festgehalten wurde. Das Manuskript ist bekannt als Sahihat an-naql und belegt einerseits die genealogische Abstammungslinie der Idaw 'Ali als Scherifen, andererseits skizziert es die Migrationsgeschichte der qabila, die sich im 17. Jahrhundert von Chinguetti ausgehend sowohl in den Tagant als auch im Li'gul verbreitet hatte. 49 Chinguetti wird in dieser Überlieferung als Geburtsstätte der maurischen islamischen Gelehrtenkultur und als erfolgreiches Handelszentrum hervorgehoben sowie als wichtigster Ausgangspunkt zur Pilgerfahrt nach Mekka, für die sich die Idaw 'Ali in herausragender Weise engagiert haben. Die Idaw 'Ali seien außerdem die Begründer dieses Gelehrtenzentrums sowie die ursprünglichen Herrscher aller zwäya-Gemeinschaften, deren Eigenbezeichnung mit der Vorsilbe »Id« beginnt. Die Schrift etabliert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Referenzwerk aller Idaw 'AliGemeinschaften. Chinguetti avanciert dabei zum entscheidenden Bezugspunkt islamischer Gelehrsamkeit im maurischen Lebensraum und wird in seiner Bedeutung als gleichwertig mit den nordafrikanischen Gelehrtenzentren Fes (Marokko), Kairouan (Tunesien) und Kairo (Ägypten) sowie mit den Städten Mekka, Medina und Jerusalem präsentiert. Dies spiegelt sich ebenfalls in den hagiografischen Werken der Häfiziya wider, in denen Bezüge zum Li'gul nur am Rande Erwähnung finden, Chinguetti dagegen als Projektionsfläche von Normen und Werten maurischer Gelehrtenkultur in den Vordergrund gestellt wird.50
49 'Abdallah b. al-Hägg Ibrahim, Sahihat an-naql fi 'alawiyat Idaw 'Ali wa bakriyat Muhammad Qilli, 1790 (1205h), Maktaba Habatt (Chinguetti), t 13 [s.d.]. Erste Übersetzung ins Französische: 1898 von Capitaine Galland, FR CAOM 14 MIOM 2184. Erste Obersetzung in das Englische: H. T. Norris, "Ihe History of Shinqit according to the Idaw 'Ali tradition, BIFAN / Série B 24 (1962), 393-409. Im Folgenden zitiert als: Norris (1962). Außerdem bildet der Text die Quellengrundlage für: Marty (1915a). Zu Person und Werk von 'Abdallah b. al-Hägg Ibrahim, siehe: Rebstock (2001), 624; Was«, 37-40; Ch. El Hamel, La vie intellectuelle islamique dans le Sahel Ouest-Africain (XVIe-XIXe siècles), Paris 2002, 367-369. Im Folgenden zitiert als: Fath as-sakür. 50 A. D. Ould Abdellah, Le „passage au sud". In: La Tijâniyya, éd. par J.-L. Triaud & D. Robinson, Paris 2000, 69-100, 75. Im Folgenden zitiert als: Ould Abdeliah (2000).
Terminologie I: W a s ist ein Idaw 'All?
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An dem Beispiel der qabila Idaw 'Ali wird deutlich, dass sich der Begriff qabila, vergleichbar dem Begriff zwäya, auf eine eher abstrakte Identitätskomponente bezieht und weniger auf die sozialen Wirklichkeiten des Alltags. Der Alltag gestaltete sich entweder in einem Viertel eines Gelehrten- und Handelszentrums oder für die transhumant lebende Gemeinschaft in der Zeltstätte (fiig). Eine solche Zeltstätte bestand aus mehreren Familien (haima; bait), die auch Familien anderer qabä'il und Statusgruppen umfassten. Verschiedene soziale Institutionen, wie Heirat, Verbrüderung, Asyl oder andere Formen von Kooperationsbündnissen, ermöglichten in der Zeltstätte qabila-fremde Familien zu integrieren. Was es bedeutete, ein Idaw 'All zu sein, wird auf dieser Alltagsebene in der Zeltstätte oder dem Viertel eines Gelehrten- und Handelszentrums immer wieder neu durch die Integrationspraxis bestimmt. Es gibt also in diesem Sinne eine »qablla-Theohe«, nämlich die Ideale der jeweiligen mündlich oder schriftlich tradierten Überlieferung und eine »qabila-PTäxis«, die sich in der Integrationspraxis einer konkreten Zeltstätte zu einer bestimmten Zeit zeigt. Ich halte es für notwendig, diese beiden Ebenen auch begrifflich zu differenzieren. Beziehen sich die Aussagen auf die Theorie, also die in tradierten Überlieferungen vermittelten Normen und Werte, dann wird von qabila oder Gemeinschaft die Rede sein. Wird dagegen von der sozialen Praxis gesprochen, so werden konkrete Zeltstätten, Familien oder Akteure benannt.
Teminologie II: Was ist eine tariqä? Die Tigänlya ist eine tarlqa. Dieser Terminus lässt sich allgemein als »Pfad« übersetzen. Mit tariqat at-tigäniya wird somit zunächst ein Pfad bezeichnet, nämlich der sufische Pfad, den Ahmad at-Tigän! einschlug, um zur Gotterkenntnis (ma'rifa) zu gelangen. Dieser Pfad gilt als ein Bestandteil der sufischen Lehre, die in der Regel vom Stifter mündlich oder schriftlich vermittelt wurde. Er beinhaltet ebenfalls eine Praxis, die der Stifter angewendet hat und mittels der er für sich in Anspruch nimmt, erfolgreich zur Gotterkenntnis gelangt zu sein. Ein solcher Stifter ist also eine Persönlichkeit, die Gott
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Einleitung
erkannt hat, davon sind zumindest seine Anhänger überzeugt. Er stellt somit für die Gläubigen ein 'ärif bi-lläh (Erkenner Gottes) dar. Diese Gotterkenntnis machte ihn zum Gottesfreund (waliy). Eine solche Grundannahme findet sich bei allen turuq (Sg.: tariqa), für die tariqat at-tigäniya bezieht sie sich auf Ahmad at-Tigänl [gest. 1815]. Grundsätzlich wird angenommen, dass jeder Pfad zur Gotterkenntnis einzigartig ist. Er variiert nicht nur zwischen den verschiedenen turuq, er unterscheidet sich auch von Individuum zu Individuum. Da die Suche nach der Gotterkenntnis als schwierig und gefährlich gilt, braucht der Suchende, der »Gotterkenntnis-Wollende« (murid), eine Orientierungshilfe, damit er nicht versehentlich von seinem Pfad abkommt. Eine solche Hilfe kann nach Ansicht der Sufi-Gelehrten nur ein Gottesfreund leisten. Nur er verfügt über die notwendige Kenntnis, um den Wollenden zu orientieren. In dieser Arbeit wird dieser »Orientierung-Gebende« als Scheich (saih) bezeichnet, der »Gotterkenntnis-Wollende«: als Adept (murid; Hassänlya: tilmid), sein weibliches Pendant als Adeptin (murida; Hassänlya: tilmida). Die Anleitung zur sufischen Praxis, um einen Adepten zur Erlangung von Gotterkenntnis zu orientieren, setzt grundsätzlich ein fundiertes Wissen der islamischen Scharia voraus, dies wird in zahlreichen sufischen Schriften betont. 51 Der Scheich muss demnach nicht nur selbst Gotterkenntnis erlangt haben, sondern auch ein Gelehrter sein. Diese Voraussetzung spiegelt sich in dem Ausdruck baina lhaqiqa wa s-sari'a (zwischen göttlicher Wirklichkeit und Scharia) wider, der auch in der Literatur der Tigänlya erwähnt wird. Mit den Begriffen ma'rifa ((Gott-) Erkenntnis) und cilm (Wissen) werden zwei epistemologisch verschiedene Arten von Wissen unterschieden, 'ilm als Wissen im Sinne eines diskursiv erlangten Wissens, wie beispielsweise der Scharia, ma'rifa im Sinne einer erfahrenen Erkenntnis, einem experimentellen Wissenszugang. 52
51 B. Radtke, Kritik am Neo-Sufismus. In: Islamic Mysticism Contested, ed. by F. de Jong & B. Radtke, Leiden 1999,162-173. Im Folgenden zitiert als: Radtke (1999). 52 Ich danke an dieser Stelle Rüdiger Seesemann für diesen Hinweis und die Einsicht in sein Buchmanuskript vor Drucklegung. Die Unterteilung der Wis-
Teminologie II: Was ist eine tariqa?
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Der Erwerb von Wissen ('ilm) gelingt laut Sufi-Literatur durch die Disziplin des 'ilm az-zähir, der Erwerb von Erkenntnis (ma'rifa) durch die Disziplin des 'Um al-bätin. So stellt das 'ilm az-zähir ein „vernunftbasiertes Erfassen" religiösen Gelehrtenwissens dar, das 'ilm al-bätin dagegen ein „geschärftes Bewusstwerden der eigenen Seelentätigkeiten" dessen Ziel die „unio mystica", nämlich das Erfahren des fanä' (Entwerdung) ist.53 Die fanä -Erfahrung, der ein Erlernen der Wahrnehmungsfähigkeit und der Kontrolle der Triebseele (nafs) vorausgehen muss, bedeutet für den Adepten eine authentische Erfahrung des Göttlichen, der meist bereits ein Erlebender göttlichen Sphäre vorausgegangen ist. Somit stellen diese Art der Erfahrungen Transzendenzerfahrungen dar. Das 'ilm al-bätin wird als etwas verstanden, was dem 'ilm az-zähir nachfolgt. Das 'ilm al-bätin ist der Kern (lubb) des 'ilm az-zähir, zu dem der Adept vorzudringen sich müht. Der grundlegende Unterschied zwischen dem 'ilm azzähir und dem cilm al-bätin ist somit in der Methode zu suchen, denn das diskursiv erlernbare Wissen von Gott soll vom Adepten spirituell durch Gott erfahren werden. 54 Mit den bisherigen Erläuterungen sind bereits zwei Bedeutungsebenen des Begriffes tariqa angesprochen worden: die sufische Lehre und ihre Praxis. Die sufische Lehre ist vom Stifter einer tariqa mündlich oder schriftlich formuliert worden, auf ihr basiert die Praxis. Mit sufischer Praxis ist zum einen die Art und Weise gemeint, in der der Scheich seinen Adepten auf dem sufischen Pfad anleitet, zum anderen die rituelle Praxis, die alle Adepten einer tariqa ausüben, wie beispielsweise die Rezitationen bestimmter Litaneien oder den dikr (Gottgedenken). Die Lehre und die Praxis wird im Rahmen der dritten Bedeutungsebene, der organisatorischen Ebene, von ei-
senszweige in diskursives und experimentelles Wissens führt er dort näher aus, siehe: Seesemann (2011), 74. 53 Radtke (1999), 163f. 54 Zum Zusammenhang von Transzendenzerfahrung und Spiritualität, siehe: H. Knoblauch, Populäre Religion, Frankfurt a. M. 2009, 121-130. Im Folgenden zitiert als: Knoblauch (2009). Zu Sufismus verstanden als islamische Spiritualität, siehe: P. L. Heck, Sufism - What Is it Exactly?, Religion Compass 1 (2007), 148-164. Im Folgenden zitiert als: Heck (2007).
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Einleitung
nem Meister an einen Adepten weitergegeben. Diese tariqa-Organisation wird in der Regel als »Sufi-Bruderschaft« (confrérie) bezeichnet. In der vorliegenden Studie liegt der Fokus auf der inneren Dynamik der tariqa. Diese Dynamik entsteht insbesondere innerhalb einer tariqa, in der sich im Laufe der Zeit verschiedene Strömungen herausbilden. Um diesen dynamischen Aspekt der fariqa-Institution zu betonen, halte ich es für sinnvoller, von einer »Sufi-Bewegung« zu sprechen und mit dem Terminus im Folgenden die verschiedenen Strömungen innerhalb einer tariqa zu bezeichnen. Wenn dagegen von der tariqa als Gesamtinstitution die Rede ist, verwende ich den Begriff »Sufi-Gemeinschaft«. Es wird innerhalb der tariqa entschieden, ob eine Sufi-Bewegung eine neue eigene Gemeinschaft begründet oder Bestandteil der Ursprungsgemeinschaft bleibt. Das Zusammenbleiben in einer Gemeinschaft ist immer das Ergebnis eines gegenseitigen Integrationswillens. Grundsätzlich gilt die Annahme als berechtigt, dass eine Sufi-Bewegung motiviert ist, die Gemeinschaft zu stärken. Ebenso ist davon auszugehen, dass eine Sufi-Gemeinschaft ein Interesse daran hat, eine erfolgreiche Sufi-Bewegung zu integrieren. Ein Scheich kann somit sowohl als Interessenvertreter der gesamten Sufi-Gemeinschaft, als auch der spezifischen SufiBewegung angesehen werden. Zugleich stellt er die oberste Autorität in seiner eigenen Anhängerschaft dar. Diese Einheit »Anhängerschaft-Scheich« möchte ich als »Sufi-Gemeinde« bezeichnen. Hierin lässt sich der alltägliche soziale Umgang der Anhängerschaft beobachten. Es gibt verschiedene Arten von Anhängern in einer Sufi-Bewegung, die es zu unterscheiden gilt. Zunächst ist da der muhibb, ein loses Mitglied, welches nicht formal initiiert ist und sich vom Adepten unterscheidet, der sich formal initiiert hat. Unter den formal initiierten Anhängern treten wiederum einige hervor, die das Potential haben, neue Sufi-Gemeinden zu gründen, der muqaddam oder sein weibliches Pendant, die muqaddama. Adepten und muqaddamürt können Frauen wie Männer sein. Ein muqaddam wird zum Scheich, sobald er eigene Adepten initiiert hat. Für die Initiierung eigener Adepten benötigt er zuvor eine Autorisierung seines Scheichs, diese
Teminologie M: Was ist eine tariqa?
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wird taqdim genannt. Aber nicht jeder Scheich verfügt über die gleiche Autorität. Die oberste Autorität in einer Lokalität beansprucht der halifa (Stellvertreter). Das möchte ich als halifa-Amt bezeichnen, denn es beschreibt ein repräsentatives Amt, welches in der Regel nur von Männern bekleidet wird. Die Autorisierung dazu heißt tahlif. Ein solches Amt verbleibt häufig innerhalb der Familie, es kann aber auch an den Intimus des halifa übertragen werden. Ein Scheich ist somit immer ein muqaddam, er ist aber nicht unbedingt ein halifa.
Die Entwicklung der turuq im maurischen Lebensraum 55
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir in der maurischen Gesellschaft fünf turuq, die sich erfolgreich etabliert hatten: SädiliyaNäsirlya, Qädirlya-Muhtärlya, Cuzftya, Tigämya und die Fädillya (siehe Abb I). Die Sädiliya und die Qädiriya gelten als älteste turuq im maurischen Lebensraum. Unklar ist, welche der beiden sich zuerst etablierte. Es ist möglich, dass bereits im 15. Jahrhundert ein Schüler von Ahmad az-Zarüq [gest. 1493] die Sädillya im maurischen Lebensraum verbreitete. Er ist als Muhammad as-Sinqltl bekannt, Lebensdaten und Werk bleiben bis heute unbekannt. 56 Im 17. Jahrhundert lässt sich dagegen mit Sicherheit die Ausbreitung der aus Südmarokko stammenden Sädiliya-Näsirlya nachweisen, deren Etablierung im maurischen Lebensraum mit den Namen Muhtär b.
55 Der Begriff »maurischer Lebensraum« wird in diesem Text von mir verwendet um das vorkoloniale Mauretanien zu bezeichnen, dessen Territorium sich über die Kolonie Mauretanien hinaus erstreckte. Dieses Territorium war keine politische Einheit und hatte keinen gemeinsamen Namen. Vielmehr konkurrierten verschiedene Bezeichnungen miteinander, einen ersten Oberblick der Begrifflichkeiten bietet: Hamahou Allah Ould Salem, Histoire de la Mauritanie, Lauréat du Prix Chinguitti, Nouakchott, 2006, 1. Im Folgenden zitiert als: Ould Salem (2006). 56 al-Halil an-Nahw!, Biläd Sinqlt, Tunis, 1987, 121. Im Folgenden zitiert als: Nahwi (1987).
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Einleitung
al-Mustäfä, Sidi 'Abdallah at-Tinwägiyl und Sldl Muhammad b. Sldi 'Utmän b. Sldl 'Umar al-Waliy al-Mahgübl verbunden wird. 57 Auch bei den Idaw 'Ali Qibla hatte sich die Sädiliya-Näsiriya vor der Etablierung der Tigäniya verbreitet.58 Während bislang sichere Daten zur Geschichte der SädiliyaNäsirlya im maurischen Lebensraum fehlen, sind die Informationen zur Qädirlya umfangreicher. Der erste Nachweis geht auf Muhammad cAbd al-Karlm al-Magll! at-Tilimsänl [gest. um 1503] aus Tuwat (Algerien) zurück, dessen Schüler Sidi Ä'mar b. as-Saih Ahmad alBakä'i al-Kunti die Qädiriya in der Azawad-Region (Nordmali), dem Tagant und dem Adrar etablierte.59 Gehen die frühen Nachweise der turuq bis ins 16. Jahrhundert zurück, so zeigt sich, dass Ende des 18. Jahrhunderts eine Welle von sufischen Erneuerungsbewegungen begann. Diese setzte sich im 19. Jahrhundert fort und führte zur Etablierung der im frühen 20. Jahrhundert vorzufindenden turuq.60
57 N a h w l (1987), 122f. Zur Sädillya-Näsirlya in Südmarokko: D. Gutelius, Between God and Man: The Näsiriyya and Economic Life in Morocco, 16401830, P h D thesis, Johns Hopkins University 2001. Im Folgenden zitiert als: Gutelius (2001); D. Gutelius, The Path is Easy and the Benefits Large: The Näsiriyya, Social Networks and Economic Change in Morocco, 1640-1830, J A H 43 (2002), 27-49. Im Folgenden zitiert als: Gutelius (2002); D. Gutelius, Sufi N e t w o r k s a n d the Social Contexts for Scholarship in Morocco and the N o r t h e r n Sahara, 1660-1830. In: The Transmission of Learning in Islamic Africa, ed. by S. Reese, Leiden, 2004,15-38. Im Folgenden zitiert als: Gutelius (2004). 5 8 Ould Abdeliah (2000), 71f. 59 Zu M u h a m m a d 'Abd al-Karim al-Magili at-Tilimsänl, siehe: A. A. Batran, A Contribution to the Biography of Shaikh M u h a m m a d Ibn 'Abd-Al-Karim Ibn M u h a m m a d Al-Maghlli Al-Tilimsäni, J A H 14, (3, 1973), 381-394. I m Folgenden zitiert als: Batran (1973). Zu Sidi Ä ' m a r b. as-Saih A h m a d a l - B a k ä l al-Kunti, siehe: Rebstock (2001), 1/58; 18. Encyclopedia of Islam, 12 Bde, CD-ROM Edition, Leiden 2004, (Norris: Kunta). Im Folgenden zitiert als: EI CD-ROM. 6 0 A h m a d Bükärl, al-'Ihyä' w a t-tagdid s-süfi fi 1-Magrib (1790-1912 / 1204h1330h), 3 Bde, al-Muhammadlya 2006. Im Folgenden zitiert als: Bükäri (2006).
Entwicklung der turuq im maurischen Lebensraum
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Mit dieser Erneuerungsbewegung werden insbesondere drei Gelehrte verbunden: Muhammad b. Hablb Allah al-Mugaidrl al-Yaqübl alias LimgaidrI [gest. um 1794/95 (1209h)] in der Qibla-Region, der bereits als Autor des Sahihat an-naql erwähnte Sldi 'Abdallah b. alHägg Ibrahim al-'Alawi im Tagant und Muhtär b. Ahmad al-Kuntl im Azawad. 61 Sldi 'Abdallah und Muhtär al-Kunti teilten ein Interesse an Lokalgeschichte sowie an Genealogien, es heißt, sie seien miteinander befreundet gewesen. Außerdem strebten beide danach, die Beziehungen zwischen den in verschiedenen Regionen verstreut lebenden Gemeinschaften ihrer jeweiligen qablla zu stärken und verfassten dazu entsprechende Schriften, in denen die tradierten Überlieferungen ihrer qablla schriftlich fixiert wurden. 62 Bei Muhtär alKunti haben Brenner und Ould Cheikh anschaulich dargestellt, dass seiner Sufi-Bewegung bei der Stärkung des tribalen Zusammenhaltes eine wichtige Rolle zukam.63
61 Zu Leben und Werk von Muhammad b. Habib Allah al-Mugaidrl al-Yaqübl, siehe: Fath as-sakür; Waslt, 214-217; R. S. O'Fahey & A. S. Karrar, The Enigmatic Imam: the Influence of Ahmad ibn Idris International MES 19 (1987), 205-220. Im Folgenden zitiert als: O'Fahey/Karrar (1987); A. bt. 'Abd al-Wahhäb, tahqiq Mubaiyin as-surät al-mustaqîm li-kamàl ad-din Muhammad al-Mugaidrî, Thèse du Magistre, Université Nouakchott 1989-1990. Im Folgenden zitiert als: Mint 'Abd al-Wahhäb (1989); A. Daddüd üld "Abdallah, al-Harakät al-fikriya fi büäd Sinqit ft qarn XI wa XII al-higri, Thèse Doctorat Université Muhammad V, Rabat 1993. Im Folgenden zitiert als: Ould Abdeliah (1993); A. Hofheinz, The Letters of Ahmad b. Idris, London, 1993, 66f. Im Folgenden zitiert als: Hofheinz (1993); Rebstock (2001), 1/448; 127; St. Reichmuth, The World of Murtadä Al-Zabidi (1732-91), Oxford, 2009, 191f. Im Folgenden zitiert als: Reichmuth (2009). Zu Leben und Werk von Sidi 'Abdallah b. al-Hägg Ibrahim al-Alawi, siehe: Fn 45; Zu Leben und Werk von Muhtär b. Ahmad al-Kunti, siehe: Batran (2001). 62 Für Sldi 'Abdalläh betrifft dies die 1790 verfasste Schrift Sahihat an-naql, für Muhtär al-Kunti die später verfasste Schrift ar-Risäla al-galläwiya [übersetzt bei: Ismaël Hamet, Les Kounta, Revue du Monde Muselmane 15 (1911), 302-318. Im Folgenden zitiert als: Hamet (1911a)]. 63 L. Brenner, Concepts of tarïqa in West Africa: The Case of the Qädiriyya. In: Charisma and Brotherhood in African Islam, ed. by D. B. Cruise O'Brien & Ch. Coulon, Oxford, 1988, 33-52. Im Folgenden zitiert als: Brenner (1988); Ould Cheick (2001b), 148f.
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Einleitung
Alle drei erwähnten Persönlichkeiten galten als herausragende Gelehrte ihrer Zeit und ihrer Lokalität. Bevor sie sich der Verbreitung der islamischen Lehre widmeten, waren sie weit gereist und hatten Kontakt sowohl mit Gelehrten in Marokko als auch mit Murtadä az-Zabldl [1732-1791] in Kairo aufgenommen, der seinerseits in Verbindung mit zahlreichen muslimischen Gelehrten zwischen Afrika und Asien stand, die sich einen Namen als Erneuerer (mugaddid) in ihren Heimatregionen gemacht hatten. 64 Reichmuth hat dieses Gelehrtennetzwerk um Murtadä az-Zabldl anhand dessen Aufzeichnungen analysiert und kommt für das saharisch-sudanische Netzwerk zu dem Ergebnis, dass das Zusammenspiel von Debatten und translokalen Gelehrtennetzwerken um Murtadä az-Zabidi im Zusammenhang mit entscheidenden soziokulturellen und politischen Wandlungsprozessen stand. Dabei seien die Akteure insbesondere bei der Arabisierung und der Verbreitung arabischer Literatur und Dichtung engagiert gewesen, was zu jener Zeit im gesamten SaharaSahel-Raum zu beobachten sei. Diese frühe Generation sufischer Erneuerer sei als Vorbote späterer Entwicklungen zu sehen, wie sie sich bei der Entstehimg der Tigänlya sowie der von den Lehren von Ahmad b. Idrls [gest. 1837] inspirierten turuq im 19. Jahrhundert entfalteten. 65 Während die sufischen Erneuerungsbewegungen von Muhammad b. Hablb Allah al-Mugaidrl al-Yaqübl (Naqsbandiya) und Sldi 'Abdallah b. al-Hägg Ibrahim al-'Alawi (Sädillya) nach dem Ableben ihrer Stifter keinen weiteren Bestand hatten, etablierte sich die Qädiriya-Muhtäriya im frühen 19. Jahrhundert zur wohl erfolgreichs-
64 Zur Person und seiner wichtigen Rolle in den translokalen Gelehrtennetzwerken Afrikas und Asiens, siehe: St. Reichmuth, Das Gelehrten-Netzwerk des Murtada al-Zabidi: „Global Player" des 18. Jahrhunderts. In: Globaler Wandel, Rubin 2007, 67-73. Im Folgenden zitiert als: Reichmuth (2007). Zu den saharischen Gelehrten: Reichmuth (2009), 190-194. Außerdem: St. Reichmuth, Murtadä Al-Zabldl (1732-91) and the Africans: Islamic Discourse and Scholary Networks in the Late Eighteenth Century. In: The Transmission of Learning in Islamic Africa, ed. by S. Reese, Leiden 2004, 121-153. Im Folgenden zitiert als: Reichmuth (2004). 65 Reichmuth (2004), 152.
Entwicklung der turuq
im maurischen Lebensraum
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ten tariqa im maurischen Lebensraum. Inwieweit eine der Sädiliya zuzuordnende Erneuerungsbewegung in den Regionen Adrar und Tagant, die als Guzfiya bekannt ist, ebenfalls mit diesem translokalen Gelehrtennetzwerk verbunden war, lässt sich aufgrund mangelnder Studien zum Leben und Werk ihres Stifters Muhammad al-Agzaf ad-Daudi al-öa'fari [gest. 1803/04] nicht beurteilen. 66 Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich weitere turuq, wie die Tigänlya, von der sich verschiedene Sufi-Bewegungen in der maurischen Gesellschaft bis zum 20. Jahrhundert etablierten. So die von Muhammad al-Häfiz erfolgreich gestiftete Häfizlya und außerdem zumindest vorübergehend die c UmarIya (Hägg 'Umar Tall, gest. 1864), später die Hamäwlya (Scheich Hamälläh, gest. 1944) und letztendlich die /aida-Bewegung (Ibrählm Niasse; 1900-1975). Der Vollständigkeit halber sei noch die jüngste tariqa erwähnt: die von Muhammad al-Fädil b. Mämln al-Qalqam! [gest. 1879] gestiftete Fädiliya, die sich vergleichbar mit der Tigänlya im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert von der westlichen Sahara aus in die subsaharischen Regionen verbreitete. 67
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Nahwl (1987), 121f. Zu Leben und Werk, siehe: McLaughlin (1997); Boubrik (1999).
Foto 1.1. Die Grabstätte von A h m a d at-TigänT [1737-1815] in Fès, 2009
1. Historischer Rückblick: Das Sufi-Zentrum der Häfizlya im Licgul
Als Saihäni 1907 geboren wurde, prägte bereits die dritte Generation seiner Familie die sufische Praxis der Idaw 'Ali Qibla. Saihäni war der Urenkel von Muhammad al-Häfiz b. Muhtär [um 1758/59 (1172h) - 1831/32 (1247h)], dem Begründer der Häfizlya, einem maurischen Zweig der Tigäniya. Ab Mitte der 1930er Jahre wurde Saihäni zum wichtigsten Wegbereiter für die Verbreitung einer sufischen Erneuerungsbewegung der Tigäniya in der Kolonie Mauretanien, die sich selbst als faida (Emanation) bezeichnete. 68 Die Dynamik seines Erfolgs bei den Mauren sowie die Art und Weise, in der sich die faidaBewegung im zweiten Quartal des 20. Jahrhunderts in Mauretanien etablieren konnte, basierte auf einigen Besonderheiten der Etablierungsgeschichte der Häfizlya, die ich im Folgenden darstellen werde. Auch wenn die maurische Tigäniya gerne mit der Häfizlya gleichgesetzt wird, so etablierten sich de facto im maurischen Lebensraum seit dem 19. Jahrhundert vier innerhalb der Tigäniya entstandene
68 In Mauretanien wird diese Emeuerungsbewegung in Anlehnung an ihren Begründer Ibrahim Niasse auch Tigäniya-Ibrähimiya genannt. Die Benennungen ^à/da-Bewegung und Häfizlya werde ich im Folgenden verwenden, um die beiden Zweige der maurischen Tigäniya begrifflich zu unterscheiden. Die Anhänger der Häfiziya sowie der jäida-Bewegung verstehen sich in erster Linie als Anhänger der Tigäniya. Grundsätzlich bezeichnen sich alle Zweige als tariqat at-tigänlya, die Namen der einzelnen Sufi-Bewegungen werden nur selten selbst verwendet. Stattdessen wird Wert darauf gelegt, die Einheit der TigäniyaGemeinschaft zu betonen. Zur grundlegenden Schwierigkeit wann eine tariqa als Zweig und wann als eigenständig anzusehen ist, siehe: C. Hamès, Cheikh Hamallah ou Qu'est-ce qu'une confrérie islamique (Tarîqa), ASSR 55; 1 (1983), 67-83. Im Folgenden zitiert als: Hamès (1983).
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Historischer Rückblick
Sufi-Bewegungen. Diese umfassen neben der Häfizlya und der faidaBewegung die Hamäwlya und die 'Umariya. (Abb. ü; Karte HI) Die Bedeutung der historischen Entwicklung der Häfizlya im Licgul und ihren translokalen Netzwerken für die Etablierung der /aida-Bewegung ab Mitte der 1930er Jahre wird von der Tatsache bestätigt, dass alle prominenten Missionare der /aida-Bewegung aus einflussreichen Familien der Häfizlya im Li'gul kamen. Die Häfizlya wurde Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere von vier Familien geprägt, die als Führungskreis der Häfizlya im Li'gul bezeichnet werden können: die Ahl at-Tulba und die Ahl Baddi bildeten dabei gemeinsam die Führungsspitze der Häfizlya, darüberhinaus werden die Ahl Fäl und die Ahl Abbäh zum inneren Führungskreis gezählt (Abb. 1.1.). Dieser Führungskreis wird in diesem Kapitel in Bezug auf seine Machtbalance untersucht werden. Ebenso wird die Positionierung der Häfizlya gegenüber anderen Sufi-Bewegungen der Tigänlya sowie der Qädiriya betrachtet werden. Vorab möchte ich den Stand der Sekundärliteratur beleuchten und die Quellen vorstellen, anhand derer eine neue Betrachtung der Etablierungsgeschichte der Häfizlya ermöglicht wird.
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