Die Entstehung des lyrischen Ich: Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik [Reprint 2013 ed.] 9783110803082, 9783110064445


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German Pages 377 [380] Year 1970

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Inhalt
Vorwort
VORSTUDIEN
Dante
Petrarca
Giordano Bruno
Deutsche Barocklyrik
Schiller
„Excelsior!”
Interpretationen
C. F. Meyer „Himmelsnähe"
Baudelaire „Elévation”
Nietzsche „Aus hohen Bergen”
Mallarmé „Autre éventail, de Mademoiselle Mallarmé”
Hofmannsthal „Reiselied”
George „Entrückung”
Schluß „Das lyrische Ich”
Namenregister
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Die Entstehung des lyrischen Ich: Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik [Reprint 2013 ed.]
 9783110803082, 9783110064445

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Pestalozzi · Die Entstehung des lyrischen Ich

Karl Pestalozzi

Die Entstehung des lyrischen Ich Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

Archiv-Nr. 30 37 701 © 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44

Inhalt Vorwort

VII

Vorstudien Dante

3

Petrarca

19

Giordano Bruno

30

Deutsche Barocklyrik

43

Schiller

78

„Excelsior!"

102

Interpretationen C. F. Meyer „Himmelsnähe"

119

Baudelaire „Elévation"

168

Nietzsche „Aus hohen Bergen"

198

Mallarmé „Autre éventail, de Mademoiselle Mallarmé"

247

Hofmannsthal „Reiselied"

283

George „Entrückung"

310

Schluß „Das lyrische Ich"

342

Namenregister

357

FÜR JULIKA

Vorwort Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgang v o n der grundsätzlichen Frage nach der Funktion der L y r i k , die sich angesichts der modernen Lyrik, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, mit verstärkter Dringlichkeit stellt. Die Frage trägt das Odium des Banausischen an sich. Denn gerade diese L y r i k bestand mit Nachdruck darauf, nicht nur keinen Zweck, sondern überhaupt keinen Bezug zur Wirklichkeit zu haben, „reine" oder „absolute Poesie" zu sein. Das demonstrative Verbot provoziert jedoch die Frage erst recht. Die programmatische Reinheit v o n allem Wirklichen läßt einen verborgenen Zweck vermuten. In den negativen Kategorien, die sich bei der Beschreibung dieser L y r i k einstellen 1 , scheint sich ein Positivum anderer A r t zu verbergen. Dieses gilt es zu finden. Die Suche danach wird gelenkt v o n dem Vorverständnis, L y r i k habe es grundsätzlich mit dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu tun. Maßgebend ist dabei die Lyrikbestimmung Hegels in der „Aesthetik" 2 . Hegel betrachtet das Gedicht als konstitutiv f ü r das Selbstbewußt1

1

Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1956. 2. Aufl. 1957. 3. A u f l . 1967 (rororo-Enzyklopädie 25). Friedrichs Buch hat das Verdienst, die Problematik der modernen Lyrik erstmals einer breiteren Leserschaft bewußt gemacht zu haben. Das Unbefriedigende seiner vorwiegend negativen Charakterisierung ist jedoch allgemein bemerkt worden. Die Einzelinterpretationen sind zudem zu sehr auf die Generalthese hin verkürzt. Ich bin in dieser Arbeit Friedrich in vielen Dingen insofern verpflichtet, als mich sein Buch zur Auseinandersetzung anregte, vor allem was die Grundthese betraf. Berührungen in Einzelfragen ergaben sich in den Kapiteln über Baudelaire und Mallarmé. Hegel, Aesthetik, hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau 1955. Die lyrische Poesie S. 998—1037. — Wichtig ist vor allem die folgende Stelle: „Das blinde Walten der Leidenschaft liegt in der bewußtseinslosen dumpfen Einheit derselben mit dem ganzen Gemüt, das nicht aus sich heraus zur Vorstellung und zum Ausspredien seiner gelangen kann. Die Poesie erlöst nun das Herz zwar von dieser Befangenheit, insofern sie dasselbe sich gegenständ-

VII

sein. Es vermittelt dem Subjekt, d. h. dem Ich, was ihm als Substanz zugrunde liegt. Dieses gewinnt aus dem Gedicht sein Selbst. In dieser Reflexivität besteht der Kern von Hegels Bestimmung. Die konkrete Argumentation steht deutlich unter dem Eindruck der Goetheschen Lyrik, einmal darin, daß sie das Gedicht einseitig in seiner Relation zum Dichter sieht, zum anderen in der Fassung seines Inhalts als Gemütsäußerung. Hegels Bestimmung kann durch eine neuere ergänzt werden8, die, auf Hegel fußend, die beiden erwähnten Momente allgemeiner faßt und den Akzent stärker auf die Wirkung des Gedichts auf das Ich des Lesers setzt. Beide Bestimmungen geben dem Gedicht seinen Ort zwischen Ich und Selbst. Dabei ist mit „Ich" das empirische Ich verstanden, das in Raum und Zeit lebt und handelt, mit „Selbst" die ihm zugeordnete Identität als die Bedingung der Möglichkeit, in wechselnden Situationen „Ich" zu sagen und zu sein. Die Unterscheidung von „Ich" und „Selbst" entspricht derjenigen von französisch „je" und „moi", englisch „I" und „seif". Der Zusammenhang von Lyrik und Selbstbewußtsein ließe sich audi historisch deutlich machen. Die Gleichzeitigkeit von Entstehung der Lyrik und Erwachen der Persönlichkeit bei

'

lidi werden läßt, aber sie bleibt nicht bei dem bloßen Hinauswerfen des Inhalts aus seiner unmittelbaren Einigung mit dem Subjekte stehen, sondern macht daraus ein von jeder Zufälligkeit der Stimmung gereinigtes Objekt, in welchem das befreite Innere zugleich in befriedigtem Selbstbewußtsein frei zu sich zurückkehrt und bei sidi selber ist." S. 999. — Oder kürzer: „In der Lyrik . . . befriedigt sich das . . . Bedürfnis, s i c h auszuspredien und das Gemüt in der Äußerung seiner selbst zu vernehmen." S. 1000. Gerd Wolandt, Philosophie der Dichtung. Berlin: de Gruyter 1965. „Der poetische Gedanke führt die konkrete Subjektivität von den Wegen, die ihre gewohnten und vertrauten sind, aus der Welt ihrer primären Leistungen fort in eine Welt, in der sie sich dem Gewohnten und Vertrauten entfremdet und entrückt sieht, deren Gebilde aber gerade vermittels dieser Entrüdcung und Entfremdung die Subjektivität in ihrer geschichtlichen Konkretheit manifestieren und bestätigen. Obwohl der poetische Gedanke der konkreten Subjektivität unmittelbar weder Belehrung noch Leitung zu bieten hat, stellt er sie gleichwohl in ihrem Vermögen her, die (primäre) Welt denkend zu durchdringen und handelnd zu gestalten und die eigene Würde zu wahren. Der poetische Gedanke erscheint, gemessen an den primären Möglichkeiten der Subjektivität, als Überflüssiges. Er ist es indessen nicht, wenn man das Grundgefüge der Subjektivität in Betracht zieht. Denn eine der Bedingungen des Bestandes der Subjektivität ist, daß sie ihrer selbst, in ihrer zugeteilten und zu ihrer selbsterrungenen und selbstentworfenen Konkretheit, frei gegenwärtig, von ihr ergriffen und durchdrungen sei." S. 6.

VIII

den Griechen4 spricht ebenso dafür wie die zeitgenössische Erfahrung, daß unter der Herrschaft kollektiver Normgefüge per contrarium die Faszinationskraft lyrischer Gedichte wächst5. Aus diesem Vorverständnis ergibt sich für den Neubeginn der Lyrik im späteren 19. Jahrhundert die Hypothese, daß sich darin eine grundlegende Veränderung im Verhältnis des Menschen zu sich selbst ankündige. Wie aber läßt sie sich verifizieren? Ich habe den Weg gewählt, einzelne Gedichte dieses Zeitraums daraufhin zu interpretieren. Von jedem der beigezogenen Lyriker wird ein Gedicht ins Zentrum gestellt. Das geschieht im Vertrauen darauf, auch in einem einzelnen das Ganze zu haben. Da das Gedicht einzig als geschlossene sprachliche Gestalt seine vermutete Funktion erfüllen kann, ist darauf geachtet, es als solche zu bewahren. Deshalb folgt die Interpretation jeweils nach Möglichkeit dem Verlauf des Gedichts. Ihren Ehrgeiz sieht sie darin, es möglichst gründlich zu lesen. Entsprechend der Frage nach einem darin erscheinenden Neuen wird auf historische Bezüge besonders geachtet. Die Frage nach der Wirkung macht gelegentliche Ausblicke biographischer Art notwendig. Da die Interpretationen im Dienst einer historisch-systematischen Fragestellung stehen, können sie nicht in einem strengen Sinne immanent verfahren. Sie werden vom Versuch begleitet, erkannte Eigentümlichkeiten mit der Gesamtkonzeption des jeweiligen Autors zusammenzusehen oder umgekehrt dem Gedicht von seiner Stelle innerhalb des betreffenden Gesamtwerks beizukommen. Dabei ist es nicht immer in gleichem Maße gelungen, die Interpretation strikte an die systematische Problematik zu binden oder umgekehrt diese ausreichend interpretatorisch zu belegen. Dadurch, daß ich bei der Vorarbeit immer vom Gedichttext ausging, erhielt dieser grundsätzlich den Vorrang. Doch ließen sich gelegentlich Gewaltsamkeiten beim Knüpfen von Verbindungen nicht vermeiden. Die Kombination von Interpretation und Systematik ähnelt nur zu oft der Quadratur des Zirkels. Eine Annäherung beider wurde mittels eines den behandelten Gedichten gemeinsamen Motivs möglich. Es kann den systematischen Zusammenhang ge4

5

Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg: Ciaassen 1955. IV. Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriediisdien Lyrik. S. 8 3 — 1 1 7 . Ich denke hierbei an die Berichte aus kommunistischen Ländern, besonders der Sowjetunion, über Lyriklesungen vor hunderten von andächtigen Zuhörern.

IX

währleisten und der Auflösung der Arbeit in Einzelinterpretationen entgegenwirken. Als leitendes M o t i v wurde Elevation, Erhebung, in der doppelten Ausprägung als Aufstieg und Aufschwung, gewählt*. Diese Wahl ergab sich nicht primär aus Beobachtungen an der Literatur. Es war mir vielmehr aufgefallen, daß in der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in Praeraffaelismus und Jugendstil, der Z u g in die H ö h e ein dominantes Merkmal ist. Es läßt sich in der Architektur, im Kunstgewerbe und in der Malerei erkennen. Der Eiffelturm der Pariser Weltausstellung v o n 1889 ist dafür das Protobeispiel. In der Musik zeigt sich eine analoge Tendenz in der Einbeziehung der höchsten Töne etwa beim frühen Richard Strauss und bei Mahler. Nachdem einmal der Blick dafür gewonnen war, zeigten sich auch in der L y r i k , der hohen und der trivialen, Aufstiege und Aufschwünge in reicher Zahl 7 . In Nietzsche hat diese Motivik innerhalb der deutschen Literatur ihr stärkstes Strahlungszentrum. • Der Ausdruck „Aufschwung" ist in dieser Arbeit somit wörtlich verstanden. Wo von „Aufschwunglyrik" oder „Aufschwunggedichten" die Rede ist, sind Gedichte gemeint, die das Motiv der Erhebung gestalten. Dies zu betonen ist deshalb notwendig, weil Fr. Th. Visdier in seiner Ästhetik bei der Einteilung der Lyrik eine „Lyrik des Aufschwungs" von einer der „Ablösung" und der „echten L y r i k " unterscheidet. Visdier versteht unter „Lyrik des Aufschwungs" hymnische Lyrik. Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik. 2. Auflage hrsg. von Robert Visdier, München: Meyer und Jessen 1923. § 889. Wie es zur übertragenen Bedeutung von „Aufschwung" kam, wird im Verlauf der Arbeit deutlich werden. — Kürzlich ist eine Arbeit erschienen, die das entgegengesetzte Motiv ins Zentrum stellt: Alfred Doppler, Der Abgrund. Studien zur Bedeutungsgeschichte eines Motivs. Graz/Wien/Köln: Böhlau 1968. T Vgl. ζ. B. die Anthologie von Κ . E. Knodt, Wir sind die Sehnsucht. Stuttgart: Greiner & Pfeiffer 1902. Im Vorwort heißt es u.a.: „Es wäre entschieden ein Irrtum, wollten wir die Zahl der nadi den Sternen Strebenden unseres neuen Jahrhunderts gering schätzen. . . . Schon die namentlichen Namen der Sehnsuditssänger in diesem unserem Sammelbudie sind ein unwiderleglicher Beweis, daß und wie die b e s t e n modernen Dichter S ä n g e r s t a r k e r S t e r n e n s e h n s u c h t sind. Und wir glauben noch an viel ungenannte und ungekannte Genossen gleichen Glaubens allerorten — bis in die fernsten Welt- und Waldwinkel hinein." S. V I I I . Die Anthologie versammelt alle poetae minores der Zeit von Avenarius bis Zudihold. Von den heute noch bekannten Namen sind Hesse, Ricarda Huch, Rilke vertreten. — Wie allgemein diese Zeitstimmung war, kann auch der Aussprudi Heinrich Wölfflins aus dem Jahre 1906 belegen: „Der beste Besitz ist die wache Sehnsucht. Ich habe sie für Italien und die Berge." Zit. bei G. Jedlicka, H . W. zum

X

Aufschwung und Aufstieg erscheinen als Bewegungen des Ich über die wirkliche Welt hinaus, in eine andere Sphäre. Sie stellen damit motivische Objektivationen jener Bestrebungen dar, die der „reinen Poesie" zugrunde liegen. An den Gestaltungen dieser Motive muß sich, wenn das zutrifft, die Funktion dieser Lyrik für das Ich fassen lassen. So kann die systematische Fragestellung in die Interpretation einbezogen werden. Erkennen ist zu einem wesentlichen Teil Unterscheiden. Es erwies sich als notwendig, frühere Gestaltungen des Motivs einzubeziehen, um die Eigentümlichkeit der sechs im Hauptteil interpretierten Gedichte genauer zu sehen. Aus dem Plan einer motivgeschichtlichen Einleitung sind die „Vorstudien" erwachsen, die mit Dante beginnen und mit Schiller schließen. Sie bestehen ebenfalls grundsätzlich aus Einzelinterpretationen, doch ist das Gewicht stärker auf die Herausarbeitung einer großen Linie gelegt. Mit Dante zu beginnen, legte das Erhebungsmotiv nahe. Petrarca und Giordano Bruno sollen den Neuansatz dokumentieren, der von Dante wegführte. Dabei ist die Beschäftigung mit Giordano Bruno für die ganze Arbeit entscheidend geworden. An ihm erst wurde mir die Relevanz des Erhebungsmotivs völlig deutlich, die darin enthaltene Verbindung von Selbstbewußtsein und Kosmologie. Mit dem Kapitel über barocke Lyrik wenden sich die „Vorstudien" der deutschen Literatur zu. Von da springen sie zu Schiller. Schiller gewinnt gerade von Giordano Bruno her besondere Bedeutung. Mit ihm nahm mutatis mutandis die deutsche Lyrik Brunos Neuansatz auf, nachdem sie im Barock von einer Dante nicht allzu fernen Auffassung von Mensch und Welt ausgegangen war. Der Ablauf von Dante zu Bruno wiederholt sich gewissermaßen in demjenigen vom Barock zu Schiller. Die Phasenverschiebung der deutschen im Verhältnis zur europäischen Lyrik wird daran überraschend deutlich. Sie könnte durch die Einbeziehung von Beispielen aus den übrigen Nationalliteraturen weiter profiliert werden. Mit Schiller ist die Schwelle zur Moderne erreicht. Die Lyrik, um die es im Hauptteil geht, greift auf ihn zurüdk. So ist es mindestens halbwegs loo. Geburtstag. N Z Z vom 20. Juni 1964 (FA N r . 168). — In der Malerei wäre vor allem auch Hodler anzuführen, dessen Berge sich wie Kristalle aus Wolken oder Nebel in das reine Blau erheben. — Das konsequenteste musikalische Beispiel sehe idi im 5. Satz von Mahlers Symphonie N r . I I in c-moll, die 1891 bis 1894 entstand. — Für die unermüdliche Aufspürung entlegener Aufstieg- und Aufsdiwunggedidite aus der Jahrhundertwende habe ich Fräulein Ingrid Bode an der Bibliothek des Schiller Nationalmuseums in Marbach zu danken.

XI

zu verantworten, daß die Romantik 8 übergangen wird und der Hauptteil mit C. F. Meyer beginnt. Gelegentliche Rückblenden in den Kapiteln des Hauptteils tragen die gröbsten Verbindungslinien nach. Die größere Auslassung betrifft Goethe, der ebenfalls nur am Rande der Hauptkapitel erscheint. „Ganymed", „Harzreise im Winter", der Aufsatz über den Granit müßten in den „Vorstudien" ihren Platz haben. Die Figur des Euphorion baut sich geradezu aus den verschiedenen Momenten des Erhebungsmotivs auf. Die Weiche zu Goethe hin ist im Abschnitt „Pietismus" des Barockkapitels gestellt. Daß er dennoch nicht einbezogen wurde, hängt im tiefsten damit zusammen, daß Goethe und die auf ihn zurückgehende Lyrik als Gesamtphänomen der Einordnung in die Erhebungsmotivik, wie sie hier verstanden wird, widerstrebt. Nicht umsonst ließ Goethe Euphorion scheitern. Er war mißtrauisdi gegen jene Überschreitungen der Grenzen der Menschheit, zu denen audi der Aufschwung gehört. Damit ist auf eine Einschränkung hingewiesen, die sich aus der Wahl gerade dieses Leitmotives ergab. Es wurde mir erst in einem relativ späten Stadium der Arbeit klar, daß die Bewegung in die Höhe in den Umkreis des Erhabenen gehört, ja daß sie eines der zentralen Motive dieser ästhetischen Gattung darstellt. Περί Ύψους heißt bekanntlich der Traktat des Longin, der sie theoretisch begründete. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich aufgrund des leitenden Motivs vor allen Dingen mit Lyrik der erhabenen Dichtart. Das Schöne entzieht sich weitgehend ihrer Anlage. Daraus geht aber andererseits hervor, daß, wenn die Gedichte des Hauptteils für die moderne Lyrik repräsentativ sind, in dieser das Erhabene ins Zentrum rückt. Das bedürfte jedoch einer eingehenderen Diskussion dieses Begriffs und seiner Geschichte*. Die interpretierten Gedichte auch des Hauptteils stammen nicht alle aus der deutschen Literatur. Die Einbeziehung Baudelaires und Mallarmés schien gerechtfertigt durch beider Einfluß auf den Neubeginn der deutschen Lyrik. Eine Erweiterung um englische und italienische Lyrik wäre wünschenswert gewesen. Innerhalb der deutschen Literatur waren ® Reidies Material dafür enthält die Arbeit von Günther Schmitz. Der Seelenaufsdiwung in der deutschen Romantik. Diss. Münster 1935. — Manche Kapitel aus Bernhard Bösdienstein, Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich: Atlantis 1968, ergänzen diese Arbeit vor allem für den hier vernachlässigten Zeitraum. • Vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von Karl Viëtor, Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: Κ . V., Geist und Form. Bern: Francie 1952. S. 234—266.

XII

Interpretationen von Rilkes „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens" und Benns „Ikarus" vorgesehen. Die innere und äußere Notwendigkeit, die Arbeit abzuschließen, ließ es nicht mehr dazu kommen. Idi hoffe, daß die gezogenen Linien deutlich genug sind, um dem Leser, sofern er sie akzeptiert, die Weiterführung zu ermöglichen. In Blickrichtung und Methode weiß ich midi dankbar meinen beiden Lehrern, Emil Staiger und Wilhelm Emridi, verpflichtet. Beider Anteil an dieser Arbeit ist nicht zu überschätzen. Mancherlei Anregung und Bestätigung gaben mir die Studien von Georges Poulet und Gaston Bachelard. Eine starke Faszination durch die geistesgesdiiditliche Schule wird nicht zu verkennen sein. Bei aller Hilfe, die idi von den Genannten empfing, verstehe ich die Arbeit dodi in starkem Maße audi als ein Unternehmen der Selbstverständigung. Ich bekenne mich zu dem Dilettantismus, auf den man an manchen Stellen stoßen wird. Was wäre die Literaturwissenschaft ohne ihn! So ist es nun am Leser zu beurteilen, ob, was aus vielfältigen Umständen hervorging, Evidenz und allgemeinere Geltung beanspruchen kann. Die Arbeit hat der Philosophisdien Fakultät der Freien Universität Berlin im Sommer 1968 als Habilitationsschrift vorgelegen. Sie wurde seither nur geringfügig verändert. Wilhelm Emridi, Gerhard Kaiser, Norbert Miller und Peter Szondi sahen das Manuskript freundlicherweise kritisch durch. Ihre Bemerkungen waren mir sehr wertvoll. Mazzino Montinari, Hans-Georg Rappl, Hans Staub, Martin Stern und Hans Zeller durfte idi in ihren Spezialgebieten jederzeit konsultieren. Das Register stellten Hans und Friederike Christ-Kutter her. Beim Korrekturenlesen waren mir Peter André Bloch, Herr Charles Bloch und Frau Ruth Rauscher behilflich. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe gedankt. Ein besonderer Dank gebührt schließlidi dem Verlag für die sorgfältige Betreuung des Buches, vor allem Herrn Prof. Heinz Wenzel, der sich mit unermüdlicher Geduld und großem Verständnis dafür eingesetzt hat. Basel Ende Juli 1970

XIII

Dass du, o Mensch, derselh' und doch ein andrer hist.

VORSTUDIEN

Dante Dante. D i e göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Ubersetzt und kommentiert v o n Hermann Gmelin. 6 Bde Stuttgart: K l e t t 1949—57. T e x t und Übersetzung werden wie üblich nach Teil, Gesang und Verszeile zitiert. Die Zählung Gmelin I, II, I I I bezieht sich auf die Kommentarbände.

Diese Vorstudien, die historisch bedeutsamen Ausprägungen des Aufstieg- und Aufschwungmotivs gelten, können legitimerweise bei Dante beginnen. Wie kein anderes der großen Werke der abendländischen Literatur ist die „Divina Commedia" durch diese Motive bestimmt. Die Spezialforschung hat im einzelnen nachgewiesen, welche vorausliegenden Systeme Dante das Material für sein Epos geliefert hatten. Auch was die Erhebungsmotive betrifft, stellt es eine Art Kompendium dar. Es kombiniert Motivgestaltungen aus der antiken Mythologie, dem Platonismus, der Bibel, der römischen und patristisdien Literatur 1 . Wir sind dadurch der Pflicht ihrer weiteren Rückverfolgung bis zu den Quellen enthoben und können uns, wo es um die Bestimmung ihres Bedeutungsspielraums geht, zunächst an Dante orientieren. Wichtiger als dieser mehr technische Aspekt ist der geistesgesdbichtliche. In Dantes Werk erhielt der Geist des christlichen Mittelalters sozusagen in letzter Stunde eine dichterische Kodifizierung. Die Relationen zwischen Gott und Kosmos, Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, wie sie die Kirche in jahrhundertelanger geistiger Arbeit konstituiert und verbindlich gemacht hatte, sind darin aufbewahrt. Man wird zwar die Momente nicht übersehen dürfen, die auf die Renaissance vorausdeuten. Gerade das Thema der Selbstvergewisserung, das hier interessiert, gehört dazu. Aber sie fügen sich noch immer ein in den festen Rahmen der scholastischen Theologie und Kosmologie. Die mit der Renaissance einsetzende weitere Geschichte des europäischen Geistes führte schließ1

V g l . die Einleitung zu Gmelin I, II, III. — D e r ausführliche und ungemein sorgfältige Kommentar ist eine themen- und motivgeschichtliche Fundgrube, die auch dieser Arbeit insgesamt zugute kam.

3 1*

lieh zur Zerschlagung des von Dante gestalteten Weltbildes. Je weiter dieser Prozeß fortschritt, umso mehr wurde die „Divina Commedia" zu einem zwar respektierten, aber befremdlichen Monument. Die Begegnung mit ihr ließ den Abstand ermessen, der sich zu ihr aufgetan hatte. Man denke an Goethes Bemerkung zu Eckermann: „ I h n e n . . . soll das Studium dieses Dichters von Ihrem Beichtvater hiermit durchaus verboten sein." 2 Das war zu einer Zeit gesprochen, als das unterste Fundament des Danteschen Bauwerks, die christliche Gottesvorstellung, angegriffen wurde. Indem wir somit Dante an den Anfang setzen, hoffen wir einen Fixpunkt zu gewinnen, im Bezug auf den sich die geistes- und motivgeschichtliche Lage der weiteren Beispiele bestimmen läßt. Es wird sich zeigen, daß, was den deutschen Strang der angedeuteten Entwicklung, der später hauptsächlich betrachtet werden soll, betrifft, Schiller sich als Schlußpunkt verstehen läßt. Mit ihm sollen daher diese Vorstudien aufhören. Mit der Romantik setzt ein neues starkes Interesse für Dante ein, das mit dem 19. Jahrhundert fortschreitet. Dantes 600-Jahr-Jubiläum von 1 8 6 j wurde zu einer enthusiastischen Feier der Dante-Verehrung in ganz Europa. Sie fand in der Folgezeit ihren Ausdruck in der intensiven Danteforschung 3 , wirkte sich aber auch in Malerei und Dichtung aus. Fast bei allen Dichtern des späteren 19. Jahrhunderts, deren Aufschwung- und Aufstieggedichten der Hauptteil dieser Studien gilt, findet sich eine explizite Dante-Verehrung, die bis zur Dante-Imitation gehen kann. Die folgenden kurzen Nachweise sollen das belegen. Sie sollen zugleich rechtfertigen, weshalb diese Vorstudien Dante nicht nur einbeziehen, sondern an den Anfang setzen. B a u d e l a i r e s gute Dantekenntnis ist bezeugt. Er kommt auf Dante, „le grand peintre de la douleur humaine" 4 mehrere Male im Zusammenhang mit Delacroix' Bild „Dante et Virgile aux Enfers" zu 2

s

4

4

Goethe zu Eckermann a m 3. D e z . 1 8 2 4 . Goethes Verhältnis zu Dante w a r freilich komplexer, vgl. H o r s t Rüdiger, Dante als Erwecker geistiger Kräfte in der deutschen Literatur. I n : Festschrift für Richard A l e w y n . hrsg. von Herbert Singer und Benno von Wiese. K ö l n / G r a z : Böhlau 1 9 6 7 . D e r A u f s a t z gibt einen materialreichen Oberblick über die Rezeption Dantes in Deutschland. V g l . G . A . Scartazzini, Dante in Germania. Storia letteraria e bibliografia Dantesca alemanna. 2 Bde N a p o l i , Milano, Pisa: Ulrico H o e p l i 1 8 8 1 / 8 3 . Charles Baudelaire, Œ u v r e s complètes, éd. L e Dantec et Pichois, Paris 1 9 6 1 (Bibliothèque de la Pléiade) p. 898.

sprechen. Bei diesem Anlaß zitiert er einen größeren Abschnitt aus dem 4. Gesang des Inferno, der von der Vorhölle handelt. Daß diese Baudelaires besondere Anteilnahme fand, geht daraus hervor, daß er als Titel für seine Gedichtsammlung „Les Limbes" vorgesehen hatte. In den „Fleurs du Mal" klingt Dante verschiedentlich an. L o n g f e l l o w s Beschäftigung mit Dante in den sechziger Jahren steht im Zusammenhang seiner Übersetzung der „Göttlichen Komödie". Er widmete Dante auch mehrere eigene Gedichte. Eine „Divina Commedia" betitelte Gruppe von fünf Sonetten beschreibt den Eindruck des Epos unter dem Bild des Eintritts in eine Kathedrale bis zur Elevation der Hostie. Für N i e t z s c h e gehörte Dante von der Schule her zum Bildungsbestand. Er wurde ihm mehr und mehr zum Inbegriff des starken und heroischen Dichters, dessen Erfahrung in der Verwandtschaft von Seligkeit und Leiden er bewunderte. Hier ist der folgende späte Brief an Peter Gast von Bedeutung, in dem bei Gelegenheit des Vorspiels zum „Parsifal" Nietzsches Vorstellung vom „Höhendichter" Dante zum Ausdruck kommt: „ . . . hat Wagner je etwas b e s s e r gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, m i t g e t e i l t werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht, eine Deutlichkeit der Musik als deskriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebnis, Ereignis der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, audi „höheren Menschen", als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von „Höhe" im erschreckenden Sinne des Wortes, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen gibt es bei D a n t e , sonst nicht." 5 In „Ecce homo" wird jedoch Dante hinter Zarathustra zurückgesetzt: „dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht einer, der die Wahrheit erst s c h a f f t , ein w e l t r e g i e r e n d e r Geist, ein Schicksal —"." C. F. M e y e r s Dante-Vorliebe hat ihren sichtbarsten Ausdruck in der „Hochzeit des Mönchs" gefunden. Betsy berichtet in ihren Erinnerungen, daß das „Purgatorio" zu Meyers Lieblingsbüchern gehörte, „über dessen Felsterrassen eine so wunderbar mit den scharfen reinen Berglüften ver5



Nietzsche an Peter Gast am 21. Jan. 1887. Sdilechta, II, S. 1134.

5

wandte Stimmung liegt." 7 Beleg von G e o r g e s Dante-Begeisterung kann an dieser Stelle die Erinnerung an seine Übersetzungen sein sowie an den Versudi, sich physiognomisch und in der ganzen Haltung auf den Florentiner hin zu stilisieren. Des näheren wird davon im Zusammenhang mit der Interpretation von „Entrückung" gesprochen werden. H o f m a n n s t h a l s Gedicht „Nach einer Dante-Lektüre" 8 sucht den Eindruck von Ergriffenheit und Befremden festzuhalten, den die „Berühmten schweren alten Verse" auf den Zwanzigjährigen machten. Dante gehörte zur abendländischen Tradition, die sich der junge Hofmannsthal aneignete. Spezielle Dantereminiszenzen sind selten. Der intendierte Konsensus der genannten Dichter mit Dante über sieben Jahrhunderte hinweg macht es möglich, ihre Gedichte mit der Dante-Renaissance in Zusammenhang zu bringen, ja in ihnen den Versudi zu sehen, unter veränderten geistigen und geistlichen Umständen Dantes Grundstruktur zu erneuern. Ihre Erhebungsgedichte sind Wiederaufnahmen der für Dante zentralen Motive. Sie vereinigen somit Distanz von Dante mit Nähe zu ihm. Das zeigt sich am schlagendsten daran, daß sie dem Erhebungsepos mit kurzen Gedichten respondierten. Indem wir Dante an den Anfang stellen, erstellen wir einen Hintergrund, vor dem sich die Eigenart dieser Gedichte deutlicher profiliert. Das Jenseits der „Divina Commedia" ist konsequent vertikal angelegt. Die Pole sind Höhe und Tiefe, denen Licht-Dunkel, LeichtigkeitSchwere, in gewissem Maße auch Zeitlichkeit-Raum zugeordnet sind. Sie veranschaulichen die Wertpaare Gut-Böse, Wahr-Falsch, Schön-Häßlich bzw. Vollkommen-Unvollkommen, in die sich der alles umgreifende Gegensatz von Gott und Menschheit differenziert. Die feste Zuordnung der positiven Werte zur Höhe resp. der negativen zur Tiefe scheint archetypisch zu sein. Die Systematisierung geht auf Aristoteles zurück, durch den sie für das scholastische Mittelalter verbindlich wurde. Sie ist „ein integrierender Bestandteil der Lehre vom physico-moralischen Parallelismus. Wie bekannt, schreibt die Aristotelische Biologie den oberen Teilen des menschlichen Körpers einen höheren Grad von Adel zu als den unteren Teilen. Infolge dieser Auffassung, sowie aufgrund des Parallelismus zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos wurden die Begriffe ,hoch' und .niedrig', obwohl ursprünglich rein geometrische Begriffe der Raumorientierung, in den meisten Sprachen zum Ausdruck für 7 8

6

Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer. Berlin: Paetel 1903. S. 1 8 1 . Hugo von Hofmannsthal, Gedichte und Lyrische Dramen, hrsg. von H . Steiner. Frankfurt: Fischer 1952. S. 519

Wertunterschiede. "" Zwischen diesen Polen baut die „Göttliche Komödie" eine Skala auf, welche die Grade der Gottnähe und Gottferne genau angibt. Das darauf verteilte Personal stellt die Indexzeichen. Diese Werttopographie wird in ihrer Bedeutung durch Dantes Reise erschlossen. Im Inferno ist er teilnehmender Zuschauer und Frager. Im Purgatorio wird sein Weg zum Prozeß seiner eigenen Verwandlung. Der Aufflug im Paradiso führt ihn in die unmittelbare Nähe Gottes. Es kann im folgenden nicht darum gehen, einen Gesamtüberblick über das universale Werk zu geben. Unser Interesse gilt dem Bedeutungsgehalt der vertikalen Topographie von „Purgatorio" und „Paradiso" und besonders Dantes Bewegung durch sie hindurch. Danach betrachten wir einige der dichterischen Mittel, mit denen Dante die Wanderung sprachlich nadigestaltet hat. Die Gestaltung des Purgatorio als Berg ist offensichtlich Dantes eigene Erfindung. Anregungen kamen ihm aus verschiedenen Traditionen: Die Bibel kennt einen mons Domini, die Stoa verwendet das Bild eines Tugendberges, eine auf Isidor von Sevilla zurückgehende Tradition nahm das irdische Paradies als auf einem Berge liegend an. 10 Dantes Darstellung enthält für die Verbindung von Purgatorium und Berg resp. Läuterungsprozeß und Bergwanderung mehrere Motivationen: Wie das Fegefeuer für die Kirche zwischen Tod und ewiger Seligkeit liegt, faßt auch er das Purgatorio als Zwischenbereich. Durch Fürbitte der Hinterbliebenen, aber auch dank später Reue oder guter Werke, kommen die Verstorbenen dahin, wo sie sich durch Bußübungen allmählich der Seligkeit nähern können. Diese Zwischenzeit hat Dante ins Räumliche umgesetzt. Der Berg bildet den Übergang von der Erde zum Himmel, und zwar so, daß er an beiden Teil hat. Der Fuß steht dem Inferno noch nahe, das irdische Paradies auf der Höhe ist die Vorstufe des Paradiso. Statius veranschaulicht das mit dem Hinweis, daß die Wit*

M a x J a m m e r , D a s Problem -des Raumes. D i e Entwicklung der Raumtheorie. A u s dem Englischen übersetzt von Paul Wilpert. D a r m s t a d t : "Wiss. Buchgesellschaft i 9 6 0 . S. 88 — J a m m e r verweist anschließend an die zitierte Stelle auf die „Göttliche K o m ö d i e " als den vollkommensten Ausdruck der räumlichen Hierarchie der Werte. Deren dogmatische Geltung f ü r das Mittelalter belegt er mit dem Beispiel des Nikolaus von Autrecourt, der seinen S a t z „ Q u o d non potest evidenter ostendi nobilitas unius rei super aliam" w i d e r rufen mußte. S . 88/89.

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Gmelin I I , S. 7 ff. Gmelin bezieht sich auf A . Rüegg, D i e

Jenseitsvorstel-

lungen v o r D a n t e und die übrigen literarischen Voraussetzungen der D i v i n a Commedia. 2 Bde, K ö l n 1 9 4 5

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terungseinfliisse nur bis zur Grenze des Vorpurgatorio reichen11. Auf der Höhe des Purgatorio herrscht eine andere, himmlische Meteorologie, die von Matelda erläutert wird 12 . Die eindeutige Orientierung des Berges nach oben wird durch seine Spiegelsymmetrie zum Trichter des Inferno unterstrichen. Damit hängt zusammen, daß im Purgatorio außer den Engeln sich nie jemand abwärts bewegt. Selbst zurückschauen ist verboten 18 . Im gestuften Berg ist das Mittelstück der auf den höchsten Wert zulaufenden Skala konkretisiert. Je höher oben man sich befindet, umso näher ist man der Seligkeit. Die büßenden Schatten arbeiten sich langsam hinauf. Im irdischen Paradies hat der Berg sein eigenes summum. Es liegt, der Stufung etwas entzogen, auf einer Art Hochplateau. Im Bezug auf das irdische Paradies ist der Berg eine riesige turmartige Stützmauer, die es isoliert. Er steht zudem auf einer Insel. Diese Entrücktheit macht den Berg als ganzen zum Inbegriff des Jenseits. Als Sockel des irdischen Paradieses veranschaulicht er die Fallhöhe des Sündenfalls. Der Aufstieg über die Stufen vermag den Fall rückgängig zu machen. Der Engel am Tor zum eigentlichen Purgatorio ist das Gegenstück zum Cherub mit dem Flammenschwert. Die Büßenden sind alle von ihrer ursprünglichen Güte abgefallen. Aufsteigend streben sie ihrer paradiesischen Unschuld zu. Gebahnt ist dieser Weg durch die Erlösungstat Christi als des neuen Adam. Der Aufstieg hat im Stationenweg der Passion auf den Kalvarienberg ein Vorbild 14 . Damit verbindet sich ein stoischer Gedanke. Nach Dantes Auffassung ist der Mensch gut geschaffen und besitzt den freien Willen, der angeborenen Güte zu folgen oder aber sich auf falsche Wege verlocken zu lassen. Der Aufstieg ins irdische Paradies ist der Weg zur Freiheit. Vor Cato, dem Hüter des Vorpurgatorio, ja sogar des ganzen Berges, bringt Vergil diesen Gesichtspunkt gleich zu Beginn des Aufstiegs zur Sprache15. Alle Schwierigkeiten und Beschwerlichkeiten teilt der Weg im Purgatorio mit dem stoischen Weg zur Tugend und zur inneren 11 12 15 14 15 16

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Purg. X X I , 42 f. Purg. X X V I I I , 100 f. Purg. I X , 233 Gmelin II, S. 9 Purg. I, 7 1 Vgl. dazu Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Hamburg: Ciaassen 1955. Das Symbol des Weges S. 320 ff. Snell zitiert die für die Motivgesdiichte wichtige Stelle aus Hesiod, Erga 287 fi: „Das Schlimme (κακότης) kann man sidi in Scharen holen, gar leicht: eben ist der Weg, ganz nah wohnt es. Vor die άρετή aber haben die Götter den Schweiß gesetzt, die Unsterb-

Freiheit, den Cato selbst gegangen war. Der Topos von den zwei Wegen steht im Hintergrund 1 *. Dantes Aufstieg erschließt den Berg. Dabei aber hat das zwischen unten und oben vermittelnde Bußsystem für ihn nur modifiziert Geltung. Er steigt auf, obwohl er noch nicht gestorben ist. Die Verwunderung darüber, daß er einen Schatten wirft, begegnet ihm auf allen Stufen. Und umgekehrt geht die Fürbitte, die ihn, in Vergil personifiziert, geleitet, von der seligen Beatrice aus, also von einer Verstorbenen. Dantes Aufstieg ist damit ebenso sehr wie ein Bußweg einer der Erkenntnis. Deshalb bedarf es dazu des Sonnenlichts. Doch auch Dante muß sich von einer Verschuldung befreien. Diese ist, wie sich aus der Tilgung ergibt, doppelter Art. Einerseits besteht sie in Verirrungen des freien Willens, die ihn unfrei machten. Sie lassen sich mit den Kategorien der Todsünden, nach denen der Berg gegliedert ist, erfassen. Beim Eintritt ins eigentliche Purgatorio werden ihm 7 P, auf die Stirne bezeichnenderweise, gebrannt, die sukzessive gelöscht werden, nachdem jeweils eine Stufe durchschritten ist. A u f der Höhe angelangt erklärt ihn Vergil wiederum für mündig mit den bedeutsamen Worten: Libero, dritto e sano è tuo arbitrio, E fallo fora non fare a suo senno: Per ch'io te sopra te corona e mitrio. Frei, grade und gesund ist nun dein Wille, Und Sünde w a r es, wenn du ihm nicht folgtest. Drum krön ich dich zu deinem eignen Herren. 17 Der wiederhergestellte freie Wille bedeutet erst die Voraussetzung der Entschuldung, noch nicht diese selbst. Es kommt nicht auf den freien Willen an sich, an, sondern darauf, worauf er sich wendet. Dantes eigentliche Verschuldung bestand im A b f a l l vom Geist Beatrices an die Verführungen der eitlen und vergänglichen Erscheinungswelt. Sein A u f stieg ist der Rückweg zu ihr. In diesem Zusammenhang wird der Berg zur Burgzinne, auf der wie im Umkreis der Minne die Dame ihren

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liehen. Ein langer steiler P f a d geht zu ihr, steinidit zuerst. K o m m t man aber zur Höhe, so ist sie (die άρετή) leicht z u erreichen, so schwer sie audi ist." — Biblische Quellen für den Topos v o n den zwei Wegen sind nach Snell j. Moses Ii, 26—28, Jeremía 21, 8, Sprüche 1, 15 f. — Wichtig ist ferner Matth, 7,13/4. — vgl. ferner: Hinridi Stiefken, D e r saelden strâze. Zum M o t i v des Weges bei Hartmann v o n A u e . Euphorion 61, 1967. 1/2, S. 1 ff. D a auch weitere Literatur. Purg. X X V I I , 139 f.

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Ritter erwartet. Doch klingt dieses Motiv nur einmal kurz an18. Die Versöhnung mit Beatrice wird durch ihre Scheltrede eröffnet". Dantes Reue leitet ein Reinigungsritual ein, er wird in Lethe und Eunoë gebadet und geht daraus neugeboren hervor. Nun ist sein Wille wiederum ganz auf Beatrice gerichtet. Hatte er im liberum arbitrium die menschliche Jugend erreicht, so in der Versöhnung mit Beatrice seine eigene. Das freie Verhältnis zu ihr konstituiert seine Individualität. Sie als einzige nennt, wie er sich ihr nähert, seinen Namen 20 . Das Reinigungsbad erneuert seine Taufe. Der Aufstieg auf den Berg ist für ihn der Weg zu seinem ursprünglichen Selbst. Auf diesen wichtigsten Aspekt deutete bereits eine Episode im Inferno voraus. Beim Ubergang zum 8. Höllenkreis müssen Dante und Vergil einen Damm hinaufklettern 21 . Vergil bewährt sich dabei als Bergführer. Auf die physische Unterstützung läßt er eine Mahnrede folgen. Mit dieser deutet er den Aufstieg als Kampf des Geistes gegen den Körper, der der Schwerkraft unterliegt. Diesem entspricht im Großen dié Überwindung der Trägheit, welche zum Ruhm führt. Im Ruhm aber geht es darum, dem Erdenleben seine Flüchtigkeit zu nehmen und ihm Dauer zu verleihen, so daß der Mensch nicht spurlos „wie Rauch in Lüften oder Schaum auf den Wellen" verschwindet. Der Aufstieg entspricht somit der Anstrengung, sich einen Namen zu machen, der seinem Träger Individualität gibt und sie festhält. Diese hat er nicht von Natur, sondern allein kraft seines Geistes. Sie bezieht sich auf die Gesamtheit der Menschen. — Es ist von Belang, daß Vergil diese Mahnung ausspricht. Name und Ruhm sind antike Möglichkeiten der Unsterblichkeit. Daß sie auch innerhalb der „Divina Commedia" eine beschränkte Geltung haben, beweisen die berühmten Helden und Dichter aus vorchristlicher Zeit, die außerhalb des Strafsystems des Inferno den Limbus bewohnen 22 . Sie verdanken diesen Platz ihrem ehrenvollen Namen. Vergil gehört zu ihnen. Diesen Seligen durch Verdienst fehlt jedoch die Gnade. Im „Pur18

w

20 21 22

10

Purg. X X V I , $9 f. Im Kp. X L I der Vita Nuova, im Sonett „Oltre la spera" hat Dante die Situation der höherstehenden Dame bereits ins Geistig-Kosmische umgedeutet. Dante, Vita nuova / Das neue Leben. Frankfurt: Fisdier 1964 (Exempla classica 90). S. 1 5 0 ff. Purg. X X X I , 36 f. Die Scheltrede verwendet bezeichnenderweise audi den Gegensatz von oben und unten. Purg. X X X , 56 Inf. X X I V , 19 fr. Inf. I V

gatorio" 23 kommt der ehrenvolle Ruhm nochmals ausführlich zur Sprache. Aber hier wird er in seiner zeitüberwindenden Kraft relativiert, ja das Streben darnach erscheint als Hybris. Dieser scheinbare Widerspruch zum Limbus löst sich geschiditstheologisch auf. Der Ruhm ist als Möglichkeit, zur individuellen Identität zu gelangen, auf die vorchristliche Zeit beschränkt. Das Erlösungswerk Christi machte diesen Selbsterlösungsweg unwirksam. Daher kommt die Traurigkeit, die über dem Limbus liegt, obwohl er manche äußere Ähnlichkeit mit dem irdischen Paradies hat. Vergil stellt darum Dante beim Aufstieg auf die Schutthalde einen längeren und schwierigeren Aufstieg in Aussicht. Der Aufstieg im Purgatorio führt ebenfalls zur Individualität. Auch deren Zeichen ist der Name. Aber sie beruht zum kleineren Teil auf der Anstrengung Dantes. Dieser folgt und kommt entgegen die Gnade, die ihn in Vergil geleitet und in Beatrice erwartet. Die eigene Individualität wird nicht vom Ich geschaffen, es findet die wieder, die ihm von Beginn seines Daseins an zugehört. In Statius' Bericht über die Entstehung des Menschen wird klar, daß er als einer und einzelner zur Welt kommt 24 . Das wird an einem weiteren Zug nodi deutlicher. Im Limbus stehen die Dichter beisammen, deren Werk die Zeiten überdauerten. Der „Adler" unter ihnen ist Homer. Dante dagegen bekommt von Beatrice den Auftrag, das Geschaute sich im Leben zum memento zu nehmen und es den andern Menschen zu verkünden. Die Dichtung ist nicht Vorausaussetzung, sondern Folge der erlangten Identität. Unter diesem Gesichtspunkt ist Beatrice auch Dantes Muse. Die flüchtig auftauchende Anspielung auf den Parnass 85 hat einen genauen Sinn. Er macht die Stufen des Läuterungsberges zu gradus ad Parnassum, den Berggipfel zum Ort der dichterischen Inspiration. So treffen die verschiedenen Deutungen des Berges alle zusammen zu der einen und wichtigsten, daß er die Stätte bildet, an der Dante als Individuum zu sich selbst kommt. Ja er wird dadurch, daß Dante alle seine Stufen erkennend in sich aufgenommen hat, ein Aufriß seiner Gesamtperson. Die Schlußzeile des „Purgatorio" nennt Dante „puro e disposto a salire alle stelle"26. Dieser weitere Aufstieg ist das Thema des „Paradiso". Die Grundlage der Darstellung des Paradiso bildet der ptolemä23 24 25 26

Purg. Purg. Purg. Purg.

XI XXV X X V I I I , 140 X X X I I I , 145 II

isch-aristotelische Kosmos, wie ihn die Scholastik von Aristoteles übernommen und dogmatisiert hatte27. Er gliedert sich geozentrisch in die 7 Planetensphären, den Fixsternhimmel und die neunte Sphäre, eine Kristallschale, die als primum mobile den Kosmos in Bewegung hält. Darüber, im unbewegten Empyreum, thront Gott. Die Sphären sind Emanationen seiner ausstrahlenden Kraft, die sich quantitativ mit zunehmender Entfernung von der Quelle verringert. Diese göttliche Kraft wird sichtbar als Licht, das den Kosmos durchstrahlt. In Mond-, Merkur- und Venushimmel wird es von der nahen Erdatmosphäre getrübt. In dieser Trübung des Urlichts handelt es sich um den platonischen Sündenfall der Idee in die Materie. Dodi diese Konzeption ist von der biblischen Schöpfungsanschauung überlagert, für die auch die Welt auf Gott bezogen ist. Dantes wichtigstes Vorbild für die Gestaltung des Paradiso war Bonaventuras „Itinerarium mentis ad Deum", eine allegorische Darstellung der 6 Schöpfungstage28. Theologisch stellen die Sphären Grade der Vollkommenheit dar. Sie werden durch die Seligen bezeichnet, die nach den Kardinaltugenden darauf verteilt sind. Dantes Aufstieg durch das Paradiso ist somit gleichfalls ein Rückweg. Er führt aus der Materie zur Idee, aus dem Geschaffenen ins Ungeschaffene. Seine Bewegung ist ein Flug. Dieser schließt an den Aufstieg im Purgatorio an. Dabei hatte sich Dante mit zunehmender Höhe immer leichter werden gefühlt, es kam ihm vor, als wüchsen ihm Flügel 29 . Die Flügel sind eine platonische und christliche Metapher für die Aktivität des Geistes30. Der Geist wird dadurch als Prinzip gedeutet, das der Erdenschwere entgegengesetzt ist und aufwärts tendiert. Dantes Aufflug unterscheidet sich jedoch vom Aufstieg dadurch, daß ihm keine Hindernisse mehr im Wege stehen. E r gleicht dabei mehr dem eines Pfeils als dem eines Vogels und erfolgt nicht aus eigener Kraft, sondern unter der Einwirkung der Anziehung, die Gott im Kosmos ausübt. Diese Zentrifugalkraft ist die kosmische Schwerkraft. Dante fliegt empor, wie das Bächlein zu Tale rinnt 31 . Die Lichtkraft Gottes erreicht Dante in der individuellen Brechung durch Beatrice. Sie ist sein unmittelbarer Motor. Aus dem Spiegel ihrer 27

Gmelin I I I , S. 7 ff.

28

Gmelin I I I , S. 1 0

29

Purg. X X V I I , 1 2 2 ; die wachsende Leichtigkeit hebt Vergil bei seiner C h a r a k -

30

Gmelin I I , S . 1 7 6 f. Gmelin zitiert aus Augustin „ D e P s a l m . " 1 0 3 , 1 3

terisierung des Berges hervor. Purg. I V , 84 f . S a t z : alas habent bonas et liberas animae bene operantes praecepta Dei. 31

12

P a r . I, 1 3 6

den

Augen, die gleidi denen des Adlers direkt in die göttliche Sonne blicken können, empfängt Dante das Licht. Beatrice ist sein Medium der Vollkommenheit. Dank ihr kann er der Vollkommenheit teilhaftig werden, obwohl er den Tod noch nicht hinter sich hat. Insofern aber bedeutet das Medium auch eine Einschränkung. Beatrice führt Dante deshalb nur bis zur äußersten Grenze des sphärischen Kosmos. Dann tritt der Hl. Bernhard an ihre Stelle, der große Lehrer der unmittelbaren Gottschau. Er bezeichnet den Übergang zu dem Zustand, an dem Dante ohne Begleitung vor Gott steht. Damit ist er, zum ersten Mal seit dem Beginn seiner Reise, allein. Den veränderten Erkenntnisbedingungen entspricht ein veränderter Gegenstandaspekt. Die Vielfalt der Einzelgestalten, die Dante mit Beatrice durchlaufen hatte, erscheint nun in der Himmelsrose als Einheit. Auch Beatrice und Bernhard haben sich ihr eingeordnet. Die gestufte Linie des Aufflugs wurde zum Kreis. Das Sukzessive erscheint simultan konzentriert. Im Mittelpunkt der Himmelsrose ist Gott. Die ihn beschwörenden Verse bilden den Höhepunkt des ganzen Gedichts: O luce eterna che sola in te sidi, Sola t'intendi, e da te intelletta Ed intendente te ami ed arridi! Quelle circolazion che si concetta Pareva in te come lume riflesso Dagli occhi miei alquanto circonspetta Dentro da sè, del suo colore stesso, Mi parve pinta della nostra effige, Per che il mio viso in lei tutto era messo. O ewiges Licht, das nur sich selbst bewohnet, Nur selbst begreift und von sich selbst begriffen Und sich begreifend sich auch liebt und lächelt! Des Kreises Umfang, der in dir beschlossen Vor mir erschien wie rückgestrahlte Helle, Und den mein Aug ein wenig überschaute Der ist mir in sich selbst mit eigner Farbe Mit unsrem Angesicht bemalt erschienen, Weshalb ich ganz den Blick in ihn versenkte.32

» Par. X X X I I I , 123 f, 13

Die Reflexivität der Verben ist die sprachliche Entsprechung zur Kreisform. Gmelin hat gezeigt, wie im Spiel der erlesenen Worte die drei Personen der Trinität unterschieden werden können. Er bezieht „sidi" auf den Vater, „intendere" auf den Sohn und „te ami ed arridi" auf den Hl. Geist". Die Einheit der drei bringen Syntax und Terzine zum Ausdruck. Letztere enthüllt an diesem Punkt ihre theologische Begründung. Das Bild der zweiten Terzine ist die mystische Einheit von Mittelpunkt und Umfang des Kreises®4. Es weist nochmals auf die Identität von Vielfalt und Einheit hin. Damit bildet es die logische Voraussetzung der folgenden Terzine. Dante glaubt in Gott sich selbst zu erkennen, oder umgekehrt: Gott erscheint als der Spiegel des Betrachtenden. Eine letzte Identität beider deutet sich an. Sie zu erkennen, muß die Fassungskraft des betrachtenden Individuums übersteigen. Die letzte Erkenntnis ereignet sich in einem Blitzschlag, der für einen Augenblick die Identität herstellt, gleich nachher aber Dante wie Ikarus aus der Höhe herabstürzt an seinen ihm zukommenden Ort im Kosmos. In Beatrice hatte Dante den Ursprung seiner Individualität erreicht. Aber Beatrice war auf Gott bezogen. Sie kann deshalb im „Paradiso" auch zur Allegorie der Gottesweisheit werden. Die Individualität, die Dante von ihr erhält, gründet also indirekt in Gott. Der Aufflug führt zu diesem letzten Grund. Indem die Mittelsperson wegfällt, tritt in der Individualität das Besondere vor der Einheit zurück. In Gott erkennt Dante den Ursprung seiner Identität. Diese beruht auf der Teilhabe an der göttlichen Vollkommenheit, der Gottebenbildlichkeit. Motivisch wird dieser Zusammenhang im Bericht des Statius über die Erschaffung des Menschen vorbereitet. Gott gibt dem von der Natur zubereiteten Organismus die Einheit, indem er ihm die Seele verleiht, „che vive e sente e sè in sè rigira"®5. Der Kreis ist auch das Signum der menschlichen Identität. Diese ist Reflexivität, die ihre inhaltliche Bestimmung aus dem Bezug zum andern Moment der Gottheit erhält, der Vielfalt®8. In der Erkenntnis des göttlichen Einen erfüllt sich Dantes Weg zu sich selbst. Dieses höchste Selbst ist nicht mehr der Grund seiner Individualität, sondern der seines Menschseins. Erfuhr er sich im irdischen Paradies als Dante, so erblickt er sich im obersten Paradiso als Gottes Ebenbild. 33 34

35 36

14

Gmelin III, S. 576 Vgl. Georges Poulet, Les métamorphoses du cercle. Paris: Pion 1961. S. V I I I f. Purg. X X V , 76 Vgl. Poulets allgemeine Feststellung für diese Epodie: „C'est l'homme qui, à l'égal de Dieu, se découvre centre et sphère infinie." a. a. O. S. X X I V

Beide Ziele des Aufstiegs sind im Landschaftsbild des ι . Gesanges des Inferno vorweggenommen, wie der verirrte Dante aus dem finstern Wald zum Fuße eines Hügels tritt: Guardai in alto, e vidi le sue spalle Vestite già dei raggi del pianeta Che mena dritto altrui per ogni calle. Blickt ich nach oben und sah seine Schultern Schon von den Strahlen des Gestirns bekleidet, Das uns auf jedem Pfade richtig führet. 37 V o m Wanderer ist der Dichter Dante deutlich unterschieden. Die Verbindung beider schlägt im Schlußgesang des „Purgatorio" die Mahnung Beatrices, sich das Gesehene einzuprägen und den Lebenden zu berichten38. Strenggenommen bezieht sich diese Sendung nur auf die unmittelbar vorausgegangene Vision. D a diese aber am Ziel des A u f stiegs steht, setzt sie den Weg dahin voraus. Beatrices Auftrag legitimiert das ganze Gedicht. Dante hält sich dem Leser als Diditer, abgesehen von der kunstvollen Form, durch Leseranreden, Musenanrufe und Reflexionen gegenwärtig. Er unterstreicht dadurch die Distanz zwischen der Erzählung und dem Erzählten. D a ß die dargestellte Reise durch das Jenseits führt, macht jedoch diesen Unterschied fiktiv. Das Erzählte ist von der Erzählung nicht abzulösen. Es w a r und ist nirgendwo anders vorhanden. Das Jenseits erweist sich von da her gesehen als Raum der Dichtung. Es wiederholt sich hier die Struktur, daß Dantes Reise den Raum, indem sie durch ihn führt, erst erschafft. Die „Divina Commedia" konkretisiert somit die Einheit von Gott und Idi, die an ihrem Ende steht, als Dichtung in umgekehrter Richtung. Dante ist der Dichter Gottes. Sein Gedicht ist eine neuerliche Offenbarung. Gott spiegelt sich in Dantes Individualität. Dem Leser gegenüber übernimmt Dante die Rolle, die im Gedicht Vergil ihm gegenüber aufgetragen war. Diese Analogie scheint in Vergils Berufungsbericht im zweiten Gesang des „Inferno" deutlich durch. Die dichterische Gestaltung ist auf die Lese-Nachfolge ausgerichtet. Diese Gemeinschaft mit dem Leser läßt Dante wohl an den entscheidenden Randstellen des Gedichts, in der ersten Zeile und in der oben zitierten Anrufung Gottes, „wir" sagen39. Die Leseranreden stehen im Dienst Inf. I, 16 f. Purg. XXII, io6 s» Inf. I, i; Par. XXXIII, 132 37

38

ij

dieser Aufgabe. Darauf geht audi die gestalterische Grundtendenz zurück, die Stadien der Reise mit sprachlichen Mitteln zu charakterisieren, ja nachzubilden. Man denke an das Ansteigen der Stillagen in den drei Teilen, das Gefalle zwischen Latinismen und Volkssprache, die Koinzidenz von Gesang und inhaltlicher Einheit, die Dreizahl usw. Als Brücken zum Leser sind die Vergleiche besonders wichtig. Dantes Gleichnisse sind dafür berühmt, daß sie sich häufig auf das alltägliche vorliterarische Leben beziehen. Die PseudoVergleiche („wie einer, der") rekurrieren auf allgemeine psychische Erfahrungen. Beide Vergleichsgattungen ermöglichen dem Leser, das spirituelle Geschehen innerhalb seines Erfahrungsbereichs zu verifizieren. Damit aber überträgt sidi etwas von der Würde des Verglichenen auf den Bildspender. Für unser Motiv heißt das, daß das „Purgatorio", das die Besteigung eines Berges erstmalig in größter Anschaulichkeit, Genauigkeit und offensichtlich gestützt auf konkrete Erfahrungen, schildert, einen Drehpunkt dafür bildet, das Besteigen des Berges an und für sich bereits als Heilsweg aufzufassen, was immer auch dieses Heil sein möge40. Der Aufflug als eine wenigstens für lange Zeit „unmögliche" Metapher wurde davon weniger betroffen. Zu Beginn des zweiten Gesangs des „Paradiso" warnt Dante die Mehrzahl seiner Zuhörer davor, ihm weiter zu folgen, mit dem Hinweis auf das „niebefahrene Meer", das vor ihm liege41. Für den Himmel, der die Fassungskraft der Memoria übersteigt, gibt es nichts Vergleichbares mehr. Das Kunstwerk wird absolut, nur als absolutes kann es der göttlichen Sphäre gerecht werden. Im „Paradiso" ist das Verhältnis, daß das Gedicht der einzige Bürge dessen, was es sagt, sei, am reinsten ausgeprägt. Schelling scheint daran gedacht zu haben, als er sagte, das Purgatorio sei das Reich der Malerei, das Paradiso aber das der Musik42. Auf die Dichtung wirkt sich das so aus, daß nun die Grenze der Sprache sichtbar wird. Im „Paradiso" werden die Unsagbarkeitsbeteuerungen häufiger43. Die bedeutsamste Stelle steht im Schlußgesang44. Hier, 40

41 43

44

16

Vgl. Wilhelm Heilermann van Heel, Der Bergsteiger Dante, Deutsches Dante-Jb. Bd 14, N . F. Bd 5, 1952. S. 82—99. V f . sieht in Dante und nicht in Petrarca den Ahnherrn des Alpinismus, dessen Ziele er als „Prüfung des Wüllens und Könnens, Erziehung des Charakters, Befreiung von den Fesseln des gewöhnlichen Daseins, Erringen der Persönlichkeit" definiert. 42 Par. II, ι f . Zit. Gmelin II, 14. Zum Unsagbarkeitstopos allgemein: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 2. Aufl. Bern: Francke 1954. S. 168 f. Par. X X X I I I , $6 f.

auf dem Höhepunkt des Ganzen, setzt der Unsagbarkeitstopos das Intendierte von der Sprache ab. Damit wird die Spradie zur Grenzlinie dessen, was sie transzendiert. Die der Sprache entzogene Dimension, auf die sie verweist, ist einerseits Gott, der über alles Begreifen ist. Ihr entspricht im Dichter selbst eine unterhalb der Sprache liegende Sdiicht, die im Pseudovergleich „la passione impressa" und in dessen Umsetzung „lo dolce nel cor" heißt 45 . Was die memoria nicht zu behalten vermochte, hat sich erhalten als unartikulierte Gefühlsregung. Der Dichter muß versuchen, göttliche Sphäre und eigene Unmittelbarkeit dem Leser zugänglich zu machen. Hier weist die Unsagbarkeitsbeteuerung voraus auf die Koinzidenz von Ich und Gott, deren Evokation sich unmittelbar anschließt. Gott ist ineffabile wegen seiner Unvergleidilichkeit. Als Bezugspunkt und Ursprung aller Bewertungen, denen Dante in den unteren Regionen begegnet war, steht er jenseits von Gut und Böse. Die Sprache, die, wo sie besdireibt und nicht beschwört, immer in Relation setzt, hat daher zu ihm keinen Zugang. Dasselbe gilt für den durch Gott angerührten innersten Ort in Dante selbst. Der hohe Ton des „Paradiso" mündet schließlich in gebetartige Anrufungen. In ihnen treffen die beiden von der diskursiven Sprache angeschlossenen Bereiche zusammen. Im Gebet, als einer Form der Beschwörung, sind Sprecher und Angesprochener eins. Die dreifache Beteuerung der Unsagbarkeit gegen Ende der „Divina Commedia" bewirkt, daß sie mit dem abrupten Schluß nicht zu Ende ist. Im Leser soll die durch die Sprache eingeleitete Bewegung ebenfalls als passione impressa weitergehen. Aufstieg und Aufflug bilden eine Sprachbewegung, die, nachdem sie das genus sublime erreicht hat, die Sprache hinter sich läßt. Diese sprachliche Nachbildung der Aufschwungsbewegung bedeutet eine Intensivierung des anagogischen Sdiriftsinns 4 ' im Sinne der Psychagogie, ja der Suggestion. Was das Gedieht zum Thema hat, den Weg zu sich selbst, sucht es selber für den Leser darzustellen. Wir versuchen, den Bedeutungshof der beiden Erhebungsmotive knapp abzustecken, um Modellvorstellungen für das weitere zu gewinnen: Der Aufstieg auf den Berg ist die Bewegung in der Gegenrichtung des Sündenfalls. Er führt stufenweise aus dem Zeitlichen hinaus in den 45 48

Par. X X X I I , 60,63 Gmelin passim. Zum vierfachen Schriftsinn bei Dante vgl. Eduard Wechssler, Dante der universale Denker. Deutsches Dante-Jb. Bd 13, N . F . B d 4 , 1 9 3 1 17

2

Pestalozzi, Lyrisches Ich

Ursprung. Das Ziel ist das ursprünglich geschaffene individuelle Selbst. Es ist mit seinem Namen als einmaliges und einzigartiges, zugleich als dauerndes gekennzeichnet. Es konstituiert sich für Dante durch den freien Willen, dessen Hinwendung zu Beatrice und deren Liebe. Daß er zu diesem individuellen Selbst vordringt, macht Dante zum ausgezeichneten Dichter. Der Aufschwung zu Gott ist die Bewegung in der Gegenrichtung des Schöpfungsvorgangs. Er transzendiert das individuelle Selbst auf die Bedingung seiner Möglichkeit hin. Sein Ziel ist das ewige Selbst, das abstrakt auf Selbstständigkeit und Liebe, d. h. auf der Gottebenbildlichkeit gründet. Es ist in Gott beschlossen. Daß Dante bis dahin vordringt, macht ihn zur Person. Aufstieg und Aufschwung sind somit zwei aufeinander bezogene Phasen von Dantes Weg zu sich selbst. Für den Dichter und für den Leser, die sie nachvollziehen, werden sie zu Stadien der Selbstvergewisserung. Diesen beiden Ausprägungen des Selbst und ihrem Motivhof werden wir im folgenden immer wieder begegnen. Wir werden sie terminologisch als individuelles und personales Selbst auseinanderzuhalten suchen.

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Petrarca Edizione N a z i o n a l e delle opere d i Francesco Petrarca X , Le Familiari, ed. critica p . c . di Vittorio Rossi. Vol. I. Firenze: Sansoni 1932 Familiarum Rerum Liber I V , 1. S. 153—61. Deutsche Übersetzung: Briefe des Francesco Petrarca. Eine Auswahl übersetzt v o n Hans N a d i o d und Paul Stern. Berlin: D i e Runde 1931. — Diese Übersetzung neuerdings in: Petrarca, Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl und Einleitung von Hanns W . Eppelsheimer. F r a n k f u r t : Fischer 1956 (Fischer-Bücherei 141) S. 80—89 D e r B r i e f , in d e m P e t r a r c a e i n e m F r e u n d aus d e m A u g u s t i n e r O r d e n seine B e s t e i g u n g des M o n t V e n t o u x berichtet 1 , ist eine d e r b e r ü h m t e s t e n G e s t a l t u n g e n des A u f s t i e g m o t i v s . E r g i l t a l s K r o n z e u g n i s f ü r d a s E r wachen

des

neuzeitlichen

Individualismus

in

der

Renaissance.

Das

berechtigt, i h n h i e r e i n z u b e z i e h e n , o b w o h l d a m i t n o c h m a l s d i e B e s c h r ä n k u n g a u f d i e L y r i k , d i e sich diese A r b e i t v o r g e n o m m e n h a t , a u f g e g e b e n wird.

Der

Brief

steht

jedoch

in

der N ä h e

von

Petrarcas

lyrischem

W e r k . E r g i b t sich als D a r s t e l l u n g eigener E r f a h r u n g . Z u g l e i c h ist er so a u f f a l l e n d u n d k o n s e q u e n t stilisiert, d a ß e r als D i c h t u n g g e l t e n

kann.

P e t r a r c a h a t seinen B r i e f b e k a n n t l i c h n a c h t r ä g l i c h f ü r d i e B r i e f s a m m lung der „Familiares"

redigiert. M a n

h a t s o g a r seinen

Erlebnisgehalt

e r n s t h a f t angezweifelt®. A u c h v o n seinem T h e m a h e r ist e r d e r 1

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Lyrik

A d Dyonisium de Burgo Sancti Sepulcri ordinis sancti Augustini et sacre pagine professorem, de curis propriis. V g l . Giuseppe Billanovidi, Petrarca Letterato I. Lo scrittoio del Petrarca. Roma 1947. S. 1 9 3 — 9 j. Billanovidi hält den Brief für fiktiv. Er sieht darin eine allegorische Darstellung der religiösen Krise Petrarcas von 1340, was ihn auch zu einer anderen Datierung veranlaßt. Diese sehr einseitige Deutung rückt immerhin die literarischen Qualitäten des Briefes stärker ins Lidit, die lange hinter den autobiographischen zurücktraten. D a wir uns ganz auf den T e x t zu stützen suchen, der gerade das Verhältnis v o n Erlebnis bzw. Erfahrung und Tradition umkreist, können w i r die Frage nach dem tatsächlichen Erlebnisgehalt auf sidi beruhen lassen. 19

2'

verwandt. So kann er denn im folgenden in erster Linie als literarischer Text betrachtet werden. Der erste Satz des Briefes nennt als Motivation für den Aufstieg »sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus" 3 . „Cupiditas" ist sinnliches Verlangen. Es wird als durch zwei Faktoren begründet dargestellt. Einerseits durch die Landschaft. Petrarca hat, seit er in der Provence wohnt, den Mont Ventoux überall ständig vor Augen. Er bestieg ihn, wie er sagt, gewissermaßen täglich. Die Anregung dazu ist also vom Berg selbst angegeben. Doch blieb sie latent, bis eine zufällig aufgeschlagene Textstelle die latente Bereitschaft aktualisierte. Petrarca stieß bei Livius auf die Besteigung des Hämon durch Philipp von Mazedonien. Sie löste den entscheidenden Impuls aus. Landschaft und Lektüre bewirken also zusammen den Entschluß. Beide unterstehen nicht der Verfügungsgewalt des Ich. Was sich jedoch aus ihrem Zusammenspiel ergibt, macht sich Petrarca nachträglich zu eigen. Das zeigt sich bei der Wahl seiner Begleiter. Er suchte alle störenden Momente fernzuhalten. Der Bruder, den er schließlich mitnimmt, von den anonymen Dienern ist praktisch nicht die Rede, stört darum nicht, weil er, obwohl ein anderer, dodi eng zu ihm gehört. Der Brief gibt die Gespräche mit ihm nur andeutungsweise wieder. Die direkte Rede ist ausschließlich den Selbstgesprächen vorbehalten. Wie gegen andere Menschen schirmt Petrarca seinen Entschluß auch gegen allgemeine Vorurteile und Meinungen ab. Er schlägt nicht nur die Bedenken des alten Hirten in den Wind. Daß er sich zur Legitimation so nachdrücklich auf das antike Vorbild eines Königs beruft, deutet darauf, daß er allgemeinere Widerstände befürchtete. Der Berg mochte als von Geistern und Dämonen bewohnt gelten4, 3

Joachim Ritter, Landschaft. Z u r Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster: Aschendorf 1 9 6 3 (Schriften der Gesellschaft zur F ö r d e rung der westfälischen Wilhelms Universität zu Münster. H e f t 54) sieht in dieser Motivation den Einfluß der antiken Theoria-Lehre. „ E r [Petrarca] ersteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, den Berg, um auf dem G i p f e l , getrieben allein v o m Verlangen zu schauen, in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen N a t u r und an G o t t teilzuhaben." (S. 1 2 ) Ritter a k zentuiert den Brief einseitig zugunsten seines allgemeinen Themas. D e r IchAspekt bleibt ganz außer acht. D a aber beide Aspekte eng zusammengehören, verdanke ich Ritter, v o r allem auch seinen reichen Anmerkungen, manche Anregung.

1

Welchen Problemen von dieser Seite die Humanisten gegenüberstanden, zeigt noch die von Pomponius M e l a angeregte Erkundungstour Vadians zum Pilatus-See i $ i 8 . V g l . Werner N ä f , V a d i a n und seine Stadt St. Gallen. 2 Bde St. Gallen: Fehr 1 9 4 4 / 5 7 . I, S. 2 7 2 , I I , S. 63 ff.

20

und auch der christliche Gott ist ein Gott der Höhe. Der Aufstieg, von Landschaft und Literatur eingegeben, wird so zu Petrarcas eigener Sache. Er läßt sich an als ein kleines Kolumbusunternehmen5, das ihn aus dem Gewohnten und Vertrauten löst und in eine terra incognita in der Höhe führt, wo er mit sich allein ist. Nach der Exposition gliedert sich der Brief, den drei Phasen des Unternehmens entsprechend, in Aufstieg, Aufenthalt auf dem Gipfel und Abstieg. Der Aufstieg beginnt unter guten inneren und äußeren Bedingungen. Doch der Anfangselan wird bald durch den Widerstand der „natura loci" gebrochen. Petrarca scheut steile Hänge und sucht so lange nach bequemeren Aufstiegspfaden, bis er sich vor Ermattung hinsetzen muß. Soweit ist der Bericht realistische Schilderung unmittelbarer Bergerfahrung. Dann heißt es: „Illic a corporeis ad incorporea volucri cogitatione transiliens, his aut talibus me ipsum compellabam verbis." Es setzt eine „cogitatio" ein, die sich vom Körperlichen zum Unkörperlichen bewegt. Das sind Grundkategorien, die auch an anderen Stellen des Briefes genannt werden. Was unter ihnen zu verstehen ist, wird aus der Konkretisierung des zitierten Satzes deutlich. Petrarca denkt über seine Erfahrung mit dem Berg nach. Er orientiert sich dabei offensichtlich an der scholastischen Theorie vom vierfachen Sinn einer Schriftstelle®. Die gemachte körperliche Erfahrung stellt dabei den sensus lateralis. Im Hinblick auf den theoretisch-dogmatischen Schriftsinn — quod credas — bringt Petrarca sie mit der Stelle Matth. 7, 14 in Zusammenhang, der biblischen Quelle für den Topos von den zwei Wegen. Er deutet den beschwerlichen Aufstieg als Weg zum seligen Leben auf dem Gipfel. Daraus leitet er, entsprechend der Frage nach dem praktischmoralischen Schriftsinn — quod agas — die Aufforderung ab, weiterzusteigen, wenn er nicht im Tal der Sünde bleiben und dort vom Tod ereilt werden wolle. Diese Einsicht gibt Körper und Geist neue Kraft, so daß der Aufstieg zu Ende geführt werden kann. Der Briefschreiber trägt noch den pneumatischen Schriftsinn — quod speres — nach: Der körperliche Aufstieg ist ihm eine Vorausdeutung auf den körperlosen Aufschwung der Seele „in ictu trepidantis oculi" am Lebensende. — „Corporea" sind also die unmittelbaren Erfahrungen mit der widerständigen Berggegend. „Incorporea" heißen die Deutungen, mit denen 6

D a r a u f weist besonders hin H a n s Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. F r a n k f u r t : Suhrkamp 1966. S. 3 3 6 — 3 8 .



Zum

vierfachen Schriftsinn vgl. E d u a r d

Wechssler, Dante

der

universale

Denker. Deutsches Dante J b . B d 1 3 , N . F . B d 4, 1 9 3 1

21

die Erfahrung in Zusammenhang gebracht wird. Diese sind in der stoisch-christlichen Tradition vorgegeben7. Die „cogitatio", die zwischen beiden vermittelt, wäre etwa mit Reflexion zu übersetzen. Sie ist rückwärtsgewandt, ihre Form ist das Selbstgespräch, und sie verfährt so, daß sie die neue aktuelle Erfahrung in den Vorstellungen der Tradition spiegelt. In dieser Spiegelung gelangt Petrarca zur Erkenntnis seiner selbst. Was er so beim Aufstieg an sich erkennt, läßt sich allgemein als conditio humana im christlichen Sinn bezeichnen; als Situation des Menschen zwisdien Sünde und Seligkeit, Verdammnis und Erlösung. Er teilt sie mit den andern Menschen. Darauf deutet gleich der erste Satz der Reflexion: „Quod totiens hodie in ascensu montis huius expertus es, id scito et tibi accidere et multis, accedentibus ad beatam vitam." — Das Einmalige und Einzigartige von Petrarcas Aufstieg auf diesen Berg scheint in der Spiritualisierung metaphorisch aufgelöst zu werden. Doch gilt diese Ausdeutung nur ad hoc. Keine Rede davon, daß fortan der Aufstieg insgesamt als menschlicher Heilsweg gesehen würde. Die beigezogenen Vorstellungen sind ohne Verbindlichkeit über den Moment hinaus. Sie dienen Petrarca nur dazu, seine Erfahrung ins Bewußtsein zu bringen, auszusprechen und daraus eine Folgerung zu gewinnen. Die christlich-stoische Tradition fungiert nicht als Dogma, sondern als Literatur 8 . Wir erkennen hier jenes Verhältnis von Landschaftserfahrung und Literatur wieder, das wir zu Beginn bei der Entschlußfassung beobachten konnten. Auch hier heißt es: me ipsum compellebam. Auf dem Gipfel begegnet Petrarca eine veränderte landschaftliche Situation. Staunend — „stupenti similis" — steht er vor dem Anblick, der sich vor ihm auftut. Er hat Assoziationen an Athos und Olymp, angesichts der Alpen kommt ihm Hannibals Alpenübergang nach Livius bis in Einzelheiten in den Sinn. Wiederum erschließt ihm die Literatur, was er vor sich sieht. Hier wird noch deutlicher als beim Aufstieg, daß es sieht dabei um einen Vorgang der Benennung und Identifizierung handelt. — Die Aussicht gegen Italien löst in ihm einen wehmütigen Affekt aus und in dessen Gefolge die Erinnerung an sein Leben9. Die einführende For7

V g l . das D a n t e - K a p i t e l und die dortigen Hinweise.

8

Diese Veränderung

in der Funktion

der dogmatischen Vorstellungen

hat

Friedrich f ü r die L y r i k Petrarcas festgestellt. H u g o Friedrich, Epochen der italienischen L y r i k . F r a n k f u r t : Klostermann

1 9 6 4 . S. 1 8 1

Zum

Verhältnis

Ich-Landschaft S. 2 1 0 f. β

J a c o b Burckhardt weist auf die Kausalität von Landschaftseindruck und E r innerung hin. Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: Kröner 1 9 J 2 (Kröners Taschenausgabe B d $ 3 ) S. 2 7 8

22

mei nimmt die der Aufstiegsreflexion auf: „Occupavit inde animum nova cogitatio atque a locis traduxit ad tempora." „Corporea" sind nun spezifiziert als biographisch geprägte Landschaft und erinnerte Lebenszeit. Die Reflexion darauf benutzt wiederum einen literarischen Spiegel. Petrarca vergegenwärtigt sich sein hinter ihm liegendes Leben nach dem Vorbild Augustine10. An ihm orientiert sich der Vorsatz, dereinst eine Autobiographie zu schreiben. Die folgenden Gewissenserforschungen sind ein Ansatz dazu, worin das Vorbild bis in den Stil am Werk ist. Mit Hilfe Augustins gelingt Petrarca eine Selbsterkenntnis individuellerer Art als beim Aufstieg. Er überblickt sein Leben als ganzes, auch den künftigen Verlauf, und gelangt zur Einsicht in die darin wirkenden Tendenzen. So wird er sich selbst in seiner Individualität, d. h. seiner vielfältigen raum-zeitlidien Existenz, faßbar. Wie Ernst Cassirer sagt: „Das lyrisdie Genie der Individualität entzündet sich an dem religiösen Genie der Individualität." 1 1 Es zeigt sich nun auch hier, daß von der literarischen Tradition, in der sich die Erfahrung formuliert, Impulse ausgehen. Petrarca gerät in eine eigentliche imitatio Augustini. Sein Griff nach den „Confessiones" ahmt Augustins Griff nach der Bibel auf den geheimnisvollen Anruf „tolle lege" hin nach. Das wird daran deutlich, daß Petrarca als Parallele zu der Stelle, die er aufschlägt, nicht nur die Verse Rom. 13, 13 und 14 anführt 12 , die für Augustin entscheidend waren, sondern auch die Bekehrung des Antonius auf Grund von Matth. 19, 2 1 , die ihrerseits Augustin den Anstoß gegeben hatte. So kommt es zur Reihe: „Et sicut Antonius, his auditis, aliud non quesivit, et sicut Augustinus, his lectis, ulterius non processit, sie et m i h i . . . " Die Stelle, die Petrarca zufällig aufschlägt, lautet: „Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluetus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos." 13 Augustins Bekehrung bildet das innere Zentrum seiner „Confessiones". Durch sie erhielt er in der Begegnung mit Gott den Fixpunkt, in bezug auf den er sein Leben darstellen konnte. Die durchgehenden Gottesanreden stiften in der wechselvollen Lebensbeichte die thematische

10

11

12 13

Zur Bedeutung Augustins für das Bewußtsein der Renaissance vgl. Konrad Burdach, Reformation Renaissance Humanismus. 2. Aufl. Berlin—Leipzig: Paetel 1926. S. 159 f. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance ( i . A . 1927) 2. unv. Auflage Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1963. S. 1 3 6 Confessiones V I I , cap. 1 2 Confessiones X , cap. 8

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und stilistische Einheit. Petrarca holt die Bekehrung nach, nachdem er schon den den Confessiones entsprechenden Überblick über sein Leben gewonnen hat. „Obstupui fateor", seine Reaktion auf die AugustinStelle, ist ein Nachhall des „stupenti similis steti", das den ersten Gipfeleindruck wiedergibt. Das Konkurrenzverhältnis beider Anstöße, des landschaftlichen und des literarischen, zeigt sich alsbald. Zunächst ist nicht so recht verständlich, weshalb die Augustin-Stelle Petrarca so sehr trifft. Er hatte ja gerade den Blick immer wieder „ad se ipsum" gerichtet, ja darüber sogar vergessen, wo er sich befand. Obwohl das Augustin-Zitat durch die Verwendung von „mirari" in der wiederaufgenommenen Aussichtsschilderung vorbereitet ist, zielt seine Kritik offensichtlich tiefer. Sie gilt eben jener Abhängigkeit des Idi von der Landschaft, die der Bergbesteigung als ganzer und ihren einzelnen Phasen zugrunde liegt, und die nichts anderes bedeutet, als daß das Selbstbewußtsein von der jeweiligen körperlichen Situation bedingt, also natürlich ist und erst nachträglich seine Prägung durch den Geist bekommt. Das Selbst dagegen, wie Augustin es versteht, liegt jenseits aller irdischen Erscheinungen und ihrer Abbilder im Gedächtnis14. Daher kann es nicht ohne Gott gedacht werden. Das irdische Leben in Raum und Zeit gehört ihm gerade nicht zu. Es ist allenfalls seine Hohlform. Dieses Selbst gewinnt der Mensch nur durch die Transzendierung alles Natürlichen. Augustin, das zeigt sich nun, ist ein zweideutiges Vorbild. Die „Confessiones" sind einerseits literarische Autobiographie und ermöglichen es Petrarca, rückblickend sein eigenes Leben in entsprechender Weise in den Blick zu bekommen. Dabei aber ist ihre religiöse Ausrichtung nicht auszuschalten. Die in Zeit und Raum erfaßbare Individualität wird darin dargestellt, um transzendiert zu werden auf Gott hin. So wird die individualisierende Selbsterkenntnis von demselben Werk, das sie ermöglicht, auch wieder in Frage gestellt. Die lyrische Individualität wird — so scheint es — durch die religiöse, die sie entzündete, sogleich wieder erstickt. Wie aber in Augustine „Bekenntnissen" Vielfalt der äußeren Lebensereignisse und transzendenter Fixpunkt sich gegenseitig bedingen, so ist 14

Die Stelle steht im Zusammenhang mit Augustine Ausführungen über die memoria. X , cap. 1 7 heißt es: Ecce ego adscendens per animum meum ad te, qui desuper mihi manes, transibo et istam v i m meam, quae memoria v o c a tur, volens te attingere, unde attingi potes, et inhaerere tibi, unde inhaereri tibi potest.

24

die Infragestellung der Selbsterkenntnis, zu der Petrarca bisher gelangt war, gerade deren Weiterführung. Hatte Petrarca bisher auf dem Gipfel die Totalität seiner Lebensumstände in den Blick bekommen, so wird er nun auf den Punkt hingeführt, von dem aus das Ganze seine Einheit erhält. Es ist sein innerster Kern, sein personales Selbst. Das drückt die Feststellung aus: „mihi et non alteri dictum rebar." Hier ist jene Selbsterkenntnis Petrarcas, die mit der Einsicht in seine conditio humana begonnen hatte, am Ziel, er kann sich nun in einer Reihe mit den großen heiligen Individuen Antonius und Augustin sehen. Dieses Selbst konnte ihm nidit mehr die Landsdiaft eingeben. Es gründet in Augustine Buch, das in bezug auf die Landschaft die Transzendenz repräsentiert. Die Literatur ist an diesem Punkt im Verhältnis zur Landschaft das Primäre geworden. Petrarca bleibt jedoch durch seine Existenz der Landsdiaft und dem, was sie in ihm erregt, verhaftet. Jenes transzendente Selbst muß der Erfahrung notwendigerweise unzugänglich bleiben. Es wirkt sich jedoch indirekt aus als Sündenbewußtsein, das die Erkenntnis der irdischen Individualität tingiert. Im Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit trägt Petrarca in aller Bestimmbarkeit durch die Landschaft den Bezug auf das in Gott gehaltene Selbst bei sich. Daß dadurch der Wert der irdischen Existenz trotzdem erhalten bleibt, geht daraus hervor, daß die Betroffenheit durch die Augustinstelle nidit eine wirkliche Metanoia in die Wege leitet. Reflexionen über die Sünde, in denen man Nachwirkungen der Augustinstelle sehen kann, begleiten den Abstieg. Sie deuten auch den Abstieg auf den Abfall des Menschen von Gott und dem ursprünglichen Zustand. Das Verfahren orientiert sich wie beim Aufstieg am vierfachen Sdiriftsinn. Der kleinerwerdende Gipfel wird dabei widersprüchlich ausgelegt. Er ist einerseits Abbild der verlorenen Höhe der menschlichen Kontemplation, anderseits aber „cacumen insolentie", Gipfel menschlicher Hybris. Das entspricht der Doppelheit der Selbsterkenntnis, die er ermöglicht. Dann verbreitern sich die Reflexionen mehr und mehr ins Allgemeine. So gelangt Petrarca zurück aus der Höhe der Selbsterkenntnis in die unter dem Zeichen des Mondes stehende Landschaft15. Die Besteigung des Mont Ventoux zeigt das Idi Petrarcas im Spannungsfeld von Landschaft und Literatur. Die Landschaft hat den Primat. Sie löst Affekte, Stimmungen, körperlich-seelische Zustände aus. In der 15

Billanovich hat errechnet, daß der M o n d an dem von Petrarca angegebenen T a g nidit schien! A . a . O . S. 1 9 7 (vgl. A n m . 1 ) 25

Anlage des Briefes zeigt sidi das daran, daß in jedem der drei Abschnitte die Landschaftserfahrung der Selbstreflexion vorangeht. Die Landschaft ist vielfältig. Sie gibt dem, der sie durchwandert, ständig neue Eindrücke. Das wird ausgesprochen in dem Hinweis „pro varietate locorum mutatis forsan affectibus". Die Bergbesteigung besteht aus der Abfolge von drei verschiedenen Landschaftserfahrungen. Der Mont Ventoux ist dabei nicht ein Landschaftspunkt unter anderen. Er dominiert die Region von Vaucluse, da er als die höchste Erhebung im Umkreis von überall her sichtbar ist. Er ist ein Ort außerhalb der sonstigen Landschaft. Er gibt Petrarca die Möglichkeit, auf die vielfältigen Gegenden, die sonst sein Leben bestimmt haben, von oben herabzublicken. Die Einwirkung des Gipfels liegt gerade in der Distanznahme, im räumlichen und zeitlichen Uberblick. Er evoziert Erinnerung und Hoffnung, die complicatio der Zeiten16 im Sinne des Cusanus. Innerhalb der Landschaft ist mit Tal und Berg ein Gegensatz von Unmittelbarkeit und Distanz, von Abhängigkeit und Freiheit gegeben. Die durch die Landschaft eingegebenen Zustände bezieht die Reflexion auf literarisch vorgegebene Vorstellungen. Dadurch werden sie sprachlich faßbar. Sie können erkannt werden, so daß sich daraus für das Bewußtsein Folgerungen ergeben. Die Anwendung der scholastischen Auslegungsmethode setzt voraus, daß in den landschaftlichen Zuständen wie in einer Bibelstelle ein mehrfacher Sinn für das betroffene Ich enthalten sei, der durch die literarischen Spiegelungen zum Vorschein kommt. Dadurch aber erhalten die traditionellen Vorstellungen zugleich eine Verankerung in der individuellen Erfahrung. Indem sie den Zuständen des Ich zum Ausdruck verhelfen, werden sie lyrisiert. Die Folge ist die beobachtete Einschränkung ihrer universalen Gültigkeit. Sie werden in den landschaftlichen Wechsel miteinbezogen. Ihre erhellende Funktion erfüllt die Literatur jedoch nur dann, wenn sie zugleich traditionell bleibt. N u r so kann sie den wechselnden Zuständen Dauer verleihen, sie verewigen. „Ewig" ist bei Petrarca noch immer ein qualitativer Begriff: die Autoren gehören dem traditionellen Kanon nicht nur aufgrund ihrer Berühmtheit an, also der zeitlichen Dauer, sondern diese Berühmtheit gründet in der Korrespondenz mit der christlichen Heilslehre. Auch die profanen Autoren verweisen so auf Gott. In diesem Sinn vermag die literarische Spiegelung die wechselnden Zustände auch inhaltlich zu verewigen. 16

26

Cusanus braucht zur Veranschaulichung der Complicatio auch den Blick aus der Höhe. Vgl. J . Ritter, Landschaft. Anm. 39

Dieses Verhältnis von Landschaft und Literatur gilt auch für die Position auf dem Gipfel, und zwar für beide Phasen. Die complicatio der Zeiten, welche der Überblick vom Berg ermöglicht, tendiert nach dem Beispiel Augustins zur literarischen Gestaltung 17 . Aus dem Bezug auf die „Confessiones" erhielten sie, noch bevor diese genannt werden, ihre stilistische Form. Die vom Berg ausgehende Inspiration wird von Augustin geprägt. — Petrarcas Formulierungen lassen die Tendenz erkennen, auch die direkte Begegnung mit Augustin aus dem Berg abzuleiten. Er schiebt nadi den ersten Gipfelreflexionen nochmals einen Blick auf die Landschaft ein und fährt dann fort: „Que dum mirarer singula et nunc terrenum aliquid saperem, nunc exemplo corporis animum ad altiora subveherem, visum est mihi Confessionum Augustini librum... inspicere." Der Griff nach Augustin wird als durch das Beispiel des Körpers, also indirekt vom Berg angeregt beschrieben. Auf das Fehlen einer bewußten Aktion weist auch die Zufälligkeit. Die Betroffenheit durdi Augustin gibt, wie gezeigt wurde, Petrarca die Möglichkeit, seine individuelle Existenz auf sein personales Selbst hin zu transzendieren. Dieser Akt des Transzendierens erscheint damit ebenfalls als vom Berg eingegeben. Dadurch, daß der Mont Ventoux Petrarca dazu bringt, im Spiegel Augustins die Totalität seiner irdischen Existenz und sein transzendentes Selbst zu erkennen und beide in eins zu sehen, wird die Bergbesteigung für ihn zur Expedition zu sich selbst. Er selbst ist die terra incognita, die er in der Höhe entdeckt. Weil diese Selbsterkenntnis an einen bestimmten Ort gebunden ist, droht sie mit dessen Verlassen verloren zu gehen. Der Brief ist gegen diese Unbeständigkeit geschrieben. Er soll das Durchlebte festhalten in doppelter Weise. Einmal als ein Ganzes: Er rafft das ausgedehnte Unternehmen zu einer überschaubaren Einheit. Auf die Differenz zwischen Erzähl- resp. Lesezeit und erzählter Zeit ist ausdrücklich hingewiesen18. Dann durch seine Stilisierung. Seine gehobene lateinische Sprache orientiert sidi an Cicero und Augustin. Zitate aus Vergil, Ovid und der Bibel sind eingebaut 1 '. Seinen Gehalt fassen die letzten Sätze zusammen: 17

18 19

Die Inspiration zu seinem Epos .Africa', einer Dichtung über Scipio Africanus, und die Anregung zu dessen Vollendung kamen Petrarca audi auf Bergeshöhe, wie er im „Brief an die Nachwelt" berichtet. et unam, precor, horam tuam relegendis unius diei mei acribus tribue. „cogitatio" z. B. ist ein von Cicero bevorzugter Terminus. — Nachweis der Zitate in der Edizione Nazionale. 27

Er ist Darlegung der „universa vita" und der „singuli cogitatus" mit der Tendenz „ad unum, bonum, verum, certum, stabile". Wir erkennen in dieser Doppelheit die beiden Pole des Selbst, dessen Fixierung der Brief zu sein sucht. Nicht nur für den Adressaten, sondern auch für den Schreiber. Der Brief ist ein Zeugnis für dessen Selbsterkenntnis noch dann, wenn er wieder im Banne der wechselnden Landschaft; steht, die ihn andere Erfahrungen machen läßt. Der eigene Brief kann für ihn die Funktion übernehmen, welche Augustine „Confessiones" erfüllten. Die schriftliche Fixierung schafft einen von der Landschaft unabhängigen Raum. Sie garantiert die Einheit von individuellem und transzendentem Selbst20. Das entscheidend Neue an Petrarcas Gestaltung des Aufstiegmotivs kann ein kurzer Vergleich mit der Dantes im „Purgatorio" akzentuieren. Der grundlegende Unterschied zeigt sich an Verhältnis und Funktion von spiritueller und erfahrener Topographie. Auch Dante zieht an manchen Stellen offensichtlich eigene Bergerfahrungen heran. Sie sollen dem Leser die imaginäre Topographie anschaulich machen. Daher stehen sie im Vergleich. Den Primat hat die spirituelle Bedeutung des Berges. — Auch Petrarca verwendet die traditionellen Bergdeutungen. Die Reflexionen darauf beim Aufstieg etwa scheinen direkt im Schatten der „Divina Commedia" zu stehen. Von Dante her metaphorisiert Petrarca dort seine Lage. Doch voraus geht die Erfahrung. Das Verhältnis von Erfahrung und Deutung liegt also bei Dante und Petrarca genau umgekehrt. Dabei kommt es jedoch Petrarca offensichtlich nicht mehr so sehr darauf an, seine Bergbesteigung im Lichte der traditionellen Vorstellungen zu deuten. Diese dienen ihm eher als Spiegel, sein erstmaliges und somit unerhörtes Unternehmen geistig zu erfassen. Sie sind ihm nicht so sehr durch ihren Gehalt wichtig, denn als Gestaltungen dessen, was er in der Wirklichkeit erfährt. Auch Augustin benutzt er zunächst als Spiegel. So wird das überlieferte Metapherngut beigezogen, um die eigene Erfahrung zu formulieren und zu begreifen. Die Besteigung des Mont Ventoux wird gewissermaßen zur erlebten Metapher. Dadurch wird der Erfahrung selbst spirituelle Bedeutung verliehen. Die Besteigung des Mont Ventoux bedeutet ihn nicht nur, sondern ist tatsächlich für Petrarca der Weg zu sich selbst. Das heißt nichts Geringeres, als daß der Ursprung des Geistes und der Selbsterkenntnis 20

28

Diese Polarität entspricht der von Mittelpunkt und Kreis, deren Übergang von G o t t auf den Menschen zu Beginn der Neuzeit Georges Poulet herausgearbeitet hat. ( V g l . das Dante-Kapitel dieser Arbeit, A n m . 34, 36)

in die erfahrbare irdische Wirklichkeit gelegt wird. Zwar sucht Petrarca noch beide Ursprünge des Geistes zu verbinden, wie das Zusammenspiel von Erfahrung und Literatur auf dem Gipfel zeigt. Dadurch aber, daß er die eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt nimmt, ist die entscheidende Wendung vollzogen. Die Doppelheit wird am Bergmotiv deutlidi. Der Berg erregt in Petrarca die cupiditas aufzusteigen. Er hat damit gewissermaßen die Funktion Beatrices übernommen. Die Erkenntnis, die er vermittelt, liegt im Überblick über das durchlebte und künftige Leben. Petrarca tut, indem er vom Gipfel zurückschaut, was Dante beim Aufstieg streng verboten ist und was ihm das Lethebad vollends unmöglich macht. Petrarcas natürliche Selbsterkenntnis bekommt durch Augustin eine geistige Ergänzung. Als Mittler zu Gott ist ihm die andere Hauptfunktion Beatrices übertragen. Wir haben gesehen, daß Petrarca Berg und Augustinlektüre als notwendig zusammengehörig darstellen wollte. Aber die Disparatheit ist mit Händen zu greifen. Der Aufstieg wird für Petrarca nur deshalb zum Weg der Erkenntnis seines auf Gott bezogenen personalen Selbst, weil er die „Confessiones" in der Tasche hat. Es braucht das Buch, um ihn an sich selbst zu erinnern. Wenn Petrarcas Brief so den Zusammenhang von Bergbesteigung und Selbsterkenntnis im doppelten Sinn auch nicht eindeutig zu deduzieren vermag, so konstituiert er ihn doch. Er setzt den Zusammenhang von wirklicher Bergbesteigung und Weg zu sich selbst. Während Dantes Werk eine ehrwürdige Tradition zusammenfaßte, begründete Petrarcas Brief, audi er ist einer „Posteritati", eine neue.

29

Giordano Bruno Giordano Bruno, Dialoghi italiani. Nuovamente ristampati con note da Giovanni Gentile. Terza edizione a. c. di Giovanni Aquileccia. Firenze: Sansoni 19 $7 [zit. Gentile] Giordano Bruno. Gesammelte Werke, hrsg., verdeutscht und erläutert von Ludwig Kuhlenbeck. Bd 3 : Zwiegespräch vom unendlichen All und den Welten. 2. Aufl., Jena: Diede ridi s 1904. [zit. Kuhlenbeck] Giordano Bruno, Degl' Heroici Furori. Des fureurs héroïques. Texte établi et traduit par Paul-Henri Michel. Paris: Les belles lettres 1954 (les classiques de l'humanisme) [zit. Michel] Jordani Bruni Nolani, Opera latine conscripta, recensebat F. Fiorentino. Vol. I, Pars 1. NeapoM: Morano 1879. Faksimile-Neudruck Stuttgart—Bad Cannstatt: Frommann 1962. [zit. Fiorentino] Seinem D i a l o g „ D e l'infinito, universo e mondi" v o n

1583

hat

Giordano Bruno drei Sonette vorangestellt, die unser M o t i v umkreisen 1 . Das erste „ M i o passar solitario" exponiert das Thema des A u f schwungs.

Es

benutzt

das

biblische

Bild

des

„einsamen

Sperlings"

(Ps. 102, 8) f ü r das H e r z , das aufgefordert w i r d , sich mit höheren D i n gen z u befassen. Im A n r u f „rinasci l a " klingt der Geist der Renaissance unmittelbar nach. A l s Führer f ü r den Aufschwung wird ein G o t t empfohlen, „che da chi nulla vede è cieco detto". Die sprichwörtliche Blindheit Amors w i r d in kühner Dialektik denen angelastet, die ihn nicht kennen und in eigener Unwissenheit eingeschlossen sind. — D a s zweite Sonett „Uscito de prigione angusta e nera" feiert den gelungenen Ausbruch. Es wendet sich dankbar an Phöbus, den Pythonbesieger,

der

auch das H e r z aus Nacht befreit hat. Er w i r d als „mio sol", „mia diva

1

30

Gentile S. 364 f., Kuhlenbeck S. 2j. — Gentile übt an Kuhlenbecks Obersetzung harte Kritik: „Né possiede la conoscenza, abbastanza sicura, della nostra lingua." S. X L I X . Der Vorwurf erscheint nicht unberechtigt angesichts der Wiedergabe von „Mio passar solitario" durch „Mein einsam Wandeln", wo doch Bruno in den „Heroici furori" (Michel S. 209 f.) das Sperlings-Bild ausführlich kommentiert.

luce", „alma dia voce" angeredet. Die Vielfalt der Apostrophen deutet auf die Schwierigkeit hin, das rettende Prinzip zu benennen. Phöbus ist nur e i n e Metapher dafür. Auch hier scheint jener Zusammenhang von Unwissenheit und Unerkennbarkeit mitzuspielen. Das dritte Sonett lautet: E dii mi impenna, e chi mi scalda il core? Chi non mi fa temer fortuna o morte? Chi le catene ruppe e quelle porte, Onde rari son sciolti ed escon fore? L'etadi, gli anni, i mesi, i giorni e l'ore? Figlie ed armi del tempo, e quella corte A cui né ferro, né diamante è forte, Assicurato m'han dal suo furore. Quindi l'ali sicure a l'aria porgo, Né temo intoppo di cristallo o vetro, Ma fendo i cieli e a l'infinito m'ergo. E mentre dal mio globo a gli altri sorgo E per l'eterio campo oltre penetro: Quel ch'altri lungi vede, lascio al tergo. Und wer beflügelt mich, und wer erhitzt mir das Herz? Wer macht mich Fortuna oder Tod nicht fürchten? Wer sprengte die Ketten und jene Pforten, Aus denen selten jemand gelöst wird und hinausgeht? Die Alter, die Jahre, die Monate, die Tage und die Stunden, Töchter und Truppen der Zeit, und jener Hof, Dem weder Eisen nodi Diamant beikommt, Haben mich vor seinem Furor gesichert. Daher biete ich der Luft die sicheren Flügel, Kein Hindernis fürchte idi von Kristall oder Glas, Sondern ich spalte die Himmel und erhebe mich ins Unendliche. Und während ich von meinem Erdball zu den andern aufsteige Und durch das aetherische Gefilde weiterdringe, Lass idi, was ein anderer in der Ferne sieht, im Rücken.2 1

Diese Ubersetzung soll lediglich eine Verständigungsbasis darstellen. — Es ist im Zusammenhang dieser Arbeit von Interesse, daß Heinridi von Stein, der sich in Halle mit einer Studie über Bruno habilitiert hatte, an Nietzsche in einem Brief (17. Mai 1884) neben zwei weiteren folgende Übersetzung dieses Sonetts sandte: 31

Dieses Sonett wurde von Bruno, in lateinische Hexameter umgedichtet und mit einigen bedeutsamen Erweiterungen versehen, dem Gedicht „De immenso et innumerabilibus" von 1591 als Anfang eingefügt. Bruno verfuhr auch in anderen Fällen so. Die exponierte Stelle dieses Gedichts im Prooenium des späteren Werks gibt jedoch diesen Versen eine besonders repräsentative Bedeutung. Die erste Zeile des Sonetts stellt den Bezug zu den beiden vorangegangenen Sonetten her. „impenna" bezieht sich auf den Sperling aus dem ersten, „mi scalda il core" auf die Sonne im zweiten. Nun stellt sich ausdrücklich die Frage nach dem Prinzip, das die Befreiung gebracht hat. Die Frage wird dreimal wiederholt mit verschiedenen Hinweisen auf Wirkungen. Dem unbekannten Prinzip, für welches das Ich Objekt ist, sind meist präsentische Verben ingressiver Art zugeordnet, die es als aktiv und dynamisch erscheinen lassen. Es wirkt ermutigend, sprengend und erwählend. Das zweite Quartett vermehrt die Hinweise indirekt durch die Darstellung der Gegenmacht, gegen die es sich durchgesetzt hatte. Audi für diese war das Ich Objekt. Doch war ihre Einwirkung anderer Art: In der Strophe dominieren Nomina im Plural, die nur ein einziges Verb haben. Die Zeit, um diese handelt es sich, erscheint nicht als einheitliche Macht, sondern in der Vielzahl ihrer Maßeinheiten. Als chronometrische Zeit ist sie einerseits in ihrer aufteilenden, W e m dank idi's, daß ich nun mit freier Seele U n d schredcenlos den F l u g des Lebens wage, Die allgemeinen Ketten nicht mehr trage — Denn Seltne nur entließ die bange H ö h l e , Ein Demant-Beil erlahmt an diesem H a g e D e r Endlichkeit — wie modit ich mich entraffen D e r Zeit und ihrem Ingesind und W a f f e n , D e m L a u f der Alter, Jahre, Stunden, T a g e ? N u n w o h l ! Ich fürchte nicht, den sie erlogen, D e r alten M ä h r krystallnen Himmelsbogen, Ich breche durch, mir ist der W e g gebahnt, S o daß ich midi zu andern Erden hebe, Endlos durch das Gefild des Äthers schwebe, Vorbei den Welten, die ich einst geahnt. Nietzsche bedankte sich iiberschwenglich : „Diese Gedichte Giordano Brunos sind ein Geschenk, f ü r welches idi Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Idi habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, wie als ob ich sie gemacht hätte und f ü r midi — und sie als stärkende T r o p f e n .eingenommen'" (22. M a i 1 8 8 4 ) . Friedrich Nietzsche, Gesammelte Briefe, hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche u . a . B d I I I , 2. A u f l . L e i p z i g : Insel 1 9 0 5 . S. 228 f. ( V g l . auch das Nietzsche-Kapitel dieser Arbeit.)

32

ordnenden und zerstückelnden Funktion dargestellt. Doch erscheint sie andererseits unter dem Bild eines Hofstaates 3 . Daß ihr Eisen und Diamant nicht beikommen, deutet in Umkehrung des Horazeschen „aere perennius" auf ihre unantastbare Macht. Als Gesetz der Endlichkeit ist sie selbst ohne Ende. Ähnlich doppeldeutig ist die Wirkung der Zeit auf das Ich. Das kommt in der Personifizierung der Zeiteinheiten als Töchter und Truppen zum Ausdruck, aber auch darin, daß sie das Ich in Gewahrsam hält und zugleich vor dem Gegenprinzip bewahrt. Dieses, zunächst durchaus positiv; wird dadurch ebenfalls doppeldeutig. Es gefährdet, indem es befreit; denn es enthält das Risiko von Fortuna und Tod, wie die zweite Zeile des ersten Quartetts andeutet. Die beiden Quartette stellen zwei konträre Gewalten, die auf das Ich wirken, einander gegenüber. Die eine ist unbekannt, die andere ist benannt; die eine wirkt für sich allein, die andere als Kollektiv; die eine vereinzelt, die andere bezieht in eine Hierarchie ein; die eine befreit, die andere hält in Gewahrsam; die eine gefährdet, die andere sichert; die eine treibt an, die andere konserviert; die eine ist außer der Zeit, die andere ist die Zeit. Beide aber sind in ihrer Wirkung ambivalent. Die erste jedoch ist siegreich. Sie hat die Zeit überwunden, deren tempus ist das Präteritum. Und das letzte Wort der Quartette gilt dem siegreichen Prinzip „furore". Dieses entscheidende Wort eröffnet weitere Zusammenhänge 4 . Es ist ein Schlüsselwort des in der Renaissance von den Florentinern erneuerten Piatonismus. Marsilio Ficino hatte es in seinem Kommentar zum „Symposion" für den Elan verwendet, der der Seele den Aufstieg zum Ureinen ermöglicht. Im Anschluß an den „Phaidros" unterschied er nach Art und Intensitätsgrad vier furores divini. Davon ausgehend erhielt das Wort einen weiteren Sinn und wurde, oft in Zusammenhang mit der Liebe, von Plato her verstanden. Uber *

Die Ubersetzung v o n „corte" mit „ H o f " in Zeile 6 befremdet, obwohl sie nicht zu vermeiden ist. Es ist zu erwägen, ob „corte" nicht ein Latinismus ( „ c o r t e x " ) f ü r „cortice" sein könnte, zumal in den „heroici f u r o r i " I I , 5 davon gesprochen wird, daß in der J u g e n d das H e r z von einem diamantenen Panzer umgeben sei, an dem die Strahlen von Wahrheit und Schönheit abprallen (Michel S. 3 3 7 ) . Freilich ist eine solche Bedeutung von „corte" sonst nirgends belegt.

4

V g l . Giordano Bruno, D e g l ' Heroici Furori. — Im folgenden stütze idi midi auf die ausgezeichnete Einleitung von P a u l - H e n r i Michel in seine Ausgabe. Z u m Begriff „ f u r o r e " S. 4 1 f .

5

Michel ebd.

33 3

Pestalozzi, Lyrisches Ich

den Gebrauch des Wortes bei Bruno sagt sein Herausgeber: „Pour Giordano Bruno, lecteur de Ficin comme de l'Arioste, le mot fureur reste lourd de sens; il évoque aussi bien le don de poésie que l'élan d'un cœur plein d'amour ou que cette frénésie inspirée par Dionysos (la fureur mystériale de Ficin), et qui n'est autre que la voie orgiaque, l'évasion hors des limites de la personne, l'immersion de l'être individuel dans les abîmes de l'être cosmique." 5 Auf unsere Stelle bezogen heißt das, daß „furore" die in der ersten Strophe angeführten Wirkungen zusammenfaßt. Insofern „furore" von einer göttlichen Macht stammt, deutet das Wort darauf hin, daß das Prinzip, nach dem gefragt ist, etwas Göttliches sein muß. Das macht verständlich, weshalb es nur fragend umschrieben, nicht aber direkt benannt werden kann. Die beiden Quartette beziehen sich somit auf den platonischen Urmythos, wonach der Mensch, von göttlicher Begeisterung erfüllt, aus der Gefangenschaft der endlichen Sinnenwelt befreit und zu Gott entrückt werden kann. Hinter den einzelnen Bildern zeichnet sich als geschlossener Zusammenhang der bei den Neuplatonikern beliebte Mythos von Dädalus ab, welcher sich auf selbstverfertigten Flügeln aus dem Labyrinth befreite, in das ihn Minos eingesperrt hatte. Fortuna und Tod erinnern an das Schicksal des Ikarus. Audi in der Personifikation der Zeiteinheiten als Töchter kann man eine Anspielung auf die Dädalusgeschichte erkennen. Flügel sind eine stehende platonische Metapher für die göttlichen Fähigkeiten der Seele®. Schon Ovid setzt die Flügel des Dädalus zu denen Amors in Beziehung7. Unser Sonett klingt hörbar an einen Anfang bei Luigi Tansillo an: „Amor m'impenne l'ale." 8 Wie Bruno das erste Sonett in „Degli' heroici furori" verwendet, deutet er den blinden Gott ausdrücklich als Amor 9 . So erscheint Brunos Sonett eingebettet in die Vorstellungswelt des Neuplatonismus. Damit wäre das unbekannte Prinzip die Liebe, die das Ich aus der Endlichkeit befreit und zu Gott zurückführt. Gerade der, Bezug auf den Dädalus-Mythos macht es jedoch fraglich, die Zeit, wie sie im zweiten Quartett dargestellt ist, allgemein mit der Endlichkeit gleichzusetzen. Das Labyrinth, in dem Dädalus gefangen war, war seine eigene Erfindung. Audi die Zeit ist eine Schlinge, die sich der Mensch * quelle potenze de l'amina significate anche dai Platonici per le due ali. (Her. fur. I, 4; Michel S. 2 1 1 ) Dort audi der Hinweis auf die Phaidros-Stelle 246 d Ars amatoria II, 19 S. 8 Vgl. die Anmerkung zu unserem Sonett bei Gentile S. 365 9 Her. fur. I, 4; Michel S. 209 f.

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selbst gelegt hat. Das war mindestens die Auffassung von Brunos einflußreichem Anreger Cusanus, an dessen Sätze die zweite Strophe von ferne anklingt: „Annus, mensis, horae sunt instrumenta mensurae temporis per hominem creatae. Sic, tempus, cum sit mensura motus, mensurantis animae est instrumentum. N o n igitur dependet ratio animae a tempore, sed ratio mensurae motus, quae tempus dicitur, ab anima rationali dependet. Q u a r e anima rationalis non est tempori subdita etc." 10 Der Mensch, der hier als Schöpfer der Zeit erscheint, ist das Gattungswesen, nicht der Einzelne. Darauf weist wohl die Metaphorisierung der Zeit als einer kollektiven, einem Hofstaat vergleichbaren Macht mit hierarchischem Aufbau. Die Zeit ist ein generalisierendes Prinzip, das deshalb vom vereinzelnden Gegenprinzip aufgesprengt werden kann. Die Terzette sind mit „Quindi" eingeleitet, sie geben sidi als Folgerungen aus dem Vorhergegangenen. Nun regiert jede Zeile eine Verbform der i.Person Singular. Vier davon stehen im Reim. Dessen durchgehendes — o hält gleichsam den Orgelton des Ich durch. Das Ich ist jetzt Subjekt. Es hat in eigener Hand, was furor und Zeit an ihm taten: Statt „non mi fa temer" heißt es nun „ne temo", „l'ali sicure" greift das von der Zeit gesagte „assicurato m'han" auf. Diese Aufnahmen aus beiden Strophen scheinen anzudeuten, daß, obwohl das erste Prinzip gesiegt hat, das andere nicht einfach wegfällt. Im Idi, das Herr seiner selbst und seiner selbst bewußt ist, treten sie zusammen. Das Ich erhebt sich aus eigener Kraft, und das Maß seiner Zeit ist nurmehr seine eigene Bewegung. Nun erst beginnt der eigentliche Aufschwung. Dieses kraftvolle Selbstbewußtsein bezeugt sich in erster Linie darin, daß es ausdrücklich alle Stufen des Aufstiegs verschmäht. Aufsteigend konzipiert das Ich den Raum, durch den es aufsteigt. Dabei bekommt der platonische Seelenaufschwung eine überraschende neue Dimension. Er wird zur bildhaften Vorwegnahme der antiaristotelischen Polemik, die der nachfolgende Dialog im einzelnen entfaltet 11 . Das erste Terzett richtet sich gegen die Lehre, daß Planeten und Fixsterne an glasartigen 10

Z i t . bei Cassirer, Individuum und Kosmos. S . 4 4

11

Z u Brunos Aristoteles-Kritik vgl. Wilhelm Dilthey, D e r entwicklungsgesdiiditliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistisdien Systemen. I n : Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften. II. Band. 4. A u f l . Berlin und Leipzig: Teubner 1 9 4 0 , S. 3 2 6 — Ferner M a x J a m m e r , Problem des Raumes S. 93 f.

3S 3"

Schalen befestigt seien, die von der obersten bewegt werden. Aristoteles setzte jenseits davon einen leeren Raum an, das Universum war ihm somit endlich. Der Aufflug des Ich zerschlägt diese Theorie, denn die Sphären nicht fürchten heißt bereits sie spalten, da audi die Theorie selbst zum kleinsten Teil auf astronomischer Beobachtung, zum größeren aber auf Spekulation beruhte. Durch die Leugnung der Sphären verschwindet die Begrenzung des Kosmos, er wird unendlich. — Das zweite Terzett bezieht sich auf Brunos Theorem von der unendlichen Zahl der Weltkörper, mit dem er noch über den von ihm hoch verehrten Copernicus hinausging. Er nahm das All nicht als heliozentrisch an. Es bestand ihm aus unendlich vielen unabhängigen Welten, die sich, soweit sie nicht Trabanten waren, aus eigener Kraft bewegten. „Mein Erdball" war nur eine unter unendlich vielen. Dieser Ausbruch aus dem heliozentrischen System steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aus der Zeit; denn deren Maße beziehen sich auf den Sonnenumlauf 12 . Sie wurden mit der Annahme anderer Systeme mit Umläufen, die andere Zeitmaße denkbar machten, relativiert. Die chronometrische Zeit wurde damit von einer im Kosmos begründeten zu einer vom Menschen geschaffenen Zeit. Des Cusanus logische Deduktion wurde damit kosmologisch fundiert. Das All wird als „L'eterio campo" bezeichnet. Auch darin liegt eine antiaristotelische Spitze. Bruno bestritt, daß das All leer sei. Er nahm es als von Äther erfüllt an. Auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Flugmetapher als angemessen. Die Verbindung von Aufschwungmotiv und kosmologischer Spekulation verschiebt jedoch das Verhältnis von Metapher und Metaphorisiertem entscheidend. Der platonische Seelenflug ist in all seinen Momenten Metapher für geistige Vorgänge, die als solche nidit lokalisierbar sind. Das Sinnliche kann dafür bestenfalls ein Abbild stellen. Bildspender und Bildempfänger gehören verschiedenen Bereichen an. Das eben ist das Wesen der Metapher. Bruno nimmt in den Terzetten die Metapher beim Wort. Indem sein Geist einen tatsächlichen Aufschwung in das tatsächliche All vornimmt, hört der Aufschwung auf, Metapher zu sein. Die Differenz zwischen Bild und Bedeutung besteht nur noch darin, daß nicht der ganze Mensch auffliegt. In Raum, Medium, Bewegungsimpuls, sind Aufflug und kosmische Spekulation eins. Die Beziehung beider ist nicht mehr metaphorisch, sondern metonymisch. Damit droht das Gedicht in zwei Teile zu zerbrechen, „impenna" der ersten 1!

36

Diesen Zusammenhang entwickelt Bruno in H e r . Fur. I, 5. (Michel S. 2 6 1 )

Zeile und „l'ali sicure a l'aria p o r g o " gehören verschiedenen Aussageebenen an, zwischen denen die Vorstellungsäquivokation nur scheinbar vermittelt. Diese Schwierigkeit hat Bruno in der lateinischen U m f o r mung auf unerwartete Weise behoben. Deren A n f a n g lautet: Est mens, quae vegeto inspiravit pectora sensu, Quamque juvit volucres humeris ingignere plumas Corque ad praescriptam celso rapere ordine metam: Unde et Fortunam licet et contemnere mortem; Arcanaeque patent portae, abruptaeque catenae, Quas pauci excessere, quibus paucique s o l u t i . . -13 V o n der Beantwortung v o n „ d i i " durch „mens" w i r d später die Rede sein. H i e r interessiert die A u f l ö s u n g von „impenna". A u s der Metapher ist ein Realzusammenhang geworden, der im vorangestellten gemeinsamen Subjekt v o n Vögeln und H e r z z u m Ausdruck kommt. D i e wirkende K r a f t , die den Menschen ermutigt, ist dieselbe w i e die, welche den Vögeln Flügel wachsen läßt. D e r Zusatz „vegeto sensu" nähert sie der Lebenskraft an. Die dritte Zeile unterstreicht mit „praescripta meta" ihr entelechisches Moment. D a ß die V ö g e l als Beispiel angeführt werden, geschieht offensichtlich unter

der Einwirkung

der

vorausgegangenen

Metapher. V o n der Sache her könnte irgendein Lebewesen ihre Stelle einnehmen. Was den Menschen betrifft, so ist jede Flug-Assoziation vermieden. Aus der lateinischen Fassung der Quartette ist auch das „ m i " verschwunden. In der Entsprechung zur 8. Zeile ist es durch „nos" ersetzt: Immunes voluere suo nos esse furore. Erst in der folgenden Zeile kommt das Idi ins Spiel: Intrepidus spacium immensum sie findere pennis Exorior. 1 4 Es ist nicht auszuschließen, d a ß hier „pennis" metonymisch f ü r den Schreibvorgang genommen werden könnte, die Metapher also auch da aufgelöst wäre. D o d i ist im weiteren die Darstellung der kosmischen Spekulation als Flug wie im Sonett beibehalten, wenn auch im ganzen die Sprache abstrakter ist. Die Differenz zwischen der ι . Person Plural am A n f a n g und der i . Singular von dieser Zeile an bedeutet, d a ß der 13 14

Fiorentino S. 201 Ebd.

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kosmologische Aufflug die individuelle Ausprägung jener entelediischen Lebenskraft ist, die allem Lebendigen innewohnt. Sie inspirierte dem Ich die neue Erkenntnis des Universums. Dieser Aufschwung ist somit nicht wie für den Neuplatonismus eine allgemeine menschliche Möglichkeit, er gehört diesem besonderen Idi an. Diese individuelle Bedeutung des Aufschwungmotivs trat mit der platonischen Metapher in Konkurrenz. In der lateinischen Fassung vermochte sie diese auszuschalten. Doch diese Konkurrenz ist grundsätzlicher Art. Die platonische Metaphorik verdankte ihre Evidenz ja gleichfalls dem geozentrischen Weltbild, demzufolge sich über der Erde der Himmel wölbt; das Göttliche wohnt in der Höhe. Insofern ist der Aufschwung nur für unsere Vorstellung eine Metapher. Er hatte im Platonismus eine kosmisch-mythische Realität. Erst Brunos neue Kosmostheorie machte ihn metaphorisch. Er entzog dem platonischen Aufschwung den Boden. Nach ihm konnte nicht mehr naiv von unten und oben gesprochen werden. Und vollends wurde die theologische Ausdeutung des Kosmos problematisch. Der Aufschwung strebte auf Gott zu. Wo aber war er zu finden im unendlich gewordenen Weltraum? Bruno hatte darauf eine doppelte Antwort. Da nach seiner Kosmostheorie kein Jenseits mehr gedacht werden konnte, das Gott vorbehalten war, er aber Gott selbst nicht in Frage stellte, wurde ihm Gott eins mit dem unendlichen Kosmos als dessen unfaßbares Prinzip. Sein Geist erfüllte das All. Es macht den Anschein, als hätten solche theologischen Erwägungen Bruno veranlaßt, den Kosmos nidit leer, sondern von Äther erfüllt anzunehmen. Die unsichtbare, alles durchdringende, Leben ermöglichende Luft war die nächste Entsprechung des allgegenwärtigen Gottes. Brunos kosmische Theorie erforderte auch eine neue Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Bewegung; denn nun konnte dieser nidit mehr in der äußersten Sphäre oder in Gott, der diese bewegte, angenommen werden. Wie für Bruno die im All befindlichen Körper aus sich heraus sich bewegen, so wirkt auch in allem Lebendigen eine innere Kraft, die sie in Bewegung hält. Die lateinische Umformung unseres Sonetts bezeichnet sie als „mens". „Mens" ist offensichtlich an dieser Stelle die Übernahme des platonischen νοΰς. An anderer Stelle gibt ihm Bruno seine Bestimmung so: „il corpo è nell' anima, l'anima nella mente, la mente o è dio o è in dio." 15 In den Lebewesen wirkt Gott als ein15

38

Michel S. 76

heitsstiftendes, bewegendes, entelechisches Prinzip. Alles Einzelne ist dadurch zugleich Teil des All; denn Gott bleibt in allen doch der eine. Für diesen im Einzelnen wirkenden Gott bildete der platonische Eros eine Vorform, so daß beide einander gleichgesetzt werden konnten. Damit stellt sich das Verhältnis von kosmologischer Spekulation und platonischem Seelenaufschwung so dar: Der platonische Seelenaufschwung ist von seinem Ziel her konzipiert. Der im Menschen wirksame Eros stammt ebenfalls aus dem göttlichen Ureinen, darum strebt er dahin zurück. Brunos kosmologische Spekulation macht, indem sie den dieser Anschauung zugrundeliegenden Weltaufriß zerstört, dieses Ziel denkunmöglich. Gott wird einerseits als äthererfüllter universaler Raum zum Medium der unendlichen Bewegung. Damit aber gewinnt auch die im Menschen liegende Göttlichkeit an Gewicht. Indem sie als entelediisdie verstanden wird, wird ihr auch das Ziel zugeschlagen. Damit wird der Aufschwung aus einer Bewegung des Menschen auf Gott zu, des Einzelnen ins Allgemeine, zu einem Akt, in dem sich die im Einzelnen liegende göttliche Kraft manifestiert. Brunos kosmische Spekulation aber ist seine individuelle Leistung. Darin kommt die gerade ihm innewohnende göttliche Kraft zum Ausdruck. Indem Bruno die kosmologische Spekulation als Kern seiner Individualität versteht, stellen sich individueller und personaler Aufschwung als inhaltliche und formale Ausprägung desselben Vorgangs dar. Der platonische Ansatz wirkt sich auf beiden Seiten darin aus, daß das Ich den Allgemeinheiten, den menschlichen und den historischen, denen es verhaftet ist, entflieht. Das damit gegebene Risiko des Todes hat Bruno bekanntlich auf schrecklichste Weise erfahren müssen. Wir kehren zu unserem Sonett zurück. Die Fragen des ersten Quartetts gehen nach jener dem Ich innewohnenden göttlichen Kraft, über die es nicht verfügt, unter deren Wirkung es zur Person wird, „furore" bezeichnet die Aktualisierung dieser Kraft, um nicht zu sagen ihre Offenbarung. Die Zeit ist als Gesetz der Endlichkeit das grundlegende Allgemeine, gegen die sie sich durchsetzt. Der harte Gegensatz zwischen beiden wird jedoch durch den Begriff der Entelechie überbrückt. Die Erlangung der individuellen Person braucht ihre Zeit. Der Ausbruch des furor enthält zwar das Risiko des Todes, aber er soll, als zur Lebenskraft gehörig, nicht töten. Die Sicherung, welche die Zeit gegenüber dem furor bedeutet, ist letztlich in seinem Sinne. Nun seine Stunde gekommen ist, zerstört er das Ich nicht, sondern potenziert es. Er gibt 39

ihm die Kraft zur Emanzipation. Damit bestimmen die beiden Quartette die Praemissen dieses Vorgangs. Auch die antiaristotelische Polemik des Sonetts ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Sie wird nicht als wissenschaftliche Theorie einbezogen, welche die Erkenntnis des Universums entscheidend bereichert, sondern in ihrer Bedeutung für das Ich. Dieses stellt sich damit in Gegensatz zur herrschenden Meinung in Kirche, Wissenschaft und alltäglicher Erfahrung. Es unterscheidet sich von den gültigen Allgemeinheiten. Das gibt ihm das Bewußtsein der Auserwähltheit. Daß so gerade die kosmologisdie Spekulation zum individuellen Medium der Personwerdung wird, läßt es nicht zu dem oben befürchteten Brudi zwischen „impenna" und der Aufsdiwungvorstellung in den Terzetten kommen. Darin, daß die neue Kosmostheorie sich so von Gott, der im Einzelnen wohnt und zugleich das All erfüllt, inspiriert weiß, kommt ihr Anspruch auf Wahrheit zum Ausdruck. Das personale Individuum ist nicht ein Eigenbrödler oder Sonderling, sondern es versteht sich als Verkünder und Prophet. Dieser Anspruch macht erst die Stärke und Unbeirrbarkeit des Selbstbewußtseins verständlich, das die Terzette mit dem durchgehaltenen Reim auf —o zum Ausdruck bringen. In der lateinischen Fassung ist dieser Zug noch verstärkt. Er gipfelt in der Zeile Reddor Dux, Lex, Lux, Vates, Pater, Author, Iterque. 16 Nurmehr den göttlichen Personen zugehörige Prädikate scheinen dem Selbstbewußtsein des aufgestiegenen Ich angemessen zu sein. Der Aufschwung hat nidit mehr das Ich zu Gott entrückt, sondern Gott ins Ich herabgezogen. So sehr die Deutung des Sonetts Vorteil daraus zieht, daß dessen Inhalt in der lateinischen Fassung ausführlicher und deutlicher abgehandelt ist, einzig aus dem Sonett erhellt, daß der Aufschwung durch 18

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Fiorentino S. 202. — Nähe und Distanz dieser ganzen Stelle zur folgenden aus Boëthius sind gleichermaßen erhellend: Da, pater, augustam menti conscendere sedem, da fontem lustrare boni, da luce reperta in te conspicuos animi defigere visus. Dissice terrenae nebulas et pondera molis atque tuo splendore mica; tu namque serenum, tu requies tranquilla piis, te cernere finis, principium vector dux semita terminus idem. (III, m. I X ) Boëthius, Philosophiae consolationis libri quinqué, hrsg. von Karl Büchner. Heidelberg: Winter i960 2 Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Frau Prof. Ingeborg Sdiröbler, Berlin.

die Konstellation mehrerer Antithesen zustande kommt. Die beiden Quartette zeigen Gegensatz und Gemeinsamkeit der auf das Ich wirkenden Kräfte. Daß der Name für das Prinzip im Gegensatz zur hexametrischen Fassung ausgespart bleibt, hat die Funktion, diesen Gegensatz zur Zeit und ihren distinkten Begriffen vor Augen zu führen. Von der Ambivalenz im Innern der Gegensätze war die Rede. In den Terzetten geht es um die Aktivität des Ich. Aber diese ist die Konkretisierung der vorausgenannten Einwirkungen. Die Sonettform als ganze schließlich überwölbt alle Gegensätze. Sie läßt das Ich als Einheit erscheinen. Während es in den Hexametern über sich selbst reflektiert, wozu es den Bezug zum Allgemeinen nicht entbehren kann, sucht es im Sonett sich selbst adäquat zur Darstellung zu bringen. An die Stelle der Argumentation tritt die Evokation. Diese stützt sich zwar auf gegebenes Material, die Sonettform und die neuplatonische Vorstellungswelt. Aber Bruno benützt sie zur Aussprache eines spezifischen, ihm allein zugehörigen Erkenntnisgehaltes. Daß er die Aufschwungmetapher beim Wort nimmt und mit ihr auch direkt seine kosmische Spekulation ausspricht, macht dieses Gedicht zum Medium einer weitgehend individuellen Selbstvergewisserung. Die Differenz, in der Petrarcas Bergbesteigung zum „Purgatorio" steht, wiederholt sich im Verhältnis von Brunos Aufschwung-Sonett zum „Paradiso". Der entscheidende Unterschied liegt auch hier darin, daß, was bei Dante Metapher war, zur Sache selbst geworden ist. Wie Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux den Primat erhält, die traditionellen Aufstiegsdeutungen auf sich zieht und so zum Weg zu sich selbst wird, nimmt Brunos kosmologische Spekulation die Aufschwungsmetapher beim Wort. Auf seine eigene geistige Erfahrung konzentrieren sich die traditionellen Gehalte der neuplatonischen Aufsdiwungsmetaphorik, so daß ihm seine Himmelstheorie zum Innewerden Gottes wird. Wie für Petrarca bildet auch für ihn das Erfahrene den Ausgangspunkt. Dabei begreift Bruno seine Spekulation ebensowenig als willentlich verfügbare Leistung wie Petrarca seine ihm eingegebene Bergbesteigung. Bruno fühlt in sich eine unberechenbare Kraft wirken. Diese sprengt das Ich aus allen Allgemeinheiten heraus und macht es zum autonomen Selbst, das sich selber Führer, Weg und Lidit ist. Seine Sprengkraft richtet sich speziell gegen den Danteschen Stufenkosmos, der die Leiter zu Gott bildete. Zugleich aber objektiviert sie sich in einer neuen kosmologischen Spekulation. Petrarca hatte noch den Spiegel Augustine und der Tradition gebraucht, um dem, was die Landschaft in 41

ihm geweckt hatte, geistige Gestalt zu geben. Bei Bruno produziert das Selbst auch seine Objektivierung ganz aus sich heraus. Seine Spekulation ist sein Spiegel. Im Flug in den Kosmos hinaus aus den Schränken aller Tradition und Konvention sind für Bruno individuelles und personales Selbst identisch. Indem es aber den unendlichen Raum, durch den es flog, für Gott erklärte, bewahrte es sich davor, mit dem Nichts konfrontiert zu werden; auch die Sonettform, in der es sich aussprach, zeugt davon, daß es sich nicht so revolutionär vorkam, wie es in Wirklichkeit war. Tatsächlich zündete ja auch die Sprengladung von Brunos Individualität erst Jahrhunderte später.

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Deutsche Barocklyrik A. Anthologien Barocklyrik, 3 Bde hrsg. von Herbert Cysarz. Deutsche Literatur in Entwidklungsreihen. Reihe Barock. Leipzig: Reclam 1937 [zit. Cysarz] Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, hrsg. von Albrecht Schöne. Die deutsche Literatur Bd 3. München: Bede 1963 [zit. Schöne] Das Zeitalter des Pietismus, hrsg. von Martin Schmidt und Wilhelm Janmasch. Klassiker des Protestantismus Bd 6. Bremen: Schiinemann 196$ (Sammlung Dietrich Bd 271) [zit. Pietismus] B. Einzelne Autoren Gottfried A r n o l d , in Auswahl hrsg. von Erich Seeberg. Mündien: Langen/Müller 1934 Jacob B a l d e , Dichtungen. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übersetzt von Max Wehrli. Köln/Olten: Hegner 1963 August B u c h n e r s Anleitung zur Deutschen Poeterey, hrsg. von Marian Szyrocki. Deutsche Neudrucke, Reihe Barock Bd 5. Tübingen: Niemeyer 1966. S. 16 Simon D a c h , Gedichte, hrsg. von Walter Ziesemer. 4 Bde. Halle: Niemeyer 1936 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe Bd4) Catharina Regina von G r e i f f e n b e r g , Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte. 1662. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt: Wiss. Budigesellschaft 1967 Andreas G r y p h i u s Werke, hrsg. von Hermann Palm. 3 Bde mit Ergänzungsband. Neuausgabe der Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt 1961 Andreae G r y ρ h i i / D I S S E R T A T I ONES FUNEBRES etc. Leipzig 1666 Daniel Casper von L o h e n s t e i n Gedichte. Ausgewählt und hrsg. von Gerd Henniger. Berlin 1961 Martin O p i t z , Buch von der deutschen Poeterey. Abdruck der ersten Ausgabe, hrsg. von Wilhelm Braune. Halle: Niemeyer 1876 Martin O p i t z , Teutsche Poemata, hrsg. von Georg Witkowski. Halle: Niemeyer 1902 Martin O p i t z , Weltliche Poemata 1644. 1. Teil hrsg. von Erich Trunz. Tübingen: Niemeyer 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barodt 2) A n g e l u s S i l e s i u s , Cherubinischer Wandersmann. In: Sämtliche poetische Werke, hrsg. von Ludwig Held. München: Allg. Verlagsanstalt 1924. Bd 3 45

Geistliche Lieder des Grafen von Z i n z e n d o r f , von Albert Knapp. Stuttgart/Tübingen: Cotta 184$

gesammelt und geeiditet

C . Emblematik Erbaulidhe Sinnbilder, entnommen den alten Ausgaben von Johann Arnd's wahrem Christenthum. Neu gezeichnet von J . Sdinorr. Stuttgart: Steinkopf 1855 [zit. Erbauliche Sinnbilder] Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des X V I . und X V I I . Jahrhunderts, hrsg. von Arthur Henkel und Albredit Schöne. Stuttgart: Metzler 1967 [zit. Emblemata]

Der Nachweis, daß im Barock der Zug jn die Höhe ein dominantes Merkmal sei, käme einer Tautologie gleich, denn das eben war das Kriterium, mit dessen Hilfe Heinrich Wölfilin „Barock" aus dem größeren, bisher „Renaissance" genannten Komplex ausgegliedert und als selbständigen Stil- und Epochenbegriff der Kunstgeschichte konstituiert hatte 1 . Fritz Strich, der den Begriff auf die deutsche Literatur übertrug, sah noch nach lebenslanger Beschäftigung mit dem literarischen Barods in der Aufwärtsbewegung den stilistischen Nenner: „ J a , ich glaubte in all den genannten Eigenschaften des barocken Stils, der dynamischen und maßlosen Häufung von Bildern und Gleichnissen, der gigantischen Schwellung, Steigerung und Übersteigerung den Drang zu erkennen, sich emporringend aus der Zeit, ein Überzeitliches, Absolutes, Göttliches zu erreichen, zu umgreifen, einen babylonischen Turm gleichsam zu errichten, der bis zum Himmel steigt und ihn doch nicht erreichen kann, das Meer der Unendlichkeit auszuschöpfen, das dodi unerschöpflich und unumgreifbar ist und nur mit der völligen Hingebung, dem Opfer des Lebens errungen werden kann." 2 Im Hintergrund dieser Charakteristik steht jedoch offensichtlich noch immer die religiöse bildende Kunst und Architektur des 17. Jahrhunderts, allenfalls hat sie für die außerdeutsche Literatur allgemeinere Gültigkeit. In der deutschen Lyrik der Zeit sind himmelstürmerische Züge selten. Wider Erwarten ist die Aufsdiwungmotivik weder besonders auffällig noch besonders häufig. Wo sie vorkommt, fehlt ihr fast immer die überzeugende Gestaltung. Damit ergeben sich beim Übergang aus der italienischen Renaissance1

2

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Fritz Strich, Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Dichtung. In: Die Kunstformen des Barockzeitalters. 14 Vorträge, hrsg. von Rudolf Stamm. Bern/München/Lehnen 1956. S. 248 A.a.O. S. 264. Vgl. auch Fritz Strich, Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts. Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker zum 60. Geburtstag. München: Becksche Verlagsbuchhandlung 1916. S. 21 — 53

Lyrik in die deutsche des Barock Probleme, die das einzuschlagende Vorgehen bestimmen. Nachzüglerin unter den europäischen Nationalliteraturen, suchte die deutsche des 17. Jahrhunderts ihre Erneuerung nachzuholen, indem sie sich ihre Nachbarn zum Vorbild nahm. Ihr zeitlicher Rückstand war daher einer des allgemeinen Niveaus. Es fehlen ihr hervorragende Einzelgestalten von europäischem Zuschnitt. Nicht für alle Gattungen ist der Abstand gleich groß. In der Lyrik gibt es zwar eine außerordentlich reiche Produktion, doch ihre Spitzenerscheinungen können sich nicht mit denen Englands, Frankreichs oder Italiens messen. Von Giordano Bruno her kommend gerät man in Niederungen. Das bringt es mit sich, daß im folgenden nicht ein Einzelwerk oder auch nur ein einzelner Autor als repräsentativ herausgegriffen werden kann. Es müssen die in der Lyrik verstreuten Ausprägungen der Erhebungsmotivik aus dem Überblick gesammelt und systematisiert werden. Unsere bisherige Deutung des Motivs legt aus dem Fehlen eindeutiger Ausprägungen den Schluß nahe, daß dem literarischen Rückstand einer des Selbstbewußtseins entsprach. Umgekehrt deuten motivische Spuren auf Ansätze zu einem solchen. Einzig bei den Mystikern liegen die Verhältnisse anders. Aus ihnen wird Angelus Silesius gesondert betrachtet. Vor Quirinus Kuhlmann wurde ihm der Vorzug gegeben, weil zu ihm als Einzigem unter den Lyrikern des deutschen Barock eine Verbindung von Giordano Bruno her besteht.

I. Der relativen Unpersönlichkeit der deutschen Barockdichtung suchen wir dadurch Rechnung zu tragen, daß wir zunächst den vorgegebenen motivischen Hintergrund bestimmen. Die jüngere Forschung8 ist darauf aufmerksam geworden, daß sich die Bildlichkeit der Barockdichtung weitgehend aus Emblemen speiste, welche, in verbreiteten Emblembüchern gesammelt, allgemein zur Verfügung standen. Diese Entdeckung, die ihre Ergiebigkeit vielfältig bewiesen hat, bestätigte und konkretisierte die ältere These, daß es den Dichtern des Barock nicht auf Originalität ankam, sondern darauf, vorliegendes Material zu bestimmten Anlässen möglichst kunstvoll zu verwerten. Für die Bildlichkeit folgt 3

V g l . Albrecht Schöne, Emblematik und D r a m a im Zeitalter des Barock, 1 9 6 4 ; H a n s - J ü r g e n Sellings, Die patristisdie und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 1 9 6 6 ; Dietrich W a l t e r Jons, D a s ,Sinnen-Bild', 1 9 6 6 45

daraus, daß Bilder, auch wo sie isoliert auftreten, zu einem Bildzusammenhang gehören, den der kundige Leser mitassoziierte. Im Gegensatz zu Phänomenen aus der Natur waren sie zudem immer sdion gedeutet, und auch diese Deutung gehörte zu ihrem Assoziationshof. Das hieß nicht, daß die Deutung ein für allemal feststand. Der jeweilige Dichter konnte auf der Bild- und auf der Bedeutungsseite Modifikationen vornehmen, ohne den Komplex als ganzen zu zerstören. Auf der Bildseite konnte ausgeschmückt, variiert und akzentuiert werden. Auf der Seite der Deutung bestand die Möglichkeit der Übertragung auf verschiedene Denk- und Lebensbereiche. Dabei blieb eine Grundstruktur erhalten. So sehen wir in den Emblemen Strukturen vorgegeben, die verschieden realisiert werden können. Sie stellen Kraftfelder 4 des barocken Denkens und der barocken Einbildungskraft dar. Die Bindung der barocken Einbildungskraft durch die Embleme war für die Geschichte des Geistes und der Dichtung von retardierender Wirkung. Z w a r hatte das humanistische Interesse für die antike Hieroglyphik den Anstoß zur Emblematik-Mode in Malerei und Dichtung gegeben. Aber durdi sie wurden mittelalterliche Inhalte, vor allem aber das Verfahren der allegorischen Exegese, reaktiviert, so daß Verbreitung und Beliebtheit der Embleme als Symptome für gegenreformatorische Tendenzen in beiden Konfessionen erscheinen. So wurde dem 17. Jahrhundert aufs neue der Geist zugänglich, aus dem Dantes Werk entstanden war. Aber nun waren es nicht mehr die Bausteine, sondern Bruchstücke des Danteschen Kosmos. Diesen Schluß umschreiben die modernen Herausgeber der „Emblemata" mit den Worten: „Diesem (zeitgenössischen) Beschauer der emblematischen Bilder und Leser ihrer Epigramme aber setzt sich die Wirrnis des Seienden in ein Mosaik von Sinnfiguren um, ihm zeigt sich nodi einmal ein von Bedeutungszusammenhängen und ewigen, wahren Bestimmungen durchwirktes Universum, in dem das Vereinzelte bezogen, die Wirklichkeit sinnvoll, der Lauf der Welt begreifbar erscheint und die in Analogien gedeutete Welt so zum Regulativ des menschlichen Verhaltens werden kann. Diese emblematische Verweisungs-, Entsprechungs- und Lebenslehre ist wohl nicht mehr Zeugnis eines unangefochtenen Vertrauens in die kosmische Ordnung, sondern eher ein Ausdruck des menschlichen Versuchs, am Beginn der Neuzeit, sich zu behaupten gegen eine undurchschaubar werdende, 4

Zur Vorstellung soldier poetischer Kraftfelder vgl. Georg Sdioeck, Ilias und Aithiopis. Zürich: Atlantis 1961. passim

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chaotische Welt. In solchem Bemühen, scheint es, ruft die Emblematik nodi einmal das Ordnungsdenken des Mittelalters und seine Erkenntnismittel zu Hilfe: leistet Widerstand, hegt Hoffnung, trägt utopisdie Züge." 5 Das Motiv des Aufsdiwungs liegt ausgeprägt und kodifiziert in den Emblemen vor, in denen der Adler im Zentrum steht". Zahlreiche Spuren davon finden sich in den „Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten" der Catharina Regina von Greiffenberg 7 . Ein besonders erstaunliches Dokument dafür ist Gryphius' Leich-Abdankung „Flucht menschlicher Tage" 8 . Angeregt dadurch, daß der verstorbene Herr HansGeorgen von Stosch auf Kreydelwitz etc. einen Adlerflügel und eine Seerose im Wappen führte, beschrieb Gryphius Wesen und Leben des Verstorbenen so, daß er eine Fülle von Adleremblemata zu einer Art Adler-Biographie gruppierte. So kam ein eigentlicher Katalog der AdlerEmbleme zustande. Sie sind von Gryphius für den besonderen Anlaß gedeutet. Da sich aber auch diese Deutungen in einem gegebenen Rahmen halten, wie sich aus den zeitgenössischen Emblemsammlungen ergibt, ist es möglich, daraus eine Grundbedeutung des Aufschwungs zu gewinnen, die nicht nur für Gryphius Gültigkeit hatte. Gryphius beginnt mit der Feststellung: „Einem Adler kan ich die Seele des Menschen mit recht vergleichen / wenn wir erwegen beyder Vortrefflichkeit. Der Adler ist / aller Natur Erforscher einhelliger Meynung nach / der allervornehmste des Geflügels / ja ein König der Vogel / dannenher auch die berühmtesten Fürsten und Völcker dessen Bild in ihren Feldzeichen / Fahnen und Waffen geführte / auch nicht iedwedem gemeinem Manne derogleichen zu thun vergönnet."' Hinter der Gleichsetzung von Adler und Seele steht eine Tradition, als deren Quelle man eine Stelle bei Ambrosius namhaft gemacht hat: 5 β 7 8



Emblemata, Vorwort S. X V I Emblemata Sp. 7 5 7 — 7 8 0 Beispiele Greiffenberg S. j, 38, 254, 256, 3 1 1 , 323, 324, 343, 382. Der schwer zugängliche Text jetzt bei Sdiöne, S. 852—864. Leider ist dort der Text gekürzt wiedergegeben, und zwar gerade um Passagen, die uns hier interessieren, so daß dafür dodi wieder auf die alte Ausgabe der D I S S E R T A T I O N E S / F U N E B R E S zurückgegriffen werden muß. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Prof. Eberhard Mannack, Kiel. — Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings, Die patristisdie und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchung zu den Dissertationes fúnebres und Trauerspielen. Köln/Graz: Böhlau 1966. S. 46 f. Sdiöne S. 854

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Contendamus ad illud aeternum, ad illud evolemus pennis dilictionis, et remigio charitatis. Surgamus hinc, hoc est, de saecularibus atque mundanis. Dixit enim Dominus: „Surgite, eamus hinc" (Joan. 1 4 , 2 1 ) , praecipiens ut unusquisque surgat de terrenis, erigat aninam humi jacentem, ad superna attollat, excitet aquilani suam, et illam aquilani de qua dictum est: „Renovabitur sicut aquilae juventus tua" (Ps. 102, 5). Ad animam hoc dictum est. Anima ergo nostra sicut aquila alta petat, supra nubes volet, renovatis splendescat exuviis, coelo volatus i n f e r a t . . . 10 Die hier vereinigten Momente, Flügel der Liebe, Aufflug über die Wolken, Blick in die Sonne, Verjüngung haben sich in den späteren Emblemata verselbständigt. Man hat auf die Häufung verschiedener Aufschwungverben in diesem Text hingewiesen10. Immer aber ist der Adler der Auffliegende. Der Deutung des Adlers als Seele liegt der christlichplatonische Leib-Seele-Dualismus zugrunde. An den Bezug auf Plato und den Neuplatonismus erinnert Gryphius ausdrücklich an einer späteren Stelle seines Katalogs". Daraus ergibt sich als Weiterung, daß der Adler in einem Käfig oder Kerker gefangen ist. Die Gleichsetzung von Körper und Kerker geht auf die Soma-Sema-Stelle im Kratylos zurück12. In einem Begräbnis-Gedicht von Opitz taudit ein solcher Adlervergleich auf: Wie wann der Printz der Lufft, Der Adler ohnegefehr auss seinem Kefich reisset, Und über alle Berg hin in die Wolcken schmeisset, Schwingt mit der Flügel krafft sidi auf das blaue Dadi, Des schönen Himmels zu, und eylt der Sonne nach . . . 1 3 Von hier aus führt ein kurzer Weg zu einem „Vogel aus dem Käfig"Emblem, das man vielfach, auch an anderer Stelle bei Gryphius, nachweisen konnte 14 . Der Vogel wird jeweils durch Amor oder Amor Divinus 10 11

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Sdiings a.a.O. S. 46 „Di« Seele des Mensdien ists / welche / weil sie nicht irrdisch / offt einen Blick (unangesehen sie noch in dem Kercker der Glieder eingefesselt / wie die Nachfolger Piatonis geglaubt) in die Ewigkeit g e t h a n . . D i s s e r t a t i o nes Fúnebres S. 620 Kratylos 400 c Martin Opitz, Teutsdie Poemata. S. 63 38 Dietrich Walter Jons, Das ,Sinnen-Bild'. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart: Metzler 1966. S. 223. Hier audi die

oder Christus befreit, was wiederum den Zusammenhang mit einem christlichen Piatonismus belegt. Das Kraftfeld des „Vogel aus dem Käfig"-Emblems erkennen wir nun auch in dem Sonett „E chi mi impenna" von Giordano Bruno. Bruno selbst weist bei der Ausdeutung von „Mio passar solitario" in den „Heroici furori" auf diesen Zusam-, menhang hin. Die „Heroici furori" sind streckenweise dialogische Glosen15. In Gryphius „Flucht menschlicher Tage" kommt die Einkerkerung des Seelen-Adlers nur andeutungsweise zur Sprache. Sie ergibt sich aber indirekt daraus, daß die Seerose im andern Wappen-Feld des Verstorbenen als blühende und verwelkende Leiblichkeit gedeutet wird. Die Deutung „Adler gleich Seele" hat zunächst die Konsequenz von „Aufschwung gleich Tod". Bereits bei Bruno konnten wir jedoch sehen, daß audi innerhalb des irdischen Daseins ein Aufschwung möglich ist. Darin verwirklichte sich gerade Brunos Individualität. Eine ähnliche Voraussetzung liegt auch Gryphius' Verwendung der Adler-Emblematik in seiner Leich-Abdankung zugrunde. Der Adler wird gerade als Bild für ein bestimmtes Leben und die Überwindung des Todes beigezogen. In der zitierten Stelle madit Gryphius denn audi einen auffallenden Sprung, indem er den Adler nicht nur auf die Seele als den vortrefflichsten Teil des Menschen, sondern auf die vortrefflichsten Menschen und Völker deutet. Der „berühmte Fürst" ist ein Adler, d. h. allgemein derjenige, der anders als der „gemeine Mann" aus der Menge der Menschen herausragt und einen Namen hat. Der Adler ist das Sinnen-Bild des Person gewordenenen Einzelnen. Was für Gryphius die Person konstituiert, entfaltet er an Hand der emblematisdi festgelegten Eigenarten und Eigenschaften des Adlers. Die Kernvorstellung umschreibt der Satz: „Der Adler fleuget vor allen Vögeln in die Höhe / und schwinget sich durch die Wolcken / als ob er in einer andern Welt auszureisen gesonnen."16 Hier wird auch die Analogie zur Seele erkennbar. Wie die Seele aus dem Körper so strebt, wer Person sein will, aus der Welt zu Gott. Es befindet sich zwischen beiden, ja es konstituiert sich aus seinem Spannungsverhältnis zu beiden. Der Adler ist einerseits von den andern Vögeln unterschieden. Das äußert sich positiv und negativ: „An den Adlern hat man die sonderweiteren Beispiele. — Emblemata bringt d a f ü r nur einen einzigen, christologisdi gedeuteten Beleg aus Beza. Sp. 7 5 4 . 15

H e r . fur. I V , 1 ed, Michel. S . 2 1 1 . Z u r Bedeutung der Emblematik für die



Dissertationes Fúnebres S. 6 1 4

Heroici furori vgl. Michel, Introduction S. 55 f.

49 4 Pestalozzi, Lyrisches Idi

bare Anmerckung / daß sie sich der Kinder / Elenden und Verlassenen angenommen / und sie / mit Entsetzen und Verstarren vieler Menschen / ernehret und beschützet."17 „Ein Adler theilet andern Vögeln seinen Raub mit (wie Aelianus ausgeführt /) welche ihm dieser Müdigkeit wegen nachfolgen." 18 Ein Adler enthält sich von fremdem Raub." 1 ' Dagegen: „Ein Adler ist in stetem Kampff mit andern Raub-Vögeln / mit den Schlangen und Drachen, auch wie der Weltweise (lib. 9) lehret / mit den Schwanen: Und bey den Römern waren die Adler die vornehmsten Feldzeichen und Zierden der Läger / weil sie die streitbarsten und hurtigsten Vögel. 1120 „Kein Schwan machet sich leicht an den Adler: wenn er aber auf sie zufähret / umgeben sie ihn mit Hauffen / und suchen ihn zu stürzen." 21 . „Ein Adler selbst ist hier nicht sicher: ihm wird allenthalben nachgesetzet! Wie offt wird er mit Pfeilen getroffen / die von seinen eigenen Fitigen gefidert? Oft führet er Schlangen mit sich in die Höhe, welche sich um seinen Hals und Flügel winden, und ihn herab zu stürtzen suchen!"22 Die Spannung könnte nicht deutlicher bezeichnet werden, in der der Einzelne als Person zur Allgemeinheit steht. Indem er sich von ihr emanzipiert, gefährdet er sich: denn wer steigt, kann audi fallen. Aber die Erhebung führt auf Gott und die eigene Göttlichkeit zu. Diese zeigt sich in der Fähigkeit, von oben Zeiten und Räume als ganzes zu überblicken: „Der Adler hat sehr scharfe / und fein sehende Augen." 2 ' „Der Adler ist berühmt wegen der hellen und sehr lauten Stimme." 24 Gryphius deutet sie als Begabung zur Dichtkunst, die über weite Zeiträume sdiallt. Beispiel dafür ist ihm David, in dem sich Fürstlichkeit und Dichtung verbanden. „Es bezeugen aller Zeiten Beyspiele / daß die Adler durch ihren Flug nicht geringe Dinge / welche damals noch zukünftig / und vor den Menschen verborgen / angezeigt." 25 Die Seele, obwohl im Leib gefangen, kann in Augenblicken das Ewige, in dem alle Zeiten beschlossen sind, erkennen. Diese Erkenntnisse sind in einer alten Vorstellung angedeutet: „Es haben die Römischen und 17 18

" 20

21 22 2S 24 25

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A.a.O. S. 618 A.a.O. S. 624 Ebd, A.a.O. S. 623

Ebd. Schöne S. 859 Dissertationes Fúnebres S. 61 $ A.a.O. S. 6 1 7 A.a.O. S. 619

Griechischen Gelehrten den Adler zu einem Waffenträger ihres höchsten Gottes / des Jupiters / vorgestellet / als dessen Donner-Pfeile ihm zu halten und zu führen anheim gegeben: Wie man denn vor Alters darvon gehalten / es würde / und zwar wegen des gar zu hohen Fluges / kein Adler von den Blitzen versehret." 26 Das Göttliche am Adler, auf das diese Bestimmungen hinweisen, ist der Ruhm. Der Ruhm erhebt nicht nur über die andern Menschen, sondern auch über die vernichtende Zeit. Er bedeutet irdische Unsterblichkeit resp. Wiedergeburt. Doch bleibt der Ruhm an gottgefällige Qualitäten gebunden: „Des Menschen Gemüth wird gepriesen / in dem es den Menschen preiset." 27 Und die endgültige Verjüngung bringt erst die Auferstehung. Fast zu Beginn des Katalogs, seiner biographischen Anordnung gemäß, spricht Gryphius von der Erziehung der Adlerjungen, die vor allem in der legendären Sonnenprobe bestand. Er übersetzt das dann in die Ziele menschlicher Erziehung: „Sie halten sie bey Zeiten zur Erlernung solcher Wissenschaften / durch welche Ruhm auff der Welt zu erlangen / ein gutes Gewissen zu erhalten / und ein großes Glück / welches audi nach dem Tode blühet / zu überkommen." 28 In dieser Trias Ruhm, gutes Gewissen, Glück erkennen wir die Konstituanten des freien Einzelnen, welche der Katalog detailliert entfaltet. Im folgenden soll es darum gehen, einige repräsentative Ausprägungen des Aufschwungmotivs und damit indirekt des Adler-Emblems im Hinblick darauf zu betrachten, in weldier Weise sie Modelle darstellen dafür, wie der Einzelne inmitten der Welt personhafte Freiheit verwirklichen kann. Dieser Vorgang wird im folgenden auch als Individuation bezeichnet.

II. Ein instruktives Beispiel für die Aufsprengung eines RenaissanceGebildes durch einen anders gerichteten Stilwillen und die Rolle, welche die Adler-Emblematik dabei spielt, ist die Übersetzung eines RonsardSonetts, die Opitz in sein „Budi von der deutschen Poeterey" aufnahm. Opitz bemerkt vorsorglich, daß „dieselbe dem texte nicht se 27 28



A.a.O. S. 621 A.a.O. S. 617 Sdiöne S. 856

genawe zuesaget", er war sich also dessen bewußt, daß er das Original umgestaltet hatte 29 . Ah belle liberté, qui me seruois d'escorte, Quand le pied me portoit où libre ie voulois! Ah! que ie te regrette! helas, combien de fois Ay-ie rompu le ioug, que maulgré moy ie porte! Puis ie l'ay rattaché, estant nay de la sorte, Que sans aimer ie suis & du plomb & du bois Quand ie suis amoureux i'ay l'esprit & la vois, L'inuention meilleure, & la Muse plus forte. Il me faut donc aimer pour auoir bon esprit, Afin de conceuoir des enfans par escrit, Pro longeant ma memoire aux despens de ma vie. Il ne veux m'enquerir s'on sent après la mort: le le croy: ie perdroy d'escrire toute enuie: Le bon nom qui nous suit est nostre reconfort. Du güldne Freyheit du, mein wünschen und begehren, Wie wol doch were mir, im fall ich jederzeit Mein selber möchte sein, und were gantz befreyt Der liebe die nodi nie sich wollen von mir kehren, Wiewol ich offte, mich bedacht bin zue erweren. Doch lieb ich gleichwol nicht, so bin ich wie ein scheit, Ein stock und rawes bley. die freye dienstbarkeit, Die sichere gefahr, das tröstliche beschweren Ermuntert meinen geist, das er sich höher schwingt Als wo der pöfel kreucht, und durch die wolcken dringt, Geflügelt mitt vernunfft, und mutigen gedancken, Drumm geh' es wie es wil, und muß ich schon darvon, So uberschreit ich doch des lebens enge schrancken, Der name der mir folgt ist meiner sorgen lohn. Die Abweichungen sind einmal formaler Art. Bei Ronsard decken sich metrische Einheiten, Zeilen und Strophen, und Sinneinheiten. Auch der Sonett-Aufbau kommt voll zu seinem Recht, nach den beiden Quartetten setzt mit den Terzetten die Conclusio „il me faut d o n c . . . " neu ein. Opitz dagegen läßt seine Sätze gern in der Mitte des Alexandriners aufhören und überspringt dann die Zeilenenden durch Enjambements. So ergibt sich eine dem vorgegebenen Schema entgegenlaufende Bewegung, 2i

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Martin Opitz, Poeterey. S. 16

welche audi die Pause zwischen Quartetten und Terzetten nicht respektiert. Erst das zweite Terzett bringt die Zusammenfassung. Das macht das Gedicht pointierter. In ähnlicher Weise wird der innere Aufbau verschoben. Ronsards klare Antithetik von unproduktiver Unabhängigkeit und quälender, aber inspirierender Liebe, aus der schließlich die Entscheidung für die Liebe herausführt, wird bei Opitz schon im zweiten Quartett in drei Oxymora zusammengezogen. Das macht das Ganze geistreicher und künstlicher auf Kosten der Schlüssigkeit. Die banale Wendung „Drumm geh es wie es will", welche auf die Weiterführung des Argumentationszusammenhanges fast unwillig verzichtet, bildet nur eine notdürftige Überleitung zur Pointe. Am weitesten emanzipiert sich Opitz von seiner Vorlage in der Umschreibung der dichterischen Tätigkeit. Ronsard verbindet die Themen Liebe und Dichtung so, daß er die von der Liebe eingegebenen Werke mit Kindern vergleicht, die ihn überleben. Daraus ergibt sich selbstverständlich der Gedanke des Nachruhms. Opitz nennt in den auf das Gedicht hinführenden Zeilen Ronsard „der französischen Poeten Adler" 30 . Das ist gleichsam das Signal dafür, daß er in das Kraftfeld der Adleremblematik eintritt. Die Stichwörter dafür waren wohl „Liebe" und „Nachruhm". „Des Lebens enge Schranken" erinnern an das Emblem, in dem Amor dem eingesperrten Vogel den Käfig öffnet. Nicht umsonst hatte Opitz „für und für" über Plato gesessen. Die Liebe bewirkt jedoch bei Opitz den Aufschwung nur mittelbar. Sie gibt, wie schon die Oxymora andeuten, die den von ihr bewirkten Zustand kennzeichnen, „Vernunft und mutige Gedanken" ein. Damit ist das Dichtwerk umschrieben. Die Poesie ist der Flügel des Aufschwungs. Dieser ist auf vordergründige Weise in die Hand des Menschen gegeben, zumal die Poesie nicht, wie bei Gryphius, inhaltlich festgelegt zu sein scheint. Die Poesie hebt den Dichter über den „Pöbel" hinaus. Sie gibt ihm einen Namen, durch den er sich von und vor allen andern auszeichnet. Das Bedürfnis des Ich, sich zu unterscheiden, mag man auch in dem Detail erkennen, daß Opitz in der letzten Zeile „nous" durch „mir" wiedergibt. Der Ruhm, der über die Menge hinausführt, wird als Nachruhm auch zum Mittel, die begrenzte Lebenszeit zu transzendieren. Ronsard setzt den Nachruhm der christlichen Unsterblichkeit entgegen. ,0

Diese Metapher auch bei Dante für Homer quel signor dell' altissimo canto Che sopra gli altri come aquila vola. Inf. I V , 95 53

Opitz' „Drum geh es wie es will" läßt diese Möglichkeit zwar noch halbwegs offen. Der Nachruhm steht aber im Gegensatz dazu fest. Opitz faßt den Vorgang der Individuation somit hier ausschließlich in seinem Bezug auf das, was transzendiert wird, die Allgemeinheit. Das Ziel ist mit „höher" und „durdi die Wolcken" ganz im Unbestimmten gelassen. Bekanntlich dient die ganze „Poeterey" dazu, der Dichtung um des allgemeinen Ansehens der Dichter willen erhöhtes Ansehen zu schaffen. An anderer Stelle faßt Opitz sein Programm in das Bild des Aufschwungs: nun bin ich auch bedacht Zue sehen ob ich mich kan auß dem staube schwingen Und von der dicken schar des armen volckes dringen So an der erden klebt, ich bin begierde voll Zue schreiben wie man sich im creutz auch frewen soll, Sein Meister seiner selbst, ich wil die neun Göttinnen, Die nie auf unser deutsch noch haben reden können, Sampt ihrem Helicon mit dieser meiner handt Versetzen allhieher in unser Vaterland. 31 Auf drei Ebenen geht es hier um Individuation. Im Sozialen soll ein höherer Rang erreicht werden. Der Gedanke, dem Vaterland durch die Dichtungsreform zu größerem Ansehen zu verhelfen, überträgt dieses Programm vom Einzelnen auf die Nation. Der Inhalt, den die stoische Formel „Sein Meister seiner selbst" zusammenfaßt, betrifft gleichfalls die Individuation dessen, der gerade aus eigener Kraft, nicht durch Herkunft, in die Höhe kommen will. — Wenn Opitz von der Versetzung des Musenbergs nach Deutschland spricht, übernimmt er eine traditionelle Metonymie für Dichtung, die zugleich seine Auffassung vom hohen Dichter akzentuiert. Im Lehrgedicht „Vesuvius"82 erklärt er es für das vornehmste Geschäft des Menschen, das Haus der Welt vom höchsten Giebel aus zu betrachten. Auch in dem einen Adler-Gleichnis führt der Aufschwung auf das „Dach des Himmels" zu. Die gesellschaftliche Höhe des Dichters gründet in seinem umfassenden polyhistorischen Wissen. Die Überschau macht den Dichter zum Herrn der Zeiten und Länder. Er ist der auf die Gelehrsamkeit eingeschränkte uomo universale. Sein Wissen gibt ihm die Möglichkeit, Gegenwärtiges auf das unvergänglich 31

Poeterey S. 21 [D i t ]

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Weltliche P o e m a t a I, S. 31 f.

S4

gewordene Vergangene zu beziehen und so zu verewigen, und diese Fähigkeit wirkt auf ihn selbst zurück. In Opitz' „Elegie" verstummt denn audi die gattungsgemäß erwartete Vergänglichkeitsklage vor dem Bewußtsein der eigenen Leistung und ihrer Bedeutung: Wer diesen Zweck erlangt, darff nicht hierunden kleben, Und wer er zehnmal todt so soll er dennoch leben, Gott herbergt selbst in ihm, ja was er denckt und schafft Riecht nach Unsterblichkeit, schmackt nach dess Himmels krafft. Drum wird die schnelle Flucht der Jahren nicht verderben Was ich beginn, und auch, wann ich schon sterbe, sterben, O b das, so unden war, solt alles oben stehn, So kan der Weissheit Lob doch nimmermehr vergehn. 33 Das durch die poetische Leistung errungene Selbstbewußtsein mündet gemäß der alten Formel „poeta alter deus" in eine A r t Selbstapotheose. Die Individuation, die hier anders als bei Gryphius den Bezug zu Gott hintangesetzt hat, versteht sich selber als A k t der Gottwerdung. Das ist gewiß nicht au pied de la lettre zu nehmen. Auch diese Bestimmung des Poeten ist traditionell 34 . Sie gehört zum überlieferten dichterischen Ornat. Überhaupt hat ja Opitz der humanistischen Dichtungstheorie in Deutschland Eingang verschafft, ohne viel eigenes dazu zu tun. Dennoch, Opitz' Biographie erscheint als Versuch, dieses Programm für sich selbst in Leben umzusetzen. Äußeren gesellschaftlichen Erfolg und Dauer des Namens vermochte er für sich zu erlangen. In der „Poeterey" versichert er zudem gegen Ende mehrfach, welche „Ergetzung" ihm selbst das Dichten bereite. Es hatte seinen Grund im Wissen um die Bedeutsamkeit dessen, was er tat. Sein Selbstbewußtsein erwuchs darauf, daß er beim Dichten selbst Ansehen, Ruhm und Göttlichkeit vorwegnahm. Daraus

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Ternsche Poemata S. 23 [4] D e r nüchterne Simon D a d i w a r sich offensichtlich bewußt, daß der A u f schwung auch v o n ganz elementaren Bedingungen abhing, als er in einem Bittgedicht um Geld für seinen Sohn dichtete: Mancher flöge Wolcken ein, Möcht es ohn die Armuth seyn, Die uns schwer hängt an den Füßen D a ß wir stracks hinunter müssen. S. Dach I, S. 299 V g l . Joachim D y c k , Ticht-Kunst, Deutsche Barock Poetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1966. Das Selbstverständnis des Dichters als Argumentationssystem. S. 1 1 3 — 1 3 3

SS

gewann er „Freude", „Genüge", „Lust". Der poetische Aufschwung wurde von einer positiven Gemütsstimmung begleitet. Man wird sie, wenn man Opitzens grundsätzlich stoische Haltung bedenkt, nicht zu sehr betonen können. Es handelt sich wohl weniger um ein selbständiges Gefühl, als um eine affektive Tingierung des Bewußtseins. In Opitzens Konzeption liegt eine gewisse Verwandtschaft mit der Giordano Brunos. Was aber bei Bruno ein innerer Impuls bewirkt, ist bei Opitz veräußerlidit zur programmatischen Leistung. Bei diesem Vergleich ist jedoch der geschichtliche Rahmen nicht außer acht zu lassen, den Alewyn mit gewissem Recht zu Opitz' Gunsten anführt: „Seit die geistige Führung in Deutschland von den Städten an die Höfe übergegangen war, war die gesellschaftliche Rehabilitierung des Dichterstandes aus der verachteten Pritschmeisterei ein entscheidendes Lebensproblem des neuen Dichters geworden."*5 Die Kategorien, mit denen Opitz Dichtung als Medium sozialer Individuation erfaßt, machen sidi nodi in den von ihm angeregten Anweisungen zum Schreiben, mindestens was das genus sublime betrifft, bemerkbar. Der soziale Gesichtspunkt wird auf die Sprache übertragen, wenn es bei Buchner heißt: „doch aber ist bey der (gemeint sind Redner und Historiker) Rede noch so beschaffen / daß sie / also zu sagen / vulgaris / u n d neben dem Volck allzeit hergehe / und so gar etwas sonderliches nicht habe / da hingegen der Poet ausstreicht / sich in die Höhe schwingt / die gemeine Art zu reden unter sich tritt / und alles höher / kühner / verblümter und frölicher setzt / dass was er vorbringt neu / ungewohnt / mit einer sonderbaren Majestät vermischt / und mehr einem Göttlichen Aussprudi oder Orakel / wie etwa der Petronius hievon redet / als einer Menschen-Stimme gleich scheine."** Diese poetische Theorie hat ihre unmittelbare Anwendung in einer gelegentlich auftretenden Invokationsformel. Klaj fügte in sein „Weihnachts-Liedt" die Anrufung ein: Auff auf mein froher Geist und du mein ganzes I C H Mein alles was in mir selb-selbsten rege sich Auff / auff du must anitzt dich in die höhe schwingen Wo keiner nodi vor dir sich hingewagt mit singen!®7 55

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Richard Alewyn, Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Darmstadt: Wiss. Budigesellsdiaft 1962 (Sonderausgabe) S. 7 Poeterey S. 16 Cysarz Bd 2, S. 107

Er variierte damit offensiditlidi Opitz' Verse: Im fall du wilt Was Göttlich ist erlangen. So lasß den leib in dem du bist gefangen, Auff, aufï mein Geist, und du mein gantzer sinn, Wirff alles das was weit ist von dir hin.88

III. Gegen das Programm der mit sozialem Aufstieg verbundenen humanistischen Selbstapotheose erhob sich in der Zeit mannigfaltige Kritik. Von beiden Konfessionen her überführten Bidermanns „Cenodoxus" und Andreaes „Turbo" diese Haltung der Superbia. Gryphius' Papinian zeichnet am Eingang seines Eröffnungsmonologs das Bild dessen, Wer über alle steigt und von der stoltzen höh Der reichen ehre schaut, wie schlecht der pövel geh", nur deshalb, um seinen Fall um so drastischer auszumalen. Denn wer sich den hohen Herren gleichzustellen suchte, zog damit, wie das schon manche Embleme in „Flucht menschlicher Tage" andeuteten, auch die Wirkung der Fortuna auf sich, der die Hochgestellten vor allen andern Sterblichen ausgesetzt waren. Catharia Regina von Greiffenberg setzt allem fürstlichen und humanistischen Ansehen die Schwachheit der Frauen entgegen: Nicht / der im Adler Thron der Scepterführer ist / nicht stolze Helden auch / noch Sternen-Hodigelehrte / auch Weiße-Greißen nicht / noch Geistlich Höchstgeehrte / sind zu der hohen Ehr / der Urständ fast erkiest.40 Lohenstein erhebt in seinem großen Nachrufgedicht auf Gryphius „Die Höhe des menschlichen Geistes", nachdem er die umfassende Gelehrsamkeit des Dichters in Erinnerung gebracht hat, die klagende Frage: 38

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Poeterey S. 43 [ G 4 a ] Dieser Gedichtanfang scheint ein Initialtopos zu sein: Auf / auf! heb dich aus den Pflaumen: Nimm die Feder in die Hand. Schwing dich von der Eitelkeit / G O T T dein Opfer-Gab zu bringen. C . R. von Greiffenberg, S. 380 Auf / auf / geängstes Herze! die trübe Wölk verschwindt gemach. Ebd. S. 324 Papinian I, 1/2. Gryphius Werke, Bd 2, S. 5 1 2 Greiffenberg S. 1 7 1 57

Ach! aber adi! wo ist Herr Gryph uns hin verschwunden Haucht denn der faule Tod auch solche Geister an?41 Der Tod ist die Widerlegung aller irdischen Selbsterhöhung, und zwar, nach Lohenstein, in einem doppelten Sinn: Einerseits zerstört er mit der irdischen Existenz die Basis dazu, andrerseits aber stellt er eine viel radikalere Möglichkeit des Aufschwungs dar, da er die Seele resp. den Geist endgültig aus der Gefangenschaft des Leibes entbindet, nicht nur aus den Schranken des „Pöbels" und der Zeit. Beide Aspekte des Todes vereinigt Lohenstein in derselben Strophe: Am höchsten aber ist die Seele selbst gestiegen, Die zwar im Leibe, doch mehr in dem Himmel war. Wenn der Tod und Eitelkeit den Seelen ob will siegen, Baut sie der Ewigkeit ein neues Siegsaltar. Des Geistes ewge Glut schwingt sich zu Gotte wieder, Wenn ihm der Tod macht auf den Grabestein der Glieder.42 Wir erkennen hinter diesen Zeilen wiederum das „Vogel aus dem Käfig"-Emblem, speziell auch die ambrosianische Adler-Allegorie. Das ist nicht verwunderlich, da sich Lohenstein offensichtlich an Gryphius „Flucht menschlicher Tage" inspirierte. Hier aber ist es der Tod, der den Käfig aufschließt. Den Tod als Befreier hat auch das Gedicht „Daedalus" von Oppelt zum Thema: Mein Leben ist ein öder Labyrinth / Ein Irr-Gebräu / voll Finsternuß und Schröcken Wo Drachen-Zudit / und Basilisken stecken / Wo Minotaurus wohnt / und Abendheuer sind. Zwar die Vernunft will Ariadne seyn / Beginnet mich auf meiner Reiß zu lencken: Ihr Faden kan mich aus den engen Schräncken Dodi gäntzlich führen nicht; Ich bleib geschlossen ein / Und hoffe nur auf die erseufftzte Zeit / Da mir der Tod wird schnelle Flügel bringen / Womit idi mög durch Lufft / und Wolcken dringen / Von dem bedrängten Hauss /, und Sorgen-Saal befreyt. Ich werd mit Lust mir singen in der Höh / 41 42

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Lohenstein, Gedichte S. 61 f. A.a.O. S. 71

Viel süsser / als vor Daedalus gesungen / D a er sich nun befreyet aufgeschwungen / Mit Segeln / die aus Wax / geflogen über See. 43 Die Daedalus-Geschichte hat dieselbe Struktur wie das »Vogel aus dem Käfig"-Emblem. Wir hatten bei Bruno gefunden, daß, gemäß der Ovidschen „Ars amatoria", Daedalus den von der Liebe im platonischen Sinn beflügelten Menschen bedeutete. Im Umkreis von Opitzens Poesiereform wurde Daedalus als der Künstler gesehen, der sich dank seiner Kunst in die Höhe schwingt. Treuers Poetisches Wörterbuch nannte sich „Teutscher Dädalus". Oppelt spielt mit der Nennung Ariadnes und, indem er Daedalus singend vorstellt, auf diese beiden Möglichkeiten an. Aber sie sind dem Tod untergeordnet. Er öffnet den Käfig, das „bedrängte Haus", und verleiht schließlich auch die Gabe des Gesangs. In dieser Ablösung des Eros durch den Tod geschieht eine grundsätzliche Wendung, auf der wesentlich der Unterschied von Renaissance und Barock beruht. Der Eros vermittelte zwischen Sichtbarem und Unsiditbarem, Körper und Geist. In der Schönheit schien im Irdischen das Überirdische durch, und durch die Schönheit wurde im Menschen etwas Göttliches entzündet. Der Tod dagegen bezeichnet gerade die radikale Scheidung von Irdischem und Überirdischem. Das Göttliche kann sich nur dort zeigen, wo die Welt negiert wird. Damit schien dem Menschen im Diesseits die Möglichkeit genommen, zu seinem ewigen Teil, seinem Selbst zu gelangen. Es blieben ihm Seufzen und Hoffen. Einzig im letzten Stündlein lag allenfalls die Chance, am äußersten Rand der Erfahrung für einen Augenblick des Ewigen teilhaftig zu werden, was die Märtyrerdramen unermüdlich vorführten. Das hieß, daß nur im Tod Individuation möglich war. In dieser Konzeption lag jedoch bereits die Möglichkeit, sie zu entschärfen. Nicht nur das Lebensende, sondern das Leben als Ganzes stand für die Epoche im Zeichen des Todes. Dies, daß „die Mörderin Zeit" den Menschen schon zu Lebzeiten umbringe, enthielt die logische Konsequenz, auch die befreiende und erlösende Seite des Todes im Leben vorwegzunehmen, so daß der Mensch nodi im Diesseits zu sich selbst kommen konnte. Damit mußte nun wiederum, ähnlich wie der Ruhm, etwas Menschliches für das Göttliche eintreten, das aber nicht „dieser Welt" der Erfahrung angehören durfte. Die Zäsur des Todes wurde

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Cysarz, Bd 3, S. 160 59

darin respektiert, daß man das Aequivalent im menschlichen Innern suchte. Opitz hat diesen Konnex, wiederum das „Adler aus dem Käfig"Emblem beniitzend, in seinem „Begräbnuss-Gedicht" ausgesprochen: Er wird von Eytelkeit der dinge nicht verblendet Die bloss im wahn bestehn; Hat allezeit gewendet Sein Himmlisches Gemüth auf das so ewig wehrt, Verlesst was aussen ist, ist in sich selbst gekehrt. Je weiter er dann geht auss dieses Leibes Ketten, Je höher er audi kömpt, kan ueber alles tretten Was Welt genennet wirdt, sieht unter sich die Kluffl Der schnöden Sterbligkeit. 44 Damit wird der Aufschwung zum Weg nach innen. Stärker als zuvor tritt nun sein Ziel in den Blidk, die Ewigkeit. Sie manifestiert sich in inneren Zuständen, Affekten oder Bewußtseinshaltungen. Welche das sind, ist damit noch nicht festgelegt. Die Epoche bringt verschiedene in Vorschlag. Alle aber tragen die Negation der Welt als Verachtung, Trauer oder Schmerz an sich. Papinians Formel lautet: Wer hier beständig steht, trotzt fleisch und fall und zeit Vermählt noch in der weit sich mit der ewigkeit Und höhnt den Acheron.45 Der Reim von „Zeit" und „Ewigkeit" macht die Paradoxie hörbar, um die es dabei geht: Etwas Zeitliches soll für die Ewigkeit eintreten, die doch gerade die Antithese zur Zeit darstellt. „Ewig" verliert damit das Moment der Dauer. Ein Rest davon ist noch in Papinians Ideal der Beständigkeit erhalten. Doch ist auch damit eine innere Haltung, der „hohe" oder „starcke" Geist gemeint. „Ewig" ist das Epitheton jener inneren Qualität, die das, was den Menschen mit Gott verbindet, ausmacht, zu dem der Aufschwung führt. Das stoisch bestimmte Ideal unterscheidet Papinian von den christlichen Märtyrern des barocken Trauerspiels. In Caussins „Felicitas" ruft der Chor aus: Dring in die freude durch den schmertz! Fleug' aus dem kercker durch die luft! 44 45

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Teutsdie Poemata S. 63 Papinian I V , 233/34. A.a.O. S. 588

Schaut, wie sein sinn von eyfer brennt! Wie der von gott entzündte geist Der wehmut trübe nebel trennt, Der geist, der noth und marter preist! 48 Hier, wie oft in gemildeter Form audi bei Gryphius, ist die aus dem Schmerz gewonnene Freude der der Erhöhung zugeordnete Affekt. In ihr wird der Himmel auf Erden erfahrbar. Geradezu ein Programm dafür formuliert das Sonett „Verlangen / nach der herrlichen Ewigkeit" der Catharina Regina von Greiffenberg, das beginnt: Schwing dich / meine Seel' / in Himmel / aus der Eitlen Zeitlichkeit! schwing dich hin / woher du kommst / wo du audi wirst wider bleiben. Wollst mit süsser Denke-Lust deine weil dieweil vertreiben: biss du wirst ergetzt / versetzet in die Zeit-befreyte Zeit. Ach ich meyn die Ewig-Ewig-Ewig-Ewig-Ewigkeit / in die der belebend Tod wird entleibend einverleiben. Unterdessen soll mein Hand was von ihrer Hoheit schreiben / von der nie gefühlten Fülle / ihrer Erz-Herz-süssen Freud.47 Das freudig erregte Gemüt wird zur Erscheinungsform des Ewigen in der Zeit, und zwar so eindeutig, daß der Sdiluß von einem auf das andere sogar umgekehrt verlaufen kann wie bei Schmolck: Betrübnüß kerckert nur die Seelen / Ein froher Geist steigt Himmel an / Trotz allen Unmuths-vollen Höhlen / Hier find ich eine Rosen-Bahn. Fragt nicht / wie ich so Sorgen-losß Ruht doch mein Hertz in Gottes Schoosß.48 Die auf dem Theater vorgestellten Märtyrer, denen sich aus Angst und Qual der Ausblick in ihre und Gottes Ewigkeit eröffnet, sind für die Zuschauer Gegenstand traurig-freudiger Contemplation. In seinen „Kirchhofsgedanken" sucht Gryphius diese Wirkung allein durch sprachliche Vergegenwärtigung von Vergänglichkeit und Verwesung zu erreichen. In der Vorrede dazu legitimiert er sich mit zahlreichen Hin48

" 48

Zit. bei Sdiings S. 271. Schings betont auch mit Nachdruck die »im Widerspruch zu allen stoischen Prämissen geradezu fundamentale Neuorientierung der Affektsphäre" (S. 27J), um die es in unserem Zusammenhang geht. Greiffenberg, S. 248 Cysarz, Bd 3, S. 233

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weisen auf Gewährsleute, die ihr Denken gleichfalls auf den Tod gerichtet hielten 4 '. Dennoch unterscheidet sich sein „memento mori1' in einem wesentlichen Punkt vom mittelalterlichen. Zwar geht es auch bei ihm um die Mahnung, im Hinblick auf das Endgericht zu leben. Aber wie in Baldes Friedhofsgedicht „Enthusiasmus in coemeterio considér a n t s mortem ac functorum ossa"50, dessen Übersetzung Gryphius einbezogen hatte, tendieren auch seine Vergänglichkeitsverse auf „Enthusiasmus", „Entzückung". Die positive Kompensation ergibt sich unmittelbar aus der Angst. So offenbar verstand es Lohenstein, als er schrieb, Gryphius habe Aus Sarg und Grüften ihm ein Paradies gemacht, Die Seele rein gebrannt durch Leichen, Stank und Fleck In Gräbern sich erhöht bis über Wolck und Sternen . . .51 Neben dieser affektiven gibt es eine aktive Vorwegnahme des Todes, für welche in der Sprache nurmehr die Anweisung gegeben wird. In den „Erbaulichen Sinnbildern", die Arndts „Wahrem Christentum" beigegeben sind, findet sich als Überschrift über ein Springbrunnen-Bild die Devise „Erhöhet durch den Fall", welche die Unterschrift expliziert: Der Christen Ehr' und Ruhm ist nicht auf Erden, Sie müssen, weil ihr Thun der naseweisen Welt Durchaus nicht ansteht nodi gefällt, Allhier gemeistert und verlachet werden, Hier ist der Stand der Niedrigkeit. Jedoch wird ihr Gemüth durch solchen Fall erhöhet, Dass es auf Erden allbereit Im Himmel wohnt und auf den Sternen gehet: Zwar heimlidi sonder allen Glanz und Schein.52 Dieselbe Anschauung führte Sudermann zu seinem theologischen „Lob des Esels"53. Diese Haltung entsagungsvoller Demut stellt den Gegenpol zur humanistischen Selbstapotheose dar. Die Superbia scheint gebrochen, 49

Gryphius Werke, B d 3, S . 3 3 7 f. — V g l . Ferdinand v a n Ingen, Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen: Wolters 1 9 6 6

50

Balde, Dichtungen. S . 62

52

Erbauliche Sinnbilder S. 4 1

51

53

C y s a r z , B d 3, S. 1 9 5 . H i e r w i r d der theologische Zusammenhang ausgesprochen:

Lohenstein, Gedichte S. 7 1

Gleich wie der engell durch hochfart V o n G o t t fieli, driimb zum teuffeil w a r d t ,

62

deutlich

um derentwillen Cenodoxus zur Hölle mußte. Dem Tod ist im Leben sein Recht eingeräumt. Bei Gryphius findet sidi der Terminus „hohe Demuth" 54 . Tatsächlich ist auch diese Demut Grund eines Selbstbewußtseins, das dem humanistischen kaum nachsteht. Aber anders als dieses verschmäht es ein sichtbares gesellschaftliches oder geschichtliches Äquivalent. Die angeführte Sinnbildunterschrift verspricht den hier Erniedrigten Plätze auf „goldenen Stühlen" und Triumph über ihre Verfolger und schließt daran den Trost: „Drum traure nicht!" Die Freude ist der Vorschmack der Erhöhung und damit für das Gemüt die Erhöhung selbst. Bach hat im „Magnificat" beim Vers „deposuit potentes de sede et exaltavit humiles" diese Erhebung durch die Musik gegenwärtig gemacht. Das Selbstbewußtsein nährt sich aus der Erniedrigung. Seine Stütze hat es in „Herz" oder „Gemüth". Die Regungen des „Herzens" sind jedoch nie gelöst von Denkinhalten. Es wäre verfehlt, im Umschlag von Angst, Trauer, Qual in Lust und Freude, der der affektiven und der aktiven Einbeziehung des Todes in das Leben zugrunde liegt, eine psychologische Gesetzmäßigkeit etwa gar masochistischer Art zu sehen. Angst und Freude sind stets auf ihr objektives Gegenüber Welt und Himmel, Zeit und Ewigkeit bezogen. Sie beruhen auf dem christlichen Weltverständnis, dessen Erstarkung die Epoche als ganze kennzeichnet. Der Umschlag ist praeformiert in Passion, Tod und Himmelfahrt Christi. Aus der Analogie alles menschlichen Trauerns und Leidens zur Passion wird dieses zur Befreiung und Wonne 55 . In der Person Christi ist der Prozeß der Individuation vorgebildet. Er ist der Inbegriff des

54

55

Und der mensch eingefürt den tod D a er auch weiss wolt sein wie Gott, Also, wan sich zu demiit neigt, Der mensch, vom fahll zu Gott er s t e i g t , . . . Gryphius Werke, Bd 3, S. 340 Vgl. auch Simon Dach: Nehmt euch der Demut an, Durch weldie man allein am höchsten steigen kann. Werke Bd I, S. 5 5 Ein Sonett der Catharina Regina von Greiffenberg trägt den Titel „Auf die erniedrigende Erhebung und erhebte Nidrigkeit". S. i j Albredht Schöne hat an Gryphius' „Carolus Stuardus" gezeigt, wie in der Passion und Himmelfahrt Christi das äußere und innere Geschick des Märtyrers präfiguriert ist. Albrecht Schöne, Saekularisation als sprachbildende Kraft. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1958. (Palaestra Bd 226) K p . 2: Figurale Gestaltung. S. 29 ff.

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Adlers. Von ihm heißt es in Opitz Übersetzung des „Lobgesang Christi" von Heinsius: Der Adler der mit krafft biss in das Grab gezogen, Und wieder mit gewalt und macht heraus geflogen, Sitzt über alles nun." Eines der Arndts „Wahrem Christentum" beigegebenen Embleme stellt, wie es auch Gryphius in „Flucht menschlicher Tage" tut, die dem Adler zugeschriebene Sonnenprobe in diesen Zusammenhang: „Hier ist zu sehen ein alter Adler, welcher mit ein paar Jungen auf seinem Rücken in die Höhe nach dem Sonnenlicht zufliegt, damit sie lernen, gerade in die Sonne sehen. Hiermit wird abgebildet, daß alle diejenigen Christen, welche dem himmlischen Adler Christo Jesu auf dem engen Kreuzesweg fein nachfolgen, je länger je mehr zum Lichte kommen und es sehen."" Christus als der gemeinsame Nenner der Vorwegnahmen des Todes im Leben wird zum Urbild der Person. Die Individuation geschieht als Nachvollzug seiner Geschichte. Doch ist er nicht das einzige Vorbild. Von Hiob bis zu den urchristlichen Blutzeugen gibt es zahlreiche andere Beispielfiguren. Wer in der beschriebenen Weise Christus nachfolgte, stellte sich in eine Reihe mit ihnen. Hier wird eine Parallele zu Opitz erkennbar, der zur Legitimation auf die vornehmen Dichter der Sage und Geschichte verweist. Der durch die Poesie und der durch den Tod vermittelte Aufschwung geben dem Menschen gleicherweise das Bewußtsein, in die Zeitlosigkeit einer großen und ehrwürdigen Tradition einzugehen.

IV. Die konsequenteste Einbeziehung des Todes in das Leben im Namen Christi ist die pietistische Bekehrung, in welcher der natürliche Mensdi stirbt und als neuer Mensch wiedergeboren wird. Α. H . Francke parallelisiert in seinem Bekehrungsbericht beide Phasen bezeichnenderweise mit körperlichem Niederlegen und Aufstehen 58 . Im Gegensatz zu conse 57 58

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Teutsche Poemata S. 194 [148] Erbauliche Sinnbilder, S. 17 Anfang und Fortgang der Bekehrung Α. H. Franckes von ihm selbst beschrieben. Deutsdie Selbstzeugnisse hrsg. von Marianne Beyer. Bd 7, Pietismus und Rationalismus. Deutsdie Literatur in Entwicklungsreihen. Leipzig: Reclam 1933. S. 16

templativer Versenkung und Demut beruht die Bekehrung nicht auf menschlidier Leistung, sie ereignet sich oft sogar gegen den Willen des Betroffenen. Sie geht von der göttlichen Gnade aus, die in Christus leibhaftig geworden ist. Der Mensch ist bestenfalls durch Öffnung seiner Seele beteiligt. Neben die Imitatio tritt eine Verschmelzung mit dem Seelenbräutigam, also eine völlige Identifizierung. Jesus wird zum Idi des Bekehrten 59 . Es ist daher nicht zu verwundern, daß sich das Aufschwungmotiv in der pietistischen Dichtung relativ selten findet. Die Grundbewegung ist das Herniedersinken der Gnade. Der Aufschwung ist die Antwort darauf. Francke singt: Wenn audi die Hände lässig sind und meine Knie wanken, so biet mir deine Hand geschwind in meines Glaubens Schranken, damit durch deine Kraft mein Herz sich stärke und ich himmelwärts ohn Unterlass aufsteige! Geh, Seele! frisch im Glauben dran und sei nur unerschrocken, laß dich nicht von der rechten Bahn die Lust der Welt ablocken, so dir der Lauf zu langsam deucht, so eile, wie der Adler fleucht, mit Flügeln süsser Liebe. O Jesu, meine Seele ist zu dir schon aufgeflogen, du hast, weil du voll Liebe bist, mich gänzlich ausgesogen; fahr hin, was heißet Stund und Zeit, ich bin schon in der Ewigkeit, weil idi in Jesu lebe.80 59

Vgl. Zinzendorf: D u einer jeden Sel'gen Seel' Ihr ander Ich, Immanuel. („Herzenskälte und Geistestod") Geistliche Lieder S. 1 8 2

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A . H . Francke: „Gottlob! ein Schritt zur Ewigkeit." (Strophen 1 0 — 1 2 ) Pietismus S. 1 2 8 , vgl. auch Gottfried Arnolds Gedicht „ A u f f den gecreutzigten J e -

6$ 5 Pestalozzi, Lyrisdies Ich

Zinzendorf hat dafür einmal die lapidare Formel: Hört didi die Seel im Leibeshaus, So fliegt sie über Himmel aus.'1 Im Bild des Adler-Fluges und Ausdrücken wie „des Glaubens Sdiranken" und „Leibeshaus" scheint der emblematische Hintergrund nodi durch. Aber die „Kraft des Herzens", die den Aufschwung trägt, wird von außen aus der Liebe Christi gespeist. Dieser gilt vor allem die Aufmerksamkeit. Je geringer der Anteil des Ich am Aufschwung ist, um so wichtiger wird es, dessen Anzeichen zu erkennen. Der Pietismus hat die Korrespondenz von Heilsereignissen mit Zuständen des Gemüts zum System erhoben. Im Bekehrungsvorgang treten Trübsal und Freude zu den großen Antithesen Welt und Gott, Zeit und Ewigkeit, Leib und Seele, Sünde und Gnade hinzu. Dem bekehrten Francke wurde die Gnade Gottes in einer unaussprechlichen Freude spürbar, die ihn nicht schlafen ließ: „alle Traurigkeit und unruhe des herztens ward auff einmal weggenommen.. ," 62 Diese hatten die Erkenntnis seiner Verlorenheit begleitet. Erlösung von der Erbsünde in Christus und Freudigkeit wurden eins. Sprachlich hatte das zur Folge, daß in „Aufsdiwung" die Anschaulidikeit verblaßte und das Wort zur Benennung einer starken und großen Freude wurde. Die „schöne Seele" sagt von ihrer Bekehrung: „ . . . in kurzem war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war. — . . . Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte idi, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden... ." e3 Zinzendorf verwendet zweimal „Aufschwung" in Titeln von geistlichen Liedern, in denen jede Aufstiegsbildlidikeit fehlt". Die entscheidende Rolle des freudigen Gefühls wird ex negativo

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82 M

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sum / in dessen Seiten die Seele als geflügelt auffsteiget". Gottfried Arnold, Auswahl S. 267 Zinzendorf „Herzenskälte und Geistestod". Vgl. Anm. 59. In diesem Lied auch die für das Verhältnis zur hohen Literatur bezeichnende Strophe: Ein Mensch, der einem Trauerspiel Zulieb vergießt der Thränen viel, Thut oft zu Jesu Kreuz und Lehr', Als ob's ne Kinderfabel wär'. Anfang und Fortgang der Bekehrung A . H. Franckes etc. S. 26 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch. Artemis-Gedenkausgabe, S. 425 „Neuer Aufschwung zur Treue", „Neuer Aufschwung in Christo"

daran faßbar, daß Francke in dem zitierten Gedidit als Verlockung nicht ,diese Welt', sondern speziell „die Lust der Welt" anführt. Da die Freude zum Gnadenbeweis wurde, war es entscheidend widitig, sie rein zu erhalten. Das konnte nur dadurch geschehen, daß sie inhaltlich fixiert blieb. Die pietistische Abwehr der weltlichen Vergnügungen des Tanzens, Theaterspielens etc. diente dieser Reinhaltung. In dem Bericht der „schönen Seele" bereits zeichnet sidi die Tendenz ab, jegliche Freude für göttlich zu erklären und damit die Grenzen zu verwischen. Sie behalf sich nodi damit, daß sie zwischen weltlicher und göttlidier Freude einen Unterschied der Intensität annahm. Der Ansatz dazu liegt schon in der Grundkonzeption. Wenn vorhin Betrübnis und Sünde gleichgesetzt wurden, so ist das dahin zu differenzieren, daß sich die göttliche Gnade dem Pietisten bereits in der intensiven Zerknirschung über die eigene Verlorenheit ankündigte. Und der Bekehrte erkannte nodi in den Verdüsterungen des Gemüts den Quell seiner Freude. Zinzendorf singt einmal: Bräutigam Hier ist Angst; — Hallelujah! Hilf uns durch die Pilgerwüste! Halt' es unsern Herzen nah', Daß ein Heiland für uns büßte; — Heb' uns einst zu deinem Siegerchor Hoch empor!" Bei den Herrenhutern wurde bekanntlich in der Blut- und Wundenmystik dieser Umschlag ausgekostet. Doch auch der freudige Schlußchor der Matthäus-Passion „Wir setzen uns in Tränen nieder" läßt diesen Zusammenhang erkennen. Die Struktur der „Kirchhofsgedanken" von Gryphius kehrt hier wieder. Aber da das Wissen, das den Umschlag verbürgt, fast formelhaft geläufig ist, werden Trauer und Schmerz kraft ihrer Intensität bereits positiv empfunden. Starke Empfindung als solche bezeugt die Verbindung mit Gott. Die pietistische Bekehrung hatte mit dem Tod die Einmaligkeit gemein. Nach dem „Durchbrach" konnte der Mensch nicht mehr aus der Gnade fallen, er konnte ihr im Laufe der Zeit nur näher und ferner sein. Das führte zur Beobachtung der Gemütszustände. Zu fühlen war göttlich, im Fühlen war der Mensch bei sich selbst, auf das Fühlen war '5

„Pilgergesang zur Höhe" (Schlußstrophe) ; Geistliche Lieder S. 193

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das Leben einzurichten. Da aber dieses Gefühl primär als „Liebe" verstanden wurde, wies es den Fühlenden über sicli hinaus an die Welt. Von aller Mystik, der der Pietismus ja außerordentlich nahe stand, unterschied er sich dadurch, daß die Weltabwendung eine verantwortungsvolle Hinwendung zur Welt zur Folge hatte. Die Schritte zur Welt vor seinem Innern verantworten zu müssen, setzte die pietistische Existenz unter Spannung. Das läßt sich in gewisser Weise schon auf dem Sektor, der hier besonders interessiert, der pietistischen Dichtung, erkennen6". Die pietistische Poetik, eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, war in den meisten Stücken das Gegenbild der von Opitz inaugurierten, und sie verstand sich audi durchaus so. Der Satz „Denn ein Poet kan nicht schreiben, wen er wil, sondern wenn er kan, und ihn die regung des Geistes, welchen Ovidius und andere vom Himmel her zuekommen vermeinen, treibet" 67 war von Opitz aus dem Arsenal der Tradition als apologetisches Argument gegen die Gelegenheitsdichtung herangeholt worden, obwohl es seiner Grundintention widersprach. Die Pietisten nahmen ihn beim Wort. Wie alle menschliche Aktivität konnte für sie auch die Poesie nur von Gott ausgehen. Der Mensch war sein Medium. Das hieß, daß Dichtung nur das war, was von selbst „aus Inbrunst" und „Überschwang des Herzens" entstand, gemäß dem poetologisch verstandenen biblischen Satz bei Gottfried Arnold: „Warum sollte . . . der Mund nicht übergehen / da das Herz bis oben voll ist." 68 Oft flöß das Lied gegen den Willen des Dichters in seine Feder. Rhetorik und Gelehrsamkeit waren dabei nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Es konnte in der Rezension eines Erbauungsbuches heißen: „Es verhindert auch mehrentheils die ihnen fast unvermeidliche Kunst in der SchreibArt, daß man die Haubt-Sache nicht gerade erblicket, und weil man alsdenn den Verstand zu viel beschäftigen muß, die Meinung der Worte zu fassen, so pfleget darüber der Affect sich zu verlieren.. ," 6 ' In der Homiletik ging die Abwehr gegen „feine Historien / feine Sinnbilder / Emblemata und Symbola" 70 , was auch in der Poesie galt. Die Folge war 66

Im folgenden stütze idi midi auf die erhellende und materialreidie Arbeit von W o l f g a n g Sdimitt: D i e pietistisdie K r i t i k der .Künste*. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 1 8 . Jahrhundert. Diss. Köln 1958.

67 68 69 70

68

Opitz, Poeterey S. 1 3 Zit. bei Sdimitt S . 4 0 ; M t . 1 2 , 3 4 ; L k . 6, 4 5 Zit. bei Schmitt S. 4 7 A . H . Francke, zit. bei Schmitt S. 44

eine Verwischung der Grenzen der drei genera dicendi. Die geistlichen Dinge, mit denen sich die pietistischen Liederdichter ausschließlich beschäftigten, die in das genus sublime gehörten, wurden in volksnaher und kunstloser Sprache ausgesprochen. Alles andere stand im Geruch der Falschheit. Damit änderte sich das Verhältnis zwischen Dichter und Gedicht grundlegend. Während Opitz die Dichter vor der Identifizierung ihres Lebens und ihrer Gesinnung mit dem Inhalt ihrer Gedichte in Schutz genommen hatte, wurde nun gerade die eigene Erfahrung zur ausschließlichen dichterischen Legitimation. Grundsätzlich sollten Lieder aus der spontanen Gefühlsregung extemporiert werden. „Aus dem Herzen" setzte Zinzendorf über manche seiner Verse. Tersteegen mußte deutlich darauf hinweisen, daß er manchmal, wenn er das Wort „ich" verwende, „in der Person einer solchen Seele, die in solchem Stande der Erfahrung stehet, geschrieben habe" 7 1 ; denn gewöhnlich waren den Pietisten Ich des Dichters und des Gedichts unmittelbar identisch. Entsprechendes galt von Idi des Gedichts und Leser. Zwar wurde nicht ausgeschlossen, daß ein Gedicht den Leser in den Gemütszustand, den es artikulierte, versetzen, auch wohl einen Weltverfallenen zur Bekehrung ermuntern konnte. Dodi hatte diese Einwirkung am Abbau der rhetorischen Kunstmittel ihre Grenze. Primär richteten sich die Lieder an Gleichgestimmte. In den Gesangbüchern waren sie so angeordnet, daß man gleich finden sollte, was dem eigenen Zustand entsprach. Die Lieder sollten auch für den Leser Ausdruck sein. In der Polemik, mit der die Vorrde zum Freylinghausenschen „Geistreichen Gesangbuch" schließt, die sich an den Leser, aber damit eben auch an die Dichter richtet, kommt die Distanzierung vom bisherigen Dichtungsverständnis in der Verzerrung des Aufschwungmotivs auf anschauliche Weise zum Ausdruck. Im Anschluß an die Stelle aus Psalm V I I I , „aus dem Munde der Unmündigen hat der Herr sich ein Lob zubereitet", heißt es: „Das ist die Meinung: du mußt umkehren und werden wie ein Kind, so dein Singen und Beten und was du tust dem Vater im Himmel gefällig und angenehm sein soll. Flatterst du in hohen Dingen dieser Welt herum und bist aufgeblasen in deinem fleischlichen Sinn und ist dir noch kein Ernst, Gott dem Herrn dein Herz zu ergeben, so gilt eben dir, ja dir sage ich, gilt was Gott durch den Propheten Amos Kap. V, 23 sagt: Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder und in Ps. L, 16. [. . . ] Hast du aber an Gott und deinem Heilande 71

Zit. bei Schmitt S. 36

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deine einige Lust und Freude und sudist mit Verleugnung der vergänglichen Lust dieser Welt in demselbigen deine Erquickung gleich wie ein Unmündiger und Säugling an der Brust seiner Mutter, so wird sich auch Gott durch deinen Mund hier ein Lob bereiten, und in der zukünftigen Welt wirst du dich befinden in der Menge der vielen Tausende, durch welche die Gnade und Treue, die ewige Erbarmung und Liebe Gottes und des Lammes ohne Ermüdung und Abwechslung wird besungen werden. Halleluja! Amen!" 72 Am Ende dieses Passus ist jedoch noch deutlich der Geist der Epoche am Werk. Die Verbindung von Ruhm und Unsterblichkeit gilt noch immer, nur daß sich der Parnass zum Himmel erweitert hat, in dem nicht nur alle geistlichen Sänger von Moses bis Paul Gerhardt, ihren Platz finden, sondern jeder Einzelne, der mit ihnen singt7®.

V. Innerhalb der barocken Lyrik findet das Aufschwungmotiv bei den mystischen Dichtern seine reinste und konsequenteste Ausprägung. Das läßt sich am Beispiel Johannes Schefflers zeigen. Aus dem Vergleich mit seinem Vorbild Daniel von Czepko geht hervor, wie sehr die Ausgestaltung der „Expansion nach oben" Schefflers eigene Leistung ist. So können seine Beziehungen zur übrigen schlesisdien Mystik hintangestellt werden 74 . 72 n

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Pietismus S. 126 Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Reiz, daß der Herausgeber von Zinzendorfs Liedern nodi um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Dichter mit den Worten preist: Aufgestiegen bist Du gleich dem Adler Von dem Sterbelager dort. — Ruhig schwebend über'm Hohn der Tadler, Zeuch uns hin zu deinem Hort, Ihm zu glauben, kindlich ihn zu lieben, Wie Dich lebenslang im Geist getrieben „ E r , d e r mit der L a s t t r a t ein A l l e r Welt und der G e m e i n ' ! " Geistliche Gedichte, S. X X X I I . Ich kann hier auf eine aufschlußreidie Dissertation verweisen, die mir leider erst nach der Fertigstellung des Manuskripts zugänglich wurde: Hugo Föllmi, Czepko und Sdieffler, Studien zu Angelus Silesius' „Cherubinischem Wandersmann" und Daniel Czepkos „Sexcenta Monodisticha Sapientium".

Der „Cherubinische Wandersmann" des „Angelus Silesius" enthält schon im Titel eine Anspielung auf das Motiv der Erhebung. Scheffler gibt ihm eine extreme Deutung, die sich darin ankündigt, daß seine Sinngedichte Embleme ohne Bilder sind. Sein Denken läßt sich als Weiterführung des Entwurfes von Bruno verstehen. Die Verbindung wird an dem folgenden Epigramm deutlich: Du sprichst, im Firmament sei eine Sonn allein, Ich aber sage, dass viel tausend Sonnen sein.75 Wie kühn eine solche Aussage noch zu dieser Zeit war, läßt sich daran ermessen, daß Jacob Balde nur wenig früher in seinem Gedicht „Ad Sabinum Fuscum Tyrolensem" mit dem Untertitel „invitatur ad contemplationem rerum coelestium" 78 den Namen Copernicus zwar nennt, aber noch immer im Sphärenflug die ptolemäische Himmelsvorstellung wiedergibt. Scheffler zieht ausdrücklicher als Bruno selbst theologische Folgerungen aus Brunos kosmologischer Konzeption. Er gelangt zu einer modern anmutenden Entmythologisierung der traditionellen Gottesvorstellung. Dabei verfährt er ohne System. Doch lassen sich verschiedene Aspekte der Entbildlichung Gottes unterscheiden. Die von der christlichen Tradition aus dem biblischen Weltbild mitgeführten konkreten Lokalisierungen Gottes, daß er in der Höhe sei, im Himmel wohne, auf hohen Bergen sich offenbare, werden als uneigentlich erkannt. Scheffler macht auf dem Umweg über paradoxe Konstellationen ihren metaphorischen Charakter deutlich. Das gilt auch für die als zeitliche Dauer verstandene Ewigkeit. — Die Aufhebung dieser Vorstellungen begründet Scheffler mit der grundsätzlichen Unvorstellbarkeit Gottes. Nicht nur kann nichts Sinnliches für ihn eintreten, er entzieht sich audi den Anschauungsformen von Raum und Zeit. Damit hängt als dritter Schritt die Unaussprechbarkeit Gottes zusammen. Noch der Name „Gott" verstellt den Zugang zu ihm. Alle diese Momente faßt das Epigramm „Der unerkannte Gott" zusammen:

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Diss. Zürich 1968. Föllrai zeigt, wie Scheffler, auch wo er Czepko weiterführt, ein „mystisches Ich" entwickelt hat, das mit seinem zeitlichen nurmehr lose verbunden ist. Er sieht darin mit Recht bereits eine Vorstufe des „lyrischen Ich" (S. 108). Oberhaupt deckt sich sein Gesichtspunkt weitgehend mit dem, der dieser Arbeit zugrundeliegt. Cherubinischer Wandersmann 1 , 4 1 . Ich folge der üblichen Zitierweise nach Buch und Spruchnummer. Balde, Dichtungen, S. 26 β. 71

Was Gott ist, weiß man nicht. Er ist nicht Licht, nicht Geist, Nicht Wahrheit, Einheit, Eins, nicht was man Gottheit heisst. Nicht Weisheit, nicht Verstand, nicht Wille, Liebe, Güte. Kein Ding, kein Unding auch, kein Wesen, kein Gemüte. Er ist, was ich und du und keine Kreatur, Eh wir geworden sind, was er ist, nie erfuhr. 77 Zwei Wege zur Gotteserkenntnis sind hier unterschieden. Der eine führt von Verneinung zu Verneinung traditioneller Prädikate, der andere besteht in einer unmittelbaren identifizierenden Erfahrung. Es erscheint verwirrend, daß Scheffler trotzdem weitgehend an der alten vertikalen Hierarchie der Werte festhält, wie etwa in dem folgenden Epigramm: Die Weltlieb hat die Art, dass sie sich abwärts neigt, der göttlichen Natur ist, dass sie aufwärts steigt.78 Das zeugt für die Macht dieser Vertikalvorstellung, mag sie in der Tradition oder archetypisch begründet sein. Daraus ergibt sich noch immer die Forderung: „Erheb dich über dich." Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt, Der ist nicht wert, dass er im Menschenstande lebt.79 Diese Erhebung wird nach der bekannten Scheidung als Aufstieg und Aufschwung vorgestellt. Obwohl beide Modi der Erhebung in gewissem Maße austauschbar sind, zeichnet sich doch eine systematische Differenzierung ab. Vom Aufstieg heißt es: Ein Ungrund ist zwar Gott, doch wem er sich soll zeigen, Der muss bis auf die Spitz der ewgen Berge steigen.80 Der Aufstieg, der hier gefordert ist, besteht nun gerade in jener via negationis, wie sie das Epigramm „Der unbekannte Gott" zeichnet. Die Stufen werden durch die tradierten Vorstellungen gebildet. Ζ. B. „Immer weiter" Maria ist hochwert, doch kann ich höher kommen, Als sie und alle Schar der Heiligen geklommen.81 "

Ch.W. Ch. W. 7 » Ch. W. 80 Ch. W. 81 Ch. W. 78

72

IV, 2i V, 288 II, 22 V, 29 I, 286

Oder: Steig über die Heiligkeit Die Heiligkeit ist gut, wer drüber kommen kann, Der ist mit Gott und Mensch am allerbesten dran.82 Die Metapher des Aufstiegs für diesen Reflexionsweg ist in der mystischen Tradition vorgegeben. Sie geht auf Dionysius Areopagita zurück83. Sandäus leitet in seiner lateinischen Übersetzung des Dionysius die Negationsreihe mit den Worten ein: .„Ascendentes', inquit, nempe a particulioribus ad universaliora et a causatis ad omnium causam profitemur' Deum ,nec Animum esse nec Mentem' etc." Die Aufstiegmetapher kommt während der anschließenden Reihung aus dem Blick, doch erscheint sie wieder im Schlußsatz: „Est enim deitas prima causa, summitas omnium: vertex superexaltissimus, ut loquuntur Mystici universorum, et perfectionis omnis conceptibilis apex." Schefflers Epigramm „Der unerkannte Gott" geht auf diesen Passus des Sandäus zurück84. Diese Verwendung der Aufstiegsmetapher führte dazu, daß die mystische Sprache seit Dionysius Areopagita υπέρ „über" als Negation besonderer Art verwandte: „Dass Gott übersdiön ist, bedeutet ja nicht, dass er den höchsten Grad der Schönheit besitzt, sondern dass die Kategorie der Schönheit gar nicht auf ihn zutrifft." 85 Man könnte es somit als Präposition resp. Praefix der transzendentalen Aufhebung bezeichnen. So spricht Scheffler von der „Über-Gottheit" (I, 13), der „ÜberEngelheit" (II, 44), daß Gott „überheilig" sei. Der „vertex superaltissimus" resp. der „apex", den Gott darstellt, bleibt jedoch durch diese negative Erkenntnisweise unerreichbar. Der Aufschwung bezeichnet eine andere Erkenntnisweise: Mensch, wo du deinen Geist, schwingst über Ort und Zeit So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit. 86 82 85

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Ch. W . I, 273 Im folgenden stütze ich midi auf die ausgezeichnete Dissertation von Renate (Böschenstein-) Schäfer, Die Negation als Ausdrudesform mit besonderer Berücksichtigung der Sprache des Angelus Silesius. Diss. Bonn 1959 Der Abschnitt ist in extenso zitiert bei Renate Schäfer S. 2 5 1 R. Schäfer S. 167 Ch. W. I, 1 2 73

Wer sich nur einen Blick kann über sich erschwingen, Der kann das Gloria mit Gottes Engeln singen.87 In diesem Zusammenhang wird auch das Adler-Emblem beigezogen: Der Adler fliegt hoch Ja, wer ein Adler ist, der kann sich wohl erschwingen Und über Seraphim durch tausend Himmel dringen. 88 Der Adler sieht getrost grad in die Sonn hinein Und du in ewgen Blitz, im Fall dein Herz ist rein.89 Im Aufschwung vollzieht sich die Erkenntnis Gottes unmittelbar. Sie bedarf keines Prozesses. „Blick" bezeichnet den Augenblick auch in zeitlicher Hinsicht. Zu dieser Intuition befähigt ein Können, das dem Menschen nicht verfügbar ist, während der Aufstieg dem Willen unterstellt ist. Die Aufforderungen an den Menschen zu wollen und die entgegengesetzte, Gott wirken zu lassen, sind bei Schefiler etwa gleich häufig. Offensichtlich sah er eine gegenseitige Abhängigkeit beider. Das hängt mit der Lokalisierung Gottes zusammen. Scheffler läßt zuweilen erkennen, was es mit der Beibehaltung der Vertikalmetaphorik auf sich hat. Im bezug auf den Aufstieg heißt es einmal: Ich bin ein Berg in Gott und muss mich selber steigen, Da ferne Gott mir soll sein Liebes Antlitz zeigen.90 Und im Bezug auf den Aufschwung: Halt an, wo laufst du hin, der Himmel ist in dir; Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für. 91 Aufstieg und Aufschwung führen ins Innere des Menschen. Die Paradoxic, daß mit der Höhe eigentlich die Tiefe gemeint ist, bewahrt davor, die Metaphern beim Wort zu nehmen. Daraus folgt, daß Gott und Mensch im Grunde eins sind. Diese geheimnisvolle Einheit umkreist «

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Ch. W. II, 72 Ch. W. II, 171 Ch. W. III, 99 Ch. W. II, 83; Zur Genealogie dieses Epigramms (Sudermann—Czepko— Scheffler) vgl. Föllmi, a.a.O. S. 57/58. Ch. W. I, 82; vgl. Föllmi, a.a.O. S. 66/67

Sdieffler in vielen Epigrammen. Sie ist es schließlich, die die vertikale Hierarchie der Werte aufhebt. So kann es heißen: Ich bin so gross wie Gott, er ist als ich so klein; Er kann nicht über mich, idi unter ihm nicht sein.'2 Diese Identität von Zeit und Ewigkeit im Innern des Menschen erinnert an die Anschauungen der Epoche, menschlichen Haltungen oder Affekten Göttlichkeit zuzusprechen. Manche Epigramme Sdiefflers scheinen in die Nähe der besprochenen Möglichkeiten zu gehören. Auch für ihn ist Jesus die Vorbildfigur. Dennoch legt Scheffler die Identität mit Gott nicht in einen abgrenzbaren inneren Bereich. Er wahrt die Transzendenz Gottes und damit die seines Innern. Die Negationskette umfaßt deshalb auch die inneren Qualitäten, Freude und Wonne nicht ausgenommen: Mensch! ein vollkommner Christ, hat niemals rechte Freud Auf dieser Welt: warum? er stirbet allezeit." Der mit dem Selbst identische Gott ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit auch der inneren Haltungen und Affekte. Wie ihm in der Sprache nur das Schweigen angemessen ist, so führt auch der Weg zu ihm zu einem Zustand ohne Wallungen und Inhalte. Dieses Zustandes kann der Mensch nur in Augenblicken innewerden. Sie bewahren jedoch Selbst und Gott vor dem Zusammenfall mit dem leeren Nichts, in dem die Negationsreihe enden könnte. Aufstieg und Aufschwung sind somit Wege zu Gott und zum Selbst, die zusammengehören. Der „Cherubinische Wandersmann" blieb in Schefflers Leben eine Episode, erst recht innerhalb der Motivgeschichte. Erst im 18. Jahrhundert wurde die Position, der Selbst und Gott eins waren, aufgrund anderer Voraussetzungen eingeholt. VI. Die angeführten barocken Ausprägungen der Erhebungsmotive haben manche Momente erkennen lassen, die bei Dante vorkommen. Die Spannung zwisdien antikem und christlichem Heilsweg erneuert sich zwischen dem humanistischen Programm und den eindeutig religiösen Gegenentwürfen. Und auch die Barockzeit versteht den Aufschwung als Jenseitsreise. Aber sie begnügt sich nicht damit. Vielmehr ist allent»2 Ch. W. I, io ·» Ch. W. III, 108 75

halben die Tendenz zu erkennen, der Jenseitsreise im Diesseits ein Äquivalent zu schaffen und auch dem Göttlichen als dem Zielpunkt des Aufschwungs eine irdische Repräsentation zu geben. Das bedeutet, daß etwas Zeitlichem Ewigkeit zugesprochen wird. Dantes Weg zur Erkenntnis seiner selbst steht damit dem Menschen zu Lebzeiten offen. Für den sozialen Aufstieg ist das Göttliche der durch eigene Leistung erreichte höhere Stand. Die übrigen Ausprägungen verinnerlichen dieses Modell. Sie setzen als Ziel einen höheren Zustand des Willens — Demut — oder des Gemüts — Freude — ein. Angelus Silesius nimmt eine höhere Erkenntnis an. Das in der Zeit besonders beliebte Epitheton ,hodi' hebt den jeweiligen Wert hervor. Gemeinsam ist all diesen Zielpunkten, daß sie außerhalb dessen liegen, was die Menge, „der Pöbel", treibt. Die Dominanz der räumlichen Kategorien hängt damit zusammen, daß sich der Aufschwung immer als Emanzipation aus der Zeitlichkeit versteht. Er beansprucht daher auch keine Zeit, kennt keine Stufen. Das Aufschwungmotiv hat das des Aufstiegs völlig zurückgedrängt. Das vorherrschende Prädikat Gottes ist seine Ewigkeit. Erscheint in der Vergöttlichung des Nachruhms bei Opitz noch die Dauer als irdisches Äquivalent, so tritt bei den andren Möglichkeiten jeweils etwas Innerliches dafür ein, das in der Zeit nur augenblicklich aufscheint. Die Emanzipation aus der Zeit wird zum Weg nach innen. Die Gedichte, auf die wir uns bezogen haben, sind nicht nur Darstellungen des Aufschwungs. Im Opitzschen Programm ist die Dichtung der Flügel, d. h. das Medium des Aufschwungs. Ähnlich ist es bei den verinnerlichten Formen. Das Gedicht enthält die Anleitung zum Aufschwung. Es wirkt anagogisch94. Doch ist es dabei nicht autonom. Es reproduziert und aktualisiert den vorgegebenen humanistischen oder religiösen Horizont, wie es sich in der Bild- und Denkstruktur an die Emblemata hält. Aber es formuliert diesen Horizont als Anrede an den einzelnen Menschen, es individualisiert ihn, wie die einzelnen Aufschwungmöglichkeiten die christliche Himmelfahrt aktualisieren. Damit M

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Catharina Regina von Greiffenberg: Pfleg die lange Zeit zu kürzen / und die Einsamkeit zu würzen / mit der keuschen Bücher-Lust: jedes Blat ist mir ein Flügel / und ein nachgelassner Zügel / zu der süßen Himmel Brust. (Spazier- oder Schäferliedlein Str. 4) S. 347

ist auch gesagt, daß diese Individuation nicht zur Individualität im modernen Sinn führt. Die Welt, in der sich eine solche realisieren könnte, wird gerade verlassen. Im Aufschwung soll sich der Mensdi als ewig und gottgleich, d. h. als einzelnes mit sich identisches Selbst erfahren. Der nun folgende Sprung über fast das ganze 18. Jahrhundert hinweg zielt auf Schiller als den eigentlichen und konsequenten Vollender nicht sosehr des mit der deutschen Lyrik des Barock, sondern mit Giordano Bruno gegebenen Ansatzes. In Schiller erreichte jene deutsche Lyrik, wie sie im Barock unter vielfachen Schwierigkeiten erneuert worden war, endlich europäisches Format. Und Schiller wurde zum poetischen Gesetzgeber und Vorbild des späteren 19. Jahrhunderts. So kann er die Brücke zum Hauptteil dieser Arbeit bilden. Doch die Stringenz dieses Zusammenhanges scheint auf Kosten jener andern und in ihren Ergebnissen viel eindeutigeren Tradition zu gehen, die, wesentlich vom Pietismus bestimmt, ihre Krönung in Goethe fand. Wir hatten gesehen, daß für die pietistische Selbsterfahrung die Erhebungsmotivik nicht mehr ein geeignetes Medium sein konnte. Tatsächlich ist auch Goethe kein Aufschwunglyriker im hier verstandenen Sinne. Das geht indirekt auch daraus hervor, daß aus der Abwendung von ihm die deutsche Lyrik des späteren 19. Jahrhunderts zu Gestaltungen der Erhebung und der Höhe kam. Das läßt sich an C. F. Meyer beispielhaft zeigen. Bei dieser Gelegenheit wird von Goethe ausführlicher die Rede sein. Meyers Lieblingsgedicht aber war „Das Ideal und das Leben".

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Schiller S c h i l l e r s Werke, National-Ausgabe, hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke, Weimar: Böhlau 194} ff. [zit. N A ] Friedrich S c h i l l e r , Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Hanser i960 f. $ Bde [zit. Werke] S c h i l l e r s Anthologie-Gedidite, kritisch hrsg. von Wolfgang Stammler, Bonn: Marcus & Weber 1 9 1 2 (jetzt Walter de Gruyter, Berlin) (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 93) Briefwechsel zwischen Friedrich S c h i l l e r und Wilhelm von H u m b o l d t , hrsg. von Siegfried Seidel, Berlin Aufbau 1962. 2 Bde „Das Genie, voll Gefühl seiner Kraft, voll edlen Stolzes, wirft die entehrenden Fesseln hinweg; höhnend den engen Kerker, in dem der gemeine Sterbliche schmachtet, reißts sich voll Heldenkühnheit los und fliegt gleich dem königlichen Adler weit über die kleine niedere Erde hinweg und wandelt in der Sonne. Ihr schimpft, daß er nicht im Geleise bleibt, daß er aus den Schranken der Weisheit und Tugend getreten. Insekten! E r flog zur Sonne." 1 So sprach 1 7 7 6 Jakob Friedrich Abel zu den Zöglingen der Stuttgarter Karlsschule. E r verkündigte ihnen damit das Programm der Stürmer und Dränger, das dazu aufforderte, die Regeln des „Wohlstandes" und des Geschmacks zu verlassen und in Leben und Taten einzig auf das eigene Selbst zu hören. Es ist nicht ohne Ironie, daß sich noch dieser Aufruf zur Originalität der traditionellen 1

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Reinhold Buchwald, Schiller. Leipzig: Insel 1937. Bd 1, S. 197. — Die Lebendigkeit des Adleremblems bezeugt auch folgende Äußerung von Görres über die Gedidite des späten Hölderlin: „In den Gedichten im Taschenbuch für Freundschaft und Liebe schlägt ein Adler krampfhaft mit den geknickten Flügeln, die bösen Buben auf den Straßen hetzen ihn und jagen ihn, aber wer seine Zeit kennt und ein Gemüth im Busen hat, sieht trauernd ihm nadi, wenn er vorüberflattert und noch immer zur Sonne hinan will." Aurora 1805. Zit. in: Winfried Kudszus, Spradiverlust und Sinnwandel, zur späten und spätesten Lyrik Hölderlins. Stuttgart: Metzler 1969. S. 2. Von hier ist der Weg zu Baudelaire« „L'albatros" nicht mehr weit.

Emblematik bedient. Audi die Bezeichnung der Gegner als „Insekten" 1 ist darin vorgegeben. Das bestätigt die Annahme, daß im Aufsdiwungmotiv vor aller inhaltlichen Füllung der Akt der Selbstgewinnung vorgezeichnet sei. Abel ist uns als Lehrer und Anreger Schillers wichtig. Wie ein Echo auf seine Rede erscheinen die beiden Schlußstrophen von Schillers Anthologiegedicht „Laura am Klavier": Von dem Auge weg der Schleyer! Starre Riegel von dem Ohr! Mädchen! H a ! schon athm' ich freier, Läutert mich ätherisch Feuer? Tragen Wirbel mich empor? Neuer Geister Sonnensize Winken durch zerrißner Himmel Rize — Überm Grabe Morgenroth! Weg, ihr Spötter, mit Insektenwize! Weg! Es ist ein Gott Diese Verse sind eine poetische Umsetzung von Abels Programm, zugleich aber eine Veränderung. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß hier der Aufschwung nicht von innen heraus durch eigene Kraft bewirkt wird, sondern durch das Klavierspiel Lauras, also von außen. Die Musik versetzt das Ich in wechselnde Gemütszustände und entrückt es schließlich der gewohnten Welt. Die Musik wiederum überträgt nur die Bezauberung, die vom geliebten Mädchen ausgeht. In „Die Seligen Augenblike, an Laura" haben Blick, Stimme und Tanz denselben Effekt. Das wird in ausladenden „wenn"-Kompositionen beschrieben. An diese Bedingungen ist der Aufschwung ins Unbedingte geknüpft. Die Differenz zum Aufschwung aus eigener Kraft hat das dritte Laura-Gedicht der Anthologie, „Vorwurf, an Laura" zum Thema. Zu der Gottheit flog ich Adlerpfade, Lächelte Fortunens Gaukelrade, Unbesorgt wie ihre Kugel fiel. Jenseits dem Kozytus wollt' ich schweben 2 5

Emblema», Sp. 764 N A I, S. 54 — Die Relevanz der Vertikalen für Schillers Vorstellungswelt veranschaulicht in etwas pauschaler, aber eindrücklicher Weise Martin Dyck, Die Gedichte Schillers, Figuren der Dynamik des Bildes. Bern/München: Francke 1967

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Und empfange sklavisch Tod und Leben, Leben, Tod von einem Augenspiel. 4 Auch die beiden folgenden Strophen verwenden für die von Laura außer K r a f t gesetzte Möglichkeit der Erhebung das Bild des Adlers, der offenen Auges zur Sonne fliegt. Der Abstand zu Abels Programm wird damit motivisch offenbar. Daß f ü r den jungen Schiller die Liebe Motor des Aufschwungs war, gemahnt an frühere Epochen der Motivgeschichte. In seiner Selbstrezension der Anthologie braucht Schiller selbst im Zusammenhang mit den Laura-Gedichten den Hinweis „platonisch". Das „Geheimnis der Reminiszenz" nennt den im „Symposion" von Aristophanes erzählten Mythos von der ursprünglichen Einheit der Geschlechter als Ziel der Anamnesis. Auch der Name Laura bekommt über den Piatonismus eine gewisse Rechtfertigung. Und schließlich läßt das Augenspiel Lauras daran denken, daß auch Dante das „Paradiso" aus dem Spiegel von Beatrices Augen die K r a f t des Aufstiegs erwächst. Der, junge Schiller also ein Platoniker? Manches weist darauf hin, daß er sich selbst so verstand. Doch es bleibt zu fragen, was er meinte, wenn er von „Liebe" sprach. Die Antwort darauf geben die „Theosophie des Julius" und der berühmte Brief an Reinwald vom 14. April 1783, worin es heißt: „Aber was ist Freundschaft oder platonische Liebe denn anderes als eine wollüstige Verwechslung der Wesen? Oder die Anschauung unserer Selbst in einem andern Glase? — Liebe, mein Freund, das große unfehlbare Land der empfindenden Schöpfung, ist zuletzt nur ein glücklicher Betrug. Erschrecken, entglühen, zerschmelzen wir f ü r das fremde, uns ewig nie eigen werdende Geschöpf? Gewiß nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf ist. Ich nehme selbst Gott nicht aus. Gott, wie ich mir denke, liebt den Seraph so wenig, als den Wurm, der ihn unwissend lobet. E r erblickt s i c h , sein großes, unendliches Selbst, in der unendlichen Natur umhergestreut. — In der allgemeinen Summe der Kräfte berechnet er augenblicklich sich selbst, — s e i n Bild sieht er aus der ganzen Ökonomie des Erschaffenen vollständig, wie aus einem Spiegel, zurückgeworfen und liebt s i c h in dem A b r i s s , das Bezeichnete in dem Z e i c h e n . Wiederum findet er in jedem einzelnen Geschöpf (mehr oder weniger) Trümmer seines Wesens zerstreut." 5 Daß diese Auffassung auch f ü r die Laura-Gedichte * ΝΑ I, S. 92 5 Ν Α XXIII, S. 78 f. 80

gilt, zeigen das darin häufige Spiegelmotiv und sprachlich das Wechselspiel von „mein" und „dein".® Liebe also versteht Schiller als Spiegelverhältnis. Sie eröffnet dem Ich nicht ein Du, sondern wirft es auf sich selbst zurück. Was anders erscheint, ist Betrug. Damit aber hat Schiller mit Plato und der platonischen Tradition nur das Wort gemein. Wohl meint der platonische Eros im andern auch nicht das Du. Aber der Mensch erkennt in der Gestalt des andern einen Abglanz der ureinen göttlichen Schönheit. Beatrices Augen sind Spiegel des göttlichen Lichts. Daher rührt ihre erhebende Kraft. Schiller versteht das Verhältnis von Gott und Mensch nur als ein Analogie-Verhältnis, nicht mehr als eines der Emanation. Die Geliebte ist ihm nicht die Stellvertreterin Gottes. Dennoch aber mißt auch er der Spiegelung umschaffende, d. h. erhebende Kraft zu. Das Ich empfängt sich auch für ihn aus den Augen der Geliebten verändert und gesteigert. Der Brief an Reinwald entspricht insofern nicht genau dem Stand der Laura-Gedichte, als er das Spiegel-Verhältnis als eines der Erkenntnis beschreibt. In den Gedichten erscheint es dagegen als eines der Empfindung. Die Geliebte bezaubert das Ich auf sinnliche Weise, worauf Schillers Bemerkung in der Selbstrezension zielt, „hie und da bemerke ich auch eine schlüpfrige sinnliche Stelle, in platonischen Sdiwulst verschleiert."7 In dieser Affektsteigerung besteht der Aufschwung. Schiller kommt später im Brief an Reinwald auch auf diesen Punkt: „Unsere Empfindung ist also Refraktion, keine ursprüngliche, sondern sympathetische Empfindung." 8 Das aber bedeutet, daß auch das Selbst als empfindendes Selbst gedacht ist. Anders: Die Empfindung ist das Organ, durch das der Mensch seines Selbst inne wird. „Gefühl seiner selbst" ist die Formel, die schon Abel dafür gebraucht. Schiller behält sie bei, obwohl er auf einem andern Weg zu diesem Selbstgefühl gelangte. Die • Vgl. Emil Staiger, Friedrich Schiller. Zürich: Atlantis 1967. S. 113. Ich verdanke Staigers Schillerdeutung die Anregung zur Grundkonzeption und zu manchen Einzelbemerkungen dieses Kapitels. 7 Werke, Bd 5, S. 905 ' Ν Α XXIII a.a.O. Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner die Stelle aus dem Brief an Reinwald vom 21. Febr. 1783: „Mühsam und oft wirklich wider allen Dank mus idi eine Laune, eine dichterische Stimmung hervorarbeiten, die midi in zehen Minuten bei einem guten denkenden Freunde sonst anwandelt. Oft auch bei einem vortrefflichen Buch oder im offenen Himel. Es scheint Gedanken lassen sich nur durch Gedanken loken — und unsere Geisteskräfte müssen wie die Saiten eines Instruments durdi Geister gespielt werden." Ν Α XXIII, S. 67 81 6

Pestalozzi, Lyrisches Idi

von Abel proklamierte Möglichkeit fällt bei ihm unter den Vorwurf des Egoismus, den Julius gegen eine Möglichkeit der Selbstgewinnung allein aus sich erhebt9. Im Gedicht „Laura am Klavier" kulminiert jedoch die durch die Geliebte ausgelöste gesteigerte Empfindung im Ausruf „Es ist ein Gott ". Damit stimmt der Satz überein: „Also Liebe, mein Raphael, ist die Leiter, worauf wir emporklimmen zur Gottähnlichkeit. Ohne Anspruch, uns selbst unbewußt, zielen wir dahin." 10 Auch was daran noch nach Piatonismus tönt, wird in eine andere Richtung gewendet durch einen Passus zwei Seiten vorher: „Ich bekenne es freimütig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hoffnungen mehr übrig, wenn idi aufhöre, an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmender Atom im unermeßlich l e e r e n Räume." 1 1 Die Liebe wird ein notwendiger Gottesbeweis angesichts des leeren Weltraums. Das deutlich zu machen, ist ein kurzer Exkurs 12 nötig. Giordano Bruno hatte, angeregt von Cusanus, das ptolemäisch-aristotelische Bild des Kosmos zerstört, das sich die Kirche zu eigen gemacht und sanktioniert hatte. Diese erreichte jedoch nicht nur die Verbrennung Brunos auf dem Scheiterhaufen, sondern hemmte mit ihrer Autorität auch die allgemeine Rezeption von Brunos Kosmologie über den Kreis der Astronomen hinaus. So spricht die Lyrik des 17. Jahrhunderts vom Himmel ohne Bewußtsein davon, eine Metapher zu verwenden. Einzig der auch darin ketzerische Angelus Silesius übernahm Brunos Theorie 9

19

Buchwald, a.a.O. S. 1 9 6 . — V g l . auch „ D o n C a r l o s " I I / 2 , w o Carlos v o r Philipp zweimal das Bewußtsein seiner selbst mit den Worten ausspricht „ich fühle mich" ( V . 1 1 0 2 , 1 1 4 9 ) Schiller, W e r k e B d . J, S. 3 5 3

»

A.a.O. S. 3 5 1

12

Dieser E x k u r s stützt sich hauptsächlich auf Christof Junker, D a s W e l t r a u m bild in der deutschen L y r i k v o n O p i t z bis Klopstock. Berlin: Ebering 1 9 3 2 (Germanische Studien H e f t i n ) . E r f a n d sich bestätigt durdi den gründlichen unid ergebnisreichen A u f s a t z von K a r l Richter, Die Kopernikanisdie Wende in der L y r i k v o n Brockes bis Klopstock. J b . der Schillergesellschaft 1 2 , 1 9 6 8 . S . 1 3 2 — 1 7 0 . Richter bietet reiches Material f ü r die hier vernachlässigten L y r i k e r des 1 8 . Jahrhunderts, u. a. audi Klopstock. Völlig berechtigt ist seine Kritik an der ungenauen Studie von F r i t z Usinger, Tellurische und planetarische Dichtung. Abhandlungen der Mainzer A k a d e m i e der Wissenschaften und der Literatur. Klasse der Literatur, J g . 1 9 6 3 , N r . 4.

82

und zog daraus theologische Konsequenzen, und auch er nur im „Cherubinischen Wandersmann". Erst mit Brockes trat die neue Kosmologie in die Lyrik und ins allgemeine Bewußtsein ein. Auch Brockes erkannte und artikulierte theologische Konsequenzen, die sich daraus ergaben. In „Die himmlische Schrift"13 benutzt er die Demonstration des unendlichen Alls dazu, die anthropomorphen Gottesvorstellungen für sündhaft zu erklären, weil nichts Endliches Gott angemessen sei. Aber diese „Entmythologisierung" wird nur bis zu einem bestimmten Punkt geführt. Schließlich wird der Himmel zum Buch, aus dessen Sternenschrift das Ich den Namen „Jehova" liest. Die Erkenntnis der Unendlichkeit des Kosmos vermochte das Gefühl der Allmacht Gottes gerade zu stärken. Haller und Uz übernahmen Brockes' Errungenschaft. Auch sie machten sie jedoch zum Stoff lehrhafter Gedichte, die, auch wo sie vom Eindruck des Weltalls sprachen, beim Berichten blieben. Erst Klopstock14 zog aus der neuen Kosmologie lyrische Kraft. Ihm gelang es, die Auswirkung auf das menschliche Selbstverständnis zu gestalten dank einer Verbindung der neuen Kosmologie mit biblischen Vorstellungen. Kant war es, der in seiner Widerlegung des kosmologischen Gottesbeweises darauf hinwies, daß Gott nicht mit zureichendem Grund als „Unendlichkeit" verstanden werden könnte, und der dem gestirnten Himmel lediglich ästhetische Beweiskraft zugestand 15 . Der junge Schiller kam mit Hilfe seiner Phantasie zu ähnlichen Ergebnissen. Zeugnisse davon sind die beiden in der Anthologie unmittelbar aufeinander folgenden Gedichte „Hymne an den Unendlichen" und „Die Gröse der Welt". Das erste ist offensichtlich von Uz und Klopstock inspiriert. Das zweite, "

Barthold Heinrich Brockes, A u s z u g der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen

in G o t t .

Faksimiledruck

nach

der

Ausgabe

von

1738.

Deutsche Neudrucke. Stuttgart: Metzler 1 9 6 J . S. 1 1 j 14

V g l . Gerhard Kaiser, Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh: Mohn

15

Immanuel K a n t , D e r einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration

1 9 6 3 . (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft B d 1) S . 52 ff. des Daseins Gottes. ( 1 7 6 3 ) K a n t s Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer 1 9 1 0 Î Ï . 1. A b t . 2. B d S. 1 5 4 : „ E s ist auch dieser über alles Mögliche und Wirkliche erweiterte Begriff der göttlichen A l l g e n u g s a m k e i t

ein viel richtigerer Ausdruck,

größte Vollkommenheit dieses Wesens zu bezeichnen, als der des lichen

die

Unend-

dessen man sich gemeiniglich bedient. . . . Die Benennung der U n -

endlichkeit ist gleichwohl schön und eigentlich aesthetisdi. D i e Erweiterung über alle Zahlenbegriffe rührt und setzt die Seele durch eine gewisse V e r legenheit in Erstaunen. Dagegen ist der Ausdruck, den w i r empfehlen, der logischen Riditigkeit mehr angemessen."

83 6*

das man später ansetzt, stellt Unendlichkeit als Leere dar, in der nirgends ein Ankerplatz ist. Es fällt der Ausdruck „Reich des Nichts". Mit „Die Gröse der Welt" widerlegte Schiller auf seine Weise den kosmologischen Gottesbeweis. Wie Kant sah er dadurdi nicht die Existenz Gottes in Frage gestellt. Es ging ihm jedoch darum, sie erfahrbar zu machen. Doch anders als dem Philosophen hieß „demonstrieren" für den jungen Schiller poetisch darstellen. Nichts Geringeres war ihm aufgetragen, als die seit Jahrhunderten bereitstehende Hinterlassenschaft Giordano Brunos anzutreten und seinerseits „Dux, Lex, Lux" 1 " zu sein. Für Bruno war die neue Erkenntnis der Weg gewesen, sich als Einzelner gegen die herrschende Meinung durchzusetzen und sich so als Individuum zu realisieren. Schiller fand Brunos Theorie vor. Sie hatte sich wissenschaftlich durchgesetzt. Er unternahm es, daraus eine neue allgemeinverbindliche Möglichkeit zu gewinnen, sich selbst und Gott zu erfahren. Diese Mission kündigt sich in der Schlußzeile von Laura am Klavier an: Neuer Geister Sonnensize Winken durch zerrissner Himmel Rize — Ueberm Grabe Morgenroth! Weg, ihr Spötter, mit Insektenwize! Weg! Es ist ein Gott Die Liebe, wie sie der junge Schiller verstand, war der Gottesbeweis. Sie machte Gott der Erfahrung im Enthusiasmus zugänglich. Aber der Beweis teilte sich dem Bewiesenen mit und gab ihm eine andere Gestalt. Damit wurde die Liebe zum Mittel der Neuschöpfung Gottes: „Liebe, mein Raphael, ist das wudiernde Arkan, den entadelten K ö n i g des Goldes aus dem unscheinbaren Kalk wiederherzustellen, das Ewige aus dem Vergänglichen, und aus dem zerstörenden Brande der Zeit das große Orakel der Dauer zu retten." 17 Hier erscheint nicht der leere Himmelsraum als Provokation, sondern „der zerstörende Brand der Zeit". Doch beides hängt zusammen. Mit der Entleerung des Himmels erhob sich das Problem der Unsterblichkeit aufs neue und dringlicher als je. In den Anthologiegedichten läßt sich ein ähnlicher Wandel in der Einstellung dazu erkennen wie in der zum Universum. Den Bezug zwischen Kosmologie und Unsterb19 17

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Vgl. das Bruno-Kapitel dieser Arbeit „Theosophie des Julius". Schiller, Werke Bd 5, S. 353

Iichkeitslehre spricht schon die „Elegie auf den Tod eines Jünglings" aus: Nicht in Welten, wie die Weisen träumen, Auch nicht in des Pöbels Paradiß, Nicht in Himmeln, wie die Dichter reimen, — Aber wir ereilen dich gewiß.18 Groß war diese Gewißheit nicht, der jede konkrete Vorstellung fehlte. Der Sinnspruch „Zuversicht der Unsterblichkeit" tönt höchst ironisch. Die „Leichenfantasie" spricht den Gedanken der Auferstehung noch aus, aber konfrontiert ihn ohne weitere Erläuterung mit dem Versinken des Sarges. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß Schillers Todesvorstellung radikaler ist als die des Barock 1 '. Die Skepsis gegen den Aufschwung im Tod, an den das Barock als an das Modell aller Aufschwünge geglaubt hatte, brachte es mit sich, daß auch bei den neu gefundenen Aufschwüngen der Tod als Vernichter ernster genommen werden mußte. Die Widmung der Anthologie an den Tod deutet an, daß Schiller nicht am Tod vorbei, sondern in der Konfrontation mit ihm und gegen ihn seine Gedichte schrieb. Diesen erwuchs daraus ihre oft hektische Intensität. Diese Macht des Todes über das Leben erhöht die grundsätzliche Schwierigkeit von Schillers denkerischem Unternehmen, dem es darum ging, „Götterfunken aus dem Staub zu schlagen"20. Der Stoff, der ihm zu einem neuen Bildnis Gottes zur Verfügung stand, war der hinfälligste und schlechteste. Wie aber konnte es dennoch geschehen? Der zitierte Brief an Reinwald spricht von der Liebe im Zusammenhang mit Schillers Arbeit am „Don Carlos". Darauf führen die Sätze zurück: „Wenn Freundschaft und platonische Liebe nur eine Verwechslung eines fremden Wesens mit dem unsrigen, nur eine heftige Begehrung seiner Eigenschaften sind, so sind beide gewissermaßen nur eine andre Wirkung der Dichtungskraft — oder besser das, was wir für einen Helden unserer Dichtung empfinden, ist ebendas." 21 18

"

20 21

Ν Α I, S. J9 Gerhard Kaiser, Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schillers Werk. Stuttgart: Metzler 1967. (Dichtung und Erkenntnis 3) S. 8. Die Fragestellung dieser Arbeit berührt sich eng mit der Gerhard Kaisers. Idi verdanke ihm wichtige Anregungen und Bestätigungen. N A I, S. i i j Ν Α X X I I I , S. 31

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Damit galt das von der Liebe Gesagte auch von der Dichtung: Die Dichtung ist der schaffende Spiegel des Ich. Der Dichter dichtet nicht aus der Fülle des Herzens, er spaltet sich selber in Dichter und Leser. Was jener mit seiner Phantasie aufbaut, wirkt auf diesen erhöhend und steigernd zurück. Mittels der Dichtung bezaubert das Idi sich selbst, wie Laura in den Lauragedichten den Dichter bezaubert. Laura ist der Name der erdichteten Geliebten. In „Das Geheimnis der Reminiszenz" dient der platonische Mythos zur Umschreibung der ursprünglichen Einheit von Dichter und erdichtetem Geschöpf. „Eins mit Deinem Dichter / Warst Du, Laura." 22 Noch zweimal bezeichnet sich das Ich als Lauras Dichter. Staiger hat dieses Verhältnis mit dem Stichwort „Pygmalion" bezeichnet23, auf den Schillers Anthologiegedichte in manchen Stellen anspielen. Der Pygmalion-Mythos faßt beide Momente, Dichtung und Liebe, Produktion und Reflexion, zusammen, die Schillers Jugenddichtung bestimmen. Im Gedicht konkretisiert sich dieses Verhältnis als pathetischer Stil, von dem Staiger sagt: „Dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer Rede Gewalt. Wenn das Pathos aber echt ist, erleidet auch der Redner Gewalt." 24 Diese Gewalt hebt ihn über seinen alltäglichen Zustand hinaus. Damit ist dem Gedicht jene Macht eingeräumt, die in „Laura am Klavier" der Musik zukommt. Das wird besonders daran deutlich, daß in diesem Gedicht versucht wird, die musikalischen Tempi in der Sprache der Programmusik wiederzugeben. Die Sprache wird damit gewissermaßen dreidimensional: sie stellt selber dar, was sie beschreibt. Ähnliches fanden wir schon bei Dante, am deutlichsten in den expliziten Hinwendungen an den Leser. Solche sind bei Schiller mit Hilfe rhetorischer Mittel in die Sprache hineingenommen. So ist am Höhepunkt der „Seligen Augenblicke" der Unsagbarkeitstopos durch ein Verstummen der Sprache in Punkten angedeutet. Die Beibehaltung von Metrum und Reimordnung noch in der Darstellung äußerster Ekstase läßt erkennen, daß es hier nicht um den Ausdruck, sondern um die 22 23

24

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N A I, S. 104 Emil Staiger, Schiller, S. 104 f. Vgl. audi Hermann Schlüter, Das PygmalionSymbol bei Rousseau, Hamann, Schiller. Drei Studien zur Geistesgeschichte der Goethezeit. Diss. Zürich 1968 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946. S. 162. Von Staigers Pathos-Bestimmung aus kommt zu einer sehr aufschlußreidien und differenzierten Analyse der Jugendlyrik Werner Keller, Das Pathos in Schillers Jugendlyrik. Berlin: de Gruyter 1964. (Quellen und Forschungen N . F . 15)

Suggestion von Verstummen geht. Anders als bei Dante suggeriert die Sprache nicht Erkenntnis, sondern Empfindung. Sie will Dichter und Leser dazu bringen, im Enthusiasmus sich selbst zu fühlen. Dieser bringt somit Selbstgewinn im Ichverlust. Der mittels des pathetischen Gedichtes erzeugte Enthusiasmus ist für das Ich zugleich ein Gottesbeweis 25 . Damit ist gesagt, daß das Selbst, dessen der Mensch inne wird, ein allgemeines ist. Auf Grund der Annahme einer solchen Allgemeinheit kann der pathetische Stil wirken. Der Enthusiasmus des Einzelnen kann jedoch nicht für alle Gott beweisen. Der Prophet bedarf einer Legitimation, die sein Zeugnis verbindlich macht. In den Anthologiegedichten geht es erst um den individuellen Enthusiasmus. Den allgemeinen A u f schwung gestaltet die Ode „An die Freude". In Anlehnung an die Form der Kantate ist sie aufgebaut als Wechsel von pathetischer Anrede des Einzelnen und enthusiastischer Antwort des Chors, in dessen Namen schon der Einzelne spricht. Die im Chor repräsentierte Allgemeinheit münzt die eigene Ergriffenheit in Dogmatik um. Dabei schafft sie kein neues Bild Gottes, sie fundiert traditionelle Prädikate: Gott der Vater, der Schöpfer, der Richter, der Erlöser. Man hat das Verwaschene der Gottesvorstellung bemängelt, die so zustande kommt. Die Begeisterung verwischt die Distinktionen. „Der Unbekannte", „der gute Geist" sind ihr als Bestimmungen am angemessensten. Der Schluß vom kollektiven Enthusiasmus auf Gott beruht nicht auf der Logik, sondern auf der emotionalen Intensität. So kann die Freude Gott nicht schaffen, sondern nur demonstrieren und damit neu in der Erfahrung verankern. Jedoch, diese Verankerung kann nicht von Dauer sein. Auch die I X . Symphonie hat ein Ende, und damit entschwindet der Gott, den sie beweist. Schiller sah dieses Problem deutlich: „Enthusiasmus ist der kühne, kräftige Stoß, der die Kugel in die Luft wirft, aber derjenige hieße ja ein Tor, der von dieser Kugel erwarten sollte, daß sie ewig in dieser Richtung und ewig mit dieser Geschwindigkeit auslaufen sollte. Die Kugel macht einen Bogen, denn ihre Gewalt bricht sich in der Luft. Aber im süßen Moment der idealischen Entbindung pflegen wir nur die treibende Macht, nicht die Fallkraft und nicht die widerstehende Materia in Rechnung zu bringen." (An Huber, j . Okt. 178J) 2 6 Gerade 25

M

Damit wird die Religion von der Dichtung abhängig. Vgl. in der Anthologie: „Die Messiade" Religion beschenkte diss Gedicht, Audi umgekehrt? — Das fragt mich nidit. Ν Α I, S. 95 Vgl. dazu audi: Günter Schulz, Furcht, Freude, Enthusiasmus. Zwei unbe-

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weil Schiller so Großes mit dem durch das Gedicht produzierten Enthusiasmus im Sinne hatte, konnte er nicht ignorieren, was in den seligen Augenblicken selbst seinem Vorhaben entgegenwirkte. Dem mittelalterlichen Mystiker w a r „im nu" Gott unmittelbar gegenwärtig geworden, den er aus Bibel und Tradition kannte. Schiller erkannte die Notwendigkeit, aus der Subjektivität heraus Gott neu zu begründen und zugleich eine über den Augenblick hinausgehende Repräsentation des Ewigen zu finden. Die auf die Freudenode folgenden Gedichte »Die Götter Griechenlands" und »Die Künstler" erweiterten das Problem um den geschichtstheologischen Aspekt. Indem sie so die Frage verallgemeinerten, bereiteten sie die allgemeinere Antwort vor. In den „Göttern Griechenlands" kleidet sich das Problem in die Bitte an den einen Gott: „Gib mir Flügel" und gegen Schluß der „Künstler" ergeht die Aufforderung an die Dichter: Der freysten Mutter freye Söhne schwingt euch mit festem Angesicht zum Strahlensitz der höchsten Schöne, um andre kronen buhlet nicht. 87 D a es in diesem Zusammenhang nicht darum gehen kann, den denkerischen Prozeß nachzuzeichnen, durch den Schiller zu seiner endgültigen Antwort kam, soll das Ergebnis aus dem Gedicht, „Das Ideal und das Leben" 2 8 , abgelesen werden, in dem es dichterische Gestalt gewonnen hat. Es ist von Schiller selbst und von seinen Interpreten als Summe seiner anthropologischen Theorie betrachtet worden, wie er sie kurz zuvor in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" entwickelt hatte. Die geläufige Interpretationsweise ist denn auch die, in der poetischen Gestaltung die Gedanken der „Briefe"

27 28

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nachzuweisen".

kannte philosophische Entwürfe Schillers. Jb. der deutschen Schillergesellschaft ι, 1957. S. 103—142. Das Zitat aus dem Brief an Huber S. 119 ΝΑ I, S. 195 „Das Reich der Schatten" wird zitiert nach ΝΑ I, S. 247—2$i, „Das Ideal und das Leben" nadi Werke, Bd 1, S. 201—20J. Anna. S. 876 Das Gedidit wurde sehr oft kommentiert und interpretiert. Mir haben folgende Interpretation vorgelegen: Ballauf, Friedrich, Zu Schillers Gedidit „Das Ideal und das Leben", Zs.f.d.dten U. 22, 1908 S. 529/30. — Döring, August, Schillers Stellung zum Lebensproblem (,Das Ideal und das Leben'). Neue Jahrbücher für das klass. Altertum 9, 1906, S. 484—500. — Lohner, Edgar, Schiller und die moderne Lyrik, Göttingen: Sachse & Pohl 1964, S. 16—33. — Petsdb, Robert, Schillers „Das Ideal und das Leben", in:

H i e r soll versucht werden, es im Rahmen der Geschichte des A u f sdiwungmotivs, d. h. v o r allem auch im Anschluß an die Jugendgedichte, z u betrachten. Thematisch schließt das Gedicht mit der Frage „Führt kein W e g hinauf z u jenen H ö h e n "

unverkennbar an die Laura-Gedichte an, bei

denen es, wie gezeigt wurde, um die Demonstration Gottes in der Erfahrungswelt ging. D i e A n t w o r t ist wiederum mit H i l f e der Erhebungsmotivik gestaltet. Dabei erscheinen manche Momente, die uns früher schon begegnet sind. Der Aufstieg w i r k t in der Gegenrichtung

zum

Sündenfall: W o l l t ihr schon auf Erden Göttern gleichen Frei sein in des Todes Reichen Brechet nicht v o n seines Gartens Frucht. D a s Versprechen „eritis sicut Deus", das sich an den gefallenen Menschen, der dem T o d untersteht, richtet, kehrt den R a t der Paradiesessdilange um. — D i e neue Devise zielt darauf, den T o d nach barockem Vorbild in das Leben einzubeziehen. Das k a m in der später gestrichenen Strophe z u m Ausdruck: Führt kein W e g hinauf z u jenen Höhen M u ß der Blume Schmuck vergehen, W e n n des Herbstes G a b e schwellen soll? N e i n auch aus der Sinne Schranken führen P f a d e aufwärts zur Unendlichkeit. Die v o n ihren Gütern nichts berühren, Fesselt kein Gesetz der Zeit. Die N ä h e v o n Aufschwung und T o d zeigt sich v o r allem in der Apotheose des Herakles am Schluß. D e r ursprüngliche Titel „ D a s Reich der Schatten" bradite, offenbar gegen Schillers Intention, die Übereinstimmung v o n idealer Sphäre und Schattenreich z u m Ausdruck.

Der

Hinweis „glänzend wandeln an dem stygschen Strome" hält diesen Bez u g auch nach der Änderung des Titels aufrecht. —

So überrascht es

denn auch nicht, d a ß sich hinter dem Gedicht noch vage das „ V o g e l aus Gedidit und Gedanke, hrsg. von H. O. Burger. Halle: Niemeyer 1942. S. 119 bis 139. — Rosenthal, Georg, Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben", Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 20, 1917, S. 403/04. — Emil Staiger, Schiller, passim. 89

dem Käfig"-Emblem abzeichnet, etwa in dem Wortfeld „Schranken, Fessel, Sarkophag" und in den verschiedenen Flugmetaphern. Von allen bisherigen Aufschwung-Gedichten unterscheidet sich „Das Ideal und das Leben" jedodi durch seinen Aufbau. Sein erster Teil, die Strophen ι — j , bestimmen zunächst grundsätzlich das Verhältnis von Gott und Mensch, auf dem alle möglichen Aufschwünge beruhen. Die konsequente Verwendung der antiken Mythologie ist das sichtbare Zeichen dafür, daß der bisher gültige christliche Rahmen verlassen ist. Zwar scheinen, wie im Sündenfall der Proserpina und in der Himmelfahrt des Herakles, christliche Vorstellungen noch durch. Doch wirkt die Entgegensetzung von Antike und Christentum, wie sie „Die Götter Griechenlands" akzentuierte, fort. Das antike Kostüm dient zur Gestaltung nachchristlicher Gehaire. Das Gedicht weist auf den Umschwung von der Theo- zur Anthropologie hin, den die Strophen 10 und n aussprechen. Das Gedicht selbst reiht sich somit als ganzes in jene zweite Phase ein, die es im Bezug auf die verschiedensten Lebensgebiete von einer vorausliegenden ersten absetzt. „Das Reich der Schatten" veranschaulichte den epochalen Aspekt dieses Umbruchs in den Strophen 5 und 6 durch Anspielungen auf die „Eumeniden" des Aeschylos, jenes erhabene Dokument der Ablösung zweier Weltalter. Das Moment des Überganges kommt sprachlich im Nebeneinander von begrifflich-abstrakter und mythologisch-bildlicher Sprachebene zum Ausdruck. Beide laufen nebeneinander her als Bild und Bedeutung oder umgekehrt als Begriff und Allegorie: Oft aber tritt eine für die andere ein, so daß Logik und Bildzusammenhang sich ergänzen. Die Interpretation hat gerade auf diese bildliche Logik zu achten, die am grundsätzlichsten das Gedicht von der theoretischen Behandlung derselben Thematik in den „Briefen" unterscheidet. Die erste Strophe stellt neue Götterbilder auf. Auch diese Götter sind wandellos, also jenseits der Zeit. Dennoch aber haben sie Beziehung zur Zeit. Sie haben ein Leben. Ihr Verhältnis dazu ist durch den Dativ ausgedrückt. Das deutet auf eine distanzierte Einstellung. Diese Distanz akzentuieren „im Olymp" räumlich und die Bezeichnung „die Seligen" zeitlich. Aus dem Abstand erscheint das Leben klar, rein und eben, also optisch, als Bild, und zwar als schönes Bild. Das fließende Leben gewinnt den Anschein der Dauer. Wandellosigkeit der Götter und ewige Klarheit des Lebens entsprechen sich. Die Strophe nennt in einer auffallenden Inversion zuerst die Epitheta des Lebens und erst in den folgenden drei Zeilen, welche die Reimordnung wiederholen, die 90

ewige Jugend der Götter. Die Logik dieses Aufbaus benennt das Wort „spiegelrein". Das aus der Distanz betrachtete Leben reflektiert seine Ewigkeit auf die Betrachtenden. Diese empfangen daraus ihr eigenes Bild gesteigert zurück. Dadurch sind sie Götter. Es zeigt sich in dieser Bestimmung der Götter ein deutlicher Bezug auf das Verfahren der Demonstration Gottes in den Laura-Gedichten, welches das Stichwort „Pygmalion" bezeichnete. Nun ist das Spiegelverfahren in den Göttern objektiviert. Doch ist es entscheidend verändert. In den Jugendgedichten spielte der Reflexionsmedianismus im Bereich der Empfindungen. Seine Wirkungen auf das Ich waren Wollust und Wonne, die das Bewußtsein an seine Grenzen trieben. Hier nun geht es ausschließlich um optische Spiegelung, das Auge flammt nicht mehr, es ist im Sinne Herders „der kälteste Sinn" 30 . Es setzt in Distanz, und sein Objekt gibt dem Betrachter innerhalb des Lebens Freiheit. Die Götter sind Wesen, die frei sind dank ihrem Spiegelverhältnis zum Leben. Dabei ist das Spiegelverhältnis die poetische Umsetzung dessen, was Schiller in den Briefen „ästhetisch" nennt. Das wird durch die Abgrenzung von den Menschen im letzten Teil der Strophe bekräftigt. Die Götter vereinigen sinnliche Zuwendung zum Leben und Abwendung davon, zwischen denen der Mensch zu wählen hat. In der ersten Strophe sind die Voraussetzungen des ganzen Gedichts in nuce enthalten. Sie werden im folgenden entfaltet. Die Frage, „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen", die bedeutet, „frei sein in des Todes Reichen", wendet sich an den Gegenpol, den Menschen. Daraus ergibt sich die Gelegenheit, was die erste Strophe simultan enthält, in Sukzessionen umzusetzen. Bezeichnenderweise geht die Darlegung vom Verhältnis zur Außenwelt aus. Die zweite Strophe nennt als erste Stufe zur Gottähnlichkeit eine Distanznahme zum Leben. An die Stelle des unmittelbaren Genusses hat ein optisches Verhältnis zu treten. Dem Blick antwortet auf der Objektseite der Schein31. Dessen Dauerhaftigkeit geht per contrarium aus den „wandelbaren Freuden" des Genusses hervor. Im Schein erzeugt der Blick Zeitlosigkeit. Der Proserpina-Mythos gibt dem begrifflich dargelegten eine mythische Kontrastbegründung. Er bildet eine freilich trügerische Überleitung zur folgenden Strophe, trügerisch deshalb, weil die Doppelexistenz der Proserpina Folge ihrer Verschuldung, nicht ihrer Befreiung war. Im Gedankengang des Ge30

31

Joh. Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 3. Abschnitt. Herder entwickelt darin eine eigentliche Phänomenologie der Sinne. Z u dieser Stelle vgl. u. a. Lohner a.a.O. S. 16 f.

dichtes geht es darum, die Rückwirkung des optisdien Verhältnisses zum Leben auf das Subjekt zu schildern. Es verwandelt sich. Mittel dieser Verwandlung ist „die Gestalt". Der Begriff „Gestalt" wird von Schiller im fünfzehnten der „ästhetischen Briefe" definiert. Im Gedicht ist er nur auf den Menschen bezogen. Im Gegensatz zum Körper bezeichnet „die Gestalt" den göttlichen Teil im Menschen, also das Ziel der Annäherung an die Götter. Die Flügel deuten ihre Freiheit vom Leben an. Sie sind offensichtlich eher eine erstarrte Metapher, als daß sie zu einem versteckten Bildkomplex gehören. Die Schönheit also macht den Menschen zur Gestalt. Dabei ist die Synonymie von „Schönheit", „Schein" und „Schatten" wichtig. „Schönheit" ist Abbild und Spiegel wie der Schatten, hervorgerufen durch den Betrachter und diesen sich selbst indirekt am Objekt zeigend. Auf diesem Wege kann der Mensch betrachtend sidi an der Erscheinung seiner Freiheit, die sein Selbst ausmacht, bewußt werden. Die Schönheit setzt im Spiegelungsverfahren sein Selbst frei. So ist der Mensch im Leben den Göttern gleich. Dabei ist vorausgesetzt, daß der Mensch ein Selbst habe, das seine Identität über das Leben hinaus aufrecht erhält. Menschen und Götter sind somit nicht radikal, sondern nur durch ihre Perspektive auf das Leben unterschieden. Der Übergang vom Menschen zum Gott scheint damit durch einen einfachen Wechsel der Einstellung möglich, zu dem die Imperative in der frühen Fassung des Gedichts direkt auffordern. Damit ist erst der ideale Rahmen gegeben für die Frage, wie denn der Aufstieg zu den Höhen konkret im Leben zu erreichen sei. Die Warnung der j. Strophe ist nicht zu überhören. Ihr „Nicht" trifft alle drei Zeilen. Die Distanzierung vom Leben ist nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt, der von der Auseinandersetzung, die das Leben bedeutet, genug hat. Schönheit dient nicht der Erholung. Die Zeit steht dadurch nicht still. Notwendigkeit muß den Perspektivenwechsel herbeiführen, und diese tritt dann ein, wenn der Mensch seine Endlichkeit erkannt hat beim Versuch, im Leben aus eigener Kraft Gott gleich zu sein. Die Schönheit ist eine ultima ratio, die erst wirkt, wenn alle andern Wege verbraucht sind. Hier beginnt ein Ton zu klingen, und er wird immer hörbarer im folgenden, den die „Briefe" nicht kennen. Es ist der der Resignation. Schönheit ist legitime Freistatt nur für den aufgrund eigenen Kämpfens Verfolgten und Geplagten, wie es die Strophen j und 6 aus dem „Reich der Schatten" mit deutlichem Bezug auf Orest schilderten.

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Das Ziel wird dann erreicht, wenn seine empirische Unerreichbarkeit feststeht. Die nun folgenden vier nach einem parallelen Schema mit „wenn — da; aber" aufgebauten Strophenpaare demonstrieren die vorangestellte Konzeption an vier Beispielfällen aus der Erfahrung. Die Beziehung zum ersten Teil wird jeweils nicht ausdrücklich hergestellt, sie ergibt sich aus Wort- und Motivanklängen. Das erste Strophenpaar übernimmt aus der vorangegangenen Strophe das Beispiel des Wettkampfes. Angespielt wird auf das antike Wagenrennen, bei dem es darauf ankam, sich vor den andern auszuzeichnen. Der Sieger bekam den Kranz, sein Name wurde von den Dichtern verewigt. Der Weg zum Ruhm und zum Glück der ausgezeichneten Stellung war, wie wir gesehen hatten, die vom Humanismus wieder aufgegriffene Möglichkeit der Individuation. Das Beispiel hält sich somit genau im Rahmen der Problemstellung des Gedichts, der Frage nach der Vergöttlichung des Menschen. Eine indirekte Andeutung auf die Aufwärtsbewegung mag man im Untersinken des Schwächlings sehen. — Die „aber"Strophe setzt nun die neue Möglichkeit entgegen. Das sanfte und ebene Rinnen des Lebensflusses und die Götternamen rufen die olympische Welt in Erinnerung. Aurora und Hesperus spiegeln sich im Lebensstrom. Das anmutige Bild bewirkt, was der Kampf um Ruhm nicht erreichte. Doch der Fluß, der nun ruhig fließt, ist derselbe, der sich zuvor wild ergossen hatte. Der spätere Zustand setzt den vollendeten früheren voraus. Das zeigt sich grammatisch darin, daß, während in der „wenn"-Strophe ingressive und perfektive Verben dominierten, in der „aber"-Strophe die participia perfect! neben durativen Verben vorherrschen. Das vollendete Leben, das auf Göttlichkeit tendierte, reflektiert nun das Bild des freien Selbst. Die Stelle knüpft an eine aus dem frühen „Spaziergang unter den Linden" an, die sie zu verdeutlichen vermag. Der Skeptiker Wollmar, der seine Laura verloren hat, sagt nach einer Schilderung der vielfältigen fruchtlosen Bemühungen der Menschen um Glück: „Die Kinder freuen sich auf den Harnisch der Männer, und diese weinen, daß sie nimmermehr Kinder sind. Der Strom unseres Wissens schlängelt sich rückwärts zu seiner Mündung, der Abend ist dämmerig wie der Morgen, in der nämlichen Nacht umarmen sich Aurora und Hesperus, und der Weise, der die Mauern der Sterblichkeit durchbrechen wollte, sinkt abwärts, und wird wieder zum tändelnden Knaben. Nun Edwin! recht93

fertigen Sie den Töpfer gegen den Topf, antworten Sie, Edwin!" 32 Hier dient der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit von Kindheit und Alter für die Rückschau als Argument für die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Im Gedicht bezeugt er gerade umgekehrt die Göttlichkeit, aber nun nicht die des Schöpfers, sondern die des menschlichen Selbst. Dieses wird im Ganzen seines irrigen Strebens nach Göttlichkeit seiner selbst ansichtig als des Prinzips, das darin am Werk war. Im zweiten Strophenpaar wird die Pygmalion-Geschichte selbst als Beispiel herangezogen. Wie der Kämpfer um den Kranz sein Leben zu formen sucht, arbeitet der Künstler am Stein. Er ist ebenso eng an den Stoff des Lebens gebunden. Wie das vollendete Leben verändert das vollendete Kunstwerk seine Qualität. Der Künstler nimmt Abstand, Schlank und rein wie aus dem Nichts entsprungen Steht das Bild vor dem entzückten Blick.33 Der Abstand gibt den Blick frei. Das Bild, das sich ihm bietet, ist sein Bild, das nun als Entzücken auf ihn zurückwirkt. Das Geschöpf wirkt verwandelnd auf den Schöpfer zurück und befreit ihn von der menschlichen Bedürftigkeit. Er ist auf dem Olymp. Hier noch deutlicher als beim ersten Beispiel tritt der innere und notwendige Zusammenhang von Vollendung, Schönheit und Göttlichkeit hervor. Vollendung weist auf ein zeitliches Moment, sie muß sich aus der Sache selbst ergeben. Erst wo etwas von sich aus an sein Ende gekommen ist, kann es als Schein dem betrachtenden Blick antworten. Wir erinnern uns, daß auch der „Schein" in der zweiten Strophe zu einer Frucht gehört. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, die die Vergötterung dem Belieben des Menschen entzieht. Im Selbst steckt ein entelechisches Moment, das seine Erscheinung von einem Kairos abhängig macht, sei es ein individueller oder ein epochaler. Auf diesen zweiten Aspekt deutet das dritte Beispiel. Die „wenn"32 33

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Werke Bd 5, S. 3 3 1 Wie eng für Schiller der Künstler mit Pygmalion verwandt war, zeigen auch beiläufige Äußerungen: Mit nachahmendem Leben erfreuet der Bildner die Augen, Und von Dädal beseelt redet das fühlende Holz, („Der Spaziergang" V . 1 2 7 ) N A I, S. 263 A u f die Dichter bezogen: Jeder, als wäre ihm ein Sohn geboren, empfieng mit Entzücken, Was der Genius ihm, redend und bildend, erschuf. („Die Dichter", V . 9) ebd. S. 2 7 1

Strophe umschreibt das vom Christentum gelehrte Verhältnis von Mensch und Gott, die radikale Differenz. Der Mensch erfährt sich nur negativ in der Aussichtslosigkeit jedes Versuchs, Gott gleich zu leben und ein Heiliger zu sein. „Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen": Wenn sich das Verhältnis zu Gott als das von Schöpfer und Geschöpf darstellt, ist der „Abgrund" unüberbrückbar. Die Bildlichkeit der zweiten Strophenhälfte drückt die unendliche Differenz kosmisch aus. Die Zeile „Und kein Anker findet Grund" greift auf das Jugendgedicht „Die Gröse der Welt" zurück. Wiederum aber, was dort resignierte Einsicht ist, eröffnet nun gerade eine positive Alternative. Die Entdeckung, daß der Kosmos unendliche Leere sei, entzieht Gott die Basis in der Erfahrungswelt. Gott als Herr der Schöpfung erweist sich als Produkt menschlicher Spekulation. Damit kehrt sich das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf um, Gott ist im menschlichen Willen begründet. Darum steigt er herab von seinem Weltenthron. Er wird als der Menschheit Götterbild erkannt, an dem dem Menschen das Absolute in sich selbst aufgeht. Die Göttervorstellung, die das Gedicht an den Anfang stellt, sucht dieser Einsicht Rechnung zu tragen. Die Götter sind Bilder, an denen der Mensch als an eigenen Schöpfungen das ihm innewohnende göttliche Prinzip erkennt. Das vierte Strophenpaar zieht die Laokoon-Problematik bei. Wieder meinen wir einen Anklang an die Jugenddichtung herauszuhören. Die „heilige Sympathie" hatte in der Ode „An die Freude" zu den Sternen geleitet. Hier erliegt ihr das Unsterbliche im Menschen. Dieses wird nodi von ferne mit der Freude in Zusammenhang gebracht. Der Schmerz ist die Widerlegung des Gottesbeweises durch die Freude; denn in ihm führt der Affekt nicht über die Natur hinaus, sondern in sie zurück. Der Aufstieg durch die Freude wandelt sich im Schmerz in den der Empörung. Wiederum münzt die „aber"-Strophe die Widerlegung des Gottesbeweises in ein positives Argument um. Der vergangene Schmerz wird zum Spiegelbild der menschlichen Freiheit wie die dunkle Wolke zum Regenbogen. Und wiederum kommt der Wechsel der Perspektive auf dem Weg über das Auge zustande. Es ist auf jene Gesetzmäßigkeit angespielt, die der Wirkung des Trauerspiels zugrunde liegt, wie sie Schiller im Aufsatz „über das Pathetische" beschreibt. In allen vier Beispielfällen erkennen wir dasselbe Gesetz. Jedesmal wird ein vorliegender Weg, sich empirisch seiner selbst zu versichern, vorgestellt und an sein Ende geführt. Als vollendeter wird er zum ästhetischen Phänomen, das 95

nun indirekt dem Menschen seine ewige Freiheit zum Bewußtsein bringt. Diese Gesetzmäßigkeit bringt die Reihe der Beispiele dem Leser indirekt zum Bewußtsein. Im Mythos von der Apotheose des Herakles, in dem das Gedicht gipfelt, gewinnt sie selber Gestalt. Die vorletzte Strophe ruft die Heldentaten in Erinnerung, die Herakles berühmt machten, mit denen er sich stets aufs neue hatte behaupten müssen. Was immer er tat, vermochte ihn nicht davon zu befreien, des „Feigen Knecht" zu sein. In dieser Strophe sind die vier „wenn"-Strophen in eins zusammengefaßt. Nun tritt die Entelechie deutlich hervor, auf die wir aufmerksam geworden waren. Herakles bemüht sich solange vergeblich, „bis sein Lauf geendigt ist". Diese Ende lag weder in seinem noch seiner Gegnerin Belieben. Es ergab sich an einem geheimnisvoll festgesetzten Zeitpunkt. In der Wiederholung des „bis" wird die letzte Zeile der alten Strophe zur ersten der neuen. Das Ende des Laufs zieht die endgültige Vergötterung nach sich. Das durchlebte Leben wird zum „Traumbild". Das dreimalige „sinkt" läßt erkennen, daß Herakles abwärts gewendeten Blicks aufschwebt34. Dodi er gelangt in eine Höhe, wo er des Bildes nicht mehr bedarf. Er wird als Gott unter die Götter aufgenommen. Die Quelle für die Apotheose des Herakles sind Ovids „Metamorphosen". Aus ihnen hatte Schiller auch den Proserpina-Mythos und die Pygmalion-Fabel geschöpft. Die Schilderung des Olymp lehnt sich an die des goldenen Zeitalters an. Die Gesetzmäßigkeit, die im Tod des Herakles Gestalt gewinnt, ist die einer Metamorphose, nun aber eher im Sinne Goethes als Ovids. Es ist eine Metamorphose der Gotteserfahrung und damit Gottes selbst. Gott ist vom offenbaren zu demjenigen geworden, der mit dem menschlichen Selbst identisch und daher dem Menschen nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist. Diese Metamorphose korrespondiert somit der kopernikanischen Wendung Kants. Damit löst sich der Widerspruch, daß Schillers Gedicht einerseits Aufforderungen ausspricht, andrerseits aber den Moment des Umsprungs menschlicher Willkür entzieht. Das Gedicht versteht sich als Ausdruck eines Zeitpunktes, an dem individuelle und epochale Wende eins sind Es versucht selbst als ästhetische Gestalt dem Leser sein Selbst vor Augen zu stellen. Einen stiftenden Anspruch schrieb Schiller dem Gedicht zu, als er es Humboldt mit den Worten übersandte: „Wenn Sie diesen Brief erhalten, liebster Freund, so entfernen Sie alles, was profan ist, und lesen in geweihter Stille dieses Gedicht. Haben Sie es gelesen, so 54

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Darauf macht Staiger aufmerksam. A.a.O. S. 219

schließen Sie sidi mit der Li ein und lesen es ihr vor. Es tut mir leid, daß ich es nicht selbst kann . . . " (9. August 179J) 3 5 · In der Absonderung vom Leben sollte das Gedicht den Leser zum Gott in seinem Busen erheben, also jene Wirkung haben, die Schiller später in den Distichen „Der berufene Leser", „Die Belohnung" 86 beschrieb. Doch nirgends äußert sich so ausdrücklich wie im Brief an Humboldt die fast kultische Erwartung, die Schiller mit seinem Gedicht verband, daß es dem Einzelnen im Geheimen sein Selbst offenbare. Die historische Bedeutung von „Das Ideal und das Leben" w a r Schiller selbst deutlich. E r verstand sein Gedicht als Pendant zu dem Gedicht „Theodicee" von Uz 3 7 , das ihn in seiner Jugend außerordentlich beeindruckt hatte. U z gibt darin eine versifizierte und verkürzte D a r legung der Leibnizschen Theodicee, wobei er die Vorstellung eines A u f schwungs in die Höhe verwendet. Dem Blick von oben auf die Welt erhellen sich die „Risse" der Schöpfung: Die dicke Finsternis entweiche, Die aus dem Acheron, vom stygischen Gesträuche, Mit kaltem Grausen sich auf meinem Wege häuft, Wo stolzer Thoren Schwärm in wilder Irre läuft, Und auch der Weise furchtsam schreitet, Oft stille steht und oft gefährlich gleitet! Der Blick, der sich auftut, wird mit dem verglichen, der sich dem Wandersmann auf hohem Berge darbietet®8. Die Kardinalfrage der Theodicee, die Rechtfertigung des Obels, wird dadurch gelöst, daß die ss 39 87

88

Briefwechsel Schiller/Humboldt. Bd 1, S. 80 Ν Α I, S. 303 J . P. Uz, Sämmtliche poetische Werke, Karlsruhe: G. C. G. Schmieder 2. A. 1776. S. 182. — Der Hinweis auf Schillers Berufung auf Uz bei Buchwald, Schiller I, S. 176 Der Blick von der Höhe ins Tal ist im 18. Jahrhundert ein beliebtes Motiv. Beispiele dafür bieten Haller, Uz, Brockes, Garve, K. Ph. Moritz etc. Dieser Niederblick steht in enger Verbindung mit dem Gedanken der Theodicee. Von oben wird das sukzessiv Durchlaufene simultan und macht seine verborgene Einheit und Gesetzmäßigkeit offenbar. Für Garve gleicht diese Sammlung des Verstreuten einem Kunstwerk („Über einige Schönheiten der Gebirgsgegenden"). Vgl. dazu August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts (Rahmenschau und Rationalismus). Diss. Köln 1932. Jena: Diederidis 1934. — Wichtig ist in diesem Zusammenhang audi Richard Weiss, Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Zürich 1933. (Wege zur Dichtung X V I I ) 97

7 Pestalozzi, Lyrisches Idi

Welt als Teil des unendlidien Kosmos gesehen wird, der nicht aus sich allein verstanden werden könne. Entsprechend kann auch der Mensch nicht nur nach seiner irdischen Un Vollkommenheit beurteilt werden: Mein Schicksal wird nur angefangen, Hier, wo das Leben mir in Dämmrung aufgegangen: Mein Geist bereitet sich zu lichtem Tagen vor, Und murrt nicht wider den, der mich zum Staub erkohr, Mich aber auch im Staube liebet, Und höhern Rang nicht weigert, nur verschiebet. Man glaubt manche Züge aus Uzens Gedicht in „Das Ideal und das Leben" wiederzuerkennen. Staiger hat darauf hingewiesen, daß auch darin der Standort des Betrachters, dem die Welt als Unterwelt erscheint, in der Höhe liegt. Wir haben gesehen, daß es sich zwischen den „wenn"- und den „aber"-Strophen jedesmal um eine Öffnung des Blicks handelt. Aus der Distanz erhält das Betrachtete nun aber nicht mehr im Hinblick auf die Vernunft Gottes seine Rechtfertigung. An Gottes Stelle ist die Freiheit, die das innerste Selbst des Menschen ausmacht, getreten. Die Unvollkommenheit erhält keine räumlich oder zeitliche Ergänzung, in ihr selbst liegt verborgen, was sie rechtfertigt. Die Bewegung hinauf ist zugleich eine ins Innere. Das kommt in der Paradoxie des Aufwärtsfließens des Herakles®8 zum Ausdruck. Doch nicht allem Menschlichen wird diese Rechtfertigung zuteil, sondern nur den Bemühungen, die aus den Schranken der Endlichkeit hinausstreben. Es sind jene Zustände, die Schiller im vierundzwanzigsten „Brief" als „vernünftige Tierheit" bezeichnete, in denen sich das dem Menschen innewohnende Absolute in der Sinnlichkeit und damit auf noch unangemessene Weise manifestiert. Die Anthropodicee Schillers verurteilt und rechtfertigt in einem. Sie richtet sich auf geschichtliche Phasen des Einzelnen und der Menschheit. "

98

Schiller nimmt mit dieser „im Bereich der deutschen Klassik beispiellosen Wendung" (Staiger) jenen Vergleich auf, den Beatrice für Dantes Aufstieg im „Paradiso" verwendet. „Non dei più ammirar, se bene stimo, Lo tuo salir, se non come d'un rivo Se d'alto monte scende giuso ad imo." Daß du emporsteigst, darf dich, mödit ich glauben, Nicht mehr verwundern als der Lauf des Bächleins, Der talwärts fließt von einem hohen Berge. (Par. I, 1 3 6 f.)

Die ästhetische Reflexion entdeckt darin ihr eigenes Prinzip und verwendet sie als StofF für dessen Sichtbarmachung. Die vier „wenn-aber"-Strophenpaare können als Phasen einer historischen Abfolge verstanden werden. Wir haben gesehen, daß sie sidi audi auf Schillers individuelle Entwicklung beziehen lassen. Sie gleichen den Heldentaten, die Herakles' Vergötterung vorausgehen. Andrerseits aber werden sie durch die Reihung einander gleichgeordnet. Hierin zeigt sich eine Grundproblematik Schillers. Seine Begriffe sind durchgehend auf geschichtsphilosophischem Weg deduziert. Er versucht mit ihnen, eine gegenüber der Antike veränderte geistige Situation zu erfassen. Zugleich aber baut er aus ihnen ein System gleichzeitiger Möglichkeiten, die allgemein Geltung haben. Darauf beruht sein Klassizismus und sein Hang zur antiken Mythologie. In der Abhandlung „Über naive und sentimentalisdie Dichtung" scheint es die Ausstrahlung Goethes zu sein, die einer allgemeinen Bestimmung der Gegenwart als sentimentalisch im Wege stand. Auch „Das Ideal und das Leben" nimmt eher auf individuelle als auf historische Differenzen Rücksicht. Schiller verstand sein Gedicht auch als Grundlegung einer ars poetica, welche Regeln für sentimentalisdie dichterische Gestaltungen enthielt. Die Abhandlung „Über naive und sentimentalisdie Dichtung", die kurz darnach entstand, konkretisierte diese. Schiller faßte den Plan, selbst in einer Dichtung das Ideal direkt anschaubar zu machen. Diese „Idylle" sollte an die Apotheose des Herakles anschließen und die Vermählung des Herakles mit der Hebe behandeln. Schiller entwickelte Humboldt den Plan und fügte hinzu: „Denken Sie sich aber den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen — keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen. — Mir schwindelt ordentlich, wenn ich an diese Aufgabe — wenn ich an die Möglichkeit ihrer Auflösung denke. Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse!" (30. N o v . 1795) 40 . Was er unter „Idylle" verstand, hatte Schiller in seiner poetologischen Abhandlung dargelegt. Im Brief an Humboldt setzte er sie von der hohen Komödie ab. Diese war ihm eine satirische Gattung, sie evozierte das Ideal indirekt durch die Darstellung der ihr entgegengesetzten Wirklichkeit, das Licht durch den Schatten, die Freiheit durch die Schranken, mit den Worten des Briefes gesprochen. Die Idylle dagegen sollte das Ideal unmittelbar zeigen. Das mytho40

Briefwechsel Schiller-Humboldt Bd 1, S. 243

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logische Kostüm brauchte sie nur, um das Ideal als Menschliches zu kennzeichnen, in dem sich Unsterbliches und Sterbliches, Mann und Frau, Ruhe und Bewegung, Aktivität und Empfänglichkeit vermählen. In dünnster Hülle wäre damit das Absolute offenbar geworden. Die emphatische Unruhe, die Schillers Brief an Humboldt durchgeistert, ist der eines Propheten ähnlich, der Gott nahen fühlt, den in den menschlichen Willen aufgenommenen und damit völlig und endgültig inkarnierten Gott. Mit der Idylle, wäre sie das geworden, was Schiller von ihr erhoffte, wäre der archimedische Punkt gefunden gewesen, von dem aus ein dem abgebauten theologischen Weltaufriß entsprechender anthropologischer hätte dichterisch errichtet werden können nach dem Modell, das die „Ode an die Freude" auf einer früheren Stufe skizziert hatte. Schiller vermochte diese Aufgabe nicht zu lösen. Aber er hinterließ sie dem neuen Jahrhundert. In der Theorie der Frühromantiker wurde sie zum Zentrum. In der lyrischen Praxis jedoch wurde sie erst dann allgemein, als Goethes Einfluß nachzulassen begann, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Aufstieg- und Aufschwunggedichte, die wir im folgenden betrachten, sind Dokumente dieser Problematik. Sie stellen Versuche dar, den Weg zur Lösung der von Schiller gestellten Aufgabe zu bahnen. Schiller verstehen wir hier als Gegenpol zu Dante innerhalb der deutschen Literatur. Jene Destruktion des Danteschen Kosmos, deren Beginn wir uns Petrarca und Giordano Bruno vergegenwärtigt hatten, war zunächst von der Barocklyrik in Deutschland zwar von Einzelnen gespürt, aber nicht allgemein realisiert worden. Insofern war audi der protestantische Barock gegenreformatorisdi. Erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts drangen die Konsequenzen ins Bewußtsein, und Schiller, wie kaum ein anderer, ergriff die Aufforderung zur „Grossheit", die Goethe darin erkannte, als er im historischen Teil der Farbenlehre in einer „Zwischenbetrachtung" diesen Zusammenhang umriß: „Doch unter allen Entdeckungen und Ueberzeugungen möchte nichts eine grössere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben, als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine grössere Forderung an die Menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Ueberzeugung eines poetisch-religiösen 100

Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, z u einer bisher unbekannten, ja ungeahneten Denkfreiheit und Grossheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte." 41

Goethe, Die Sdiriften zur Naturwissenschaft, hrsg. im Auftrage der deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. i. Abt. Texte Bd 6. Weimar: Böhlau 1957. S. 133 101

Excelsior!" Henry Wadsworth L o n g f e l l o w , The Works, ed. Samuel Longfellow, 14 vols., Boston/New York 1886 Gottfried K e l l e r , Sämtliche Werke, hrsg. von Jonas Frankel und Carl Helbling, Bern: Benteli 1926 ff. Gottfried K e l l e r , Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling. Bern: Benteli 19JO ff. Theodor F o n t a n e , Sämtliche Werke, hrsg. von Edgar Gross. München: Nymphenburger 1959 ff. Friedrich N i e t z s c h e , Werke hrsg. von Karl Sdilechta. München: Hanser 1956

Die Vorstudien suchten an repräsentativen Beispielen die Tradition zu vergegenwärtigen, zu welcher die Gedichte, die im folgenden interpretiert werden, ihrer Motivik nach gehören. Will man die Lage dieser Gedichte genau bestimmen, muß nun, nach der diachronischen, audi eine synchrone Koordinate gezogen werden. Es ist zu untersuchen, wie sich Schillers Frage „Führt kein Weg hinauf zu jenen Höhen?" für das spätere 19. Jahrhundert stellte. Diesen zeitgeschichtlichen Kontext auszumachen, bringt jedoch methodische Schwierigkeiten mit sich. Er bildet nicht nur den Kähmen, sondern wird durch die Gedichte selbst repräsentiert. Die Frage läßt sich nicht von den Antworten lösen, die sie geben, ja Nietzsche und Mallarmé ζ. Β. verhelfen der Problematik erst zur fundierten Formulierung. Die allgemeine Zeitstimmung zu charakterisieren, sei daher ein triviales Gedicht beigezogen, Longfellows „Excelsior". Es bietet sich an wegen der literarischen Herkunft aus der deutschen Klassik und Romantik, vor allem aber aufgrund seiner außerordentlichen Verbreitung in der fraglichen Zeit. Es fand im allgemeinen Bewußtsein und bei den hervorragenden Geistern der Epoche eine so große Resonanz, daß die Annahme berechtigt scheint, es habe an eine latente Problematik gerührt. Es kann als Kristallisationspunkt ohne größeres Eigengewicht gelten und 102

in unserem Zusammenhang als Zugang zur Problemlage im späteren 19. Jahrhundert dienen. As through an Alpine village passed T H E shades of night were falling fast, A youth, wo bore, 'mid snow and ice, A banner with the strange device, Excelsior! His brow was sad; his eye beneath, Flashed like a falchion from its sheath, And like a silver clarion rung The accents of that unknown tongue, Excelsior! In happy homes he saw the light Of household fires gleam warm and bright; Above, the spectral glaciers shone, And from his lips escaped a groan, Excelsior! "Try not the Pass!" the old man said; "Dark lowers the tempest overhead, The roaring torrent is deep and wide!" And loud that clarion voice replied, Excelsior! "Oh stay", the maiden said, "and rest Thy weary head upon this breast!" A tear stood in his bright blue eye, But still he answered, with a sigh, Excelsior! "Beware the pine-tree's withered branch! Beware the awful avalanche!" This was the peasant's last Good-night, A voice replied, far up the height, Excelsior! At break of day, as heavenward The pious monks of saint Bernard Uttered the oft-repeated prayer, A voice cried through the startled air, Excelsior! A traveller, by the faithful bound, Half-buried in the snow was found, 103

Still grasping in his hand of ice That banner with the strange device, Excelsior! There in the twilight cold and gray, Lifeless, but beautiful, he lay, And from the sky, serene and far, A voice fell, like a falling star, Excelsior! 1 Das Gedicht entstand 1841 in Amerika2. Henry Wadsworth Longfellow (1807—1882), der populärste amerikanische Dichter im 19. Jahrhundert, hatte damals zwei Europaaufenthalte hinter sich, in denen er sich mit Kultur und Literatur der alten Welt vertraut gemacht hatte. Längere Zeit war er in Heidelberg gewesen (1835), wo er mit der deutschen Romantik in Berührung gekommen war, die ihm großen Eindruck machte. Den Roman, in den er die Früchte seiner Begegnung mit Deutschland einbrachte, hatte er „Hyperion" genannt. Auch „Excelsior" enthält viele Reminiszenzen an die deutsche Literatur der Goethezeit. Es ist ein Musterbeispiel dafür, daß, je freier die Einbildungskraft zu walten sdieint, sie umso stärker an Vorgegebenes und Vorgeformtes gebunden ist. Die Hodigebirgskulisse war seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zum topos geworden, den man im Gegensatz zum „locus amoenus" als „locus terribilis" definiert hat8. Matthissons Gedicht „Der Alpenwanderer" ist darin ein unverkennbarer Vorläufer von „Excelsior". Schiller verwandte in seinem „Berglied" 4 formelhaft die einzelnen Momente, Sturm, Gießbach, Gletscher, Lawine. Auch das Motiv von kaltem Glanz begegnet dort. Die Lokalität des großen St. Bernhard spielt beiläufig bei Jean Paul und in den „Nachtwachen des Bonaventura" eine Rolle. Im „Hospiz auf dem grossen St. Bernhard" der Annette von Droste steht sie im Zentrum5. Longfellows überraschend 1

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Longfellow, Works I, S. 7 9 — 8 2 . — Deutsche Übersetzung von Freiligrath: Ferdinand Freiligrath, Werke. Berlin/Leipzig o. J . Bd 7, S. 86 Longfellow, Works I, S. 79 Vgl. Wolfgang Martens, Bild und Motiv im Weltschmerz. Studien zur Diditunig Lenaus. Köln/Graz: Böhlau 1 9 5 7 (Natur und Leben N . F . 4). S. 7 1 . Diese Arbeit enthält ferner wichtiges Motivmaterial für die hier übersprungene erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schiller, Werke I, S. 4 1 6 Jean Paul, „Titan", 10. Jobelperiode; Die „Nachtwachen des Bonaventura", 5. Nachtwache. Die Droste kannte offensichtlich den Großen St. Bernhard nur aus der Literatur.

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detailliertes Bild des geborstenen Baumes stammt aus dem Motivarsenal des Weltschmerz®. Audi formal steht das Gedicht in der Nachfolge der Goethezeit. Goethes und Schillers Ideenballade standen ihm Pate. Der Stationenweg des Jünglings gleicht von ferne dem des Möros in der „Bürgschaft". Der jugendliche Bergsteiger kommt jedoch bereits in der Emblematik vor 7 . Und der Emblematik nähert sich das Gedicht wieder an durch seine Tendenz zum bedeutsamen Bild. Die Devise „Excelsior", die Longfellow aus dem N e w Yorker Wappen mit der aufgehenden Sonne genommen hatte8, erhielt im aufsteigenden Jüngling eine neue pictura. Audi an weiteren Einzelheiten ließe sich der second-hand-Charakter des Gedichtes nachweisen. Einzig die beiden Schlußstrophen sdieinen etwas origineller zu sein. Doch entlockte gerade die Schlußwendung des Gedichts dem Verfasser den berechtigten Seufzer: „ O f a truth, one cannot strike a spade into the soil of Parnassus, without disturbing the bones of some dead poet."' So sehr das Epigonale den ästhetischen Wert des Gedichtes mindert, der hier damit verfolgten Absicht kommt es entgegen. Gerade weil es nicht eigentlich originell ist, eignet es sich als Dokument des allgemeinen Zeitgeistes10. « Martens, a.a.O. S. 68 7 Emblemata Sp. 98$—987 » A.a.O. S. 80 10 Die Popularität des Gedichts soll eine kurze Chronologie der Belege zeigen: 1841 Entstehung von „Excelisor". 1846 Deutsche Übersetzung von Freiligrath. 1871 Motto aus „Exc." über Fontanes „Peter d'Amiens". 1876 Nietzsche lernt das Gedicht kennen. 1878 in Boston erscheint eine von 7 verschiedenen Künstlern illustrierte Einzelausgabe. Anspielung Nietzsches in einem Brief an Seydlitz (vgl. Anm. 43). 1881 Henry James läßt in seinem Roman „Washington Square" den wenig gebildeten Arthur Townsend im Gespräch mit Catherine Sloper Exc. erwähnen zur Illustration seines Fortschrittstrebens. (Kp. V). 1882/83 Briefwechsel zwischen Keller und Heyse über Exc. als möglichen Namen des späteren Martin Salander. 1884 Anspielung in Fontanes „Cécile". 1887 Nietzsches Aphorismus „Exc." in der „Fröhlichen Wissenschaft". 189$ Aufnahme in die J.Auflage von Meyers Konversationslexikon: „Excelsior (lat. Komparativ von excelsus, »erhaben'), besonders ausgezeichnet, von hervorragender Güte; auch als Motto (,höher hinauf') und reklamehaft für Gegenstände der Industrie etc. gebraucht." 1897 Anspielungen in Fontanes „Stechlin". 1909 Georg Frh. von Ompteda, Excelsior, Ein Bergsteigerleben. 1910 Das Ende von Gerhart Hauptmanns Narr in Christo Emanuel Quint auf dem Gotthard Zentralmassiv imitiert unverkennbar „Excelsior". 1919 Max Kalbeck in den Anmerkungen des Briefwechsels Heyse/Keller: „Seitdem die Geschäftsreklame das Fremdwort aufgegriffen, um es zur Schutzmarke aller möglichen Mittel und Unternehmun105

Schon Gottfried Keller nahm es dafür. Als er sich 1881 daran machte, einen kritischen Roman über die zeitgenössische Gegenwart zu konzipieren, den späteren „Martin Salander", wählte er „Excelsior, Longfellowsdien angedenkens" 11 als Arbeitstitel. In den Notizen ist Excelsior sowohl Name der Hauptfigur wie Werktitel. Er schrieb darüber an Heyse: „Ich denke jetzt wieder mehr an mein Romänchen, worin alles im guten und schlimmen Sinne aufwärts strebt, und das mit einer wirklichen Bergfahrt vieler Menschen kataströphlich abschließen soll.**" Was unter „gut" und „schlimm" zu verstehen ist, geht aus der ersten Notiz hervor: „Wir haben Sehnsucht nach oben, nach Licht und Ruhe: aber nicht der erfüllten Pflicht und des befriedigten Gewissens, nach dem Licht der Ordnung, sondern nadi dem Glänze der befriedigten Selbstsucht des Ehrgeizes und der Ruhe des Genießens." 13 Keller akzeptierte die Topographie des Gedichts und den Zug zur Höhe. Sie berührten sich eng mit der seines „Apotheker von Chamonix". Seine Kritik galt hier wie dort den Wegen des Aufstiegs. Pflicht, Gewissen, Ordnung waren ihm die rediten. Sie setzten das Ich in eine Wechselbeziehung zur Gemeinschaft, der es angehörte. Sein Wert war nicht in seine eigene Hand gegeben. An die Gemeinschaft, die staatliche und die familiäre, war die Mittlerfunktion der Kirche übergegangen. Das Gegenprinzip, das Keller allerorten wirksam sah, war das der Selbstsucht. In den Notizen zum „Salander" heißt es „ein dumpfer Idealismus des Glaubens und Handelns" 14 . Dies eben waren die fragwürdigen Qualitäten, die neben den positiven im Namen „Excelsior" zum Ausdruck kommen sollten. Heyse riet jedoch von diesem Titel ab, u. a. deshalb, weil er in Longfellows Gedicht von jeher „eine Attrape" gesehen habe, „die uns Schritt vor Schritt, Strophe für Strophe auf irgendeinen Inhalt, ein Erreichtes, eine Aussicht vom Berggipfel spannt und zuletzt mit langen Gesichtern stehen läßt, da die Moral der Geschichte darin zu bestehen sdieint, daß es auf das Klimmen und Klettern als solches ankomme, gen zu machen, verlor Exzelsior den Rest seiner ethischen-und poetischen Würde, und der deutsche V o l k s w i t z gab ihm sein ,Höcher, Peter!' auf den W e g mit." (S. 3 1 5 ) — D i e einstige Popularität v o n Excelsior bezeugen heute noch die zahllosen Hotels dieses Namens. V g l . audi Meinrad Inglins R o m a n „Grandhotel Excelsior". ( 1 9 2 8 ) — Beim Zusammentragen dieser Belege w a r mir H e r r D r . Friedrich Rothe dankenswerterweise behilflich. 11

Keller an H e y s e am 2 5 . D e z . 1 8 8 2 . Keller, Briefe Bd. I I I / i , S . 86

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Keller, W e r k e B d X I I ,

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A . a . O . S. 4 J 2

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A . a . O . S. 4 3 7

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S.413

was mit geringerem lyrisch-pathetischen Aufwand audi zu sagen war" 18 . Keller ließ sich jedoch vor allem vom Hinweis überzeugen, ein solcher Titel wäre nach Auerbachs Geschmack gewesen. Heyses Charakterisierung des Gedichts kam seiner Absicht eher entgegen: „Es handelt sich allerdings, wie bei Longfellow, um ein allgemeines Klettern und Klimmen an sidi, wobei wenigstens einer mit den Seinen in die reinere Luft kommt; es sollte ein etwas ernstes Ding werden, wo idi midi womöglidi selbst etwas rühre, was freilich Mäuse kosten würde (,s koscht Mäus'! heisst's alemannisch)."16 Mit der letzten Bemerkung nannte sich Keller indirekt einen Excelsior-Mann. Sein „Klettern und Klimmen", die Arbeit an seinem „Romändien" wurde ihm denn auch sauer genug. Mit ihr verließ er jenen Weg, der ihn zum Dichter seines Volkes gemacht hatte, um gegen dieses zu schreiben. Indem er so aus der Negation der Gegenwart eine bessere Zukunft zu gewinnen suchte, folgte er wie von ungefähr den Spuren des Longfellowschen Gedichtes. Indirekt bestätigt er damit dessen repräsentative Bedeutung für die Epoche. Worin besteht die Eigenart des „Excelsior"-Aufstiegs? Zur Gesetzmäßigkeit des Motivs, die sich an den angeführten Beispielen herausgestellt hat, gehört wesentlich, daß der Aufstieg in der Gegenrichtung zu einem Fall stattfindet und diesen damit rückgängig macht oder mindestens außer Kraft setzt. Gleich in der ersten Zeile von „Excelsior" erscheint „falling". Es kehrt in der Schlußzeile doppelt wieder. Audi die Warnungen des alten Mannes und des Bauern enthalten Vorstellungen des Falls. Gemeint ist der Fall, der von der Schwerkraft an aller Materie bewirkt wird. Der Jüngling emanzipiert sich aufsteigend von einem universalen Naturgesetz. Auch das Bergdorf, das ihn einlädt, steht unter der Drohung des vernichtenden Falls. Es stellt ein Refugium dagegen dar mit stillem Glück und Liebe. Geistesgesdiiditlich gesehen ist es eine Weltschmerzidylle, die aus dem Bewußtsein naturgegebener Hinfälligkeit ein resigniertes Glücksgefühl zieht; darauf deutet das Alternieren von Einladung und Warnung. Im Gedicht repräsentiert allein dieses Dorf mensdilidie Gemeinschaft. Deren Möglichkeit wird damit reduziert auf Weltabgeschlossenheit und passive Liebe. Den Jüngling hatte Longfellow ursprünglich, wie die Entwürfe zeigen, ebenfalls weich und sdiwärmerisdi konzipiert17, in der Endgestalt ist er von starker Männ15 16 17

Heyse an Keller am i. Januar 1883. Keller, Briefe a.a.O. S. 86 Keller an Heyse am 8. Januar 1883. Ebd. S. 87 f . Longfellow a.a.O. S. 31 j f.

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lichkeit. Er emanzipiert sich audi von aller menschlichen Gemeinsamkeit. Seine Individuation treibt ihn aus der Gesetzmäßigkeit der Natur und dem Verband der Menschen heraus in die völlige Einsamkeit. Damit erhebt sich die Frage nach dem Motor seines Aufstiegs, und zwar um so dringender, als er nicht einfach ein aus sich selbst heraus starker Mann ist. Schon die erste Strophe bringt in der physiognomisdien Beschreibung eine gewisse Zwiespältigkeit zum Ausdruck. Sie zeigt sich auch im Seufzen und Stöhnen, die andeuten, daß ihn seine Ablehnung von Glück und Liebe einige Selbstüberwindung kostet. Die Fahne und die Vergleiche von gezogenem Schwert und Trompete erwecken den Eindruck, er unterstehe einem militärischen Kommando, das seinen Aufstieg vorschreibe. Offensichtlich aber ist er Befehlsempfänger und Befehlshaber in einer Person. Der Imperativ „Excelsior!" geht von ihm aus und ist ihm zugleich, in der Fahne, äußerlich. Da in der zweiten Strophe gesagt wird, die Sprache des Jünglings sei für die Bergler unbekannt, scheint sich „stränge" in der ersten auf das Verhältnis des Jünglings selbst zu seinem Befehl zu beziehen. Dieser ist sein eigener und ihm doch fremd. „Excelsior" als Fremdwort deutlich zu machen, scheint der formale Grundeinfall des Gedichts zu sein. Es ist lateinisch im englischen Kontext, eine Waise im Reimschema und als Refrain von der Strophe abgesetzt. Dabei ist nicht ohne Ironie, daß Longfellow selbst seine grammatische Form verkannte; er hielt es für ein Adverb 18 . Das Fremdwort „Excelsior" ist die Energiequelle für den Aufstieg. Indem der Jüngling es wie ein Zauberwort den Situationen, in die er kommt, entgegenspricht, macht es seine Gewalt auf ihn geltend. Es entfremdet ihn der momentanen Umwelt. Bezeichnenderweise wirkt diese Selbstsuggestion auf akustischem Wege. So kommt sie ohne Medium aus. Die Stimme ist in den meisten Strophen grammatisches Subjekt. Sie hat sich verselbständigt. Oft ist von ihr nicht mehr als der des Jünglings die Rede. Das Wort entwickelt seine Dynamik als absoluter Komperativ. Es ist ein Verhältniswort und negiert jeweils das Vorliegende im Hinblick auf einen höheren Grad. Entsprechend der traditionellen Vertikalmetaphorik ist das Höhere das Bessere. Die Negation geschieht im Namen eines höchsten Wertes. Dieser ist in der dritten Strophe mit den Gletschern in Analogie gesetzt. Der Gegensatz zum Feuer, in den die Gletscher gestellt werden, erhellt ihre Bedeutung. Sie sind eine Lichtquelle in der Nacht, vertreten die Sonne. Aber anders als Sonne und le

A.a.O. S. 80

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Mond gehören sie der Erde selbst an als deren höchste Region. Ihr Licht ist verbunden mit Kälte, in der alles Leben erstorben ist. Das ist mit dem Beiwort „spectral" ausgedrückt. Die Gletscher bilden eine Todeszone. Der Jüngling, der zu ihnen hinauf strebt, geht seinem Tod entgegen. Jedes „Excelsior" ist das Signal für ihn, in einem Teil zu sterben nach jenem Wort von Harancourt „partir, c'est mourir un peu". Folgerichtig wird auch sein eigenes Leben schließlich aufgezehrt. In den Entwürfen erscheint der Jüngling als einer, der unter seinem Schicksal leidet. Das letzte, was man von ihm hören sollte, wäre „a voice of w o e " 1 ' gewesen. Noch in der endgültigen Version überwiegt an seinem Unternehmen das Vernichtende. Verständlich wird jedoch der unentwegte Drang zur Selbstvernichtung nur vom Gewinn her, den sie verspricht. Dieser war offensichtlich für Longfellow in der Topographie genügend impliziert, so daß er ihn nicht nodi ausdrücklich meinte aussprechen zu müssen. Aus dem Gegensatz zur Hinfälligkeit und zur Gemeinschaft ergibt sich, daß der Jüngling das Dauernde in sich sucht, mithin sein Selbst. In einer Notiz spricht Longfellow von seiner Unsterblichkeit™. Die Gletscher sind jenseits der Zeit. Der Kälte-Tod, den sie bringen, löst den Körper nicht auf, sondern mumifiziert ihn. „Lifeless, but beautiful" heißt der Leichnam des Jünglings. Die Schönheit macht die erreichte Übereinstimmung mit sich selbst sichtbar. „Excelsior!" ist somit der Befehl, zu sich selbst zu kommen. Der Jüngling hat kein Selbst, er ist unterwegs dahin. Wie aber im Weg das Ziel in jedem Moment enthalten ist, kommt ihm aus dem konsequenten Zug zu sich selbst schon im Leben Identität zu. Sie ergibt sich aus dem Befehl, den er sich gibt, und zwar durch die gewollte Wiederkehr des Gleichen in den verschiedenen Situationen. Das Befehlswort bewirkt, daß er um der Konsequenz willen sich nicht auf die Situationen einläßt. Er gewinnt aus dem militärischen Grundsatz „Befehl ist Befehl" ein Selbst. Erstarrung ist seine angemessene Todesart. Im treuen Hund findet ihn sein Gegenstück, das durch Instinkt konsequente Tier. Der Jüngling stellt somit einen Menschen dar, der durch die Ausrichtung auf ein Ideal seinem Dasein Einheit und sich das gibt, was man im späteren 19. Jahrhundert „Charakter" nannte. Das Gedicht nennt kein bestimmtes Ideal. Das Leitwort „Excelsior" faßt im Moment des Transzendierens das Prinzipielle des Verhältnisses von Ideal und Leben. Der ideale Transzendierungswille kann daher auch im Tod des Jünglings » A.a.O. S. 318 *· A.a.O. S. 80 109

nicht zum Stillstand kommen. E r setzt sich f o r t in der Stimme, die wie ein Stern durch den Kosmos fällt. Mit dieser Schlußstrophe scheint ausgedrückt, daß der konsequente Wille dem leeren Himmel einen neuen Wert zuführen kann. Wie der R u f „Excelsior" dem Jüngling zu einem Selbst verhalf, so wird er nun durch dessen Beispiel allgemein und kann audi andere Menschen zum Heil führen. Die Strophe klingt an die biblische Stelle an, wie bei der T a u f e im J o r d a n eine Stimme von oben Christus zum Sohn Gottes erklärt. (Matth. 3 , 1 6 , 1 7 etc.) Sein Aufstieg steht in Analogie zum Kreuzesweg 2 1 . D a s Gedicht erklärt mit seinem Schluß den Excelsior-Jüngling zum neuen Heiland der Welt. Theodor Fontane wählte die letzten drei Zeilen des Gedichts in Freiligraths Übersetzung als Motto f ü r einen Abschnitt seines Reiseberichts aus dem besiegten Frankreich. Die Überlegungen, die er darin im A n schluß an das Standbild Peters von Amiens machte, können als zeitgenössischer Kommentar von Longfellows Gedicht gelten: „Sie gipfelten in dem Satz: dieses schöne, bevorzugte, verfallene Land, wenn es wieder empor will aus diesem V e r f a l l , bedarf es dessen, was dieses Eremitenbildnis repräsentiert, bedarf es der selbstlosen Hingabe an eine große Idee. A n die Stelle eitler Erregung muß wieder ein echter Enthusiasmus treten, eine Begeisterung, die hebt und heiligt, statt lächerlich macht, die gibt, statt bloß zu nehmen, und die mit dem Satz bricht, daß das Sparkassenbuch das Buch aller Bücher i s t . . . Es ist nicht nötig, daß diese Wiedergeburt (wenn sie erfolgt) unmittelbar aus einer der bestehenden Glaubensformen heraus erfolgen muß, es ist nicht nötig, daß aus der K a puze hervor das erlösende Wort gesprochen wird, aber irgendein „Dieu le veut" muß es sein, und so kann denn, wenigstens mittelbar, das Heil nur aus der Kirche kommen, weil ihr allein noch, weit über alle Glaubenssätze und ihren Tagesstreit hinaus, die Lebenssätze angehören, die das Heil umschließen. In dem Heilig-Überlieferten allein noch (oder doch fast allein noch) gedeiht jene klaräugige Weisheit, die auch in den Dingen dieser Welt vom Falschen, das Glückbringende vom Unglückbringenden zu scheiden weiß. Die französische Nation aber, als ein G a n zes genommen, setzt ihr Heil in das Moderne, in das Hohle und Trügerische und in die Anrufung der in den natürlichen Dingen verborgenen Dämonen. D a steckt's. Irgend etwas, das jenseits der natürlichen Dinge liegt, muß an die Stelle des Diesseitigen treten, gar ein im Licht gebo-

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Die Verbindung von Kreuzesweg und Bergbesteigung schon bei Dante. Vgl. auch Emblemata Sp. 987

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renes Geistiges an die Stelle des Erdgeistes oder gar des Geistes der Finsternis. Noch einmal: das Ideale ist es, was not tut! „Und wenn alles, was die kommenden Jahre brächten, nur Pflicht, Gehorsam, Demut hieße, wenn es, statt der Flamme, die heiligt, nur eben ihr Widerschein wäre, der bloß irdisch verklärt, wenn nichts erreicht würde als das Bekenntnis des Unrechts und der Sünde, so hätte die Wiedergeburt begonnen." 28 Tagespolitische Ausfälligkeit und epochales Bewußtsein ergeben in diesem Text eine etwas merkwürdige Mischung. Hier interessiert an dieser Predigt an das besiegte Frankreich nur das zweite; erst die späteren Romane Fontanes zeigen, daß er sich und sein Land davon nicht ausnahm. Wiedergeburt meint das Aufkommen einer neuen Zeit. Sie hat für Fontane eine allgemeine und eine individuelle Seite. Er erwartete die Ablösung der kirchlich-dogmatischen Hierarchie der Werte durch eine neue, die sie verwandelt fortsetzt. Auch sie soll in einem „Dieu le veut" ihren archimedischen Punkt haben, also in einer Transzendenz. N u r dann kann sie allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen. Die Problematik liegt darin, daß mit „irgend etwas das jenseits der natürlichen Dinge liegt" dieses neue Jenseits nur vage umschrieben ist. Wie kann es zu einer neuen Offenbarung Gottes vom Menschen aus kommen? Gerade wenn sie Produkt des menschlichen Willens wäre, verlöre sie ihre Legitimation. Fontane nennt das ausstehende summum bonum „das Ideale". Er scheint an Schillers Begriff anzuschließen. Doch Fontane denkt nicht an die Freiheit der Vernunft in jedem Individuum, sondern an deren Objektivierung in einem allgemeinen positiven Wert, der den Umweg über die Kunst, den Schiller empfohlen hatte, überflüssig machte. Diese neue Religion konnte per definitionem nur erwartet, nicht gestiftet werden. „Wiedergeburt" wird daher von Fontane auch in einem an den Pietismus erinnernden individuellen Sinn gebraucht. Die pietistische Bekehrung wurde durch Bekenntnis des Unrechts und der Sünde eingeleitet, auf die dann durch die Berührung der Gnade der Umschlag in die Freude folgte. Bei Fontane wird aus diesem post hoc ein propter hoc in der Weise, daß das Sündenbekenntnis, ergänzt durch Pflichterfüllung und Demut, die Gnade Gottes herbeizieht. Aus dem Widerschein soll die Flamme werden, aus der Übung von Tugend und Bekenntnis das 12

„Aus den Tagen der Okkupation", Fontane, Werke Bd X V I , S. 280. — Den Hinweis auf die Fontane-Stellen verdanke ich Herrn Dr. phil. habil. HansHeinridi Reuter, Weimar. III

Ideal. Daraus folgt, daß für die Zeit der religiösen Vakanz diese Hai; tungen an die Stelle der bisherigen Religion und des künftigen Ideals treten. Diesen Zusammenhang sah Fontane offensichtlich in „Excelsior" gestaltet. Er faßte das Gedicht nicht so sehr anthropologisch als geschiditstheologisch auf. Der Jüngling erzwang durch seine fanatische Pflichterfüllung eine neuerliche Oifenbarung Gottes. Der späte Fontane zeichnete eine Excelsior-Gestalt in Pastor Lorenzen seines „Stechlin". Lorenzen ist zwar Pastor der offiziellen Kirche, aber, und das gerade nimmt den alten Dubslav für ihn ein, er dient ihr auf eine eigene undogmatische, ja schwärmerische Weise. Seine Religion ist eine Religion der Zukunft, deren Ideale demokratisch-sozialistisch getönt sind, ohne daß doch eine konkrete politische Bewegung sich mit ihr deckte. Sein Zögling Woldemar sagt von ihm: „ . . . als einen Aeronauten kann ich ihn Ihnen beinahe vorstellen. Er ist so redit ein Excelsior-, ein Aufsteigemensch, einer aus der wirklichen Obersphäre, genau von daher, wo alles Hohe zu Hause ist, die Hoffnung und sogar die Liebe."2* Gleich die Zwischenfrage einer Zuhörerin nach dem Glauben als dem dritten bringt wieder Lorenzens Distanz von der offiziellen Kirchlichkeit zum Ausdruck. In seinem großen Gespräch mit der gleidigesinnten Gräfin Melusine taucht unvermutet im Zusammenhang mit dem Wahlspruch Friedrich Wilhelms I. das Adler-Emblem auf: „Aber der Non-soli-cedo-Adler mit seinem Blitzbündel in den Fängen, er blitzt nicht mehr, und die Begeisterung ist tot. Eine rückläufige Bewegung ist da, längst Abgestorbenes soll neu erblühn. Es tut es nicht."" Dagegen setzt er kurz vorher sein Bekenntnis: „Ich lebe darin und empfinde es als eine Gnade, da, wo das Alte versagt, ganz in einem Neuen aufzugehen. Um ein solches Neues handelt es sich. Ob ein solches ,Neues' sein soll (weil es sein muss) oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreh; sich alles."25 Das Neue, wie Lorenzen es erwartet, ist gegen den Egoismus gerichtet, gegen das Idh. Daher sind Demut und Liebe die Haltungen, die es heraufbeschwören. Die Einsamkeit, mit der Fontane ihn umgab, ist nicht die des Excelsior-Jünglings. Sie ist vielmehr das Stimulans der Hoffnung auf die künftige Gemeinschaft. Der Gedanke der Epochenablösung ist zwar in Longfellows Gedicht angedeutet, in der Konfrontation des Jünglings mit den Mönchen, doch " Fontane, Werke Bd VIII, S. 143 " Ebd. S. 2J3 » Ebd. S. 2JI 112

geht er in einer andern Richtung. Longfellows Selbstkommentar sagt: „The monks of St. Bernard are the representatives of religious forms and ceremonies, and with their o f t repeated prayer mingels the sound of his voice, telling them there is something higher than forms and ceremonies." 26 Die Mönche sind einzig durch ihr gen Himmel gerichtetes, oft wiederholtes Gebet charakterisiert. Das Gebet stellt den Bezug zu Gott her. Es repräsentiert in seiner Wiederholung Gott in der Zeit. Die Mönche bekommen aus dieser Ausrichtung auf die Ewigkeit eine Gruppenidentität. Offensichtlich sind damit Momente herausgegriffen, die mit solchen des Jünglings korrespondieren und dadurch den Vergleich erleichtern. Der Jüngling individualisiert die genannten Prinzipien der Religion. Er steigt auf wie das Gebet, nur ist für ihn der „heaven" zum bloßen „ s k y " geworden. U n d auch dieser Aufstieg hängt mit der Wiederholung zusammen. Sein ewiges Selbst, das er zu erlangen sucht, wird durch die oftmalige Wiederkehr des Gleichen in der Zeit vorweggenommen. Die Repetition ergibt schließlich seine Identität. Aus der Anrufung „Hosanna in excelsis D e o " gleichsam wurde „Excelsior!". Der Jüngling hat in exemplarischer Weise Gott in seinen Willen aufgenommen und ist auf dem Weg, seinen Weltenthron zu ersteigen. Seine Göttlichkeit ist ihm jedoch nicht eingeboren, sondern das Ergebnis einer konsequenten A n strengung. In der Übertragung des „oft-repeated prayer" auf den Jüngling steckt auch ein Hinweis auf die formale Eigenart des Gedichts. Dieses gibt sich zwar in Strophenform, Kehrreim, sprunghaftem Erzählverlauf, einfachem Ton und Archaismen als Ballade. Doch fehlt jede dramatische Spannung. Dadurch, daß die ersten sechs Strophen derselben Zeitbestimmung untergeordnet sind, tritt es auf der Stelle. Die iterativen Momente, die sich nicht auf den Refrain beschränken, dominieren und führen dadurch zur Monotonie. Sie madien aus der Ballade eine Litanei. Im Ästhetischen wird so die Fragwürdigkeit der Problematik des Gedichts unmittelbar anschaulich. Sie tritt im Vergleich mit Schiller deutlich heraus. Der Weg des Jünglings läßt sich als Variation über die Schlußstrophen von „Das Ideal und das Leben" verstehen. Die Stufen des Aufstiegs entsprächen den Taten des Herakles, der Gletschertod und die kosmische Verklärung dessen Apotheose. Bei Schiller geht das Ideal aus dem Leben her*· Longfellow a.a.O. S. 79

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Pestalozzi, Lyrisches leb

vor. Die jeweilige Abwendung vom Leben bedeutet Zuwendung unter veränderter, nämlich distanzierter Perspektive. Vollendung und ästhetische Reflexion bilden den Übergang vom Leben zum Ideal. In Longfellows Gedicht ist die Distanznahme zur beziehungslosen Negation gegenüber dem Leben geworden. Ideal und Leben schließen sich gegenseitig aus. Der Tod bringt keine Metamorphose, an ihm ist allein die Vernichtung positiv geworden. Als Ende, nicht als Vollendung des Lebens, verhilft er dem Ideal zur Erscheinung. Dieses Ende ergibt sich nicht entelechisch, es steht in der Verfügungsgewalt des Menschen. All das bedeutet, daß bei Longfellow das Selbst den existierenden Menschen als etwas Fremdes transzendiert, während es ihm bei Schiller als Prinzip seiner Existenz eingeboren ist. Symptomatisch ist dafür, daß die Optik, die bei Schiller dominiert, durch die Akustik abgelöst wurde. Der kritische und ungelöste Punkt bei Longfellow ist dementsprechend der Übergang aus der Negation des Lebens zum positiven Ideal, den auch Fontane nur postuliert, nicht nachvollziehbar begründet hatte. Wie entsteht aus der Weltaskese des Menschen ein neuer Gott, resp. wie kann der Mensch auf diese Weise seines Selbst inne werden? Darauf richtete Nietzsche seine Deutung des Gedichts aus. E r lernte es 1876 durch Mathilde Trampedach kennen. Während sie es für ihn kopierte, schrieb er ihr einen Heiratsantrag, in dem er das Gedicht sehr frei auf diese Situation bezog: „Glauben Sie nicht auch daran, daß in einer Verbindung jeder von uns freier und besser werde als er es vereinzelt werden könnte, also exzelsior? Wollen Sie es wagen mit mir zusammen zu gehen, als mit einem, der recht herzlich nach Befreiung und Besserwerden strebt? Auf alle Pfade des Lebens und des Denkens?" 27 — Zehn Jahre später, als Nietzsche erkannt hatte, daß er diese Pfade allein zu gehen habe, erschien in der „Fröhlichen Wissenschaft" unter der Uberschrift „Excelsior" der folgende Aphorismus: Excelsior! — „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen — du versagst es dir, 87

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Nietzsche an Mathilde Trampedadi am 1 1 . April 1876. Nietzsche, Werke Bd III, S. 1 1 1 7 . Vgl. audi Nietzsche an Seydlitz am 18. N o v . 1 8 7 8 ; „Ich habe meinem A m t e und meiner A u f g a b e zu leben — einem Herrn und einer Geliebten und Göttin zugleich: viel zu viel für meine schwache Kraft und tief erschütterte Gesundheit. Äußerlich gesehen, ist es ein Leben wie das eines Greises und Einsiedlers: völlige Enthaltung von Umgang, auch dem der Freunde, gehört dazu. Trotzdem bin ich mutig, vorwärts, excelsior!"

von einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren — du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten — du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt — es gibt für didi keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr — es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird — deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu sudien hat, du wehrst dich gegen irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden, — Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese K r a f t ! " Es gibt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloß: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns audi die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfließt28. Hier ist das schwache Gedicht Longfellows durch den Wegfall der epigonalen Kulisse zu sich selbst gekommen und zugleich zum Vehikel eines zentralen Gedankens Nietzsches geworden. Auch Fontanes Deutung bekam dadurch Stimmigkeit. Die Korrektur ist in dem Satz enthalten, der direkt auf das Gedicht Bezug nimmt: „du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt". Die Entsagung speist sich nicht aus einer fixierten Zielvorstellung. Nicht ein Ideal bewirkt die Negation des Lebens. Nietzsche faßt vielmehr das Verhältnis dialektisch. Weil der Mensch alle Beruhigung von sich weist, kann er steigen, weil er nicht mehr Gott die letzte Verantwortung für sich selbst überläßt, erhält er die Kraft, für sich selber verantwortlich zu sein; indem er sich auf niemanden fremden ausrichtet, kommt er zu sidi selbst. Das Positive, das aus der Negation entsteht, ist somit anderer Art, als es sich Fontane gedacht hatte. Es ist nicht ein neuer objektiver allgemeiner Wert nach Analogie zur aufgegebenen dogmatischen Religion. Die Kraft, die das Selbst ist, wird nur dem Einzelnen faßbar, in dem sie sich manifestiert. Und es bleibt unsicher, ob sie sich mit der Gesetzmäßigkeit des Bekehrungsablaufs ergibt. 18

Fröhliche Wissenschaft Nr. 285. Nietzsche, Werke Bd II, S. 166 " J

Damit ist eine neue Schwierigkeit gegeben. Wie kann das Ich diese Kraft als sein Selbst erkennen? Nietzsche antwortet darauf in dem unmittelbar folgenden Aphorismus „ Zwischenrede „Hier sind Hoffnungen; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Glut und Morgenröte erlebt habt? Ich kann nur erinnern — mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Tiere zu Menschen machen — wollt ihr das von mir? Ach, wenn ihr noch Steine und Tiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus !"2' Durch Nietzsche sind die Dichter aufgerufen30. Sie haben die Aufgabe, in den Menschen die Bereitschaft zu wecken, ihr Selbst wahrzunehmen. Sie wecken eine Erwartungshaltung. Das macht sie zu den Propheten des neuen Zeitalters. Ihr Feld ist nicht das Leben, sondern das Bewußtsein. Von den Gedichten, die im folgenden interpretiert werden, sucht jedes auf seine Weise dieser Aufgabe gerecht zu werden.

" ω

116

Fröhliche Wissenschaft N r . 286, ebd. S. 167 Auf diese Deutung weist audi die versteckte Anspielung auf die Stelle aus Goethes „Dämmrung senkte sich von oben": Nun im östlichen Bereidie Ahnd ich Mondenglanz und -glut.

INTERPRETATIONEN

C. F. Meyer „Himmelsnähe" C. F. M e y e r , Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zädi. Bern: Benteli 1958 f. [zit. Werke] Gedichte Conrad Ferdinand M e y e r s , Wege ihrer Vollendung, hrsg. von Heinrich Henel. Tübingen: Niemeyer 1962 (Deutsche Texte 8) [zit. Henel, Gedichte] Briefe Conrad Ferdinand M e y e r s , hrsg. von Adolf Frey, 2 Bde Leipzig: Haessel 1908 [zit. Briefe] Louise von F r a n ç o i s und Conrad Ferdinand M e y e r , Briefwechsel, hrsg. von Anton Bettelheim. Berlin: Reimer 1905 Die besondere Stellung C . F. Meyers innerhalb der Entwicklung der deutschen Lyrik ist seit längerer Zeit erkannt und bestimmt worden 1 . Die positive Würdigung seines lyrischen Oeuvres w a r die Folge des um die Jahrhundertwende einsetzenden neuen Lyrikverständnisses. Stefan Georges Anthologie „Deutsche Dichtung" hatte den Weg bereitet. Ihr dritter Band „Das Jahrhundert Goethes" Schloß mit Meyer 2 . Mit Meyer hatte die deutsche Tradition die Schwelle zur modernen Lyrik aus ihren eigenen Bedingungen heraus erreicht, bevor dieser der französische Einfluß zum Durchbruch verhalf. Doch nicht nur als Endpunkt ist Meyers Lyrik von Bedeutung. Die außergewöhnliche Nachlaßsituation erlaubt es, den Werdegang von M e y ers Gedichten bis in alle Einzelheiten zu verfolgen. Ihre Entstehungsgesdiichte ist gewissermaßen die Abbreviatur der allgemeinen 1

!

lyrik-

Hier sind vor allem die Forschungen Heinrich Henels zu nennen, denen idi viele Anregungen verdanke: The poetry of Conrad Ferdinand Meyer, Madison: University of Wisconsin Press 1954 (zit. Poetry); Erlebnisdichtung und Symbolismus, D V j S 32, 1958; Epigonenlyrik: Riickert und Platen, Euphorion J5, 1 9 6 1 ; Gedichte, C . F . M e y e r s , Nadiwort und Kommentar 1962. Deutsche Dichtung, eingel. und hrsg. von Stefan George und Karl Wolfskehl. Bd 3, Das Jahrhundert Goethes. 3. Aufl. Berlin: Bondi 1923. — Wichtig für die Affinität Meyers zur modernen Lyrik ist ferner Hofmannsthals Aufsatz „C. F. Meyers Gedichte" (1925). Prosa IV, S. 274—84 II 9

geschichtlichen Entwicklung. Aufgrund verschiedenster und scheinbar zufälliger individueller Bedingungen wurde Meyer zum Repräsentanten. A m Beispiel eines seiner Gedichte läßt sich der Übergang von der Lyrik Goethescher Prägung zur modernen Lyrik des späteren 19. Jahrhunderts genau verfolgen. Meyers enge Verbindung mit unserem Leitmotiv kommt biographisch zum Ausdruck. A n Louise von François schrieb er in seinen späteren Jahren: „Wenn ich einen Wunsch tun dürfte, wäre es wohl, neben 9 mehr oder weniger fleißigen Monaten jährlich je wieder drei (Juli bis September) in den Alpen zu verleben, die ja am Ende mein Eigentum = meine Heimat sind und denen ich ohne Vergleich meine glücklichsten Tage danke. Lange Zeit seines Lebens hatte Meyer diesem Programm nachgelebt und regelmäßig einen Teil des Sommers in hochgelegenen Orten des Berner Oberlandes, der Innerschweiz oder Graubündens verbracht. Dabei suchte er mit Vorliebe Plätze „nicht unter 6000 Fuß Höhe" 4 auf, wo er mit der Schwester und später seiner kleinen Hausgemeinschaft weitgehend allein sein konnte. Von da aus unternahm er Wanderungen, die ihn vollends von aller menschlichen Gesellschaft entfernten. Es w a r die Zeit des aufkommenden Alpinismus. Was in dessen spontaner Bergbegeisterung zum Ausdruck kam, artikulierte sich bei Meyer als bewußtes Programm. E r suchte die Erhebung über das alltägliche Dasein in den Niederungen, um in sein Eigenstes zu kommen 5 . Die Bergtour w a r ihm Erlebnis und geistige Metapher zugleich. Mit den Worten Betsys: „Es w a r ein Bedürfnis seiner Künstlernatur, über den kleinen und vergänglichen Interessen des täglichen Lebens einen Standort in lichter Höhe zu suchen, der ihm einen unbeschränkten Umblick über die menschlichen Dinge gewährte. Wie sehr er in der äußeren die innere Erhebung suchte, zeigt sich daran, daß er als Lektüre jeweils Homer, Dante und Shakespeare in die Berge mitnahm. Betsy macht in diesem Zusammenhang eine weitere aufschlußreiche Bemerkung: „Die stillen Alpenhöhen seiner Heimat waren es, die ihn vor langen, weiteren Fahrten abhielten und ihn dafür entschädigten, weil sie seinem Be3 4 5

6

Am 18. Sept. 1884. Briefwechsel S. 153 Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer, in der Erinnerung seiner Schwester. Berlin: Paetel 1903. S. 190 Die Parallelität zu Nietzsche audi in diesem Punkt ist auffallend. Zum Verhältnis beider vgl. W. P. Bridgwater, C. F. Meyer and Nietzsche. The Modern Language Review 60, 1965, S. 568—583 Betsy Meyer a.a.O. S. 189

120

dürfnis nach Größe und ungebrodiener Ruhe, nach dem Weben mächtiger Kräfte in elementarer Gewalt und inniger Zartheit volles Genügen boten. Hier befriedeten sich die unruhig streitenden Gedanken des Dichters in großen, ungetrübten, poetischen Stimmungen.*" Im Zug zur Höhe dokumentiert sich ein Weltverhalten, das demjenigen etwa Gottfried Kellers entgegengesetzt ist. Keller hatte in seinen Auslandsaufenthalten die Welt erfahren und sich soviel von ihr einverleibt, daß er ein Lebenlang davon zehren konnte. Meyers Lebens- und Bildungstendenz drängte ihn immer wieder aus der Welt hinaus, aus dem Zeitlichen ins Zeitlose, aus der Vielfalt der Beziehungen in die Einsamkeit. Gewiß, er hatte Reisen nach Paris und Italien gemacht. Aber das waren in erster Linie Kunstreisen gewesen, die ihn ebenso wie die Bergfahrten aus Zeit und »Welt" hinausgeführt hatten. Der innere Zusammenhang von Kunst und Hochgebirge ist konkret faßbar in den Gedichten, in denen das Gebirge Thema wurde. Sie sollten erst als selbständige Sammlung „Bergzauber" erscheinen, gingen dann als Abteilung „In den Bergen" in die Gedichtsammlung ein8. Wir haben daraus das Gedicht „Himmelsnähe" 9 ausgewählt. Es ist in seiner A r t ein vollkommenes und f ü r Meyer typisches Gedicht. Sein Motiv kommt unserer Fragestellung besonders entgegen. Eine zusätzliche Legitimation fand diese Wahl schließlich durch Henels Bemerkung, dieses Gedicht bilde den Stamm einer ganzen Gediditfamilie und sei ein besonders instruktives Beispiel f ü r Meyers dichterisches Verfahren 1 0 .

I. Der äußere Anlaß des Gedichtes ist überliefert. Die Gesdiwister Meyer waren im Juli 1859 auf der Engstlenalp (Kt. Bern) in den Ferien, von wo sie öfters zum Jochpaß, dem Übergang ins Engelbergertal, hinaufstiegen. In einem Brief Betsys wird die Landschaft beschrieben: „Die Höhe des Jochs, w o sidi beide Thäler mit ihren kleinen klaren Seen dem Blicke aufthun, erreicht man mit leichter Mühe, wir waren gestern und vorgestern oben, ich besonders um Blumen zu suchen, deren es gleidi 7

A.a.O. Henel, » Werke 10 Henel, 8

S. 190 Poetry S. 185 I, S. 1x3; III. S. 21—34 Poetry S. 193 121

neben dem Schnee zierliche gibt. — Conrad kann auch baden. — Der Engstlensee ist wenige Schritte von hier. ( . . . ) A n seinem U f e r breitet die Alpenrose ihren dichten rothen Teppich aus. Das ist eine Dekoration! ( . . . ) Wild ist es zwar hier nicht, aber einsam und still. Außer dem Brausen des Wasserfalle und dem Läuten der Heerden ( . . . ) hört man wenig." „Als wir heute auf der Jochhöhe durch den weichen Schnee gingen." 1 1 Es ist erstaunlich, daß Betsy Beobachtungen berichtet, die fast wörtlich in den ersten Fassungen des Gedichtes wiederkehren. Der Erlebnishintergrund steht damit fest. Die erste Niederschrift des Gedichts ist von Meyer auf den Juli 1864 datiert. Auch wenn man berücksichtigt, daß sich Meyer im Sommer i860 nochmals auf der Engstlenalp aufgehalten hat, so liegt doch zwischen Erlebnis und Gedicht eine beträchtliche zeitliche Distanz. Was Betsy anläßlich der Entstehung von „Engelberg" berichtet, daß Meyer „die Eindrücke der Gegenwart sich nie unmittelbar zum Gedichte gestalteten" 12 , gilt auch hier. In der ersten Fassung M 1 lautet das Gedicht: Auf hohem Grat bin ich gelagert hier, In beiden Tiefen glänzt ein Alpensee, Ein mächtiges Gebirg ist über mir, Das Haupt bedeckt mit blendend reinem Schnee. Die nahe Sonne schmelzt mit warmem Licht Den Schnee, der hangen blieb vor meinem Fuß, Und in der Feuchte sproßt Vergißmeinnicht Und Soldanellen bieten mir den Gruß. Es stäubt der windbewegte Wasserfall Bald ist sein Tosen nah, bald ist es weit, Ein rauschend Leben waltet überall In dieser menschenleeren Einsamkeit. Es quillt in einem Meer von Blau der Born Des Lichts und wandelt sacht der Sonnenkreis, Gemildert wird des heißen Tages Zorn Von dem verborg'nen ew'gen Gletschereis. 11

14

Zit. Werke III, S. 33. Dem Herausgeber der Gedichte in den Sämtlichen Werken, Prof. Dr. Hans Zeller, habe ich für vielfache Hilfe zu danken. Er gewährte mir Einblick in das Mskr. des nodi nicht gedruckten III. Bdes und ließ mir sachliche und bibliographische Hinweise zukommen. Betsy Meyer a.a.O. S. 168

122

O Alpenluft, o Gabe du der Höhn, Dein heil'ger Schauer dringt mir bis ins Mark, Wenn deine reinen Hauche mich durchweh'n, So werden meine Lebensgeister stark. Zusammen schrickt die dumpfe Leidenschaft Von Gottes Odem schauerlich gekühlt Und es ermannt sich jede gute Kraft Die sich in seiner Nähe selig fühlt. Es regt sich in den Tiefen meiner Brust, Die Adlersdiwingen schlagend ungestüm Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus seinen Banden auf zu ihm. Mir ists als ob der Himmel aufgeweht Und seine Gegenwart umfließt mich klar Ich neige midi und spreche mein Gebet An des Gebirges riesigem Altar: Nicht eines Augenblickes kurzer Raub, Laß deine Nähe bleiben mein Geleit Und midi unwehn bis in des Thaies Staub Die Alpenlüfte der Gerechtigkeit. 13 Die neun Strophen lassen sidi folgendermaßen gliedern: die ersten vier beschreiben die Berglandschaft, die zweiten vier schließen eine Reflexion an, aus dieser ergibt sidi die gebetartige Schlußstrophe. Diese drei Teile gilt es in sich und in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Die ersten vier Strophen beziehen sich auf eine konkrete Berglandschaft an einem heißen Sommertag, ein bestimmtes Hier und Jetzt. Daher werden der unbestimmte Artikel und artikellose Gruppen, die Unbekanntes einführen, verwendet. Die so evozierte Landschaft hat, wie wir sahen, durchaus individuelle Züge. Der Kenner der Gegend kann sie im einzelnen identifizieren 14 . Im Gedicht fügen sie sich jedoch nicht zum geschlossenen Panorama. Es sind lediglich einzelne Momente herausgegriffen. Ihre Abfolge diktiert nicht die Landschaft, sondern der Wahrnehmende, dessen Aufmerksamkeit, von Assoziationen gelenkt, springt. Dennoch ergibt sich ein Zusammenhang, nämlich die Motivkette: Sdinee — schmelzender Sdinee — Feudite — Wasserfall — rauschendes Leben 13

14

Werke III, S. 22/23

A.a.O., Anmerkungen des Hrsg. S. 32/33 I2

3

— Meer von Blau. Die Einzelmomente treten zusammen zu Phasen eines Schmelzprozesses. Wie im Wahrgenommenen zeichnet sich auch im Wahrnehmungsvorgang eine Folge ab. Die vier Strophen sind ziemlich konsequent versdiiedenen Sinnesbereichen zugeordnet. Dem Auge die ersten zwei, sie stecken, vom Entfernten zum Nächsten, vom Großen zum Kleinen fortschreitend, das Gesichtsfeld ab. Die dritte Strophe registriert Hörbares. Bei der vierten ist die Zuordnung nicht ganz eindeutig. Zwar ist darin vom Licht die Rede, aber eher als Wärmequelle, was sich daran zeigt, daß die zweite Strophenhälfte Hitze und Kühle gegeneinander stellt. Offenbar geht es hier um das Gefühl, das auf die Temperatur anspricht. Die sommerliche Berglandschaft dringt somit über Auge, Ohr, Gefühl in das wahrnehmende Ich ein. Der Anfang des zweiten Teils führt diese Bewegung weiter unter der Haut bis ans Ziel, wenn es heißt: O Alpenluft, o Gabe du der Höhn, Dein heil'ger Schauer dringt mir bis ins Mark. Diese Bewegung läuft in ihren Phasen mit dem aufgezeigten Schmelzvorgang parallel, ja sie läßt sich selbst als Schmelzvorgang begreifen. Einerseits werden in dessen Verlauf die Konturen der Erscheinungen mehr und mehr verwischt. Das Auge unterscheidet Einzelnes und lokalisiert es genau. Ihm erscheint das Gebirge statisch. Schmelzen und Sprießen in der Nähe sind unmerkliche Vorgänge. Dem Ohr verwirren sich die Distanzen. Nah und weit sind ihm nurmehr Bezeichnungen der Lautstärke, mit „überall" resigniert der Ortssinn vollends. Dafür tritt nun die Bewegung stärker hervor, wie in „Tosen" und „Leben" das Verbum zum Hauptwort erhoben wird. In der vierten Strophe, wo die Verben ihre dominierende Stellung im Vers behalten, ist die Realität durch die Sprache weiter entstaltet. Für Himmel, Sonne und Hitze treten Umschreibungen ein, die, da sie sich teilweise überschneiden, entsprechend der Wahrnehmungsweise des Gefühls kein deutliches Bild mehr ergeben. Die Landschaft büßt also auf dem Weg durch die versdiiedenen Sinnesorgane ihre reale Konsistenz ein. — Die Sinnesbereiche sind nicht nur qualitativ verschieden. Herder hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Spradiursprung unter ihnen audi eine Rangordnung der Intensitäten aufgestellt: „Das Gehör ist der mittlere Sinn in Ansehung der Lebhaftigkeit und also Sinn der Sprache. Das Gefühl überwältigt, das Gesidht ist zu kalt und gleichgültig, jenes dringt zu tief in uns, als daß es Sprache werden könnte, dies bleibt zu ruhig vor uns. Der Ton des Gehörs dringt so innig in unsere Seele, daß er Merkmal 124

werden muß, aber nodi nicht so übertäubend, daß er nicht klares Merkmal werden könnte — das ist der Sinn der Sprache." 15 Auch wenn man die Folgerungen, die Herder hier zieht, in Frage stellt, bleibt doch seine Intensitätsskala einleuchtend. Die Abfolge Auge — Ohr — Gefühl bedeutet auch in unserm Gedicht eine Steigerung der Empfindungsintensität. Das läßt sich an Wortschatz und Satzstellung nachweisen. Die zweite Hälfte des ersten Teils ist von Inversionen bestimmt, und die beiden Strophenschlüsse „menschenleere Einsamkeit" und „verborg'nen, ew'gen Gletschereis" sind Aufgipfelungen, die sich, was ihren Aussagegehalt angeht, Tautologien nähern. A m deutlichsten wird die emotionale Intensität an einem durchgehenden Aufbaumoment faßbar: Die Zuteilung zu ganzen Strophen macht aus den Sinnesbereichen geschlossene Einheiten. Diese sind doppelt gegliedert. Der mit dem Kreuzreim gegebenen steht die andere Ordnung entgegen, wonach, wie die Interpunktion erkennen läßt, die Strophenhälften Sinneinheiten bilden. Diese stehen in antithetischem Verhältnis zueinander: Höhe — Tiefe in der ersten, schmelzender Schnee — sprießende Blumen in der zweiten Strophe. Die dritte Strophe verdoppelt das Schema in der Weise, daß schon die Strophenhälften in sich antithetisch gebaut sind. In der vierten lassen sich, wenn auch wiederum nicht ganz eindeutig, „quillt" — „wandelt sacht", „ T a g " — „ewig", „heiß" — „Eis" antithetisch aufeinander beziehen. Gestützt, teilweise erst ermöglicht werden die Antithesen durch die Wortstellung. In der ersten Strophe z. B. sind beide Strophenhälften, was die Abfolge der Satzglieder betrifft, chiastisch gebaut, so daß die Extreme „Alpensee" — „mächtiges Gebirg" in unmittelbare Nähe zu stehen kommen. In der zweiten wird überhaupt erst dadurch der Gegensatz von Vergißmeinnicht und grüßender Soldanelle erkennbar. Auch in den Strophen drei und vier ergeben sich dank den Inversionen chiastische Zuordnungen. — Die antithetischen Satz- und Bedeutungsstrukturen sind hier Ausdrucksmittel der Emphase. In dem unvermittelten Nebeneinander von Extremen äußert sich Empfindungsintensität. Die Häufung der Antithesen von der Wasserfallstrophe an steht im Dienst einer Steigerung, die zu Beginn des zweiten Teils mit dem Ausdruf „ O Alpenluft, o Gabe du der H ö h n " ihr Ziel erreicht hat. Auf der Seite des Ich vollzieht sich der Schmelzprozeß somit als Steigerung der Empfindung, als Anschwellen einer inneren Bewegung, vor der die diskursive Erfahrung mehr und mehr zurücktritt. 11

Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Sämtl. Werke, hrsg. von Bernhard Suphan. Bd j. Berlin: Weidmann 1891. S. 66 12$

Die motivische Entsprechung zum äußeren und inneren Schmelzen ist die Intensivierung des Lidits. Ist es zu A n f a n g im Glänzen des Sees und im blendenden Schnee erst indirekt anwesend, so ist in Strophe zwei von der Sonne und ihrem warmen Licht die Rede, die in Strophe vier zum „Born des Lichts", zum »Sonnenkreis" wird, von dem die Hitze ausgeht. Es soll nicht unterschlagen werden, daß am Ende der vierten Strophe das Eis genannt wird. Es steht nicht nur im Gegensatz zur Sonne, sondern vermöchte die Deutung aller Einzelheiten auf einen Schmelzprozeß hin in Frage zu stellen, wenn es mehr Gewicht hätte. Vorläufig ist es eine kleine Unstimmigkeit, welche die große Linie nicht beeinträchtigt. (Es wird sich zeigen, daß in der weiteren Geschichte des Gedichts dieses Moment immer mehr hervortritt, bis es schließlich dem zunächst dominierenden die Waage hält.) Der erste Teil des Gedichts zeichnet somit in seinen einzelnen Phasen einen Erlebnisvorgang nach. Das Idi ist passiv. Die Bergwelt, in der es sich befindet, dringt auf es ein und erregt in ihm Empfindungen und Emotionen, die es schließlich überwältigen. Die Bergwelt ist soweit als auslösendes Moment beteiligt. Zugleich aber spielt sich in ihr ein Schmelzprozeß ab, der das, was mit dem Idi geschieht, gleichnishaft abbildet. Unter diesem Gesichtspunkt sind Ich und Landschaft zueinander in Analogie gesetzt. Doch tritt das Idi nur in der Anfangsstrophe explizit in Erscheinung. In den drei folgenden ist es lediglich als Subjekt der Apperzeption vorhanden. Der zweite Teil steht zum ersten in einem doppeldeutigen Bezug. Einerseits führt er, wie wir gesehen haben, die Bewegung von außen nach innen, vom Sinnlidien ins Geistige weiter. Den Ubergang bildet, dank der Etymologie von gr. πνεΰμα lat. animus, das Medium der bewegten Luft: Alpenluft — reine Hauche — Gottes Atem. Die Reflexion, die sich daraus ergibt, führt jedoch das Erlebnis nicht eigentlich weiter. Sie wendet sich auf das Vorausgegangene zurück und gibt ihm, indem sie das Einmalige auf Allgemeines bezieht, eine Deutung. Das erlebende Ich sudit zu fassen, was ihm widerfährt. Die Sprache des zweiten Teils ist denn auch abstrakter, die verwendeten Termini haben den bestimmten Artikel, der sie als gängige ausweist. Durch den Konditionalsatz der fünften Strophe wird aus dem Präsens des einmaligen Geschehens eine verallgemeinernde Feststellung. Im Zentrum der Ausdeutung des Sdimelzvorganges erscheint das „Adler-aus-dem-Käfig"-Emblem, das die vorausgegangenen Begriffe „Lebensgeister" und „gute K r a f t " auf eine anschauliche Formel bringt: 126

Es regt sich in den Tiefen meiner Brust, Die Adlerschwingen schlagend ungestüm Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus seinen Banden auf zu ihm. Der neuplatonisch-diristliche Hintergrund ist deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Aufschwung führt in den Ursprung des Idi bei Gott zurück, also zu dem, was wir sein Selbst genannt haben. Der emblematische Zusammenhang verweist auf die früheren Deutungen des Motivs. Der Adler wird zu seinem Aufschwung durch eine Einwirkung von außen angeregt, durch ein Medium. Gottes Odem, in Gestalt der Alpenluft, öffnet ihm das Gefängnis, und darin wiederum konzentriert sich der Einfluß der Landschaft ringsumher. Diese nimmt somit die Stelle des Amor Divinus in früheren Emblemgestaltungen ein. Es ist eine Höhen- und Berglandschaft. Das Adler-Bild bietet sich somit natürlich an. Das Ich gleicht dem Adler als Bewohner der Höhe. Der geistige Aufschwung ist die Folge eines realen Aufstiegs, aus der Bergtour wird eine Annäherung an Gott. Scheint zunächst die Landschaft als Auslöser von Empfindungen mit jeder anderen austauschbar zu sein, so zeigt sich nun, daß von der vertikalen Topographie her, wie wir ihr in den Vorstudien begegnet sind, ein notwendiger Konnex von Ort und Erhebung besteht. Was dichterische Metapher war, wird ganz ähnlich wie bei Petrarca beim Wort genommen. Wie wird hier der Berg zur Stätte der Selbstbegegnung, und was ist es für ein Selbst, dessen das Ich hier inne wird? Im Schmelzprozeß des ersten Teils löst sich, wie wir gesehen haben, die Außenwelt und das sie betrachtende Ich auf. Das Ergebnis ist eine unmittelbare intensive Empfindung, die sich in einem Ausruf entlädt. Der zweite Teil benennt diese Empfindung als „Schauer" resp. „schauerlich". Einerseits ist sie positiv; was sich darin äußert, kann „starke Lebensgeister", „gute Kraft" heißen. Andrerseits ist sie als Zusammenschrecken der dumpfen Leidenschaft negativ. Die Empfindung des Schauers ist somit ambivalent. In ihm finden auch die emphatischen Antithesen, die uns aufgefallen sind, ihre Einheit. Das schauernde Ich bekommt die Epitheta „heilig" und „selig". Der Schauer bedeutet dem Ich die Nähe Gottes und seine eigene Göttlichkeit. Weil die Bergeshöhe diesen Schauer auslöst, wird sie zur Himmelsnähe. Die Gotterfülltheit artikuliert sich in der Schlußstrophe als Gebet. Auch darin macht sidi die Ungeklärtheit des Bezuges zum Vorangegan127

genen bemerkbar. Das Gebet ist nur dann die plausible Fortsetzung, wenn der zweite Teil nicht als Deutung, sondern als innere Weiterführung des ersten aufgefaßt wird. Er hat aber selber bereits den Charakter eines Gebets — er setzt mit einem hymnischen Anruf ein — , so daß der Sdiluß zum Gebet im Gebet wird. Man kann in dieser Potenzierung einen weiteren Versuch sehen, für die Steigerung der Intensität eine Form zu finden. Der Schluß hat den Charakter einer emotionalen Pointe. Im Gebet ist der Aufschwung am Ziel. Die Schlußstrophe bezeichnet das Bergerlebnis als „Augenblick". Damit kommt es und damit das Gedicht als ganzes deutlicher als durch die Deutung des zweiten Teils in einen geistigen Zusammenhang zu stehen, der im folgenden in einigen Strichen umrissen werden soll. Der Terminus „Augenblick" bezeidinet aufgrund seiner einsichtigen Etymologie eine möglichst kleine Zeiteinheit, „also schiere, so ein ouge uf unde zuo ist getan" 1 ", ohne Rücksicht auf ihre Füllung. Bei Petrarca hieß er „ictus trepidantis oculi". In der philosophischen Spekulation über die Zeit jedoch bekam der Augenblick höchste Dignität als Zeiteinheit, die sich mit der Ewigkeit in Beziehung setzen ließ. Das konnte auf verschiedenen Argumentationswegen erreicht werden. Drei davon seien hier angeführt: Boëthius bestimmt im fünften Buch der „Consolatio philosophiae" die Ewigkeit als „interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio". In ihr sind Vergangenheit und Zukunft, die in der Zeitlichkeit aufeinander folgen, simultan gegenwärtig. Folglich ist in der Zeit die Ewigkeit unerreichbar. Hunc enim vitae immobilis praesentarium statum infinitus ille temporalium rerum motus imitatur, cumque eum effingere atque aequare non possit, ex immobilitate deficit in motum, ex simplicitate praesentiae decrescit in infinitam futuri ac praeteriti quantitatem et, cum totam pariter vitae suae plenitudinem nequeat possidere, hoc ipso, quod aliquo modo numquam esse desinit, illud, quod implere atque exprimere non potest, aliquatenus videtur aemulari alligans se ad qualemcumque praesentiam huius exigui volucrisque momenti quae, quoniam manentis illius praesentiae quandam gestat imaginem, quibuscumque contigerit id praestat, ut esse videantur. 17 16

17

Der Beleg stammt aus K l u g e , Etymologisches Wörterbuch. 19. A u f l . , bearb. von W. M i t z k a . Berlin: de Gruyter 1963. „Augenblick" Boëthius, consolationis philosophiae libri V , hrsg. von Karl Büchner, 2. erneuerte A u f l a g e . Heidelberg i960. V , pr. 6; S. 110. Den Hinweis auf diese

128

Der Gedanke der Gottebenbildliclikeit ist hier, verquickt mit Gedanken aus Piatos „Timaios", auf die Zeit übertragen. Der Augenblick ist die „imago aeternitatis", und zwar aufgrund seiner Punktualität. Im Augenblick, und zwar in jedem, wird daher der Mensch des göttlichen Seins teilhaftig. D a aber, wie Boëthius fortfährt, der Augenblick dodi nicht die Ewigkeit selber ist, muß er immer neu gesucht und verloren, werden, wodurch die unendliche Flucht der Zeit entsteht. Bei Thomas von Aquino ist das Verhältnis von Ewigkeit und Augenblick nicht eines der Ebenbildlichkeit, sondern der Koexistenz. Der Augenblick ist dank der Allgegenwart Gottes Ewigkeit. N a m cum tempus motum non excedat, aeternitas quae omnino extra motum est, nihil temporis est. Rursum cum aeterni esse numquam deficiat, cuilibet tempori vel instanti temporis praesentialiter adest aeternitas. . . . Quid quid igitur in quacumque parte temporis est, coexsistit aeterno, quasi praesens eidem, etsi respectu alterius partis temporis sit praeteritum vel futurum. 18 Jeder Zeitmoment steht somit in einem doppelten Bezug, einerseits zum Ablauf der Zeit, andrerseits zur Ewigkeit. Er ist vergänglich und

18

und die folgenden Stellen zur Augenblicksproblematik verdanke ich Georges Poulet, Les métamorphoses du cercle. Paris: Pion 1961. Introduction. Denn die unbegrenzte Bewegung des Zeitlichen ahmt diesen gegenwartsbewußten Zustand unbewegten Lebens nur nadi, und da sie nicht vermag, ihn nachzubilden und ihm gleich zu kommen, verfällt sie aus der Unbewegtheit in die Bewegung, aus der Einfachheit der Gegenwart schwindet sie dahin zur unendlichen Ausdehnung der Zukunft und Vergangenheit, und da sie die ganze Fülle ihres Lebens zugleich nicht besitzen kann, scheint sie mit dem, was sie irgendwie zu sein niemals aufhört und das sie doch nicht ausfüllen und ausdrücken kann, einigermaßen zu wetteifern, indem sie sich an die Gegenwart dieses, wenn audi noch so geringen und flüchtigen Augenblicks haftet. Und da dieser ja ein gewisses Abbild jener beharrenden Gegenwart in sich trägt, so gewährt er denen, an denen er teil hat, daß sie zu s e i n scheinen. (Übersetzt von Eberhard Gothein. Boethius, Trost der Philosophie. Berlin: Die Runde 1932) Divi Thomae Aquinatis, Summa contra gentiles. Romae 1927. I, 66. p. 78. Denn da die Zeit aus der Bewegung nicht heraussdireitet, so ist die Ewigkeit, die überhaupt außerhalb der Bewegung ist, nidits von der Zeit. Hinwiederum: da das Sein des Ewigen nimmer abläßt, so ist einer jeden beliebigen Zeit oder einem jeden beliebigen Nu der Zeit die Ewigkeit gegenwärtiglich zugegen. . . . Was je mithin, gleichviel in welchem Teile der Zeit ist, das ist mit dem Ewigen mit da, gleichsam ihm gegenwärtig, obwohl es mit Hinblick auf einen andern Teil der Zeit vergangen oder zukünftig ist. (Übersetzt von Hans Nadiod und Paul Stern: Thomas von Aquino, Die Summe wider die Heiden in vier Büchern. Leipzig: Hegner 1935. I, S. 260) 129

9

Pestalozzi, Lyrisches Idi

unvergänglich zugleich. Bei Cusanus fehlt dieser unmittelbare Bezug zur Ewigkeit. Ihm ist der Augenblick wichtig in der Relation z u m Zeitablauf: Ita

nunc

sive

praesentia

complicat

tempus.

Praeteritum

fuit

praesens, futurum erit praesens nihil ergo reperitur in tempore nisi praesentia ordinata. Praeteritum igitur et futurum est

explicatio

praesentis; praesens est omnium praesentium temporum complicatio, et praesentia tempora illius seriatim sunt explicatio, et non reperitur in ipsis nisi praesens. U n a est ergo praesentia omnium temporum complicatio. Et ipsa quidem praesentia est ipsa unitas. 19 Im Augenblick ist die Zeit als ganze enthalten, sie ist in ihm versammelt. Cusanus ist hier nahe bei Parmenides' berühmten S a t z : εστίν

όμοΰ

πάν." 20

„vCv

Er macht den Augenblick dadurch ewig, d a ß

er ihm jene Simultaneität zuweist, die Boëthius und Thomas G o t t zugedacht hatten. Dabei kommt auch bei Cusanus der Gedanke des Thomas hinzu, d a ß G o t t auch in zeitlicher Hinsicht gerade dem kleinsten Teil innewohne. — Es ist in unserem Zusammenhang interessant, d a ß Cusanus als weiteres Beispiel f ü r den Gegensatz von complicatio und explicatio anfügt: „ I t a identitas est diversitatis complicatio." 2 1 Das legt den Sdiluß nahe, den Cusanus nicht zieht, d a ß die sukzessiv ablaufende Zeit im Augenblick ihren Identitätspunkt habe, in dem Vergangenheit und Zukunft „dasselbe" sind. Diese theoretischen Nachweise der A f f i n i t ä t v o n Augenblick

und

Ewigkeit sind in der mystischen Erfahrung nicht mehr nur Spekulation. Im mystischen N u erlebt der Mensch die Ewigkeit unmittelbar, sei es im gesteigerten Bewußtsein einer Vision, sei es in der unmittelbaren Entrückung, in der alle Sinne schwinden. Dabei ist die erlebte Ewigkeit sowohl außerhalb des Menschen als in ihm selbst. Er tritt in der mystischen Entrückung zu G o t t zugleich ins Zentrum seiner Identität. A m Höhepunkt des Danteschen „Paradiso" ist uns ein Beispiel dafür begegnet 22 . Es w a r vermessen, hier nun eine Geschichte der

Augenblicks-

spekulation und des Augenblickserlebnisses audi nur in gröbsten Verkürzungen geben zu wollen. W i r können uns auf jene Verbindung beschränken, die z u Meyers Gedicht hinüberführt, den Pietismus. Im Pietismus 19

» 21 22

Cusanus, De docta ignorantia II, cap. 3 Zit. bei Poulet a.a.O. S. X X V Cusanus a.a.O. Paradiso X X X I I I , 127 f.

130

erscheint der mystische Augenblick als Moment der Bekehrung. Exemplarisch ist dafür Α. H. Franckes Schilderung: Denn wie man eine Hand umwendet, so war all mein Zweifel hinweg, ich war versichert in meinem Herzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich konnte Gott nicht allein Gott, sondern meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und Unruhe des Herzens ward auf einmal weggenommen, hingegen ward idi wie mit einem Strom der Freude plötzlich überschüttet, daß ich aus vollem Mut Gott lobte und pries, der mir solche Gnade erzeigt hatte. Idi stand anders gesinnt auf, als ich mich niedergelegt hatte. 28 Im Bekehrungsaugenblick kommt es gleichfalls zu einer Berührung zwischen Mensch und Gott. Aber es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß der Mensch Gottes ewige Herrlichkeit schaut, als vielmehr darauf, daß er seines eigenen wahren und unverdorbenen Wesens inne wird. In der Hinwendung zu Gott gewinnt der Mensch sich selber. Die Äußerung davon ist die überströmende Freude, die darnach zur Fröhlichkeit der Kinder Gottes perenniert. Die echte Bekehrung ist einmalig. Sie bedarf keiner Wiederholung, weil audi sie aus der Sukzessivität der Zeit hinausgeführt hatte dorthin, wo alle Zeiten eins sind. Der Bekehrte muß nur wachsam sein, ob er audi in seinem Ewigen verharre und nidit neuerlich den zeitlichen Dingen verfalle. In der Schilderung Franckes halten sich Erlebtes und Dogmatisches die Waage, ja gerade ihr Ineinander macht die Bedeutung des Bekehrungsaugenblickes aus. In den Berichten der „Schönen Seele" bei Goethe verschiebt sich der Akzent ganz auf den Seelenzustand, wenn sie „nach jenem großen Augenblick" feststellt: Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden. Ich hatte ihn niemals fest halten, nie zu eigen behalten können. Ich glaube überhaupt, daß jede Menschenseele ein- und das anderemal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel ist es das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist.24 2S

24

A . H . Francke, Anfang und Fortgang der Bekehrung etc. in: Das Zeitalter des Pietismus, hrsg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch. Bremen: Sdiünemann 1965 (Klassiker des Protestantismus V I ) S. 78 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, hrsg. von Ernst Beutler. Zürich: Artemis 1949 ff. (Artemis Gedenk-Ausgabe) S. 425 131

Nicht mehr der religiöse Bezug ist hier das Entscheidende, sondern der Grad der Empfindungsintensität. Starkes Empfinden wird zum Gottesbeweis. Heilig ist das stark fühlende Herz an sich, wodurch auch immer es in Wallung gerät. Bestehen bleibt, daß im Augenblickserlebnis der Mensch sich als ganzen erfährt in jener früher Gott allein vorbehaltenen Simultaneität. Wir hatten in den Vorstudien gesehen, daß auch die pietistische Bekehrung in den Umkreis der barocken Aufschwung-Möglichkeiten gehört. Das Spezifische des pietistischen Aufschwungs lag darin, daß er fast ganz der Verfügungsgewalt des bewußten Idi entzogen war und sich gnadenhaft ereignete als gesteigerte Empfindung. Beim Augenblick, um den es hier geht, handelt es sich um die Weiterführung dieser Art von Aufschwung. Meyers Verhältnis zum Augenblick hängt somit aufs engste mit seiner Ausprägung des Aufschwung-Motivs zusammen. Berichte wie die der „Schönen Seele" bezeichnen jene Wendung innerhalb der Geschichte des Augenblickserlebnisses, welche es ermöglichte, aus der religiösen Sprache eine Sprache des Herzens zu machen. Im Hinblick auf Meyers Gedicht ist dabei ein Bildkomplex von besonderem Interesse. Langen führt als verbreitetes Bild für das augenblickhafte Einwirken Gottes auf die Seele das des Schmelzens an25. Es ist biblischer Herkunft und bezieht sich auf das Herausschmelzen der Edelmetalle aus dem rohen Erz. Gott ist der Schmelzer, die Reaktion der Seele besteht im Zerschmelzen und Zerfließen. Als Metapher für sie erscheint vielfach das Wachs. Unter Langens Belegen ist keiner, in dem in diesem Zusammenhang von schmelzendem Schnee die Rede ist. Immerhin führt der folgende in die Nähe: „Augenblicklich aber geschähe es / als durch einen sanfften Wind / daß mein zuvor eis-kaltes Hertz solchergestallt zerschmoltzen / daß i c h . . . die gantze Predigt durch vor lauter Thränen zerfloss."29 Dieses Bild lag nahe, da Kälte und Eis als Metaphern der Gottferne geläufig waren. Dante verwendet die Schneeschmelze als Bild für die Erweichung eines verstockten Herzens durch Erkenntnis an zwei Stellen27. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie diese pietistische Bildersprache losgelöst von aller religiösen Thematik anwendbar wurde, ist die Stelle aus der Marienbader Elegie, an der es heißt: 25

26

" 132

August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen: Niemeyer 1954. S. 7 1 A.a.O. S. 294 Purg. X X X , 85; Paradiso II, 106 f.

Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten, Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften, Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten, Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften; Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert, Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert. Es ist, als wenn sie sagte: ,Stund um Stunde Wird uns das Leben freundlich dargeboten. Das Gestrige ließ uns geringe Kunde, Das Morgende — zu wissen ists verboten; Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute, Die Sonne sank und sah noch, was mich freute. Drum tu wie ich und schaue, froh verständig, Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben! Begegn ihm schnell, wohl wo] lend wie lebendig, Im Handeln seis, zur Freude seis dem Lieben. N u r wo du bist, sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich!' 28 Staiger hat auf die pietistische Terminologie in der „Elegie" hingewiesen28. Das Augenblickserlebnis, in dem die göttliche Gnade das erstarrte Idi aufschmilzt, ist Zug um Zug auf die Begegnung mit der Geliebten übertragen. Dabei ist das Motiv potenziert: Die Geliebte, die mit dem Blick ihrer Augen den Augenblick auslöst, wird für den alternden Dichter zur Lehrerin des Augenblicks, der seine Jugend bestimmte, in welchem sich das Ewige unmittelbar offenbarte, noch nicht auf dem an Cusanus gemahnenden Umweg, daß in ihm Vergangenes beständig und Künftiges voraus lebendig sei. Die Aufforderung „sei alles, immer kindlich" bedeutet, daß im so verstandenen Augenblick die im doppelten Wortsinn ursprüngliche Totalität offenbar wird. Für Goethe war der Augenblick die Grundstruktur seines Verhaltens zur Welt und zu sich selbst, wobei „Augenblick" im Laufe seines langen Lebens die verschiedenen Nuancen annahm, welche die mittelalterliche Zeitspekulation entwickelt hatte 30 . Wenn er seine Lyrica „Gelegenheitsgedichte" nannte, so meinte er damit, daß sie, sei es aus hochgestimmter 28

Goethe, „ E l e g i e " Strophen 1 5 — 1 7

w

E m i l Staiger, Goethe I I I . Zürich: Atlantis 1 9 5 9 . S . 1 2 2

80

D a ß der „Augenblick" Goethes temporale Grundstruktur ausmache, ist die zentrale Einsicht, auf die Staigers Goethebuch ausgerichtet ist.

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Improvisation, sei es in überlegter Nachgestaltung, Augenblicke festhalten. Die Lyrik Goethescher Art hat die Auffassung zur Voraussetzung, daß der Augenblick in irgendeiner Weise Ewigkeit sei. Sie kann daher mit Recht Augenblickslyrik heißen. Daß ein Gedicht einen erhöhten Augenblick zu gestalten habe, blieb durdi das 19. Jahrhundert hindurch das Programm der Lyrik, die sich auf Goethe berief. Als der alte Storm noch 1870 ein „Hausbuch aus deutschen Dichtern" zusammenstellte, begründete er seine Auswahl damit: „Die L y r i k . . . anlangend, so i s t . . . die Kunst ,zu sagen, wie ich leide' nur wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar. — Nicht allein, daß die Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon e ί η falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann; diese Worte müssen audi durch die rhythmische Bewegung und Kangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedidit dem Leser — man gestatte den Ausdruck — zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, daß es unsere Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt." 31 In den nur nodi verschämt gebrauchten Wörtern „Offenbarung" und „Erlösung" scheint die religiöse Herkunft dieses Programms noch durch. Doch ist mit „Offenbarung" nur noch „Erregung ungewohnter Gefühle" gemeint. Wo für den Pietisten Gott wirkte, ist nun das abstrakte „Leben" am Werk. „Falsch" und „pulslos" werden unter dieser Voraussetzung synonym. Aber Spuren einer weniger vagen Auffassung sind noch darin enthalten, daß das Gedidit dem, der es liest, unmittelbare Klarheit über sich selbst verschafft, ihn zu seiner Ganzheit hinführt. Für Diditer und Leser ist es Offenbarung ihrer Person. Das erinnert an die pietistische Poetik. Das Wort „Augenblick" in der Sdilußstrophe der frühesten Fassung von „Himmelsnähe" ist wie eine Kennmarke dafür, daß das Gedicht in 31

Theodor Storm, Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. 1870 S. 1 1 ; bis n i . — Vgl. dazu Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik Bd IV. Berlin: de Gruyter 1959. S. 390

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die Tradition der Augenblickslyrik gehört. Es ist bekannt, daß Meyer sich diese Tradition durch eifrige Lektüre von Goethe, Novalis, Tieck und Jean Paul von Jugend auf angeeignet hatte. Seine frühesten dichterischen Versuche sind davon bestimmt. Wichtiger aber als diese abgeleitete Beziehung ist der Umstand, daß Meyer selbst unmittelbar aus den pietistischen Quellen schöpfte. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, die maßgebend vom Pietismus bestimmt war. Es gibt dafür kein sprechenderes Zeugnis als die Briefe, die während Meyers Jugendkrise zwischen Zürich und Préfargier hin und her gingen, in denen sich die Mutter mit den Betreuern des „armen Conrad" über dessen Zustand und Aussichten verständigte. Beide Teile, sie und Dr. Borrel, sahen in Meyers Krankheit nicht nur, ja nicht einmal so sehr ein medizinisches als ein religiöses Problem. Vor allem für die Mutter bestand Conrads Krankheit in der Verstockung, aus der nur die göttliche Gnade durch eine Bekehrung herausführen konnte. Sie schrieb an den Sohn: „Immer mehr Sprossen wirst du erklimmen bis audi du es zu erreichen vermagst, jenes schöne Reich der Wahrheit und der Liebe, das sich mit dem Augenblicke vor deinen erstaunten Blicken öffnet, wo du dein Dasein mit höheren, heiligen Zwecken verknüpfst." 32 Dr. Borrel schrieb von den „paroles glaciales de Conrad", von seiner „froideur dénaturée", der „froideur glaciale de sa lettre"". Daß diese Beurteilung sich nicht auf die Briefe beschränkte, geht aus Meyers Bemerkung hervor: „So sieht man mich denn anfangs für ein Ungeheuer von Kälte und Gefühllosigkeit an, obgleich ich die Leute zu überreden suche, daß ich freilich ein Teufel, aber ein armer sei."®4 Folgerichtig erscheint im ersten Brief Borrels der Heilungsprozeß unter dem Bild des Schmelzens: „Dès que je verrai fondre la glace de son cœur, et que le besoin d'affection et d'épanchement se fera sentir, je m'empresserai de vous en prévenir et je vous abandonnerai la part de sa guérison qui vous appartient: le soin de gagner son cœur."®5 Nach halbwegs überstandener Krise griff die Mutter gegenüber Cécile Borrel dieses Bild wieder auf: „Vous comprenez maintenant, mon amie, pourquoi j'étais heureuse aussi longtemps que mon pauvre enfant se trouvait à Préfargier. . . . N'était-ce pas la première fois que le cœur de Conrad semblait se réchauffer? L'intérêt si touchant que vous voulûtes lui 82

Am 30. Juli 1853. Vgl. Robert d'Harcourt, C.-F. Meyer, La crise de i 8 j 2 bis i8j6. Lettres de C. F. Meyer et de son entourage. Paris 1913. S. 13 »» A.a.O. S. 18/19 M A.a.O. S. 24 ® s A.a.O. S. 10 135

témoigner, les directions à la fois fermes et bienveillantes de Monsieur votre frère l'avaient placé dans une atmosphère qui faisait éclore quelques fleurs qui ressemblaient à des sentiments . . ," 3e Dieser Hinweis auf die gemeinsame Ausdrucksweise soll den Unterschied zwischen der quietistisdien Einstellung der Mutter und der aktiven Frömmigkeit von Préfargier nicht verwischen. Beiden aber ging es nicht einfach um den Gegensatz von Gefühlskälte und Wärme der Empfindung. Mit „cœur glacial" w a r eine Existenzweise gemeint, die sich ganz nur auf das eigene Ich, auf dessen Verwirklichung und Vervollkommnung aus eigener Kraft konzentrierte. Das Hauptsymptom dafür war in den Augen der Mutter Meyers unbedingtes Streben nach dichterischem Ruhm. Die Aufschmelzung, welche in Préfargier angestrebt und für einige Zeit erreicht wurde, bestand in der Hinwendung zum Mitmenschen, zum Dienst an der Gemeinschaft, der sich das Ich unterordnete. Man hat mit Recht darauf hingewiesen 37 , daß die Krankheit Meyers von einer Ideologie überwölbt war, die in manchen Punkten Nietzsches Gedanken vorwegnahm, dem sich ja, wie noch zu zeigen sein wird, die Schnee- und Eis-Metaphorik teilweise ins Positive wandelte. Außer dem zentralen Bild des Schmelzens finden sich zahlreiche andere Vorstellungen und Ausdrücke aus dem Wortschatz des Pietismus in der ersten Fassung von Himmelsnähe: „Durchwehen", „umwehen", „umfließen", „quellen", „walten", „neigen"; die Metaphern „Meer", „Born des Lichts", „Adler", „ A l t a r Gottes" (für Gebirge) 38 . Das Gedicht als ganzes gemahnt an Tersteegens viel gesungenes Lied „Gott ist gegenwärtig / lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten" oder das andere „ O Gott, o Geist, o Licht des Lebens." 39 Schließlich steht hinter Meyers Gedicht, nicht dem Ton, wohl aber der Erlebnisstruktur nach, Goethes „Ganymed", der Prototyp der aus 36 37

A . a . O . S. 149 K a r l Emanuel Lusser, C o n r a d Ferdinand Meyer. Das Problem seiner Jugend. Leipzig: Haessel 1926. — Dieses ausgezeichnete Budi ist ein Beispiel dafür, daß trotz äußerst fragwürdiger theoretischer Prämissen (Stammesgeschichte) bei sorgfältiger Arbeit differenzierte und angemessene Ergebnisse erreicht werden können. D e m Buch wäre eine N e u a u f l a g e zu wünschen.

38

V g l . Langen, Pietismus. D i e Bezeichnung der Berge als „Gottes A l t ä r e " erscheint auch bei Jean Paul in der „Unsichtbaren L o g e " . Werke, hrsg. von Norbert Müller, München: Hanser i960. Bd I, S. 62

38

Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen. Neue Ausgabe. Stuttgart: Steinkopf 1956, S. 340; S. 502. V g l . auch die Hinweise des Hrsg. Werke III, S. 34

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dem Pietismus hervorgegangenen Aufschwungslyrik, in dem Augenblicksthematik und Aufschwungmotiv exemplarisch verbunden sind. Der mythologische Titel deutet darauf, daß hier die Adler-Emblematik in anderer Weise gilt. Der Adler repräsentiert die befreiende Macht. Sie dringt das Ich aus der Frühlingslandschaft durch alle Sinnen an. Es wird davon ergriffen und auf den Alliebenden Vater zugetragen im Überschwang der Empfindung, dem im „Mir! Mir!" zugleich ein starkes Selbstbewußtsein entspricht. Der Aufschwung führt nicht aus der Welt heraus, sondern in ihr lebendiges Zentrum. „Aufwärts" und „Abwärts" sind eins wie „umfangend, umfangen". Das Ich ist Teil des Alls und selber ganz. Sein Bei-sich-selbst-Sein spricht das Gedicht unmittelbar aus. Es ist Ausdruck der augenblickshaften gesteigerten Empfindung 40 . Ist damit der Nachweis erbracht, daß das Gedicht insofern in der Tradition der Augenblickslyrik steht, als es von pietistischem und goetheschem Geist geprägt ist, so blieb doch bisher völlig außer Acht, daß die Schlußstrophe nur vom Augenblick spricht, um ihn in Frage zu stellen: Nicht eines Augenblickes kurzer Raub, Laß deine Nähe bleiben mein Geleit Die Bezeichnung „kurzer Raub" kritisiert zweierlei: Der Augenblick wird als flüchtiger erfahren. Er enthält nicht mehr die Totalität der Zeit, die seine eigne Vergänglichkeit wettzumachen vermöchte, sondern ist eine Stimmung, der, da sie dem Wechsel unterworfen ist, alle Verbindlichkeit abgeht. „Ii me semble quelquefois que nous payons un peu cher et de beaucoup d'ennuis les quelques instants de joie qui colorent un peu la vie et qui passent si vite", schrieb Meyer einmal an Cécile Borrel 41 . Darum folgt in der nächsten Zeile des Gedichts die Bitte um b l e i b e n d e s Geleit, d. h. um die spürbare dauernde Allgegenwart Gottes. — Zum andern erscheint die augenblickshafte Gottgleichheit als „Raub", in Anlehnung an eine berühmte Paulusstelle. (Phi 2, 6) Sie ist ein Ausdruck der menschlichen Hybris. Ihr wird die Gerechtigkeit entgegengehalten, die von Gott ausgeht. Sie hängt insofern mit der göttlichen Allgegenwart zusammen, als für sie alle Augenblicke gleiches Recht haben, also nicht mehr besonderen Erlebnissen eine höhere Würde zukommt. Mit dem Augenblick wird das ganze Gedicht als ein Stück Augen40 41

Vgl. Emil Staiger, Goethe I. Zürich: Atlantis 1952. S. 64 ff. D'Harcourt, L a crise S. 186

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blickslyrik in Frage gestellt. Etwas stimmt da nicht mehr. Wir meinen zu erkennen, daß bereits die Zweiteilung in Erlebnis und Reflexion der angemessenen Gestaltung eines seiner selbst gewissen Erlebnisses zuwiderläuft. Der Blick wird geschärft für jene Stilzüge, die nicht mit einer Poetik der Augenblickslyrik übereinstimmen. Storm hatte gefordert: „Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie womöglich alles drei zugleich. — Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht." 42 Schauen, Hören, Empfinden; sinnliche und geistige Wirkung — es ist überraschend, wie exakt Meyers Gedicht, wie es die Interpretation erhellt hat, diese Forderungen erfüllt. N u r fehlt jenes „zugleich". Das ist freilich das Entscheidende. Meyers Gedicht baut sukzessiv ein Erlebnisgedicht aus seinen Bestandteilen auf. Er sucht auf analytischem Weg zur Synthese zu kommen. Weil er das Programm Punkt für Punkt erfüllt, verfehlt er sein Ziel, die unmittelbare Wirkung. Fast erinnert das Gedicht an Meyer in Préfargier, der sich anstrengte, Gefühle zu haben. Die Diskrepanz zwischen Meyers Gedicht und einem wirklichen Augenblicksgedicht, die der Hinweis auf „Ganymed" unmittelbar ergibt, läßt sich auf einem kleinen Umweg noch deutlicher machen, indem wir es an jenen Momenten messen, welche Emil Staiger als Charakteristika des Lyrischen herausgestellt hat. Staiger ging es in den „Grundbegriffen der Poetik" 43 um die Verankerung und Begründung der Gattungen in zeitlich verstandenen ewigen Möglichkeiten des Menschen. Das Lyrische ist eines der drei idealtypischen Verhältnisse von Ich und Welt, genauer gesagt die Aufhebung dieser Trennung. In den konkreten historischen Erscheinungen kann es sich nur mehr oder weniger rein realisieren. Wie Staigers Beispiele zeigen, kommt die Lyrik der Goethezeit, die Augenblickslyrik, dem Lyrischen so am nächsten, wie das Homerische Epos dem Epischen. So kann es denn zulässig sein, in unserem Zusammenhang Staigers Bestimmungen des Lyrischen als eine Beschreibung der auf den Augenblick orientierten Lyrik der Goetheschen Tradition zu verwenden. Im lyrischen Gedicht spricht ein Ich, und zwar vorzüglich im Prä42 48

138

Vgl. Anm. 30 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich: Atlantis 1946

sens. Das sdieint audi für Meyers Gedicht zu gelten, sein Anfang gleicht demjenigen von „Jägers Abendlied" Im Felde schleich ich still und wild, Gespannt mein Feuerrohr. Beide Anfänge antworten auf die Fragen wer? wann? wo? In Goethes Gedicht aber ist diese Rechenschaft an ein Du gerichtet. Bei Meyer fehlt ein Adressat. Das Ich scheint mit sich selber zu reden. Damit erhält die präsentische Ich-Aussage ein ganz anderes Aussehen. Es überschneiden sich in ihr gewissermaßen zwei benachbarte Möglichkeiten. Entweder könnten, wie etwa in „Die Dryas", „Die gelöschten Kerzen", „Das bittere Trünklein" von einer dritten Person so genaue Angaben über ihre äußere Lage gemacht werden. Dann würde das Praesens zu einem historicum, das Vergangenes um der lebhafteren Wirkung willen vor unsere Augen versetzte. Oder aber es verbänden sich erste Person und Praeteritum. Staiger betont, daß im Lyrischen das Praeteritum der Erinnerung legitim ist44. Dafür gibt es ebenfalls Beispiele bei Meyer. Hier aber spricht das Ich von seiner Gegenwart wie von einem Vergangenen, von sich selbst wie von einem dritten. Was sich als Form der Unmittelbarkeit gibt, erweist sich näherem Zusehen als eine der distanzierten Reflexion. Besteht für Staiger das Wesen des Lyrischen darin, daß aller Abstand aufgehoben ist, so wird hier von Anfang an ein vielfacher Abstand gesetzt: des Ich zu sich selbst, zwischen Ich und Landschaft, zwisdien Wahrnehmung und Reflexion, zwischen den verschiedenen Sinnesbereichen der lyrischen Synaesthesie. Nur an zwei Stellen, im Ausruf „ O Alpenluft etc." und im Schlußgebet, kommt so etwas wie eine unio lyrica zustande. Sie täuschen aber nicht über die durchgehende Distanziertheit hinweg. — Wir haben gesehen, daß Meyers Gedicht seiner Entstehung nach nicht eine vom Erlebnisaugenblick eingegebene Improvisation ist. Das äußert sich in einer Sprechlage, die, in Wortwahl und Komposition, über der der Alltagssprache liegt. Verlieren im lyrischen Fluß die einzelnen Teile ihre Selbständigkeit, so sind sie hier deutlich gegeneinander abgegrenzt. Die männlichen Zeilenenden und die Akzentuierung der Strophenschlüsse bringt den Fortgang nach jeder Zeile resp. Strophe zum Stocken. Und schließlich ist die Gesamtwirkung weit von der der Musik entfernt. So ist denn der Befund völlig negativ, was die stilistischen Momente betrifft. Gemessen an Staigers Bestimmung darf dieses Gedicht nicht 44

A.a.O. S. 60

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lyrisch heißen. Genauer gesagt: Die Gestaltungsmittel stehen konsequent im Widerspruch zur Intention des Dichters. Daß dieser sich jedoch ganz im Sinne der aufgezeigten Tradition verstand, bringt das mit dem betrachteten motivisch verwandte Gedicht zum Ausdruck, das er im Jahr der Niederschrift des Entwurfs seinem Erstling, den „Zwanzig Balladen von einem Schweizer", vorausschickte: Der Der Mit Sich

Frühling kommt, die Berge strahlen rein, Himmel spiegelt sich in klarer Bucht, gleicher Güte neigt der milde Schein auf das sanfte Thal, die rauhe Schlucht.

Leis schmilzt der Schnee, es stürzt in breitem Guß Der Wasserfall und braust zu Thale schon, Mit vollen Borden rauscht der kühle Fluß, Mit allen Wassern zieht der Rhein davon. Du hast den Wanderstab nun in der Hand, O Frühling, alles rinnt und rausdit mit dir, Nimm du mir meine Lieder über Land Und gib aus deinem Füllhorn neue mir! 45 Hier erscheint das Gedicht, es ist bezeichnenderweise von „Liedern" die Rede, als Ergebnis einer unmittelbaren ganymedischen Aufwallung. Und auch hier widerspricht die Gestalt des Gedichts dieser Thematik. Der an der Erstfassung von „Himmelsnähe" aufgezeigte Widerspruch hat zu viel System, als daß er einfach auf das Konto dichterischer Unzulänglichkeit gesetzt werden könnte. In ihm manifestiert sich eine Situation, in der die bisher gültige und auf die Goethezeit zurückgehende, von einer neuen Dichtungskonzeption durchkreuzt wird. Diese war in Meyer durch F. Th. Vischer angeregt worden. Betsy charakterisiert in ihrer „Erinnerung" den revolutionierenden Einfluß der „Kritischen Gänge" auf den jungen Meyer4". In ihrem „Frühlingsbrief", in dem sie sich mit Kalischers Meyerdeutung auseinandersetzt, kommt sie später noch präziser darauf zu sprechen: „Sie nennen einmal Friedrich Vischer meines Bruders Aesthetiker, ohne der Jugendkrise zu gedenken, des Wendepunkts im Leben des Dichters, die durch Visdiers „Kritische 45

46

Zit. bei Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke. Stuttgart: Cotta 1900. S. 168 Betsy Meyer, a.a.O. S. 98. Zum Einfluß Vischer« auf Meyer vgl. Lusser a.a.O. S. 37

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Gänge" stark beeinflußt, um nicht zu sagen herbeigeführt wurde. Auf diesem Punkte der Entwicklung war das Eingreifen Vischers... für ihn ein entscheidendes. Vischers Vorträge räumten unter den Nebelgestalten der Romantik, von denen der Einsame träumte, energisch auf. Ihre kritische Schärfe wurde für Conrad Ferdinand, der von jeher der Philosophie Hegels verständnislos gegenüberstand, nichts anderes als ein heilendes Gift. Die Wirkung war eine zersetzende, aber die daraus resultierende war eine heilende und notwendige." 47 Der etwas unvermittelte Hinweis auf Hegel ist wohl so zu verstehen, daß es Visciiers auf einzelne konkrete Gegenstände bezogenem Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Kunst gelang, Meyer seinen eigenen Ort finden zu helfen, was Hegels Abstraktheit nicht erreicht hatte. Vischers „Kritische Gänge" 43 hatten ein doppeltes Ziel. Auf dem Feld der Dichtung richteten sie sich gegen die Romantik, auf dem der Religion gegen den Pietismus, beides im Namen eines modernen „subjektivobjektiven" Ideals. Anlaß zur Romantikkritik war eine Würdigung Mörikes, bei dem Vischer zeigte, wieweit dieser noch am romantischen Subjektivismus, „einer nebelhaften Sagen- und Märchenwelt" teilhatte, wieweit er das neue Ideal plastischer Klarheit verwirklichte. Stellte Vischer hier die positive Weiterentwicklung aus der Romantik dar, so geißelte er im bezug auf Herwegh eine weiterhin an der Romantik orientierten Lyrik mit grimmigen Worten: „Lenz, Lerchen, Liebe und Wein sind matt geworden; das Gemüt, das sich den großen Interessen des öffentlichen Lebens verschloß und in den Genuß seiner Subjektivität einspann, hat diese unschuldigen Gegenstände todtgehetzt und ist endlich gerade in seiner Naturschwelgerei, in seiner Untätigkeit und Interesselosigkeit vergeilt, an seiner tatenlosen Überfruchtung erkrankt und in Zerrissenheit untergegangen." 49 Der Angriif gegen den Pietismus ergab sich aus der Verteidigung D. F. Srauß'. Hier fallen die bösen Worte, der Pietismus sei „eine Krätze", „eine Eiterung der besten Säfte des Geistes". Dieser Vorwurf wird dann detailliert: „Der Pietismus ist der geborene und geschworene Feind der wahren Wissenschaft. . . . Der Pietist ist ein Religiöser von métier. . . . Wer sich ein rechtes Bild von den ver47

48

«

Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer, Erinnerungsblätter, hrsg. von Julius Rodenberg. Das lit. Edio 15. J g . 1 , 1 9 1 2 . Sp. 1 — 1 4 . Der Brief geht unter dem Namen „Frühlingsbrief". Fr. Th. Visdier, Kritische Gänge, hrsg. von Robert Vischer. 2. verm. Aufl. Leipzig: Verlag der weißen Bücher 1 9 1 4 . 4 Bde A.a.O. Bd 2, S. 92

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dämmten bösen Geistern machen will nach der kirchlichen Vorstellung, von ihrem Grimm, ihrer Wuth, im Gefühle ihrer Unmacht und Verdammnis, der muß einen Pietisten ansehen." 50 Romantik- und Pietismuskritik treffen sich, wie sich Vischer gegen Schleiermadier und den Mystizismus der romantischen Religionsphilosophen wendet. Beide seien, statt auf die immanente Realität, auf eine „transzendente Afterwelt" 51 ausgerichtet. Als später Meyer mit Vischer in brieflichem Kontakt stand, bestätigte er ihm die große Bedeutung für seine Entwicklung: „Ihr Name hat für midi von jung an einen Nimbus gehabt und gewisse Grundbegriffe sind mir dann doch erst durch ihre Aesthetik und deren Anwendung in den Krit. Gängen überzeugend und zwingend geworden." 58 Den Einfluß Vischers im einzelnen zu verifizieren, ist schwierig. Man meint ihn herauszuhören in der seltsam zwiespältigen Einschätzung Mörikes: „Nicht die Liebeslieder, die mir (unter uns) etwas zu sinnlich sind, sondern die Landschaften (ζ. B. das schöne Lied, wo die nächtlichen Quellen singen, vom Tage, vom dagewesenen(!) Tage. ,Der sichere Mann* ist unsinnig aber zu ergötzlich. Der ,Abschied' einzig. Am besten gefiel mir die Betrachtung über die Füße. Etwas mehr Mann wäre dem Ganzen zu wünschen."5® Auch das folgende Bekenntnis an den Freund Konrad Nüscheler gehört mit in diesen Zusammenhang: „Wunder nimmts mich, ob sie bald merken, daß ich mit Sakk und Pakk zum Christentum übergegangen bin? Es versteht sich, ohne jede Anwandlung von Pietismus, einfach, ruhig aber ganz." 54 Es ist wohl der allgemeinen Auffassung zuzustimmen, daß Vischers Bedeutung für Meyer darin lag, daß er mit Vehemenz seine bisherigen Ideale zertrümmerte. In die entstandene Lücke konnten dann nach der Krise Pascal und Michelangelo als Vorbilder treten. Als Meyer die erste Fassung von „Himmelsnähe" niederschrieb, lagen Vischer-Lektüre, Préfargier, Italienerlebnis bereits Jahre hinter ihm. Und doch ist, wie wir gesehen haben, dieses Gedicht noch auf das stärkste von jenen Idealen bestimmt, die Vischer erschüttert hatte. Nicht daß nicht auch die Kritik ihren Niederschlag gefunden hätte. 50 51 5S

5S 54

A.a.O. Bd ι, S. 100 Zit. bei Lusser a.a.O. S. 40 C . F. Meyer und Fr. Th. Visdier, Briefwechsel. Süddeutsche Monatshefte 3. Jg., Η . 2 1906. S. 1 7 6 A m 20.9. i 8 j 3 an die Schwester. d'Harcourt, L a crise S. 2 1 3 A m 6. 1. 1854. Karl Emil Hoffmann, Conrad Nüscheler von Neuenegg und seine Beziehungen zu Conrad Ferdinand Meyer. Die Schweiz X X I I I , 4. 1 9 1 9

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Aber sie war nur ein Stück weit eingedrungen. Der Kernpunkt, das Augenblickserlebnis am Rande der Welt, der „subjektive Mysticismus", mit Vischer zu reden, war nicht tangiert. Die kritische Schlußstrophe ist unvermittelt angehängt. Damit aber ist gesagt, daß sich Meyers grundlegende geistige Wandlung erst in Ansätzen auf seine lyrische Produktion ausgewirkt hatte. Diese bleibt noch einem früheren Stadium verhaftet. Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Die Diskrepanz zwischen der Theorie eines Dichters und seiner dichterischen Praxis ist ein allgemeines Phänomen, das bei Goethe am spektakulärsten auftritt, wenn er mit Behagen gegen den Kunstkanon verstieß, auf den er seine Zeitgenossen zu verpflichten suchte. Wie denn schon der tätige Mensch mit seinen Handlungen immer wieder hinter seiner Einsicht zurückbleibt, so erst recht der Dichter, dem niemand als die eigene Erfahrung am Material sagen kann, wie er es denn eigentlich zu machen habe. Darin liegt andrerseits die Chance, daß die Dichtung ins begrifflich noch Unerschlossene vorstößt. Meyers unermüdliche Arbeit an seinen Gedichten erscheint somit als Versuch, seine gewonnene Einsicht und seine lyrische Produktion in Einklang zu bringen, d. h. einen Gedichttypus zu schaffen, der den geistigen und künstlerischen Positionen standhielt, die ihm zum Verständnis seiner selbst verholfen hatten. Das soll im Einzelnen gezeigt werden, wenn wir die weitere Geschichte des Gedichtes verfolgen, die von der Augenblickslyrik wegführt. II. Daß die einzelnen Niederschriften des Gedichts nicht verschiedenen Stufen von Meyers Entwicklung zugeordnet werden können, erhellt schon daraus, daß die Überarbeitung nur ganz kurze Zeit nach der ersten Niederschrift erfolgte. M2 trägt das Datum des 16. Juli 1864 und lautet: Auf schmalem Grat bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezacktem Kreis Ein blendend Silberhorn blickt über mir Hervor aus einem grünen Meer von Eis. Von Abgrund ist mein Lagerplatz umgränzt, In beiden Tiefen leuchten blaue Seen, Mit Alpenrosen ist mein Sitz bekränzt, Mein Blut ist kühl und meine Haare weh'n. 143

Der Schnee der gestern hing am Fels zerstreut In hundert Bächlein rieselt er davon, Und in der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon Bald nahe tos't, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er rechts verweht, jetzt stäubt er links, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Der Stille murmelnde Geräusche rings O Gottes Athemzug O Luft der Höh'n Dein Schauer rieselt mir bis in das Mark, Wenn deine kühlen Ströme mich durchweh'n, So werden meine guten Geister stark Zusammenschrickt die trübe Leidenschaft, Von reinem Hauchen schauerlich gekühlt Und fröhlich steht gegürtet jede Kraft Die sich in ihres Meisters Nähe fühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust, Und öffnet seine Schwingen ungestüm Des Gottentstammten Geistes Gotteslust Und strebt aus leichten Banden auf zu ihm. O Glück, in deiner Gegenwart zu sein Der reinen die den Reinen nur berührt, Ich bebe vor dem Pfad am Felsgestein Der steil midi bald in dumpfe Tiefe führt O dürft' ich ihn behalten, meinen Raub, Die Beute meiner kurzen Himmelfahrt Und mit mir tragen in der Thale Staub Die Alpenlüfte deiner Gegenwart. 55 Die wichtigsten Tendenzen der Umarbeitung lassen sich aus einem Vergleich der Anfangsstrophen ablesen: Aus der nicht ganz korrekten zweiten Zeile wurde eine eigene, die zweite Strophe. Die erste befaßt sich nunmehr nur noch mit der Höhenposition. Die neue zweite Zeile „In der Gebirge . . . Kreis" machte die Ersetzung von „mächtiges Gebirg" in der dritten nötig. Das Ergebnis davon ist mehr als nur eine stilistische Variation. Die Emphase, welche im Adjektiv „mächtig", im singularisch 65

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Werke III, S. 24 f.

gebrauchten Kollektivum „Gebirg" und der Apokope zum Ausdruck kam, ist in „blendend Silberhorn" konkreter Anschaulichkeit gewichen. Der Abbau der Emphase des Adjektivs läßt sich in der Handschrift schrittweise verfolgen auf dem Wege „mächtig — riesig — strahlend — schimmernd — leuchtend — blendend". Auch die Umwandlung von „hoch" in „schmal", wohl der Assonanz zuliebe vorgenommen, bedeutet eine Versachlichung. Dasselbe gilt für die Ersetzung des fast pleonastisdien „blendend rein" durch ein Farbadjektiv „grün", obwohl auch hier Rücksichten auf Wortwiederholungen maßgebend waren. Die Anschaulichkeit, welche aus diesen Veränderungen hervorging, macht die Zuordnung dieser Strophe zum Auge vollständig. Sie findet eine Bestätigung in dem sonst nicht eben glücklichen Verbum „blickt". Die neu dazugekommene zweite Strophe ist gleichfalls optisch angelegt, doch vermag sie der Blick ins Tal nicht zu füllen; die zweite Hälfte fällt aus diesem Rahmen. Immerhin, da andrerseits die vierte Strophe, die wir dem Gefühl zugewiesen haben, getilgt wurde, ergab sich eine Verschiebung innerhalb der Sinnesbereidie. Die Landschaft dringt nur noch bis zum Gehör vor, der distanzierende Gesichtssinn mit seinem geringsten Grad von Lebhaftigkeit dominiert. Der Rückzug der Emphase hat eine motivische Entsprechung: Die Sonne ist aus dem Gedicht verschwunden. Schuld daran ist hauptsächlich die Tilgung der vierten Strophe. Aber audi in der ehemaligen zweiten ist das Schmelzen des Schnees nicht mehr ihr Werk, sondern ein intransitiver Vorgang. Da das Flutlicht der Sonne erloschen ist, beginnt die Landschaft aus sich heraus zu leuchten. Allenthalben treten ihre Hell-Dunkel- und Farbqualitäten hervor, sie wird zum Bild. Eigenständigkeit der Landschaft und gedrosselte Empfindung des Betrachters sind komplementär. Beides.macht den Abstand sichtbar, den die erste Niederschrift zu verdecken gesucht hatte. Dem oben Gesagten scheint zu widersprechen, daß das Bauprinzip des Gegensatzes, das wir als Ausdrifcksform der Emphase verstanden, nicht versdiwunden ist, sondern überall verstärkt wurde. Paradigmatisch dafür ist die Umformung von Ein rauschend Leben waltet überall In dieser menschenleeren Einsamkeit in Ein tiefes Schweigen und ein steter Sciali Der Stille murmelnde Geräusche rings. 145 10 Pestalozzi, Lyrisches Idi

Hier ist die Antithese potenziert. Zugleich ist alles Pleonastische, in dem die Empfindung zu Wort kam, geschwunden. Die Phänomene selber sind zur Paradoxie verbunden. D. h. die Antithese wurde umfunktioniert vom Gesetz des empfindenden Ich zu dem der Landschaft. Man bekommt durchwegs den Eindruck, es sei dem Dichter darum zu tun gewesen, die Landschaft als ein dichtes Geflecht von Gegensätzen zu zeichnen. In der Wasserfallstrophe gelang das am überzeugendsten. Aber auch in der dritten Strophe werden nun deutlicher als in M 1 Vergehen und Erblühen, Winter und Frühling, gestern und heut, schwarz und weiß in Opposition zueinander gebracht. — Betrachtet man die Vorstufen zu M', so fällt vor allem Meyers Schwanken bei der Wahl der Farbadjektive auf. Zwischen „grün" und „blau" geht es in der ersten Strophe mehrmals hin und her58. Auch hier scheint die Möglichkeit, Kontraste zu erzielen, mitgespielt zu haben. Das schließlich siegreiche „grün" als Beiwort zu „Meer von Eis" suggeriert die Gegensätze lebendig-tot, beweglich-starr, Meer-Eis, dunkel-hell. „Schnee neben grün ist ein hübscher Effekt", schrieb Meyer einmal an Mathilde Wesendonck57. An der Farbe ist ihm demnach vor allem der Helligkeits- und Bedeutungswert relevant, der kontrastierende Arrangements erlaubt. Daß er solche Wirkungen nicht zu grell machen wollte, zeigt die Zurücknahme von „weiß" in „zart" als Epitheton für die Soldanelle, die der schwarzen Feuchte entsprießt. Das verstärkte Kontrastprinzip macht nun aus den einzelnen Strophen erst recht in sich abgeschlossene Einheiten, so daß ihr Zusammenhang untereinander lockerer geworden ist. Die Motivkette, die sich als Schmelzen verstehen ließ, ist zerbrochen. In den ersten vier Strophen des Gedichts reihen sich nun vier verschiedene Aspekte der Landschaft aneinander, deren Abfolge zufällig ist. Sie ließe sich beliebig verändern. Heinrich Henel ist aus seiner Beschäftigung mit Meyer dazu gelangt, dem fließenden Stil des im Sinne Staigers lyrischen Gedichttypus einen Gegentypus gegenüberzustellen. Als dessen wichtigste Merkmale nennt er: bildliche, nicht musikalische Mittel; Selbständigkeit der Teile; metrische Regelmäßigkeit; Entwicklungslosigkeit, eine Art Treten an Ort 58 . 59

A . a . O . S. 2 4

57

A m 8. 1 2 . 1 8 7 1 . Friedr. Wilh. Freiherr v o n Bissing, Mathilde Wesendonck, die F r a u und die Dichterin. I m A n h a n g : D i e Briefe C . F . Meyers an M a t hilde Wesendonck. W i e n : Schroll 1 9 4 2 (Kaiser Wilhelm Institut f ü r K u l t u r wissenschaft im P a l a z z o Zucdiari, R o m . V o r t r ä g e 1. Reihe H e f t 3 2 / 3 3 ) S. 7 2

58

Henel, Gedichte: N a c h w o r t ; Erlebnisdiditung und Symbolismus

1 46

Die Veränderungen, die Meyer mit dem ersten Teil des späteren „Himmelsnähe " vornahm, bedeuten einen entschiedenen Schritt auf den Idealtypus dieses, wie Henel es nennt, „statischen Gedichts" zu. Auch im Zusammenhang zwischen den beiden Teilen des Gedichts ist eine leichte Verschiebung wahrzunehmen. Zwar hat Meyer versucht, mittels Wortaufnahmen einige Verstrebungen anzubringen. Die so seltsam deplazierte zweite Hälfte der neuen zweiten Strophe kann nur den Sinn haben, das Motiv des Windes, das die zweite Gedichthälfte trägt, vorsorglich einzuführen. Das vermag aber nichts daran zu ändern, daß sich der zweite Teil unverhüllter als deutender Kommentar des ersten zu erkennen gibt. Am Anfang steht die Metapher „O Gottes Atemzug" und dann erst das Phänomen, auf das sie sich bezieht, „ O Luft der Höh'n". Das der Deutung zugrundeliegende Schema scheint, wenn man die dafür zentrale siebente Strophe betrachtet, beibehalten. Aber es fällt auf, daß „heilig" und „selig" eliminiert, mehrere Vokabeln, die dem Wortschatz des Pietismus zugehörten, verschwunden sind; das Wort „Augenblick" fehlt. In der sechsten Strophe ist „heilig" durch „rein" ersetzt, das auch dem neuen Höhepunkt des Gedichts das Gepräge gibt: O Glück, in deiner Gegenwart zu sein Der reinen die den Reinen nur berührt. „Rein" ist ein negativer resp. privativer Begriff, der die Abwesenheit von etwas positiv ausdrückt. Reinheit ist als Wert gesetzte Negation. Gott erscheint hier als der Reine im Hinblick auf die Zeit, er ist reine Gegenwart, also keiner Vergänglichkeit unterworfen. Das wird am Gegenbegriff deutlich. Kennwort für die Unreinheit ist hier wie auch sonst oft bei Meyer „Staub" 5 9 . Es deutet Nichtigkeit als Vergänglichkeit. Was der Welt zugehört, ist Staub. Die Himmelfahrt ins Gebirge führt das Ich aus der Zeitlichkeit hinaus ins Zeitlose Gottes und seiner selbst. Damit wird klar, weshalb das Wort „Augenblick" nicht mehr am Platz ist. Es bezeichnet gerade das wie auch immer verstandene Ineinander, die Identität von Zeitlichem und Ewigem. Nun, in der neuen Fassung des Gedichts, besteht das Erlebnis, wenn überhaupt nodi von einem solchen gesprochen werden darf, im totalen Hinaustreten aus der Zeit. D a Gott, der Reine, als allem Irdischen radikal entgegengesetzt ver59

Vgl. den Aufsatz des Vf., Tod und Allegorie in C. F. Meyers Gedichten. Euphorion 56, 1962 147

10»

standen ist, kann die Begegnung mit ihm nicht mehr eine Steigerung der Lebensintensität mit sich bringen. Die Leidenschaft heißt jetzt „trüb", was sie eindeutiger der Staubsphäre zuordnet. Man kann feststellen, wie gegegeniiber M 1 die Reaktion des Ich auf Gottes Nähe gedämpfter geschildert wird. Aus „eindringen" wurde „rieseln", die Kraft, die sich „ermannt", zu einer, die „gegürtet steht", das Schlagen der Adlerschwingen zu einem Flattern, die Erwähnung des Adlers wurde gestrichen60. Den Zustand insgesamt kennzeichnen jetzt die Adjektive gut, fröhlich, frei, glücklich. „Glück" hat in den Umarbeitungsvarianten über „Lust", „Kraft", „Trost" den Sieg davongetragen 61 . Es ist das sanfte Glück erlangter Ruhe jenseits der Zeit. Das Ich gelangt jedoch im Gebirge nicht in den totalen Genuß seiner Negation, seiner Reinheit. Zwar will das Gedicht darauf hinaus, doch widerstrebt ihm die Darstellung. Keine einzelne Strophe ist ganz der Reinheit eingeräumt. Immer steht sie mit ihrem Widerpart zusammen. Der Kontrast, das Strukturprinzip der Landschaft, bestimmt als Widerspruch auch den dem Ich gewidmeten Teil. Das Gebirge erscheint als Ort, an dem dieses sich in seinem Widerspruch von Reinheit und Unreinheit, Ewigem und Zeitlichem erfährt. Wie die Übereinstimmung zwischen Ich und Landschaft, so ist auch die Einheit von Irdischem und Göttlichem in ihre Komponenten auseinandergetreten. Beide Sphären haben sich gegeneinander abgegrenzt. All das deutet sich in M2 mehr an, als daß es schon zu letzter Stimmigkeit gebracht wäre. Der Übergangscharakter dieser Niederschrift wird faßbar an einer Schwierigkeit, an der beide Teile des Gedichts kranken. Das Gebirge, das in sich den Widerspruch enthält, ist als Ganzes der Tiefe entgegengesetzt, also wiederum Teil einer größeren Antithese. Und ebenso ist Gott, der doch alle Gegensätze umspannen müßte, fast manichäisch der reine Teil in einem umgreifenden Gegensatz! Gott und Gebirge sind das Ganze und zugleich nur ein Teil. Diese Ungeklärtheiten aufzulösen bedurfte es einer weiteren Umgestaltung des Gedichts, obwohl Meyer es so i 8 6 j mit geringen Änderungen zum erstenmal veröffentlichte 62 .

"

62

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Werke I I I , S. 27/28 A.a.O. S. 28/29 Morgenblatt für gebildete Leser vom 9. Juli 186}

III. E t w a zwei J a h r e darnach setzte der zweite Arbeitsgang am Gedicht ein. Meyer kürzte es rigoros von 9 auf j Strophen. Im ersten Teil wurde davon die nachträglich dazugekommene zweite Strophe betroffen. G r a vierender w a r der Eingriff in den zweiten Teil. Aus den Strophen fünf und sechs entstand e i n e Strophe, die neue Schlußstrophe führt nun die bisherige siebente weiter. Alles übrige, d. h. der ganze frühere Schluß, wurde preisgegeben. Als „Himmelsnähe" ging diese Fassung in „Romanzen und Bilder" ein. Auf schmalem G r a t bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezacktem Kreis, Ein blendend Silberhorn blickt über mir H e r v o r aus einem grünen Meer von Eis. Der Schnee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon, U n d aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. B a l d nahe tost, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er hier verweht, jetzt stäubt er dort! Ein tiefes Schweigen und ein stäter Schall: Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort! O Luft der Höh'n, du wundersame K r a f t ! Ich habe s e i n e n Athemzug gefühlt! Zusammenschrickt die dumpfe Leidenschaft V o n reinen Hauchen schauerlich gekühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust, Die kühnen Schwingen öffnend ungestüm, Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und schwebt mit Adlerskräften auf zu ihm.' 3 Durch die Reduktion der Strophenzahl ist das Gedicht in seiner Tektonik überschaubar geworden. Es ist um eine Symmetrieachse angelegt, die Strophen gliedern sich in 2 + 1+2. Die ersten beiden enthalten das Bild der Landschaft, wie es sich dem Auge darbietet. Sie stehen zueinander in einem Kontrastverhältnis und sind in sich antithetisch gebaut. es

Werke III, S. 30/31. — C . Ferdinand Meyer, Romanzen und Bilder. Leipzig: Haessel 1870. S. 23

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Der Hinweis auf die Tiefe ist ausgeschieden, das Gebirge erscheint dadurch absolut. Die Wasserfallstrophe ist nun ins Zentrum gerückt. Sie bildet, ohne daß sie eine grundlegende Änderung erfahren hätte, das Herzstück des Gedichts. Das erreichte Meyer mit dem kleinen Kunstgriff, daß er in der vierten Strophe das Praesens durch ein Perfekt ersetzte: Ich habe s e i n e n Athemzug gefühlt! Das macht die Schlußstrophen zum Nachspiel der Wasserfallstrophe. Dem kommt entgegen, daß sich in dieser durch das Fehlen von finiten Verben in der zweiten Hälfte die Zeitverhältnisse verwischen. Aus den letzten beiden Strophen geht hervor, daß sich im Wasserfall Gott offenbart hat, und zwar unabhängig vom empfindenden Ich. Dieses reagiert nachträglich erst mit dem Schauder. Was in der Fassung zuvor ein Ineinander war, ist nun zu einem Nacheinander geworden. Die inhaltlich und formal gleichermaßen zentrale Bedeutung der Wasserfallstrophe legt es nahe, die Interpretation zunächst darauf zu konzentrieren. Es wurde schon angedeutet, daß in dieser Strophe die finiten Verben aufhören. Über die Zwischenform eines substantivierten Infinitivs kommt die Bewegung in einer Kombination von Substantiv und participium praesentis zum Stillstand. Das ist die grammatische Realisierung des Ubergangs aus dem Zeitlichen ins Zeitlose. Daß der Wasserfall dessen Medium sein kann, verleiht ihm Offenbarungsqualität. — Schon in M2 fiel auf, daß sich in der Schilderung des Wasserfalls die Antithesen häuften. Das gilt hier, wo in den vorausgehenden Strophen die Kontraste deutlicher ausgeprägt sind, erst recht. Im Wasserfall kommt sozusagen der Geist der Landschaft zu Wort. In der ersten Zeile ist mit „nah" und „fern" die wechselnde Lautstärke bezeichnet, wie sie sich dem Ich darstellt, mit „stürzt" und „stäubt" die wechselnde Bewegungsrichtung. „Stäubt" nimmt zudem „Staub" auf, mit „verweht" assoziiert sich der göttliche Hauch, so daß sich die Antithesen, die hier zusammenkommen, auf die eine und entscheidende beziehen. In der dritten Zeile sind „Schweigen" und „Schall" losgelöst vom Wasserfall. So ist ungewiß, was damit gemeint ist, ob nochmals die wechselnde Intensität des Getöses, ob die Diskrepanz zwischen ihm und der Lautlosigkeit der umliegenden Landschaft. Beide Deutungen vermögen nicht, die den vorangegangenen Zeilen gegenüber veränderte grammatische Struktur zu rechtfertigen. „Und" weist eher auf eine Engführung der bisherigen Antithesen zum Paradox hin, dessen diskrepante Momente zugleich identisch sind. Man könnte hier das aus der Erfahrung geläufige Phänomen interpolieren, 150

daß langanhaltende Geräusche und Töne vom Ohr mit der Zeit nicht mehr registriert werden und so mit der Stille eins werden, daß man sie erst dann wieder wahrnimmt, wenn sie abbrechen. Erst aus einer solchen Identität von Schweigen und Schall wird die durch den Doppelpunkt als Weiterführung gekennzeichnete Schlußzeile verständlich, welche aus der bisherigen Beiordnung von Schweigen und Schall eine durch das Genetivverhältnis ausgedrückte Unterordnung macht: Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort. Das mit der Stille eins gewordene Rauschen wird nun umgekehrt zum Laut der Stille. Unmerklich ist damit etwas Diesseitiges zur Kundgabe eines Jenseitigen geworden. Diesen Übergang stellt das Gedicht „Nachtgeräusche" in seinen einzelnen Phasen dar, wenn es heißt: Dann? Nichts weiter als der ungewisse Geisterlaut der ungebrochnen Stille, Wie das Atmen eines jungen Busens, Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens, Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders, Dann der ungehörte Tritt des Schlummers." 4 Die drei Vergleiche suchen das allmähliche Verebben der Nachtgeräusche einzufangen. Man hat sie auf Geräusche hin gedeutet, die wahrnimmt, wer in sich hineinhört: den Atem, das Rausdien des Blutes, den Herzschlag®5. Im Diminuendo dieser biologischen Lautwerte wird ein unhörbarer innerer Bereich vernehmbar, der davon verschieden und doch um der Wahrnehmbarkeit willen darauf angewiesen ist. In „Himmelsnähe" führt der entsprechende Vorgang aus der Welt heraus in ein äußeres Jenseits. Im Grunde jedoch sind beide eins, beide heißen „Ungebrochne Stille". Das ist die akustische Bestimmung der Reinheit. Diese kann sich im sinnlichen Paradox des Wasserfalls kundtun, ohne sich zu verunreinigen. Das Rauschen, das zugleich tönt und schweigt, existiert und nicht existiert, kann für Momente zur schmalen Brücke über die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits werden. „Ungebrochne Stille" ist audi zeitlich zu verstehen. Die Stille ist " 65

Werke I, S. 26 Diese Interpretation ist mir aus einem Zürcher Seminar bei Emil Staiger in Erinnerung. 151

die vor der Existenz. Sie entspricht dem Zustand der Jungfrau in dem gleichnamigen Gedicht66, die sich noch unter der Obhut Gottes befindet. Die theologische Konzeption aus der ersten Fassung ist erhalten geblieben. In der Stille erfährt der Mensch seinen eigenen Ursprung. Stille bezeichnet somit ein zeitliches und räumliches Jenseits, vor und nach dem Leben, innerhalb des Menschen und außerhalb der Welt. Existenz des Menschen und Welt bilden zusammen eine Hohlkugel, an deren Rand erst das Göttliche aufscheint. Der Wasserfall ist eines der Grenzphänomene. Was das, auch im Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichts, bedeutet, läßt sich präzisieren durch einen Blick auf die Beschreibung des Wassersturzes in Fausts Monolog zu Beginn des Zweiten Teils67. Manches in Meyers Gedicht erinnert daran. Was sich hier dem Ohr mitteilt, geschieht dort vor Augen. Die Zeile Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall ist die Umsetzung von Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend ins Akustisdie. Wie hier sich im Rauschen Gott kundtut, so ergibt sich dort aus und über dem stiebenden Wasser im Regenbogen das offenbare Geheimnis. Die Parallele erstreckt sich auch auf die Wirkung, wenn es bei Goethe heißt Umher verbreitend duftig kühlen Schauer. Wieweit sich Meyer diese Goethe-Stelle bewußt zum Vorbild genommen hatte, kann hier offen bleiben. Daß er mit Goethes Werk vertraut war, bezeugen viele der Briefe. Die Differenz zwischen Akustischem und Optischem läßt sich nicht einfach dadurch erklären, daß Goethe eben ein visueller Typ war, obwohl es erstaunlich ist zu sehen, daß er bei der eingehenden Beschreibung des Rheinfalls, der Vorstudie zur Fauststelle, über das nicht unerhebliche Getöse der stürzenden Wassermassen nichts verlauten läßt. Meyer andrerseits war kein Ohrenmensch. Louise von François geht soweit, ihn gerade wegen seiner mangelnden Musikalität Goethe und Schiller zuzugesellen"8. Die Bedeutung der bildenden Kunst für seine •6 67 68

Werke I, S . 3 6 Faust V . 4 7 1 5 — 4 7 2 7 A m 1 6 . M a i 1 8 8 2 . Briefwechsel S. 52. D i e Stelle ist allerdings halb humoristisdi gemeint.

Dichtung liegt denn auch auf der Hand. Um so auffallender ist es, daß hier ein akustisches Phänomen höchste Würde bekommt. Den Grund dafür vermag der Vergleich mit Goethe zu erhellen. Der Regenbogen entsteht so, daß sich die Strahlen des Sonnenlichts in den einzelnen Wassertropfen brechen. Das Bewegliche und das Stetige sind seine Komponenten. „Des Bogens Wechseldauer " ist daraus eine echte Synthese, die beides in sich enthält und dodi ein eigenes Phänomen darstellt. Das Verhältnis des Rauschens zum Wasserfall ist anders, es ist das des Tones zum Instrument, das ihn erzeugt. Die Materialität des Instruments ist im Ton nicht aufgehoben, sondern getilgt. Es ist für Meyer letztlich irrelevant, woraus das Rauschen entsteht. In andern Gedichten kann der Glockenklang dessen Offenbarungsfunktion übernehmen. Seine Wechseldauer zeigt der Regenbogen daran, daß er bald deutlicher, bald undeutlicher zu sehen ist, aber trotz schwankender Schärfe als Bild bestehen bleibt. Der Schall schwillt an und ab. Da er seine Existenz nur in der Zeit hat, schwankt er dabei zwischen Sein und Nichtsein. In der Farbenlehre nennt Goethe den Regenbogen „eine subjektiv-objektive oder objektiv-subjektive Refraktionserscheinung" 69 ; denn erst das Auge ordne die verschiedenen Farben zur Harmonie. Wir haben gesehen, daß auch das Rauschen des Zuhörenden bedarf, um Stille zu werden. Der Anteil des Subjekts bewirkt hierbei aber gerade nicht die vollendete Erscheinung, sondern deren Verschwinden. Werden sichtbare Phänomene durch die Dauer gesteigert, wie Goethe es am Rheinfall beobachtete, so hier hörbare reduziert. Alle Unterschiede weisen auf einen: Der Regenbogen ist Dauer im Wechsel in dem Sinne, daß beide sich zu einem dritten vermitteln. Dauer im Wechsel ist auch das Rauschen. Aber nicht als Synthese, sondern als Paradox. Was dauert, ist die Negation alles Irdischen, was wechselt, das Existierende. Es gibt kein Drittes, nur eine engste Verschränkung beider. Damit hängt zusammen, welcher Art das Geheimnis ist, das sich jeweils offenbart. Im Regenbogen ist es ein Urphänomen, ein gestalthaftes Gesetz, das bei Goethe in Kunst und Natur, Pflanze, Tier und Mensch Geltung hat. Faust bleibt denn auch nicht in den Anblick des Bogens versunken. Unter der Einwirkung der kühlenden Distanz zu den Dingen und zu sich selbst, die davon ausgeht, fordert er sich auf ihm sinne nach, und du begreifst genauer: 69

Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft. Hrsg. von der Leopoldina. I. Abt. Bd 3, Weimar: Böhlau 1 9 j i , S. 101 153

Die darauffolgende Sentenz vom farbigen Abglanz ist nur eine Deutung unter andern, wenn auch eine der umfassendsten. Vom Regenbogen aus müßten sich alle Rätsel der Welt „genauer" begreifen lassen. Das Rauschen bedeutet nicht das innere Gesetz der Welt, sondern den Übergang von ihr zu einem Göttlichen, das, weil es außer ihr liegt, nur im Verschwindendsten manifest sein kann. N u r an der Grenze des Wahrnehmbaren gibt es für Meyer eine äußerst schmale Zone dessen, was man symbolisch nennen kann, weil darin Zeitliches und Ewiges sich berühren. Sie umfaßt lauter dem Tod verwandte Vorgänge, solche also, welche Goethe nur am Rand gelten ließ. Der Tod ist im Grunde die Chiffre dafür, daß sie mit der vergehenden Zeit zu tun haben. Daher bekommt das Akustische seine Bedeutung. Sie hängt an seiner Abstraktheit, Immaterialität, Flüchtigkeit. Goethe setzte dafür in seiner vergleichenden Tabelle „Augenblicklichkeit" ,0 . Das leitet zu früher Ausgeführtem zurück. Meyer ging aus von einem Augenblick, der ewig war, d. h. einer Lebenssituation und einer Empfindung, in der sich Gott unmittelbar kundtat. Die uns jetzt vorliegende Fassung hat ihr Zentrum in einem Augenblick, der nur noch augenblicklich ist, d. h. in dem die Zeit nicht erfüllt, sondern hinfällig ist. In seinem Verschwinden gewinnt die Zeitlosigkeit Raum. Im Gedicht wird das so gestaltet, daß nach der Wasserfallstrophe eine Pause eintritt. Daß diese länger ist als die zwischen den übrigen Strophen, erreichen die Interpunktionen, Doppelpunkt und Ausrufezeichen, vor allem aber die sentenzenhafte Abschlußzeile der dritten Strophe. In der Pause teilt sich die Stille dem Leser mit. Man kann sagen, daß darin die Gebirgslandschaft überhaupt zu Wort kommt. Die Antithetik der ersten beiden bereitet die Paradoxien der dritten Strophe vor, die in die Stille münden. Der Moment der Stille soll Gott offenbaren. Dessen Name wird jedoch nicht genannt. Durch die Art seiner Offenbarung ist er selbst einer der Stille. Auch der Gedichtschluß beschränkt sich auf das Pronomen. Das Wort der Stille wird zum „Excelsior!" für das Ich. Es erhält den Anstoß, sich adlergleich aufzuschwingen. Erst und nur in dieser Fassung ist das Gedicht ein eigentliches Aufschwunggedicht. Die Nennung des Adlers macht seine Pointe aus. Der Adler ist jedoch eindeutig nicht mehr ein Bild der Lebenskraft. Was auf den Anruf der Stille im Ich antwortet, stammt ebenfalls aus einem reinen Bereich. Staub und Leidenschaft, äußere und innere Welt70

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Goethe, Werke, Gedenkausgabe. Zürich 1949 ff. Bd 16, S. 861

Zugehörigkeit, werden negiert. Deutlicher als in den früheren Fassungen ist der ausgelöste Schauer in seiner Ambivalenz dem Tod verwandt. Der Aufschwung zum Ursprung gleicht einem Sterben, und zwar einem Kältetod, der nicht auflöst, sondern kristallisiert. Dem Ich eröffnet sich im Innern seine eigene Reinheit. Deutlicher als in der anfänglichen Konzeption besteht die gesteigerte Empfindung in einer momentanen Erstarrung. Mit der Fassung in „Romanzen und Bilder" hat das Gedicht eine gewisse Vollendung erreicht. Es ist in sich stimmig, konsequent im Verlauf, einheitlich in der Stillage und dank der vorgenommenen Kürzungen von eindrücklicher Knappheit.

IV. In meiner Firne feierlichem Kreis Lagr' ich an schmalem Felsengrate hier, Aus einem grünerstarrten Meer von Eis Erhebt die Silberzacke sich vor mir. Der Schnee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon Und aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Er stäubt und stürzt, nun rechts, nun links verweht, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Ein Wind, ein Strom, ein Atem, ein Gebet! N u r neben mir des Murmeltieres Pfiff, N u r über mir des Geiers heisrer Schrei, Ich bin allein auf meinem Felsenriff Und ich empfinde, daß Gott bei mir sei.71 Die endgültige Fassung des Gedichts entstand, als Meyer, etwa zwölf Jahre nach „Romanzen und Bilder" seine Gedichte für die Sammlung redigierte72. Die ersten drei Strophen sind, mit einigen Veränderungen, beibehalten, die letzten beiden sind getilgt; an ihre Stelle ist eine neue 71 72

Werke I, S. 113 (Nr. 73) Henel, Poetry S. 188

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vierte getreten. Dadurch, daß das Gedicht nur noch vier Strophen hat, ist die Wasserfallstrophe nicht mehr die Mitte des Gedichts. Diese liegt nun in der Pause zwischen den Strophen zwei und drei. Die erste Strophe hat nun fast den Charakter eines Introitus. Der Ton hat sich gehoben dank einiger Verdichtungen, Mutationen im Wortschatz. Die Feierlichkeit wird besonders von den Assonanzen und Alliterationen getragen. Sie geht aber nicht auf Kosten der Praezision. Manches ist sogar genauer bestimmt: „ Silberzacke " statt „Silberhorn", „Felsengrat" statt „Grat", „grünerstarrt" statt „grün". Diese Nuancierungen verändern zugleich das Bild. Sie machen die Gebirgswelt eindeutig zu einer eingefrorenen starren Landschaft ohne Leben. Firne — Kreis — Felsengrat — Meer von Eis — Silberzacke. Erstarrtes Grün und Silber sind die einzigen Farben. Um so schärfer sind die Umrisse gezeichnet: Grat, Zacke, Kreis. Diese ödnis setzt das zweite Wort, das Possessivum, zu dem Idi in Beziehung. Es ist s e i n e Landschaft. Der aus früheren Fassungen stammende Ausdruck „Kreis" hat nun einen spezifischen Sinn. Er bezeichnet die auf das Ich zentrierte Sphäre, seine Welt. Das vermag die vorgenommene Umstellung der Zeilen formal wiederzugeben. Es respondieren nun „In meiner . . . " , „Aus einem . . . " , „Lagr* ich . . . " , „Erhebt die Silberzacke s i c h . . . " in konsequentem Parallelismus. Die Übereinstimmung, die damit angedeutet wird, ist jedoch nicht stimmungshaft. Das Ich redet nodi immer im Tempus der Reflexivität, die es von der Umwelt separiert. Darin gerade besteht die Entsprechung zur erstarrten Landschaft, daß das Idi ganz auf sich selber steht. Wir erinnern uns, daß Dr. Borrel die trotzige Ichbezogenheit des kranken Conrad als „cœur glacial" bezeichnete. Diese Bildersprache ist auch hier noch am Werk. Aber mit einer Akzentverschiebung, auf die alles ankommt. Es fehlt jegliche Wertung. Reflexive Konzentration auf sich selber ist nurmehr eine mögliche Form des Bewußtseins, vorhanden wie das Hochgebirge. Ihr gibt die Strophe in ihrer starren Feierlichkeit Ausdruck. Das Hieratische des Tons, die Starrheit der Landschaft und die Bezogenheit des Idi auf sich selbst bilden einen geschlossenen Komplex. Anders als in den früheren Fällen kann hier das an der ersten Strophe Erkannte nicht auf das ganze Gedicht ausgedehnt werden. An der zweiten Strophe wurde keine Silbe angetastet. Sosehr sie die Stillage der ersten beibehält, es fehlt ihr die hieratische Sprachgebärde. Die Syntax ist beweglicher, sie wagt sogar einen Anakoluth, zur vierten Zeile führt ein Zeilensprung. Offensichtlich kam es Meyer auf die DiffeiS6

renzierung beider Strophen an. In der zweiten kommt inhaltlich und in der Darstellungsweise in Bewegung, was in der ersten einen starren Komplex bildet. Die Reimwörter der jeweils ersten Zeilen, „Kreis" — „zerstreut", signalisieren den Unterschied: Die Zerstreuung besteht in der Lösung der Starre zu neuem Leben. Der Schnee schmilzt. Leben sprießt hervor. Das Grau der Eiswelt polarisiert sich in Schwarz und Hell von Feuchte und Soldanelle. An die Stelle des parallelen Aufbaus tritt das Prinzip der Entgegensetzung. Das auf seine Situation reflektierende Ich ist verschwunden. Grammatisch tritt es nicht mehr in Erscheinung. Es ist nur nodi da als Einheit der Apperzeption, die den Dingen Ort und Zeit zuweist. Von sich selbst hat es ganz abgesehen. So steht die zweite Strophe in jeder Hinsicht zur ersten im Gegensatz. Die Antithese, die sie zusammen bilden, hat das gemeinsame optische Wahrnehmungsmedium zur Voraussetzung. Insofern gehören sie zusammen. Nach der zweiten Strophe liegt die Mittelachse des Gedichts. An der dritten Strophe ist, im Vergleich mit den übrigen und mit ihrer vorausgegangenen Fassung, die Interpunktion am auffallendsten. Es gibt nun nur noch ein Ausrufezeichen am Schluß, der Doppelpunkt in der dritten Zeile ist ein Komma geworden. Es kommt nicht mehr auf den nuancierten Verlauf an, den wir umständlich nachzuzeichnen hatten, und nicht mehr auf die Hinführung auf eine Pause. Die Strophe ist dadurch einheitlicher geworden. Während die übrigen Strophen höchstens zwei Kommata haben, sind es hier neun. Das deutet auf kürzere und zahlreichere Kola. Diese ergeben sich aus einer Auflösung im Syntaktischen, die schließlich zum Verlust des Praedikats führt. Diese Zersplitterung des in sich geschlossenen Gefüges ist die formale Entsprechung zur inhaltlichen Steigerung des Rieseins zum Wasserfall. Der Schmelz- und Auflösungsprozeß gelangt in dieser Strophe auf seinen Höhepunkt. Die ganze Realität wird zum Vorgang, der, da er Subjekt und Praedikat in einem ist, substantiviertes Verbum oder dynamisches Substantiv, keines finiten Verbums mehr bedarf. Und wiederum ist auch das Ich von der Auflösung betroffen. Ist es zu Beginn der Strophe noch vorhanden als Zuteiler von rechts und links, so geht es am Sdiluß ganz in das Wahrgenommene ein. Wind, Strom, Atem, Gebet, sind Synonyma geworden, Subjektives und Objektives durchdringen sich. Liest man die Schlußzeile spondäisch, wird die Einheit der Bereiche vollends deutlich. Die Schlußzeile ist neu. Das Rauschen des Wasserfalls ist nicht mehr das Medium, in dem sich Gott dem Menschen offenbart. Was nun im 157

mittleren und vermittelnden Bereich des Ohrs zusammenkommt sind Ich und Welt, Inneres und Äußeres, Subjektives und Objektives. Es ist eine lyrische Einheit entstanden in dieser Verschmelzung der Gegensätze. Darin liegt zwar noch eine Richtung auf Gott, das letzte Wort heißt „Gebet", aber es ist nicht mehr eine augenblickshafte Kundgabe Gottes. Mit der Wasserfallstrophe ist das Gedicht bei der extremen Gegenposition zu der, von der es ausging, angelangt. Aber nicht mehr, wie in der Fassung von „Romanzen und Bilder", auf seinem Höhepunkt. Denn so wenig die reflexive Starre einen minderen Zustand des Ich darstellt, so wenig die lyrische Auflösung einen höheren. Die Zerstreuung ist so wertfrei wie die Konzentration. Beides wiegt sich gegenseitig auf. So ist, was auf die dritte Strophe folgt, nicht mehr nur Nachspiel. In der neu dazugekommenen Schlußstrophe liegt, nicht nur äußerlich, der Unterschied dieser zu allen vorangegangenen Fassungen. Die vierte Strophe ist in mehrfacher Hinsicht auf die erste bezogen. Sie verwendet dieselben Reimvokale ei — i, aber in umgekehrter Reihenfolge. Das Prinzip der Umkehrung bestimmt auch den Aufbau überhaupt. Wie in den Zeilen drei und vier der ersten ist das Ich in den Zeilen eins und zwei der letzten Strophe nur als Bezugspunkt gegenwärtig. Wie hier in den Anfangs- wird es dort in den Schlußzeilen zum Subjekt. Das Possessivum „meinem" kehrt wieder. „Felsenriff" korrespondiert bis auf die Stellung in der Strophe genau spiegelbildlich mit „Felsengrat". „Feierlich" aus der ersten Zeile erhält in der letzten mit der Nennung Gottes ein Pendant. Beiden Strophen sind auffallende Parallelstellungen und Assonanzen gemeinsam. Die erste und die letzte Strophe bilden somit einen Rahmen, die mittleren werden zu Binnenstrophen. Im Rahmen ist das Ich seiner selbst bewußt der Landschaft gegenübergestellt, in den Binnenstrophen löst es sich in die Landschaft auf. Das Ich, nachdem es in einen anderen Aggregatzustand übergegangen ist, kehrt zu seiner ursprünglichen Konsistenz zurück. Die dynamische ist in die statische Partie eingelegt. Da das ganze Gedicht nun spiegelsymmetrisch um eine Symmetrieachse zentriert ist, ist es selber überwiegend statisch. Aber die Schlußstrophe bezieht sich nicht nur auf den Anfang, sie führt in manchem auch die dritte Strophe weiter. Wie diese hat sie Akustisches zum Inhalt. Das Idi als hörendes bleibt dem Medium seiner Auflösung verhaftet. Doch die Einheit von Schweigen und Schall ist auseinandergebrochen. Pfiff und Schrei brechen die Stille. Henel hat eri,8

kannt, daß im Geier der Adler der früheren Fassungen steckt72. Die Mutation scheint zugunsten der Assonanzenreihe erfolgt zu sein. Sie ist aber auch ein Symptom dafür, daß das Gedicht aufgehört hat, ein eigentliches Aufschwunggedicht zu sein. Wie der Geier in der Luft mit dem erdgebundenen Murmeltier konfrontiert wird, so ist der Aufschwung durch die Opposition zur Gegenmöglidikeit, dem Hingelagertsein, ausbalanciert. Er hat seine Vorrangstellung eingebüßt. Als Geier ist der Adler seines Adels entkleidet. Dennoch endet das Gedicht mit der Zeile: „Und idi empfinde, daß Gott bei mir sei." Darauf ist zusammengeschrumpft, was in den ersten Niederschriften die ganze zweite Hälfte des Gedichts beanspruchte. Und hieß es früher: „O Glück, in deiner Gegenwart zu sein", so ist diese Feststellung nun gebrochen, in einen abhängigen konjunktivischen Nebensatz gefaßt. Aus der unmittelbaren Gewißheit ist eine Empfindung geworden, in der sich Gewißheit und Unsicherheit die Waage halten. Gott ist bei aller Nähe in eine gewisse Distanz gerückt. Die indirekte Formulierung hängt damit zusammen, daß die Selbstaussprache des Ich nicht auf einer Ebene mit der Landschaftsbeschreibung liegt. Sie zieht daraus das Fazit. Sie ist insofern die Pointe des Gedichts, als sie entschlüsselt oder mindestens andeutet, was im Vorangegangenen verborgen ist. Die Empfindung der Nähe Gottes ist für das Ich das Ergebnis dessen, was es durchlaufen hat. Am Anfang war es nur der Landschaft gegenüber. Der Durchgang durch die Stimmung der mittleren Strophen hat es mit einer andern Möglichkeit seines Bewußtseins vertraut gemacht. Auf beide zurückblickend, beide in Murmeltier und Geier vor Augen, wird es sich seiner Identität bewußt, die jenseits beider liegt. Dabei ist nicht zu übersehen, daß im Verbum „empfinden" noch ein Stimmungsrest erhalten geblieben ist. Weil die Landschaft, die dem Idi noch immer vor Augen steht, die gegensätzlichen Erfahrungen vermittelt hatte, ist der Zugang zum Selbst nicht nur ein abstraktes Wissen. Mit „empfinden" ist gewissermaßen das Identische in Sehen und Hören bezeichnet, ebenso wie mit „Selbst" das Identische in den ihnen entsprechenden Bewußtseinseinstellungen, Reflexion und Unmittelbarkeit. Daß der Schluß nicht einfach zum Anfang zurückkehrt, macht die letzte Zeile klar. Sie hat deutlich den Charakter einer Pointe, auf die das Gedicht in einer unumkehrbaren Bewegung hinläuft. Die Bemerkung, das Gedicht sei überwiegend statisch, die sich aus der Erkenntnis der Rahmenstruktur ergab, muß also berichtigt werden. Es hat zugleich einen 159

einsinnigen Verlauf, ist also auch dynamisch. Dieses Gleichgewicht besteht in den früheren Fassungen noch nicht. Erst die letzte Umarbeitung machte die statischen Bezüge so deutlich, daß sie den ursprünglich dominierenden dynamischen die Waage halten. In der doppelt orientierten Schlußstrophe kommen beide Momente zusammen, nicht zur Synthese, sondern zu größtmöglicher Nähe. Das Ich ist einerseits wieder in seine Selbstbezogenheit zurückgekehrt. Aber es befindet sich in der Nachbarschaft von Lebendigem. Geier und Murmeltier bilden als Raubvogel und Opfer nochmals die Antithetik nach, wie sie im Binnenteil bestimmend war. Die Veränderung gegenüber der Fassung aus „Romanzen und Bilder" besteht vor allem darin, daß kein einzelnes Phänomen mehr Gott zu offenbaren vermag. Der Wasserfall ist wieder eine Einzelheit unter andern. Gott steht damit hinter der Landschaft als ganzer. Überall müssen darin seine Spuren feststellbar sein. Wir haben gesehen, daß sidi die Landschaft, wie das Gedicht sie sdiildert, aus Antithesen aufbaut. Der Gegensatz ist das ihr zugrundeliegende Prinzip. In ihm kündigt sich die Nähe Gottes an. Als sinnliches Paradox macht die Landschaft des Gebirges Gott offenbar. Gott ist nicht in einem Einzelnen praesent und nicht im ganzen, sondern die Phänomene verweisen auf ihn als auf die Einheit ihres Widerspruchs. Damit, daß der Widerspruch zum göttlichen Prinzip geworden ist, das die Landschaft durchwaltet, ist seine Umfunktionierung am Ende angelangt. In der ersten Fassung war die Antithese die Ausdrucksweise der starken Empfindung des Subjekts, das von Gott ergriffen war. Nun ist die Antithese zum Gesetz der Objektwelt geworden. Damit ist die Forderung Vischers nach der Objektivierung des Subjektiven endlich erfüllt. Indem aber Gott in einem Nebensatz genannt wird, der vom Ich abhängt, tritt er zu ihm in engste Beziehung. Die letzte kann denn auch nicht ohne die vorletzte Zeile genommen werden: Ich bin allein auf meinem Felsenriff. Bevor die Landschaft auf Gott hinführt, verweist sie das Ich auf sich selbst. Und zwar wiederum durch den Widerspruch. Wir haben gesehen, daß das Ich einerseits starr dem starren Gebirge gegenübersteht, daß es im Binnenteil mit ihm verschmilzt. Früher lag im Aufschmelzen die Annäherung an Gott. Nun ist dieses als Gegenpol zur reflexiven Selbstbehauptung ebensowenig gnadenhaft wie diese. Das Ich erfährt vor dem Gebirge den Widerspruch zweier Zustände seiner selbst, die beide nicht 160

sein Wesen ausmachen. Dieses ist als Einheit beider nicht mehr unmittelbar erfahrbar. Aus der Ausdrucksform der unmittelbaren Ichemphase ist die Antithese zum Gesetz der Erscheinung des nicht mehr anders faßbaren Selbst geworden. Deshalb auch ist das Ich auf die Landschaft angewiesen. Allein durch ein Medium kann es seiner selbst inne werden. In den beiden letzten Zeilen sind Ich und Gott in Parallele gesetzt. Darin zeigt sich, daß der ursprüngliche theologische Ansatzpunkt noch immer beibehalten ist. Selbst und Gott hängen zusammen. Beide sind im Lauf der Geschichte des Gedichts aus dem Bereich des unmittelbar Erfahrbaren hinter die Phänomene zurückgetreten. Zu beiden ist die Berglandschaft der Zugang. In der ersten Fassung war das Gebirge wichtig als Anlaß f ü r ein Augenblickserlebnis. Nun, da nichts Einzelnes mehr zum Gefäß der Offenbarung zu werden vermag, weder ein einzelnes Phänomen nodi ein einzelner Moment, wird das Gebirge zum O r t der Himmelsnähe. Vom Zeitlichen ist die Offenbarungskraft an das Räumliche übergegangen. Der Raum wird zum Gleichnis der Ewigkeit, erst redit ein solcher, an dem in Eis und ewigem Schnee die Zeit stillzustehen scheint. Aber die Bergwelt ist nicht wie für den patriotischen Pantheismus des „Schweizerpsalms" der bevorzugte Sitz Gottes, sondern sein reinstes und dauerhaftestes Gleichnis. Indem die letzte und endgültige Fassung von „Himmelsnähe" dieses gestaltete, erfüllte sie die Bitte um Überwindung des Augenblicks, mit der die erste Schloß.

V. Die Entstehungsgeschichte von „Himmelsnähe" läßt erkennen, daß es Meyer u. a. darauf ankam, Antithesen herauszustellen und antithetisch zu gestalten. Diese Tendenz läßt sich auch in seinen andern Gedichten und im erzählenden Werk nachweisen. Sie ist denn auch oft beschrieben worden. Wesen und Funktion dieser Antithetik läßt sich wiederum aus einem kurzen Vergleich mit Goethe verdeutlichen. In Goethes naturwissenschaftlichen Schriften spielt der Begriff der Polarität neben dem der Steigerung eine entscheidende Rolle. Goethe hatte ihn vom Magnet auf die Farben und schließlich auf alle N a t u r phänomene übertragen. Selbst seine Freundschaft mit Schiller sah er unter diesem Zeichen. Polarität war ihm das Grundgesetz aller Erscheinung: „Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu er-, 161 11 Pestalozzi, Lyrisches Idi

scheinen."73 „Erscheinen und Entzweien sind synonym." 74 Was Goethe mit Polaritäten meint, sind komplementäre Gegensätze. So kann er etwa sagen: „Wenn nun zwei aus derselben Quelle entspringende entgegengesetzte Phänomene, indem man sie zusammenbringt, sich nicht aufheben, sondern zu einem dritten angenehm Bemerkbaren verbinden, so ist dies schon ein Phänomen, das auf Übereinstimmung hindeutet. Das Vollkommenere ist noch zurück." 75 Die Beobachtung, die Goethe zu dieser Feststellung führte, war die, daß die Mischung von Gelb und Blau Grün ergibt. Das Vollkommenere, auf das die neue Einheit hindeutet, ist die elementare Kraft, aus welcher die Polarität entsprang. In ihr wird die Einheit der Pole offenkundig. — Welch fundamentale Bedeutung diesem Befund zukam, zeigt sich in dem Satz: „Das Wahre ist gottähnlich: es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten." 7 * Das scheint in die Nähe unseres Gedidits zu führen. Aber die Gegensätze, auf die es Meyer ankommt, sind nicht komplementär, sondern kontradiktorisch. Ihr Modell ist der Gegensatz Leben-Tod. Sie heben sich gegenseitig auf. So können sie nicht ein Drittes ergeben, sondern nur bis zum Paradoxon enggeführt werden. Das Paradoxon aber ist nicht eine Manifestation Gottes im Goetheschen Sinne; denn es führt aus der Welt heraus in ein Jenseits. Es zeigt die Unvereinbarkeit von Gott und Welt. Rosenfeld hat in bezug auf Meyer von einem „gebrodienen Pantheismus" gesprochen77. Mit diesem Stidiwort ist die Sache redit gut getroffen. Gott kann sich bei Meyer nicht mehr in allen Dingen, sei es unmittelbar oder indirekt, manifestieren. Die Erscheinungen verweisen dort auf ihn, wo sie widersprüchlich sind. Widersprüchlichkeit bedeutet Unerlöstheit. In einem Brief aus Rom schreibt Meyer an seinen frommen Freund Friedrich von Wyss: „ . . . gerade das relativ Vollkommene gibt uns das traurige heidnische Gefühl der wie ein Ring sich in sidi selbst schließenden Menschheit, während ein realistisch behandeltes Werk, das, jener lächelnden uns selbstgenügsamen Idealität ermangelnd, leidende Körper und ringende Geister zeigt, uns, durch den Gegensatz unserer Gebrechen auf die erlösende himmlische Vollkommenheit hin73 74 75 n 77

Goethe, Werke a.a.O. S. 864 A.a.O. Bd 17, S. 700 A.a.O. Bd 16, S. 188/9 A.a.O. Bd 17, S. 700 Hellmut Rosenfeld, Das deutsche Bildgedidit. Leipzig: Mayer u. Müller 1935 (Palaestra 199) S. 202

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weist. Wo die Kunst die Leidenschaften reinigt, d. h. der Mensch sich selbst beruhigt und begnügt, entsteht die Vorstellung einer trügerischen Einheit, während wir (und so photographiert uns auch die realistische Kunst) doch so gründlich zwiespältig und nur durch ein Andres als wir, durch Gott, zu heilen sind."' 8 Im Gegensatz ist zugleich dessen Antithese, die Einheit, impliziert. Was dieser Brief nodi unter dem Aspekt von Sünde und Gnade sieht, wird später bei Meyer zu einer Art natürlicher Theologie, aus dem theologischen ein logisches Verhältnis. Zu dieser Konzeption war Meyer durch Pascal gekommen, den er in Préfargier und Lausanne in der Darstellung Vinets kennengelernt hatte 78 . Rosenfeld verwendet auch den Ausdruck „dialektischer Pantheismus" 80 . Das kann nicht so verstanden werden, als sei Gott die Synthese der Gegensätze, als offenbare er sich innerhalb der Zeit. Dialektisch kann nur der Prozeß heißen, durch den der Mensch Gott durch die Vermittlung von Antithesen und Paradoxien erkennt; wie ja denn die letzte Zeile von „Himmelsnähe" sich aus dem Durchgang durch die vorangegangenen Strophen ergibt. Diese logische ist aber keine historische Dialektik. In einer solchen erhielte der zeitliche Verlauf göttlidie Relevanz. Meyer sucht jedoch gerade aus der Zeit ins Zeitlose vorzustoßen. In seinen Balladen und historischen Novellen liebt er es, den einsinnigen Ablauf durch einen Rahmen aufzufangen. Auch die Geschichte wird so zur Landschaft, in welcher antithetische Strukturen auf Gott verweisen. — Gott ist für Meyer nicht so sehr der Allgegenwärtige als der Gerechte, und das in einem fast juristischen Sinn. Er bevorzugt nicht einen einzelnen Ort oder Moment, sondern verfährt nach dem Grundsatz des audiatur et altera pars. Im Neben-, ja Ineinander entgegengesetzter Zustände oder Charakterzüge wird seine Gerechtigkeit ahnbar. Deshalb können etwa Paulus und Thomas Becket seine Zeugen sein. In der Schlußstrophe der ersten Fassung von „Himmelsnähe" konnte Gerechtigkeit dem augenblickshaften Erfassen Gottes entgegengehalten werden. Für Goethe lagen die Polaritäten klar vor Augen. Er konnte sie als Naturforscher oder als Dichter sprachlich wiedergeben. Mit der Antithetik bei Meyer verhält es sich anders. Sie ist nicht natürlich. Dem unbefangenen Auge, und blicke es noch so rein, ist sie verborgen. Erst der Dichter bringt sie im Gedicht zu Tage. Mit den Mitteln dichterischer Darstellung arbeitet er sie aus der Realität heraus. Das Gedicht hat 78 n 80

Briefe I, S. 59/60 Lusser a.a.O. S. 64 ff. A.a.O. S. 202; 213 163

11*

damit offenbarende Funktion. Es stellt Realität so dar, daß darin die auf Gott verweisende Antithetik sichtbar wird. Dabei sind zwei falsche Möglichkeiten zu vermeiden: Weder kann Realität so, wie sie sich dem täglichen Betrachter darbietet, in das Gedicht eingehen, denn als solche wäre sie blind. Noch kann die Antithetik an sich wiedergegeben werden. Mit der Konkretheit büßte sie ihre allgemeine Legitimation ein. Sie erschiene als willkürliche Unterstellung des Dichters. In dem oben zitierten Brief an Fr. von Wyss gebraucht Meyer „realistisch" bezeichnenderweise im Sinne einer zwiespältig dargestellten Wirklichkeit. Als Vorform seiner so verstandenen „realistischen" Gedichte hat Meyer einen Gedichttypus gepflegt, der aus den beiden oben skizzierten einseitigen Möglichkeiten zusammengesetzt war: das sog. „Gleichungsgedicht"81, in dem erst eine Gegenständlichkeit geschildert und dann ihre abstrakte Bedeutung nachgetragen wurde. Beispiele dafür sind „Das heilige Feuer", „Mövenflug", „Auf dem canal grande". Dieser Typus geht auf das barocke Emblemgedicht zurück82. Als Vermittler zu Meyer hin kommt wiederum die pietistische Tradition in Frage. Wir haben gesehen, daß sich auch „Himmelsnähe" in einer frühen Phase dem Gleichungsgedicht annäherte. Am Schmelzen des Schnees las das Ich seinen eigenen Zustand ab. In der letzten Fassung sind Sinnbild und Deutung in eins genommen. Deshalb konnte der Adler ohne weiteres als Geier in die Landschaft eingehen. Das Ich, das ursprünglich das Verglichene war, ist in das Gleichnis aufgenommen. Ich und Welt sind nun wechselseitig Metaphern. Auf der andern Seite hatte „Himmelsnähe" von Anfang an das Aussehen eines Erlebnisgedichts. Die Identität zwischen Ich und Landschaft, wie sie damit supponiert war, hat sich im Verlauf der Umarbeitung als Gleichheit herausgestellt. Das tertium ist wiederum die antithetische Struktur. Von da aus kann auch auf den umstrittenen Symbolismus Meyers etwas Licht fallen, wobei noch einmal die Abgrenzung von Goethe hilfreich sein kann. Goethe begegneten Symbole in der Realität. Sie waren 81

Henel, Gedichte: N a c h w o r t S. 1 4 5

82

Rosenfeld a.a.O. S. 2 1 8 . A l s Vermittler der Emblematik kommen die oft aufgelegten „Erbaulichen Sinnbilder" zu J o h . Arnds „ W a h r e m Christentum" in Frage. V g l . H a n s Zeller, V o n den Quellen des „Römischen Brunnens". Zürichsee-Zeitung N r . 1 2 2 , 2 7 . M a i 1966. — Ders., Abbildung des Spiegelbilds. C . F . Meyers Verhältnis zur bildenden Kunst am Beispiel des G e dichts „ D e r römische Brunnen". G R M 49 ( N . F . 1 8 ) 1 9 6 8 , S. 7 2 — 8 1

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ihm „eminente Fälle" 83 , welche eine Reihe ähnlicher repräsentieren. Die Dichtung griff sie auf und suchte mit dem Mittel der wechselseitigen Spiegelung ihre Bedeutung transparent zu machen. Bei Meyer gibt es keine Symbole in diesem Sinn, sondern nur symbolistische Dichtung. Damit soll gesagt sein, daß erst in der dichterischen Gestaltung natürliche Phänomene symbolisch werden. Henel hat erarbeitet, daß Meyer über eine relativ beschränkte Zahl von „Symbolen" verfügte, die er seinen Dichtungen einzubauen suchte. Die Beispiele, die er anführt, etwa „Weiße Blüten der Nacht", „Nachen ohne Ruder", „Der verheiratete Mönch"84 sind durchweg enggeführte Antithesen. Die Gedichte zeigen, daß Meyer nicht nur auf sie angewiesen war. In ihnen waren ihm sozusagen sinnliche Paradoxien am leichtesten zur Hand. Grundsätzlich konnte ihm in Natur und Geschichte alles zum Symbol werden, woran sich ei» Widerspruch aufweisen ließ. — Staiger sah in der Konzentration auf wenige Symbole oder ein einziges das Spezifische von Meyers Symbolismus85. Der Zug zur Konzentration läßt sich an manchen Umarbeitungen, in gewisser Weise auch an der Entwicklung von „Himmelsnähe" nachweisen. Auch die Beschränkung hängt mit der antithetischen Struktur zusammen. Denn nur dort tritt sie deutlich hervor, wo nidit eine Fülle zusätzlicher Motive sie verdunkelt. „Zwei Segel" ist dafür ein reines Beispiel. Faßt man „Symbolismus" für Meyer so, daß es bei ihm nur d i c h t e r i s c h e Symbole und nur solche mit antithetischer Struktur gibt, so nähert sich dieses Verständnis des Symbols wieder dem religiösen. Symbolisiert wird immer ein Jenseitiges. Dabei ist freilich nicht zu übersehen, daß der stoffliche Gehalt fast ganz hinter einer Struktur oder Konstellation zurücktritt. Da den Phänomenen ihre symbolische Bedeutung nurmehr durch ihre dichterische Behandlung zukommt, sind die Mittel der Darstellung von entscheidendem Gewicht. Durch die Form werden antithetische Konstellationen geschaffen. An „Himmelsnähe" ließ sich die Funktion von rhetorischen Figuren beobachten, Parallelismus, Chiasmus usf. Audi Strophenbau und Reimschema kommt symbolisierende Kraft zu. Alle diese Elemente machen jene Gedichtform aus, die Henel als „statische" beschrieben hat. 83

84 85

Goethe an Schiller am 16. August 1797. Diese Symboldeutung gilt denn auch v. a. in dieser Epoche Goethes. Henel, Poetry, passim Emil Staiger, Das Spätboot, zu C . F. Meyers Lyrik. Die Kunst der Interpretation. Zürich: Atlantis 1 9 J 5 . S. 254 165

Indem das Gedicht Realität in ihrer Widersprüchlichkeit gestaltet, ist es zugleich als einheitliches Gebilde ein Vor-schein dessen, worauf diese verweist. Es macht sichtbar, daß die Gegensätze eins sind. Was Meyer im Brief an Wyss „Erlösung" nannte, deutet sidi darin an. Darum kam auf die Vollendung eines Gedichts soviel an. Da die Erlösung im Gedicht gleichsam verbürgt werden soll, hat der Dichter ein religiöses Amt. Daß sich Meyer so verstanden hat, bezeugen verschiedene Äußerungen. Das Gedicht „Das heilige Feuer" stellt den Dichter den Yestalinnen an die Seite. Adolf Frey überliefert den Ausspruch: „Ehe sich Machiavell zum Schreiben niedersetzte, zog er sein Feierkleid an. Ein verwandtes Gefühl überkommt mich, wenn ich mich an die Arbeit begebe. Mir ist, ich betrete die Schwelle eines Tempels." 8 · Von der ersten Fassung von „Himmelsnähe" an bestand zwischen Gott und Idi ein Zusammenhang: Im Augenblick, in dem der Mensch einer göttlichen Einwirkung teilhaftig wurde, wurde er auch seines wahren Wesens inne, da dieses seinen Ursprung in Gott hatte. Die alte Gottebenbildlichkeit, wenn nicht gar Gottgleichheit, stellte sich wieder her. Das wahre Ich, das Selbst, erweist sich somit als ein allgemeines jenseits aller individuellen Ausprägungen. Beides konnte momentweise eins werden. Die Einheit zwischen Gott und Ich-Identität drückt ein früher Brief Meyers an Nüscheler folgendermaßen aus: „Lieber Freund, tout casse, tout lasse, tout passe. Die Mutter Natur zeichnet ein Gesicht, röthet die Backen, rundet es, macht den Schnauz, verstärkt die Schatten, zieht die Falten, und am Ende hat sie es satt und legt es weg. Was bleibt? Was hält: nur der feste Punkt: Gott und Heiland. Da ist Licht, Kraft. Jugend. Bestand und Liebe."87 Was im Augenblick eins war, ist hier unterschieden: Das Leben des Menschen in der Zeit und der Fixpunkt seiner Identität. Dieser bleibt in der Transzendenz. Somit gilt das oben über das Verhältnis des Gedichtes zu Gott Gesagte auch für seinen Bezug zum Selbst. Die Arbeit am Gedicht ist zugleich eine Arbeit an der eigenen Identität. Da diese nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist, bedarf sie innerhalb der Empirie eines Repräsentanten und Garanten noch mehr als Gott, der in einer überlieferten Dogmatik fixiert ist. Das fertige Gedieht garantiert das Selbst als die Identität des Ich. Meyer sah seine Arbeitsweise in Analogie zu derjenigen Michelangelos. „Ich stehe, wie M. Angelo sagt, vor dem Stein und sage mir stündlich: 86 87

Adolf Frey, a.a.O. S. 286 Vgl. Anm. $4

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Courage, es steckt darin, es handelt sich nur darum, es herauszukriegen."88 Der Stoff, der Michelangelos Material entspricht, ist bei Meyer oft etwas Geschichtliches oder sonst literarisch Überliefertes. Im Fall von „Himmelsnähe" ist es ein eigenes Erlebnis und seine erste Formulierung in einem Stimmungsgedicht. „Stimmung" war noch die erste Abteilung in „Romanzen und Bildern" überschrieben. Wort und Sache gerieten später bei Meyer in Mißkredit 89 . Friedrich von Wyss erklärte er einmal, daß er die Güte haben müsse, „die Stimmung, welche bei Leuten meiner Gattung stark ist, von dem Bleibenden immer zu unterscheiden."90 Die Umarbeitungen hatten zum Ziel, das Bleibende aus der Stimmung herauszuarbeiten. Dem Erlebnis war dann Gerechtigkeit widerfahren, wenn es in seiner Ambivalenz erschien. Das Moment der Erstarrung, das zunächst nur eine kleine Unstimmigkeit schien, mußte zum gleichwertigen Gegensatz der Aufschmelzung erhoben werden. Meyer verfuhr auch darin wie Michelangelo, daß seine Arbeit in verschiedener Hinsicht ein Wegschlagen war. Weggenommen wurde alles Zufällige, die Landschaft um den Jochpaß ist schließlich kaum mehr wiederzuerkennen. Reduziert wurde der Umfang. Die herausgearbeitete Widersprüchlichkeit soll im Gegensatz zur trügerischen Stimmungsharmonie eine wahre Einheit verbürgen. Diese ist andrerseits auch der Auflösung in lauter isolierte Ichmomente entgegengesetzt, wie sie der Begriff der Stimmung gleichfalls impliziert. In der Behandlung historischer Gestalten ging Meyer so vor, daß er die bunte Mannigfaltigkeit auf wenige große Züge reduzierte. Darauf bezieht sich ein Ausspruch, den Betsy mitteilt: „In der Wirklichkeit sind die Leute weniger einheitlich. Sie sehen sich selbst nicht immer ähnlich." 91 Die Ähnlichkeit mit sich selbst bestand bei Hutten, Jenatsch, Thomas Becket, Pescara in derselben rätselhaften paradoxen Zwiespältigkeit wie beim Ich aus „Himmelsnähe". Mit sich identisch ist für Meyer nur der Mensch im Widerspruch. So sehr aber bei Meyer das Gedicht die mit Gott zusammenfallende Identität verbürgt, es ist sie nicht selbst. Es bleibt realistisch, d. h. der empirischen Welt verhaftet. Es tritt in den Funktionsbereich der Religion, ohne religiös zu sein. Gerade die Ausrichtung auf Gott, im Hinblick auf Nietzsche formuliert: die Beibehaltung Gottes, bewahrt es davor, für sich selber Göttlichkeit zu beanspruchen. 88 89 90 91

A n Rahn am ft. Jan. 1872. Briefe I, S. 2 3 2 Walter Köhler, C . F . M e y e r als religiöser Charakter. Jena 1 9 1 1 S. 228 Zit. bei Köhler S. 227 Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer. S. 1 7 7

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Baudelaire „Elévation" Charles B a u d e l a i r e , Œuvres complètes. Notice, notes et éclaircissements de J . Crépet. Paris: Conard 1922 fF. Charles B a u d e l a i r e , Œuvres complètes, texte établi et annoté par Y . - G . Le Dantec, éd. revisée, complétée et présentée par Claude Pidiois. Paris: Gallimard 1961 (Bibliothèque de la Pléiade) [zit. Œuvres] Charles B a u d e l a i r e , Les Fleurs du Mal, notes par Antoine Adam. Paris: Garnier 1959 Charles B a u d e l a i r e , Les Fleurs du Mal, éd. établie par Jean Pommier et Claude Pidiois. Club des Libraires de France 1959 B a u d e l a i r e , Les fleurs du mal. Die Blumen des Bösen. Aus dem Französischen übertragen von Friedhelm Kemp. Frankfurt: Fischer 1962 (FischerBücherei, Exempla classica 63)

Baudelaire in diese Arbeit und an dieser Stelle einzubeziehen, bedarf kurz einer Rechtfertigung. Darüber, daß mit Baudelaire die moderne L y r i k beginnt, besteht ein allgemeiner Konsensus. Auch die Erneuerung der deutschen L y r i k in den achtziger Jahren verdankt sich der Übernahme der Anstöße, die von ihm ausgingen. Sie legitimierten gewissermaßen die Ablösung von der goethezeitlichen Lyriktradition. Dabei hat gerade die jüngere Forschung gezeigt, daß Baudelaires L y r i k stark von Anregungen bestimmt w a r , deren Quelle in der deutschen Frühromantik, ja bei Schiller lagen 1 , so daß man etwas überspitzt sagen kann, daß sich mit Baudelaires Hilfe in der deutschen L y r i k der in Schiller kulminierende Traditionsstrang wieder gegen den von Goethe herkommenden durchsetzte. Im Verhältnis zu Meyer ist Baudelaire sowohl älter als auch jünger. Älter insofern, als er der Tradition zugehörte, die in

1

Vgl. Edgar Lohner, Schiller und die moderne Lyrik. S. 33 ff. — Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1956. (rororoEnzyklopädie) 3. Aufl. 1967. — Werner Vordtriede, Novalis und die französischen Symbolisten. Stuttgart: Kohlhammer 1963. (Sprache und Literatur Bd 8)

168

Deutschland vor dem Aufkommen der Erlebnislyrik dominiert hatte; jünger, weil der später geborene Meyer, wie wir sehen konnten, sich erst aus der von Goethe geprägten Lyrik herausarbeiten mußte und daher nur in Ansätzen dorthin gelangte, w o Baudelaire stand. Meyer scheint zudem von Baudelaire keine N o t i z genommen zu haben. Die viel besprochenen romanischen Einflüsse auf ihn entstammten einer früheren Periode. So mag es denn legitim sein, gegen die Chronologie Baudelaire nach Meyer zur Sprache zu bringen. Jedoch, es soll nicht der Eindruck entstehen, als gehe es hier vor allem um die Darstellung einer Entwicklungskette in ihren einzelnen Gliedern. Unser Interesse gilt nicht so sehr einem historischen Konnex. D a z u ist das Verfahren der Einzelinterpretation ungeeignet, die jeweilige Textbasis zu schmal. Wir sehen vielmehr die Gedichte, die wir ausgewählt haben, in einer idealen Gleichzeitigkeit. Diese beruht nicht nur darauf, daß sie alle demselben halben Jahrhundert angehören; sie ist vielmehr geschichtstheologisdier Art. Alle versuchen jene Frage zu beantworten, die wir an Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben" zu fassen suchten, die Frage nämlich, wie nach der kopernikanischen Wende der Mensch zu einem Fixpunkt gelangen könne, der, obwohl von der Vergänglichkeit aus konzipiert, dennoch Ewigkeit und Absolutheit beanspruchen dürfe. Baudelaire als der seiner Wirkung nach bedeutendste europäische Lyriker des Jahrhunderts darf in einem Katalog der Antworten, der einigermaßen repräsentativ sein will, nicht fehlen. Das vorhin flüchtig berührte Verhältnis von Meyer und Baudelaire läßt sich verdeutlichen durch einen Blick auf Baudelaires Jugendgedicht „Incompatibilité" 8 , das als Berggedicht mit „Himmelsnähe" soviel Ähnlichkeit hat, daß die Differenz sich daran leicht ablesen läßt. Baudelaire verfaßte es mit siebzehn Jahren nach einem Ausflug mit seinem Stiefvater in die Pyrenäen. „Incompatibilité" beschwört zunächst in fünf vierzeiligen Strophen die Bergwelt als Raum jenseits alles Bewohnten und Belebten. Inbegriff dieser todähnlichen Leblosigkeit ist ein Bergsee von erhabener Unbewegtheit. Im Zusammenhang mit ihm fällt das Schlüsselwort „silence". Die Stille wird durch Geräusche, die von fern andringen, noch spürbarer. So mündet die Beschreibung in die Strophe: Sous mes pieds, sur ma tête et partout, le silence, Le silence qui fait qu'on voudrait se sauver,

s

Baudelaire, Œuvres, S. 193. Das Gedicht entstand 1838.

169

L e silence éternel et la montagne immense, C a r l'air est immobile et tout semble rêver. Die beiden Schlußstrophen versuchen darauf hypothetisch eine Ausdeutung der v o n Stille beherrschten Bergeinsamkeit. Zunächst w i r d vermutet, d a ß sich der Himmel im See spiegle und die Berge ein göttliches Geheimnis vernehmen. Ähnlich wie in der einen Fassung von „Himmelsnähe" erscheint die Stille als Offenbarung Gottes. Doch diese richtet sich bei Baudelaire nicht an den Menschen. Er versteht sie nicht. Die geographische Himmelsnähe macht ihm gerade seine Gottferne bewußt. D e r Aufstieg vermochte ihn nicht z u G o t t zu führen. Anders als bei Meyer ist hier G o t t dem Menschen auch nicht mehr indirekt zugänglich. Dieser w e i ß z w a r nodi v o n ihm, aber zitiert eine zweifelhaft gewordene M ö g lichkeit —

„on dirait" — , wenn er die Stille auf G o t t hin deutet. D i e

Stille ist f ü r ihn z u m Schweigen geworden. — Die Schlußstrophe deutet eine aufschwebende Wolke, die sich im See spiegelt, auf einen „esprit qui v o y a g e et passe dans les cieux". Diese Deutung ist mit „ o n croirait" eingeleitet. Ihr w i r d größere Wahrscheinlichkeit beigelegt, ja sie scheint die Begründung d a f ü r z u sein, daß der Mensch G o t t nicht vernimmt. D e m schattenhaften, v o m K ö r p e r befreiten Geist ist der Aufschwung gewährt. D e r T o d bringt den Menschen mit G o t t in Verbindung. Die tote Wüste der Gebirgslandschaft vermag davon erst eine vage A h n u n g z u vermitteln, solange der Mensch, der zu ihr aufgestiegen ist, noch lebt. Die Distanz zwischen G o t t und Mensch ist radikaler als die zwischen Gebirge und bewohnten Niederungen. Deshalb kommt in der H ö h e die Empfindung „ d a ß G o t t bei mir sei" nicht zustande. D i e radikale Differenz zwischen Mensch und Gott, die noch unbeholfen in diesem Jugendgedicht z u m Ausdruck kommt, gibt Baudelaires H a u p t w e r k den Rahmen. Dieses bemüht sich unablässig darum, diese Differenz aufs neue zu nennen und zu überbrücken. N u n wird jedoch Baudelaires Bedeutung allgemein gerade darin gesehen, d a ß er mit den „Fleurs du M a l " den Bereich der L y r i k nach unten, nach den aesthetischen, moralischen, sozialen und sensuellen „Niederungen" hin erweitert habe. Eine Frage nach Aufschwüngen hätte somit wenig Chancen, eine A n t w o r t z u finden. Doch Baudelaire selbst hatte zur Rechtfertigung seines inkriminierten Gedichtbuches angeführt: „Je répète qu'un livre doit être jugé dans son ensemble. A un blasphème j'opposerai des élancements vers le Ciel, à une obscénité des fleurs platoniques." 3 D a s w a r * Notes et documents pour mon avocat. Œuvres S. 181. Chérix spricht in 170

ein Argument zu Händen seines Advokaten. Trotz dem Titel der ersten Abteilung „Spleen et Idéal" ist die tatsächliche Gewichtsverteilung damit nicht bestimmt. Der Vogel Albatros, der aus der Höhe heruntergekommen ist und nun unter den Menschen herumhinkt, ist dafür das richtigere Vorzeichen. Die Parität von Blasphemie und Aufschwung besteht jedoch tatsächlich zwischen den Gedichten und den übrigen Teilen von Baudelaires Oeuvre. „Les paradis artificiels" und die Schriften über Richard Wagner etwa sind durchgängig bestimmt von der Frage, wie sich der Mensch aus der ihn innen und außen umdrängenden Wirklichkeit in die reine Höhe aufschwingen könne. Dabei sah Baudelaire im „goût de l'Infini" 4 keine private Marotte, sondern ein Streben und eine Sehnsucht, die dem Menschen von Natur innewohnen. Er setzte die Möglichkeit gnadenhaft erhöhter Zustände immer voraus. Sein Interesse galt den Methoden, sie herbeizuführen. Innerhalb der „Fleurs du Mal" ist das Gedicht „Elévation" das reinste Beispiel eines „élancement vers le Ciel". Seine Vorstellungen berühren sich so eng mit manchen Stellen des Wagner-Aufsatzes, daß man schon vermutet hat, es sei unter dem Eindruck wagnerscher Musik entstanden 5 . Doch ist das chronologisch nicht möglich. Das Verhältnis scheint gerade umgekehrt zu sein : die Musik Wagners aktualisierte später in Baudelaire, was „Elévation" entworfen hatte. seinem Kommentar d a v o n , daß ein platonisdier Z u g als Nebenströmung die Fleurs du mal durchziehe. Robert Chérix, Commentaire des Fleurs du mal, Essai d'une critique intégrale. Paris: 1 9 4 9 . S . 28 f. 4

D a s einführende Kapitel v o n „ L e poème du Haschisch" mit dem Titel „ L e goût de l ' I n f i n i " ist als Hintergrund des Gedidites „ E l é v a t i o n " außerordentlich wichtig. D o d i hat es sich als notwendig erwiesen, bei der Interpretation primär v o m Wortlaut des Gedichts auszugehen.

5

Richard W a g n e r et Tannhäuser à Paris. Œ u v r e s S. 1 2 0 8 ff. A n dem A u f s a t z über W a g n e r ist besonders Baudelaires Versuch bemerkenswert, auf gewissermaßen demokratischem W e g , aus dem übereinstimmenden Zeugnis von drei verschiedenen W a g n e r - H ö r e r n , die Objektivität der durch die

Lohengrin-

Ouverture ausgelösten Elévation zu beweisen. D a s beleuchtet die Problematik, in die die A n n a h m e einer sprachlosen Offenbarung gerät, wie sie das Gedicht „ E l é v a t i o n " am Sdiluß proklamiert. — D e r Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang v o n Lohengrin-Ouvertüre und den Gedichten

„Elé-

v a t i o n " und „Correspondances" w i r d v o n Crépet in seinem K o m m e n t a r zu „Richard W a g n e r et Tannhäuser"

aus dem Kommentar von Ernest

Ray-

naud übernommen, aber merkwürdigerweise nicht widerlegt. N a c h allem, w a s über Baudelaires Z u g a n g zu W a g n e r bekannt ist, kann das zeitliche V e r h ä l t nis jedoch nur umgekehrt sein. —

171

Der Titel „Elévation" zitiert eine Tradition, die durch die Namen Bossuet und Alfred de Vigny bezeichnet ist. Bossuet schrieb zu Ende des 17. Jahrhunderts seine „Elévations à Dieu sur tous les Mystères de la religion Chrétienne."' Es handelt sich dabei um kürzere Andachten in feierlicher Prosa über die Hauptpunkte der christlichen Dogmatik. Sie sind an eine geistlich interessierte Zuhörerschaft gerichtet und gliedern sich, jedoch ohne Strenge, in Text, Auslegung und Paränese. Die andächtigen Zuhörer sollen belehrt und zugleich erbaut, d. h. innerlich zu Gott erhoben werden. — Auf Bossuet bezieht sich die Definition im „Littré": „Elévation: Genre de composition littéraire inspiré par uri mouvement d'élévation vers Dieu." 7 Sie ist dahin zu ergänzen, daß diese literarische Gattung die Erhebung zu Gott nicht allein zur Quelle der Inspiration hat, sondern sie auch als Wirkung auf Zuhörer und Leser intendiert. Stilistisch wird diese Absicht im rhetorischen, ja emphatischen Stil faßbar, in dem sich Argumentation und Suggestion verbinden. Es läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Vigny bewußt und direkt an Bossuet anknüpfte oder durch andere Mittler mit dieser Tradition in Verbindung getreten war, als er 1829 plante, einer Gruppe von zwölf Gedichten den Sammeltitel „Elévations" zu geben. Die innere Nähe zu Bossuet ist jedoch unverkennbar. Auch Vigny verwendet den Titel als Gattungsbezeichnung, alternierend mit „poème". In einem Brief begründete er das ausführlich: „ J ' a i nommé ces poèmes Elévations, parce que tous doivent partir de la peinture d'une image terrestre pour s'élever à des vues d'une nature plus divine et laisser (autant que je le puis faire) l'âme qui me suivra dans des régions supérieures: la prendre sur terre et la déposer aux pieds de Dieu." 8 Auch in dieser Begründung geht es um Gehalt und Wirkung. Ein Gedicht dieser Gattung soll, offenbar ganz ähnlich, wie es Schiller vorgezeichnet hat, einen Perspektivenumsprung enthalten, wobei jedoch nicht ganz deutlich wird, ob irdisches Bild und göttlicher Aspekt zum selben Objekt oder zu verschiedenen Gegenständen gehören. Der Verlauf des Gedichtes zeichnet dem Leser die Bahn vor, die er nachzuvollziehen hat und die ihn von der Erde in den Himmel erhebt. Anders als bei der Paränese sind Aufforderung und Ausführung hier simultan. Die Gemeinsamkeit der Konzeption der Gattung bei Bossuet und • 7 8

Bossuet, Œuvres complètes éd. par F. Ladiat. Vol. V I I . Paris 1 9 1 4 Littré Rd III, 195 8 Alfred de Vigny, Poëmes. Notes et éclaircissements par F. Baldensperger. Paris: Conard 1 9 1 4 . S. 359

172

Vigny macht auf jenen grundlegenden Unterschied aufmerksam, der uns in anderem Zusammenhang, innerhalb der deutschen Entwicklung, schon bei den Vorstudien auffiel. Bossuets Andachten suchten die christlichen Heilswahrheiten mitzuteilen in der Weise, daß das intellektuelle Begreifen von der Erhebung der Seele begleitet wurde, so daß die unmittelbare Erkenntnis die begriffliche stützte, ja auch in gewissen Grenzen beglaubigte. Vigny spricht von seinen Gegenständen nur ganz allgemein. Sie sind nicht mehr die christlichen, ja sie werden bestimmt nur im Hinblick auf die Wirkung. Diese besteht nicht mehr in begrifflicher Einsicht, nur noch in stimmungshafter Erhebung, wenn nicht gar in Rührung. Verbindlichkeit der Wirkung garantiert anstelle der allgemeinen erhabenen Gegenstände die erhabene poetische Form. Vigny behielt zwar den N a men Gottes bei, sowohl im zitierten Programmbrief als auch in den Ansätzen zu dessen Realisierung. Aber „Gott" gibt nur der hohen Gestimmtheit der Seele die Weihe zum obersten Wert. In der Elévation „Les amants de Montmorency" 9 , einer sentimentalen Liebesgeschichte, unterlassen es die Liebenden, ihrem durch die Todesnähe gesteigerten Gefühl noch den Namen Gottes zu geben; sie werden dafür vom Dichter getadelt, obwohl sie darin konsequenter sind als er. Ähnlich wie der „schönen Seele" war ihm „göttlich" Synonym von „erhaben» und „intensiv" in bezug auf die Empfindung. Damit hängt zusammen, daß er nicht mehr an die Gefolgschaft einer Gemeinde, sondern einer Einzelseele dachte. Die Lebendigkeit dieser Gattung im weiteren geht daraus hervor, daß Maliarmes Jugendfreund Emmanuel des Essarts i 8 6 j einen Gedichtband mit dem Titel „Les Elévations" veröffentlichte, dessen letzte Abteilung übrigens unter dem Stichwort „Excelsior" stand 10 . Laut Vivier hat Baudelaire von Vigny den Titel „Elévation" entlehnt11. Bei näherem Hinsehen gewinnt man den Eindruck, er habe sich noch weitergehend auf ihn bezogen, und zwar auf „Les amants de Montmorency". Nicht nur ist darin die Dreiteilung, die Baudelaires Gedicht gliedert, vorgezeichnet, innerhalb der drei Teile lassen sich einzelne konkrete Anklänge feststellen. Bei Vigny werden zu Beginn » 10

A . a . O . S. 1 5 5 — 1 5 9 Mallarmé, Correspondance, éd. par Henri Mondor. Paris: Gallimard

1959.

I, S. 1 5 3 . D e m abschätzigen brieflichen Urteil über die Gedichte von Des Essarts steht die lobende öffentliche Empfehlung in „ L a

dernière

mode"

gegenüber. Mallarmé, Œ u v r e s (Pléiade) S. 803 11

Robert V i v i e r , L'originalité de Baudelaire. Bruxelles 1 9 6 5 s S . 2 2 0

173

„Esprits qui le savez" angesprochen wie bei Baudelaire „mon esprit". Die Liebenden sehen auf ihrem Weg die Landschaftselemente wie Spielzeug zu ihren Füßen liegen, sie werden einzeln aufgezählt, ähnlich wie Teiche, Täler etc. in der ersten Strophe bei Baudelaire. Im zweiten Teil heißt es bei Vigny: Et les fleurs exhalaient de suaves odeurs Autant que les rayons de suaves ardeurs 12 Bei Baudelaire stehen an der entsprechenden Stelle ebenfalls Düfte und Feuer der Sonne zu einander in Opposition. Und selbst der berühmte Sdiluß deutet sich an, wenn es bei Vigny heißt: „Le parfum est le secret langage..." 1 8 , und wenn die Blumen sprechen. Eindeutig ist schließlich die Beziehung der beiden dritten Teile. Bei Vigny ist Baudelaires Klimax des dreimaligen „heureux qui", wenn auch in banalem Kontext, vorgebildet in der Passage: Heureux celui dont l'agonie Fut dans les bras chéris avant l'autre finie! Heureux si nul des deux ne s'est plaint de souffrir! Si nul des deux n'a dit: Qu'on a peine à mourir! Heureux l'homme surtout, s'il a rendu son âme Sans avoir entendu ces angoisses de femme.14 Diese Ähnlichkeiten sollen nicht eine Abhängigkeit belegen. Dazu sind sie einerseits zu offensichtlich, andrerseits, was den Kontext betrifft, zu isoliert. Baudelaires Gedicht erscheint vielmehr als eine Antwort auf dasjenige Vignys. Man möchte fast eine polemische Absicht annehmen im Sinne der Notiz Walter Benjamins: „Die Fleurs du Mal als Arsenal; Baudelaire schrieb gewisse seiner Gedichte, um andere, vor ihm gedichtete, zu zerstören. So ließe die bekannte Reflexion von Valéry sich weiterentwickeln." 15 Die Übernahme des Titels weist jedoch darauf hin, daß die vermutete Zerstörung nicht dem Aufschwung selbst gilt, sondern der intensiven Empfindung als seinem Medium. Es sollte dagegen ein anderer und neuer Weg in die Höhe gebahnt werden. Damit machte sich Baudelaire zum Fortsetzer der angedeuteten Tradition. 1

13( 14 Vigny, a.a.O. S. 155—159

15

Walter Benjamin, Schriften, hrsg. von Gretel und Th. W. Adorno. Frankfurt: Suhrkamp 1955. Bd. I, S. 491 („Zentralpark"). Die Reflexion Valérys lautet: „Une œuvre de l'esprit est importante quand son existence détermine, appelle, supprime d'autres œuvres déjà faites ou non. . . Œ u v r e s , éd. par Jean Hytier, Paris: Gallimard i960 (Pléiade). II, S. 482

174

Daß das Gedicht auf diese Frage antwortet, deutete Baudelaire damit an, daß er ihm in der dritten Auflage der „Fleurs du Mal" das Gedicht „L'Albatros" voranstellte, das den Sturz aus der Höhe in die Niederungen zum Thema hat. Zusammen mit dem Schluß des ersten Gedichtes, „Bénédiction", das im Gebet die Hoffnung des Dichters auf Aufnahme in den Himmel des reinen Lichtes ausspricht, ergibt sich als Eröffnung der ganzen Sammlung eine Kurve von Aufstieg nach der Verdammung, Sturz und neuerlichem Aufschwung, der in „Correspondances" ein neues Ziel bekommt. Elevation Au-dessus des étangs, au-dessus des vallées, Des montagnes, des bois, des nuages, des mers, Par delà le soleil, par delà les éthers, Par delà les confins des sphères étoilées, Mon esprit tu te meus avec agilité, Et, comme un bon nageur qui se pâme dans l'onde, Tu sillonnes gaiement l'immensité profonde Avec une indicible et mâle volupté. Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides; Va te purifier dans l'air supérieur, Et bois, comme une pure et divine liqueur, Le feu clair qui remplit les espaces limpides. Derrière les ennuis et les vastes chagrins Qui chargent de leur poids l'existence brumeuse, Heureux celui qui peut d'une aile vigoureuse S'élancer vers les champs lumineux et sereins; Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor, — Qui plane sur la vie et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! 16 Erhebung Über den Teichen, über den Tälern, Den Bergen, den Wäldern, den Wolken, den Meeren, 16

Œuvres S. io. — Kommentare dazu von A . A d a m S. 269; R . Chérix S. 28 f.; Hugo Friedrich a.a.O. S. 35/36; Léon Bopp, Psychologie des Fleurs du Mal 1964, III, S. 265; Gerhard Hess, Die Landschaft in Baudelaires ,Fleurs du Mal', Heidelberg 1953. S. 148 175

Jenseits der Sonne, jenseits der Ätherräume Jenseits der Grenzen der gestirnten Sphären, Mein Geist, bewegst du dich mit Leichtigkeit, Und wie ein guter Schwimmer, der im Meer außer sich gerät, Pflügst du froh die tiefe Unermeßlichkeit Mit unsagbarer und männlicher Lust. Flieg weit weg von diesen verseuchten Dünsten; Geh und reinige dich in der höheren Luft, Und trink, wie einen reinen und göttlichen Trank, Das helle Feuer, das die klaren Räume erfüllt. Im Rücken die Schwermut und den grenzenlosen Gram, Die mit ihren Gewichten auf dem nebligen Dasein lasten, Selig wer sich auf kräftigem Flügel Aufschwingen kann zu den lichten und heiteren Gefilden. Wessen Gedanken wie Lerchen Himmelswärts am Morgen frei sich schwingen — Wer über dem Leben schwebt und ohne Mühe versteht Die Sprache der Blumen und der stummen Dinge! 1 7 Die fünf Strophen gliedern sich von der Syntax her in 2 + 1 + 2. Doch kann man kaum von Gliederung sprechen. Die einzelnen Teile bilden so sehr in sich abgeschlossene Blöcke18, die untereinander kaum in Beziehung stehen, daß das Gedicht gewissermaßen dreimal neu ansetzt resp. in drei Stößen verläuft. Diese Diskontinuität ist allen Interpretationen entgegenzuhalten, die eine geradlinige Abfolge zu konstruieren suchen. Sie stellt freilich auch die crux der Interpretation dar. Im ersten Teil ist „mon esprit" angeredet. Es werden Aussagen über seine Verfassung gemacht. Die erste Strophe bestimmt mit neun negierten Lokalitäten seinen Ort. Es ist eine Region, die sich, in bezug auf 17

D i e Übersetzung soll lediglieli der Verständigung mit dem Leser dienen. Sie folgt weitgehend der Prosaübersetzung von K e m p . Konsultiert wurden ferner die Obersetzungen von George und Hausenstein.

18

D i e Beobachtung, daß die „absolute D i d i t u n g " aus selbständigen „Blöcken" besteht, verdanke idi dem instruktiven Buch von Ernst H o w a l d , Das Wesen der lateinischen Diditung. Erlenbach; Zürich: Rentsdi 1 9 4 8 . D e r das 1 9 . J a h r hundert betreffende Teil ist wieder abgedruckt in: Z u r

Lyrik-Diskussion,

hrsg. von Reinhold G r i m m . Darmstadt: Wiss. Budigesellsdiafl 1 9 6 6

(Wege

der Forschung B d n i ) S. 46 f. Dagegen trifft auf keines der hier betrachteten Gedichte H o w a l d s weitere Bemerkung zu, die einzelnen Blöcke ließen sich in ihrer A b f o l g e untereinander austauschen. D a s Erhebungsmotiv einen einsinnigen V e r l a u f .

1/6

fordert

Erde und Himmel als ein absolutes Jenseits darstellt, w o f ü r

„Höhe"

nur noch eine metaphorische Bezeichnung sein kann. In der Bezeichnung „immensité p r o f o n d e " k o m m t die Irrelevanz der Begriffe „oben" und „unten" z u m Ausdruck. D e r Geist bewegt sich in dieser Absolutheit „wie ein guter Schwimmer im Meer." D e r Vergleich enthält mehrere Momente. Zunächst gibt er dem Geist Personalität. Er manifestiert sich als spontane K r a f t uneingeschränkt. Deren Autonomie reicht so weit, d a ß sie sich durdi ihre Bewegung selber den Raum schafft, in dem sie sich bewegt 1 9 . Das ist mit der Reihung der ersten Strophe angedeutet und im Verbum „sillonner" ausgesprochen. Die personale K r a f t ist auch nicht der Zeit Untertan. Sie erneuert

sich jeden

Augenblick

aus sich selbst.

Diese

„agilité" steht dem Geist selbstverständlich z u Gebote. Er ist als absoluter in der Absolutheit in seinem Element. Wie schon das V e r b „tu te meus" andeutet, gründet diese absolute Spontaneität in Reflexivität. Diese äußert sich auch darin, d a ß sich der Geist seiner Bewegtheit und Beweglichkeit bewußt ist. Er genießt sie als Freude. A u f diesen U m stand

ist dreifach hingewiesen:

„Gaîment",

„se pâme",

„avec

une

indicible et mâle volupté". D a r i n besteht offensichtlich das entscheidendste

und

wichtigste

tertium

comparationis

zwischen

Geist

und

Schwimmer. Die Schlußzeile dieses ersten Teils gibt z u erkennen, d a ß der Geist in seiner Absolutheit ekstatisch bei sich selbst und außer sich ist. D a s durchgängig praesentische tempus ist im Zusammenhang

mit

dem Gattungsgesetz einer „Elévation" z u sehen. Es drückt ein Sein und zugleich ein Sollen aus, d. h. das Sollen trägt in sich schon seine Erfüllung. D e r angeredete Geist befindet sich nicht in der Ekstase, er wird durch die beschwörende Vorwegnahme im Medium der Sprache dazu gebracht. D e r Widerstand, der dabei zu überwinden ist, läßt sich an dem aufgewandten

Pathos ermessen. Die

Aussage ist rhetorisch auf

das

üppigste instrumentiert. D a s führt in der ersten Strophe zu einem erstaunlichen Mißverhältnis v o n sprachlichem A u f w a n d und Information. D e r Begriff der H ö h e ist aufgefächert in eine neungliedrige Reihe von Konkretionen,

die, aufgeteilt in sechs und drei, eine

weitgespannte

K l i m a x ergeben. Die neun Lokalitäten sind Stufen des sich steigernden Pathos, welches dem Geist seine Ekstase suggeriert. Durch die Reihung verlieren die einzelnen Wörter an semantisdiem Inhalt, dies besonders auch deshalb, weil ihnen mit „au - dessus" und „par delà" Negationen vorangestellt sind, die dem griech. υπέρ entsprechen; d a f ü r füllen sie 19

V g l . Georges Poulet, Baudelaire. In: Les métamorphoses du cercle. Paris: Pion 1961. S. 399 f.

177 12

Pestalozzi, Lyrisches Ich

sich mit Emphase. So stellt sich durch die Sprache die sprachlose Lust des Geistes her. Der Höhepunkt ist mit der Anrede „mon esprit" — der Strophensprung gibt noch den letzten Stoß — erreicht. Sie klingt darauf wieder ab. Der rhetorische Ornatus reduziert sich auf den Vergleich, die Sprache gewinnt wieder Sinnhaltigkeit, die Syntax wird komplizierter, der Ton fällt. Die „unsagbare Lust" ist mit ihrer namentlichen Erwähnung abgeklungen. — Die innere Voraussetzung, daß die pathetische Beschwörung gelingt, ist in der Anrede „mon esprit" gegeben. Beschwörer und Besdiworener sind eins, es handelt sich um eine differenziertere Form jener Autosuggestion, die das Gedicht „Excelsior!" darstellt. Die Verbindung von Spontaneität und Reflexivität, die sich in der Ekstase als das Wesen des Geistes erweist, bestimmt somit auch die Methode, durch die die Ekstase zustande kommt. Pygmalion ist auch hier am Werk. Was vom Geist ausgesagt wird, objektiviert damit nur den Vorgang dieses Aussagens selbst. Die ersten beiden Strophen von Baudelaires Gedicht führen also das Gattungsgesetz der Elévation, das bei Bossuet und Vigny zu beobachten war, um einen wichtigen Schritt weiter. Bossuet wollte auf eine gemeindeartige Zuhörerschaft einwirken, Vigny auf eine folgewillige Leserseele. Bei Baudelaire dagegen geht es um ein Selbstgespräch. Bei Bossuet führte die Elévation zu Gott, dem geoffenbarten und innerlich erfahrbaren. Vigny verabsolutierte den innerlichen Vorgang, ohne jedoch den Namen Gottes preiszugeben. Bei Baudelaire ist hier an die Stelle Gottes ein ekstatischer Zustand des eigenen absolut gewordenen Geistes getreten. Die Lokalisierung in der Höhe, die ein absolutes Jenseits bedeutet, die schöpferische Spontaneität, die sich mit Selbstbewußtsein verbindet, und schließlich die Unaussprechlichkeit erinnern nodi an Gott. Was das thematische Substrat, dessen sich der Aufschwung bedient, betrifft, so stellten es bei Bossuet die christlichen Mysterien, bei Vigny war es eine sentimentale Gesdiichte oder ein anderer erhebender Gegenstand. Die bei Baudelaire herrschende Reflexivität zeigt sich dagegen auch daran, daß das Ziel des Aufschwungs selber Thema ist. Dabei geschieht die sprachliche Lokalisierung so, daß der Eindruck eines Aufstiegs entsteht: die neun Bestimmungen ergeben keine ganz, aber doch annähernd konsequente Aufstiegsroute 20 , die von der Erde in den Kosmos hinausführt.

20

Die Reihung untersteht offensichtlich stärker Gesetzen des Rhythmus als solchen der Vorstellung. Die Strophe als ganze folgt dem Schema der „Abwehr", welche vor allem im Barock als Topos f ü r Gediditanfänge beliebt

178

Dabei f ä l l t auf, daß offensichtlich das alte ptolemäisch-aristotelische Weltbild zugrunde liegt. D i e Unermeßlichkeit, in der sich der Geist bewegt, befindet sich jenseits der Fixsternsphäre, dort also, w o nach der alten Vorstellung G o t t thronte. Dieser Archaismus gibt dem Aufschwung des Geistes etwas Zweideutiges. Einerseits entspricht er demjenigen, den Brunos Sonett „ E chi mi impenna" darstellt. D e r Geist hat sidi v o n allen Hindernissen und Befangenheiten, auch hier stehen sie fast ausnahmslos im Plural, befreit. Er hält sich nicht mehr an die N a t u r , wie sie sich seinem A u g e darbietet, sondern vertraut seiner Spekulation, die ihn darüber erhebt. Er genießt seine Überlegenheit über die N a t u r , in der seine eigene Absolutheit z u m Ausdruck kommt. Weil aber diese Befreiung anders als bei Bruno das alte Weltbild bestehen läßt, w i r d sie weiterhin daran gemessen. D e r A u f e n t h a l t „ p a r delà les confins des sphères étoilées" w i r d damit zur Grenzüberschreitung, die dem Geist eigentlich nicht zusteht. Er w a g t sich in die absolute Region vor, die G o t t vorbehalten ist. W i r d somit der angesprochene Geist als moderner erkennbar, der die Gottheit in seinen Willen aufgenommen hat, so w i r d er als solcher zugleich durch die Gestaltung kritisiert. Sein Aufschwung macht keinen Sündenfall rückgängig, sondern ist selber Anmaßung, sein Selbstvergnügen luziferische H y b r i s . D e r triumphale Ton, der ihn feiert, ist brüchig. D a s W o r t „ v o l u p t é " , das den Schlußpunkt setzt, schillert zweideutig. N u r wenn man diese Doppeldeutigkeit des A n f a n g s berücksichtigt, verliert der zweite Teil des Gedichts, die dritte Strophe, ihre Befremdlichkeit. D a r i n beginnt das Gedicht gewissermaßen nochmals. D e r Geist wird, als w ä r e nichts geschehen, aufgefordert, sich aufzuschwingen, w o bei der dabei vorausgesetzte vertikale A u f r i ß nichts mit dem vorausgegangenen geographisch-kosmischen des ersten Teils z u tun hat. Er ist vielmehr theologisch-spiritueller A r t . Unten sind „kranke Dünste", oben reine Luft und lichterfüllte Räume, die an das Dantesche Paradiso erinnern. Dabei sind hinter den metaphorischen oder mythologischen Bezeichnungen

die Landschaftselemente des ersten Teils noch vage

zu

erkennen. I m zweiten Teil geht es somit um eine Erhebung, bei der sich der Geist nicht an die Stelle Gottes setzt, bei der er vielmehr den auf G o t t ausgerichteten Stufenkosmos mit seinen theologischen und ethischen

war. Vgl. Renate (Bösdienstein-)Schäfer, Die Negation als Ausdrucksform. Diss. Bonn 19 j9. S. 60 f. 179 12*

Implikationen akzeptiert, so daß ihm die Höhe nicht seine eigene Absolutheit bringt, sondern im Gegenteil eine Reinigung von dem, was ihm an Eigenem anhaftet. Die Göttlichkeit, die er erlangt, indem er das klare Feuer der obern Räume trinkt, ist ihm aus eigener Kraft gerade nicht erreichbar. Der Aufschwung, den der zweite Teil ins Auge faßt, ist historisch gesehen im Vergleich mit dem Anfang ein Rückschritt. Gegen Bruno und was auf ihn folgte wird Dante gesetzt, gegen die Renaissance das Mittelalter. Doch die Fronten haben sich verkehrt. Im Aufschwung der ersten beiden Strophen waren Sein und Sollen in pathetischer Beschwörung eins. Die Imperativischen Aufforderungen der dritten Strophe belassen es beim Sollen. Die Realisierung steht noch aus. Es wird anerkannt, daß ein Widerstand zwischen Sprechen und Vollbringen liegt. Das spirituelle muß sich erst wieder gegen das moderne entgötterte Weltbild durchsetzen. So einleuchtend diese Deutung des zweiten Gedichtteils sein mag, sie krankt daran, daß die Bezüge zum ersten nur indirekt sind und sich nicht sprachlich fassen lassen. Doch eine, wenn auch schmale Brücke scheint beide Teile zu verbinden. In „ces miasmes morbides" könnte das Demonstrativum eine Anknüpfung an das Vorausgegangene sein. Läßt sich diese Annahme rechtfertigen? Es seien in einem Ausschließungsverfahren zunächst vorliegende andere Deutungen des „ces" geprüft. Hugo Friedrich21 versteht „ces miasmes morbides" als „Miasmen des Irdischen". Das Pronomen wiese damit auf die außerhalb des Gedichtes liegende Realität, die im Gedicht bisher nicht zur Sprache gekommen ist, um dem zweiten Aufschwung eine Basis zu geben. Friedrich unterscheidet jedoch überhaupt nicht zwei Aufschwünge. Er sagt: „Drei Strophen sind Anrede an den eigenen Geist, Aufforderung, über Teiche, Täler, Berge, Wälder, Wolken, Meere, Sonne, Aether, Sterne sich hinaufzuschwingen in eine jenseitige Feuersphäre, die von den Miasmen des Irdischen reinigt. Dann bricht die Anrede ab." 22 Indem so der genaue Ablauf des Gedichts verwischt wird, tritt das Problem, um das es sich hier handelt, gar nicht in den Blick. Damit verliert die angeführte Deutung von „ces miasmes morbides" ihre Relevanz. Hess verfährt vorsichtiger und anerkennt einen immanenten Bezug, wenn er davon spricht, daß die irdische Welt „erst neutral in ihren landschaftlichen Elementen und dann gewertet als ,miasmes morbides' erscheint"23. Doch ginge der 21 22

"

A.a.O. S. 35 Ebd. Hess, a.a.O. S. 58

180

Bezug über eine ganze Strophe hinweg, und über die doppelte A u f forderung wäre nidits gesagt. Wichtig ist an dieser Auffassung, daß sie die verstärkte Pejoration erkennt, die im Demonstrativpronomen liegt. Unserer Auffassung nach ist jedoch damit nichts Einzelnes aus dem ersten Teil abgewertet, sondern dieser erste Teil als ganzer. Er wird nachträglich kritisiert. Der zweite setzt den ersten Teil nicht geradlinig fort, er reflektiert über ihn, befindet sich also auf einer höheren Ebene. Deshalb scheint das Gedicht neu einzusetzen. Für die zweite Imperativische Forderung sich aufzuschwingen, bildet der erste Aufsdiwung die Basis. Es geht um eine Elévation über die Elévation, um eine Elévation in zweiter Potenz 24 . Die Möglichkeit, „ces miasmes morbides" als Metapher für den ersten Teil des Gedichts anzusehen, soll ein kurzer Exkurs über das Gedidit hinaus in Baudelaires übrige Verwendungen des Wortes noch stützen 25 . „miasmes" kommt in den „Fleurs du M a l " nodi zweimal vor, in „Le Flacon" und „Les Femmes damnées"®*. Beidemale spezifiziert es den Oberbegriff „parfum". Gerüche spielen bekanntlich bei Baudelaire eine zentrale Rolle. Es w a r seine grundlegende Beobachtung, daß Gerüche den Geist in stärkstem Maße zu Gedanken und Vorstellungen anzuregen vermögen, in denen Vergangenes wieder gegenwärtig wird. Sie wecken die „mémoire involontaire". A u f dieser Beobachtung basierte 24

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Diese Deutung sucht offensichtlich die Übersetzung Hausensteins wiederzugeben, deren erste drei Strophen lauten: Hoch über Tälern hin, den Weihern und den Teichen, Gebirgen, Wäldern und dem blanken Wolkenschnee, Jenseits der Himmelsluft, der Sonne und der See U n d oberhalb der Sphären mit den Sternenzeichen Bewegst du dich, mein Geist, lebendig und geschickt. In Wollust liegt der gute Schwimmer auf der Welle; So furchst du die Unendlichkeit, der tiefen Helle Unsäglich froh, von männlichem G e n u ß erquickt. Enthebe dich im Flug aus diesen faulen Feuchten! Im allerhöchsten Ä t h e r läutere die K r a f t U n d trink wie einen rein von Gott geschenkten Saft Den klaren Brand der Fernen, die durchsichtig leuchten! Baudelaire, Ausgewählte Gedichte, deutsch von Wilhelm Hausenstein. München: A l b e r 1947 Dabei erwiesen sich als hilfreich: Baudelaire, Les fleurs du mal. Concordance. Paris: Larousse o. J. — W . T . B a n d y , A w o r d index to Baudelaires Poems. Madison 1939. — R . T . C a r g o , A concordance to Baudelaire's „Les fleurs du mal". University of N o r t h Carolina Press 1965 Œuvres S. 45 ; S. 139 181

auch Baudelaires Interesse für Haschisch und Opium, mit denen die „mémoire involontaire" scheinbar manipulierbar geworden war. „Miasmes" nannte er auch die Dünste, welche aus dem Mohn aufstiegen und die Mohnpflücker, die davon betäubt wurden, erstmals auf die Fähigkeiten des Haschisch aufmerksam machten27. Düfte und Gerüche als materielle Träger von Geistigem sind bei Baudelaire über ihre eigentliche Bedeutung hinaus auch mögliche Metaphern für andere Medien, Töne und Farben ζ. B. In die Synaesthesie ist die Sprache mit einbeziehbar. So wird in dem Huldigungsgedicht an Sainte-Beuve „Tous imberbes a l o r s . . . " die lesende Aneignung eines Buches folgendermaßen geschildert: J'en ai tout absorbé, les miasmes, les parfums, Le doux chuchotement des souvenirs défunts, Les longs enlacements des phrases symboliques, — Chapelets murmurants de madrigaux mystiques; — Livre voluptueux, si jamais il en fut. 28 Die Erinnerungen, welche durch die Gerüche heraufgeführt werden, sind besonderer Art. Anders als dann bei Proust, wo die „mémoire involontaire" vergegenwärtigt, was aus seinem eigenen Leben der Vergessenheit anheimgefallen war, führt sie bei Baudelaire in eine frühere Zeit der Menschheitsgeschichte zurück29. Sie weckt anthropologische Erinnerungen an eine „vie antérieure". Damit sind die Gerüche Brücken zu einer besseren und glücklicheren Epoche der Menschheit und des Einzelnen. Daher überschrieb Baudelaire seine Abhandlung über Haschisch und Opium, in die er auch den Wein mit einbezog, als „paradis artificiels". Er überprüfte die Rauschgifte auf ihre Qualität als Erlösungsmittel hin. Denn nicht allen Gerüchen war darin zu trauen, mandie bereiteten, was er „jouissances morbides" 30 nannte; statt zu erlösen, vertieften sie nur die menschliche Misere. Dabei läßt sich die Entscheidung darüber nicht unter der unmittelbaren Wirkung treffen. Erst im Nachhinein zeigt sich ihr wahres Wesen. Im Gedicht „Le Flacon" ist ein solcher Umschlag beschrieben, wenn es von Gerüchen, die aus einer alten Flasche ausströmen, heißt: 27 28 89

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A.a.O. S. 3 5 1 A.a.O. S. 199 Mit dieser Abgrenzung folge idi Walter Benjamin, Uber einige Motive bei Baudelaire. Schriften I, S. 456. Benjamins Aufsatz verdanke ich überhaupt mandie Anregung. Œuvres S. 349

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Mille pensers dormaient, chrysalides funèbres, Frémissant doucement dans les lourdes ténèbres, Qui dégagent leur aile et prennent leur essor, Teintés d'azur, glacés de rose, lamés d'or. Voilà le souvenir enivrant qui voltige Dans l'air troublé; les yeux se ferment; le Vertige Saisit l'âme vaincue et la pousse à deux mains Vers un gouffre obscurci de miasmes humains; 31 Was im Augenblick der Wirkung höchstes Glück vermittelt, kann darnach völlig negativ erscheinen. Der Grund für diesen Umschlag liegt im Aufhören der Bezauberung. In der pejorativen Wertung objektiviert sidi die nachträgliche Enttäuschung. Sie trifft somit nicht die Sache selbst. Auf diesem Hintergrund verliert der Ausdruck „ces miasmes morbides" als nachträgliche zusammenfassende Charakterisierung des ersten Teils von „Elévation" sein Befremdliches. Es richtet sich e x p o s t gegen die Selbstvergötterung des Geistes im Medium der pathetischen Sprache und damit gegen die Verabsolutierung des eigenen Geistes überhaupt. Nachdem die Ekstase abgeklungen ist, kommt ihre innere Widersprüchlichkeit zum Vorschein. Ja es macht den Anschein, als sei auch hier das Abklingen der Anlaß zur Kritik. Eine Absolutheit, die zu Ende gehen kann, hört auf, eine zu sein. Die nachträgliche pejorative Einschätzung entspräche verschärft Meyers Zeile „nicht eines Augenblickes kurzer Raub". Audi Baudelaires Abwertung hat einen literaturgeschichtlichen Aspekt. Man hat gerade für die ersten beiden Strophen des Gedichts zahlreiche Parallelen bei romantischen Dichtern namhaft gemacht32. Das Pathos zumal erinnert deutlich an Victor Hugo. „Immensité" gehört zu Hugos Schlüsselwörtern. Daß die negative Reihe diejenige von „Incompatibilité" relativ unverändert aufnimmt, bestätigt indirekt das Traditionelle der Gestaltung des ersten Teiles. „Ces miasmes morbides" trifft die romantische Dichtung, genauer die mühelose Verfügbarkeit romantischer Stilmittel, die dem Nachgeborenen scheinbar eine unendliche 31

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A.a.O. S. 45. Solche plötzlichen Umschläge finden sich bei Baudelaire z. B. auch in „Alchimie de la douleur", „ U n voyage pour Cythère", „Les métamorphoses du vampire", „Le masque'*. Vgl. Vivier a.a.O. S. 220 f. Auf die Vorliebe Hugos für das Wort „immensité" weist audi Hess hin. Baudelaire selbst sagt einmal: „L'excessif, l'immense sont le domaine naturel de Victor Hugo; il s'y meut comme dans son atmosphère natale." Œuvres S. 709 183

Agilität aus eigener Kraft erlaubt. Audi von dieser Seite erfährt die Sprache als Medium des Aufschwungs Kritik. „Envole-toi bien loin de ces miasmes morbides" fordert somit den Geist auf, von der im ersten Teil des Gedichtes realisierten Möglichkeit der Selbstapotheose abzulassen und sich auf andere Weise aufzuschwingen. Nach der ersten Zeile steht ein Strichpunkt. Die beiden folgenden Imperative sind Ausführungsbestimmungen zu „envole-toi". Dabei ist der dritte — „bois le feu clair" — eine Spezifizierung des zweiten „va te purifier". Der Geist wird aufgefordert, sich zu reinigen. Das reinigende Gegenmittel, das den „miasmes morbides" entgegengesetzt ist, ist „le feu clair qui remplit les espaces limpides". Dünste und Feuer sind bei Baudelaire durchaus kommensurabel. Die Brücke schlägt der Vergleich mit „liqueur". Der Wein steht in den „Paradis artificiels" als Stimulans des Geistes in einer Reihe mit Hasdiisdi und Opium. Auch in den „Fleurs du Mal" ist ihm eine Abteilung gewidmet, die seine tröstende und erlösende Wirkung herausstellt. Indem das Feuer einem Wein verglichen wird, wird deutlich, daß es mit den miasmes das Stimulierende verbindet. Anders als beim ekstatischen Aufschwung, den der erste Teil des Gedichtes suggeriert, soll sich der Geist einem ihm scheinbar fremden Medium, das er außer sich vorfindet, anvertrauen. „Le feu clair qui remplit les espaces limpides" ist eine Umschreibung der Sonne im Hinblick auf ihre Klarheit und Helle. Im Vergleich, der die Funktion des Feuers verdeutlicht, taucht das Adjektiv „göttlich" auf. In Verbindung mit „liqueur" ruft es Assoziationen an Nektar oder an Abendmahlswein hervor. Auf die Unterscheidung heidnisch oder christlich kommt es hier nicht an, es geht um diejenige zwischen menschlich und göttlich. Im ersten Teil des Gedidits war das Göttliche scheinbar ganz an den Menschen gefallen, dessen Geist sich ekstatisch in der Absolutheit bewegte. Die Reinigung davon besteht darin, daß der Mensch auf seine Göttlichkeit verzichtet und ein Medium akzeptiert, das in Analogie zu den Gaben Gottes oder der Götter steht. Dadurch, daß „divine" im Vergleich steht, wird nicht die Rückkehr zu vergangenen religiösen Wegen der Selbstvermittlung gefordert. „Le feu clair" tritt an ihre Stelle; etwas Natürliches also. Audi darin zeigt sidi der Gegensatz zum ersten Teil, in dem der Geist irdische und kosmische Natur völlig unter und hinter sich gelassen hatte. Was aber soll das heißen, daß der Geist von den „miasmes morbides" an das „feu clair" verwiesen wird? „Miasmes morbides" wurde als 184

Reflexion über den ersten Teil des Gedichts verstanden. Da „le feu clair" ihm entgegengesetzt ist, also auf der gleichen Denkebene steht, kann es nicht einfach mit der wirklichen Sonne gleichgesetzt werden. Es ist gleichfalls Metapher. Wie „miasmes morbides" sich auf den ersten Teil des Gedichts bezog, so richtet es sich auf den dritten. Dieser soll hell und klar und göttlichem Weine vergleichbar sein. Er muß Möglichkeiten der Elévation enthalten, die, weil sie nicht vom Menschen ausgehen, an religiöse Formen erinnern. Der dritte Teil muß folglich einen gereinigten ersten darstellen. Der zweite ist der Mittelteil des Gedichts. Er leitet vom ersten zum dritten über in Gestalt einer kritischen Reflexion, aus der die Forderung nach einer reineren Gestaltung hervorgeht. Diese Reflexion ist selbst eine Aufforderung zum Aufschwung. Dessen Ausgangspunkt ist der erste, dessen Ziel der letzte Teil des Gedichtes. Der dritte Teil korrespondiert mit dem ersten in verschiedener Hinsicht. Er besteht ebenfalls aus zwei Strophen, die e i n e syntaktische Konstruktion umgreift. In der Kadenzordnung entspricht die vierte der zweiten Strophe, die fünfte der ersten. Der Einsatz der vierten Strophe mit der vorangestellten adverbialen Bestimmung des Ortes läßt grammatisch und rhythmisch den Anfang des Gedichts anklingen. Diese Entsprechungen bilden den Rahmen für eine grundsätzliche Gegenläufigkeit. Im Schlußteil herrscht nach dem mit „heureux" erreichten Tongipfel ein Decrescendo inhaltlicher und grammatischer Art, dessen Ausklingen das letzte Wort „muettes" in jeder Weise besiegelt. In Korrespondenz und Gegenläufigkeit sind die in der Mittelstrophe angedeuteten Bezüge zwischen Anfang und Schluß realisiert. Dafür, daß der Schluß die Forderung der dritten Strophe realisiert, ist sein Aufbau die Bestätigung. Er ist bestimmt durch die Formel „heureux celui qui", welche die biblischen Seligpreisungen einleitet. Die drei so eingeleiteten Sentenzen sind eine Kontrafaktur dazu 33 . Darauf offenbar bereitete der Vergleich „comme une pure et divine liqueur" vor. ss

D e r Bezug braucht nicht unmittelbar zu sein. Bei D a n t e begleiten die sieben biblischen Seligpreisungen jeweils den Aufstieg v o n einem zum andern Gürtel des Purgatorio, vgl. Gmelin I I , S . 2 1 6 . — Später scheinen sie zu einem fast topischen Gedichtschluß geworden zu sein. V g l . Goethes „ A n den M o n d " . Dabei wirken wohl das biblische V o r b i l d und das „beatus ille qui procul negotiis" des H o r a z zusammen. — Erstaunlich nahe steht Baudelaire^ F o r mulierung dem folgenden Gedichtanfang aus Boëthius: Felix, qui potuit boni fontem visere lucidum, 185

Mit der Form der Seligpreisung erscheint im Gedicht eine dritte auf Zukünftiges gerichtete Aussageweise. Hatte der erste Teil in der Form pathetischer Beschwörung Zukunft kühn zur Gegenwart gemacht, hatten die Imperative des Mittelteils auf die noch in der Nähe liegende Realisierung vorausgedeutet, so ist diese nun in unbestimmte Ferne gerückt. Zwar bezeichnen die biblischen Seligpreisungen einen gegenwärtigen Zustand als selig, weil darin der Keim künftiger Erlösung lag. Hier nun fehlt bei „heureux" eine Kopula, die es in der Gegenwart festlegte. Die Seligkeit beruht auf den in den Nebensätzen formulierten Ausnahmebedingungen, deren zeitliche Fixierung ungewiß ist. Diese unterschiedlichen Sprachformen der drei Gedichtteile bezeichnen somit die Stadien einer Bewegung, in der sich Aussage und Ausgesagtes immer weiter voneinander entfernen. Das wird auch daran ablesbar, daß der zu Beginn angeredete Geist schließlich nicht mehr genannt ist. Aus dem suggestiven Selbstgespräch ist eine Sentenz von neutraler Allgemeinheit geworden. Ihr Ton ist entsprechend sachlicher, weniger pathetisch als der des Anfangs. Die ersten beiden Zeilen stellen die Hindernisse voran, die für alle drei Seligpreisungen gelten Derrière les ennuis et les vastes chagrins Qui chargent de leur poids l'existence brumeuse An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie sehr das Gedicht versucht, den geistigen Vorgang abzubilden. „Ennuis" und „chagrins" stehen am Anfang der Strophe, so daß die heureux-Formeln, die ihre Überwindung bedeuten, audi räumlich hinter ihnen stehen. Ebenso war mit „l'air supérieur" in der dritten Strophe auch ganz wörtlich der folgende Gedichtteil gemeint. Das pathetische Anordnungsprinzip des Anfangs weicht von der dritten Strophe an einem metaphorischen. Mit „ennui" und „chagrin" treten jene Zentralbegriffe ins Gedicht, die leitmotivisch die erste Abteilung der „Fleurs du Mal" durchziehen. Es sind die Komponenten des Spleen, die dem Ideal auch hier entgegengesetzt werden. Der Aufschwungsthematik sind sie durch die Metaphorisierung als lastende Gewichte eingefügt. Auf ihnen beruht hier jene felix, qui potuit gravis terrae solvere vincula. Boëthius, Philosophiae Consolationis libri quinqué, hrsg. von Karl Büchner. 2., erneuerte Auflage. Heidelberg: Winter i960. I I I metr. X I I . S. 69 186

Gravitation, welche, wie die Vorstudien gezeigt haben, motivgesetzlich dem Aufschwung entgegenwirkt. Mit „existence brumeuse", zu der sie gehören, werden sie andeutungsweise begründet. „Brumeux" ist zunächst ganz wörtlich zu verstehen. „Les brumes", die aus der Seine aufsteigen, sind ein Spezificum der Pariser Atmosphäre. „Brumeuse" ist die Existenz in Paris als dem Inbegriff der Großstadt, wie sie Baudelaire oft beschrieben hat. Das Adjektiv „brumeux" läßt punktuell eine unterschwellige Verbindung von „Elévation" zu den „Tableaux Parisiens" sichtbar werden. Die Großstadt, wie Baudelaire sie zeichnete, isoliert den Einzelnen von der Umwelt und macht es ihm schwer, an ihr Anteil zu nehmen. Sie wirft ihn auf sich selbst zurück und liefert ihn dem eigenen Trübsinn aus, der ihm auch von innen her alles gleichgültig werden läßt. So befördert sie die Hauptsünde der Acedia. Im deutschen Wort „Schwermut" wird diese als die dem Aufschwung widerstrebende Gemütsverfassung deutlich. „Existence brumeuse" betont die Licht- und Glanzlosigkeit, das Graue daran. Wichtig ist die mit dem Ennui gegebene Einstellung zur Zeit. „Spleen et Idéal" schließt mit dem Gedicht "L'horloge". Der Ennui erscheint darin als das Bewußtsein der stetig, unwiederbringlich und fruchtlos verrinnenden Zeit, das die Zeit erst recht beschleunigt. Da dem Ennui nichts Gegenwärtiges genügen kann, gibt er alles, was ist und was er hat, für ein unbestimmtes Besseres preis, das nodi aussteht. Aber unfähig, dieses Bessere selbst herzustellen, erwartet er es von außen. Darum spannt er sich auf alles Neue und Sensationelle, das ihm doch, wenn es eintritt, gleichgültig wird wie alles andere. Das Gewesene aber wird ihm zum Schuttplatz des Versäumten. Der Ennui lähmt deshalb jeden Aufschwung von vornherein, weil er auf ein ewig Zukünftiges hofft und auf das unwiederbringlich Gewesene starrt. Im dritten Teil von „Elévation" erfolgt die Nennung von „ennuis" und „chagrins" ähnlich unvermittelt wie die von „miasmes morbides" zu Beginn des zweiten. Ähnlich wie dort scheint sich das Gedicht damit auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die in ihm noch nicht zur Sprache kam. Doch auch hier tritt unter einen neuen Aspekt, was vorausgegangen war. Das Verfahren der Mittelstrophe, den Aufschwung des ersten Teils abzuwerten und um eines vage erahnten Besseren willen zu verwerfen, ist genau die Taktik des Ennui. Der ekstatische Aufschwung der ersten Strophe verlief in der Zeit. Das machte ihn für die Kritik des Ennui anfällig, der statt dessen etwas Anderes und Besseres erhofft. 187

Dabei orientiert er sich am Gewesenen. Das archaische Moment in seiner Aufforderung ist deutlich. Damit relativiert sich die Berechtigung, den ersten Teil als „miasmes morbides" zu kennzeichnen. Als negativ erweist sich nicht der erste Teil, sondern der Ennui als die Instanz, die dieses Urteil gefällt und damit rückwirkend die Spontaneität sabotiert hat. Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang stellt sich das Problem, Möglichkeiten des Aufschwungs zu finden, die dem im ersten Teil realisierten gleichkommen, jedoch außerhalb der Reichweite des Ennui liegen. Ennui und chagrin sind Spielarten des Bewußtseins. Insofern sie hier dominieren, stehen sie für Bewußtsein überhaupt. An dessen Rand, in dessen Rücken nur bestehen die Chancen einer ungetrübten Spontaneität. Das eben ist mit „derrière" gemeint, das den dritten Teil einleitet. Diese Rücksicht auf den Ennui räumt diesem indirekt doch auch Einfluß auf die neuen Möglichkeiten ein. Wir meinen ihn in der unbestimmten Zukünftigkeit sowie in der Beibehaltung des Weltaufrisses der Mittelstrophe zu erkennen. Die Seligpreisungen entwickeln somit drei Wege, auf dem Hintergrund des Ennui zu jenem Zustand zu gelangen, wie ihn der erste Teil des Gedichtes exponierte. Doch soll jene subjektive Lust einer Erlöstheit weichen, die objektiv verbürgt ist und eine äußere sichere Basis hat. Die erste Seligpreisung lautet: Heureux celui qui peut d'une aile vigoureuse S'élancer vers les champs lumineux et sereins. Diese erste Formel ist die vollständigste. Die Assonanzen geben ihr eine besonders feierliche Note. Die Vorstellung, auf die verwiesen wird, bleibt jedoch merkwürdig unklar. Der starke Flügel und die lichten Gefilde lassen an den Adler denken, der seine Jungen zur Sonne trägt. Dodi bleibt dieses Bild unausgeführt. Der Schlüssel dazu ist in den „champs lumineux et sereins" enthalten. Diese beziehen sich wohl auf die elysischen Gefilde, in denen sich die Verstorbenen aufhalten. Der geheimnisvolle Akt des Aufschwungs umschreibt den Tod. Dieser erscheint an andern Stellen der „Fleurs du Mal" oft als Engel®4. Zu ihm gehört offenbar der starke Flügel. Wie in Beispielen, die uns früher begegnet sind, ist auch hier der Tod, genaugenommen der Akt des Sterbens, der Inbegriff des Auf34

Vgl. „La mort des amants", „La mort des pauvres".

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schwungs. Er befreit den Menschen von seiner Kreatürlidikeit und führt ihn zurück in seinen reinen Ursprung. Auch bei Baudelaire steht ein Piatonismus hinter dieser Auffassung, wie seine Charakterisierung des „élancement vers le Ciel" als „fleur platonique" gezeigt hat. Der Gegensatz, der in „Elévation" mit hell und dunkel bezeichnet wird, liegt jedoch innerhalb des Bewußtseins. Der Tod befreit vom Spleen, statt „vastes" hießen die „chagrins" ursprünglich „sombres", und führt das Ich zur Heiterkeit, in der es bei sich ist. Dieser Aufschwung wird deshalb nicht vom Ennui gelähmt und in Frage gestellt, weil er außerhalb der Verfügungsgewalt des Ich steht. Er ergreift das Ich ohne sein Zutun und bewirkt, was es aus sich selbst nicht zu leisten vermag. Zwischen Tod und Ennui besteht zudem eine innere Verwandtschaft. Auch der Ennui destruiert. Er tötet Spontaneität und Aktivität. Im Tod unterliegt er seinem eigenen Prinzip. Indem die vernichtende Acedia vernichtet wird, tut sich ein heiterer Himmel auf. Damit könnte zusammenhängen, daß die erste Seligpreisung den Weltaufriß der Mittelstrophe übernimmt. Daß der Tod nicht unmittelbar als solcher kenntlich ist, ist die Folge der metaphorisierenden, ja mythischen Umschreibung. Dadurch wird er auch verallgemeinert. Der „starke Flügel" trägt den unbestimmten Artikel. Es lassen sich also auch andere Ausdeutungen denken, die mit dem Tod nur die Struktur gemeinsam haben. Audi das erinnert an frühere Beispiele, in denen sich die Aufschwünge durch die Einbeziehung des Todes in das Leben ergaben. In Baudelaires Werk erfüllen audi Drogen, Wein, intensive Sinnlichkeit und Musik diese Funktion. Sie alle vermögen als Medien das Ich aus dem Trübsinn in Heiterkeit zu versetzen, unter die Seligen. Gegen diese Erweiterung spricht jedoch, daß diese Medien in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt sind. Sie haben den Ennui nicht ein für alle Mal im Rücken. Damit nähern sie sich eher dem Aufschwung an, der durch die pathetische Sprache zustande kommt; auch in ihnen wirkt, wenn auch indirekter, Reflexivität. Auch die zweite Seligpreisung spricht von einer Gegenbewegung zur Schwerkraft des Ennui. Celui dont les pensers, comme des alouettes, Vers les cieux le matin prennent un libre essor. Im Vergleich zur ersten ist sie abgeschwächt in mehrfacher Hinsicht. Der Aufschwung betrifft nur die Gedanken, nicht den ganzen Menschen, er ist auf eine Zeit fixiert, sein Ziel ist unbestimmter, und in der Verb189

form geht es mehr um einen Anlauf zur Aufwärtsbewegung als um ihr Gelingen. Die Lerchen des Vergleichs, die dem starken Flügel entsprechen, machen die Differenz anschaulich. D o d i auch der Auftrieb, den die Gedanken am Morgen beim Erwachen erhalten, entspringt einer unverfügbaren Spontaneität. In ihnen kommt etwas vom ungetrübten Kern des Ich zum Ausdruck. Dem Ennui ist dieser Aufschwung deshalb entzogen, weil ja audi er vom Erwachen des Bewußtseins abhängig ist. D o d i da mit den aufsteigenden Gedanken audi ihre Gegenkraft wach wird, kann diese Erhebung nicht von Dauer sein. Sie verhält sich zum Tod wie der A n f a n g zum Ende. Beide sind Randzustände des Bewußtseins. In den „Fleurs du M a l " kommen nur an dieser Stelle Lerchen vor. Ihre Erwähnung deutet einen historischen Bezug an. Die Lerche ist ein außerordentlich beliebtes Motiv in der romantischen Lyrik®5, ja gewissermaßen deren Symbol. Man denke an Byron, Eichendorff, Victor Hugo. In bezug auf Shelley sagt Bachelard: „Aussi l'alouette nous paraît le modèle même de ce romantisme de la j o i e . . ." 3e Die Lerche stellt in reiner Form den Aufschwung der Seele in der Freude dar, bei dem sich Gesang und Aufschwung wechselseitig bedingen. Ihr Bedeutungsfeld umfaßt bei Eichendorff Morgen, Aufschwung zum Himmel, Freude, Gesang. Sie ist dabei das Vorbild für den Dichter. Wie sie soll er seiner frommen Freude im Jubellied unmittelbar Ausdruck geben. — In Baudelaires „Elévation" sind aus dem Bedeutungsfeld nur Morgen, Himmel und Aufschwung Übriggeblieben, zudem ist durch die Pluralisierung die Pfeillinie zum Himmel geschwächt. V o n Gesang ist nicht mehr die Rede. Der Vergleich bezieht sich gerade auf die nodi unartikulierten Gedanken. A u f diesen Restbestand ist die Unmittelbarkeit reduziert, aus der sich romantische Lyrik und Selbstbewußtsein speisten. Der durch die Nennung der Lerchen angedeutete historische Reduktionsprozeß ist das Analogon zu demjenigen, den die Elévation des ersten Teils, die in diesem Sinn „lerchenhaft" ist, im Verlauf des Gedichts erfährt.

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V g l . J. G . Hamanns S a t z : „ D a s leirische der lyrischen Dichtkunst ist das Tireli der Lerche." A n K a n t am 27. Juli 1759. — Merkwürdigerweise erscheint die Lerche nicht unter den emblematisdien Vögeln. Dennoch ist ein literarischer Ursprung anzunehmen. Selbst Goethe hatte keine eigene A n schauung v o n der Lerche, wie aus dem ornithologischen Gespräch mit Eckermann vom 26. Sept. 1827 hervorgeht. Gaston Bachelard, L'air et les songes. Paris: Corti 19J0 2 . S. 103

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Der Gedankenstrich in der zweitletzten Zeile des Gedichts kündigt etwas Neues und Uberraschendes an. Tatsächlich ist die dritte Seligpreisung, was das Ausrufezeichen unterstreicht, die Pointe des dritten Teils und damit des ganzen Gedichts: — Qui plane sur la vie et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! Die Überraschung liegt einmal darin, daß das Schweben über dem Leben eine erreichte Höhe voraussetzt. Diese als Folge des tödlichen oder morgendlichen Aufschwungs zu betrachten, verbietet die Gleichordnung der drei von „heureux" abhängigen Relativsätze. Alle drei rechnen mit der Realität des vom Ennui geprägten Bewußtseins. Die ersten beiden weichen diesem nach vorwärts oder rückwärts aus, in den Tod oder in das Erwachen. Für die dritte scheint das nicht zu gelten. Doch liegt gerade in „planer sur la vie" der Bezug auf den Ennui. Zu ihm gehört, wenn wir den Mittelteil richtig interpretieren, ebenfalls eine vertikale Distanznahme vom Gegebenen. Auf dieser Isolierung beruht die Lähmung der Aktivität. Das Gedicht „Le goût du néant" sagt davon: Et le Temps m'engloutit minute par minute, Comme la neige immense un corps pris de roideur; J e contemple d'en haut le globe en sa rondeur Et je n'y cherche plus l'abri d'une cahute.37 Die Einbeziehung des Ennui kommt auch im Zusatz „sans effort" zum Ausdruck. Beim tödlichen und beim morgendlichen Aufschwung geht es um die Wiederherstellung des gelähmten Effort von außen. Hier ist die Lähmung beibehalten, sie ist die innere Entsprechung zur äußeren Distanz. Doch sie ist umfunktioniert zur universalen Empfänglichkeit. Das Neue dieser letzten beiden Zeilen liegt in der Umkehrung der Blickrichtung. Die Höhe über dem Leben dient nicht wie bisher im Gedicht der Befreiung vom Leben, sondern einer neuerlichen und veränderten Zuwendung zu ihm. In ihm tut sich das Jenseits auf, das bisher in der Höhe lokalisiert war. Dieser Wechsel der Perspektive war uns zum ersten Mal bei Petrarca begegnet, der vom Gipfel des Mont Ventoux aus sein Leben als ganzes übersdiaute. Er wurde in der deutschen Lyrik des 18. Jahrhunderts wichtig im Zusammenhang mit der poetischen Gestaltung der Theo37

Œuvres S. 72 191

dicee. Dem Blick von oben enthüllten sich die „Risse" der Sdiöpfung und in ihnen die Gedanken Gottes. Das wirkte noch nach in Goethes Vorliebe für den Blick vom Turm auf die Städte, die er durchlaufend zuerst unmittelbar kennengelernt hatte. Anthropologische Relevanz bekam der Niederblick aus der Höhe auf das Vollendete in Schillers „Das Ideal und das Leben". Ihm zeigte sich, in die schöne Gestalt verhüllt, das als Freiheit der Vernunft verstandene Selbst. Der Kontext von Baudelaires Gedicht macht deutlich, indem er den Blick von oben den Möglichkeiten des Aufschwungs beiordnet, daß auch hier der veränderten Perspektive sich im Irdischen etwas Überirdisches eröffnet, das im Selbst des Menschen seine Entsprechung hat. Durch das von oben betrachtete Leben wird dessen Spontaneität wie durch Tod und Erwachen geweckt. Das bedeutet eine paradoxe Weiterführung der angedeuteten Motivtradition. Es kommt nicht auf die Distanzierung von der Unmittelbarkeit an, die Distanzierung ergibt gerade neue Möglichkeiten der Unmittelbarkeit, und zwar solche, die dem dem Leben Verhafteten verschlossen sind. Sie heißen „die Sprache der Blumen und der stummen Dinge". Das ist ein Märchenmotiv, es schließt sich den Vorstellungen des kräftigen Flügels und den auffliegenden Gedanken an. Aber wie in diesen Fällen sich in der geheimnisvollen Verkleidung deutlich umschreibbare Tatbestände festmachen ließen, so beruht auch hier das Wunderbare auf Beobachtung und Erfahrung. Es war schon in einem früheren Zusammenhang davon die Rede, welche Bedeutung Baudelaire den Farben und Gerüchen zumaß. Sie vermögen bei ihm die „mémoire involontaire" anzuregen — „involontaire" entspricht „sans effort" — und im aufnehmenden Bewußtsein einen paradiesischen Zustand zu reproduzieren. Sie entrücken das Ich in seinen Ursprung. Wurde unter diesen Voraussetzungen in der ersten Zeile der dritten Strophe der pathetische Aufschwung des ersten Teils als „miasmes morbides", „giftige Dünste", bezeichnet, so bekommt nun umgekehrt der Duft die Qualität einer Sprache zugesprochen. Ihm gelingt die erlösende Suggestion. Die Antithese des Schlusses zum Anfangsteil ist auch in mehrfacher anderer Hinsidit deutlich. Dort die absolute Distanz zu Himmel und Erde, hier ein kommunizierendes Einverständnis. Dort eine Bewegtheit, die den Vergleich mit dem Schwimmer herbeiführt, hier eine Ruhelage „sans effort". Dort selbstbezogene ekstatische Gottgleichheit, hier die Offenheit für die Botschaft von Blumen und stummen Dingen. In diesem Punkt liegt der offensichtlichste Bezug. „Chose muette" antwortet auf „indicible volupté". In den ersten Strophen bestand die Paradoxie, daß 192

die unsagbare Lust durch die Sprache zustandegebracht und ausgesprochen wurde. Das band sie an den sprachlichen Verlauf. Diese sprachlose Lust drückte Freiheit und Isolierung des Geistes aus. In der Sprache der stummen Dinge ist die Paradoxie umgekehrt. Statt daß aus der Sprache Stummheit entsteht, ist aus der Stummheit Sprache geworden. Der subjektive Zustand ist nun der der Objektwelt. Diese bezieht den Geist ein. Damit befreit sie ihn aus seiner Eigenmächtigkeit, die ihn der Vergänglichkeit aussetzt, und läßt ihn an der zeitlosen „familiarité" mit Blumen und Dingen teilhaben. — „Muettes" reimt auf „alouettes". Für die Romantiker sang in der Lerche die Natur dem Dichtergeist vor in einer Sprache, die der seinigen glich. Er konnte singen wie der Vogel singt, und im Gesang schwang er sich auf. Das gilt noch für den ersten Gedichtteil. Hier nun sind Natur und Lautsprache auseinandergetreten. Erst wo der Geist die Sprache verläßt und ohne Worte versteht, gewinnt er mit der Natur Kontakt. Blumen und stumme Dinge haben die Lerchen abgelöst. Von ihnen heißt es nun „Qui chantent les transports de l'esprit et des sens"38. Die Freude ist übergegangen in die Randzone des Geistes, wo er sich mit den Sinnen berührt. Die Duftsprache ist den Blumen zugeordnet. Was unter der Sprache der stummen Dinge zu verstehen ist, hat Baudelaire ζ. B. in dem Prosagedicht „La «hambre double" beschrieben, wo die ganze Einrichtung spricht: „Les étoffes parlent une langue muette, comme les fleurs, comme les ciels, comme les soleils couchants."®9 Angesichts der „Fleurs du Mal", ihres Titels und ihrer Wirkung, liegt es nahe, bei den stummen audi noch speziell an tabuierte Dinge zu denken. Tabus bedeuten, daß einer Sache, indem sie verschwiegen wird, faszinierende und schockierende Kraft 40 zugeleitet, resp. die in ihr wirksame bewahrt wird. Solche Ungesagtheit resultiert nicht allein aus moralischer Konvention, sondern grundsätzlich aus der notwendigen Begrenztheit jeder geltenden sprachlichen Weltsicht. Jede hat Ränder, an denen ungesagte Dinge und Empfindungen warten. Die Gegenstände und Themen, die Baudelaires Gedichtband der Zeit skandalös erscheinen ließen, waren bislang stumme und verschwiegene Dinge. Sie drangen nun in das allgemeine Bewußtsein ein und erzeugten zunächst einen Schock. Dessen Kraft gleicht der des Sterbens und Erwachens. 38 39 40

„Correspondances", Œuvres S. i l Œuvres S. 243 Den Begriff des Choks verwendet Benjamin im Bezug auf Baudelaire. A . a . O . S. 4 3 4

193 13 Pestalozzi, Lyrisches Idi

Die Gemeinsamkeit der dritten mit den beiden vorausgehenden Seligpreisungen ist denn auch darin zu sehen, daß es ebenfalls um eine Randzone des Geistes geht, nun aber nicht wie bei Anfang und Ende um eine zeitliche, sondern um die räumliche nach unten. Das gibt dem Kon 1 takt mit ihr Dauer. Statt der ingressiven Verben wie in den ersten beiden „heureux"-Sätzen sind ihr durative angemessen. Blumen und Dinge sprechen immer, auch wenn sie nicht alle Zeit vernommen werden. Jene Enttäuschung, welche den pathetischen Aufschwung zu „miasmes morbides" machte, ist hier nicht zu befürchten. Worin die Botschaft der Blumen und der stummen Dinge besteht, geht aus Thematik und Kontext des ganzen Gedichts hervor. An sie ist jene Offenbarung übergegangen, welche die Elévation bewirkt, d. h. das Ich zu sich selbst bringt. Die Seligkeit, auf welche sich die Seligpreisungen beziehen, besteht in diesem Bei-sich-selbst-sein. Es ist, nimmt man alle drei zusammen, ein Zustand, in dem Bewußtsein und Unbewußtes, mit einer Formel Baudelaires, „volupté et connaissance" 41 , eins sind. Man hat oft angemerkt, daß mit der Schlußzeile des Gedichts die alte Überlieferung vom „Buch der Natur" wieder zu Wort kommt 42 . Sie war Baudelaire durch Lavater, Swedenborg und Fourier vermittelt worden, doch verhalfen ihm diese Mittelsmänner zur Klärung von Anschauungen, denen er von sich aus zuneigte. Schon das Gedicht „Incompatibilité" enthält Ansätze dazu, wenn es See und Wolke spirituell ausdeutet. Die mittelalterliche Ansicht Omnis mundi creatura quasi liber, et pictura nobis est et speculum48 setzte neben der Heiligen Schrift die Schöpfung als zweite Offenbarung an. Der Inhalt war für beide derselbe. Auch die Dinge der Natur verkündigten die christliche Heilslehre. Man mußte sie nur zu deuten wissen. Auch die Emblematik beruhte auf dieser Voraussetzung einer symbolischen Theologie, wobei sie jedoch die in der Natur geoffenbarten 41

Baudelaire spricht, im Zusammenhang mit W a g n e r , v o n der N o t w e n d i g k e i t

42

Z u diesem ganzen K o m p l e x vgl. das ausgezeichnete Budi von J e a n

Pom-

mier, L a mystique de Baudelaire. Paris 1 9 3 2 . Eine gute E r g ä n z u n g

dazu

„de transformer ma volupté en connaissance". S. 1 2 1 j

stellt die genannte A r b e i t v o n Vordtriede dar. 43

Alanus ab Insulis. Z i t . Emblemata X V I . V g l . auch die Parallele bei Angelus Silesius:

194

Inhalte auch auf die der Weltweisheit ausdehnte. Die Emblematik hielt sich im Optischen und Akustischen. Bei Baudelaire treten Gefühl, Gerudi und Geschmack als Medien hinzu. Das hängt damit zusammen, daß sich, wie wir gesehen haben, die Gotteserfahrung mehr und mehr emotionalisiert hatte und wie bei Vigny „Gott" zum Namen von intensiver Empfindung geworden war. OfFenbarungsgehalt und Offenbarungsträger haben sich gewandelt. Das führt zu einer Spannung zwischen Schrift-, und Schöpfungsoffenbarung. Letztere erhielt mehr und mehr den Vorrang. Baudelaires Gedicht „Elévation" setzt sie einander entgegen. Im Verlauf des Gedichts wird die von der Sprache getragene Erhebung von der durch die Sinne vermittelten abgelöst. Das führt zu einer Spannung im Gedicht selbst. Der dritte Teil kann die Erhebung nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen. Er formuliert in der Art einer sentenziösen Predigt eine Lehre, in der er den Geist auf die Offenbarungsquellen Tod, Erwachen, Blumen und stumme Dinge hinweist. Aber eben nur hinweist. Es fiel uns auf, daß bei den in den drei Teilen des Gedichts aufeinanderfolgenden Aussageweisen Wort und Vollzug immer weiter auseinandertraten. Die beschwörend vorwegnehmende Sprache wird im dritten Teil predigend. Die sprachlose Offenbarung entzieht sich notwendig dem Gedicht. J a , dieses steht im dritten Teil gerade dem im Wege, worauf es als erlösende Möglichkeit aufmerksam macht. Solange es spricht, schneidet es der jederzeit vernehmbaren Sprache der Blumen und stummen Dinge das Wort ab. Erst sein Verstummen gibt dieser die Chance, vernommen zu werden. Auf diesen Moment scheint das Gedicht nun aber gerade angelegt zu sein. Es verläuft von Anfang bis Schluß in einem kontinuierlichen decrescendo44. Der pathetische Hochton, mit dem es einsetzt, wird stufenweise herabgestimmt bis zum Verklingen im Schlußwort „muettes". Im Verlaufe dieses Prozesses wird die Elévation vom Wortpathos an die Stummheit überantwortet. Dadurch, daß sie die Aussage aufnimmt, ist sie nicht Leere, sondern eben stumme Sprache. Das Gedicht selbst wird so zu einer „chose muette". Es hat eine sprach-

Sidi nicht verstellen, ist nidit sündigen. W a s ist nidit sündigen? du darfst nicht lange fragen, Geh hin es werdens dir die stummen Blumen sagen. C h . W . I I I , 98 44

Benjamin stellt fest: „ V i e l e seiner [Baudelaires] Gedichte haben ihre unvergleichliche Stelle am A n f a n g , d a w o sie gleichsam neu sind. M a n hat oft darauf hingewiesen." A . a . O . S . 489. — A u d i Hess spricht davon, daß sich im Verlauf

des Gedichts in der F o r m der Aussagen eine abnehmende K r a f t

bekundet. A . a . O . S. 1 4 8

195 13»

lose Offenbarung hervorgebracht. Vom Inhalt ist es gleichsam zum Rand des Gefäßes geworden. Mit diesem Verfahren einer Translatio ist die Problematik behoben, die sich mit der Wiederaufnahme des emblematischen Verfahrens stellt. In den alten Emblemen waren vorliegende und bekannte Heils- und Weltlehren zur Anschauung gebracht worden. Die Deutung der Bilder stellte nur die Verbindung zwischen Bild und Lehre her. Wo wie bei Baudelaire die Sprache der Blumen und stummen Dinge der Wortsprache entgegengesetzt wird, erhebt sich sogleich die Frage nach Verständlichkeit und Verbindlichkeit der stummen Offenbarung. Indem das Gedicht eine zeitliche Abfolge konstruiert, durch die sidi die stumme Offenbarung aus der negierten Wortoffenbarung ergibt, wächst den Blumen und Dingen die Bedeutung zu, die vorher von der Sprache getragen wurde. So kommt die Verbindung von Empfindung und Bewußtsein zustande. Das Ich bringt die wissende Erwartung mit, in der Empfindung sein verlorenes Selbst wiederzufinden. Unter den Gestaltungen des Aufschwungmotivs, die wir in den Vorstudien betrachtet hatten, steht diejenige aus dem „Cherubinischen Wandersmann" Baudelaire am nächsten. Auch dort war durch die negierende Reflexion auf traditionelle Praedikate Gottes eine stumme Offenbarung in den Blick getreten. Doch bei Baudelaire geht paradoxerweise der Aufschwung nach unten, das Uberbewußtsein liegt am Rand der Sinnlichkeit45. Deren Stummheit birgt nun das Geheimnis. Dabei geht es gerade nicht um eine „leere Idealität", sondern um deren neue und dauerhaftere Füllung. Was als „ruinöses Christentum" 46 verstanden werden könnte, 45

48

Vgl. dazu Erich Auerbach, Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene. In: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern: Francie 1951 Hugo Friedrich, a.a.O. S. 33. Es wird deutlich geworden sein, daß die hier vorgetragene Deutung des Gedichts derjenigen Friedrichs im einzelnen und im ganzen widerspricht. Die Diskrepanzen im einzelnen rühren daher, daß Friedrich das Gedicht zugunsten seiner These verzeichnet. Dabei wird übersehen, daß das Gedicht gerade die Bedingungen der Möglichkeit einer Elev a d o reflektiert und in den drei Seligpreisungen, die Friedrich mit den meisten Übersetzern als eine nimmt, Medien eines Aufschwungs nennt. Bezeichnenderweise tut Friedrich die Schlußzeile kurz ab, obwohl deren Bedeutung durch das nachfolgende „Correspondances" besonders unterstrichen wird. So geht es in „Elévation" m. E. eher als um „ruinöses Christentum" um dessen Restaurierung. Friedrich sieht das Gedicht zu sehr von Mallarmé aus. Mallarmé selbst jedoch betrachtete Baudelaire durchaus als christlichen Dichter. Vgl. das Mallarmé-Kapitel dieser Arbeit.

196

ist der Ausgangspunkt für dessen neue Fundierung. Die auffallend häufige Dreizahl in „Elévation", vor allem die der Seligpreisungen, hat sakralen Charakter. Sie bereitet auf den Satz vor, mit dem das folgende Gedicht „Correspondances" beginnt: La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles.47 „Correspondances" errichtet auf dem Schlußsatz von „Elévation" ein neues Lehrgebäude. Es gibt eine Anleitung, jene Stille der Natur, in der das Gedidit „Incompatibilité" Gottes Offenbarung vermutete, zum Sprechen, ja zum Singen zu bringen. Damit erfüllt audi Baudelaires Gedicht jene Gattungsgesetzlidikeit einer Elévation, die von Erhebendem spricht und zugleich Leser und Hörer selbst erhebt. Doch Vignys romantisches Programm, die folgewillige Seele auf dem Erdboden zu ergreifen und in der Höhe Gott zu Füßen zu legen, ist auf den Kopf gestellt. Der pathetische Höhenflug des Anfangs ist das Irdische. Der Leser, der sich davon ergreifen läßt, wird durch das Gedidit der Stille überantwortet, die es hinterläßt. In ihr soll er im verhallenden Echo des verworfenen Anfangs und im Ausblick auf die Möglichkeiten unmittelbarer sprachferner Erfahrung seiner selbst inne werden.

Z u m Verständnis von „Correspondances" vgl. die differenzierte Interpretation v o n Marcel Raymond, D e Baudelaire au Surréalisme. Paris: Corti 1952. S. 23 f. 197

Nietzsche „Aus hohen Bergen" Friedrich N i e t z s c h e , Gesammelte Werke. München: Musarion 1 9 2 2 f f . Musarionausgabe [zit. M A ] Friedrich N i e t z s c h e , Werke, hrsg. von K a r l Schlechta. München: Hanser I9J4 [zit. Schiedita I, I I , I I I ] N i e t z s c h e , Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter 1967 ff. [zit. Werke] Friedrich N i e t z s c h e , Gesammelte Briefe, hrsg. von Elisabeth FörsterNietzsdie. Leipzig: Insel. B d I I I 1905 2 [zit. Briefe] Nietzsches Gedicht „ A u s hohen Bergen" wurde

1 8 8 6 als

„Nadi-

gesang" zu „Jenseits von G u t und Böse" publiziert 1 . W i r halten uns zunächst und hauptsächlich an die frühere Fassung, wie sie in einem Brief Nietzsches an Heinrich von Stein von Ende November 1 8 8 4 enthalten ist. Sie trägt den Titel „Einsiedlers Sehnsucht". Die Rechtfertigung, so vorzugehen, muß sich aus diesem Vorgehen selber ergeben. 1

198

Schlechta II, S. 7 $7. — M A X V , S. 263—26$ Das Gedicht hat bei der Generation nach Nietzsche großen Eindruck gemacht. Ich stieß auf die folgenden Echowirkungen: Schnitzler an Hofmannsthal am 27. Juli 1 8 9 1 : „Gelesen wird mancherlei . . . Besonders Nietzsche — zuletzt hat mich sein Schlußcapitel und das Schlußgedicht zu Jenseits von Gut und Böse ergriffen. — Erinnern Sie sich? Nietzsche Sentimentalität! — Weinender Marmor! Stellen, die sogar auf Weiber wirken, ohne daß man den Stellen oder den Weibern bös werden müßte." Briefwechsel, hrsg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt: Fischer 1964. S. 9. — Rilkes „Stundenbuch" enthält einen deutlichen Bezug in dem Gedicht „Wer seines Lebens viele Widersinne . . ( 1 8 9 9 ) Rilke, Sämtliche Werke hrsg. von Ernst Zinn. Insel-Verlag. Bd I, S. 263, Bd I I I , S. 318. — Der Hinweis darauf und ein Kommentar dazu bei Erich Heller, Rilke und Nietzsche. In: E. H., Nietzsche, Frankfurt: Suhrkamp 1964 (edition suhrkamp 67). S. 77. — Gundolf an George am 23. Febr. 1 9 1 1 : „Neulich las ich wieder einmal den Nietzsche Nachgesang aus hohen Bergen — ,Ο Lebens Mittag' das ist doch eines der größten Gedichte, die je geschaffen wurden — . . . insbesondre Nietzsches eigenes Schicksal steht so überwältigend groß darin, daß einem alles biographische und psychologische Geschwätz über ihn ganz unerträglich wird. Was

Einsiedlers Sehnsucht Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit! Oh Sommer-Garten! Unruhig Glück im Stehn und Spahn und Warten! Der Freunde harr* ich, Tag und Nacht bereit: Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! S'ist Zeit! S'ist Zeit! Im Höchsten ward für euch mein Tisdi gedeckt: Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen? M e i n Reich — hier oben hab ich's mir entdeckt — Und all dies Mein — ward's nicht für eudi entdeckt? Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau Mit jungen Rosen, Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen Sich Wind und Wetter höher heut' ins Blau Nach euch zu spähn aus fernster Vogelschau Das seid ihr Freunde! — Weh, doch i c h bin's nicht, Zu dem ihr wolltet? Ihr zögert, staunt — adi, daß ihr lieber grolltet! Idi bin's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesidit? Und w a s ich bin, — euch Freunden bin ich's — nicht? Ein Andrer ward ich und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen? Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen, Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? — Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht, Ich lernte wohnen, Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, man audi gegen sein Werk, seinen Willen und sein Wissen, von der Kreissdiließenden Liebe aus einwenden kann, er war einfach eine große Seele und hatte ein erhabenes inneres Schicksal: wirklich ein Recht zu seinen höchsten Worten." Briefwechsel hrsg. von Robert Böhringer mit Georg Peter Landmann. München und Düsseldorf: Küpper/Bondi 1962. S. 224. — Vgl. auch Walter Benjamins Aphorismus „Kurze Schatten" in Schriften Bd II, der unten zitiert wird. — ö d ö n von Horvath legte die Zeile „ N u r wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt", dem Alfred in „Geschichten aus dem Wienerwald" in den Mund. Horvath, Stücke. Hamburg: Rowohlt 1961

199

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet, Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht. Ein schlimmer J ä g e r ward ich: seht wie steil Gespannt mein Bogen! Der Stärkste war's, der solchen Zug gezogen — Doch wehe nun! Ein Kind kann jetzt den Pfeil Drauf legen: fort von hier! Zu eurem Heil! — Ihr a l t e n Freunde! Seht nun blickt ihr bleidi, Voll Lieb' und Grausen! Nein, geht! Zürnt nicht! Hier könntet ihr nidit hausen! Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich — Da muß man Jäger sein und gemsengleich. Ihr wendet euch? Oh Herz, du trugst genung! Stark blieb dein Hoffen! Halt n e u e n Freunden deine Thüre offen, Die alten lass! Lass die Erinnerung! Warst einst du jung, jetzt — bist du besser jung! Nicht Freunde mehr — das sind, wie nenn' ich's doch? Nur Freund-Gespenster! Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, Das sieht midi an und spricht „wir warens doch"? — Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch! Und was uns knüpfte, junger Wünsche Band, — Wer liest die Zeichen, Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen? Dem Pergament verglich ich's, das die Hand Zu fassen s c h e u t — ihm gleich verbräunt, verbrannt! — Oh Jugend-Sehnen, das sidi mißverstand! Die idi ersehnte, Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte — Daß a l t sie wurden, hat sie weggebannt: Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt! Oh Lebens Mittag! Zweite Jugend-Zeit! Oh Sommer-Garten! Unruhig Glück im Stehn und Spahn und Warten! Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit: — Der n e u e n Freunde! Kommt! S'ist Zeit! S'ist Zeit! 2 2

Briefe III, S. 243—24J

200

I.

Der engültige Titel „Aus hohen Bergen" bezeichnet die Tradition, in die das Gedicht seiner Topographie nach gehört. Sie verlief, innerhalb unserer Studien, vom „Purgatorio" zu „Incompatibilité", „Excelsior", „Himmelsnähe". Nietzsches Gedicht ist von dieser Tradition umso stärker bestimmt, als es nicht eine individuelle Berglandschaft nachgestaltet, sondern die Gebirgsposition nur knapp durch Gletscher, Bach, Wind und Wolken andeutet. Daß die Anschaulichkeit fehlt, macht die spirituelle Bedeutung umso stärker. Der deutlichste Hinweis darauf ist die Figur des Einsiedlers. Die spirituelle Bedeutung des Gebirges speist sich aus ehrwürdigsten Quellen. Auf hohen Bergen wohnten die olympisdien Götter, hier offenbarte sich oftmals der Gott des Alten Testaments, man denke vor allem an die Psalmen, in der Bergpredigt wurden die Gebote des Neuen Bundes verkündet. Von Alters her war die Bergeshöhe eine Ofienbarungsstätte für das Göttliche in der Zeit. Die Nähe der Bergeshöhe zum Himmel wird jedoch im Gedicht nur kurz angedeutet mit den Versen Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen? Es ist der Himmel nach Kopernikus und Bruno. Der Berg ragt in den leergewordenen kosmischen Raum hinein. So ist es nicht verwunderlich, daß der Einsiedler einer ist ohne Gott. Er sdieint eine verlorene Stellung zu halten. Nietzsches Entwürfe zu diesem Gedicht lassen jedoch deutlich erkennen, daß das Gebirge noch immer metaphysisch virulent ist. Der früheste lautet: Oh gute Zeit, die jetzt mit blüht Oh feierliche große Jahreszeit — Vom Nord zum Süd Die Götter-Gäste — ewig fremd und unbekannt, Die Namenlosen Ihr göttlich-königlichen Gäste Von allen Höhen strömt mir Verkündigung Gleich Wohlgerüchen 201

Gleich ahnungsvollen Winden läuft Vom Nord zum Süd Mein Herz, dem seine Festzeit blüht Einsiedler soll nicht länger einsam sein!3 Und auch wie die erste Strophe schon beinahe feststand, erwog Nietzsche noch als vorletzte Zeile: Die Götter-Gäste sind [nicht weit] sie weit noch? weit?4 Damit wird die Position des Einsiedlers erst ganz verständlich. Eremiten der christlichen Zeit hatten mit ihrem Rückzug aus der Welt auf die in Christus ergangene Offenbarung Gottes geantwortet. Der Einsiedler des Gedichts sehnt im Gebirge eine neuerliche Offenbarung herbei. Er deutet die Unruhe, die ihn ergriffen hat, auf die unmittelbar bevorstehende Parusie neuer Götter. Diese brächten seinem Einsiedlertum die Rechtfertigung. In götterloser Zeit hätte er erfolgreich die metaphysische Bereitschaft aufrechterhalten. Die erwarteten Götter heißen „ewig fremd und unbekannt". Diese Bezeichnung unterscheidet sie sowohl von den antiken Göttern als auch von dem biblischen Gott, „des Namen über alle Namen ist". Wiederum aber werden sie aus dem Süden erwartet. Sie würden den für tot erklärten christlichen Gott ablösen entsprechend der Nachlaßnotiz: Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung: Er zieht seine moralische Haut aus und ihr sollt ihn bald Wiedersehen, jenseits von Gut und Böse5. Aus den beiden fertiggestellten Fassungen des Gedichts ist die theologische Problematik verschwunden. Von Gott und Göttern ist darin nicht mehr die Rede. Dennoch ist aufgrund der Motive „Berg" und ® Die Leitung der „Nationalen Forsdiungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar" gestattete mir freundlicherweise, in die Handschriften des Nietzsche-Nachlasses Einblick zu nehmen. Bei der Entzifferung war mir Herr Dr. Mazzino Montinari, der Mitherausgeber der neuen kritischen Nietzsche-Ausgabe, behilflich, dem idi auch sonst für vielerlei Anregungen und Hinweise zu danken habe. — Die Entwürfe zu „Einsiedlers Sehnsucht" stehen in den Notizheften Ζ II j , Ζ I I 6, Ζ I I 7. Das Zitat in Ζ II 5, S. 63 4

5

Ζ I I j , S. 65. Dieser Entwurf trägt bereits den Titel „Einsiedlers [Gastfreunde] Sehnsucht". M A X I V , S. 80. Diese Notiz steht als Motto über dem ausgezeichneten Buch von Eugen Bieser, Gott ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins. München: Kösel 1962

202

„Einsiedler" zu vermuten, daß diese Problematik in anderer Form erhalten geblieben ist. Zunächst muß als äußere Bestätigung genügen, daß das Gedicht sdiließlidi, ganz im Sinne der obigen Notiz, zum „Nadigesang" von „Jenseits von Gut und Böse» wurde. Der Einsiedler des fertigen Gedichtes ist selbstbewußter als der der Entwürfe. Er wartet nicht auf eine neue Offenbarung, sondern hat die Höhenposition für sich selbst in Besitz genommen. Das Gebirge madit in Gletscher, Bach und Wolken seine Sehnsucht offenbar, er ist im mehrfachen Sinn des Wortes der Herr der Berge. Stolz nennt er sidi deren Entdecker und bezeichnet das Gebirge mit einem biblischen Terminus als „Mein Reich". Auch sein Gastmahl für die Freunde in der Höhe hat biblische Vorbilder: „Ihr aber seid's, die ihr beharret habet bei mir in meinen Anfechtungen. Und ich will euch das Reich bescheiden, wie mir mein Vater beschieden hat, daß ihr essen und trinken sollt an meinem Tische in meinem Reidi und sitzen auf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels." (Luk. 22, 28—30) Der feierliche Anruf, mit dem das Gedicht einsetzt, bestimmt Ort und Zeit in bezug auf den Einsiedler. Das Gebirge ist sein Garten, der Zeitpunkt, banal gesagt, sein Geburtstag. Dabei werden Ort und Zeit nicht geographisch-historisch benannt, sondern an der solaren Zeit gemessen. Mittag, Sommer, Lebensmitte bezeichnen dreimal einen Zenit. Die Spannung, die den Einsiedler erfüllt, ist die eines Wendepunktes, an dem sich Vergangenes und Zukünftiges berühren. Das macht das Geburtstagsglück unruhig. Die erste Strophe verläuft so, daß sich diese Unruhe schrittweise artikuliert und damit konkretisiert. Am Anfang stehen emphatische Ausrufe. In der dritten Zeile lösen nominale Verben, wiederum in feierlicher Dreizahl, die Substantive ab. „Unruhig Glück im Stehn und Spahn und Warten", Erwartung, Wartender und Erwartetes sind noch ungeschieden. Erst in der Zeile darauf erscheint die Ich-Form. Als Objekte der Erwartung werden die Freunde eingesetzt. So kommt es zu einem grammatisch vollständigen Satz. In der Schlußzeile hat der Ausruf, der an den Anfang anknüpft, einen festen Inhalt. — Die folgenden zwei Strophen führen diese Entfaltung weiter. Mit der dritten ist die Exposition des Gedichtes abgeschlossen. Von der tautologischen Gestalt, die das Gedicht dadurch nicht nur am Anfang bekommt, wird später ausführlich zu sprechen sein. Für die Methode ergibt sich aus dieser Beobachtung, daß hier anders als bei Meyer und Baudelaire nicht Wort für Wort interpretiert werden kann. 203

Es muß zunächst darum gehen, den Gedankengang des Gedichtes schrittweise zu klären. Daß sich die Sehnsucht des Einsiedlers auf die alten Freunde fixiert, deutet darauf, wie er sich und seine Höhenposition versteht. Obwohl er zunächst den Anschein erwedkt, scheint er doch nicht als absoluter Einzelner die Stelle Gottes einnehmen zu wollen. Er sieht sich als Vorläufer einer Gemeinschaft. Für diese hat er ein festliches Freundschaftsmahl vorbereitet. In den Vorstufen taucht für das Reich der Höhe einmal der Ausdruck „Reich der Freude" auf. „Festzeit" weist in derselben Richtung. Die Ausrufe am Anfang nehmen diese gemeinsame Freude vorweg. Das geplante Mahl erinnert damit an dasjenige, das Schillers „Ode an der Freude" voraussetzt, wie es die Freunde des Tübinger Stifts auf dem Ettersberg in Hölderlins Jugend enthusiastisch begingen; nur ist die Gemeinschaft nicht der Repräsentant des Göttlichen, sondern selber göttlich. Es ist bedeutsam, daß der Freundschaftsbund nicht auf ein Ideal oder einen Zweck verpflichtet ist. Freundschaft an sich ist das Ideal. Das motiviert ihre Lokalisierung auf hohen Bergen. Die Gemeinschaft, die die Stelle Gottes eingenommen hat, ist der Bezugspunkt für das Selbstverständnis des Einzelnen. Das Gedicht antwortet auf eine anthropologische Fragestellung. Dieses Verständnis seiner selbst madit das Eintreffen der Freunde zu einer Notwendigkeit für den Einsiedler. Von der Gemeinschaft her gesehen, ist seine Einsamkeit ein, wenn auch vorläufiger, Mangelzustand. Schillers Ode verbannte deshalb den Einsamen aus dem Bund der Freude. Durdi die Freunde käme ein Konsensus zustande, für das, was der Einsiedler zunächst ganz allein verbürgen muß. Seine Sendung bekäme Objektivität. All das erklärt die Spannung, in der er nach den Freunden Ausschau hält. Mit der vierten Strophe erfüllt sich die Erwartung. Die Freunde kommen. Doch aus der Freude des Wiedersehens wird alsbald Enttäuschung. Diese wird in den folgenden fünf Strophen zum Thema. Sie bewirkt eine völlige Umorientierung des Verständnisses, das sich der Einsiedler von sich und seiner Position zurechtgelegt hatte. Ausgelöst wird die Entwicklung dadurch, daß der Anagnorismos ausbleibt. Die Freunde erkennen im Einsiedler nicht mehr den, der er früher war. Sie rechnen ihn nicht mehr zu ihrer Gruppe. Das tangiert das Bild seiner Identität. Er hatte sich bisher als Freund der Freunde verstanden, d. h. so, wie er sich vorstellte, daß er ihnen erscheinen würde. 204

Noch ihr Groll hätte dieses Verhältnis anerkannt. Ihre Reaktion zeigt ihm jedoch, daß er seine auf sie bezogene, auf konstanten physiognomischen Merkmalen beruhende Identität eingebüßt hat. Der Spiegel, den sie für ihn dargestellt hatten, ist plötzlich blind geworden. N u n muß er sich selber abtasten, um in Erfahrung zu bringen, wer er ist. Das geschieht in der Kette von Fragen nach sich selbst, die der Schock in ihm auslöst. Den Kernpunkt formulieren die Sätze: Ein Andrer ward ich und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen? Das ist von raffinierter Doppeldeutigkeit. Einerseits fassen diese Zeilen die offenbar gewordene Veränderung als Selbstentfremdung, ja als Verlust der Identität. Doch diese Identität beruhte auf der Relation zu den Freunden. Sie hatte die Struktur der Eitelkeit. Der Ausdruck „mir selbst entsprungen" gibt dem Verlust dieser Identität eine positive Bedeutung. Der Einsiedler verdankt nach dem Bruch mit den Freunden, so schließt er, seinen Ursprung nur noch sich selbst. Er beginnt zu ahnen, daß er damit autonom geworden ist. Wie aber kann ihm aus seiner Unmittelbarkeit ein Bewußtsein der Identität kommen? Der Einsiedler sucht auf dem Umweg über seine Geschichte zu begreifen, wer er ist. Er faßt sie zunächst in das Gleichnis des Ringers. Dessen Paradoxie klärt sich, wenn man in die Strophen fünf und sechs Longfellows „Excelsior!" interpoliert, das sich als Vorgeschichte des Einsiedlers auffassen läßt. Der Ringkampf wäre demnach einer zwischen der eigenen Kraft und der Neigung, sich von Konventionen und Traditionen her zu verstehen. „Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet." Preisgegeben wurde auch die theozentrische Orientierung, die Bestimmung des Menschen aus dem Verhältnis z u Gott. Mit diesem zentralen Dogma wurden auch die daraus begründeten übrigen Werte fallengelassen. Die Uberwindung dieser Anschauungen führte den Einsiedler aus der Gemeinschaft heraus dorthin, „ w o niemand wohnt". Mit „Excelsior!" stimmt auch überein, daß diese Loslösung als Wirkung eines oft wiederholten Aktes gesehen wird. Anders jedoch als der Aufstieg des Longfellowschen Jünglings ist der Aufstieg des Einsiedlers nicht in einem vorgegebenen Programm begründet. Sonst brauchte er sich nicht mühsam zu vergewissern. Er wurde von einem Kraftzentrum gesteuert, das sich von innen gegen alle von außen kommenden Lebensformen durchsetzte. Der Einsiedler war in diesem Ringkampf Sieger und Besiegter in einer Person. A n dieser Stelle der Selbstvergewisserung des Einsiedlers verliert nun 20 j

auch die Gebirgsregion ihr wirtliches Aussehen. Sie ist nun statt ein einladender Garten eine „öde Eisbärzone", die auf niemanden wartet. Nur der kann sich darin aufhalten, der sich aus allen Bindungen an eine Umwelt gelöst hat. Er gleicht einem Toten. Der Hinweis auf den £isbär bewahrt aber davor, den Aspekt des Todes absolut zu nehmen. Von den Niederungen aus erscheint die Gletscherwelt als gespenstisches Totenreidi. In dem, der sich in ihr befindet, wachsen durch die Auseinandersetzung mit ihr vitale Kräfte. Schnee und Eis gehören bei Nietzsche wohl auch in den Umkreis der Selbstbezogenheit entsprechend dem „cœur glacial", das die pietistische Umgebung dem jungen Meyer zuschrieb. Aber aus der Konzentration auf sich selbst ergibt sich nicht jene Totenstarre, an der nodi der Excelsior-Jüngling umkommt, wie sie audi Baudelaires kalte Kostbarkeiten ausstrahlen. Eis macht hier, indem es reduziert, stark und lebendig". Diese Paradoxie von Kraft und Schwäche faßt das zweite Gleichnis zusammen. Es läßt sich aus dem Gedichttext selbst nur zum Teil deuten. Ganz verständlich wird es erst aus dem Briefwechsel zwischen Nietzsche und Stein7. Darnach identifiziert sich der Einsiedler hier mit dem antiken Helden Philoktet. Er lebte, nadidem ihn die nach Troja fahrenden Griechen ausgesetzt hatten, als kranker Einsiedler auf der Insel Lemnos. Doch er hatte schicksalhafte Macht in Händen. Er verwahrte den Bogen des Herakles, ohne den nach dem Orakel Troja nidit erobert werden konnte. In Philoktet waren eigene Schwäche und eine Kraft, über die er nicht verfügen konnte, also Menschliches und Göttliches, vereint. Das Göttliche erscheint in der Verbindung mit dem Bogen als Spannung, Potentialität, die sich bei der geringsten Berührung auf unberechenbare Weise entladen kann. Mit Philoktet hat der Einsiedler ein Bild für sich selbst gefunden, das ihm und seinem bedeutenden Standort angemessen ist. Der Verzicht hat in ihm eine Kraft aufkommen lassen, die ihn selbst übersteigt. Einmal dadurch, daß sie seiner Kontrolle entzogen ist, zum andern aber durch 8

7

Diese „Umwertung" der Motive Kälte, Eis, Schnee ist für die Verschiebung des Verhältnisses von Ich und Welt außerordentlich bezeichnend. Die genannten Motive bekommen dadurch positive Bedeutung, daß sie das Ich gegen die Welt auf sich selbst verweisen. Der Ansatz zur Umwertung ist schon in Goethes Gedicht „Wanderers Sturmlied" zu erkennen. In den Texten Wilhelm Müllers zu Schuberts „Winterreise" sind beide Wertungen nebeneinander vorhanden. Briefe III

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ihr welthistorisches Ausmaß. „Der Stärkste", von dem er so geheimnisvoll spricht, der Herakles der Sage, ist der in der Höhe in seinen Willen eingegangene Gott, den er als Spannung und Unruhe in sich spürt. In dieser Strophe scheint der Einsiedler dem seiner Position angemessenen Verständnis von sich am nächsten gekommen zu sein. Er hat seine Paradoxie erkannt. Doch nodi als bedrohliche Macht bleibt er auf die Freunde bezogen. Auch Feindschaft ist ein Relationsbegriff. Insofern ist hier zwischen Freund und Feind kein Unterschied. So leitet die zentrale Jäger-Strophe zwar zur Abwehr der Freunde über, aber sie führt nicht aus der Struktur heraus, die am Anfang ins Spiel gekommen ist. Nach dem Abgang der Freunde wird das Herz zum Gesprächspartner des zurückbleibenden Einsiedlers. Doch die Auseinandersetzung mit den Freunden ist damit noch nicht zu Ende. Das Herz ist hier nicht, wie man erwarten möchte, Ursprung der Spontaneität und damit Sitz einer unmittelbaren Selbstgewißheit. Es hält im Gegenteil viel zäher als das Bewußtsein an den Freunden fest. In der Hinwendung zu ihm werden die Voraussetzungen geprüft, die zur Bindung an die alten Freunde führten. Es ergibt sich eine Reflexion auf die Erinnerung. Die Erinnerung hält, was einmal war, unverändert fest. Sie entzieht es der Zeit, die es der Vernichtung überliefern würde, und mumifiziert es. Diese Aufbewahrung wird besonders dem Wertvollen zuteil, dem auf diese Weise Einfluß auf das weiterschreitende Leben eingeräumt wird. Das Vergangene gelangt so dazu, das Gegenwärtige und Zukünftige zu bestimmen. Medium dieses Einflusses ist eben das Herz. Es reagiert jenseits des Bewußtseins mit Vorliebe aufgrund von Erinnerungen, die sich iri ihm abgelagert haben. Das Fühlen ist konservativer als das Denken. Wir haben am Anfang gesehen, daß der Gedankengang des Gedichts aus der Artikulation einer noch unfixierten Sehnsucht hervorging. Das erklärt, weshalb der Einsiedler seinen positionsbedingten Zustand mißverstand. Als Stimmung stand die Spannung seinem Herzen am nächsten. Dieses lenkte sie auf die alten Freunde, deren Erinnerung es pietätvoll und sentimental aufbewahrte. Das Kommende dachte es als Wiederkehr des Gewesenen. Die Differenzierung und inhaltliche Festlegung des unbestimmten Stimmungszustandes führte zur Konfrontation mit der Realität und damit zur Reflexion, die nun die voreilige Festlegung korrigiert. Aus der Abwehr der falschen Deutung der anfänglichen Spannung kann sich nun eine neue und reflektierte Deutung entwickeln. Auch dieses neue Selbstverständnis des Einsiedlers verzichtet nicht auf den Bezug zu einer Gemeinschaft. Doch nun versteht er sich nicht als 207

Vollstrecker des Willens alter Freunde, sondern als Begründer, ja Stifter eines künftigen neuen Freundschaftsbundes. Dieser bestünde aus seinesgleichen. Sein Programm formuliert der Satz Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Er geht auf die Paradoxie aus, daß derjenige bleibt, der sidi ständig verwandelt. Das heißt zunächst, daß sich der Einsiedler selbst als in ständiger Verwandlung begriffen erkannt hat. Wer sich ebenso ständig wandelt, ist ihm gleich. Damit setzt er sich als Maß für die Freunde, von denen her er seine Lage begreift. Sie können, als seine Vervielfachungen, ihm sein Selbst treu zurückwerfen. — Der Satz besagt ferner, daß eben der Vorgang der Verwandlung das Bleibende an dem Einsiedler ausmacht. Darauf beruht paradoxerweise seine Identität. Genaugenommen liegt das Identische in der Kraft, die die ständige Metamorphose bewirkt. Die Überwindung des Bezugs auf die Freunde und der Entwurf einer neuen Freundschaft ist selbst eine solche Metamorphose. Sie ist Erledigung und Neugründung in einem, ewige Jugend. Das Mißverständnis des Einsiedlers bestand darin, daß er diese ewige Jugend, eine Qualität, die mit dem göttergleichen Standort unmittelbar zusammenhängt, mit seiner biographischen Jugend verwediselte. Hinterher erscheint das Mißverständnis als List, mit deren Hilfe der genius loci als genius des Einsiedlers in ihm ein angemesseneres Bewußtsein erzeugte. Das Ergebnis dieses Prozesses geht in die am Ende wiederholte Anfangsstrophe ein. Die unbestimmte „feierliche Zeit" ist nun zur „zweiten Jugendzeit" geworden. Die alten überwundenen Freunde sind durch neue Freunde ersetzt. So bedeutsam jedoch diese Umwandlung von „alt" in „neu" ist, man darf dabei nicht übersehen, daß auch das neue Verständnis die Struktur des alten beibehält. Der Einsiedler versteht sich noch immer nicht als einmalige und einzigartige Person. Er ist noch immer darauf gerichtet, daß seine Einmaligkeit einmal in einen größeren Verband aufgehen wird. Sein Individualismus ist vorweggenommene Allgemeinheit. Sein explizites Bewußtsein widerspricht somit jener Auffassung seiner selbst, zu der er im mythischen Vergleich mit Philoktet gekommen ist. Vergleicht man das Ergebnis mit dem ersten Entwurf, so erkennt man, daß die neuen Freunde an die Stelle der erwarteten Götter getreten sind. Aus der Hoffnung auf einen neuen Aeon ist damit eine auf einen Fortschritt geworden, der restaurative Züge enthält. Es macht den Anschein, als sei das Gedicht platter geworden, als es ursprünglich konzipiert war. 208

II. Bisher wurde nach Möglichkeit davon abgesehen, daß es sich bei „Einsiedlers Sehnsucht" um ein Gedicht Nietzsches handelt. Zwar stand die Kenntnis von Nietzsches Gedankenwelt im Hintergrund, doch wurde der Gedankengang primär aufgrund des Textes aufgehellt. Nun soll versudit werden, die aufgezeigte Grundproblematik von Nietzsdies philosophischen Erörterungen her zu betrachten. Das soll im Sinne eines Kommentars geschehen, der durch die Beiziehung paralleler Äußerungen verdeutlicht und vertieft, was aus dem Gedicht gewonnen wurde. Es ging darin um das Selbstverständnis und die Identität des Einsiedlers, der die Position Gottes eingenommen hatte. Damit gehört es in den Umkreis von Gedanken, die für Nietzsche von „Menschliches-Allzumenschliches" an eine wichtig Rolle spielen. Parallel mit der Destruktion der christlichen Gottesvorstellung verläuft als deren anthropologische Konsequenz eine Polemik gegen das traditionelle Ich-Verständnis. Wie beides zusammengehört, wie darüber hinaus überhaupt Ich-Bewußtsein zustande kommt, ist das Thema des folgenden Fragments aus der Zeit der „Fröhlichen Wissenschaft": Die l e t z t e n O r g a n i s m e n , deren Bildung wir sehen (Völker, Staaten, Gesellschaften), müssen zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-Bewußtsein ist das Letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungiert, f a s t etwas Überflüssiges: das Bewußtsein der E i n h e i t , — jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen, einverleibten, arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Haupttätigkeit. Das Bewußtsein e r s c h e i n t erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will als Bewußtsein zunächst dieses höheren G a n z e n des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in bezug auf das Wesen, d e m w i r F u n k t i o n s e i n könnten — es ist das Mittel, uns einzuverleiben. Solange es sich um Selbsterhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnötig. — So wohl schon im niedersten Organismus. Das Fremde, Größere, Stärkere wird als solches zuerst v o r g e s t e l l t . — Unsere Urteile über das „Ich" hinken nach, und werden nach Anleitung der Außer-uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. W i r b e d e u t e n u n s d a s , a l s was wir einem höheren Organismus gelten — allg. Gesetz. Die Empfindungen und die Affekte des Organisdien sind 209 14 Pestalozzi, Lyrisches Idi

alle längst entwickelt, bevor das Einheitsgefühl des Bewußtseins entsteht.8 Der Zusammenhang zwischen Gott und Ich klingt gegen Ende dieses Aphorismus an. Er wird aufgrund seiner Struktur in einen größeren Rahmen gestellt. Der Mensch gewinnt Bewußtsein von sich selbst als einem Ich grundsätzlich aus dem Bezug zu einer ihm übergeordneten Macht, und zwar so, daß er sich deren Bild von ihm zu eigen macht. Er betrachtet sich von außen, mit fremden Augen, und sucht in seinem Verhalten diesem Bild zu entsprechen. Auf das Verhältnis zu Gott angewandt heißt das: indem ich mich als Geschöpf, ja als Kind Gottes weiß, fasse ich mich selbst so, wie ich denke, daß Gott mich sieht. Darin eben besteht mein Ich-Bewußtsein. Nietzsche denkt hier möglicherweise daran, daß „Bewußtsein" das lateinische „con-scientia" wiedergibt, das diesen übergreifenden Bezug andeutet. Nach seiner Argumentation kann der Staat oder sonst eine übergeordnete Macht zum Träger dieser identifizierenden Funktion werden. Diese scheinbar beschreibende Ableitung richtet sich gegen das cartesisch-idealistische Ich, das Unbedingtheit und Autonomie für sich beansprucht. Es soll seiner logischen und entwicklungsmäßigen Bedingtheit, damit seiner inneren Widersprüchlichkeit überführt werden, um seinen Herrschaftsanspruch zu brechen. Mit der Lehre vom Tod Gottes hängt dieser Aphorismus insofern zusammen, als er die übergeordneten Mächte allgemein einer verfälschenden Wirkung bezichtigt und Wege sucht, ohne sie ein Ich-Bewußtsein zu begründen. Die Notwendigkeit, überhaupt ein einheitliches Bewußtsein von sich selbst zu haben, wird daraus abgeleitet, daß der Mensch von Natur aus als Organismus ein einheitliches Ganzes ist. Nietzsche spricht von der „wirklich eingeborenen, einverleibten, arbeitenden Einheit aller Funktionen", die unbewußt ist. Es geht ihm um die Auflösung des Widerspruchs, daß diese selbsttätige Einheit, die der Mensch darstellt, in dem Moment aufhört, selbständig zu sein, wo sie sich dessen bewußt wird, daß sie eine ist. E r tendiert darauf, ein dem unbewußten Organismus adaequates Ich-Bewußtsein aus diesem selbst zu entwickeln, das die Selbständigkeit zu erhalten und zu steigern vermöchte. Damit sucht er im Sinne der Natur zu denken. Doch der zitierte Aphorismus beschreibt gewissermaßen audi ein Gesetz der menschlichen Natur. So hätte die Natur selbst das falsche 8

MA XI, S. 263/4

aio

Ich-Bewußtsein hervorgebracht oder doch gefördert. Andere Aphorismen Nietzsches bekräftigen diese Auffassung. Damit hätte Nietzsche das Wagnis auf sich genommen, die menschliche Natur selbst zu korrigieren. Der Nachweis der inneren Widersprüchlidikeit ist der eine Weg, auf dem Nietzsche versuchte, den traditionellen Ich-Begriff auszuschalten. Der andere, positive, bestand in der Proklamation eines Gegen-Ich, das er meistens als „Selbst" bezeichnet; doch ist die terminologische Scheidung von Ich und Selbst nicht immer durchgehalten. Die Verkündigung des Selbst ist einer der Aufträge Zarathustras. Am deutlichsten wird der Gegensatz von Idi und Selbst im Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes" ausgeführt: „Leib bin ich und Seele" — so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist" nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. „Ich" sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst — dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Idi. Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist audi des Ichs Beherrscher. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser — der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat? Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. „Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens?" sagt es sich. „Ein 211 14*

Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ichs und der Einbläser seiner Begriffe." Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!" Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide — und dazu eben soll es denken. Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!" Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue — dazu eben soll es denken.9 Diese Zarathustra-Rede teilt mit dem zitierten Aphorismus die Tendenz, den Anspruch auf Autonomie des Ich zu widerlegen. Doch die Argumentation schlägt einen anderen Weg ein. Sie ist offen polemisch und daher deutlich von dem geprägt, wogegen sie sich wendet. Bewußt wird auf den Kopf gestellt, was die idealistische, ja die abendländische Tradition insgesamt über das Verhältnis von Leib, Seele und Geist gedacht hat. Die Vernunft, zur „kleinen Vernunft" degradiert, wird ebenso wie die Seele in Abhängigkeit von jener Empirie gesehen, als deren Gegenprinzip sie sich verstanden hatte. Sie wird dem Leib unterworfen. Damit büßt sie mit ihrer Autonomie ihre Unveränderlichkeit und ihre Unsterblichkeit ein. Sie hört auf, ewig zu sein. Daß umgekehrt der Leib als „große Vernunft" bezeichnet wird, ist fast höhnisch gemeint; denn ihm sind Lust und Schmerz, Triebe und Instinkte eigen, die seit je im Rufe der Blindheit standen. Dodi nun bekommt der Leib wichtige Charakteristika der Vernunft zugesprochen. Wie diese ist er Wille, wenn sich sein Wille auch dem Trieb nähert, und audi der Leib wirkt als Gesetzgeber, der ganz aus sich heraus will, aus Freiheit jenseits aller Kausalität. Es scheint Bedeutung zu haben, daß nicht vom Körper, sondern vom Leib die Rede ist. Der Leib ist belebte Materie, nicht bloßer Stoff. Damit aber ist er nicht das Gegenprinzip zur Vernunft im bisherigen Sinne, sondern eine Ganzheit, die diese umgreift. Die „kleine Vernunft" ist ein Teil der großen. Zarathustras Rede geht darauf aus, dem dualistischen Bild des Menschen ein einheitliches gegenüberzustellen. In unserem Zusammenhang ist vor allem wesentlich, daß Zarathustra auf diese als Leib gefaßte Einheit den traditionellen Begriff des Selbst anwendet. Auch dabei verhält er sich offensichtlich polemisch. Wir hatten gesehen, daß Dante erst am äußersten Punkt seiner Jenseitsreise, in Gott, sich selbst begegnete. Gott blieb auch in der Folgezeit der Garant des Selbst. Doch erhielt dieses innerhalb der unmittelbaren Erfahrung Äqui9

Schlechta II, S. 300

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valente. Schillers berühmter Satz von der Aufnahme der Gottheit in den menschlichen Willen deutete einen Umbruch an. Doch noch der Plural seiner Anrede weist darauf hin, daß dem so verstandenen Selbst Allgemeinheit erhalten blieb. So konnte er auch noch immer von Gottheit und Göttern sprechen. Gerade „Das Ideal und das Leben" ist noch ganz von dem Dualismus beherrscht. Erst im Tod gelangt Herakles zu seinem göttlichen Selbst. Nicht zuletzt gegen Schiller könnte sich Zarathustras Rede gegen die leibfeindliche Vernunft richten10. Indem er das Selbst mit dem Leib gleichsetzt, nimmt er ihm zweierlei, seine Allgemeinheit und seine Transzendenz. Mit seinem eigenen Leib hat jeder Mensdi ein eigenes und eigentümliches Selbst, das ihm allein zugehört. Er untersteht einem individuellen Gesetz, das nur für ihn gilt. Es erlischt mit seinem Tode. Wenn aber Selbst und Leib identisch sind, der Mensdi aber von Geburt an einen Leib hat, folgt nicht daraus, daß er nicht anders kann als bei sich selbst sein, daß er sein individuelles Gesetz immer schon „von selbst" erfüllt? Daß Zarathustras Rede diesen Eindruck erweckt, hängt mit ihrem speziellen Adressaten zusammen. Er sucht die Verächter des Leibes dessen zu überführen, daß sie der Macht des Leibes gar nicht entrinnen können, mögen sie ihn auch noch so verachten. Noch ihre Verachtung sei sein Werk. Der Akzent liegt somit auf der Widerlegung der Leibverächter, nidit auf der Auslegung des Leib-Willens. Dieser wird in geheimnisvolles Dunkel gehüllt: „ . . . ein unbekannter Weiser — der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. . . . Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat?" Indem das Selbst mit dem Leib gleichgesetzt wird, wird es zwar in die menschliche Existenz hineingenommen. Aber es eröffnet sich damit eine neue innermenschliche Transzendenz, die, da sie als individuelle keinen Namen mehr haben kann, schwieriger zu erkennen und zu kennen ist, als die göttliche. Sie hat manche Merkmale eines noch nicht offenbar gewordenen Gottes, Fremdheit, Rätselhaftigkeit, Unberechenbarkeit. Darüber darf die okkasionelle Bezeichnung „Leib" nicht hinwegtäuschen'. Sie ist eine Benennung von etwas Unbenennbarem, weil Unbewußtem. 10

Nietzsches Einstellung zu Schiller w a r jedoch ähnlich ambivalent und schwankend wie diejenige zu Wagner, mit welchem Nietzsche Schiller zuweilen zusammen nannte. Das Wort vom „Moraltrompeter von Säckingen" trifft nur eine Seite. Der Aphorismus 336 aus „Mensdilidies-Allzumensdilidies" II zitiert „Das Ideal und das Leben" in zustimmendem Sinne, freilich ohne Schiller namentlich zu nennen. Vgl. Sdilechta I, S. 856

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Es gehört zu Nietzsches Problematik, daß ihm selbst zuweilen dieses Gleichnis zur Sache wurde. So konnte er wie in „Ecce homo" zu den Vorschlägen über Hygiene und Eugenik kommen11. Seine biologischen Ausleger berufen sich nicht nur zu Unrecht auf ihn. Immerhin gibt es ebenfalls spätere Bemerkungen Nietzsches, die in diesem Punkt unüberhörbar zur Vorsicht mahnen: Alles, was als „Einheit" ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complicirt: wir haben immer nur einen A n s c h e i n v o n E i n h e i t . Das Phänomen des L e i b es ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.12 Das Studium des Leibes gibt einen Begrift von der unsäglichen Complication (sc. dessen, was dem Ich zugrunde liegt).18 So irreführend es ist, wenn der als „Leitfaden" gebrauchte Leib mit dem Selbst identisch gesetzt wird, so erhellend ist er als Metapher für das, was Nietzsche mit „Selbst" meinte. Zuweilen versucht er andere Umschreibungen: „Zusammenspiel der leiblichen Funktionen" 14 , „Lebenssystem"15, „System"18, „Klugheit des ganzen Organismus"17, „organisierte Einheit"18, „Atomgruppe" 19 . Neben dem Vorstellungsfeld „Organismus" erscheint an andern Stellen das der Organisation. „Einheitliche Verwaltung" 20 , „leitendes Komitee"21. Diese Modellvorstellungen des Selbst sind bei Nietzsche vereinzelt. Kafkas Bilderwelt hätte hier ansetzen können22. In diesen verschiedenen Benennungsversuchen wird die Tendenz faßbar, das Selbst als Spannung von Vielfalt und Einheit zu bestimmen. 11

12

Selbst der späte Nietzsche sah den Zusammenhang von Genie und Krankheit jedoch nicht naturwissenschaftlich kausal. Er betrachtete die Krankheit als distanzierendes Moment, das es erlaubt, die Welt anders und neu zu sehen und darzustellen.

MA XIX, S. 17 MA XVI, S. 117 14 MA XIX, S. 35 " MAXI, S. 241 16 MA XIX, S. 150 17 MA XVI, S. 117 18 MA XIX, S. 59 » MA XIV, S. 59 20 MA XVIII, S. 2j8 21 MA XIX, S. 3 5 15

22

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Ich denke hier an die undurchschaubare Verwaltungswelt, die die Helden in Kafkas Romanen bedroht oder die sie zu durchdringen suchen.

Was den Leib abgesehen davon zur Metapher des Selbst tauglich macht, ist die aus ihm erwachsende Lebendigkeit. Das Selbst ist gerade keine Substanz, sondern „Urtatsache"23, „primum mobile"24, „Instinkt"25. In seinem Umkreis erscheinen die Termini „Kraft", „Fülle", „Spannung", „Willen zur Macht". Das Selbst will sich durchsetzen, aus sich heraus, denn es besteht nur als Bewegung. In Zarathustras Rede an die Verächter des Leibes erscheint es als vielfältige Aktivität. Das Epitheton „primum mobile" entstammt bezeichnenderweise dem Prädikationen des kosmischen Schöpfer-Gottes. Die Vielfalt der Vorschläge zur genaueren Bestimmung des Selbst, die paradoxe Formulierungen bevorzugen, hängt mit dessen grundsätzlicher Unbekanntheit zusammen. Gerade darauf scheint es Nietzsche angekommen zu sein, als er dem Namen „Leib" den Vorzug gab. Schon in einem früheren Aphorismus heißt es: Wie von Alters her den Mensch in tiefer Unbekanntschaft mit seinem L e i b e lebt und an einigen Formeln genug hat, sidi über sein Befinden mitzutheilen, so steht es mit den Urteilen über den Wert von Menschen und Handlungen: man hält bei sidi selber an einigen äußerlichen und nebensächlichen Zeichen fest und hat kein Gefühl davon, w i e tief unbekannt und fremd wir uns selber sind. Und was das Urteil über andere anlangt: wie s c h n e l l und s i c h e r urteilt da noch der Vorsichtigste und Billigste!2' Das bekräftigt ein Entwurf-Fragment aus der Zarathustra-Zeit: Aber was sind wir selber? Sind wir nicht selber auch nur Bilder? Ein Etwas an uns, Veränderungen an uns, die uns bewußt geworden sind? Unser Selbst, von dem wir wissen: ist nicht auch das nur ein Bild, ein Außer-uns, Äußeres, Äußerliches? Immer rühren wir nur an das Bild und nicht an uns selber. Sind wir uns selber nicht eben so fremd und eben so nah, als der Nächste?27 Die Spannung zwischen Ich und Selbst ist schließlich die von Bewußtsein und Existenz. Das Bewußtsein kann, weil es Bewußtsein ist, das Selbst nicht erfassen, das sich verleiblicht hat. Die räumliche Annäherung von Ich und Selbst bringt damit eine radikale Trennung beider. 23

MA XIV, S. $9 " MA XIV, S. 122 25 MA XVII, S. 270 » MA XVI, S. 181 « MA XIV, S. 138 "S

Zarathustras polemische Rede hat jedodi nicht den Zweck, seine Hörer auf eine unauflösliche Fatalität aufmerksam zu machen. Er weist sie darum auf ihr falsches Idi-Bewußtsein hin, damit sie es mit dem Selbst in Einklang bringen. Sie sollen ihr Bewußtsein den Impulsen ihres Selbst öffnen und so mit sich selbst eins werden. Das ist der eine Programmpunkt, der sidi aus seinem Verständnis von Ich und Selbst ergibt. Der Einwand dagegen, ob denn das mächtige Selbst nicht von sich aus dem Bewußtsein seinen Willen aufzwingen könne, läßt sich jedoch erst ganz aus dem Weg räumen, wenn man ihn mit einem zweiten zusammensieht. Die Diskrepanz von Ich und Selbst rührt für Nietzsche daher, daß das Selbst krank ist. Es ist nicht in der Lage, seine Herrschaftsfunktion auszuüben. Diese Schwäche hat im falschen Ich-Bewußtsein ihr Symptom und ihren Grund. So würde dessen Korrektur die Kräftigung und Gesundung des Selbst ermöglichen. Beide Aspekte gehören unmittelbar zusammen. Da das Selbst als lebendige Kraft konzipiert ist, ist die Uberwindung eines bestehenden Verständnisses bereits die Manifestation seiner Gesundheit. Man wird jedoch der Versuchung widerstehen müssen, Nietzsches Gedanken zu harmonisieren. Ihre Einheit läßt sich nicht als System fassen. Sie besteht eher in einer Tendenz, die sich an verschiedenen Themen zeigt. Der frühere Nietzsche stellte die Bewußtseinsänderung in den Vordergrund, Zarathustras Verkündigung richtet sich direkter an das Selbst. Die Unterschiede des sprachlichen Mediums, hier diditerische Prosa, dort reflektierende, hängen damit zusammen. Bereits vor dem „Zarathustra" sind Nietzsches Gedanken zu Ich und Selbst von einer Bildersprache begleitet, die z. T. konstanter und stimmiger ist als die der Begriffe. Das Bild des Berges, das im Zusammenhang damit auftaucht, kann nun audi die Brücke bilden, die uns zum Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht" zurückführt. Im ersten Band von „Menschliches-Allzumenschliches" steht ein Aphorismus mit der Überschrift: „Verkehr mit dem höheren Selbst" 48 . Der Terminus „höheres Selbst" wird auch sonst oft verwendet. „Höher" ist hier nurmehr eine verblaßte Metapher mit steigernder Bedeutung. Die darin enthaltene Vorstellung einer Vertikalität ist nidit berücksichtigt. Diese geronnene Bildlichkeit macht der folgende Aphorismus wieder flüssig: 28

SAlechta I, S. 720

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D e r W a n d e r e r i m G e b i r g e z u s i c h s e l b e r . — Es gibt sichere Anzeichen dafür, daß du vorwärts und höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher um dich als vordem, die Luft weht dich kühler, auch milder an, du hast ja die Torheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln, — dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Mut und Besonnenheit sind zusammengewachsen: — aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlidier sein als dein früherer, wenn auch gewiß nicht in dem Maße, als die glauben, welche dich Wanderer vom dunstigen Tale aus auf dem Gebirge schreiten sehen.29 Dieser Aphorismus schließt an die Motivtradition an, die im Zentrum dieser Arbeit steht. Man kann darin ein sichtbares Zeichen dafür sehen, daß der Begriff „Selbst" an die Stelle Gottes getreten ist. Doch ist auf eine Verschiebung zu achten. Zum Sitz Gottes konnte der Berg deshalb werden, weil er in den Himmel hinaufragt, von ewigem Schnee bedeckt ist, unzugänglich war. Das Auge brachte Gott und Berg zusammen. Für Nietzsdie wohnt das Selbst nicht auf dem Gipfel. Der Berg vermittelt es durch die physische Anstrengung, die seine Ersteigung kostet. Da sie nicht vom lebendigen Menschen abgelost ist, kann sich einzig bei seinem Aufsteigen die Beziehung von Berg und Selbst ergeben. Diese Umdeutung der traditionellen Motivik hatte in Nietzsches eigenem Erlebnis ihren Grund. Im Sommer 1877 hatte er zum erstenmal längere Zeit in einer Gebirgsgegend verbracht, in Rosenlauibad, worüber er an die „Idealistin" Malwida von Meysenbug schrieb: In der Schweiz bin ich mehr i c h , und da ich die Ethik auf möglichste Ausprägung des „Ich" und nicht auf Verdunstung baue, so In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und keinen andern Feind als mich selber habe.80 Diese Erfahrung wiederholte und steigerte sich im Oberengadin, „jenem Lande der Verheißung", das er sich nach 1879 fast regelmäßig zum Sommeraufenthalt erwählte. St. Moritz und Sils-Maria boten ihm 28

Schlechte II, S. 8 3 1 . Vgl. audi Nietzsches Brief an Mathilde Maier, zit. Werke IV/4, S. 52. — Die zentrale Bedeutung des Höhenmotivs bei Nietzsche untersucht Gaston Badielard, Nietzsche et le psychisme ascensionnel, in: G . Β., L'air et les songes, Essai sur l'imagination du mouvement. Paris: Corti I 9 $ O ! . S. 1 4 6 — 1 8 $ »» Schiedita I I I , S. 1 1 4 6

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die klimatischen Voraussetzungen, die ihm ein einigermaßen erträgliches physisches Befinden garantierten, wie er es braudite, um denken und schreiben zu können. Da er selbst in der Höhe und im Gebirge eine Steigerung seines Selbst erlebte, wurde ihm der Berg zur Chiffre für das eigene Selbst, ja für das Selbst überhaupt. Aus Tradition und eigenem Erlebnis baute sich Nietzsche seine Zarathustra-Landschaft auf. Daß sie, was man oft bemerkt hat, frei ist von geographischen Anspielungen, rührt davon her, daß der Berg nicht an sidi bedeutungsvoll ist, sondern nur durch die Reaktionen, die er beim Bergsteiger auslöst. So ist denn auch wichtiger als der erstiegene Gipfel, auf dem man sich ausruht, der Weg, der zu ihm hinaufführt und doch nie endet. Das kann der Eingang zum dritten Teil des Zarathustra illustrieren: . . . Als nun Zarathustra so den Berg hinanstieg, gedachte er unterwegs des vielen einsamen Wanderns von Jugend an, und wie viele Berge und Rüdken und Gipfel er schon gestiegen sei. Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Herzen, ich liebe die Ebenen nicht, und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch als Schicksal und Erlebnis komme — ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber. Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim, — mein eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufälle. Und noch eins weiß ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und vor dem, was mir am längsten aufgespart war. Ach, meinen härtesten Weg muß ich hinan! Ach, ich begann meine einsamste Wanderung! 31 Auf dem Hintergrund dieser Scheidung von Ich und Selbst läßt sich der Gedankengang unseres Gedichts noch verdeutlichen. Der Einsiedler hat den Aufstieg im Gebirge zu sich selbst vollbracht. Er ist dank oftmaliger Selbstüberwindung bei sich selber. Sein Selbst teilt sich ihm als Unruhe und glücklich gespannte Erwartung mit. 31

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Sdiledita II, S. 403 f. — Klages kommt zum Urteil: „Alles in allem ist der Zarathustra eine schwärmerische unheimliche Exegese des Bezugswortes .über'". Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. Leipzig: Barth 1926. S. 204

Es wird Sprache. Zuerst äußert es sich in unmittelbaren Ausrufen, dann artikuliert sidi daraus ein Ich-Bewußtsein. Dieses deutet die SelbstPosition. Es bezieht deren Gegenwärtigkeit auf Vergangenes, und es sieht sie, wie das der zitierte Aphorismus beschreibt, in der Relation zu einem größeren Verband. Das Ich kommt somit auf doppelte Weise von außen zustande. Die Bewegung führt zum Abbau dieses täuschenden Ich-Bewußtseins. Der Einsiedler wird seiner tatsächlichen Situation annäherungsweise inne. Sein Bild von sich selbst kommt dem Selbst dann am nächsten, als er sich als Philoktet mit dem Herkulesbogen versteht. Es ist bedeutsam, daß gerade an dieser Stelle ein dichterisch überlieferter antiker Mythos beigezogen wird, also ein in gewissem Maße zeitloses Exempel. Da jedoch die Orientierung an der Gemeinschaft erhalten bleibt, kann es nicht zur Übereinstimmung von Ich und Selbst kommen. Das mythische Selbstverständnis wird wiederum zugunsten eines Gruppen-Ichs aufgegeben. Doch ist nun eine andere Gruppe gemeint, die in die Zukunft gesetzt wird. An Stelle der Erfahrung ist damit die Utopie getreten. Doch von der Zukunft ist der gegenwärtige Stand ebensowenig adäquat zu fassen wie von der Vergangenheit her. Denn Zukunft und Vergangenheit sind als nicht hic et nunc real im Bewußtsein verankert. Wo aber dieses die Priorität hat, kann es nicht zur Übereinstimmung von Ich und Selbst kommen. Das Mißverständnis seiner selbst, das auch am Ende des Gedichts bestehen bleibt, bringt das Motiv klar zu Tage. Wer Freunde will, darf nicht auf hohe Berge steigen. Er muß in den Niederungen bleiben, wo die Menschen wohnen. Nach der von Nietzsche aufgestellten Alternative aber hieße das, auf sich selbst verzichten, von sich selber absehen. Das wiederum war eine der Grundmaximen des Christentums, das der Einsiedler für sich hatte überwinden wollen. So könnte denn das Mißverständnis dodi auch gerade mit seiner Position zusammenhängen. Er hatte zwar die Stätte Gottes besetzt, aber das bisherige Modell der Selbstverständigung beibehalten. Darin war der übergeordnete Gott durch die noch immer übergeordnete Gemeinschaft ersetzt worden, erst die vergangene, dann die zukünftige. Sucht man nach historischen Konkretisierungen dieser Modelle, gelangt man auf Nationalismus und Sozialismus, Bewegungen also, die Nietzsche sehr kritisch betrachtet hatte32. S2

Beide Strömungen bilden den zeitgenössischen Hintergrund, auf dem und gegen den Nietzsche seine Philosophie des Selbst formulierte. Das in Frage 219

Der Hintergrund unseres Gedichts läßt sie als Erben, nicht als Verwandlungen des Christentums erscheinen. Schließlich aber weist der Widerspruch im Selbstverständnis des Einsiedlers auf objektive, man möchte sagen naturgegebene Schwierigkeiten hin, ein isoliertes Selbst zu erfassen und zu leben. Gerade wenn Selbst und Leib einander so angenähert werden wie bei Nietzsche, fällt es schwer, das Selbst als Monade zu fassen. Stilistisch meinen wir den aufgezeigten Widerspruch bereits in der Mischung des monologisch angelegten Gedichtes mit pseudodialogischen Elementen zu erkennen. Aus einer eingehenderen Betrachtung der stilistischen Eigenart müßte über das Verhältnis von Ich und Selbst weiterer Aufschluß zu gewinnen sein.

III. Das Gedicht durchläuft einen Gedankengang, der zum Schluß eine Modifizierung des Anfangs ergibt. Dodi diese Argumentation allein macht nicht das Gedicht. Dessen Eigentümlichkeit beruht auf dem sprachlichen Medium, in dem sie sich darstellt. Auffallend ist dem ersten Blick die Häufigkeit und Vielfalt der phrasierenden Interpunktionen, Frageund Ausrufezeichen, Gedankenstriche, Doppelpunkte und auslaufenden Punkte, Sperrungen. Die geschriebene bekommt durch sie den Charakter der mit feierlichem Nachdruck gesprochenen Sprache". Das Druckbild ist eine Art Partitur, die auf akustische Realisierung angewiesen ist. Die logische wird so von einer melodisch-emphatischen Argumentation begleitet. Ein ähnliches Nebeneinander ist in der Grammatik vorhanden. Es fällt auf, daß Sätze gerne um das Prädikat oder doch um die Kopula verkürzt werden. Auch herrscht eine Vorliebe für artikellose Gruppen,

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stehende Gedicht kreist um eine Vermittlung von Selbst und Gesellschaft in der Freundschaft, ohne die Polarität aufheben zu können. Nietzsches Stilideal bestand fast von Anfang an darin, die geschriebene der gesprochenen Sprache anzunähern. Der „Zarathustra" unterscheidet sich stilistisch auch darin von den Aphorismenbüchern, daß sein Rahmen Zarathustras Worte als Reden ausdrücklich kennzeichnet. Die rhetorischen Mittel treten gehäuft auf. Vgl. dazu Michael Landmann, Zum Stil des Zarathustra. Trivium II, 1944. — „Einsiedlere Sehnsucht" steht dem „Zarathustra" sehr nahe. Für das Gericht trifft vieles von dem zu, was Landmann an Beobachtungen anführt, vor allem das Gesetz der Repetition. S. unten

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der die häufige Voranstellung des Genitivattributes entgegenkommt. Elisionen im A n - und Auslaut kommen dazu. Dadurch sind manche bloß grammatischen Formelemente weggefallen. D a f ü r treten in großer Zahl Fügungsmittel lautlicher A r t auf, Assonanz, Alliteration, Anapher, Epipher, Gleichklang etc. Sie verbinden, was nicht logisch, sondern seinem Sinne nach zusammengehört. Indem so Sinnbezüge lautlich wahrnehmbar gemacht werden, kommt ein altes Bildungsmittel der Sprache zur Geltung. Das Vorbild dafür kann man im Spiel mit dem Ablaut sehen, wie es die figura etymologica „der soldien Zug gezogen" verwendet, in der sich sprachgesetzlich eine semantische Beziehung lautlich darstellt. Darauf beruhen auch die scheinetymologischen Paronomasien „verwandt-verwandelt", „verbräunt-verbrannt", für die Nietzsche eine spezielle, die Parodie herausfordernde Neigung hatte. Das traditionelle poetische Mittel, Sinnzusammenhänge durch Lautanklänge anzudeuten oder herzustellen, der Reim, ist in ein Schema gebracht, das die Möglichkeiten einer Vierzeilenstrophe noch um eine vermehrt. Binnenreime treten dazu. So wirkt neben und teilweise anstelle der formalen Grammatik eine andere, lautliche, welche als einzige Regel hat, daß zusammengehört, was gleich oder ähnlich tönt. Unmittelbare lautliche Evidenz soll die logische bekräftigen respektive ersetzen' 4 . Entsprechendes läßt sich an der Syntax zeigen. Es überwiegen kurze Hauptsätze wie in der gesprochenen Sprache. Ihre Zuordnung geschieht statt durch Konjunktionen durch Satzfiguren, Chiasmus, Parallelismus, Anakoluth, Inversion, rhetorische Fragen. Interjektionen setzen Sinnund Wertungsakzente. A u f der Ebene der Bedeutung schließlich gehen abstrakte und bildhafte Redeweise nebeneinander her. Neben Einwort-Metaphern „LebensMittag"®5, „Freunds-Gespenster", werden auch größere Zusammenhänge in Bilder transponiert, beispielsweise in der sechsten Strophe: „Verlernte Mensdi und Gott, Fluch und Gebet", faßt abstrakt, was die vorangegangenen Zeilen bildlich ausgedrückt hatten: „Ich suchte, w o der Wind am schärfsten weht / ich lernte wohnen / w o niemand wohnt in öden Eisbärzonen." Ähnlich, in umgekehrter Reihenfolge, verfährt die fünfte Strophe, w o es heißt: „Ein andrer ward ich und mir selber fremd? / S4

"

Diese Stilmittel sind bekanntlich bei den barocken Dichtern, u. a. den N ü r n bergern, beliebt. C . R. von Greiffenberg bedient sich ihrer sehr häufig. Die Entwürfe zeigen die A b f o l g e : „ O h Jahres Mitte" (Z II 5, S. 64); „Lebens Mitte" (Z I I 6, S. 46); „Lebens M i t t [ e ] a g " (Z I I 7, S. 85). Die Metapher kam also erst zuletzt hinzu.

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mir selbst entsprungen? / Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen . . . " . Selten hat die Bildlichkeit wie im Jägergleichnis allein den Sinn zu tragen. Die Argumentation bewegt sich meistens gleichzeitig auf beiden Gleisen voran, die Weiterführung kann da oder dort anschließen. Daß auch in der Bildlichkeit ein altes Bildungsmittel der Sprache reaktiviert wird, zeigt sidi daran, daß vorhandene, zur Katachrese erstarrte Bilder neu belebt werden. Am Beispiel von „Höhe" und „entsprungen" kam das schon zur Sprache. Auch die Redensart vom „Band der Hoffnung" wird beim Wort genommen. Archaismen sind auch in Wortschatz, Flexion und Wortstellung zu beobachten. Die aufgezeigten Stilmittel, welche die Argumentation auf spradisinnliche Weise intensivieren, sind solche, welche die antike Rhetorik" dem ornatus zurechnete. Dessen Wirkung sollte einerseits darin bestehen, die Rede eindringlicher und überzeugender zu machen. Solche Eindringlichkeit kommt zustande, wenn eine Aussage aus der gewohnten in eine ungewöhnliche, unerwartete, verblüffende Sprechweise übersetzt wird. Die Rhetorik nennt das το ζενικόν, Verfremdung. Wo diese die Rücksicht auf Verständlichkeit vernachlässigt oder gar preisgibt, wird sie zur Verrätselung. Emanzipierter ornatus führt zur obscuritas. Das Gedicht als ganzes ist nicht dunkel. Nur an einzelnen Stellen in seiner Mitte gewinnen gewisse Bildkomplexe Selbständigkeit, so daß sie nicht mehr a prima vista aufzuschlüsseln sind. Aber es ist dodi deutlich eine allgemeine Tendenz dazu festzustellen. Die Lautbezüge sind oftmals rein spielerisch. Mit der Feststellung, die logische Sprache sei in diesem Gedicht rhetorisch verfremdet, ist erst eine negative Bestimmung getroffen. Es ist weiter nach der Gesetzmäßigkeit der so entstandenen sprachlichen Gestalt zu fragen. Das auffallendste Gestaltungsprinzip ist die Einmündung des Endes in den Anfang. Das Gedicht hat zwar einen Verlauf, aber daraus ergibt sich eine nur leicht abgewandelte resp. korrigierte Wiederaufnahme des Anfangs. Das Gedicht vollzieht einen Kreis. Die Tendenz, auf den Anfang zurückzugreifen, meinen wir auch in der ungewöhnlichen Strophenform zu erkennen. Das Reimschema abbaa ist eine Erweiterung des umarmenden Reims abba. Durch die Verdoppelung wird das Wiederkehrende der letzten Zeile unterstrichen, zumal in manchen Fällen sogar das Reimwort aus der ersten Zeile wieder erscheint. Das s

® Vgl. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. München:

Hueber 19632

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ist vor allem in den Strophen am Anfang zu beobachten. Später ließ es sich offenbar nicht mehr durchhalten. Die Strophen beschreiben auch in sich eine Kreisbewegung. Gegeneinander sind sie dagegen ganz abgeschlossen. In der endgültigen Fassung konnte ihre Abfolge ohne großen Schaden umgestellt werden. — Das Verfahren, auf Vorausgegangenes zurückzugreifen und es dann erst weiterzuführen, läßt sich auch innerhalb der Strophen nachweisen. In diesem Sinne wirken die oben angeführten Figuren Alliteration, Assonanz etc. Ein besonders deutliches Beispiel für die ständige Wiederaufnahme ist die fünfte Strophe, was eine veränderte Druckanordnung herausstellen kann: Ein Andrer ward idi und m i r s e l b e r fremd m i r s e l b s t entsprungen Ein Ringer, der z u o f t s i c h s e l b s t bezwungen z u o f t sich gegen e i g e n e Kraft gestemmt Durch e i g n e n Sieg verwundet und gehemmt? Auch wo es sich nicht so deutlich an verbalen Übernahmen zeigen läßt, greift oft ein Gedanke auf einen vorhergehenden zurück. Wir hatten gesehen, wie die erste Strophe sich aus der ersten Zeile entfaltet. Gerade auch das Nebeneinander von abstrakter und bildlicher Sprache gestattet es, manches zwei- und dreimal zu sagen. „Noch einmal!" scheint das stilistische Grundgesetz des Gedichtes zu sein. Es gereicht ihm ästhetisch nicht zum Vorteil. Die ständigen Wiederaufnahmen geben ihm etwas durchgehend Tautologisches. Zwischen repetierendem Pathos und Gehalt entsteht ein Mißverhältnis. Das ändert jedoch nichts daran, daß ein deutlicher Stilwille, der auf Repetition tendiert, zu erkennen ist. Es liegt nahe, diese Tendenz mit dem Zentralpunkt von Nietzsches spätem Denken, der Lehre von der ewigen Wiederkunft, zusammenzusehen. Diesen in seinem Verständnis umstrittenen Gedanken hier in all seinen Aspekten zu entfalten, ist nicht möglich87. Es soll versucht werden, aus einer dafür zentralen Stelle das in unserem Zusammenhang Wichtige zu entwickeln. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft wird im dritten Teil des „Zarathustra" im Kapitel „Der Genesende" eingeführt, nachdem ihn mehrere Kapitel zuvor „Gesicht und Rätsel" so vorbereitet hatte, daß ®7 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Stuttgart: Kohlhammer 1956. — Ders., Von Hegel zu Nietzsche. Stuttgart: Kohlhammer 19584

"3

der Leser eine Art von déjà vu erfährt. Wie der Wiederkunftsgedanke auftaucht, ist er selbst bereits eine Wiederholung. Die ewige Wiederkunft bestimmt die Weltsicht der Tiere Zarathustras. In ihrem Zeichen steht ihr Preislied auf die Welt: Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem N u beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.*8 Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist das Gesetz der Natur und des Kosmos. Alles ist in Bewegung. Die Phasen der Bewegung kehren wieder. „Das Gleiche" das sich wiederholt, sind die Maßeinheiten der Bewegung. „Wiederkunft des Gleichen" ist somit die Umschreibung einer rhythmischen Bewegung. Was die Tiere davon sagen, heißt, daß alles natürliche und kosmische Sein in festen Rhythmen verläuft. Das Prädikat „ewig" bezeichnet einerseits die unendliche Dauer. Es erklärt darüber hinaus diese rhythmische Bewegung zum absoluten, höchsten Wert. Die Rede der Tiere bildet selber eine rhythmische Bewegung mit rhetorischen Mitteln nach. Die Sätze sind nach einem festen Schema gebaut: A l l e s . . .x, alles.. .xx etc. ewig xxxxx des Seins. Der Vergleich mit der Drehorgel, den Zarasthustra verwendet, trifft parodierend diese stilistische Wiederkehr des Gleichen. Daß die Tiere auf diese „rhythmische" Weise reden, beweist ihre Natürlichkeit. Die Wiederkunft ist das Gesetz ihres Daseins. Die ewige Wiederkunft des Gleichen erscheint hier somit unter zwei Aspekten. Sie umschreibt einerseits den in Natur und Kosmos waltenden Rhythmus, andrerseits eine Weise stilistischer Gestaltung. In der Rede von Zarathustras Tieren sind beide vereint als Inhalt und Form. Der Inhalt formuliert das Prinzip des Stils. Der Stil bildet den Inhalt im Material der Sprache, also metaphorisch, nach. Der Anfang des Kapitels „Der 38

Schiedita II, S. 463

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Genesende" schildert die Konfrontation Zarathustras mit seinem „abgründlichsten Gedanken", der sich später als der der ewigen Wiederkehr entpuppt. Obwohl er ihn selbst heraufbeschworen hat unter Beru j fung darauf, er sei der Gottlose und der Lehrer des Kreises, vermag er ihm nicht standzuhalten. Bei seinem Anblick verliert er für 7 Tage das Bewußtsein; denn er befindet sich nicht auf dem Bewußtseinsstand der Tiere. Seine Genesung beruht in der Aneignung des Wiederkunftsgedankens und damit in der Überwindung der Diskrepanz zu den Tieren. Diese Aneignung erfolgt von zwei Seiten her, durch Zarathustras Anstrengung und entscheidend durdi die Vermittlung seiner Tiere. Die Formulierung, die Zarathustra seinem abgründlichsten Gedanken gibt, bringt die Diskrepanz zum Ausdruck, in der er z u ihm steht. Er beschreibt dessen „nihilistischen" 39 Aspekt. Wiederkehr des Gleichen bedeutet für ihn, daß alles auf der Welt nichtig ist. „Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Mensdien-Moder und Knochen und morsche Vergangenheit." Das erinnert an Gryphius' Kirchhofgedanken. D o d i ist dem „gottlosen" Zarathustra nicht ein dauerndes Gut der Maßstab für die Nichtigkeit der Welt. Er beklagt nidit das Vergehen des Großen ins Nichts, sondern die Reproduktion des Kleinen, die alles Erreichte wieder auf das Niveau des Menschlich-Allzumenschlichen herabdrückt. Zarathustras Kriterium ist ein Fortschrittsdenken, ohne das er nicht Lehrer und Verkündiger sein könnte. Der Wiederkunftsgedanken scheint im Gegensatz zu seiner Sendung zu stehen. Dessen Anerkennung wäre ein Zeichen der Resignation. Zarathustras Erziehungs- und Fortsdirittsdenken ist ein Rest der einsinnigen christlichen Zeitauffassung. Dieses steht der Aneignung des Wiederkunftsgedankens im Wege. Z w a r deutet sich auch in seinen Überlegungen die Lösung Baudelaires an, aus dem Nichtigen einen neuen Reiz zu gewinnen. Er versucht eine A r t Masochismustheorie, in deren Entfaltung er auch die Erlösungswirkung des Kreuzestodes als sadistischen Lustgewinn deutet, doch wendet er die Erkenntnis, das Böseste sei das Beste, nicht auf seinen Ekel gegenüber dem Gedanken aus der Tiefe an, wie der A u f b a u des Abschnitts zunächst erwarten läßt. Zarathustra gelingt es nicht, aus seinem Bewußtsein heraus, das noch auf die Erfahrung bezogen ist, zu einer positiven Auffassung der ewigen Wiederkunft zu kommen. "

Löwith, Nietzsche S. 60 f.

"J 15 Pestalozzi» Lyrisàes Idi

Die Vermittlung zwischen Zarathustras Bewußtsein und dem der Tiere leistet die Sprache. Das entscheidende Stidiwort wird in diesem Zusammenhang „Garten". Wie Zarathustra aus seiner langen Bewußtlosigkeit erwacht, sagen seine Tiere zu ihm: Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten. Der Wind spielt mit schweren Wohlgerüchen, die zu dir wollen, und alle Bäche möchten dir nachlaufen. Darauf aber heißt es: — O meine Tiere, antwortete Zarathustra, schwätzt also weiter und laßt mich zuhören! Es erquickt mich so, daß ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten. Wie lieblich ist es, daß Worte und Töne da sind: sind nicht die Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen EwigGeschiedenem?40 Nachdem Zarasthustra wieder ins Klagen verfallen ist, erneuern die Tiere ihren Hinweis auf den Garten. Im Garten ist der Gegensatz zwischen Natur und Mensch aufgehoben. Darum kann er Zarathustra Erholung bieten. Doch der Garten ist vom Menschen für sich geordnete Natur. Das Mittel zur Genesung stammt indirekt von ihm selbst. Zarathustra erkennt auch in der Sprache eine Gartenkunst in diesem Sinne. Sie macht die Welt dem Menschen angenehm. Dabei verfährt sie so, daß sie das Einmalige und Einzigartige, indem sie es ins Wort faßt, gleich macht. Zarathustra nennt die Worte „Schein-Brücken". Sie sind es im doppelten Sinn. Gemessen an der Wirklichkeit sind sie lügenhaft. Sie erwecken einen falschen Anschein. Zugleich aber breiten sie einen schönen Schein über die Welt. Der eben macht aus der Welt einen Garten. Diese beiden Seiten hängen für Zarathustra zusammen. Gerade die moralische Fragwürdigkeit macht den ästhetischen Schein wirksam. Audi hier gilt, was Zarathustra kurz darauf an der Grausamkeit mit einer Art Sadismus-Masochismus-Theorie exemplifiziert, daß das Böseste das Beste ist. Daraus folgt, daß die Sprache dann am schönsten ist, wo sie am meisten lügt, d. h. in der Dichtung, im Lied. Daß die Dichter lügen, macht sie zu Dichtern 41 . Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, daß der 40 41

Sdilechta a.a.O. Vgl. Maria Bindsdiedler, Nietzsche und die poetische Lüge. Berlin: de Gruyter 1954

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Mensdi sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narretei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge. Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne. Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen —. 4 2 Die Gleichheit, welche die Sprache bewirkt, ist die Voraussetzung für die Wiederkehr des Gleichen, die Rhythmisierung der Welt im Lied. Dieses Sprechen nennt Zarathustra ein Tanzen. Es wirkt zurück auf den Sprechenden und bezieht ihn ein in seinen Rhythmus. Als singender und tanzender stimmt er mit dem Dasein der Tiere überein. „Heile mit neuen Liedern deine Seele", rufen die Tiere Zarathustra zu. Deshalb soll er zu den Singevögeln gehen. Und tatsächlich schließt „Der Genesende" damit, daß Zarathustra seiner Seele Lieder singt. An diesen wird seine Übereinstimmung mit den Tieren offenbar, die sich, überflüssig geworden, still davon machen. Die Tiere repräsentieren Zarathustras Selbst. Indem er singend ihre Sprache angenommen hat, hat er die Übereinstimmung mit sich selbst gefunden. Die ewige Wiederkunft in ihm hat ihn nun ganz durchdrungen. Er ist selbst und ganz zur rhythmischen Gestalt geworden. Aber die Tiere lehren ihn nicht nur und nidit einmal primär die Wiederkunft als ästhetisches Prinzip. Schon bei der schockierenden Begegnung mit ihr heißt sie „ein Gedanke". Die Wiedêrkunft wird von den Tieren explizit als Lehre vorgetragen. Sie ist der Inhalt der Lieder, die Zarasthustra singen soll. In der Wiederkunfts l e h r e sprechen die Lieder ihr Prinzip aus, indem sie es zum Prinzip von Natur und Kosmos erheben. Diese werden umgekehrt dadurch ästhetisiert, zugleich aber wird das ästhetische Prinzip allgemeinverbindlich erklärt. Das Selbst, zu dem der Zugang durch das ästhetische Gebilde vermittelt wird, ist zwar ein Einmaliges und Einzigartiges. Aber sein Rhythmus ist zugleich der von Natur, Geschichte und Kosmos. Dank dieser Korrespondenz ist das Selbst doch nicht im letzten einsam. Indem Zarathustra nicht nur den Übermenschen lehrt, sondern zugleich die ewige Wiederkunft aller Dinge, die das Gesetz des individuellen Selbst universal macht, ist die gedankliche Voraussetzung für einen möglichen Erfolg seiner Lehre geschaffen. Daher aber ist seine Lyrik immer zugleich Predigt. Die ästhetische Fassung des Wiederkunftsgedankens ergibt sich auch von einem andern Punkt her. Bei Kant begleiten Lust und Unlust die Urteilskraft 43 . Das Schöne hat eine notwendige Beziehung auf das Wohl42 48

Sdilechta a.a.O. Kant, Kritik der Urteilskraft. Einleitung X L V " 7

15*

gefallen. Die Wirkung des Schönen und der Kunst auf den Menschen besteht auch für Nietzsche in der Erregung von Lust. Doch faßt er „Lust" stärker als Befindlichkeit des Leibes. Sie ist für ihn eine Äußerung von dessen „großer Vernunft". In ihr fühlt das Selbst sich selber. Von der Lust aber heißt es im „trunkenen Lied", das das berühmte „O Mensch gib Acht" glossiert: Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Allessich-ewig-gleich.44 Oder mit den Worten des Vorbilds Denn alle Lust will Ewigkeit Will tiefe, tiefe Ewigkeit. 45 Der Wiederkunftsgedanke ist die Entsprechung des Selbst im Bewußtsein. Das Lied, das davon singt, bildet die Verbindung zwischen beiden. Im Grunde entspringen damit beide aus ihm, es ist der Kern von Mensch und Welt. Die Einreihung dieser Auffassung in den uns interessierenden Motivzusammenhang unternimmt der letzte Teil des „Ja- und AmenLiedes", das den dritten „Zarathustra" beschließt: Wenn idi je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit Vogel-Weisheit kam: — — so aber spricht Vogel-Weisheit: „Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! spricht nicht mehr! — sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem Leichten nicht alle Worte! Sprich nicht mehr!" O wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe — dem Ring der Wiederkunft? Nie noch fand idi das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe; denn idi liebe dich, o Ewigkeit! D e n n ich liebe dich, o Ewigkeit!4® 44

Schlechte I I , S . j j 6

45

A . a . O . S. y 57. — In der Glossierung heißt es „ D e n n alle Lust etc.", in der anschließenden Zitierung des ganzen Gedichts dagegen „Doch alle Lust etc.". D e r Unterschied ist lediglich einer des syntaktischen Bezugs.

«

Sdilechta I I , S . 4 7 6

¿28

Hier vollends wird deutlich, daß die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen die Objektivation der Selbstbezauberung durch ein eigenes Lied ist, so wie das Selbst zuvor schon in der Aufforderung zu singen sein inneres Gesetz äußert. Die ästhetische Selbstbezauberung erweitert sich zur Bezauberung der Welt, welche jener zur Objektivität verhelfen würde. Motivgeschichtlich knüpft dieser Abschnitt an das Sonett von Giordano Bruno an. Es ist nicht verwunderlich, daß Nietzsche dieses wie ein eigenes Gedicht aufnahm 47 . Brunos Ich schwingt sich auch in eigene Himmel auf und macht sich frei von allen vorgegebenen Orientierungen,. Doch es fühlt sich dabei von einer ihn transzendierenden göttlichen Kraft getrieben, und auch der Raum, in den es sich aufschwingt, ist ihm von Gott in Gestalt des Äthers erfüllt. Hier bei Nietzsche fehlt dieser Rahmen. Der Aufschwung setzt sich auch nicht mehr gegen Widerstände durch. Er geschieht spielend. N u n erst kommt zum Vorschein, daß ihm ein Zirkelverhältnis zugrunde liegt. Das Ich fliegt mit eignen Flügeln in eigne Himmel. Es entwirft seinen Raum und ist zugleich in diesem Raum enthalten, ist sich selbst Schöpfer und Geschöpf. So ist es mit sich eins. Wir glauben von da auch Zarathustras Tiere, die sein Selbst repräsentieren, deuten zu können. Sie stammen aus der Emblematik. Der Adler ist uns als Emblem für Stolz und Selbstbewußtsein begegnet. Die Schlange als Schlangenring ist ein Sinnbild der Ewigkeit. Eine der zu ihr gehörenden Devisen heißt „Finis ab origine pendet" 48 , und ein Wappenspruch erklärt sie: Anulus in sese revoluti circulus anguis Aeternum signans est Hieroglyphicon. 49 Adler und Schlange Zarathustras deuten an, daß die ewige Wiederkunft des Gleichen sein Selbst ausmacht. Der zitierte Abschnitt korrespondiert aber auch bis in Einzelheiten mit dem Anfang von Baudelaires „Elévation". Während bei Baudelaire der Geist von der Höhe herunter- und zurückgeholt wird in den Bereich natürliche Offenbarungen, fühlt sich hier das überschwengliche Ich 47

48 40

Vgl. Anm. 2 zum Kapitel über Giordano Bruno in den „Vorstudien" dieser Arbeit. Emblemata Sp. 653 A.a.O. Sp. 6 j 4

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stark und frei genug, seine Position zu behaupten und ewig zu reproduzieren 50 . Wir kehren zum Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht" zurück. Der Exkurs über die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen hat erbracht, daß einer ihrer Aspekte, wenn nicht gar der grundlegende, ästhetischer Art ist, was dazu berechtigt, die auffallenden Wiederholungstendenzen des Gedichts darauf hin zu deuten. Die Verfremdungen der gewöhnlichen Sprache zielen auf diese Wiederkunft des Gleichen. Demnach lassen sich in dem Gedicht zwei Sprachen unterscheiden. Die eine ist die Gemeinsprache, welche im Wesentlichen die Argumentation trägt. Sie ist verständlich und tendiert auf Kommunikation des Einsiedlers mit den Freunden. Die andere ist die emphatische und rhetorisch verfremdete Sprache. Sie instrumentiert die Gemeinsprache mit sprachsinnlichen Mitteln. Ihr geht es um suggestive Wirkungen. Ihr Gesetz ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Diese beiden Sprachen lassen sich Ich und Selbst des Einsiedlers zuteilen. Das von den Freunden her geprägte Ich-Bewußtsein bedarf der Gemeinsprache. Gegen diese drängt die Sprache des Selbst an. Am reinsten kommt sie in der Jäger-Strophe zu Wort, die deshalb auch am schwierigsten zu verstehen ist. Audi Anfang- und Schlußstrophe sind weitgehend ihr zuzuredinen, wie überhaupt die Emphase ihre unmittelbarste Ausdrucksform ist. Die Formel „Ewige Wiederkehr des Gleichen" wurde als Umschreibung von Rhythmus verstanden. Man kann jedoch nicht sagen, daß, was als Sprache des Selbst bezeichnet wurde, besonders rhythmisch sei. Was wiederkehrt, sind Redeteile, Wörter, Laute, also rhetorische Elemente, nicht Kola. Das gibt diesem Gedidit wie auch andern Nietzschegedichten die spröde Trockenheit des Tones. Audi Zarathustras „Lieder" sind eher deklamiert als gesungen. Man kann darin einen ästhetischen Mangel sehen. Doch er hat offensichtlich Methode. Er steht im Zu50

D a s Verhältnis Nietzsches zu Baudelaire bedürfte einer eingehenden U n t e r suchung. Einerseits stellte Nietzsche Baudelaire in die N ä h e Wagners und ließ ihm entsprechende Verachtung zuteil werden, andererseits bewunderte er Baudelaires schonungslose Selbstanalyse in „ M o n cœur mis à n u " , das er ausgiebig exzerpierte. Die N ä h e beider scheint mir weniger groß zu sein, als Benjamin sie sah: „ D i e heroische H a l t u n g v o n Baudelaire dürfte der N i e t z sches auf das nächste v e r w a n d t sein. Wenn Baudelaire am Katholizismus festhält, so ist doch seine E r f a h r u n g des Universums genau der E r f a h r u n g zugeordnet, die Nietzsche in dem S a t z f a ß t : G o t t ist tot." Schriften, I, S . 4 8 3

230

sammenhang damit, daß Nietzsches Lyrik zugleich monologisch und dialogisch ist. Sie gibt den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit nicht auf, obwohl sie doch auch einsame Lyrik sein will. Noch in Nietzsches reinstem lyrischem Gebilde, „Venedig", das er als Kranker auf der Reise von Turin nach Basel sich selber sang, wird die von einem schwebenden Rhythmus getragene Stimmung mit der Schlußfrage „Hörte jemand ihr zu?" zerbrochen. Der dichterischen Realisierung der ewigen Wiederkunft wirkte der Drang, sie mitzuteilen, entgegen. Was im bezug auf den Einsiedler des Gedichts als Sprache des Selbst bezeichnet wurde, darf nicht als Ausdruck von Nietzsches eigener Spontaneität mißverstanden werden. Das Selbst kann gerade nicht unmittelbar zur Sprache kommen, weil die normale Sprache auf die intersubjektive Wirklichkeit ausgerichtet ist. Diese muß unter das Gesetz der Wiederkunft gezwungen werden. Nietzsches Entwürfe zu dem Gedicht lassen ermessen, welche Mühe es ihn kostete, Gedankengang und poetische Gestalt zu vereinen. Das ungewöhnliche Strophenmaß war nicht leicht zu füllen. Wie ein gefangener Vogel flatterte Nietzsche in dem Käfig des selbstgewählten Reimschemas. Diese Arbeitsweise erinnert an diejenige C. F. Meyers. Auch Nietzsche „machte" seine Gedichte, ohne daß ihm die Improvisation zu Hilfe kam. Aber er arbeitete kleinräumiger. Man gewinnt den Eindruck, als habe sich ihm erst bei der Arbeit geklärt, was er mit einer Strophe sagen wollte. Meyer dagegen setzte am Anfang oft schlechte aber fertige Fassungen auf das Papier, aus denen er dann mit immer neuen Veränderungen die endgültige Kunstgestalt herauspräparierte. Auf Nietzsches Verfahren läßt sich eine frühe Stelle aus dem ersten Band von „Menschliches-Allzumenschliches" beziehen: Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Kontrapunkts und der Fuge in der Entwicklung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredsamkeit. Sich so zu binden kann absurd erscheinen; trotzdem gibt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisieren herauszukommen, als sich zuerst auf das Allerstärkste (vielleicht Allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie 231

die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist .. . 5 1 Die Metaphorik des Bergsteigens schafft eine Verbindung zum Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht". Dichten und Bergsteigen sind in Analogie gebracht. Den Berührungspunkt bildet der Akt der Selbstüberwindung. Wie der Mensdi, den der Einsiedler darstellt und Zarathustra lehrt, durch Überwindung zu sich selbst kommt, so kann nur ein künstliches Gedicht, das alles „Naturalisieren" aufgegeben hat, zum Äquivalent des Selbst werden. Was für den Dichter ein solches Machen, ist für den Leser das Aufnehmen. In unserem Gedicht hat er eine solche Selbstüberwindung nur halb zu leisten, wie im Einsiedler Ich und Selbst noch nicht ganz zur Übereinstimmung gebracht sind.

IV. Nietzsches Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht" hat eine Geschichte, deren Einbeziehung sein Verständnis zu erweitern vermag. Die ersten Entwürfe zu Strophen des Gedichts enthält ein N o t i z J buch Nietzsches52, das auf seiner hintersten Seite — Nietzsche beschrieb seine Hefte von hinten nach vorn — datiert ist „Ende Oktober 1884, Zürich. Pension Neptun." Die Entstehung läßt sich durch zwei weitere Notizbücher aus dieser Zeit verfolgen 5 ®. Diese drei Hefte enthalten außerdem Aphorismen zu „Jenseits von Gut und Böse", ZarathustraFragmente, die Gedichte "An den Mistral", „Rimus Remedium", „SilsMaria", „Der Freigeist", „Die Krähen schrein". Auch tauchen darin Bruchstücke zu den Liedern des vierten Zarathustra auf. Das eine davon 54 enthält zudem zwei Listen zu einer Gedichtsammlung „Lieder eines Einsiedlers", die durch unser Gedicht eröffnet und mit „An den Mistral" beschlossen werden sollte. „Einsiedlers Sehnsucht" sprach einen bestimmten Adressaten an. Ende November 1884 übersandte es Nietzsche mit den Worten: „ — Dies ist für Sie, mein werther Freund, zur Erinnerung an Sils-Maria und zum Dank für Ihren Brief, einen s o l c h e n Brief! F. N." 5 5 an Heinrich von Stein nach Berlin. „Einsiedler" war zu der 51 5Î 5S 54 55

S chiedi ta I, S. J77 Ζ II 5 Ζ II 6, Ζ II 7 Ζ II 7 Briefe III, S. 243

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Zeit eine von Nietzsche gern war Ausdruck seiner eigenen um Heinrich von Stein zum einen kurzen Blick auf dessen

verwandte Selbststilisierung. Das Gedicht Sehnsucht. Er sprach sie im Gedicht aus, „neuen Freund" zu werben. Das macht Biographie notwendig.

Heinrich von Stein war 1857 geboren 5 '. Er stammte aus einer frommen Familie. Erst studierte er Theologie, wandte sich dann aber der Philosophie und den Naturwissenschaften zu. Nach der Dissertation „Über die Wahrnehmung" verfaßte er ein lyrisch-philosophisches Werk „Die Ideale des Materialismus". Der erste Satz faßt Steins Entwicklung in die Sätze: Mit fünfzehn Jahren war ich jesugläubig, mit achtzehn Jahren atheistisch, mit zwanzig Jahren Materialist. Eine Lüge zuerst, dann einç Bekehrung und dann eine Religion. 57 Stein bekannte sidi darin als Anhänger Eugen Dührings. Er kam von einem materialistischen Ansatz her zu Gedanken, die sich eng mit solchen Nietzsches berührten. Ihm ging es darum, daß der Mensch seine „Eigenbedeutung" findet, die sich „mit dem Ruhm gleichsam vor Gott und den Menschen deckt" 58 . Sie entspricht jenem von Nietzsche anvisierten Selbstbewußtsein, das nur im Individuum selber gründet. Stein faßte eine zukünftige Gesellschaft aus solchen Individuen ins Auge, die wie Säulen nebeneinander stehen sollten. Seine Vision einer zukünftigen Gesellschaft enthielt auch deutlich sozialistische Momente. In der Wahl seiner historischen Beispielfiguren verließ er auf selbständige Weise den Bildungskanon. Seine besondere Vorliebe galt Giordano Bruno und Jean Paul. Steins Dühringsdie Phase wurde Richard Wagner. Durdi Vermittlung er ein Jahr lang als Erzieher des Wagners künstlerische Produktivität 56

57 58 5e

abgelöst durch die Verehrung für Malwidas von Meysenbug 5 ' wirkte jungen Siegfried. Angeregt durch und die Regsamkeit seines Kreises

Z u Heinrich von Stein lag mir an Material vor: Heinrich von Stein, Gesammelte Diditungen, hrsg. von Friedrich Poske. 3 Bde, Leipzig: Insel o. J . — Hermann Glockner, Heinrich von Stein, Schicksal einer deutschen Jugend. Tübingen: Mohr 1934 (Philosophie und Gesdiidite, Heft 48). — Lou AndreasSalomé, Lebensrückblick, hrsg. von Ernst Pfeiffer. Zürich/Wiesbaden: Niehans/Insel 19$ 1. — Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin. Berlin: Schuster und Loeffler o. J . — Cosima Wagner und Houston St. Chamberlain im Briefwechsel, hrsg. von Paul Pretzsdi. Leipzig: Reclam 1 9 3 4 2 H . von Stein, Dichtungen Bd I, S. 3 A.a.O. S. 9 o M . von Meysenbug, a.a.O. Bd II, S. 304 f.

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dichtete Stein imaginäre Dialoge historischer Figuren, „Dramatische Bilder", die unter dem Titel „Helden und Welt", eingeführt von Wagner selbst, 1883 erschienen. Auch diese waren Darstellungen großer historischer Individuen in ihrer Einsamkeit. Wagner hatte den Kerngedanken in dem Satz gesehen: . . . w i e auch immer der gewaltige, dunkle Hintergrund der Dinge in Wahrheit beschaffen sein mag, der Zugang zu ihm steht uns einzig in eben diesem unserem armen Leben offen, und also schließet audi unser vergängliches Tun diese ernste, tiefe und unentrinnbare Bedeutung ein.60 Es berührt merkwürdig, daß dieser Mann, der sein Denken so sehr auf die Ausprägung des Individuums gerichtet hatte, seine Stelle im Hause Wagners schon nach einem Jahr aufgab, um sich einem väterlichen Wunsch zu fügen und auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Er habilitierte sich in Halle mit einer Abhandlung „Über die Bedeutung des dichterischen Elements in der Philosophie Giordano Brunos". Später erfolgte, seltsamerweise erst im zweiten Anlauf, eine Umhabilitierung nach Berlin. Audi als akademischer Lehrer hielt Stein an seiner Verehrung für Richard Wagner fest. Er hielt in Berlin Vorlesungen über Wagner und gab das Wagner-Lexikon mit heraus. Für die Jugend war er ein Idol. Er wurde es noch mehr, als er mit dreißig Jahren plötzlich starb. Steins Lebensgang brauchte uns hier nicht so ausführlich zu beschäftigen, würde darin nicht manche Parallele zu demjenigen Nietzsches sichtbar: die Phasen der inneren Entwicklung, die frühreife Intelligenz, die Verehrung für Schopenhauer, Dühring, Wagner, das missionarische Bewußtsein. In Paul Rèe, Malwida von Meysenbug, Wagner, Lou Salome hatten sie gemeinsame Bekannte, ehe sie sich persönlich begegneten. Nietzsche hatte gleich nach Erscheinen „Die Ideale des Materialismus" in die Hand bekommen. Der Briefwechsel zwischen beiden begann 1882, nachdem Stein die Initiative ergriffen hatte, Nietzsche kennenzulernen, ihn aber in Leipzig nicht angetroffen hatte. Nietzsche übersandte Stein die Bogen der „Fröhlichen Wissenschaft", die Stein mit denen von „Helden und Welt" erwiderte. Nietzsche schrieb ihm darauf: Was „den Helden" betrifft: so denke ich nicht so gut von ihm wie Sie. Immerhin: er ist die annehmbarste Form des menschlichen Daseins, namentlich wenn man keine andere Wahl hat. 60

H. von Stein, Dichtungen Bd II, S. 28

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Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es Einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne „unser höheres Selbst" nennen möchten): Gerade d a s gieb mir zum Opfer." Und wir gebens audi — aber es ist Thierquälerei dabei und Verbranntwerden mit langsamem Feuer. Es sind fast lauter Probleme der G r a u s a m k e i t , die sie behandeln: thut dies Ihnen wohl? Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich selber zuviel von dieser „tragischen" Complexion im Leibe habe, um sie nicht oft zu v e r w ü n s c h e η ; meine Erlebnisse im Kleinen und Großen, nehmen immer den gleichen Verlauf. Da verlangt es mich am meisten nach einer H ö h e , von wo aus gesehen das tragische Problem u n t e r mir ist. 61 Dieser Brief ist aus dem Denken heraus geschrieben, das wir in dem Gedicht kennengelernt haben. Auch die Topographie ist dieselbe. Das Selbst erscheint hier jedoch in weniger harmloser Gestalt. Als absoluter Gegenpol zu aller Gemeinsamkeit kann ihm keine Vermittlung genügen. So wird es zum Feind sogar dessen, dem es zugehört. Seine Kraft der Negation ist der Ausdruck seiner unaufhebbaren Jenseitigkeit. Erst wenn man seinen in diesem Brief anklingenden dämonischen Aspekt mit der apologetischen Gleichsetzung mit dem Leib zusammenhält, zeigt sich in der Paradoxie, in welchem Maße der Mensch, der auf Gott Verzicht getan hat, sich selber unheimlich geworden ist. Nietzsche übersandte Stein dann die ersten beiden Teile des „Zarathustra". Dieser nahm sie skeptischer auf, antwortete aber dodi mit Zustimmung. Die Gesinnungen und Ansichten, welche Sie in Ihrem neuesten Buche aussprechen, muthen mich so verwandt und vertraut an, wie ich dies nie erwarten konnte. Welcher Segen ruht auf diesem Buche, wenn es in einem Einzigen die große Sehnsucht — und zugleich das: Bleibt der Erde treu! bestärkt.®* Für den dritten „Zarathustra" revanchierte er sich mit eigenen Übersetzungen von drei Sonetten Giordano Brunos, die Nietzsche größten Eindruck machten: Diese Gedidite Giordano Bruno's sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, als ob idi sie gemacht hätte und für midi — und "

e!

Briefe III, S. 225 A.a.O. S. 227

23 Í

sie als stärkende Tropfen „eingenommen". J a wenn sie wüßten, w i e selten nodi etwas S t ä r k e n d e s von außen her zu mir kommt. 63 Daß Nietzsche von den Gedichten Brunos so unmittelbar betroffen war, verwundert nicht. Sie paßten genau in seine Motivwelt. Zwei davon haben den Aufschwung aus der Welt der Gewohnheit und der Schwere zum Thema. Und in Steins Sprache ist stellenweise das Echo des Zarathustra-Stils zu vernehmen, etwa in den Zeilen: Erkühne — erkenne dich! Erklimme Die heiligen Firnen: Denn nun bist du bei Gott, du fluthest, Ein Flammenmeer, empor. 64 Nietzsches Dank dafür enthält auch einen Hinweis darauf, was ihm Gedichte überhaupt bedeuteten. Sie waren ihm Medizin, die ihn zu stärken vermochten. Dabei waren vor allem eigene Gedichte einer solchen stärkenden Wirkung fähig. Das erinnert an das Pygmalionische der Jugendgedichte Schillers. Es wird auch f ü r „Einsiedlers Sehnsucht" in Rechnung zu stellen sein. Das Briefgespräch, das so viele Gemeinsamkeiten zu Tage gefördert und so schnell bei Nietzsches zentralen Themen angelangt war, fand seine Krönung in einer beinahe festlichen Begegnung im August 1884 in Sils-Maria. Nietzsche w a r tief davon gerührt, daß Stein, einzig und allein um ihn zu sprechen, von Berlin her f ü r drei Tage ins Oberengadin gereist war. Es scheint zu Momenten intensiver Verständigung gekommen zu sein, was auch Steins nachträglich eher distanzierte Berichte erkennen lassen. In den anschließenden gegenseitigen Dankesbezeugungen zittert spürbar die Freude darüber nach, daß einer sich im andern erkannt hatte und erkannt sah. Aus dem Gefühl, endlich einen ebenbürtigen Freund gefunden zu haben, übersandte Nietzsche an Stein drei Monate später das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht". Nietzsche hatte in Stein wohl zunächst einfach einen menschlichen Freund im Auge, der ihn von der Einsamkeit befreien würde, ohne deren Sinn zu zerstören. Aber seine Hoffnung enthielt auch ein utopisches Moment im Sinne der folgenden Nachlaßnotiz: Wenn ich mich jetzt nach einer langen freiwilligen Vereinsamung wieder den Menschen zuwende, und wenn ich rufe: wo seid ihr, M 64

Aa.a.O. S.231 A.a.O. S. 229

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meine Freunde — so geschieht dies um großer Dinge willen. Ich will einen neuen Stand schaffen: einen O r d e n s b u n d höherer M e n s c h e n , bei denen sidi bedrängte Geister und Gewissen Rats erholen können.65 Mit Stein hätte die Zukunft, wie Nietzsche sie herbeisehnte, ihren Anfang nehmen sollen. Er wäre damit vor sich selbst und vor der Welt gerechtfertigt gewesen als Prophet einer neuen Zeit. Sein jahrelanges trotziges Leiden hätte einen objektiven Sinn offenbar gemacht. So mußte Nietzsche der August 1884 als ein Kairos von weltgeschichtlicher Bedeutung erscheinen. Schon während der Begegnung mit Stein scheint Nietzsche solche Gedanken geäußert zu haben, verhüllt in den Mythos von Philoktet. Stein berichtet darüber zustimmend: In jedem Sinn traf N . das Rechte, als er der Stimmung nach unsere Zusammenkunft mit der Handlung des Philoktet verglich. Die ruhige Erhabenheit eines schönen Tages dort oben in Sils im Oberengadin ließ uns aufatmen aus tiefstem Gefühl des Welttragischen heraus, atmen im Lichte des Aeschylos, des Heraklit. 66 Das Werbe-Gedicht führte, wie wir gesehen haben, die mythische Identifikation weiter aus. Es sann Stein mit dem Hinweis auf das Kind offensichtlich die Rolle des Neoptolemos an. Doch davor widi Stein zurück: Wiederum auf einen s o l c h e n Anruf bliebe mir nur Eine Antwort: zu kommen; mich dem Verständnis des Neuen, was Sie zu sagen haben, zunächst einmal ganz und gar als einem edelsten Berufe zu widmen. Dies ist mir versagt. . . . Lassen Sie mich, mit herzlicher Aufrichtigkeit, auf ein Bedenken eingehen, was idi in Ihrem Gedichte, wie in Ihrem vorhergehenden Briefe anklingen höre. In dem letzteren gaben Sie unserer Zusammenkunft das ergreifende Symbol des Philoktet. Sie sprachen von dem Philoktetglauben. Ich theile diesen Glauben, nämlich: daß ohne die Pfeile des Philoktet Troja nicht erobert wird. Glaubt Neoptolemos darum weniger, daß d e r t o d t e H e l d den größten Antheil an der Eroberung Trojas habe? Wird ihn dieser Glaube hindern, den Philoktet zu verstehen? Giebt ihm nicht vielmehr dieser Glaube ein, einem Philoktet in jedem Falle gänzlich un-Odysseisch zu begegnen?67 «

M A X V , S. 247 Zit. Glockner, Stein S. 41 «· Briefe III, S. 247 ββ

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Der tote Held — das war im Gleichnis Achill, in Wirklichkeit Richard Wagner. Stein entzog sich Nietzsches Werbung unter Berufung auf Wagner. Die Beziehung suchte er dadurch aufrecht zu erhalten, daß er Nietzsche im selben Brief zur gelegentlichen Mitarbeit am WagnerLexikon einlud. Manches weist darauf hin, daß Nietzsche in Stein ein alter ego gesehen hatte, das nach einer analogen Entwicklung nun auch noch den entscheidenden letzten Schritt, den über Wagner hinaus, tun würde, um seine Stufe zu erreichen. Daß Stein seine Freundschaft ausschlug, und zwar so, daß er ihm ausgerechnet Wagner vorzog, verletzte Nietzsche tief. Wagner erschien ihm zu dieser Zeit als der Schauspieler, der ganz auf den Beifall seiner Umgebung ausgerichtet gewesen war und sich damit von dieser sein Selbst hatte zudiktieren lassen. Deshalb hatte Wagner nach Nietzsches Meinung auch an den christlichen Wertvorstellungen festgehalten. Nietzsches Antwortentwürfe verraten Erbitterung und Zorn. Er legte sie darauf an, Stein den Unterschied zwischen sich und Wagner deutlich zu machen. Ich weiß sehr gut, daß Ihre Liebe und Verehrung für R. W. zu groß ist, als daß Sie einen M[enschen] erkennen könnten, der grundsätzlich von ihm verschieden ist. Was würden Sie von mir denken, wenn ich Ihnen sagte, daß ich R. W. ebenso tief bedaure als verachte? Sie werden denken, ich sei verrückt. Es ist mein Los, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen so v i e l von mir zu verraten. —68 Das ist der Versuch, die Selbstpreisgabe zurückzunehmen, sich wieder zu verhüllen und zu verrätsein, mit Berufung auf grundsätzliche Unerkennbarkeit. Zu diesem Rückzug gehört als Komplement die nachträgliche Herabsetzung des Umworbenen wie im folgenden Brief an die Schwester: Glaubst Du wirklich, daß Steins Arbeiten, die ich nicht einmal zur Zeit meiner schlimmsten Wagnerei und Schopenhauerei gemacht haben würde, von einer ähnlichen Wichtigkeit sind wie die ungeheure Aufgabe, die auf mir liegt? Oder hältst Du es meiner Würde gemäß, midi um seine Freundschaft zu bewerben? Ich bin viel zu stolz um je zu glauben, daß ein Mensch m i c h lieben könne. Dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, w e r ich b i n . Ebensowenig 88

Ebd.

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glaube idi daran, daß idi je jemanden lieben werde: dies würde voraussetzen, daß idi einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände. — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Richard Wagner und A . Schopenhauer, um einiger persönlicher Dinge willen, ebensosehr verachte als tief bedaure und daß idi selbst den Stifter des Christentums in mancher Hinsicht oberflächlich empfinde.69 Das Verhältnis zu Stein war für immer gestört. Doch als Stein 1887 plötzlich starb, nannte ihn Nietzsche gegenüber Gast einen der „ganz wenigen Menschen, an dessen Dasein ich Freude hatte". 70 Der Verlauf der Begegnung mit Heinrich von Stein ist typisch für Nietzsches Versudie, aus seiner Einsamkeit auszubrechen. Er bestätigt auf unheimliche Weise jene Gesetzmäßigkeit, die Nietzsche selbst zu Beginn des Kontaktes mit Stein in der zitierten Antwort auf „Helden und Welt" mit schonungsloser Klarsicht dargelegt hatte. Im Falle Steins schien jedoch nicht sein eigensüchtiges Selbst der Urheber des Bruches zu sein, sondern der in Aussicht genommene Freund. Das Werbe-Gedicht aber läßt erkennen, daß bereits im Kriterium der Wahl, wenn es konsequent beibehalten wurde, der Mißerfolg angelegt war. Das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht" war direkt an Heinrich von Stein adressiert. Er sollte damit für Nietzsche gewonnen, ja eigentlich zu ihm bekehrt werden. Das ist der äußere Grund für das Nebeneinander von dichterischer und Gemeinsprache. Das Gedicht mußte verständlich bleiben, wenn es seinen Zweck erreichen sollte. Hatten wir bisher den Akzent darauf gelegt, daß dieser Wille zur Kommunikation der reinen Sprache des Selbst im Wege stand, so tritt nun die Umkehrung davon hervor, daß das Gesetz von der Wiederkehr des Gleichen der wirklichen Verständigung entgegenwirkt. Der Einsiedler versucht im Gedicht, sich durch die Abwehr der alten Freunde von seiner eigenen Vergangenheit zu befreien. Doch ist der Vorwurf an die alten Freunde grundsätzlicher. Er betrifft überhaupt ihr Anderssein. Daß sich der Einsiedler in ihrer Gegenwart seiner Veränderung bewußt wird, genügt ihm schon, sie preiszugeben. Er hatte sich in seiner Einsamkeit die Jugendfreundschaft als völligen Einklang vorgestellt, in dem die Einzelnen aufgehoben waren in einer Gruppenidentität. Daher kann er nun nicht anerkennen, daß die Freunde Wesen eige«» Zit. Glockner S. 42 70 An Gast am 27. Juni 1887. Schiedita III, S. 1 2 5 7

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ner Art sind. Wer nicht unmittelbar mit ihm übereinstimmt, ist gegen ihn, resp. dessen Gegner ist er. Da er den Bezug auf die Gemeinschaft nicht aufgeben und doch zu einem angemessenen Selbstbewußtsein gelangen will, sieht er in dem Anderssein der Andern eine Gefahr für sich selbst. Darin zeigt sich die Paradoxie des Einsiedlers ohne Gott, daß er in der Einsamkeit sich auf jemand andern beziehen muß, um sich davon absetzen und so überhaupt bewußt erfassen zu können. Er untersteht der verzwickten Dialektik der Eitelkeit, die Nietzsche oft besonders klarsichtig beschrieben hat. Die erhoffte Gemeinschaft trägt dieser Problematik dadurch Rechnung, daß sie aus solchen Freunden bestehen soll, deren Wesen mit dem Einsiedler verwandt wären. In ihnen wäre die unüberbrückbare Andersheit aufgehoben. Als andere wären sie für den Einsiedler zugleich seinesgleichen. Die Beziehung zu ihnen brächte uneingeschränkte Selbstbestätigung. Die so konzipierten neuen Freunde können bestehen, weil sie noch nicht Wirklichkeit geworden sind. Als erhoffte unterstehen sie noch ganz der Einbildungskraft des Einsiedlers. Er entwirft Spiegelbilder seiner selbst, um von ihnen ein reines Selbstbewußtsein zu gewinnen und garantiert zu bekommen. In diesem Entwurf spukt das Gesetz der Wiederkunft des Gleichen pygmalionhaft. Der Einsiedler gewinnt von den neuen Freunden nur, was er ihnen verliehen hat. Er gesteht ihnen kein Eigenleben zu. Es sind seine Projektionen, die er erwartet. Diese Problematik kommt im Gedicht darin zum Ausdruck, daß der Schluß in den Anfang mündet. Wir haben gesehen, daß Hoffnung und Erinnerung das Überspringen der Gegenwart gemeinsam ist. Mit den erinnerten alten Freunden bestand für den Einsiedler dieselbe ungestörte, weil fiktive Eintracht wie mit den erhofften neuen. Aber wie sich die Erinnerung durch die Realisierung als Täuschung erwies, liegt in der Hoffnung der Keim neuer Enttäuschung. Das Gesetz der Wiederholung kann nicht außer Kraft gesetzt werden, wenn nicht das Selbst sich preisgeben soll. Unter diesen Auspizien stand Nietzsches Werben um die Freundschaft Heinrichs von Stein. Dieser konnte der Rolle nicht genügen, die ihm zugedacht war. Vom Gedicht her gesehen liegt im Scheitern von Nietzsches Werbung über die individuellen Ablehnungsgründe Steins hinaus eine innere Notwendigkeit. Kein lebendes Wesen konnte Nietzsches Ebenbild sein. So denken heißt jedoch das Leben literarisch sehen, heißt absehen von den unberechenbaren und unerwarteten Chancen, die es immer enthält. Aber Nietzsche selbst verquickte Literatur und Leben, 240

als er mit seinem Gedicht um Steins Freundschaft warb71. Folgerichtig hatte dessen Rückzug Konsequenzen für das Gedicht. V. Als Nietzsche das Gedicht unter dem Titel „Aus hohen Bergen" als „Nachgesang" zu „Jenseits von Gut und Böse" 1887 erstmals veröffentlichte, hatte er es zwar nur geringfügig verändert und einige Strophen umgestellt. Aber er hatte ihm zwei durdi Sternchen abgesetzte neue Sdilußstrophen angefügt, die es entscheidend verwandelten. Dies Lied ist aus — der Sehnsucht süßer Sdirei Erstarb im Munde: Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde, Der Mittags-Freund — nein! fragt nicht, wer es sei — Um Mittag wars, da wurde Eins zu Zwei Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, Das Fest der Feste: Freund Z a r a t h u s t r a kam, der Gast der Gäste! Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis.. ,72 Damit ist Zarathustra an die Stelle getreten, die Nietzsche Heinrich von Stein zugedacht hatte. Er brachte als „Freund der rechten Stunde", des Kairos, die Sehnsucht zum Verstummen. Einen Hinweis darauf, was das bedeutet, enthält die Formel „da wurde Eins zu Zwei". Sie ist ein Zitat aus Nietzsches Gedicht „SilsMaria". Aus den Entwürfen zu diesen neuen Strophen geht hervor, daß Nietzsche erwogen hatte, noch deutlicher darauf anzuspielen: Hier saß ich wartend, wartend — doch auf Nichts Du Zarathustra, du verläßt midi nicht, Freund Zarathustra. 78 Ein Selbstzitat also anwortet auf die Frage nach den neuen Freunden. 71

72 n

Die Verwechslung von Literatur resp. Kunst und Leben gehört zu den Charakteristika des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In der Ästhetik des Jugendstils wurde sie programmatisch. Sdiledita I I , S. 757 Die Entwürfe zu den beiden Sdilußstrophen sind in dem Notizbuch W I 8, S. 105, 106, 103, 104 enthalten. Die zitierte Stelle S. 106 241

16 Pestalozzi» Lyrisches Idi

Tatsächlich ist Zarathustra dadurdi geeignet, die Sehnsucht zu stillen, deren narzißtische Komponente uns deutlich geworden war, daß er Nietzsches Doppelgänger ist. In seine Gestalt hatte sich bei der berühmten Vision am Silvaplanersee Nietzsches Selbst von sich aus objektiviert. Er war ein reines Produkt der Einbildungskraft. Stein und andern gegenüber hatte ihn Nietzsche als „Sohn" 74 bezeichnet, und in einem Brief an Rohde heißt es: „Mein ,Zarathustra 1 ist fertig g e w o r d e n . . . Es ist alles drin mein Eigen, ohne Vorbild, Vergleich, Vorgänger . . ."7S Audi dieser Brief übrigens kommt auf Zarathustra als Aequivalent für die verlorenen Freunde zu sprechen. Mit Zarathustra hatte sich Nietzsche sein Eigenstes zum Freund genommen. In ihm, dem reinen Spiegelbild, konnte er sich selbst rein erkennen. Zarathustras Einheit mit dem Selbst läßt sich wiederum auf dem Weg über das Höhenmotiv fassen. Er ist eigentlich der Genius der Höhe. Nicht nur war das Oberengadin die Stätte seiner Konzeption, auch bei der Ausarbeitung will Nietzsche in der Höhe gewesen oder aufwärts gegangen sein76. Der erste Satz stellt ihn als Bergeinsiedler vor, und auch der zweite und dritte Teil beginnen mit dem Aufstieg in die Höhe. Doch' wie das Selbst nichts Statisches ist, so hält es auch Zarathustra nicht auf den Bergen. Unstet steigt er auf und ab, auch in „Sils-Maria" geht er vorbei. Sich selber nennt er Weg, nicht Ziel. In jedem Sinn ist er transitorisch. Doch seine Bewegung verläuft in wiederkehrenden Phasen. Darin liegt seine Verwandtschaft mit der Sonne, auf die immer wieder angespielt wird. Wie sie steigt er auf und geht er unter. Uber die historische Anspielung auf den Sonnenkult des Zoroaster hinaus wird in dieser Parallele deutlich, daß seine Beweglichkeit der Ewigen Wiederkunft untersteht; ja er ist deren Personifikation. Sonnenumlauf und Höhe vereinigen sich im „Mittag". Das ist Zarathustras Zeit. Nicht daß das Selbst zu den andern Zeiten nicht bestünde. Aber am hohen Mittag tritt es unverhüllt in Erscheinung. Darum ist der Mittag die Zeit jenseits von Gut und Böse. Das Bild stimmt audi von der 74

A n Stein am 2 2 . M a i 1 8 8 4 . Briefe I I I , S . 2 3 1 . — Wichtig ist in diesem Z u sammenhang die folgende Stelle aus dem ersten „ Z a r a s t h u s t r a " : „.Einer ist immer zuviel um mich' — also denkt der Einsiedler. ,Immer einmal eins — das gibt auf die D a u e r z w e i ! Ith und M i d i sind immer zu eifrig im G e spräche: w i e w ä r e es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?'" Schiedita I I , S. 320. In „ A u s hohen B e r g e n " verläuft die A b f o l g e in der entgegengesetzten Richtung.

75

A m 2 2 . Febr. 1 8 8 4 . Schlechta I I I , S . 1 2 1 5 Ecce H o m o . Schiedita I I , S . 1 1 2 9

78

242

Gegenseite her. Die moralischen und mitmenschlidien Kategorien, mit denen der Mensch zum Ich-Bewußtsein zu gelangen sucht, sind bei Nietzsche oft, nicht zuletzt in Anlehnung an Piatos Höhengleichnis, Trübungen der Atmosphäre, Schatten, Dunst und Nebel. Sie verstellen die wahre Selbsterkenntnis. Die Erfahrung, die den Mittag zum Kairos der Erkenntnis macht, hat Walter Benjamin, auf unser Gedicht deutend, beschrieben: Kurze Schatten Wenn es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur nodi die schwarzen, scharfen Ränder am Fluß [Fuß?] der Dinge und in Bereitschaft, lautlos, unversehens in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuziehen. Dann ist, in ihrer gedrängten, geduckten Fülle, die Stunde Zarathustras gekommen, des Denkers im „Lebensmittag", im „Sommergarten". Denn die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten. 77 Zarathustra definiert sich indirekt selber als schattenloses Selbst, wenn er von sich sagt: Und wer das Idi heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig, wahrlich, der spricht auch, was er weiß, ein Weissager: „Siehe, er kommt, er ist nahe, der große Mittag." 78 Aus dem mittäglichen Ofienbarwerden des Selbst in Zarathustra gewinnt der Einsiedler einen Freund, der ihm zu einem Bewußtsein verhilft, das nicht mehr im Widerspruch mit ihm steht. Der Unterschied von Licht und Schatten, von Instinkt und Bewußtsein fällt dahin. Dadurch, daß Eins zu Zwei wurde, wird nun wiederum Zwei zu Eins. „Die Hochzeit kam von Licht und Finsternis." Dieser Schlußsatz eröffnet heilsgeschiditlidie Perspektiven. Der historische Zarathustra hatte, so sah ihn Nietzsche, den Gegensatz von Hell und Dunkel ins Metaphysische erhoben und damit „den verhängnisvollen Irrtum, die Moral" geschaffen78. Verhängnisvoll war er deshalb, weil Moral ein autonomes Idi voraussetzte, das glaubte, in eigener Verantwortung gewissenhaft urteilen und handeln zu müssen. Nietzsches Zarathustra heißt in den Entwürfen zu den Sdilußstrophen auch „mein 77 78 78

Benjamin, Schriften Bd II, S. 22 Sdiledita II, S. 439 Zit. C . A . Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Jena: Diederidis 1908. I, S. 397

243 16*

höheres Gewissen"80. Seine Maßstäbe sind nicht mehr Gut und Böse. Er bewegt sich wie das Selbst jenseits davon. Sein Kriterium ist Kraft. Indem das Idi nun an ihm seinen Maßstab bekommt, ist durch den Zarathustra redivivus der durch den historischen Zarathustra aufgerissene Gegensatz aufgehoben. Es beginnt die Zeit des Übermenschen, in dem Können, Sein und Sollen eins geworden sind. Zarathustra ist dessen Vorläufer und Verkündiger. Von dem neuen Schlüß des Gedichtes her erscheint „Einsiedlers Sehnsucht" als Versuchung des Einsiedlers. Er hatte nach dem Tod Gottes die Position in der Höhe eingenommen, um da auf eine neue Offenbarung zu warten. Daß er darauf verfiel, die Bestätigung seines Auftrages von anderen Menschen, den alten und den neuen Freunden, zu erwarten, war eine Anwandlung von Schwäche. Er suchte sich damit der Last seineç Einsamkeit unzeitgemäß zu entledigen. Der Mißerfolg dieses Ausbruchversuchs wies ihn auf seine Aufgabe zurück. Er führte ihn zugleich zur Erkenntnis der neuen Offenbarung, auf die er gehofft hatte. Zarathustra, „der Gast der Gäste", ist es, der sich auf hohen Bergen offenbart. Auf ihn hat der Einsiedler gewartet, ohne daß er es wußte. Sein Geburtstag, den er lange mißverstand, brachte ihm und der Welt die Wiedergeburt Gottes in neuer Gestalt. Zarathustra vermittelte seinem Bewußtsein sein eigenes Selbst und erklärte sich zum Heiland aller im falschen Idi-Bewußtsein gefesselten Menschen. Allen Altern, Geschlechtern, Ständen versprach er Erlösung zu sich selbst. Bedeutsamer als die einzelnen Lehren Zarathustras wurde, daß er eine erdichtete Gestalt ist. Seine Existenzform ist die Literatur. Daß er an die Stelle Gottes und der Freunde tritt, bedeutet nichts geringeres, als daß die Funktion der Selbstvermittlung ganz an die Literatur gefallen ist. Das Buch muß nun schaffender Spiegel sein, jedes wird zum Buch der Bücher. Literatur soll die Menschen nicht mehr zerstreuen, sondern auf sich selbst konzentrieren. Medium ist aber gerade nicht die Gemeinsprache, sondern eine geheimnisvolle esoterische Sondersprache, die von allen andern Zwecken befreit ist: die Poesie. Bei Nietzsche lassen sich aus allen Stadien seines Lebens Belege dafür beibringen, daß für ihn aus Büchern, eigenen oder fremden, die Erkenntnis seiner selbst erwuchs. In einer frühen autobiographischen Skizze findet sich schon der Satz: „Überhaupt war stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen. Diese kleine Eitel80

Du bleibst mir treu mein höheres Gewissen W I 8, S. 106

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keit habe ich jetzt immer noch."81 Der Ausdruck Eitelkeit erhellt die kuriose Absicht. Sie tendiert darauf, Berühmtheit und Ansehen vor und für sich selbst zu gewinnen82. Gehn wir zu weit, wenn wir darin schon die Problematik angedeutet sehen, um die „Einsiedlers Sehnsucht" kreist und die sich dann auch durch das Lesen des eigenen Buches löst? Der Jugendäußerung korrespondiert eine an Peter Gast aus der Zeit unmittelbar vor dem Zusammenbruch: Idi blättere seit einigen Tagen in meiner Literatur, d e r ich jetzt zum erstenmale mich gewachsen fühle. Verstehen Sie das? Ich habe alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt — im Gegenteil! . . . Zum Beispiel die diversen V o r r e d e n , das f ü n f t e Buch „ g a y a s c i e n z a " — Teufel, was steckt da drin? — Über die d r i t t e und v i e r t e Unzeitgemäße werden Sie in E c c e h o m o eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn — m i r standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, a n t i c i p a n d o . . . Weder Wagner noch Schopenhauer kamen psychologisch drin v o r . . . Ich habe beide Schriften erst seit vierzehn Tagen v e r s t a n d e n . — Zeichen und Wunder! 83 1876 hatte Nietzsche an Rohde als Antwort auf dessen Heiratsanzeige ein Gedicht gesandt, in dem er zu sagen versuchte, weshalb für ihn die Ehe nicht so nötig sei, nachdem er zuvor erklärt hatte: „Meine Not ist anders: idi weiß es kaum zu sagen und zu erklären." Auf das Gedicht aber folgt der Satz: „So geredet zu mir, nachts nach der Ankunft Deines Briefs." 84 Wir hatten oben gesehen, daß Nietzsdie Brunos Gedichte wie eigene aufnahm und Stärkung aus ihnen zog86. Dieses Verhältnis von Autor und Gedicht ist zu unterscheiden von 81

Sdilechta I I I , S. 2 1

82

D i e Eitelkeit ist f ü r Nietzsche ein wichtiges Thema, weil in ihr modellartig ein Verhalten z u m Ausdruck kommt, bei dem sich der Einzelne von seiner U m w e l t her versteht und bestimmen läßt, genauer von dem Bild, von dem er glaubt, das es sich die U m w e l t v o n ihm macht. D i e Tendenz Nietzsches ging auf die Autonomie des Idi. D a r i n berührt er sich mit derjenigen Baudelaires, wie sie in dem S a t z zum Ausdruck kommt: un

grand

homme

et

un

saint

„ A v a n t

tout,

être

pour soi-même." M o n cœur mis

à nu. Œ u v r e s complètes S. 1 2 8 6 83

A n G a s t am 1 6 . D e z . 1 8 8 8 . Sdilechta I I I , S . 1 3 4 0

84

A n Rohde am 1 8 . J u l i 1 8 7 6 . Sdilechta I I I , S . 1 1 2 2

85

In W e i m a r ist ein Wachstudiheft erhalten, in das der kranke Nietzsche mit ungelenken Buchstaben das Gedicht „ A u s hohen Bergen" abzuschreiben begonnen hat.

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dem geläufigen, wonach sich die abundantia cordis im Gedicht ausströmt und objektiviert. Nicht nur daß Nietzsches Dichten aus einem qualvollen Puzzle mit Wörtern bestand. Selbstaussprache konnte für ihn gerade nicht in der Umsetzung eines unartikulierten Gemütszustandes in allgemeinverständliche Sprache bestehen. Das Selbst stand aller Allgemeinheit entgegen. Nur eine unverständliche Spradie konnte ihm adaequat sein. Und nur, weil es mit allgemeinen Kategorien gerade nicht zu erfassen war, war das Selbst auf seine Offenbarung im Gedicht angewiesen. Diese aber konnte nicht so sehr in Gehalten liegen als in Ton und Rhythmus, im Musikalischen der Sprache. Das Gedicht „Einsiedlers Sehnsucht" gehört nicht ganz in diese Kategorie. Es ist, worauf sein Titel deutet, noch viel zu sehr Aussprache eines Gemütszustandes. Es richtet sich an einen Adressaten, dessen von einem falschen Ich-Bewußtsein verdecktes Selbst es wecken wollte. Im Nebeneinander einer greifbaren Botschaft und pathetisch-rhetorischer Instrumentierung meinten wir die in der Intention begründete Doppelheit zu sehen. Die beiden neuen Strophen setzen ein „Dies Lied ist aus — der Sehnsucht süßer Schrei erstarb im Munde." Darin kündigt sich eine andere Gedichtgattung an. Sie ist rein monologisch. Die Rücksichten auf allgemeine Verständlichkeit sind gefallen. Der Schluß ist der dunkelste Teil des Gedichts. In der Abwehr aller Frager — „fragt nicht, wer es sei" — wird der Hang zur Esoterik thematisch. Die halben Andeutungen, die Umschreibungen, die tautologischen Doppelformen, die Bezeichnung Zarathustras als Zauberer, das Verschweigen seines Namens in der ersten Strophe, die Formal „da wurde eins zu Zwei" aus dem Hexeneinmaleins — alles deutet auf Geheimnishaftigkeit hin. Doch ist es noch eher Geheimnistuerei. Die stilistische Bindung an das vorangehende Gedicht, die Beibehaltung des Strophenmaßes, das Erfordernis einer Pointe setzen einer Verrätselung enge Grenzen. Erst einige Lieder des vierten Zarathustra und die Dionysos-Dithyramben erfüllen einigermaßen das hier angedeutete Ideal. Zarathustra, der auf dem Berg sich offenbart, ist aus weiterer Sicht betrachtet nicht so sehr als Vertreter bestimmter Lebenslehren wichtig. Sein Bekehrungs- und Verkündigungsdrang erscheint eher als seine Grenze. Der Name Zarathustra bleibt als Chiffre für die magisch-geheimnisvolle, aus dem Rhythmus lebende Dichtung, die sich mit ihm für einige Zeit auf hohen Bergen inthronisierte als Spiegel für alle Einsiedler und als Trost über ihr nach dem Tod Gottes fremd gewordenes Selbst. 24 6

Mallarmé „Autre Eventail, de Mademoiselle Mallarmé" Stéphane M a l l a r m é , Œuvres complètes, texte établi et annoté par Henri Mondor et G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard 1945. (Bibliothèque de la Pléiade) [zit. Œuvres] Henri Mondor, M a l l a r m é lycéen avec quarante poèmes de jeunesse inédits. Paris: Gallimard 19J4 [zit. Mall.lyc.] Stéphane M a l l a r m é , Correspondance, I, 1862—1871, recueillie, classée et annotée par Henri Mondor. Paris: Gallimard 1959 [zit. Corr. I] II, 1871—1885, par Henri Mondor et Lloyd James Austin. Paris: Gallimard 1959 [zit. Corr. II]

I. Von einem der Lehrer des Gymnasiasten Mallarmé ist das mißbilligende Urteil überliefert: „Vous trouverez notre cher enfant rêvant poésie et n'admirant que Victor Hugo, qui est loin d'être classique. Ce travers est peu favorable à son éducation." 1 Spuren dieser Bewunderung Hugos und der romantischen Lyrik überhaupt, von der Mallarmé ausging, enthält das Gedichtheft des Gymnasiasten „Entre quatre murs". Darin findet sich folgende Charakterisierung der zeitgenössischen Kunst: L'art ose, dans ces jours, sur les (plumes) d'Icare S'élancer, aigle, où dort la foudre, voir des cieux!2 Mallarmé spielte mit diesem Gedichteingang darauf an, daß Hugo das Aufschwungmotiv besonders liebte. Er mochte dabei an Gedichte wie das folgende denken: Oh! sur les ailes dans les nues Laissez-moi fuir! laissez-moi fuir 1 1

Mail. lyc. S. 65 A.a.O. S. 210

247

Loin des régions inconnues C'est assez rêver et languir! Laissez-moi fuir vers d'autres mondes. C'est assez, dans les nuits profondes, Suivre un phare, chercher un mot. C'est assez de songe et de doute. Cette voix que d'en bas j'écoute, Peut-être on l'entend mieux là-haut. Allons! des ailes ou des voiles! Allons! un vaisseau tout armé! Je veux voir les autres étoiles Et la croix du sud enflammé. Peut-être dans cette autre terre Trouve-t-on la clef du mystère Caché sous l'ordre universel. Et peut-être aux fils de la lyre Est-il plus facile de lire Dans cette autre page du ciel.® Dieser Aufruf zum Entdeckungsflug ins Weltall schließt an Bruno an. Doch steht er, sucht man nach dem Äquivalent in der deutschen Lyrik, von der Ausgestaltung des Motivs her Brockes näher als Schiller. Auch hier ist der Himmel ein Buch. Vom Kosmos wird nicht ein neuer Sinn, sondern die neuerliche Bestätigung des überlieferten erwartet. Dafür ist bezeichnend, daß von den Sternen einzig das Kreuz des Südens genannt wird. Nur aufgrund dieser vorausgesetzten traditionellen Erwartung ist die Begeisterung der vielen möglich, zu der das Gedicht aufruft. Noch die Lyriker erscheinen in der Mehrzahl. Sie sind die Anführer bei der allgemeinen Erhebung der Gemüter, die zum neuen Beweis Gottes werden soll. Im pathetischen Ton ist das Gedicht denn auch weit von Brockes entfernt. Sein Stil suggeriert die Erhebung, zu der es auffordert. Wie sehr diese Art Aufschwung Mallarmés Bild von Hugo bestimmte, zeigt audi sein Rat an einen Freund, der sich Hugo zum Vorbild gewählt hatte:

3

Victor Hugo, Les feuilles d'automne. Les coudiers du soleil IV. Œuvres complètes (Pléiade) S. 788

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. . . pour suivre le Maître et ravir l'étincelle A u x astres, c'est à toi d'étendre ta jeune aile, De parcourir son vol que sillonne l'éclair! 4 Der Mallarmé, der so sprach, nahm sich selber jedoch bereits von dieser Aufforderung aus. In beiden angeführten Gedichten dient ihm die Charakterisierung der Lyrik Hugos dazu, seine veränderte Dichtungsauffassung davon abzusetzen. A u f das eben zitierte Terzett folgt als zweites: Moi, j'imite en ses jeux la verte demoiselle. Je vais de folle en folle, agitant ma crécelle: Bohême est ma patrie! à toi le ciel et l'air. 5 Gegen die himmelwärtsstrebende Lyrik stellt der junge Mallarmé eine realistische, die sich an die Freuden des Lebens, Wein, Tanz, Liebe, hält, die daher auch keine Ansprüche auf Ewigkeit erhebt, sondern bereit ist, wie die Gelegenheit, die sie auslöste, zu verschwinden. Das Gelegenheitsgedicht dieser A r t ist seine Alternative zum romantischen Aufschwunggedicht. „Entre quatre murs" enthält als Beispiel der sich bescheidenden Gattung das Gedicht »Pour ouvrir un album". Dessen Anfang bilden die Zeilen, mit denen sich Mallarmé von der zeitgenössischen Kunst absetzte: L'art ose, dans ces jours, sur les (plumes) d'Icare S'élancer, aigle, où dort la foudre, voir des cieux! Mais nous, au coin du feu, gais, de notre cithare Pour ces pages tiront quelques accords joyeux! Poète ou non, qui t'aime un soir ou deux s'enflamme Et qu'il grave, y semant quelques traits de son âme Ses larmes, ses amours et ses rêves d'azur, Comme un gai papillon qui, vers le soir, se pose, Et laisse en s'endormant l'or de son aile sur la rose! 6 Wichtig ist hier die motivische Darstellung des Gegensatzes. Audi der Gelegenheitsdichter hat Flügel. D o d i es sind die des Schmetterlings. Er flattert in Erdnähe, und sein Glanz leuchtet auf, wenn er sich niederläßt. Der abendliche Farbakkord von Gold und Rot ist gedämpfter als das direkte Licht, zu dem der Ikarusdichter strebt, dafür auch menschMall. lyc. S. 208 Ebd. • A.a.O. S. 210 4 5

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lieber und dauerhafter. A n der großen metaphysisdien gemessen geht es um kleine und stille Freuden.

Begeisterung

In dem gereimten Rechenschaftsbericht über seine lyrische Entwicklung „Moi, quand j'étais petit et que j'étais c l a s s i q u e . . d e n Mallarmé ein J a h r nach „Pour ouvrir un album", im April i860, abfaßte, suchte er sich noch einmal von der romantisdien L y r i k abzugrenzen: L'aigle, qui raille au ciel l'archange qui le craint, Enflamme tous les yeux; moi, dans ma carapace Mon idéal était ces vieux coqs étamés Qui grincent bêtement sur les clochers ruinés! 7 Auch hier sind Adler, Erzengel und Turmhahn als geflügelte Wesen untereinander verwandt. Dodi kommt nun ein geschichtsphilosophisches Moment in die Abgrenzung. Der spektakuläre Adler erscheint als Konkurrent des Erzengels. E r macht diesem seine Popularität streitig. Beide aber kämpfen um denselben Himmel. Mallarmé dagegen sieht sich von der gläubigen Menge isoliert. Daß er sich den Turmhahn auf zerstörtem Kirchturm zum Vorbild nimmt, erfaßt seine geistesgeschichtliche Situation auf erstaunlich prägnante Weise. In der entscheidenden Phase von Mallarmés Entwicklung fiel seinem Freund Lefébure — in Erinnerung an dieses Jugendgedicht? — der Vergleich mit dem Turmhahn ein. Was jedoch dem jungen Mallarmé als letzte Rückzugsposition erschien, erkannte der spätere als Ausgangspunkt eines unvergleichlich Neuen. Die angeführten Gedichte geben die Einstellung wieder, mit der Mallarmé i860 auf Baudelaires „Fleurs du M a l " stieß, die drei Jahre zuvor erschienen waren. Sie machten auf ihn größten Eindruck, 29 Gedichte schrieb er sich daraus in seine persönlidie Anthologie ab 8 . Sein Interesse galt primär jenen Gediditen, die seine Hinwendung zu Themen des gewöhnlichen Lebens bestätigten und differenzierten, die Häßliches, Zwielichtiges, Obszönes und die entsprechenden Stimmungen gestalteten. Bald war Mallarmé im Stande, im Tone Baudelaires zu schreiben, ja ihn an Kraßheit des Détails zu übertreffen. Es ist infolgedessen nicht erstaunlich, daß Mallarmé „Elévation", wie übrigens auch „Correspondances", nicht in seine Auswahl aufnahm. „Elévation" mochte ihn gerade an jene Adler- und Ikaruspoesie erinnern, von der er sich losgesagt hatte. Dennodi erkannte Mallarmé, daß bei 7 8

Avril i860. Ebd. S. 220 Die Liste dieser Gedichte Mall. lyc. S. 298/99

2J0

Baudelaires Beschwörung der sündigen und satanischen Seiten des Lebens das Gegenspiel der göttlichen Gnade mitgedacht war, ja mehr noch, daß sie geradezu die christliche Aufsdiwungpoesie auf indirekte Weise erneuerte. Das geht aus dem Baudelaire gewidmeten „ S a t z " der „Symphonie littéraire" (1864) hervor. E r ist zweigeteilt. Der erste Teil beschreibt dié Wirkung der „Fleurs du M a l " im Bilde einer Landschaft, die erfüllt ist von Motiven aus dem Umkreis des Spleen; auch „quelques plumes d'aile d'âmes déchues" sind dabei. Die Sonne geht darüber unter, und mit der Dunkelheit verbreiten sich Verbrechen, Schuld und Tod. Im Betrachter werden dadurch Gefühle der Ausgestoßenheit rege, aber auch Sehnsucht nach der Heimat. Der zweite Teil antwortet darauf: J ' a i fermé le livre et les yeux, et je cherche la patrie. Devant moi se dresse l'apparition du poète savant qui me l'indique en un hymne élancé mystiquement comme un lis. Le rythme de ce chant ressemble à la rosace d'une ancienne église: parmi l'ornementation de vieille pierre, souriant dans un séraphique outremer qui semble être la prière sortant de leurs yeux bleus plutôt que notre vulgaire azur, des anges blancs comme des hosties chantent leur extase en s'accompagnant de harpes imitant leurs ailes, de cymbale d'or natif, de rayons purs contournés en trompettes, et de tambourins ou résonne la virginité des jeunes tonnerres: les saintes ont des palmes, — et je ne puis regarder plus haut que les vertus théologales, tant la sainteté est ineffable, mais j'entends éclater cette parole d'une façon éternelle: A l l e l u i a ! · Mit diesem Tableau schildert Mallarmé die eigentliche Wirkung der Spleen-Landschaft. Es baut das geistige Universum in Sphären auf bis zur Spitze des unaussprechlichen Gottes. Baudelaire erscheint als ein im Grunde theologischer Dichter, für den gemäß dem christlichen Weltbild das Böse notwendig auf das Gute, das Exil auf die Heimat des Menschen verweist. E r wird damit, wenn audi auf praeraifaelitische Weise, unmittelbar neben Dante gestellt. Das Gedicht, auf das sich Mallarmé dabei beruft, die liliengleich in die Höhe schießende Hymne, erinnert an „Elévation". Darin tritt f ü r ihn die in den „Fleurs du M a l " verborgene Intention rein ans Licht. Diese Deutung weist den poetisch revolutionären Baudelaire in traditionelle Zusammenhänge ein. Sie macht ihn geradezu zum Kirchen* Œuvres S. 264 2JI

lehrer. Audi gerät er dadurch in große Nähe zu den romantischen Aufschwungdichtern. Man glaubt, bei aller Verehrung, die dieser Abschnitt der „Symphonie littéraire" ausdrückt, darin doch auch Ansatzpunkte dafür zu sehen, wie sich Mallarmé von seinem Vorbild distanzieren und zu einem eigenen Standpunkt gelangen könnte. Nähe und Abstand Mallarmés zu Baudelaire zeigt das Gedicht „Les Fenêtres"10. Angelegt ist es als Gleichungsgedicht nach dem Muster vieler Gedichte aus den „Fleurs du Mal". Georges Poulet hat darauf hingewiesen, daß es sich deutlich an Baudelaire orientiert11. Von Baudelaire scheint schließlich audi das Bild des Kranken im Hospital zu stammen. Kurt Wais hat gesehen, daß es eng an die Rembrandt-Strophe aus „Les Phares" anschließt. Rembrandt, triste hôpital tout rempli de murmures, Et d'un grand crucifix décoré seulement, Où la prière en pleurs s'exhale des ordures, Et d'un rayon d'hiver traversé brusquement.12 Diese Strophe strukturiert der Gegensatz von Verlorenheit und Erlösung. Er erscheint erst allgemein als der von traurigem Gemurmel und stummem Crucifixus und darauf aktualisiert in aufsteigendem Gebet und antwortendem Sonnenstrahl. Der innere Zusammenhang bleibt unausgesprochen, er ist ganz der Form zur Darstellung überlassen. In den beiden Anfangsstrophen von Mallarmés Gedidit kehren dieselben Motive wieder: Las du triste hôpital, et de l'encens fétide Qui monte en la blancheur banale des rideaux Vers le grand crucifix ennuyé du mur vide, Le moribond sournois y redresse un vieux dos, Se traîne et va, moins pour chauffer sa pourriture Que pour voir du soleil sur les pierres, coller Les poils blancs et les os de la maigre figure Aux fenêtres qu'un beau rayon clair veut hâler. 10 11

12

A.a.O. S. 32 Georges Poulet, La distance intérieure. Etudes sur le temps humain II. Paris: Pion 1952. S. 30J. Poulet sieht in diesem Gedicht zugleich eine Überwindung Baudelaires. Kurt Wais, Mallarmé. Diditung, Weisheit, Haltung. München: Beck 1952®.

S. 1 0 7 f. 252

Hier aber ist der Weihrauch stinkend geworden, das Kruzifix sinnlos, das heilige Oel heißt kurz darauf „l'horreur des saintes huiles". Der Mittler und die Gnadenmittel der Religion, welche noch bei Baudelaire dem Menschen in all seinem Elend den Weg zu Gott offenhielten, sind wirkungslos und verbraucht. Der Kranke dreht ihnen angewidert den Rücken. Er sucht sein Heil bei der Sonne und dem Azur. Für ihn sind sie nicht mehr Bilder der göttlichen Gnade, an sie ausschließlich ist die Offenbarungsfunktion übergegangen. Die Fensterscheiben werden dadurch Mittler zum Ewigen. Doch die Erlösung geschieht noch ganz auf Baudelairesdie Weise durch die „mémoire involontaire". Der Kranke küßt in seinem Sonnenhunger die Fensterscheibe, ihre laue Kühle ruft ihm die Erinnerung an die jungfräuliche Haut einer Geliebten von einst wach, und diese Erinnerung berauscht ihn so, daß er seine Misere vergißt. Vor seinem Auge verklärt sich die abendliche Fabrikstadt in ein prunkvolles Gemälde von Farbe und Duft. Mit „ainsi" wird die Situation des Kranken im Spital in die des Ich in der Welt transponiert. Das Ich flüchtet aus der nur auf Materielles gerichteten Welt zu Fenstern, die die Unendlichkeit vergoldet. Auch es findet durch sie Erinnerung an Vergangenes: Je me mire et me vois ange! et je meurs, et j'aime Que la vitre soit l'art, soit la mysticité— A renaître, portant mon rêve en diadème, Au ciel antérieur où fleurit la Beauté! Diese Erinnerung verläuft im Gegensatz zu der des Kranken vertikal. Sie führt über das Erdendasein hinaus in einen Zustand der früheren Existenz als Engel. Sie weckt die Sehnsucht nach Wiedergeburt, d. h. nach Rückkehr in die ewige Schönheit des Außen- und Überirdischen. Was die Fenstersdieiben sind, die diese Entrückung hervorrufen, steht nicht fest. Es kann damit die Kunst oder eine Geheimnishaftigkeit religiöser Art gemeint sein. Ihre Wirkung ist jedoch nidit von endgültiger Kraft. Im folgenden versagt die Correspondance zwischen Bild und Deutung, die Baudelaires Gleichungsgediditen zugrundeliegt. Für die Verklärung der Welt im Lidite der erwachten Erinnerung fehlt die Parallele. Ernüchterung tritt ein. Mais, hélas! Ici-bas est maître: sa hantise Vient m'écœurer parfois jusqu'en cet abri sûr, Et le vomissement impur de la Bêtise Me force à me boucher le nez devant l'azur. 253

Est-il moyen, mon Dieu qui savez l'amertume, D'enfoncer le cristal par le monstre insulté Et de m'enfuir, avec mes deux ailes sans plume — Au risque de tomber pendant l'éternité? Audi die Vermittlungen zur Transzendenz sind von der übermächtigen Diesseitigkeit berührt. Damit ist das Absolute unzugänglich geworden und der Mensch uneingeschränkt dem „ Ici-bas" ausgeliefert. Das macht die Fensterscheibe zu einer undurchdringlichen Wand. Das glaubende Ich allein muß die Erinnerung an Gott und seine eigene Göttlichkeit aufrecht erhalten. An diesem Punkt ist die Deutung dort angelangt, wo das Bild des Hospitals mit der Schilderung der verbrauchten Gnadenmittel begann. Was zunächst nur Kolorit zu sein schien, ist damit zum entscheidenden Symptom geworden. Daß auch die Kunst von diesem Verschleiß betroffen ist, rührt daher, daß ihr Mallarmé wie Baudelaire religiöse Funktion zugetraut hatte. Die Schlußstrophe gerät ob der Frage nach einem Ausweg in das Kraftfeld des Vogel-aus-dem-Käfig-Emblems. Der Käfig besteht aus den erblindeten Fenstern zwischen Immanenz und Transzendenz. Daß er zerschlagen werden muß, heißt nichts weniger, als daß ein Zugang zum Absoluten gesucht wird, der unmittelbar ist, so daß er nicht neuerlich zugeschüttet werden könnte. Das Ich kommt sich, weil ihm nun jede Möglichkeit zum Aufschwung genommen ist, als gerupfter Vogel vor. Es kann nicht mehr durch Spie-1 gelung zum beflügelten Engel werden. Doch müßte der Aufschwung aus seiner eigenen Kraft geschehen. Das Risiko, das die Schlußstrophe andeutet, hängt damit zusammen. Sie erwägt die Möglichkeit, daß mit den Gnadenmitteln Gott selbst hinfällig geworden sei, so daß, wer zu ihm aufbricht, ins Leere stößt. Diese Schlußzeile läßt an Bruno denken. Aber das gemeinsame Emblem ist gerade umgekehrt verwendet. Der Käfig, wie ihn Mallarmé versteht, ist durch Brunos Kosmologie und die aus ihr hervorgegangene Entmythologisierung der kosmologischen Gottesvorstellung entstanden; sie hatten die Erlösungswege verbaut. Mallarmés Frage gilt einem Weg, aus der gerade auch durch Bruno endlich gewordenen Welt herauszukommen. Aus dem Bezug der Deutung auf das vorangegangene Bild geht hervor, daß es nicht um einen Erlösungsweg allein für das einzelne Ich geht. Dieses faßt seine Aufgabe allgemeiner. Die Kritik an Baudelaire, die 254

das Gedicht implizite enthält, richtet sich gerade gegen die Identifizierung v o n sujektivem Glücksgefühl und objektiver Erlösung. Gesucht w i r d ein wirkliches Äquivalent z u den bisher gültigen religiösen Erlösungswegen. D a ß freilich die Schlußfrage als Gebot an G o t t formuliert ist, ist ein Widerspruch dazu, daß das Vorausgegangene die Unmöglichkeit des

Gebets

dargelegt

hatte.

In

einer

späteren

Redaktion

ersetzte

Mallarmé die Zeile Est-il, moyen, mon Dieu, qui savez l'amertume durch Est-il moyen, ô Moi, qui connais l'amertume 13 . M i t dieser Veränderung z o g Mallarmé die Konsequenz aus der großen geistigen und körperlichen Krise, der er in den auf das Gedicht folgenden Jahren ausgesetzt w a r (1864—66), in der sich ihm das Fundament für einen neuen Weltaufriß und dessen dichterische Gestaltung bildete.

II. Uber diese Krise berichtete Mallarmé seinem Freund Cazalis am 14. Mai 1867 in einem ausführlichen Brief: Je viens de passer une année effrayante: ma Pensée s'est pensée, et est arrivée à une Conception pure. Tout ce que, par contrecoup, mon être a souffert, pendant cette longue agonie, est inénarrable, mais, heureusement, je suis parfaitement mort, et la région la plus impure où mon Esprit puisse s'aventurer est l'Eternité, mon Esprit, ce solitaire habituel de sa propre Pureté, que n'obscurcit plus même le reflet du Temps. Malheurensement, j'en suis arrivé là par une horrible, sensibilité, et il est temps que je l'enveloppe, d'une indifférence extérieure, qui remplacera pour moi la force perdue. J'en suis, après une synthèse suprême, à cette lente acquisition de la force —

incapable tu le

vois de me distraire. Mais combien plus je l'étais, il y a plusieurs mois, d'abord dans ma lutte terrible avec ce vieux et méchant plumage, terrassé, heureusement, Dieu. Mais comme cette lutte s'était passée sur son aile osseuse qui, par une agonie plus vigoureuse que "

Œuvres S. 1421 2J5

je ne l'eusse soupçonné chez lui, m'avait emporté dans les Ténèbres, je tombai, victorieux, éperdument et infiniment — jusqu'à ce qu'enfin je me sois revu un jour devant ma glace de Venise, tel que je m'étais oublié plusieurs mois auparavant. J'avoue du reste, mais à toi seul, que j'ai encore besoin, tant ont été grandes les avanies de mon triomphe, de me regarder dans cette glace pour penser et que si elle n'était pas devant la table où je t'écris cette lettre, je redeviendrais le Néant. C'est t'apprendre que je suis maintenant impersonnel et non plus Stéphane que tu as connu, — mais une aptitude qu'a l'Univers spirituel à se voir et à se développer, à travers ce qui fut moi. Fragile comme est mon apparition terrestre, je ne puis subir que les développements absolument nécessaires pour que l'Univers retrouve, en ce moi, son identité. Ainsi je viens, à l'heure de la Synthèse, de délimiter l'œuvre qui sera l'image de ce développement. Trois poèmes en vers, dont H é r o d i a d e est l'Ouverture, mais d'une pureté que l'homme n'a pas atteinte et n'atteindra peut-être jamais, car il se pourrait que je ne fusse le jouet que d'une illusion, et que la machine humaine ne soit pas assez parfaite pour arriver à de tels résultats. Et quatre poèmes en prose, sur la conception spirituelle du Néant. 1 4 Dieser Brief erzählt von der Erfüllung der Bitte, mit der „Les Fenêtres" Schloß. Aber er ist keine Dichtung, sondern berichtet durchlebte Wirklichkeit. Ein ungeheuerliches Dokument, das sich dem verstehenden Nachvollzug weitgehend entzieht. Von außen her können nur einige Züge aufgehellt werden. Der Vorgang, den dieser Brief besdireibt, trägt alle Zeichen von Tod und Wiedergeburt. Die physische und geistige Heimsuchung bis zum drohenden Verlust der persönlichen Identität erinnert aber darüber hinaus an alttestamentliche Berichte über die Berufung von Propheten und ihr Ringen mit Gott. Mallarmé erzählt seine Auseinandersetzung mit Gott in Anlehnung an den Kampf Jakobs am Jabbok ( i . Mos. 32). Daher heißt Gott „le vieux et méchant plumage" und erwähnt er den knochigen Flügel. Flügel aber waren für Mallarmés Einbildungskraft, wie wir sahen, Kennzeichen erdichteter Wesen. Indem er sich Gott als gefiedertes Wesen dachte, w a r er ihm nicht das Absolute schlechthin, sondern eine von Menschen erdichtete Erscheinungsweise def 14

Corr. I., S. 240

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Absoluten, die damit identisch geworden war. Mailarmes Kampf mit Gott war ein Bildersturm. Er beruhte auf der Voraussetzung, daß das Absolute nicht mit Gott identisch und nicht an seinen Namen gebunden sei. Es ging also nicht um Abschaffung oder gär Leugnung des Absoluten, sondern um dessen Reinigung von allen einschränkenden Vorstellungen und damit um die Wiederherstellung seines wahren Wesens. Mallarmé war katholisch erzogen worden und in katholischen Sdiulen herangewachsen. Die mit dem Kampf gegen Gott verbundene Identitätskrise hat auch den Aspekt, daß er sich protestierend von seinem Glauben und damit von der Umwelt seiner Jugend löste, um geistig nur auf sich selbst gestellt zu sein. Die Siegesmeldung beginnt mit dem FanfarenSatz: „Ma pensée s'est pensée et est arrivée à une conception pure." Das Denken des eigenen Denkens und die Reinigung des Absoluten zur „conception pure" gehören zusammen. Damit sind alle Zwischenträger des Absoluten verschwunden. Die Scheidung von Gott und Ich ist aufgehoben. Wie schwierig es für Mallarmé war, nur aus sich selbst zu denken, verrät der kleine Umstand, daß er zunächst für seine eigene „conception divine" geschrieben hatte und offensichtlich erst nachträglich merkte, daß ihm der Ausdruck „göttlich" nun verboten war 15 . Die Aufnahme des Absoluten in das eigene Denken bedeutete für Mallarmé nicht nur die Individualisierung des Absoluten zum Selbst; das Absolute blieb als universales Prinzip bestehen. Auf dem Idi, das das Absolute leer gedacht hatte, lag es nun mit verzehrendem Anspruch. Sein Denken war es, das die Anstrengung des ganzen Körpers erforderte. In einem ungefähr gleichzeitigen Brief an Lefébure1* suchte Mallarmé zü erklären, was es mit dieser neuen Art zu denken auf sich habe. Er setzte es gegen das bloße Gehirndenken ab als Denken mit dem Körper und als Arbeit des Herzens. Die äußere Legitimation dieses Denkens des Absoluten wurde geradezu die damit einhergehende körperliche Erschöpfung. Konsequenterweise brächte, wie Mallarmé erkannte, das auf das Ich gefallene Absolute dem individuellen Träger den Tod; denn nur so könnte die durch nichts und niemandem mehr vermittelte Transzendenz erfahren werden. Insofern, als für Mallarmé die denkerische Aneignung des Absoluten einem Sterben gleichkam, glich er wiederum dem Gotteskämpfer Jakob, der seinen Sieg mit einer physischen Beeinträchtigung bezahlen mußte. Der Spruch, „Gottes Kraft ist in den Schwachen 15 16

A.a.O. S. 240 A.a.O. S. 249 257

17

Pestalozzi, Lyrisches I d i

mächtig" (2. Kor. 12,9), hatte seine Geltung auf das Verhältnis von individuellem und absolutem Idi ausgedehnt. Körperliche Schwäche, Desintegration der empirischen Person, Sensibilität erhielten die Würde von Beweisen des Absoluten. Wenn Mallarmé Frau und Kind, obgleich scherzhaft, als Teufel bezeichnete, so steckt darin die Auffassung, daß im Grunde die ganze erfahrbare Wirklichkeit der Widersacher des Absoluten sei. Die Reinigung des Absoluten von der Gottesvorstellung war für Mallarmé keine Privatsache. Es war nicht damit getan, daß er sein eigenes Denken dachte. Auf ihn war die Aufgabe gefallen, das gereinigte Absolute zu objektivieren, ihm neue Symbole zu finden, es zu verkünden. Eine solche Objektivation brauchte er auch, um sidi selbst zu beweisen, daß er nicht das Opfer einer Illusion geworden sei. Die Briefe an die Freunde, die von dem Gotteskampf berichten, sind erste Schritte zur Mitteilung des verzehrenden Geheimnisses. Der Bericht an Cazalis mündet in das Programm einer zukünftigen Dichtung. Von da aus gesehen erscheint die Krise als höchste Steigerung jener Jugendversuche, die den eigenen Standort als Dichter feststellen wollten. Nun war die Position des Turmhahns auf der zerstörten Kathedrale erreicht. An die Poesie fiel die Aufgabe, das an das Idi gefallene Absolute zu offenbaren, nun aber im Gegensatz zu der vergangenen religiösen Offenbarung auf eine Weise, die das Absolute nicht festlegte. Sie mußte reine Poesie sein. Der reinen Poesie drohten Gefahren von zwei Seiten her. Einerseits von der Stummheit. Mit dem Verzicht auf sprachliche Äußerung würde Mallarmé die Mission preisgeben, die er mit der Niederringung Gottes auf sidi genommen hatte. Seine Krise käme um ihren allgemeinen und geschichtlichen Sinn. Das leergedachte Absolute bliebe das Nichts. Die Gegengefahr lag darin, daß das Gedicht Mitteilung von Empirischem wurde und damit das Absolute relativierte, statt es zu offenbaren. Die reine Dichtung durfte nur auf sich selbst bezogen bleiben. Als erstes Beispiel des neuen Kanons betrachtete Mallarmé seine „Hérodiade". Die anthropologische Bedeutung der Dichtung für Mallarmé selbst kommt am Ende des zitierten Briefes zum Ausdruck: J'espère que ta reine de Saba et mon H é r o d i a d e seront deux amies. Puisque tu es assez heureux pour pouvoir, outre la Poésie, avoir l'amour, aime: en toi, l'Etre et l'Idée auront trouvé ce paradis que la pauvre humanité n'espère qu'en sa mort, par ignorance et par paresse, et, quand tu songeras au Néant futur, ces deux bonheurs 258

accomplis, tu ne seras pas triste et le trouveras même très naturel. Pour moi, la Poésie me tient lieu de l'amour par ce qu'elle est éprise d'elle-même et que sa volupté d'elle retombe délicieusement en mon âme; mais j'avoue que la Science que j'ai acquise, ou retrouvée au fond de l'homme que je fus, ne me suffirait pas, et que ce ne serait pas sans un serrement de cœur réel que j'entrerais dans la Disparition suprême, si je n'avais pas fini mon œuvre, qui est L'Œuvre, le Grand' Œuvre, comme disaient les alchimistes, nos ancêtres. Donc, bien que le Poète ait sa femme dans sa Pensée, et son enfant dans la Poésie, adore Ettie, que j'aime, moi, comme une rare sœur. N'est-elle pas liée à toute mon enfance, comme toi, Henri, — car avant mes premiers vers, qui remontent au temps où je t'ai connu, nous n'étions que les foetus de nos esprits — foetus assez sabbatiques, te rappelles-tu? 17 Es ist folgerichtig, daß hier die Vorstellung eines Jenseits und eines Paradieses fallengelassen ist, nachdem deren Voraussetzung, die Gottesvorstellung, von Mallarmé beseitigt worden war. Aber auch hier zeigt es sich, wird das jenseitige Paradies ins Diesseits hineingenommen. Seine Herstellung ist dem Menschen aufgetragen. Die Formel dafür heißt Zusammenführung von Sein und Idee. Cazalis Verbindung von Poesie und Liebe wird von Mallarmé als eine mögliche Realisierung anerkannt. Von sich selber forderte er jedoch eine engere Verbindung beider. Poesie ist ihm sich selber liebende Liebe, entstanden aus der Ehe zwischen Sein und Idee. Neben ihr hat genaugenommen menschliche Liebe keinen Platz. Poesie ist das wiederhergestellte Paradies. Wie das Universum, gewinnt auch der Mensdi durch sie eine neue Identität. Es ist bezeichnend, daß das Werk auch hier zum Ersatz der Unsterblichkeit wird. Dodi macht es nicht der öffentliche Ruhm dazu, sondern die Bedeutung, die es für den Dichter selber hat. Sein Adressat ist zunächst er selbst. Es gibt kaum ein anderes Dokument, das so unpathetisch und klar wie der Brief an Cazacil die Konsequenzen enthüllt, die sich für den Menschen und die Menschheit aus dem Tod Gottes ergaben. Mallarmés Nähe zu Nietzsche ist frappant. Dessen Formel von der Wiederkehr des Gleichen spukt als Reflexivität in allen Gestaltungsproblemen, die sich für Mallarmé aus dem Gotteskampf ergeben. Nicht zuletzt die Inthronisierung der Poesie als Offenbarerin des Absoluten ist beiden gemeinsam. Umso wichtiger ist es, den entscheidenden Differenzpunkt "

A.a.O. S. 243 2J9

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auszumachen. Wir sehen ihn darin, daß Mallarmé noch nach dem Tod Gottes an der Absolutheit des Geistes festhielt. Er war ihm nidit ein Anhängsel des Leibes, sondern suchte im Gegenteil den Leib in verzehrrender Weise heim. Daher individuierte sich das Absolute für Mallarmé auch nicht völlig. Es wahrte seine Allgemeinheit. Das eben machte seine Offenbarung in der Dichtung unverzichtbar. Mallarmé blieb damit innerhalb der christlichen Tradition. Sein Gotteskampf läßt sich verstehen als extreme Befolgung des Bilderverbots, das damit auf die Sprache ausgedehnt wurde. Zugleich trieb er die Auffassung des personalen Gottes so weit vor, daß der Unterschied von Gott und Mensch zu dem von absolutem und empirischem Ich wurde. Anders als Nietzsche behielt Mallarmé seine Erkenntnis für sich. Nach außen änderte sich sein Leben nicht. Audi während der Krise hatte er die Pflichten des Alltags immer treulich erfüllt. Des Wahrheitsgehaltes der Krise konnte er sich nur versichern, wenn ihm das Werk gelang, „le livre", das die Bibel des gereinigten Absoluten werden sollte. Auf diese Aufgabe konzentrierte sich im stillen seine ganze dichterische Kraft.

III. An dem Gedicht Mallarmés auf den Fächer seiner Tochter, das 1884, also im selben Jahr wie „Einsiedlers Sehnsucht", entstand, soll versucht werden einzusehen, wie Mallarmé seinen Vorsatz poetisch realisierte. Dieses Gedicht wurde gewählt, weil darin in Spuren die Aufschwungmotivik noch zu erkennen ist. Es läßt sich somit als weiterführende Antwort auf die Frage verstehen, mit der „Les Fenêtres" schloß. Es ist zudem ein für Mallarmé typisches Gedicht. Seine Schönheit und seine Dunkelheit sind anerkannt. Und doch wohnt ihm, vielleicht dank seiner Adressatin, eine Leuchtkraft inne, die seiner Dunkelheit so weit die Waage hält, daß der Versuch, es interpretierend zu verstehen, nicht zum vornherein resignieren muß. Autre éventail de Mademoiselle Mallarmé. O rêveuse, pour que je plonge Au pur délice sans chemin, Sache, par un subtil mensonge, Garder mon aile dans ta main. 260

Une fraîcheur de crépuscule Te vient à chaque battement Dont le coup prisonnier recule L'horizon délicatement. Vertige! voici que frissonne L'espace comme un grand baiser Qui, fou de naître pour personne, N e peut jaillir ni s'apaiser. Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu'un rire enseveli Se couler du coin de ta bouche Au fond de l'unanime pli! Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d'or, ce l'est, Ce blanc vol fermé que tu poses Contre le feu d'un bracelet. 18 Die erste Strophe hat den Charakter eines Proömiums. Sie sticht vor allem durch ihre Syntax von den folgenden ab. In einer differenzierten Periode wird die Struktur aufgestellt, die das Gedicht bestimmt. Damit enthält sie auch die Anleitung für den Leser, wie er sich dem Gedicht gegenüber einzustellen hat. O Träumerin, damit ich eintauche in die reine Wonne ohne Weg wisse, durch eine geistreiche Lüge, meinen Flügel in deiner Hand zu bewahren. Zunächst gilt es zu entscheiden, wer hier „ich" sagt. Die meisten Interpreten nehmen an, der Fächer selbst ergreife das Wort 19 . Sie können 18

Œ u v r e s S. j 8 . Ubersetzungen des Gedichts von Rilke, Nobiling,

Schaukai,

Netzer, Usinger, Reidemeister, zusammengestellt in: Gedichte des französischen Symbolismus in deutschen Übersetzungen, hrsg. von W o l f g a n g Kaiser. Tübingen: N i e m e y e r 1 9 5 5 (Deutsche T e x t e 2). S. 3 4 — 3 8 19

Folgende Interpretationen

lagen mir v o r : H u g o

Friedrich, a.a.O. S. 1 0 1 ;

Charles Mauron, Mallarmé obscur. Paris: Denoël 1 9 4 1 , S . 1 3 1 / 2 ; G u y

Mi-

chaud, Mallarmé. Paris: H a t i e r i 9 $ 8 8 (connaissance des lettres 3 7 ) S. 1 1 9 bis 1 2 0 (Diese knappe Deutung benennt alle wesentlichen Momente); E . N o u let, V i n g t Poèmes de Stéphane Mallarmé. Paris/Genève: D r o z 1 9 6 7 (textes littéraires français). S. 1 4 6 — 1 5 3 ; Jean-Pierre Richard, L'univers imaginaire d e Mallarmé. Paris: Seuil 1 9 6 1 , S . 309 f . ; A l b e r t Thibaudet, L a Poésie de St. Mallarmé. 1 9 1 8 2 . S. m ;

Wais a.a.O. S . 284.

261

sich dabei auf andere Fächergedichte Mallarmés berufen. I m Falle des vorliegenden gerät man jedodi damit in Schwierigkeiten. D e r Fächer ist, das w i r d in der Schlußstrophe am deutlichsten, durch das ganze Gedicht hindurch v o n außen gesehen. U n d umgekehrt verschwindet das Ich aus dem Gedicht, nachdem es z u Beginn das Verhältnis v o n Ich und D u festgelegt hat. Andrerseits steht nichts im Wege, Ich und D u personal zu verstehen. D a s Ich ist die Fortsetzung desjenigen, welches ζ . B. im z w e i ten Teil von „Les Fenêtres" spricht, wie denn überhaupt v o n diesem früheren Gedicht her sich das dunklere spätere an manchen Punkten erhellen läßt. Mallarmé unterschied nicht zwischen lyrischem und real existierendem Ich 20 . Es ist somit nicht falsch, davon auszugehen, was jeder unbefangene Leser von selbst tut, d a ß im Gedicht Mallarmé z u seiner Tochter spricht. Im Gegensatz z u andern Fächern, auf die Mallarmé Verse geschrieben hatte, ist der Fächer mit diesem Gedicht nicht erhalten geblieben. A b e r auch es ist auf den Fächer geschrieben z u denken, so daß, wenn Geneviève den Fächer zur H a n d nahm, sie zugleich z u m Gedicht grifi. Das ist in der ersten Strophe vorausgesetzt. D i e Mahnung

„Sache...

garder mon aile dans ta main" bezeichnet demnach das Gedicht auf dem Fächer als Flügel des Ich, weil der Fächer einem Flügel gleicht und diese Gestalt dem Gedicht mitteilt. W i r haben gesehen, d a ß f ü r Mallarmés Einbildungskraft: Dichtungen überhaupt geflügelt waren. D a ß das G e dicht auf den flügelartigen Fächer geschrieben wurde, brachte z u m V o r schein, was es seinem Wesen nach w a r . Die Bestimmung des Gedichts als Flügel rechtfertigt seine Einbeziehung in die Aufschwungmotivik. Wichtiger als der Umstand, d a ß der Fächer die Schreibgrundlage bildet, ist f ü r die Interpretation der andere, d a ß der Fächer Thema des Gedichts ist. Dieses schildert die verschiedenen Phasen der Fächerbewegung und deren W i r k u n g auf das Mädchen, das ihn bewegt. Soweit ist es als realistisches Gedicht konzipiert im Sinne der Gelegenheitsdichtung, der es zugehört. Doch der Fächer w i r d darin nicht ein einziges M a l direkt genannt, auch seine Wirkungen auf das Mädchen sind vielfach umschrieben. D e r reale V o r g a n g ist so sehr verdunkelt, d a ß man jeweils die Formulierungen übersetzen muß, um ihn überhaupt z u erkennen. Fächer und Fächerspiel werden nicht in der Sprache der Mitteilung beschrieben, sondern auf dem W e g rhetorischer Verfremdung der Ge-

20

Vgl. den Brief an Cazalis vom 8. Jan. 1864, in dem Mallarmé sein Gedidit „L'Azur" ganz als persönliches Dokument interpretiert. Corr. I, S. 103

262

meinspradie. Anders als bei Nietzsche, w o v o r allem Figuren diese V e r fremdung leisteten, handelt es sich hier fast ausschließlich um Tropen. Sie übertragen, ja übersetzen das Spiel des Mädchens mit dem Fächer in andere Vorstellungen. Deren Zusammenhang meinen w i r in einer Aufschwungbewegung z u erkennen. So w i r d erreicht, d a ß das Ich, indem es das Fächerspiel des Mädchens beschreibt, sich seinen eigenen A u f schwung sprachlich suggeriert. Durch das Gedicht auf den Fächer macht ihn das Ich z u seinem Flügel. D a s heißt, d a ß das Gedidit eine doppelte Sprache spricht. N e b e n der Beschreibung des Fächerspiels geht deren Bedeutung f ü r das Ich einher. Ähnliches sahen w i r sdion bei „Les Fenêtres", das eine Episode berichtet und sie dann auf das Ich hin ausdeutet. Im Fächergedicht sind die beiden Schichten nicht geschieden, sie durchdringen sich vollständig. Denn Bedeutung hat nicht sachlich das Gesdiehen, sondern seine sprachliche Nachgestaltung. D a s macht die Sprache des Gedichts doppelzüngig. D a s Ich spricht, indem es mit dem Mädchen über den Fächer redet, zugleich z u sich selbst. A u f diese Doppelzüngigkeit ist mit „subtil mensonge" verwiesen. In

„Les Fenêtres" bestand zwischen Gleichnis und Deutung

ein

Analogieverhältnis. D i e Deutung wertete aus, was der geschilderten Episode an metaphysischem Gehalt innewohnte. Ein subjektives Erlebnis wurde deutend objektiviert. D a s geschieht im Fächergedicht in ähnlicher Weise. A n anderer Stelle umschreibt Mallarmé den Fächer mit anderen Worten: C e t isolateur, avec pour vertu, mobile, de renouveler l'inconscience du délice sans cause. 21 D e r Fächer löst in dem, der sidi fächert, traumhaft unbewußte Z u stände aus. Er schafft sie nicht, sondern ruft sie neuerdings hervor. So offenbar w i r k t der Fächer auf das Mädchen. Im Fächergedicht bezeichnet das Ich sein Ziel als „pure délice sans chemin", also mit ähnlichen Worten w i e die zitierte Stelle. D e r Unterschied liegt im Beiwort „ p u r e " . D a s Ich sucht eine Wonne, die nirgends in der Erfahrung begründet, sondern rein geistig, der Inbegriff aller möglichen Wonnen ist. Sie ist nicht nur „sans cause", d. h. ursprünglich, spontan, unmittelbar, sondern „sans chemin", unvermittelbar. Das Ich sucht sie auf dem Wege z u gewinnen, daß es die Wonne des Mädchens ins W o r t f a ß t und damit aufhebt in eine nurmehr geistige Gestalt. D a 11

Œuvres S. 374 263

für, wie die Sprache ihren Realitätsgehalt zu tilgen versucht, enthält schon die erste Strophe ein Beispiel. Die Bewegung zur reinen Wonne bezeichnet sie mit dem Verbum „plonger", „eintauchen". Sie erscheint damit als Bewegung nach unten und nach innen. Die weitere Bestimmung „sans chemin" negiert den so aufgebauten Vorstellungsgehalt zu dem einer reinen Bewegung. So wird auch die Bewegung uneigentlich, die die Erwähnung des Flügels impliziert. Die Differenz zwischen der Wonne des Mädchens und derjenigen, die das Ich für sich sucht, enthält auch ein geschichtliches Moment. Das Mädchen wird als „rêveuse" angeredet. Der Traum war der Zentralbegriff von Mallarmés früherer Poetik, die sich darin als romantisch bestimmt zu erkennen gibt. Für die Romantik war die „inconscience du délice sans cause", wie wir gesehen haben, von metaphysischem Wert. In ihr wurde man Gottes unmittelbar inne. Bei Vigny war sie das Ziel der Elévation. Diesem Gott hatte Mallarmés Kampf gegolten. Dem von der Gottesvorstellung gereinigten Absoluten entspricht demnach die von bewußten Regungen und allem Realitätsbezug gereinigte Wonne. Indem das Ich dei Gedichts die historisch ältere Form des Aufschwungs zugrundelegt und in der Sprache aufhebt, sucht es in das gereinigte Absolute zu kommen. Das Gelegenheitsgedicht, das Mallarmé früher einmal der Adlerpoesie entgegengestellt hatte, bekommt nun selber metaphysische Qualität. Soweit erscheinen Mädchen und Fächer als notwendige Voraussetzungen, die es sprachlich zu überwinden gilt. In Mallarmés Gotteskampf hatte sich jedoch die verzehrende Gefährlichkeit des von keiner Tradition mehr gehaltenen Absoluten für das Idi, das es auf sich nahm, es zu denken, gezeigt. Bereits der Schlußvers von „Les Fenêtres" hatte auf die Gefahr vorausgedeutet. Im Satz „ S a c h e . . . garder mon aile dans ta main" liegt der Akzent durchaus audi auf „garder". Das Mädchen soll den Fächer-Flügel des Gedichts fest in der Hand halten, damit der Aufschwung, den das Ich daraus gewinnt, ihn nicht ins Nichts entführt. Das Mädchen bekommt die Rolle zugewiesen, die der Spiegel, vor dem sidi Mallarmé seiner irdischen Existenz versicherte, spielte. Es ist somit von Belang, daß es sich bei der Adressatin des Gedichts um Mallarmés Tochter handelt, in der der Vater zu Zeiten sein alter ego sah. Über diese biographische Relevanz hinaus gibt die Realität von Du und Fächer dem Gedicht überhaupt die Möglichkeit zu sprechen. Alle Sprache ist ja primär Mitteilung über etwas an jemanden. N u r auf dieser Basis kann auch eine Sprache des Absoluten stehen, die absolute 264

Sprache sein will. Die erste Strophe deckt auf, wie das Gedicht aus der alltäglichen die absolute Sprache gewinnt. Sie enthält damit auch eine Anweisung für die weitere Interpretation. Diese hat auf die Doppelzüngigkeit zu achten, mithin darauf, wie aus der Beschreibung des Spiels zwisdien Fächer und Du die Sprache wird, welche den reinen Aufschwung des Ich evoziert. Von „Aufschwung" dürfte hier im Grunde genommen nicht mehr gesprochen werden. Der Terminus wird jedoch beibehalten, weil sich, wie sich zeigen wird, der reine Aufschwung stärker, als es zunächst scheint, noch im Strahlungsfeld der Motivtradition hält. Une fraîcheur de crépuscule Te vient à chaque battement Dont le coup prisonnier recule L'horizon délicatement. Eine Dämmerungskühle Kommt dir entgegen mit jedem Schlag Dessen gefangener Stoß zurückschiebt Den Horizont auf zarte Weise. H a t man sich in der ersten Strophe den Fächer offen ruhend in der Hand des Mädchens zu denken, so bewegt er sich nun hin und her, auf das Mädchen zu und wieder von ihm weg. Aus dessen Perspektive bezeichnen „venir" und „re" (culer) die Phasen von Schlag und Rückschlag. Diese beiden Phasen gliedern die Strophe. Die beiden Hauptsätze stehen annähernd chiastisch zueinander. Den Umschlagpunkt bezeichnet das Relativum „dont". Man erkennt Mallarmés Absicht, die Fächerbewegung sprachlich nachzubilden. Das Ich ist grammatisch aus dem Gedicht verschwunden. Die Strophe hat die Optik des Mädchens angenommen. Der Schlag des Mädchens mit dem Fächer auf sich zu bringt ihm Kühlung, die durch den Hinweis auf die Dämmerung noch genauer bezeichnet wird. Soweit ist die Sachlage ganz realistisch geschildert, sie läßt sich leicht aus der Erfahrung verifizieren. Keine andere Stelle des Gedichts ist so unproblematisch wie diese. Es scheint, die in der ersten Strophe proklamierte Janusstruktur sei preisgegeben. Der zweiten Strophenhälfte kommt ein realistisches Verständnis nicht so ohne weiteres bei. Zwar ist zu erkennen, daß der Schlag vom Mädchen weg sein Gesichtsfeld wieder frei gibt, was „zurückstoßen des Horizonts" heißen kann. Dodi die Bezeichnung „coup prisonnier" für diesen Rückschlag ist aus der Anschauung nicht zu rechtfertigen.

Methodisch gesehen ist anzunehmen, daß solche starken Verfremdungen nach dem, was die erste Strophe ankündigt, Stellen sein müssen, an denen die Doppeldeutigkeit nicht ganz in die normale Sprache integriert ist, was bedeutet, daß hier die Perspektive des Ich-Aufschwungs dominiert. „prisonnier" nimmt offenbar auf „garder" der ersten Strophe Bezug. Es schließt an dessen Bedeutung „bewachen, in Gewahrsam halten" an. „coup prisonnier" wäre eine Verkürzung aus „coup de l'aile prisonnière". Das wiese auf das Ich zurück, das seinen Fächer in die Hand des Mädchens gegeben hat. D o d i erst von der Aufschwungmotivik her ergibt sich ein deutlicher Sinn. Die Bewegungen des Fächers hin und her werden zu Flügelsdilägen des aufwärtsfliegenden Ich. Mit wachsender Höhe weitet sich der Horizont, der es eingeschlossen hat. Im Hinblick auf ihn w a r der Flügel gefangen. Er schlägt gegen die Begrenzung der Endlichkeit, die ihn umschließt. „prisonnier" deutet somit an, daß sich noch dieser Aufschwung im Kraftfeld des „Vogel-aus-dem-Käfig"-Emblems vollzieht. Die Paradoxic von gefangen und frei soll dem Vorgang wiederum zur Unvollstellbarkeit verhelfen. Er führt weiter und verharrt doch auch als Aufschwung „sans chemin" an Ort. Von der so verstandenen zweiten Strophenhälfte aus wird die erste nun gleichfalls zweideutig, „fraîcheur" ist „Frische" im Doppelsinn des Kühlen und des Anfänglichen. Das macht auch in „crépuscule" das Moment des Beginns sichtbar. Es bezeichnet aber die Abenddämmerung, ja sogar den mythischen Weltabend, der alles vernichtet. Der Aufschwung des Ich führt, wie in der zweiten Strophenhälfte aus dem irdischen Raum, so in der ersten aus aller Erdenzeit hinaus in die Reinheit des Nochnicht und Nidit-mehr, die dem Nichts gleichkommt. Diesem Verständnis der Strophe auf den Aufschwung des Ich hin könnte mit dem Hinweis begegnet werden, vom Ich sei doch eben nicht mehr die Rede, angesprochen werde allein das Du. Doch gerade die DuAnrede kann transitiv und reflexiv genommen werden. Das Ich sagt nicht aus, was ihm geschieht, sondern was, indem es spricht, mit ihm geschehen soll. Es beschwört sich selber. Auch das Präsens kommt dem entgegen. Es funktioniert im Hinblick auf das Mädchen beschreibend, im Hinblick auf das Ich evozierend. Die dritte Strophe ist Mitte und Höhepunkt des Gedichts. Vertige! voici que frissonne L'espace comme un grand baiser 266

Qui, f o u de naître pour personne, N e peut jaillir ni s'apaiser. Schwindel! mit einem M a l e schaudert D e r R a u m wie ein großer K u ß Der, irr f ü r niemanden geboren z u werden, Nicht aufspringen noch sich beruhigen kann. Fächer, D u und Ich sind nicht mehr unterschieden. Sie sind eins im Schwindel, den das erste W o r t benennt. Grammatisch ist die Strophe ein Ausruf, der die S y n t a x sprengt. Losgelöst, ohne Bezug, steht er frei da. A n Stelle v o n „vertige" steht in einer anderen Fassung des Gedichts „vaste j e u " " . Darin ist noch eine Verbindung zur Fächerbewegung ahnbar. D e r Fächer w i r d möglicherweise nun in gesteigerter Bewegung weit ausholend geschlagen. D a s bewirkt bekanntlich, d a ß das Auge, das der einzelnen Bewegung nicht mehr z u folgen vermag, den Fädier aus dem Blick verliert und nur nodi einen vibrierenden R a u m wahrnimmt. D e r Fädier geht gewissermaßen unter im Wirbel, den er erzeugt. D i e Ersetzung v o n „vaste jeu" durch „vertige" ist diejenige des Phänomens durch die Reaktion des Mädchens darauf. Es scheint einbezogen in den vibrierenden Raum, ihm schwindelt. Die Kühle aus der vorangegangenen Strophe löst in ihm einen Schauder aus. D e m Schauder als einem Zustand elementarer Ergriffenheit sind w i r schon bei Meyer begegnet. D o r t w a r der Bergwind auslösend, und er verwies auf Gott. H i e r ist des Mädchens eigene Fächerbewegung die Ursache seines Schauders. In ihm w i r d es seiner selbst inne. D e r Vergleich mit dem großen K u ß stammt aus· seiner Sphäre. D e r Vergleich gibt der vibrierenden Einheit von Mädchen und R a u m Intentionalität auf eine Person hin. Sie ist Ausdruck v o n Spannung, U n entschiedenheit, leerem Vermögen, das auf Realisierung drängt. A l l das aber ist nicht abstrakt, sondern erotisch verstanden. W a s die Strophe umschreibt, ist die Jungfräulichkeit des Mädchens. Diese ist einerseits Reinheit v o r aller Berührung, damit Ursprünglichkeit, andererseits V o r läufigkeit und Unfruchtbarkeit. D a r a u f deutet auch das Moment der Kälte. Im Schauer erfährt das Mädchen sein eigenes tiefstes Wesen. Die Spannung des vibrierenden Raums ist jedoch zugleich die des Mediums, das dazu geführt hat. Die Fächerbewegung ist reflexiver A r t , eine 82

In „Le Décadent" vom 9. Okt. 1886. Vgl. Œuvres S. 147J. Nadi Noulet hatte Mallarmé vor „vaste jeu" „ días te jeu" erwogen. 267

Selbststeigerung und Selbstbezauberung. Das Narzißtische daran teilt sich dem Resultat als unbefriedigte Spannung mit. Der erotische Schauder des Mädchens erinnert bis in Einzelheiten an die selbstbezogene Entrückung des kranken Mannes in „Les Fenêtres". Auch dort erscheint das Motiv der Jungfräulichkeit im Zusammenhang mit dem zeitenthebenden Taumel. Dort war der Kuß auf die Scheibe der Anlaß dazu. Hier nun ist konsequenter das magische Requisit dem Mädchen selbst in die Hand gegeben. Wir sehen darin eine Entsprechung zu dem früher beobachteten Unterschied, daß in „Les Fenêtres" die engere1 Situation das Gleichnis abgab, während hier das Ich durch seine sprachliche Erfassung der Situation selber erst die Basis für den Vergleich legt. Die dritte Strophe scheint so sehr auf das Mädchen ausgerichtet, daß man zunächst kaum Spuren der zweiten Sprachebene darin findet. Daran scheint nicht viel zu ändern, daß das Relativum „qui", das wir bisher auf das ihm unmittelbar vorausgehende „baiser" bezogen, auch „espace" näher bestimmen kann; denn „naître" hält den erotischen Vorstellungsbereich aufrecht. Wiederum vermag eine Variante die Augen zu öffnen für das, was da steht. Für die zweite Gedichthälfte setzte Mallarmé in der oben erwähnten andern Druckfassung: Qui fier de n'être pour personne Ne sait ni jaillir ni s'apaiser. 23 Hier sind mit den erotischen die negativen Aspekte der Reinheit getilgt. Der vibrierende Raum ist stolz auf seine Unmenschlichkeit. Daß er weder aufspringen nodi sich beruhigen kann, ist nicht Unvermögen. Er befindet sich jenseits dieser Möglichkeit. Reinheit ist hier Absolutheit, aus der alle Bezüge nach außen verschwunden sind und die triumphierend sich selbst genügt. Das ist unzweifelhaft die auf das Idi gerichtete Sprache. Die Jungfräulichkeit wird ähnlich wie in „Les Fenêtres" ins Metaphysische umgedeutet. Der Aufschwung ist am Ziel, die reine Wonne ist erreicht. Der Raum ist das von Gott gereinigte Absolute. Wir erinnern uns, daß der Raum ein altes Prädikat Gottes war. Nun hat er sich an seine Stelle gesetzt. Er hat, wie sein Verbum ausdrückt, eine eigene Zeitlichkeit. „frissonner" bezeichnet ein leichtes Zittern und Beben, keine gerichtete Bewegung also, sondern eine Bewegtheit, die in der stetigen Wieder23

Œuvres S. 1475

268

kehr derselben unmerklichen Phase besteht. Das Vibrieren verläuft in der Zeit und hebt sie zugleich auf. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind darin ungeschieden enthalten. Das grammatische Verhältnis ordnet diese Zeitlichkeit dem Raum unter. Der Vergleich des uranfänglichen Raumes mit einem großen Kuß bringt Inkommensurables zusammen. Er verdeutlicht dadurch das Aufhören aller menschlichen Orientierungsmöglichkeiten, die im Schwindel direkt zum Ausdruck kommt. Der Kuß-Vergleich ist ein Relikt des Realsubtrates inmitten des Absoluten. Es tingiert damit dessen Absolutheit. Wie die Jungfräulichkeit, die das Mädchen in sich entdeckt, dem Medium korrespondiert, durch das es zu ihr gelangte, so ist audi hier im Absoluten der Umweg über das Mädchen erkennbar, der dahin führte. So stellt sich die Strophe dar, wenn man die zitierte Variante interpoliert. Daß Mallarmé die erstgenannte Fassung für endgültig erklärte, muß, wenn unser Ausgangspunkt stimmt, bedeuten, daß er in ihr die Variante aufgehoben sah. Tatsächlich tritt im Lichte der Variante die Zweideutigkeit auch der endgültigen Fassung hervor, „n'être" ist aufgrund der Homonymie in „naître" aufgehoben. Ebenso kann „fou" dank seiner Polysemie „fier" in sich aufnehmen. Ähnliches gilt für „pouvoir" und „savoir". Nirgends so sehr wie in dieser Strophe läßt sich sehen, wie Mallarmé die Unschärfe der Bedeutungsgrenzen, weldie die moderne Semantik nach ihm erkannt hat, dichterisch auszunutzen wußte. Die vibrierende Spannung der Mittelstrophe löst sidi in der darauffolgenden. Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu'un rire enseveli Se couler du coin de ta bouche Au fond de l'unanime pli! Spürst du das wilde Paradies Wie ein begrabenes Lachen aus dem Winkel deines Mundes gleiten in den Grund der einhelligen Falte. Diese Strophe korrespondiert mit der zweiten. Das Du erscheint wieder, ebenso der Fächer. Seine Nennung beschließt auf pointierte Weise die Strophe und den dreistrophigen Mittelteil des ganzen Gedichts. In der zweiten Strophe kam etwas auf das Mädchen zu, nun löst sich

% 269

etwas von ihm und verläßt es. Der Fächer erhält zurück, was von ihm ausgegangen war. Der Zustand des Mädchens, den die Mittelstrophe beschrieb, heißt nun „paradis farouche". Damit ist seine Urspriinglichkeit aufgegriffen, „farouche", im Sinne von „ungezähmt, unkultiviert" unterstreicht das und betont nochmals den Aspekt der Jungfräulichkeit in seiner ganzen Zweideutigkeit. Mit dem Aufhören wird aus diesem Zustand eine kleine mimisdie Regung, ein Lächeln. Es geht ein in den Fädier. Dodi dieser Übergang vom Innern in das Äußere ist kaum merklich. Er geschieht, wie das Lachen selber, am Rande des Nichtseins. Richard hat die Vorstellungen analysiert, die sidi für Mallarmé mit „pli" verbanden24. Die Falte schließt etwas von der Außenwelt ab und wird zu seinem Aufbewahrungsort. So bildet auch hier der geschlossene Fächer einen Schrein, in dem der zum Lächeln gewordene Schauder geborgen ist. Der nicht entfaltete Fächer wird dadurch zum dinglichen Zeichen der Jungfräulichkeit des Mädchens. Überraschend ist das Beiwort „unanime" für den zusammengefalteten Fächer. Auch hier bewährt sich jedoch der methodische Grundsatz, daß unauflösbare Verfremdungen andeuten, daß die Idi-Ebene nicht völlig integriert ist. „Unanime" setzt eine Mehrheit, mindestens eine Doppelheit voraus, die übereinstimmt. Könnte es sein, daß in der geschlossenen Falte die beiden Sprachebenen wieder zusammenkommen, daß also Beschreibung und Evokation sich decken? Fächerspiel und Aufschwung sind nun vorbei. Wie die Jungfräulichkeit des Mädchens ist auch der reine Raum des Ich in den geschlossenen Fächer eingegangen. Dieser ist insofern der Aufbewahrungsort beider, als er die Negation beider darstellt. Der geschlossene Fächer ist weder das Instrument der Selbstbezauberung für das Du, noch der Flügel des Ich. Darin liegt die „unanimité". Es ist die der Negation, die das Gewesene aufhebt in jedem Sinn des Wortes. Das Ergebnis wird in der Schlußstrophe festgehalten. Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d'or, ce l'est, Ce blanc vol fermé que tu poses Contre le feu d'un bracelet. Das Szepter der rosigen Gestade die über den goldenen Abenden stehenbleiben, das ist er, u

Richard a.a.O.

270

Dieser helle abgeschlossene Flug, den du lehnst Gegen das Feuer eines Armbands. Mit dieser Strophe ist das Gedidit in jedem Sinn an seinem Ende. Der Fächer ist nun fest geschlossen. Das Mädchen lehnt ihn, vielleicht etwas ermattet, gegen sein Armband. Dieser anschaulichen Beschreibung geht eine Proklamation des Fächers zum Szepter des Abendhimmels voraus. — Im Ganzen des Gedichts entfaltet diese Strophe einen eigenen Glanz. Auf einmal ist eine leuchtende Farbigkeit da. Auch erscheinen, während bisher durchgehend der Singular herrschte, Pluralformen, als ob das Gedicht zum Schluß seine Stimme verstärkte. Alles zusammen ergibt ein Finale von prunkender Feierlichkeit. Schluß- und Anfangsstrophe zusammen bilden den Rahmen des Gedichts. Die Anfangsstrophe hatte in gewöhnlicher Rede die Struktur, die in den drei Mittelstrophen gilt, vorgestellt. Auch die Schlußstrophe verzichtet auf die „geistreiche Lüge". Sie beschreibt nicht nur auf nachvollziehbare Weise das Schlußtableau, sie führt auch wiederum eine Scheidung von Ding und Bedeutung ein. Damit verfährt sie so traditionell wie das Gedicht „Les Fenêtres". Mit der Formel „ce l'est" wird der Fächer im Anklang an das liturgische „hoc est" zum Szepter des Abendhimmels eingesetzt. Ein Szepter ist ein sichtbares Zeichen der Macht sowohl als auch der Länder und Reiche, die ihr unterstehen. Beides ist darin idealiter enthalten und gewinnt dingliche Realität. Der Machtbereich des Fächer-Szepters ist der Abendhimmel. Es ist an jene gestaffelten Wolkenbänke zu denken, deren blasses Rosa das Licht noch eine Weile festhält, wenn die Sonne schon untergegangen ist. Indem sie ihren Glanz noch bewahren, sind sie zugleich Signale des endgültigen Erlöschens. Wir waren schon in dem frühen Gedicht „Pour ouvrir un album" der Kombination „Gold/ Rot" als Farbakkord der Vollendung begegnet. Auch die Landschaft, die sich in „Les Fenêtres" dem entzückten Blick des Kranken eröffnet, ist in Rot und Gold getaucht. Gerade dafür aber fand sich in der Ausdeutung des Ich statt der Entsprechung nur die Frage „Est-il moyen...?" nach der Möglichkeit, der Herrschaft des „ici-bas" zu entgehen. Mit der Proklamation des Fächers zum Szepter des im Glanz der Vollendung stehenden rot-goldenen Abendhimmels hat diese Frage eine Antwort erhalten. Der Fächer kann Flügel des Ich zum Aufschwung aus der Welt zum Absoluten sein, so daß er geschlossen das Absolute potentiell, eben als Szepter, in sich enthält. 271

Die Qualität, die den Fächer zum Szepter macht, heißt „ce blano vol fermé". Das kann man als „dieser helle geschlossene Flug" übersetzen, „geschlossen" im Doppelsinn von „vollendet" und „eingeschlossen". Der Aufschwung, den der Fächer ermöglichte, als er offen war, ist nun in ihm als Möglichkeit enthalten und zugleich dinglich vorhanden. Wie sich der Aufschwung des Ich im Fächer objektiviert, wird sein Ziel, der vibrierende Raum im rotgoldenen Abendhimmel sichtbar. Als vibrierenden Raum erlebte das Ich das von Gott gereinigte Absolute. Der abendliche Himmel wird von der untergegangenen Sonne erleuchtet. Auch von ihrem Nachglanz gilt, daß er „ne peut jaillir ni s'apaiser". Beziehen wir ein, daß der Himmel traditionellerweise die Erscheinungsstätte Gottes war, so offenbart sich im Abendhimmel das gereinigte Absolute, jedoch nicht im wirklichen Abendhimmel, sondern in demjenigen, den der geschlossene Fächer der Einbildungskraft mitteilt. Das vermag nicht der Fächer allein, sondern seine Position „contre le feu d'un bracelet" des Mädchens. Helle des geschlossenen Fächers und Feuer des Armbands stehen hier zueinander in Opposition. Es ist aber auch, als wenn der Fächer aus dem Feuer des Armbands seinen Glanz bezöge. Zwischen Fächer und Armband bestünde dasselbe Verhältnis des Abglanzes wie zwischen der Sonne und dem abendlichen Himmel. „le vol" ist ein zweideutiges Wort, es heißt auch „der Raub", und zwar im Sinne der Aktion des Stehlens als auch des Ergebnisses, „ce blanc vol fermé" ist also auch mit „dieser helle eingeschlossene Raub" zu übersetzen. Der Aufschwung erscheint hinterher als Raubzug, das Raubgut ist in den Fächer eingegangen und nun darin aufbewahrt. Es ist nichts Geringeres als das Absolute. Es gibt dem Fächer seine Helle von innen heraus, obwohl er sich auch am Feuer des Armbands zu entzünden scheint. Durch den Aufschwung wurde das Absolute aus dem Himmel auf die Erde heruntergeholt. „ce blanc vol fermé" weckt somit die Erinnerung an den Raub des Feuers durch Prometheus, ja er läßt den Vorgang des Gedichtes als Nachvollzug dieses Mythos erscheinen. Prometheus verbarg das Feuer, das er von der Sonne genommen hatte, um Zeus zu täuschen im hohlen Stengel der Narthex-Staude, die auch im bacchantischen Zug als Thyrsos diente25. Der Fächer, in dem nun das heruntergeholte Absolute ver25

V g l . K a r l Kerényi,

Prometheus. H a m b u r g :

Rowohlt

1959

(rororo-Enzy-

klopädie 95) S. 82. Mallarmé führt allerdings in seiner Nacherzählung des Prometheus-Mythos in „Les dieux antiques" diesen Umstand nicht an. V g l . Œuvres S. 1 2 1 8

272

borgen ist, entspridit dem Narthex-Stengel. Auf den Vorgang des Verbergens deutet, wie wir nun hinterher zu erkennen meinen, das dunkel gebliebene Wort „enseveli" der vorletzten Strophe. Die Opposition zwischen Fächer und Armband wäre dann die von offenem und verdecktem Feuer. Das Ich des Gedichts ist jedoch ein radikalerer Prometheus. Er raubte nicht nur Feuer vom Himmel, sondern die Sonne selbst und barg sie in der Unscheinbarkeit des Fächers. Insofern ist der Fächer das Szepter über den abendlichen, d. h. die Sonne entbehrenden Himmel, als der Untergang der Sonne sein Werk ist. Daß sich nun der Fächer gegen das Feuer des Armbands lehnt, faßt am Ende des Gedichts den ganzen epochalen Vorgang nochmals ins Bild. Der offene strahlende Glanz des Armbands vertritt die Offenbarung des Absoluten in Gott, der das Licht der Welt ist. Der im Fächer verborgene Glanz ist die neue Erscheinungsweise des Absoluten in der Welt. Es hat nun im Unscheinbaren sein Symbol. Indem das Mädchen seinen Fächer gegen das Armband lehnt, vollzieht es in effigie eine translatio.

IV. Das Gedicht proklamiert den geschlossenen Fächer zum Symbol des gereinigten Absoluten, nachdem es dessen Realität und die der Wirkung auf das Mädchen in Sprache umgesetzt hat, aus der das Ich die suggestive Kraft für seinen reinen Aufschwung erhielt. Die Dinglichkeit des Fächers scheint somit lediglidi ein zufälliger Anlaß für das Gedicht zu sein. Es ist denkbar, daß auch andere Dinge seine Stelle einnehmen könnten. — Nun hatte aber Mallarmé eine besondere Vorliebe für Fächer. Neben dem besprochenen schrieb er zwei weitere große Fächer-Gedichte, und außerdem haben sich 18 meist vierzeilige Epigramme auf Fächer verwandter oder befreundeter Damen erhalten. Auch in den Prosaschriften kommen bisweilen Fächer vor. Offensichtlidi strahlte der Fächer bereits als Ding vor aller sprachlichen Erfassung eine starke Faszination auf Mallarmé aus. Deren Grund hoffen wir zu erkennen, wenn wir im folgenden Mallarmés Äußerungen über Fächer zusammensehen". Fächer tauchen am frühesten in jenen Gedichten Mallarmés auf, in îe

Vgl. dazu Charles Chassé, Les clefs de Mallarmé. Paris: Aubier 1954. S. 219 f. 273

18 Pestalozzi, Lyrisches Idi

denen er den Ton des in der „Symphonie littéraire" ebenfalls gefeierten Théodore de Banville erprobte „A une petite laveuse", „A un poète immoral", „Placet futile". Zur Rokokowelt, auf die in diesen Gedichten angespielt wird, gehört der Fächer als galantes Requisit. Mythische Szenen von Watteau und Boucher sind darauf gemalt. Soldie Fächer empfahl Mallarmé alias Marguerite de Ponty auch den Leserinnen von „La dernière mode" neben anderen Accessoires aus dem Louis X V und Louis XVI als Inhalt einer „corbeille de Mariage" 27 . Aus anderen Äußerungen geht hervor, daß sich Mallarmé auch der Herkunft des Fädiers aus dem Fernen Osten bewußt war 28 . Der Fächer war somit ein für die Zeit typisches Requisit. Er gehörte zu jenen vielen antiquarischen und exotischen Dingen, mit denen man in Paris, „musée lui-même autant que bazar" 8 ', sidi und seine Umwelt drapierte, um überallher neue und frappierende Reize zu gewinnen. Mallarmés Modezeitschrift liest sich wie eine Programmschrift dafür. Sie verhehlt freilich nicht, daß die Anleihen der Mode bei fremden Zeiten und Völkern aus einem Mangel an eigener schöpferischer Kraft hervorgingen, daß der Hang zur Dekoration zugleich einer zur Verhüllung und Maskierung war. Im Wust des schönen Scheins wurde der einzelne Mensch in seiner Bedürftigkeit unkenntlich. Dennoch hatte der Fächer unter den Modeutensilien für Mallarmé eine Sonderstellung. Sein Reiz lag nicht im kostbaren Material oder in der Ausführung, sondern in den Bildern, die seitlich aufgemalt waren, rokokohaften oder modernen. Sie gaben ihm „une valeur idéale" 30 . Der Fächer ermöglichte innerhalb der modischen Gleichheit individuelle Nu-· aneen. Das zeigen besonders Mallarmés kurze Gedichte, die er auf Fächer piazierte. Er eignete sie ihren Besitzerinnen dadurch namentlich zu und schuf so eine Verbindung zwischen Fächer und Person. Die gesellschaftliche Funktion des Fächers, welche diese Gedichte erkennen lassen, bestand darin, die Damen zur Umgebung in Distanz zu setzen, sie vor zudringlichen Blicken und widrigen Winden zu schützen. Zugleich war der Fächer ein zusätzliches Ausdrucksmittel, das erlaubte, Zuneigung, Abwehr, vor allem aber Würde und Souveränität zu bekunden. Was sich jedoch hinter der Bemerkung, der Fächer habe „einen idealen Wert", verbarg, läßt sidi erst aus anderen Stellen erkennen. 27

Œuvres S. 713 („La dernière mode") A.a.O. S. 374 » A.a.O. S. 712 80 A.a.O. S. 714

28 2

274

Eine eigentliche Theorie des Fächers entwickelt Mallarmé überraschend in „Quant au livre" im Zusammenhang mit der merkantilen Beobachtung, daß Bücher nun bis zur Schwelle des Sommers erschienen. Le lançage ou la diffusion annuels de la lecture, jadis l'hiver, avance maintenant jusqu'au seuil d'été: comme la vitre qui mettait, sur l'acquisition, un froid, a cessé; et l'édition en plein air crève ses ballots vers la main pour le lointain gantée, de l'acheteuse prompte à choisir une brochure, afin de la placer entre ses yeux et la mer. Interception, notez — C e que pour l'extrême-orient, l'Espagne et de délicieux illettrés, l'éventail à la différence près que cette autre aile de papier plus vive: infiniment et sommaire en son déploiement, cache le site pour rapporter contre les lèvres une muette fleur peinte comme le mot intact et nul de la songerie par les battements approché. 81 Auch in seinen Ursprungsländern erfüllt der Fächer eine distanzierende Funktion. Er stellt sich als Hindernis zwischen Ich und Landschaft und schließt so die Wirklichkeit aus. Zugleich aber ersetzt er sie durch eine künstliche. In den gemalten Blumen, die er zu den Lippen bringt, erhält der träumerische Zustand, den sein Schlagen erzeugt hat, seine Entsprechung. Von innen und von außen versetzt er die Person, die ihn bewegt, in einen Zustand der Bezauberung. — Die Formulierungen, die Mallarmé gebraucht, erinnern an den Schluß von „Elévation". Aber die Blumen sind hier gemalt. Sie sprechen nicht eine Sprache der umgreifenden Natur, sondern sind Wörter jener anderen menschlichen Sprache, in der sich die Bezauberung artikuliert. Auch die Blumensprache ist infolge von Mallarmés Aneignung des Absoluten zur Menschensprache geworden. Der Gegensatz ist nun der von gewöhnlicher und künstlicher Sprache, wobei diese den „mots intacts" entspricht. In Distanzierung und Bezauberung sah Mallarmé die ursprüngliche Wirkung des Fächers. Er faßte beide Aspekte in die Definition, die schon einmal zitiert wurde: Cet isolateur, avec pour vertu, de renouveler l'inconscience du délice sans cause.82 Die Bezauberung wird hier spezifiziert als Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes des Menschen. Der Fächer versetzt aus der « 82

A.a.O. S. 374 Ebd. 275

18*

Welt der Diskursivität heraus ins Unbewußte resp. Vorbewußte zurück. Es hat erlösende Kraft. Mallarmé kommt an dieser Stelle auf den Fächer zu sprechen, weil die Broschüre, welche sich die Reisende ersteht, scheinbar dieselbe distanzierende Wirkung hat. Auch sie ersetzt die Wirklichkeit durdi eine künstliche Welt. Doch die Verzauberung kommt nicht zustande, weil die Broschüre und die gängige Literatur überhaupt den Leser nicht verwandelt, sondern bestätigt: „Voilà ce que, précisément, exige un moderne: se mirer, quelconque.. ." 53 Der Leser sucht im Buch nur sein Spiegelbild, die Verdoppelung seiner selbst. Der Gegensatz von Fächer und Broschüre ist somit der eines gewöhnlichen und eines verwandelnden Spiegels. Spiegelung eignet beiden, ja das reflexive Moment ist beim Fächer unmittelbarer zu erkennen. Doch er wirkt genau im Sinne des Satzes aus „Les fenêtres": Je me mire et me vois ange! „Aile" ist die häufigste Metapher für den Fächer. Er gibt dem Idi Flügel und bewirkt seinen Aufschwung aus der Wirklichkeit in seinen ursprünglichen Zustand. Der Fächer ist ein platonisches Requisit. Darin liegt sein idealer Wert. Die Bestätigung dieses Zusammenhanges enthält unter einem andern Gesichtspunkt der Anfang von „Crayonné au théâtre"* 4 . Dort erscheint die „Idee" personifiziert als „une exquise dame anormale", die den Dichter in das Theater begleitet hat. „Idee" — audi „Seele" genannt — wird definiert als „la divinité présente à l'esprit de l'homme" 85 . Das ist die genaue Umschreibung des nach der Auslöschung der Gottesvorstellung an den Menschen gefallenen Absoluten. Dessen Gegensatz zur empirischen Wirklichkeit zeigt sich alsbald. Kaum hat das Stück begonnen, drängt die Dame Idee den Dichter aus dem Theater hinaus, weil die Vorstellung zu perfekt zu werden verspricht. Sie schätzt eine Bühne gering, auf der sie nicht ihre eigenen Kunststücke aufführen kann. Das aber ist ihr nur dort möglich, w o das Vorgestellte sich nicht selbst genügt. Sie braucht dazu Leerstellen der Wirklichkeit, Öde und Langeweile z. B., audi vor Beginn des Stückes w a r sie in Aktion. — Die Geste, mit der die Idee ihren Wunsch wegzugehen unterstreicht, wird beschrieben als „me tendant le renoncement au vol, agité longtemps de son caprice". D a ß es sich «

A.a.O. S. 37J A.a.O. S. 293 f. »« Ebd. 84

276

hier um einen Fächer handelt ,wird in der nächsten Regiebemerkung klar „puis d'une main vide de l'éventail". D i e Idee ist ein geflügeltes Wesen. Ihr Flügel ist der Fächer. Seine Bewegtheit zeigt ihren Flug an. Er ist hier also nicht der Bewirkende, sondern Teil der Wirkung. Nicht weil, sondern indem er sich bewegt, manifestiert sich die Idee. D e r Fächer als Medium des Aufschwungs ist zugleich dessen Z i e l ; denn es gibt keinen Himmel mehr, in den er hinaufführen könnte. Die beiden Aspekte der Fächerbewegung, Bezauberung, d. h. Erhebung zur Idee, und Manifestation der Idee ergeben sich daraus, d a ß das Ich normalerweise nicht mit seiner Idee übereinstimmt. D e r Fächer m u ß sie in ihm wachrufen. Er vermag das, weil im Rhythmus seiner Bewegung sdion die Idee am W e r k ist. Gerade der Darstellung dieser Reflexivität kommt der Fächer, mit dem man sich selber fächert, entgegen. So kann man den Fächer als sichtbaren Flügel der Idee z u r

Idee bezeichnen. A l s Brücke zwischen

Idee und Empirie scheint er Mallarmé fasziniert z u haben. M a n kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, als reichten die Begründungen aus der Kulturgeschichte und der Erfahrung nicht aus, um die Sakralisierung des Fächers z u legitimieren. Sie haben zur Voraussetzung, daß die Idee überhaupt einen Flügel besitze. Diese Vorstellung stand f ü r Mallarmé fest. Ihre Herkunft gilt es in erster Linie z u erfragen. In dem zitierten Brief an Cazalis über den Gotteskampf Mallarmés erscheint G o t t als geflügeltes Wesen im Anschluß an Jakobs K a m p f g e nossen. Die Idee ist die Nachfolgerin des überwundenen Gottes. D a ß sie einen Flügel hat, erinnert daran. —

Einleuchtender scheint jedoch

eine andere Herleitung. Mallarmés erste Gedichte sind geprägt

von

einer kindlichen Religiosität. Engel sind darin häufig, ebenso ist „aile" ein oftgebrauchtes Wort®6. Die Vorstellungswelt, die dahinter steht, läßt ein frühes Aufsätzchen über "L'ange gardien"' 7 erkennen. Es schildert, wie der Schutzengel den Menschen von der Wiege bis zur Bahre in allen Lebensumständen treulich begleitet. „ E t lorsqu'il est lancé au milieu du monde, seul vous veillez autour de lui, seul vous ne le quittez jamais, vous remplacez une mère qu'il a peut-être perdue." D e r Schutzengel ist das Prinzip der Identität. Er stammt geistesgeschichtlich v o m antiken

"

17

Vgl. Pierre Guiraud, Index du vocabulaire du symbolisme. III, Index des mots des poésies de Stéphane Mallarmé. Paris: Librairie Klincksieck 1953. »aile" gehört zu den „mots-thème" bei Mallarmé. Œuvres S. 1383 2

77

Genius ab. Im Grunde genommen entspricht er schon ganz der „divinité présente à l'esprit de l'homme". Der Gotteskampf löste ihn aus der Verbindung mit der Transzendenz und verselbständigte, d. h. verabsolutierte ihn. Als Idee des Ich ist er nun das neue Jenseits. Im Flügel, den die Idee bewahrt, ist der des Schutzengels aufgehoben. Nun aber darf der Flügel nicht zu einer neuerlichen Mythologisierung des Absoluten führen. Er muß der Idee äußerlich bleiben. Als ihr Zeichen muß er sich zugleich wieder zurücknehmen. Der Fächer erfüllt diese Voraussetzung. Er sieht aus wie ein Flügel, ohne doch einer zu sein. Innerhalb der Wirklichkeit ist er dank seiner fremden Herkunft und seiner Zweckfreiheit zum Dienst an der Idee geeignet, als materielles Ding aber kann er sie nicht tangieren. Von seiner Reflexivität war schon die Rede. So ist er zwar der Flügel der Idee und zur Idee, aber auf uneigentliche und spielerische Weise. Was ihn dazu machte, war Mallarmés vom „démon d'analogie" regierte Einbildungskraft. Bei der Analogie von Fächer und Flügel blieb Mallarmé nicht stehen. Nach der Schilderung in „Quant au livre" kann der Fächer deshalb auch der Broschüre konfrontiert werden, weil er in enger Beziehung zum richtigen Buch stand. Der Fächer ist das Buch der Analphabeten, das Budi wiederum ist der Fächer der Gebildeten. Das tertium comparationis sah Mallarmé in der Faltung. Die des Zeitungsblattes zum Buch vergleicht er einem „vol recueilli mais prêt à s'élargir" 38 , was genauso vom geschlossenen Fächer gesagt werden könnte. Mallarmés Kennzeichnung des Buches als „instrument spirituel" 39 gilt ebenso für den Fächer. Ja, berücksichtigt man den etymologischen Zusammenhang von „éventail" mit lat. „ventus" und dessen Bedeutungsüberschneidung mit „spiritus", so erweisen sich „instrument spirituel" und „éventail" unvermutet als Synonyma. Das betrifft bereits die geistige Gemeinsamkeit von Fächer und Buch. Insofern war der Fächer das Buch des Analphabeten, als er das Prinzip der Dichtung verkörperte, bevor es geschriebene Dichtung gab. Das war mit dem Hinweis auf „le mot intact et nul" angedeutet. Darauf bezog sich Mallarmés ironisch-selbstkritische Bemerkung über den Fächer: „Aussi je crois, poète, à mon dommage, qu'y inscrire un distique est de trop." 40 Ein Gedicht auf einen Fächer zu schreiben, war ein tautologisches Unterfangen, wenn man die geheime Identität beider annahm. Tatsächlich erkennt Mallarmé an vielen Stellen dem Gedicht 38

A.a.O. S. 379 '» A.a.O. S. 378 40 A.a.O. S. 374 278

dieselbe Zauberwirkung zu wie dem Fächer, etwa in der folgenden negativen Feststellung aus der Nähe der angeführten Passage aus „Quant au livre" . . . que la très simple chose appelée âme ne consent pas fidèlement à scander son vol d'après un ébat inné ou selon la récitation de quelques vers, nouveaux ou toujours les mêmes, sus.41 Und entsprechend an einer andern Stelle: Quiconque ouvre un livre pour c h a n t e r au-dedans de s o i , le vrai lecteur de vers a, depuis dix ans, en Angleterre, comme avant ce temps, en France, il le fera, emprunté pour son âme le déploiement d'ailes de chacune des stances de l'œuvre lyrique de Swinburne. 42 Die geheime Identität von Fächer und Gedicht impliziert nun auch den Unterschied von Gedicht und Literatur, wie er zwischen Fächer und Broschüre besteht. Auch das Gedicht spiegelt nicht wieder, was ist, sondern wirkt als schaffender Spiegel, der im Leser dessen Idee oder Seele weckt. Auch das Gedicht ist Flügel der Seele zur Seele. Und auch es muß in ironischer Distanz bleiben zu dem, was es evoziert. Es muß sich zurücknehmen, um das, in dessen Dienst es steht, nicht zu verunreinigen. Es war uns zu Beginn aufgefallen, daß in Mallarmés Vorstellung Dichtungen geflügelte Wesen waren, Engel, Adler, Schmetterling, Turmhahn. Daß ihm auch Gott als „plumage" erschien, auch er ein erdichtetes Wesen war, enthielt im Ansatz bereits die Überwindung. Er konnte durch eine andere Erdichtung abgelöst werden. Darauf war seitdem Mallarmés Anstrengung gerichtet. Doch sein Ziel waren Dichtungen, die sich selber zurücknahmen. Die spielerisch-ironische Gleichsetzung des Fächers mit Flügel, Buch, Gedicht ermöglicht ein Sprechen, das sich nicht erneut mythologisch verfestigt. Verständlichkeit und Einheit aber verdankte es, und das gilt weitgehend für Mallarmés Sprache überhaupt, der christlichen Mythologie, die es negierte. Überblickt man die vielfältigen Analogien, die im Fächer ihren Quellpunkt haben, so erscheint er als ein zentrales Emblem von Mallarmés Geist. Im Fädier sind Gott und Engel, die früheren Erscheinungsformen des Absoluten, aufgehoben, und zwar so, daß deutlich wird, daß dieses nun in die Hand des Menschen gelegt ist. "

42

A.a.O. S. 37J A.a.O. S. 702 279

V. „Aussi je crois, poète, à mon dommage, qu'y inscrire un distique est de trop". Dieser Satz trifft audi Mallarmés Gedicht auf den Fächer seiner Tochter. Die Interpretation des Gedichts hat jedoch ergeben, daß es gerade auf dieser scheinbaren Tautologie aufgebaut ist. Aus dem Fächer und seiner Wirkung auf das Mädchen machte das Ich sein Gedicht, das es bezaubert und entrückt. Was für das Mädchen der Fächer, ist das Gedicht für das Ich. Das eben macht die Doppelgesichtigkeit des Ganzen aus. Der Nachweis der geheimen Identität von Fächer und Gedicht hat jedoch zur Folge, daß nun auch die Beziehung zwischen den beiden parallel laufenden Sprachebenen des Gedichts in den Blick tritt. Wenn das Gedidit vom Fächer spricht, spricht es zugleich von sich selber. Seine Schilderungen des Fächers in seinen Bewegungsphasen sind Reflexionen auf die Strophen, welche diese Schilderungen enthalten. Mallarmé wandte damit an, was er als Grundsatz von Poes Poetik in ein Bild gefaßt hatte, das in die Vorstellungswelt des Gedichts gehört: „que l'éternel coup d'aile n'exclut pas un regard lucide scrutant l'espace dévoré par son vol." 48 Er baute diesen Rückblick in das Gedicht selber. In dieser Doppelperspektive des Gedichts kommt zum Ausdruck, daß es wie der Fächer Medium für den Aufschwung und der Aufschwung selber, Flügel zur Idee und Flügel der Idee ist. Die rückschauende Reflexion versichert sich mit Hilfe des Fächers des jeweils erreichten Punktes der Aufschwungbewegung. Daß das Gedicht selber der Aufschwung ist und ihn nicht nur evoziert, bedeutet, daß sich dieser innerhalb seiner Sprache vollzieht, nämlich eben im Spielraum zwischen Information und Evokation. So muß zum Sdiluß das Gedicht auf diese dritte Dimension hin nochmals Strophe für Strophe betrachtet werden". Die Anfangsstrophe steht der Umgangssprache am nädisten. Ein Ich spricht zu einem Du über eine Sache. Eine Argumentation findet statt, welche ein differenziertes syntaktisches Gefüge schafft. Der Titel macht es möglich, eigentliche und metaphorische Sprache voneinander zu unterscheiden. Der Rhythmus der Sprache ist eher stockend. Der Stil ist bereits gehoben. Doch im ganzen ist die Strophe informativ. * A.a.O. S. 230 Auf diese dritte Dimension haben vor allem Thibaudet und Michaud hingewiesen. Eine genaue Nachzeichnung des Aufstiegs innerhalb der Sprache hätter strenger semantisch vorzugehen, als das im folgenden geschehen kann. Vgl. ferner Hans-Jost Frey, Poesie und Poetik des Fädiers, zu einem Gedidit von Stéphane Mallarmé. N 2 Z vom 25. Okt. 1964 (Nr. 4J14)

4

44

280

In der zweiten Strophe ist der Flug im Gange. Es wurde festgestellt, daß die Strophe realistisch beginnt, daß dann die Metaphorik um sich greift und auch auf den deutlicheren A n f a n g der Strophe zurückwirkt. Der Vorstellungszusammenhang wird zweideutig. Einzelwörter gewinnen Selbständigkeit. Das Idi ist aus der Sprechsituation verschwunden. Die Du-Anrede ist informativ und evokativ zugleich. Dunkelheit und Zweideutigkeit wachsen. Wir meinen nun auch, in der Abfolge der beiden Strophenhälften die Doppelperspektive angedeutet zu sehen, auf die Mallarmé bei Poe aufmerksam machte. Die Strophe ist einfacher gebaut als die erste. Der Rhythmus verlangsamt sich in der zweiten Strophenhälfte so, daß die Bewegung auf „délicatement" fast zum Stillstand kommt. In jeder Hinsicht ist die Sprachgestalt dieser Strophe übergänglicher Art. In der Mittelstrophe ist die Bewegung auf dem Höhepunkt angelangt. Gemäß der Analogie von Fächer-, Gedicht- und Sprachbewegung muß hier die Sprache des Gedichts in ihre eigene Reinheit gelangen. Tatsächlich sind alle informativen Elemente verschwunden. Zur Realitätsebene konnte der Bezug nur mit H i l f e einer Interpolation und auf dem Umweg über eine andere Fassung hergestellt werden. Entsprechend groß ist die Unverständlichkeit. Alles ist Evokation. Vorzeichen der ganzen Strophe ist der Ausruf zu Beginn. Der „voici"-Satz ist gewissermaßen sein Nachhall. Die Strophe ist denn auch im Vergleich mit den übrigen ausgesprochen pleonastisch. Wir haben auch gesehen, daß keine der Strophen sprachlich so zweideutig ist wie diese. Die Unschärfe hängt mit der Lockerung, ja Auflösung des determinierenden Kontexts zusammen. Man könnte sagen, daß hier die parole in die langue übergeht, in der die Einzelwörter weite Bedeutungshöfe mit unscharfen Rändern um sich haben. In den Negationen der dritten und vierten Zeile wird das Aussetzen der Mitteilungsfunktion thematisch und sprachlich deutlich. Verglichen mit dem Ausgangspunkt des Gedidits ist die Sprache hier absolut geworden. Doch noch als absolute bleibt sie Sprache. Ihre Reinheit besteht darin, daß nun die Bedingung ihrer Möglichkeit zu Tage tritt. Diese liegt in dem Vibrieren, das darauf tendiert, sich zu artikulieren und mitzuteilen. Genaugenommen ist es die Reinheit der Sprache des Gedichts, die sich hier zeigt, das a priori der Konstellation von Ich-Du-Es. Im Bild des Kusses kommt es rein hervor, auch mit seiner narzißtisdien Komponente. Weil die Spradie, deren Reinheit hier erreicht ist, auf ein Du ausgerichtet ist, wird der Höhepunkt des Gedichts zum O r t seines Umschlags. Die Potentialität drängt weiter zur

281

Aktualisierung. Damit aber geschieht etwas für die Absicht des Gedichts Grundlegendes. Dem Aufschwung ist es nicht gelungen, sich von dem Medium, das ihn ermöglichte, zu befreien. Er gelangte, statt zum reinen Absoluten, nur bis zur Absolutheit der Sprache. Der Flügel wird, wie es die erste Strophe ankündigt, festgehalten und damit zur Fessel. Mit dem „sens-tu" der folgenden vierten Strophe löst sich die Spannung. Die Sprache kehrt aus der Höhe der Evokation in die Niederungen der Mitteilung zurück. Das Entstehen des Lächelns spiegelt den Vorgang der Artikulation und damit die Rückkehr aus der reinen in die gesprochene Sprache. „Le paradis farouche" könnte auf einen präadamitischen Zustand der Sprache anspielen, der nun in menschliche Sprache übergeht. Die Spiegelsymmetrie der vierten zur zweiten Strophe ist offenkundig. Der Übergang aus der Dunkelheit in die relative Deutlichkeit ist mit dem pointierten „unanime pli" erreicht. Der Fächer hat seine Bewegung eingestellt. Diese Rückkehr könnte bedeuten, daß der Aufschwung in die reine Wonne mißlungen sei, weil er nicht über die Sprache hinausführen konnte. Wie aber, wenn dieser Mißerfolg gerade beabsichtigt wäre und damit kein solcher? Wenn es dem Ich gar nicht darum zu tun gewesen wäre, durch die Sprache über die Sprache hinauszukommen, sondern darum, das Feld der Sprache und damit das seiner Endlichkeit als der eines dichtenden Ich auszumessen? Das Gedicht endet mit einem feierlich-prunkvollen Finale. Wenn die angenommene Analogie gilt, reflektiert der geschlossene Fächer das abgeschlossene Gedicht. Er verleiht diesem damit eine Bedeutung, die über den gedruckten Text hinausreicht. Wie der geschlossene Fächer zum Szepter des Abendhimmels wird, tut sich über dem Abschluß des Gedichts das Absolute in seiner Reinheit auf. Nun ist es auch vom geistigsten Medium, der Sprache, befreit. Indem diese bis in ihren eigenen Ursprung vorstieß, wurde sie per negationem zur Wegbereiterin des Absoluten. Dieses fängt dort an, wo sie am Ende ist. Aber sie mußte ans Ende kommen, damit es anfangen kann. So kommt nun im leeren Raum des weißen Papiers, in den das Gedicht mündet, die Aufschwungsbewegung ans Ziel. Darin sind die vorangegangenen Aufschwünge die des Fächers, des Gedichts über den Fächer und der Spradie des Gedichts über den Fächer aufgehoben, wie der vollendete Aufschwung in den zugefalteten Fächer einging. Dem nach dem Gedicht anhebenden Schweigen gilt der letzte Name des Fächers, „ce blanc vol fermé". 282

Hugo von Hofmannsthal „Reiselied" Hugo von H o f m a n n e t h a l , Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Stockholm: Bermann-Fischer, später Frankfurt: S.Fischer 194J f. [zit. GLD = Gedichte und lyrische Dramen; Ρ = Prosa; A = Aufzeichnungen] Hugo von H o f m a n n s t h a l , Briefe 1890—1901. Berlin: Fischer 1935 [zit. Briefe] Hugo von H o f m a n n s t h a l — Edgar Karg von Bebenburg, Briefwechsel, hrsg. von Mary E. Gilbert. Frankfurt: Fischer 1966 Briefwechsel zwischen George und H o f m a n n s t h a l , hrsg. von Robert Böhringer. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 1953a Hugo von H o f m a n n s t h a l — Arthur Schnitzler, Briefwechsel, hrsg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler. Frankfurt: Fischer 1964 Im Selbstgespräch des jungen Hofmannsthal, wie w i r es aus den postum veröffentlichten Aufzeichnungen seines Journal intime kennen, spielt die Frage, was das Ich sei, v o n A n f a n g an eine bedeutende Rolle. D i e dritte veröffentlichte Eintragung lautet: 29. X I I . 1890 — W i r verstehen nur uns selbst, und an uns selbst nur das Gegenwärtige, und auch den gegenwärtigen Gedanken nur solang als w i r ihn denken, als er flüssig ist. 1 D a s w i r d ein halbes Jahr später nodi verdeutlicht: W i r haben kein Bewußtsein über den Augenblick hinaus, weil jede unserer Seelen nur einen Augenblick lebt. D a s Gedächtnis gehört nur dem K ö r p e r : er reproduziert scheinbar das Vergangene, d. h. er erzeugt ein ähnliches Neues in der Stimmung. Mein Ich v o n

gestern

geht mich so wenig an w i e das Ich Napoleons oder Goethes. 8 D a s Ich, das in diesen Bemerkungen bestritten wird, ist das ego cogitans, das als Konstante die wechselnden Vorgänge der Wahrnehmung und Empfindung begleitet und ihren Zusammenhang herstellt. Es ist hier weitgehend dem Gedächtnis gleichgesetzt, das Vergangenes lebendig hält.

1 2

A S. 89 A.a.O. S. 93 283

Doch diese Gleichsetzung geschieht bereits im Hinblick auf die Widerlegung. Die Identität in der Zeit wird dadurch angefochten, daß der Unterschied von Empfindung und Bewußtsein verwischt wird. Das Denken wird der Empfindung untergeordnet. D a deren Zeitform die Augenblicklichkeit ist, kann es keine Kontinuität des Bewußtseins geben. Was so aussieht, ist ein falscher Schein. Das Gedächtnis, das als Phänomen nicht geleugnet werden kann, ist eine Funktion des Körpers. Dieser ist als lebendiger Organismus der Inbegriff ständiger Wandlung. E r kann keine wahre Dauer verbürgen. A n deren Stelle tritt Augenblickliches, das weder mit dem Vergangenen noch mit dem Folgenden Verbindung hat. Die traditionelle Ich-Einheit, auch Seele genannt, löst sich damit auf in eine unverbundene gesetzlose Abfolge unendlich vieler Ich-Momente resp. momentaner Idi-Regungen. Diese Atomisierung ist nicht nur eine in der Zeit. Wie die eine Seele zur Abfolge einer unendlichen Vielheit von Seelen wird, vervielfältigt sie sich auch in jedem einzelnen Augenblick. Die Entthronung des einen dominierenden Bewußtseins setzt verschiedene Regungen gleichzeitig frei. Es ist bezeichnend, daß Loris in einer andern Aufzeichnung der alten Mikrokosmosvorstellung nur den Aspekt der Vielfalt entnimmt, wenri er feststellt: Mikrokosmos: eine Menagerie von Seelen. Das Wesen des Steines ist Schwere, des Sturmes Bewegung, der Pflanze Keimen, des Raubtiers K a m p f . . . in uns aber ist alles zugleich: Scftwere und Bewegung, Mordlust und stilles Keimen, Möwenflug, Eisenklirren, schwingende Saiten, Blumenseele, Austernseele, Pantherseele.. . 3 Die augenfällige Darstellung eines „Ich" ohne zeitliche und räumliche Einheit bildet das folgende Prosagedicht, der Entwurf zu einem metrischen: 24.—2$. V I I . [92?] — die kleinen Quellen die (offenen) bebenden Adern des Gartens, die Sonne, die klein und golden übers Dach klettert zwischen dem Rauchfang und den dunkeln Blättern der Eberesche durch, der Wald voll schwebender Lichter und Schatten, abends mein kühles weißes Bett und draußen die blaue Sternennacht, das Atmen der Kerzen in der lauen Luft, mein Stock und die Bücher: Dante und Homer, darin die sieben göttlichen Tugenden mit frommen Kinderstimmen lateinisch singen und die Nausikaa Ball spielt.4 3 4

A.a.O. S. 92 A.a.O. S. 97

284

Man kann dieses Idi „impressionistisch" nennen, wenn man den Begriff weit genug faßt. Hofmannsthal registriert nicht nur die Flut der Sinnenreize, sondern ebenso die inneren Empfindungen, die Flucht der Gedanken, das Auf und A b der Willensimpulse. In- und Nacheinander unterstehen keinem einsehbaren Gesetz, sie sind zufällig. „Zufall" ist der Name für das Fehlen der synthetisierenden Einheit. Er kann sogar zur moralisdien Kategorie werden, wie die entscheidende Stelle im Absagebrief Hofmannsthals an George zeigt: Aber ich sehe keine Schuld und kein Verdienst, und was kann der Wille dort helfen, wo Tyche rätselhaft wirkt? 5 Hofmannsthals Aufzeichnungen selbst scheinen die Zufälligkeit als Stilprinzip akzeptiert zu haben. Gedankensplitter, Stimmungsfetzen, Gedichte, Lesenotizen, Einfälle, Stichworte über Begegnungen gehen durcheinander. Problemen, die ihn etwas länger beschäftigen, gesteht er nur den Titel von νοήματα πρυτανεύοντα " gerade vorherrschenden Gedanken zu. So kann er die Fiktion einer Seelendemokratie aufrechterhalten. Die Polemik gegen ein konstantes dominierendes Idi tendiert darauf, uneingeschränkte Offenheit und Verwandlungsfähigkeit zu ermöglichen. Der Mensch soll sidi proteisch allem angleichen können, was ihm begegnet, als „Spiel von jedem Druck der Luft". Der Wahnsinnige im mikrokosmischen Spiel des „Kleinen Welttheaters" repräsentiert dieses Ideal in extremis. Er strebt darnach, sich in unendlicher Verwandlung zum All auszubreiten. Nur mit Zwang wird er von Arzt und Diener in den Schranken seiner körperlichen Existenz zurückgehalten. Am äußersten Ende seiner Bahn zeigt sich jedoch die Dialektik dieser Daseinsform'. Sie besteht und kann mit Bewußtsein nur bestehen im Kampf gegen ein festes Ich. Sie bedarf dessen als eines Sprungbretts in das All. Würde die Auflösung total, versdiwände jede Möglichkeit, sie zu genießen, überhaupt ihrer inne zu werden. In der Tendenz zur bewußten IchAuflösung ist so die Gegentendenz zur Ich-Konsolidierung mitenthalten. 6 A . a . O . S . 9 j ; Briefwechsel George-Hofmannsthal S. 1 4 • A S . 9 2 , 9 j , 1 0 4 , 1 1 7 . Eine antike Herkunft des Terminus ließ sidi nicht nachweisen. Hofmannsthal könnte ihn aus Schopenhauer übernommen haben, der im 4 . Budi von „ D i e Welt als Wille und Vorstellung" von „der herrschenden (πρυτανενονςα) Besorgnis des Tages" spricht. Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig: Brockhaus 1 8 J 9 . I, S. 3 7 4 . — Nietzsche hebt in seiner vierten „Unzeitgemäßen Betrachtung" den Terminus „der herrschende Gedanke* durch Sperrung hervor. Schiedita I, S. 4 0 2 . Er erscheint auch im „Zarathustra". Sdilechta II, S. 3 2 6 , 3 3 8 .

285

In den frühen Aufzeichnungen und in den ersten Prosaarbeiten H o f mannsthals bereits steht die Ich-Auflösung in Spannung zur Ich-Bewahrung. Es macht den Anschein, als unterstehe sdion die Gegenüberstellung Byron — Goethe7, mit der die (publizierten) Aufzeichnungen anheben, diesem Gesichtspunkt. Goethe — „erfaßt das Universum, sieht das Ganze" — würde merkwürdigerweise dem sich erweiternden Ich entsprechen, Byron dagegen — „erhebt das Individuum, sieht nur eine Seite" — dem sich konzentrierenden. Überzeugender erscheint der Gegensatz unter den Namen Amiel — Hebbel 8 . Hebbel ist für Hofmannsthal das Paradigma eines Menschen, der sich beschränkt, sich im Schaffen und Denken mit dem Fragmentarischen begnügt und noch das Gefühl begrenzt. Wie aber ist für Hofmannsthal selbst, der so entschieden von der Auflösung der Ich-Einheit überzeugt ist, eine solche Begrenzung denkbar? Da er in sich selbst keinerlei Identität verleihende Kraft verspürt, ist er genötigt, sich von außen ein Identitätsmodell zu leihen. Der „Prolog" zum „Tod des Tizian" demonstriert, wie das geschehen kann: Ich stieg einmal die große Treppe nieder In unserm Schloß, da hängen alte Bilder Mit schönen Wappen, klingenden Devisen, Bei denen mir so viel Gedanken kommen Und eine Trunkenheit von fremden Dingen, Daß mir zuweilen ist, als müßt ich w e i n e n . . . Da blieb ich stehn bei des Infanten Bild — Er ist sehr jung und blaß und früh verstorben... Ich seh ihm ähnlich — sagen sie — und drum Lieb idi ihn auch und bleib dort immer stehn Und ziehe meinen Dolch und seh ihn an Und lächle trüb: denn so ist er gemalt: Traurig und lädielnd und mit einem D o l c h . . . Und wenn es ringsum still und dämmrig ist, So träum ich dann, idi wäre der Infant, Der längst verstorbne traurige I n f a n t . . . 9 Der Anstoß zur Wahl des Infanten als Vorbild erfolgt von außen; denn nur für die beobachtenden andern kann das Ich noch feste Kontu7

A S. 89; Mai 1890 A.a.O. S. 89/90 • GLD S. 182 8

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ren haben. Dann aber übernimmt der Prolog die ihm suggerierte Ähnlichkeit und stilisiert sich darauf hin. In dieser Stilisierung gewinnt er ein festes Bild von sich. Das Ich verliebt sich nicht in sein Spiegelbild, es wird an dem, was es sich als Spiegel erwählt, überhaupt erst zum Ich. Im Spielen einer vorgegebenen Rolle gewinnt es umrissene Gestalt. In den Aufzeichnungen ist diese Möglichkeit avisiert, wenn es heißt: Einfluß des Verkehrs mit Schauspielern: Stimmung madien, durch Regie einen Charakter h e r a u s b r i n g e n , angewandt auf das reale Leben. 10 In diesen Zusammenhang gehört audi die Beobachtung: Ibsensdie Menschen sehnen sich nach Künstlichkeit, Kunstverklärtheit des Lebens: Julian, Hedda. 1 1 In der Ich-Schauspielerei wird das Prinzip der Verwandlung, das sich gegen ein festes identisches Ich richtete, gerade in dessen Dienst gestellt. Daß die Festlegung spielerisch geschieht, Distanz damit in die Identifizierung aufgenommen wird, unterscheidet die so gewonnene von der traditionell verstandenen Identität des Charakters. Es entsteht eine auf Zeit, wie sie ad hoc im Umgang mit sich und den andern gerade benötigt wird. Insofern ist auch sie dem Gesetz der Prytanie unterworfen. Die Ich-Identitäten gleichen Potemkinschen Dörfern 1 1 . Aber noch in der provisorischen Dauer, die das Idi sich erspielt, liegt eine Bedrohung, die nicht weniger tödlich sein kann als die totale Auflösung. Der Prolog gleicht sich einem Verstorbenen an, er räumt einem Toten Macht über sich ein. Seine Lebendigkeit ist damit gefährdet. In der Bedrohung durch das Vergangene, die Loris früh schon in allem Anspruch der Tradition witterte, kommt jedoch nur besonders deutlich zum Vorschein, was alle Idi-Konturierung impliziert: eben jene Erstarrung, gegen die Loris Vielseelenlehre sich wandte. Den Einzelseelen, die sich revolutionär von der Herrschaft des Bewußtseins befreit hatten, drohte eine Diktatur von außen, die Identität um den Preis der Lebendigkeit gewährte. So empfand Hofmannsthal audi den Anruf Stefan Georges". Indem er sich ihm entzog, sudite er die Vielfalt seiner Möglichkeiten uneingeschränkt zu erhalten. 10 11 12 15

A S. 103 A.a.O. S. 100 „Menschen führen einander durch ihre Seelen wie Potemkin die Kaiserin Katharina durch Taurien." A S. 92 Die Verbindung zu der zitierten Stelle aus dem Prolog zum „Tizian" läßt eine Strophe aus dem Entwurf zu „Einem der vorübergeht" erkennen: 287

So fand sich Hofsmannsthal, als er erkannte, daß ihm von Natur aus keine erfahrbare Identität mit sich selbst gewährt sei, im wörtlichsten Sinn zwischen Scylla und Charybdis. Auf der einen Seite eröffnete sich die unendliche Möglichkeit der Verwandlung, die jedoch am äußersten Ende zur völligen Auflösung sogar der physischen Existenz wurde. Auf der andern Seite bot sich die Gegenmöglichkeit der schauspielerischen Anverwandlung eines gegebenen Identitätsmodells, auf deren Grund der Tod durch Erstarrung lauerte. Im Prolog zum „Tizian" findet „der Dichter" für die Zusammenführung der Gegensätze die Formel „Schauspieler deiner selbstgeschaffnen Träume" 14 . Die Rolle, die der Mensch aus sich selbst herausstellt, um sidi ihr anzuverwandeln, erschien als Möglichkeit, seiner selbst habhaft zu werden, ohne sich an Fremdes auszuliefern. Daß sie selbstgeschaffner Traum war, garantierte Lebendigkeit und Unfixiertheit. In der Polarität von Ich-Auflösung und Ich-Bewahrung steckt die Voraussetzung, daß der Mensch grundsätzlich eine Ich-Einheit ist. N u r kann diese sich nicht mit irgendeiner vermittelten Identität decken. Sie ist ursprünglicher und stellt darum alle erfahrbaren Ich-Formen in Frage. Unter den Notizen der Frühzeit bezeichnet die folgende diesen jenseitigen Bezugspunkt am explizitesten: Theophr. Paracelsus über den geheimnisvollen Regenten unseres Lebens: „unser Geist, der nicht in uns wohnet und seinen Stuhl in die oberen Sterne setzt", das wahre Ich, das große Ich Die wirklichen Vorgänge des t r a n s z e n d e n t e n Weltlaufes sind über unsere Phantasie hinausgehend und werden durch die kühnsten Bilder in ein unzulänglich banales Medium hinuntergezogen. 15 Das Paracelsus-Zitat hatte Hofmannsthal bei Schopenhauer gefunden". Dieser verwandte es, um „die Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen" zu belegen, denn da er dieses leitende Prinzip als unerkennbar ansetzte, mußte er aus der Geschichte „Analogien und Gleichnisse" Du warst wie das Bild, wie das alte Das wo im Dunklen hängt Und sich zuweilen seltsam In meine Sehnsucht drängt George-Hofmannsthal B W S. 2 3 7 14 15 w

G L D S. 182 A S. 120 Vgl. Martin Stern, Zu einem Gedicht Hugo von Hofmannsthals „Ein Traum von großer Magie". F S Gottfried Weber, hrsg. von H . O. Burger und K . von See. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1967. S. 265—298

288

zusammentragen, um anzudeuten, was er meinte. Der Geist, von dem Paracelsus sprach, kam so in eine Reihe mit Dämon, Genius, spiritus familiaris und der christlichen Vorsehung, ja sogar mit Gott zu stehen 17 . Die Verbindung mit den Sternen w a r bei Paracelsus astrologisch gemeint. Motivisch kam für Hofmannsthal darin zum Ausdruck, daß das Ich die Stelle Gottes eingenommen hatte. K a u m je wird so unmittelbar einsichtig wie hier, daß Hofmannsthal im Strahlungsfeld

Nietzsches

und Mallarmés aufwuchs 18 . E r hatte jedoch keinen Gotteskampf mehr zu bestehen. Sein Kaiser Porphyrogenitus braucht „Gottes T o d " 1 9 als ge17

18

»

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, hrsg. von J . Frauenstädt. Berlin: Brockhaus 1862 2 . Bd I, S. 225 f . Die Anthropologie Hofmannsthals ist, wie deutlich geworden ist, bis in Einzelheiten von Nietzsche und Schopenhauer bestimmt. Der Einfluß beider auf Loris bedarf jedodi noch einer zusammenfassenden Darstellung. Er kann kaum überschätzt werden. Aus dem Briefwechsel mit Schnitzler geht hervor, daß H . schon 1890 auf Nietzsche aufmerksam gemacht wurde durch Paul Goldmann, den Redaktor der Zeitschrift „ A n der schönen blauen Donau", die H . erstes Gedicht druckte. BW S. 65. Die ersten Spuren weisen auf die „Unzeitgemäßen Betrachtungen". Es scheint, daß schon die ersten Tagebuchaufzeichnungen unter dem Einfluß Nietzsches entstanden. Schon die zweite Eintragung „Wir gehen auf staubverhüllten Perlen", der im weiteren lyrischen Werk zentrale Bedeutung zukam, ist ein deutlicher Anklang an Nietzsches Satz: „So wie immer das große Problem dem edlen Gesteine gleicht, über weldies Tausende hinwegschreiten, bis endlich Einer es aufhebt." (Richard Wagner in Bayreuth, Schiedita I, S. 387), auf den der große Passus zur Sprachkritik folgt. H ' Sprachskepsis wurde offensichtlich stärker von Nietzsche und indirekt von Wagner angeregt, als ich das in meiner Dissertation gesehen hatte. Vgl. K . P., Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich: Atlantis 1958. — Die frühen Aufsätze sind stark von Nietzsche geprägt. Durdi diesen sdieint H . schon sehr bald auch zu Schopenhauer gelangt zu sein. Der Name fällt im Aufsatz über Amiel zum ersten Mal. P I S . 30. Im weiteren drängt Schopenhauer Nietzsche mehr und mehr zurück. Man gewinnt den Eindruck, H . sehe auch Nietzsche von Schopenhauer her. — Schopenhauers Bedeutung betont nachdrücklich Gotthard Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart/etc.: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur 25). Wunberg diskutiert audi den Einfluß Nietzsches und zitiert die einschlägige Literatur. Seine Grundthese, es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen H . und Ernst Mach, veranlaßt ihn jedoch, die Bedeutung Nietzsches und Schopenhauers für H . abzuwerten, ohne daß freilich seine brüchige Brücke zu Mach an Tragfähigkeit gewinnt. Die von Wunberg S. 88 angeführte Äußerung Kassners, „Nietzsche hatte ihn [H.] nie beschäftigt oder gar beunruhigt", ist heute eindeutig widerlegt. G L D S. 261. Dieser Fluch widerspricht jedoch der frommen Haltung, die der 289

19 Pestalozzi, Lyrisdies 1dl

läufiges Fluchwort wie frühere Jahrhunderte den Namen Gottes. Die selbstverständliche Identität von Gott und Selbst zeigt sich etwa auch darin, daß Loris in einem Brief an Karg von Bebenburg leichthin schreibt: „In sich selber verliebt", idi mein halt ins Leben, oder wohl audi in Gott, wie man will. 20 Stand es somit für Hofmannsthal von Anfang an fest, daß Gott zum innermenschlichen Absoluten geworden war, so ging es ihm als Dichter um so dringlicher darum, sich dessen zu versichern, Gleichnisse und Analogien dafür und für das Verhältnis von Ich und Selbst zu finden. Insofern enthält der Novellen-Plan, den das Paracelsus-Zitat auslöste, in nuce Hofmannsthals dichterisches Programm: Wien, 6. V I . — Gedanke. Eine Novelle, deren Held sidi sucht, jenes große Ich, „das nicht in uns wohnet und seinen Stuhl in die oberen Sterne setzt"; eine Geschichte, die ihren Schwerpunkt in der transzendentalen Welt hätte. Ekstatische Momente der Erhöhung (Ergreifen des Genius), Momente der Verlassenheit, auch ein Besdileidien und ahnendes Schauen, wie Aktäon durch die Büsche die Schönheit der Göttin beschleicht.21 Am Beispiel des „Reiseliedes" soll untersucht werden, auf weldie Weise Hofmannsthal die Erhebung zum „großen Ich" dichterisch zu gestalten und damit dieses sprachlich offenbar zu machen unternahm. „Reiselied" hat eine faßbare Erlebnisgrundlage, auf die der Titel noch anspielt. Im Sommer 1898 unternahm Hofmannsthal mit Arthur Schnitzler zusammen eine Radtour in die Schweiz. In Montreux trennten sie sich. Hofmannsthal überquerte nach einem kurzen Abstecher nach Zermatt und zum Gornergrat mit seinem Fahrrad den Simplón. In der Schilderung, die er in einem seiner täglichen Briefe an die Eltern gibt, ist deutlich der Eindruck zu erkennen, auf den sich die erste Strophe des Gedichts bezieht: Ich hab' geglaubt, daß das so ähnlich ist wie der Brenner, es ist aber absolut nicht zu vergleichen, sondern von einer unbeschreiblichen Großartigkeit. Abgründe, in die man ganze Bergketten hineinwerfen könnte, Gletscher, bis an die Straße herab, Schutzdächer, über die

20 !1

Kaiser am Scfaluß des Stückes einnimmt. E r könnte also audi Zeichen der Gottverlassenheit sein, solange der Kaiser im Bann der H e x e steht. H o f m a n n s t h a l - K a r g von Bebenburg B W S. 83 A S . 1 2 1 . Stern weist a.a.O. mit Redit auf den platonischen A s p e k t des A k täon M y t h o s hin. Einige der hier angedeuteten M o t i v e sind in „ D e r Kaiser und die H e x e " eingegangen. Porphyrogenitus sucht durch das Wegziehen von Hindernissen (Büsdie, V o r h a n g , R a n k e n etc.) zur H e x e zu gelangen.

290

das Wasser herunterschäumt, und nach rückwärts riesige Bergketten und sich kreuzende, mit Schatten erfüllte Täler. Es war noch schöner dadurch, daß sich große finstere Wolken zusammengezogen haben. Wie ich fast oben war, — oben ist ein Hotel — hat es zu dunkeln und stark zu regnen angefangen (21. [8. 98]). 22 Von der Simplonpaßhöhe ging die Fahrt hinunter nach Domodossola, von da per Eisenbahn und Dampfschiff nach Lugano, wo Hofmannsthal im Hotel du Parc abstieg. Über die südliche Landschaft berichtete er er wiederum an die Eltern: Jetzt geh' ich mit einem Band Goethe in der Hand ganz oder wenigstens halb heiter herum, madie kleine Fahrten mit dem Dampfschiff und Spaziergänge an den Ufern, die ein bissi an den Wolfgangsee erinnern, — nur freilich lieblicher und wieder ernster, in doppeltem Sinn reicher, — vormittags und abends wieder nach dem Diner. Es gibt kleine Felsenstiegen an den steilen Ufern, zwischen gutriechendem Gebüsch, dann wieder unter Weinlauben mit unzähligen raschelnden Eidechsen und schwirrenden Libellen und Schmetterlingen. Unten liegt dann der See manchmal grau wie eine angehauchte Eisenklinge, manchmal blau mit smaragdgrünen Reflexen wie TiffanyGlas (24. [8. 9 8]). 2 8 Unter meinem Balkon in der Nacht das schönste Schimmern und Blinken des Sees, im Garten ein Platz zum Arbeiten unter den diditesten, größten Bäumen und immer ein leichter Wind vom See her — idi bin sehr zufrieden (30. [8. 98]). 24 In dieser Umgebung entstand am 2 1 . und 22. August das „Reiselied", das erst „Alpenübergang" oder „Alpenstraße nach Italien" heißen sollte25. Es gestaltete die Hauptstadien der Reise nach zu dem Ort hin, an dem es entstand, und typisierte zugleich „die Alpenlandschaft als Urnatur, die Po-Ebene als die Sphäre gesegnetster Zivilisation". Die starken Vögel werden in diesem Zusammenhang zur Mythisierung des Fahrrads. 25

23 25

Briefe I S. 260. Zur Chronologie vgl. Günther Erken, Hofmannsthal Chronik. Literaturwiss. Jb. der Görres-Gesellschaft N . F. 3, 1962. S. 2 3 9 — 3 1 3 24 A.a.O. S. 263 A.a.O. S. 265 Ich verdanke Prof. Eugene Weber, Harvard, dem Bearbeiter der Chronologie der Gedidite Hofmannsthals, durdi die freundliche Vermittlung von Prof. Martin Stern den Einblick in die Entwürfe zum „Reiselied". Sie tragen die genannten Daten. Vgl. auch E . W., A Chronology of Hofmannsthal's Poems. Euphorion 63, 1969. S. 3 2 1

291 19»

Den Interpreten26 fiel jedoch nicht so sehr der Erlebnisgehalt des Gedichtes auf. Sie interessierten sich vielmehr für seine Nähe zu Goethes Italiengedicht „Kennst Du das L a n d . . D i e Anklänge sind mit Händen zu greifen, und so wurde „Reiselied" teilweise als eine Kontrafaktur der Mignonballade gedeutet. Tatsächlich verbietet es gerade die offensichtliche Nähe zu Goethe, in „Reiselied" ein Erlebnisgedicht im Goethesdien Sinne zu sehen, und es stellt sich die Frage, wie sich persönliches Erlebnis und Nachbildung eines vorgegebenen Modells hier vereinbaren. In dieser Frage ist die anfangs skizzierte Problematik des Ich ins Dichtungstheoretische gewendet. Das Gedicht kann als Antwort darauf genommen werden. Reiselied Wasser stürzt, uns zu verschlingen, Rollt der Fels, uns zu erschlagen, Kommen schon auf starken Schwingen Vögel her, uns fortzutragen. Aber unten liegt ein Land, Früchte spiegelnd ohne Ende In den alterslosen Seen. Marmorstirn und Brunnenrand Steigt aus blumigem Gelände, Und die leichten Winde wehn.27 Die erste Strophe enthält auf paradigmatische Weise den Gegensatz von Fall und Erhebung, der zur Aufschwungmotivik gehört. Er ist zu einem geschlossenen Kräftespiel ausgestaltet. Die nicht näher bestimmten „wir" sehen sich unmittelbar der Aggression durch Wasser und Fels, die auf sie hinabstürzen, ausgesetzt. Wasser und Fels sind untereinander An

Interpretationen

lagen

mir v o r :

Alfredo

Dornheim,

Das

„Reiselied"

H u g o v o n H o f m a n n s t h a l s : eine hyperboreische „ M i g n o n - L a n d s c h a f t " . E u p h o rion X L I X ,

19JJ.

1, S . j o — j j .



Josef

Fide, H u g o

von

Hofmannsthal

„ R e i s e l i e d " . D e r Deutschunterricht j , 1 9 5 3 . 4 . S . 2 9 — 3 3 . — C u r t F r e i w a l d , H u g o v o n H o f m a n n s t h a l s Landsdiaftserlebnis in seiner dichterischen G e s t a l t . Diss. K i e l 1 9 3 2 . S . 1 0 8 / 9 . —

Herbert Lehnert, Hofmannsthal,

In: Struktur und Spradimagie. Stuttgart/etc.: und L i t e r a t u r 3 6 ) . S . 9 0 — 9 9 . —

Kohlhammer

„Reiselied".

1966

(Sprache

F r a n z N o r b e r t M e n n e m e i e r , D i e Gedichte

H u g o v o n H o f m a n n s t h a l s . Diss. M ü n s t e r 1 9 4 8 . S . 90 f . —

Paul

Requadt,

D i e Bildersprache der deutschen Italiendichtung v o n G o e t h e bis Benn. B e r n / München: F r a n c i e 1 9 6 2 . S. 2 2 f. «

292

G L D S. I i

Gegensätze. Das wird durch den verschiedenen Artikelgebrauch angedeutet, und gegensätzlich ist audi ihre Bewegungsart: die des Wassers ist gerichtet, der Fels dreht sich. Als Flüssiges und Festes sind sie aber auch zueinander komplementär. Der Chiasmus, in dem sie zunächst zueinander stehen, weicht in den zweiten Zeilenhälften einem Parallelismus. Sie fügen sich zu einer Totalität zusammen in der Gefahr, die sie für „uns" bilden. Die Doppelheit macht sie unausweichlich wie Scylla und Charybdis. Die aggressive Bedrohung, welche von der Natur in Gestalt von Wasser und Fels ausgeht, empfinden „wir" als tödlich. Dabei ist in der Formulierung als infinitivisdier Nebensatz die noch ausstehende Zukunft fast schon gegenwärtig. Angesichts der Gefahr antizipieren „wir" den Tod. Das Gebirge erweist sich als „locus terribilis", an dem sidi die Natur auf den Menschen stürzt, um ihn zu vernichten. In den Vögeln hält sie noch eine dritte Gefahr bereit. Der Aufbau der Strophe ordnet sie Wasser und Fels gleich. Man kann an Raubvögel denken, die es auf die in Aussicht stehenden Kadaver abgesehen haben. Daß das Auftaudien der Vögel die drohende Vernichtung der „wir" durch Wasser und Fels zur Voraussetzung hat, ergibt die syntaktische Konstruktion: die Inversion der zweiten Zeile, welche mit der ersten zusammen den Chiasmus ergibt, gibt im Hinblick auf das folgende der ersten Strophenhälfte konditionale Bedeutung, sie steht für einen „wenn"-Satz. Die Abfolge bekommt so den Anschein einer Gesetzmäßigkeit. Dazu passen auch das generalisierende Präsens und der Plural der ersten Person. Mit „schon" in der dritten Zeile kommt zum konditionalen ein temporales Moment hinzu. Die Vögel erscheinen fast gleichzeitig mit den Elementen. Sie haben nicht nur den Sturz von Wasser und Fels zur Voraussetzung, sonder ebenso die Angst erregende Antizipation des Todes im Bewußtsein der Betroffenen. Sie sind somit, anders als die Elemente, auch eine psychische Realität. Es eignet ihnen etwas Märchenhaftes. In der Antizipation des Todes wird das Bewußtsein erhoben. Es objektiviert diese Empfindung in den Vögeln, die „uns" fortzutragen kommen. Wie die Entwürfe zeigen, hat Hofmannsthal zwischen „forttragen" und „wegtragen" geschwankt. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Stilhöhe, aber auch in der Bedeutung, „weg-" betont mehr das absetzende, privative Moment, „fort-" impliziert ein Ziel. So kommen die Vögel auch als Retter, die „uns" anderswohin bringen werden. Das vermögen sie, weil sie nicht der Schwerkraft unterstehen, sondern sidi aus eigener Kraft in der Luft bewegen. Dadurch können sie Wasser und Fels die 293

Waage halten. Sie kommen als Retter, aber da ihr Auftaudien den bevorstehenden Tod zur Voraussetzung hat, retten sie nicht v o r dem Tod, sondern i m Tod. Mit ihnen enthüllt der Tod einen neuen Sinn. Er vernichtet und entrückt zugleich. Diese Doppelfunktion erfüllt er bereits, indem er antizipiert wird. Vernichtung und Entrückung ereignen sich im Bewußtsein, der Tod bezeichnet somit dessen Verwandlung. Im Gebirge wenden sich die Elemente vernichtend gegen den Menschen. Indem sie ihn aber mit dem Tod bedrohen, erwecken sie in seinem Bewußtsein die Fähigkeit, sich von dem unmittelbaren Gefühl der Bedrohung zu lösen und sich von der Empirie, die es verursacht, hinweg, anderswohin tragen zu lassen. Es ist die elementare Bedrohung, die die Bewußtseinswandlung auslöst. Sowohl für Wasser und Fels als auch für die Vögel sind „wir" Objekt. So ist selbst die Erhebung über die elementare Sphäre durch den vorweggenommenen Tod ein bedingtes Geschehen. Eben darum kann sie nach Art eines Gesetzes formuliert werden. Dieses Gesetz ist kein anderes als das des dynamisch Erhabenen 28 , nach dem furchterregende Naturphänomene im Menschen höhere Seelenkräfte wecken. Unter den Beispielen aus der Natur führen K a n t " und Schopenhauer 30 drohende Felsmassen und Sturzbädie an. Aber im „Reiselied" werden sie nicht nur betrachtet, „wir" sind ihnen unmittelbar ausgesetzt. Der elementaren Bedrohung antwortet eine um so höhere innere Erhebung. Sie führt in andere Bereiche als bei Kant und Schopenhauer. Die Strophe bereitet offensichtlich einen Moment der Erhöhung vor, in dem der Mensch für Hofmannsthal seines „großen Ich", d. h. seines Selbst, inne wurde. Am Schluß der Strophe besteht die Erwartung, daß die angekündigte Erhebung unmittelbar bevorstehe. Umso überraschender ist es, wie die zweite Strophe einsetzt. Deren erste Zeile erweckt den Anschein, als bleibe das Erwartete aus und werde lediglich der gefährlichen Bergwelt ein arkadisches Tiefland entgegengehalten. Dieses Verständnis stellt jedoch den formalen Aufbau des Gedichts nicht mit in Rechnung. Das Gedicht besteht aus zehn vier-hebigen trochäischen Zeilen. Versmaß und Zeilenzahl legen nahe, darin eine Dezime zu sehen, an deren Verwendung in der Glosse auch die sinnmäßig abgesetzte Schlußzeile er28

D a s Erhabene hat eine Diskrepanz von Ich und W e l t zur Voraussetzung. Insofern gehört die Erhebensmotivik in seinen Umkreis. Die etymologische

28 30

Verwandschaft ist durchaus auch eine der Sache. K a n t , Kritik der Urteilskraft § 28 Schopenhauer, D i e Welt als Wille und Vorstellung. 1 . B d S. 2 4 1

294

innert. Dodi sprechen Druck, Anordnung und Reimsdiema dagegen. Die Gliederung in ein Quartett und zwei Terzette, die abab cde cde gereimt sind, weist auf das Sonett, zu dem jedoch ein Quartett fehlt. Keine der in Frage kommenden Gedichtformen ist rein erfüllt. Das Gedicht macht sich in einer Art Kontamination Bruchstücke aus beiden zunutze. An der Sonettform gemessen fehlt dem Gedicht der Anfang. Es setzt denn auch völlig unvermittelt ein, grammatisch ohne Artikel, metrisch ohne Auftakt. Dadurch, daß sogleich von „stürzen" die Rede ist, wird auch das Moment des Fallens, das im Trochäus liegt, deutlich herausgestellt. So kommt das Inchoative und Aggressive des Anfangs zustande. Das Ende des Gedichts erhält seine Akzentuierung einerseits von der Dezime. Doch auch dem Sonett wohnt ein Zug auf das Ende hin inne. Und zusätzliches Achtergewicht bekommt das Ganze aus der fragmentarischen Form dadurch, daß die Terzette im Gegensatz zu den Quartetten vollständig sind. In ihnen vollendet sich, was fragmentarisch begann. Das französische Sonett verlangt zwischen Quartetten und Terzetten einen Einschnitt. Dieser hat die Funktion eines Doppelpunktes: er schließt das Vorausgegangene ab und leitet zum folgenden über als ein Hiatus, der mit stummer Bewegung erfüllt ist. Diese Forderung ist in „Reiselied" im Wechsel des Reims, der Kadenz und des Tones realisiert. Das deutet darauf hin, daß sich die Bewegung, die sich in der ersten Strophe anbahnt, im Übergang zur folgenden vollzieht. In der Pause ereignet sich die durch die bevorstehende Vernichtung ausgelöste Erhebung. Diese Bewegung besteht, wie gezeigt wurde, in einer Abwendung des Bewußtseins von der erlebbaren Empirie kraft der antizipierten Vernichtung und der Hinwendung zu einem Bereich, der jenseits dessen liegt. Sie geschieht in einem Augenblick. Dieser augenblickliche Tod ist als Aussetzen der Sprache gestaltet. Daß sidi in dieser Pause dennodi etwas ereignet, wurde durch die Anspielung auf die Sone'ttform darstellbar®1. Die ersten beiden Strophen des Gedichts bilden gewissermaßen die Randstücke um diese bewegte Pause herum, in der der Aufschwung stattfindet. „Aber", mit dem die zweite Strophe einsetzt, bezieht sich somit nur mittelbar auf die erste. Zunächst antwortet es auf die Pause. Indem es sich davon absetzt, bestätigt, ja artikuliert es ihren imaginären Gehalt. 81

Die Entwürfe lassen erkennen, daß H . erst ganz zum Schluß zu dieser Zeilenanordnung kam. Ursprünglich war als Reimsdiema vorgesehen ababcdcdee. Die Deutung als rudimentäres Sonett bestätigt Lehnert a.a.O., S. 99. Der Hinweis auf die Dezime bei Freiwald S. 108.

29S

Das Terzett, das es einleitet, setzt in Ton und Gehalt voraus, daß sich zwischen ihm und dem Quartett etwas Entscheidendes gewandelt hat. Die Veränderung zeigt sich am Rhythmus. Die wilden Unregelmäßigkeiten des Quartetts sind ausgeglichen. Die Sprache fügt sich dem Schema von Metrum und Strophe. Die Zeilen sind ungebrochen, die Sinneinheiten decken sich mit ihnen. Das trochäische Grundmaß tritt bestimmend hervor: mehr als die Hälfte aller Wörter sind zweisilbig mit einem unbetonten e in der zweiten Silbe. Die Syntax ist klar und übersichtlich. In Land und Seen, die unten liegen, sind die Elemente Wasser und Fels aus dem Gebirge erkennbar. Doch hat sich ihre Gestalt geändert. Die aggressive Dynamik ist friedlicher Ruhe gewidien. Man kann sidi zwischen diesen Polen eine Entwicklung denken, wie sie Goethes Sonett „Mächtiges Überraschen" beschreibt, wo der stürzende Fels den Fluß zum See aufstaut, in dem die Sterne sich spiegeln. Es ist ein Zustand erreicht, in dem die Bewegung, die ihn herbeigeführt hat, nicht zu seiner Auflösung weiterschreitet. Da die Entwicklung ihr Ziel erreicht hat, steht die Zeit still. Sie ist erfüllt. Die Landschaft steht somit im Zeichen des Endes, das Abschluß und Erfüllung bedeutet. Sie repräsentiert die Welt im Stadium der Vollendung. Insofern hat nun dodi das Land unten einen Bezug auf die Gebirgslandschaft. Beide gehören zusammen als Anfang und Ende. Dabei erweist sich das Ende als Ziel. Indem Wasser und Fels nach unten stürzen, erfüllen sie ihre Bestimmung. Das Gefälle verläuft von der elementaren Natur zur Kultur. Diesem Prozeß fehlt jedoch die Phase des Übergangs. Sie wurde oben mit dem Hinweis auf „Mächtiges Überraschen" vorschnell interpoliert. Anfang und Ziel sind durch das Präsens und die Art seiner Verwendung geradezu synchronisiert. Was dazwischen stattgefunden hat, ist die charakterisierte Veränderung im Standort des Betrachters. Durch diese räumliche Verschiebung ist die zeitliche bedingt. Im Zustand der Vollendung erscheint die Welt dem Blick aus der Vogelschau. Der erhobene Standort ergab sich daraus, daß „wir" den Tod vorwegnehmen. Dem vorweggenommenen Ende korrespondiert damit die vorweggenommene Vollendung der Welt. Wie aber auf der Subjekt-Seite die Antizipation, ein zeitlicher Vorgang, sich räumlich auswirkt als Bewegung nach oben, so liegt entsprechend das vollendete Land unten. Die vollendete Landschaft verhält sich zum Gebirge wie die Tiefe zur Oberfläche. Hinter der Bewegtheit und dem chaotischen Gegeneinander eröffnet sich dem durch den Tod vermittelten Blick aus der Höhe die dauernde Harmonie. 296

Dem entspricht der Umstand, daß das Metrum, welches dem unruhigen Rhythmus des Quartetts zugrunde liegt, im ersten Terzett rein zum Vorschein kommt. Im Zentrum dieser Landschaft steht die Spiegelung. In ihr treffen die Gegensätze des Flüssigen und Festen zusammen. Früchte und Seen· sind gleicherweise Ergebnisse von Prozessen. Doch sind die Seen nicht mehr als gewordene erkennbar, während die Früchte aus dem Jahreslauf hervorgehen. Die Spiegelung nivelliert diese Differenz. Das Ephemere wird im Alterslosen gespiegelt. Es gleicht sich ihm an. Das bedeutet, daß sich der Schein von ihm ablöst und selbständig wird. So entsteht Schönheit auf Kosten der Lebendigkeit. Dieser Spiegelungsvorgang entspricht insofern dem durch den Tod gewonnenen Standort in der Höhe, als auch in ihm eine Mortifizierung stattfindet. Die Spiegelung ist ohne Ende. Man kann sie sich als Spiel von vielfachen Reflexen denken. Dadurch, daß die Seen „alterslos" heißen, wird auch bei ihnen angedeutet, daß sie in einem Verhältnis zur Zeit stehen, obwohl sie im Vergleich mit den Früchten zeitlos erscheinen. Das gilt auch für den schönen Schein auf ihrer Oberfläche. Quartett und erstes Terzett enthalten somit zwei entgegengesetzte Zustände des Bewußtseins und der Landschaft. Im Quartett sind „wir" der feindlichen Natur unmittelbar ausgesetzt, was zur Erhebung führt. Im Terzett besteht zwischen „uns" und der Welt größte Distanz. Dort ergibt sich aus der Gegnerschaft zu den Elementen ein reflexives Bewußtsein, das die Bedrohten „uns" sagen läßt. Hier ist das Personalpronomen verschwunden, „wir" sind nur indirekt als Blickpunkt im Bild der arkadischen Landschaft enthalten. Die Reflexion erscheint zur Spiegelung objektiviert. Die Landschaft der ersten Strophe ist erhaben, die der zweiten schön. Dazu eben sind Aufschwung und reine Betrachtung die korrespondierenden Haltungen. Diese Entgegensetzung verläuft in einer unumkehrbaren Abfolge. Aus der Unmittelbarkeit geht die Erhebung hervor, diese ist die Voraussetzung für den Blick aus der Vogelschau. Und in der Landschaft sind die Seen der Endpunkt des von den Bergen herabstürzenden Wassers. Doch die Abfolge ist diskontinuierlich. Wie zwischen stürzendem Wasser und See das Mittelglied fehlt, besteht auch zwischen dem Kommen der Vögel und dem Blick aus der Vogelschau eine Lücke. Diese ausgesparte Phase nimmt der Aufschwung ins ineffabile ein. Die Pause nach der vierten Zeile macht die Bedeutung dieses Gedichts aus' 2 . 52

Die Besonderheit des Gedichts tritt klar hervor, wenn man es mit der in

297

Die zweite Pause, zwischen den Terzetten, hat eine andere Funktion. Die Bewegung, die das erste Terzett mit seiner Abfolge der Reime einleitet, wird vom zweiten aufgenommen. Dieses ist die Fortsetzung des ersten, und zwar im Sinne einer Weiterführung. In ihm kommt das Gedicht als Ganzes an sein Ende. Zugleich entsteht jedoch der Eindruck eines Neuanfangs, durch die neuerliche Nennung des Landes in „Gelände", das Adjektiv „blumig", das auf „Früchte" folgt, das Aufkommen einer leichten Bewegung mit den Verben „steigt" und „wehn". Der Ton hat sich nochmals geändert. Zwar bestehen Getragenheit und Ausgeglichenheit weiter. Aber das Metrum ist wieder verhüllter, der Rhythmus lebendiger. Lehnert hat bemerkt, daß in den dreisilbigen Wörtern „Marmorstirn" und „Brunnenrand" die Kola — υ — aus der ersten Strophe anklingen". Die Schlußzeile „und die leichten Winde wehn", mit der der Leser entlassen wird, bezieht indirekt die Betrachter wieder mit ein. Voraus gingen lauter optische Eindrücke. Doch schon das Steigen von Marmorstirn und Brunnenrand erweckte den Eindruck, als kommen die Betrachter etwas aus der Höhe herab. Darauf deutet auch der taktile Eindruck des Wehens. Die Situation der ersten Strophe, wo das Fallen der Elemente zum Steigen der „wir" führte, ist damit umgekehrt. Alles das deutet darauf hin, daß sich die Gegensätze der ersten beiden Strophen in der dritten annähern. „Wir" kehren aus der jenseitigen Ferne in den Bereich der Welt zurück, diese hat ihre Gegnerschaft verloren. Unmittelbarkeit und Betrachtung, Erhabenheit und Schönheit treffen sich in einer Mitte. Das heißt, daß die dritte Strophe der ersten Pause entspricht. Sie unternimmt es zu gestalten, was dort unartikuliert

3S

Motiv und Aufbau verwandten Strophe aus „Das Ideal und das Leben" vergleicht: Aber der, von Klippen eingesdilossen, Wild und schäumend sidi ergossen, Sanft und eben rinnt des Lebensfluß Durdi der Schönheit stille Schattenlande, Und auf seiner Wellen Silberrande Malt Aurora sich und Hesperia. Aufgelöst in zarter Wediselliebe, In der Anmut freiem Bund vereint, Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe, Und verschwunden ist der Feind. Vgl. S. 91 dieser Arbeit. Lehnert a.a.O. S. 96

298

blieb. Wenn ihr das gelingt, hätte jener höchste Augenblick der Offenbarung des „großen Ich" eine Möglichkeit der Darstellung gefunden. „Marmorstirn" und „Brunnenrand" verweisen nicht nur rhythmisch auf den Anfang. In ihnen haben Wasser und Fels nochmals neue Gestalt angenommen. Diese Veränderung ist tiefgreifender Art. Aus Natur sind sie Kunst geworden. Ihre Verbindung mit „und", die Vereinigung in einer Zeile und das gemeinsame Verbum machen die im Spiegelungsvorgang teilweise verwirklichte Zusammenführung der Gegensätze endgültig. Und indem sie das Material für Menschliches abgeben, ist auch die Gegnerschaft zwischen ihnen und „uns" aufgehoben. In der Vorstufe lautete diese Zeile „Marmorstirn und Marmorhand". Das evozierte eine klassische Statue. Das ist erstaunlich, denn die klassische Kunst hat zur Voraussetzung, daß sich das Wesen des Menschen mit seiner Erscheinung zur Deckung bringen lasse. Das Gedicht hatte bisher das Auseinandertreten beider zum Thema, das so radikal war, daß dafür der Tod einstehen konnte. Soll in dieser Strophe die erste Pause eine Formulierung finden, die ihr adäquat ist, so darf hier nicht ein klassisches Kunstwerk stehen. Die Ersetzung von „Marmorhand" durch „Brunnenrand" verwischt und polarisiert die eindeutige Assoziation. Neben das Nur-menschliche tritt etwas Dingliches, neben das Abgeschlossene eine Öffnung, neben das Oben ein Unten. Der schöne Brunnen, um den es sich nach Lehnert handelt, ist durdi Metonymien vergegenwärtigt, Teile stehen für das Ganze 34 . Es geht jedoch, genau genommen, nicht um eine metonymische Evokation eines klassischen Kunstwerkes, sondern um metonymische Kunst. Marmorstirn und Brunnenrand sind klassische Bruchstücke, wie sie zur Staffage arkadischer Landschaften gehören. Sie repräsentieren eine Kunst, welche durch die Vernichtung hindurch gegangen ist, ja diese in sich aufgenommen hat. Bezeichnenderweise handelt es sich bei Stirn und Rand um Begrenzungsstücke. Sie bilden Übergänge zwischen Gestaltetem und Nichtgestaltetem. In ihnen ist jener Zeitpunkt ins Räumliche transponiert und damit verewigt, den der Tod, der Ende und Anfang zugleich ist, markiert. Die Zusammenstellung „Marmorstirn und Brunnenrand" läßt sich sogar noch spezieller als Anspielung auf Erkennen und Unmittelbarkeit deuten. Der Todesaugenblick wird somit in einer Gestaltung darstellbar, die ihre eigene Vernichtung miteinbezieht, in fragmentarischer Kunst, die schön und erhaben zugleich ist. Diese fragmentarische Kunst, welche die Gegensätze zu84

A.a.O. S. 95 299

sammenführt, ohne sie aufzuheben, steht ihrerseits wieder in Antithese zur Natur, die sie als blumiges Gelände umgibt. Die Schlußstrophe bringt somit nur die größtmögliche Annäherung der Gegensätze. Sie werden nidit versöhnt. Als Widersprüche verweisen* sie auf das unaussprechbare Dritte, das sie überwölbt. Damit ist lediglich in ein simultanes Verhältnis getreten, was im Ablauf des Gedichtes aufeinander folgte. Die dritte Strophe reflektiert das Gedicht als ganzes. Das aber bedeutet wiederum, daß die vorausgehenden Strophen die Stadien der Entstehung des Gedichtes selbst bezeichnen. Das hat methodisch zur Folge, daß seine eigene Gestaltung das Exempel dessen, was es sagt, darstellt. Die erste Strophe stellt im Erlebnis der Bergwelt das Erleben selber dar, bei dem die Außenwelt unmittelbar auf „uns" mit momentaner Plötzlichkeit eindringt. „Wir" sind ihr ausgesetzt und reagieren unwillkürlich mit einem erhabenen Gefühl. Das Erlebnis selbst erzeugt aus sich die Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Die unmittelbare Plötzlichkeit impliziert Vergänglichkeit. Die Zeitlichkeit des Erlebnisses führt zu jener Distanznahme, die es aus verändertem Standpunkt anders erscheinen läßt. Dem Blick von oben zeigt sich die Spiegelung des Jüngstvollendeten im Längstvergangenen. Das unmittelbare Erlebnis, betrachtet man es ex post, erscheint im Bezugssystem vorgebildeter und vorgeformter Modelle. Es erweist sich als Nachvollzug von Gewesenem. Seinen Alpenübergang verstand Hofmannsthal offensichtlich von Goethe aus, von dem er einen Band im Reisegepäck bei sidi hatte. Er reiste im Nachvollzug®5 des Goetheschen Vorbildes, wie es die Dichtungen und Reiseberichte aufbewahrten. Später, anläßlich seiner Sizilienreise88, erläuterte Hofmannsthal dieses Verhältnis ausführlich. Daß es ihn schon in Lugano beschäftigte, bezeugen die gleichzeitig mit dem „Reiselied" entstandenen Epigramme, die das Verhältnis von Natur und Kunst behandeln. Eines davon heißt „Spiegel der Welt" und lautet: „Einmal schon kroch idi den Weg", im Mund eines schlafenden Königs Spradis der gesprenkelte Wurm. — „Wann?" — In des Dichters Gehirn. 87 35

M

Den Begriff des „Nachvollzugs" und die Aufmerksamkeit auf die damit zusammenhängende Problematik verdanke ich dem außerordentlichen Vortrag von Thomas Mann „Freud und die Zukunft". Ges. Werke. Frankfurt: Fischer i960. Bd I X 37 „Sizilien und wir." Ρ I V S. 284—290 G L D S. 90

300

Daß das Leben die Rolle spielt, die ihm die Dichtung vorgezeichnet hat, hat in „Reiselied" nicht diese absolute Bedeutung. Es ist ein Aspekt, der eine Position außerhalb des Erlebnisses zur Voraussetzung hat. Als Spiegelungsverhältnis verstanden, büßt das Leben seine Zeitlichkeit und damit seine Lebendigkeit ein. Dafür wird es gestaltbar. So wird einsichtig, weshalb im Gedicht auf die Spiegelungsstrophe die Erwähnung der Kunstgebilde folgt. Auf „Reiselied" selbst angewandt, heißt das, daß für Hofmannsthal der Alpenübergang dadurch zum Gedicht werden konnte, daß er ihn als Spiegelung von Goethes „Italienischer Reise" resp. des Mignonliedes sah*8. Das kommt in den Goethereminiszenzen des Gedichts zum Ausdruck. Außer den Anspielungen auf die Mignon-Ballade in der ersten Strophe, fand man in den spiegelnden Früchten eine an das Gedicht „Auf dem See"'9. Diese Elemente aus verschiedenen Epochen von Goethes Lyrik sind auf den Diwan- Ton gestimmt. Er klingt im vierfüßigen Trochäus an und in folgenden rhythmisdien und wörtlichen Übernahmen: Wasser s t ü r z t . . . Kommen sdion auf starken Schwingen Aber unten liegt ein Land Marmorstirn und Brunnenrand

Steigt aus blumigem Gelände Und die leichten Winde wehn

Wasser wird sich ballen Ach um deine feuchten Schwingen Aber uns ist wonnereich Frühlingshauch und Sommerbrand An des lustgen Brunnens Rand Nord und südliches Gelände Dodi dein mildes sanftes Wehen10

Hofmannsthal verfährt somit in diesem Gedicht so, wie er es an Georges Gedichten beschrieben hat: Es wird niemandem ein gewisses Verhältnis der „Hirten- und Preisgedichte" zu den Alten (und mehr zu dem Tone des Tibull und Horaz als dem der Griechen), ein gewisses Verhältnis der

38 3

*

40

Zu den Bezügen zur Mignon-Ballade vgl. Dornheim und Requadt a.a.O. Lehnert a.a.O. S. 95 Die Diwan-Verse entstammen, in dieser Reihenfolge, den folgenden Gedichten: „Lied und Gebilde", „Suleika", „Lied und Gebilde", „Hatem", „ A n des lustgen Brunnens Rand . . . " , „Talisman", „Suleika".

301

„Sagen und Sänge" zu dem Tone der Deutschen des 13. Jahrhunderts entgehen. Auch wird hier die giebelige Stadt, die Kapelle, die bebliimte Au der Miniaturen sparsam angedeutet, wie dort das Entsprechende in der Art der geschmückten Krüge. Nur ist dieses Verhältnis nicht stärker herbeigezogen, als es für Menschen später Ge-> schlechter ganz unaufdringlich und selbstverständlich in den Landschaften, den ererbten inneren Zuständen und äußeren Manieren zu liegen scheint. Wir sind von vielfältiger Vergangenheit nicht loszudenken. Aber freilich ebensowenig in eine bestimmte Vergangenheit hineinzudenken. Hier wird der Takt eines Künstlers alles entscheiden: das Widerwärtigste und der feinste Reiz scheinen hier durcheinander zu liegen. Wir geben uns kaum Rechenschaft darüber, wieviel von dem Zauber eines jeden Tones diese mitschwingenden Obertöne ausmachen, dieses Anklingen des früheren herben im späten milden, des kindlichen im feinen, dieses Mitschwingen des Homer in den späten Griechen, der Griechen in den Römern, dieser Abglanz der Venus in den Bildern von christlichen Heiligen. Und sind nicht die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins drei so seltsam verwandt-geschiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken,, wie die Spiegelbilder dreier sehr seltsamer Schwestern, in einem stillen Wisser, am Abend? 41 Dieser Passus unterstreicht, daß die Ausrichtung an Mustern aus der Vergangenheit von Hofmannsthal nicht als nachträgliche Stilisierung des Gegenwärtigen aufgefaßt wurde. Die Vergangenheitsbezüge sind in den „inneren Zuständen und äußeren Manieren" selbst enthalten. Das Gedicht verfährt somit gerade, indem es stilisiert, realistisch in einem psychologischen Sinne. — Für die Deutung der zweiten Reiseliedstrophe ist ferner bedeutsam, daß dieses Verhältnis von Gegenwärtigem und Vergangenem als Spiegelung des Jüngeren im Älteren erscheint. In einer Notiz im „Buch der Freunde" wird dieses Bild noch genauer ausgeführt: Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behan41

P I S . 290

302

dein, aus dem wir unsere Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen. 42 In „Reiselied" ist Goethe der magische Spiegel. Diese Wahl hat im Spiegelungsverfahren selbst ihre Rechtfertigung, denn auch Goethes Dichtung ist eine vergangener Form sich nähernde, zumal im „Diwan", auf den sich das „Reiselied" am direktesten bezieht. Spiegelung aber ist gerade nicht Identifizierung. Sie setzt Distanz voraus und läßt Differenz erkennen. „Reiselied" ist über die erwähnten Einzelheiten hinaus auch in seiner Konzeption vom Vorbild Goethes bestimmt. Auch der klassische Goethe benutzte das Verfahren der doppelten Perspektive. Auf der „Italienischen Reise" nahm er jeweils die Gelegenheit wahr, in den Städten, die er besuchte, auf einen Turm zu steigen, um sie von oben zu betrachten4*. Dem distanzierten Blick aus der Höhe zeigte sich im Veränderlichen, das er im unmittelbaren Kontakt erlebt hatte, das Dauernde, und zwar dadurch, daß nun das Momentane auf Vergangenes und Künftiges bezogen werden konnte. So gelangte Goethe zu dem, was er den „lebendigen Begriff" einer Sache nannte. Der Dichtung oder allgemein der sprachlichen Gestaltung fiel es zu, diese „Begriffe" festzuhalten. Dieser Prozeß der Erkenntnis des Dauernden im Wechselnden hatte im erkennenden Subjekt seine Entsprechung. Indem es sich den „Begriff" verschaffte, reinigte es sich von seinen zufälligen Stimmungen und Vorurteilen zum Typus, den es darstellte. Es wurde des Identischen in ihm selbst inne. Auf der subjektiven Seite liegt im „Wilhelm Meister" das Gewicht, wo der Held vom Turm aus zurückschauend sein Gesetz in den mannigfaltigen Irrwegen, die er durchlaufen hatte, zu erkennen vermag. „Reiselied" spielt auf diese Konzeption des klassischen Goethe an und modifiziert sie zugleich in bedeutsamer Weise. Sein Anfang zeigt den Erlebenden näher bei der Wirklichkeit. Diese vermag ihn unmittelbar zu bedrängen und zu bedrohen. Die Distanznahme davon führt in höhere Höhen, die nur nodi indirekt, aus dem Bild, das sich von ihnen aus bietet, erschlossen werden können. Die Bewegung zwischen beiden Punkten hat eine größere Amplitude. Entsprechend verändert sich die Welt für den Blick aus der Vogelschau. Zwar wird in der Kulturland48

4

'

Hofmannsthal, Buch der Freunde. Mit Quellennachweisen hrsg. von Ernst Zinn. Frankfurt: Insel 1965 (Insel-Bücherei 796). S. 47 Vgl. dazu und zum folgenden Emil Staiger, Goethe II. Zürich: Atlantis 1956. S. 16

3°3

Schaft unten, auf welche die Bewegung von Wasser und Feld tendierte, auch Zukünftiges miteinbezogen. Aber es ist eine abgeschlossene, vollendete Zukunft, genaugenommen die bevorstehende Vergangenheit. Das Dauernde ist anders als bei Goethe nicht zeitlos, nurmehr alterslos. Wie das Gedicht zeigt, haben Goethe und sein Werk die Stelle des Unvergänglichen eingenommen. Der Unterschied von Erscheinung und Wesen ist modifiziert zu dem von Gegenwart und Vergangenheit dieser Gegenwart, von Sein und Gewesensein. Beide durchdringen sich daher nicht mehr, es besteht zwischen ihnen ein Bruch. Damit hängt zusammen, daß das Erlebnis der Nähe und der Blick aus der Ferne nicht mehr demselben Objekt zu gelten scheinen. Die Kulturlandschaft setzt gerade die Überwindung der Bergwildnis voraus. Identisch ist in beiden nur der Grundstoff, das Flüssige und das Feste. Ihretwegen können beide Zustände überhaupt noch als Stadien einer Verwandlung aufgefaßt werden. — Das wird auf der Subjektseite nodi deutlicher. Das Subjektspronomen ist in der zweiten Strophe verschwunden. Der Wechsel der Perspektive vollzog sich als dem Tode vergleichbarer Umschlag. Das Subjekt, das die Welt von oben betrachtet, unterscheidet sich vom unmittelbar Erlebenden nicht nur nach dem Grade der Reinheit. Es hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Das Identische beider Zustände liegt auch hier nurmehr in der Tatsache der Existenz. — Für Goethe war im Aufstieg die erreichte Höhe wichtig. Hier nun tritt die Aufwärtsbewegung ins Zentrum, der Vorgang der Distanznahme selbst. In ihm allein sind, für den Moment des Umschlags, unmittelbares Erlebnis und Reflexion, wilde Bewegtheit und abgelebte Ruhe, Gegenwart und Vergangenheit einander aufs höchste angenähert. Der Umschlag, in dem der Mensch seiner Identität inne wird, erscheint als Tod. Daß der Tod bei Hofmannsthal zentrale Bedeutung bekommt, zeigt am schlagendsten die Differenz zum Goethe mindestens der „Italienischen Reise". Dem Tod schlägt Hofmannsthal den für Goethes Lebensauffassung zentralen Begriff des Augenblicks zu. Der Tod bezeichnet den „Moment der Erhöhung"44. Für den klassischen 44

Der „erhöhte Augenblick" ist für H . zentral. Er erscheint schon in den Tagebuch-Aufzeichnungen und der frühen Prosa, aber auch noch in „ad me ipsum". Die Diditung gestaltet ihn auf verschiedene Weise. Vgl. ChandosBrief, Briefe des Zurückgekehrten, Augenblidce in Griechenland. Auch der „Augenblick" ist primär von Schopenhauer bestimmt, doch hat er bei H . im Gegensatz zu diesem Konsequenzen für den, der ihn erlebt. Bordiardt hat im Bezug auf H . vom „ganymedischen Moment" gesprochen, was den Zu-

304

Goethe sind im ewigen Augenblick die drei Extasen der Zeit versammelt. Das Ewige offenbart sich in der Zeit. Bei Hofmannsthal steht der Augenblick zwischen den Zeiten, genau zwischen Gegenwart und Vergangenheit. So kann er nur die Frist eines Hauchs dauern. Er gleicht dem Blitz, der die nächtliche Landschaft sekundenlang erhellt in allen ihren Dimensionen und sogleich wieder ins Dunkel zurücksinken läßt. Dem Gedicht fällt die Aufgabe zu, den flüchtigen Todesaugenblick, der dem Menschen seine Identität zeigt15, festzuhalten. Die Schlußstrophe deutet an, wie das die Kunst zu leisten vermag. Bruchstücke klassischer Kunst steigen aus blumigem Gelände. Erlebnis und historisches Vorbild werden nicht integriert wie in einem Goetheschen Gedicht. Es kommt gerade darauf an, die Spannung zwischen beiden darzustellen. Sie müssen daher unterscheidbar bleiben. „Reiselied" realisiert diese Forderung mit Hilfe von Anspielungen formaler und inhaltlicher Art. Anspielungen sind Übernahmen aus anderen Werken, deren fremde Herkunft weiterhin kenntlich bleibt. Dadurch, daß das Gedicht kein vollständiges Sonett ist, aber auch keine echte Dezime, hält es die Distanz zwischen sich und den Gedichtformen, aus denen es Elemente verwendet, aufrecht. Es bleibt fragmentarisch. Auch die Goethereminiszenzen sind so deutlich, daß sie aus dem Gedicht hinausdeuten. Das meint Requadt, wenn er vom „Reiselied" bemerkt, es sei „gebildeter" 4 ' als die Mignonsammenhang mit der Erhebungsmotivik treffend erhellt. —

Zum

„Augen-

blick" bei H . Richard Exner, Hofmannsthals »Lebenslied". Eine Studie. H e i delberg: W i n t e r 1 9 6 4 . S. 3 7 und passim. — D a ß der „Augenblick" ein f ü r die ganze Epoche charakteristisches Phänomen ist, zeigen Georges Poulet, L e point de départ. Etudes sur le temps humain I I I . Paris: Pion 1 9 6 4 . Introduction, und Theodore Ziolkowski, James J o y c e s Epiphanie und die Ü b e r windung der empirischen W e l t in der modernen deutschen Prosa, D V j S 3 y, 1 9 6 1 . S. $ 9 4 — 6 1 6 48

D i e Gleichsetzung von T o d und Selbst steht hinter der Personifikation des Todes. C l a u d i o w i r d von

seinem eigenen Selbst heimgesucht. Die

Eben-

bildlichkeit beider auf der Zeichnung von A n g e l o J a n k hat einen guten Sinn. (In: „ D i e J u g e n d " , 1 8 9 9 , abgebildet in: A l b e r t Soergel/Curt H o h o f f , Dichtung und Dichter der Zeit. Düsseldorf: Bagel. 1 9 6 1 s . S . 4 6 1 . ) —

Im

Hin-

blick auf die Einheit von T o d und Selbst las H o f m a n n s t h a l wohl auch die folgende Stelle,

die er sich abschrieb:

„Abraham

a Santa C l a r a ,

Wien'. ,Die Gestalt des Todes bildet er zu einer gleichsam

.Merks

menschlichen

Persönlichkeit aus und steigert den Charakter kalt lächelnder und verachtungsvoller Ironie zu dramatischer Lebendigkeit. Hierin freilich hatten ihm die Totentänze vorgearbeitet.' ( W . Sdberer)" A S . 99 4

·

R e q u a d t a.a.O. S . 2 3 3°ί

20 Pestalozzi, Lyrisdies Idi

Ballade, in der das verwendete topisdie Material völlig integriert ist. Die deutlichen Goethereminiszenzen stehen audi zum Titel „Lied", der etwas Einfacheres erwarten läßt, in einem gewissen Widerspruch47. Seiner Anlage nach ist „Reiselied" ein Erlebnisgedicht traditioneller Art, das Präsens erweckt den Eindruck von Unmittelbarkeit. Der Leser würde jedoch kaum auf die Scheidung von Erlebnis- und Traditionselementen aufmerksam, wenn nicht das Gedicht selbst diesen Gegensatz zum Thema hätte. Von welcher Seite man das Gedicht betrachtet, man stößt immer auf antithetische Strukturen. Dabei sind Unmittelbarkeit und vorgegebene Rolle die grundlegenden Gegensätze. Die erste Pause führt, wie wir gesehen haben, aus der Entgegensetzung auf etwas Drittes zu. Diese Bewegung wird in der Sdilußzeile wiederaufgenommen. Aus dem Gegenüber von Landschaft und Kunstfragmenten erhebt sich ein leichter Wind. In ihm ist die Wirkung vorwegnehmend materialisiert, die das Gedicht auf den Leser haben soll, wenn es zu Ende ist. Es will ihm Leichtigkeit vermitteln. Er soll im lesenden Nachvollzug des Gedidits einen Augenblick der Erhöhung zu sidi selbst erfahren. Wie die letzte Strophe das ganze Gedicht reflektiert, so erscheint auch im Wind eine Tendenz ex·* plizit, die das ganze Gedicht prägte. Die rhetorisch-rhythmische Nachbildung dessen, was die Strophen aussagten, sollten den Leser in die Bewegung des Gedichts einbeziehen. Der Anspruch, der in der Schlußzeile verborgen ist, hat weiter zur Voraussetzung, daß das Gedicht grundsätzlich allgemeinverständlich sei. Sein Material sind denn auch allgemeine Erfahrungen. Auch die Verbindung von Tod und erhöhtem Augenblick hatte Hofmannsthal geglaubt, psychologisch begründen zu können48. Das Gedicht appelliert an das in allen Menschen liegende verborgene große Ich. Wo es auf empfängliche Leser stößt, soll es diesem Ich zur Offenbarung verhelfen. Da jedoch die Identität nur augenblicksweise erfahren werden kann, das Gedicht als Kunstwerk jedoch dauert, wird es zum Garanten des großen Ich in den vielfachen Verführungen zum Selbstverlust. Mit den Worten aus dem „Gespräch über Gedichte": Wovon unsere Seele sich nähert, ist das Gedicht, in welchem wie im Sommerabendwind, der über die frischgemähten Wiesen streicht, 47

48

Dagegen entspricht das „Reiselied" erstaunlich genau der Bestimmung des Liedes, die Schopenhauer gibt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 29$ „Das Erwachen des Gedächtnisses (Hypermnesie) im Traum, in Krankheit, Gefahr, in der Sterbestunde." A S. 93

306

zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits, ein ungeheures Jenseits. Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich. Ein Elfenleib ist es, durchsichtig wie die Luft, ein schlafender Bote, den ein Zauberwort ganz erfüllt. 49 Auch hier wird das Gedicht als Kombination von Antithesen bestimmt. Es setzt den beiden falschen Ich-Formen nichts Drittes entgegen. Es stellt sie eng zusammen. Sie geben das Material ab für das Gedicht. Das Gedicht als Gebilde, das mehr ist als seine Inhalte, repräsentiert jedoch jene ungreifbare Einheit. Als Form, die alle Antithesen umgreift, stellt es jene Synthese dar, die gedanklich nicht mehr gefunden werden kann. Diese ist rhythmischer Art, wie Hofmannsthal es in seinem Vortrag „Poesie und Leben" im Anschluß an George nannte, „jenes tief Erregende in Maß und Klang"50. Dadurch wird das Gedicht zur Absprungstelle für den Aufschwung. Der Adler kann nicht vom flachen Boden wegfliegen; er muß mühselig auf einen Fels oder Baumstrunk hüpfen: von dort aber schwingt er sich zu den Sternen.51 „Reiselied" gehört in eine Zeit, in der Hofmannsthals lyrische Produktivität im Abklingen war. Für sein lyrisches Gesamtwerk ist es nicht repräsentativ. Im Vergleich mit den vorausliegenden berühmteren Gedichten ermangelt es der sprachlichen Musikalität. Es ist nicht nur kürzer als die meisten andern Gedichte, auch wortkarger, strenger und konturierter. Dafür tritt der Bezug auf das literarische Vorbild freier hervor, den andere mehr nur ahnen lassen. Dieser stilistische Unterschied ist auch einer des im Gedicht erscheinenden Selbst. Das vermag ein kurzer Blick auf das Gedicht „Erlebnis"52 herauszustellen, das thematisch unter den frühen Gedichten dem » Ρ I I S. n o " • P I S . 307. Die Worte des Hofmannsthal unbekannten, aber wertvollen Verfassers stammen aus Stefan Georges »Tage und Taten", aus dem A b schnitt „Über Dichtung". Stefan George, Werke. München/Düsseldorf: K ü p per vorm. Bondi 1958. I, S. 530 61 Buch der Freunde S. 39. Die Lebendigkeit des Adler-Emblems noch bei H o f mannsthal zeigt audi das Sdilußbild des „Andreas"-Fragments, auf dessen Nähe zur Thematik des „Reiseliedes" Exner, a.a.O. S. 34, und Lehnert, a.a.O. S. 98, hinweisen. 5 * G L D S. 8 307 20»

»Reiselied" am nächsten steht. Auch darin geht es um einen Ubergang zwischen zwei Polen. Er wird ausgelöst durch die dämmernde Landschaft, die das Ich einbezieht und überwältigt. Es versinkt aus dem Leben in einen todähnlichen Zustand. Der Schlußteil beginnt, ähnlich wie die zweite Strophe von „Reiselied", adversativ: „aber seltsam". Der Blick wendet sich rückwärts und sieht das verlassene Leben, einem abgeschlossenen Bilde vergleichbar. Es spricht ein Idi, der Anlaß des Erlebnisses ist individuell, der dem Leben Entrückte erblickt sich selbst. Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der in „Reiselied" in der stummen Pause erfolgende Umsdilag hier ausgiebig artikuliert ist: Und dieses wußt ich, Obgleich ichs nicht begreife, dodi idi wußt es: Das ist der Tod. Der ist Musik geworden, Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend, Verwandt der tiefsten Schwermut.58 In der Musik hat der Tod ein Medium, das ihn zur Erscheinung bringt, nadi dem Satz Goethes: „Musik füllt den Augenblick am entschiedensten", den Hofmannsthal später einmal zitiert. In der Musik spricht sich das Selbst unmittelbar aus. Dank seiner musikalischen Sprache ist das Gedicht sein Repräsentant. Mit dem Selbst des „Reiseliedes" hat es damit das Übergängliche gemeinsam. Doch ist hier, in „Erlebnis", der Übergang als Stimmung faßbar. Sie ist, obwohl ambivalenter als die Schwermut, doch ihr ähnlich. Mit der Stimmungshaftigkeit geht zusammen, daß sich das Selbst nicht immer manifestiert. Die Begegnung mit ihm ist beinahe träumerisch. Das Gedicht wird zum Anlaß für eine Art Selbst-Genuß. Daher auch seine Länge. — „Reiselied" setzt in der Sdilußstrophe plastische Kunstformen als Medium für das Selbst ein. Diese können wie das ganze Gedicht, zumal in ihrer Bruchstückhaftigkeit, den Tod nur indirekt darstellen. Er bleibt jenseits der sinnlichen Faßbarkeit. Damit wird er stärker zu einem geistigen Vorgang. Das Selbst wird begreifbar aus der Spannung von Erlebnis und geschichtliche Präfiguration. Der Anteil des Allgemeinen daran ist gewachsen. 55

Vgl. dazu Werner Vordtriede, Der Tod als ewiger Augenblick. Ein wiederkehrendes Symbol bei Annette von Droste-Hülshoff und Hugo von H o f mannsthal. Mod. Lang. Notes L X I I I , 1948, S. 5 2 0 — J 2 5 . Dort auch der Hinweis auf die Nähe des Gedichts zum Monolog des Helden in Kleists „Prinz Friedrich von Homburg" V / 1 0

308

Daher kann das Gedicht „wir" sagen und die spiegelnde Vergangenheit als überindividuelle auffassen. Damit hängt auf kaum nachprüfbare, aber um so elementarere Weise zusammen, daß der Vorgang als ganzer eindeutig ins Vertikale gewendet ist, und zwar so, daß der Tod in der Gegenbewegung zur Schwermut aufwärts ins Leichte und Luftige zieht. Gegenüber „Erlebnis" bedeutet „Reiselied" eine Befreiung.

309

Stefan George „Entrückung" Stefan G e o r g e , Werke. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 19J8 [zit. Werke] Briefwechsel zwischen G e o r g e und Hofmannsthal, hrsg. von Robert Böhringer. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 19532 Deutsche Dichtung, hrsg. und eingeleitet von Stefan G e o r g e und Karl Wolfskehl. Bd 3: Das Jahrhundert Goethes. Berlin: Bondi 19233 Blätter für die Kunst, Auslese. 3 Bde. Berlin: Bondi 1899—1909 Der G e o r g e - Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. von Georg Peter Landmann. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 (Neue wissenschaftliche Bibliothek)

I. A n den Schluß seiner A u s w a h l früher Verse mit dem Titel

„Die

Fibel" setzte George ostentativ das Gedicht „Ikarus". Es gibt einen prägnanten A u f r i ß v o n Georges W e l t und exponiert in erstaunlicher Deutlichkeit

die

damit

zusammenhängende

Problematik

des

Auf-

schwungs. D u flogst z u hoch auf jenen leichten flügeln D i e das geschick dir gab — aus e r d e n w e g e n . . . Doch konntest du des herzens trieb nidht zügeln D u flogst z u hoch dem feuerball entgegen. Längst warst du v o n der erde weggeflogen D a lösten sich v o m heißen sonnenkuß D i e schwingen und in wilde meereswogen Sankst du hinab — nun hilf dir Ikarus! 1 Die Welt dieses Gedichts ist streng vertikal aufgebaut: z u oberst der „feuerball", dann die „erdenwege", schließlich die „meereswogen". Auch 1

„Ikarus". Werke II, S. 486. Das Gedicht steht in einer Motivtradition, die von der Renaissance bis zu Gottfried Benn reicht.

310

hier ist diese Anordnung eine nach Werten. Dem „feuerball" kommt der hödhste Wert zu, Erde und Wasser folgen absteigend. Was so in eine Skala gestellt ist, sind die Elemente. Bezieht man ein, daß der Weg zur Sonne durch die Luft führt, so ergibt sich die Hierardiie Feuer, Luft, Erde, Wasser. Ikarus war in der alten Emblematik eine beliebte Beispielfigur für menschlidie Hybris, an der die Notwendigkeit des Maßhaltens demonstriert wurde2. Das Gedidit nimmt Ikarus in Schutz. Zwar greift das erste „Du flogst zu hoch" den traditionellen Vorwurf scheinbar auf. Dodi die Wiederholung klingt eher anerkennend, und zwar mit Rücksicht auf den Motor des Aufschwungs. Ikarus wurde von innen her getrieben, sein angestrebtes Ziel war der höchste Wert. Bezieht man ein, daß das Geschick ihm die „leichten flügel" verliehen hatte, so erscheint der Aufflug zur Sonne als Erfüllung eines in ihm angelegten Gesetzes. Der platonische Hintergrund ist deutlich. Es treibt ihn aus aller irdischen Bedingtheit hinaus ins Unbedingte. — Der Sturz des Ikarus hat denn auch nicht den Charakter einer Strafe. Er ist die Folge davon, daß er im „sonnenkuß"® des angestrebten Absoluten wirklich teilhaftig wurde. Da die Berührung mit dem Absoluten nicht Dauer haben kann, wenn der Mensdi weiterleben soll, muß Ikarus abstürzen. Nur im Augenblick ist der Kontakt möglich. Vor dem einmal erreichten Absoluten aber kann nichts anderes mehr bestehen. Es zerstört alles Feste. Der Flug, der von den „erdenwegen" ausgegangen ist, endet in „wilden meereswogen", dem Gegenelement zum „feuerball". Ikarus hat die Flügel, die er ursprünglich besaß, eingebüßt. So resultiert seine Notlage nicht aus einem s

Emblemata Sp. 1 6 1 7 * Das Wort „Sonnenkuß" stammt aus C . F. Meyers Gedidit „Die tote Liebe", das mit den Zeilen beginnt: „Entgegen wandeln wir Dem Dorf im Sonnenkuß." . . . Die positive Einschätzung des Ikarus-Fluges durch George wirkt sich noch in seiner Übersetzung von Baudelaires „Les plaintes d'un Icare" aus, welche, am deudidisten in der 3.Strophe, die zweifelnden Einschränkungen ignoriert: Baudelaire: En vain j'ai voulu de l'espace Trouver la fin et le milieu; Sous je ne sais quel œil de feu Je sens mon aile qui se casse; Œuvres S. 1 7 3 George: Ich wollte des ungeheuern Mitte finden und sdiluss, Idi fühle wie unter feuern Mein flügel zerfallen muss. Werke II, S. 301

311

Mangel, sondern aus genossener Fülle. Deshalb ist sein Schicksal damit nicht am Ende. Anders als im Mythos ertrinkt er nicht. Ihn erreicht die Aufforderung, sich selber zu helfen. Sie ist nicht ohne Ingrimm gesprochen. Nun er keine Flügel mehr hat, soll er sich mit eigener Kraft, gleichsam am eigenen Schöpf, aus dem Wasser ziehen. Das weitere Werk Georges zeigt jedoch, daß der Aufruf „Nun hilf dir Ikarus" darüber hinaus eine Aufforderung ist, aus eigener Kraft sich erneut zum „feuerball" aufzuschwingen. Insofern ist mit dem Gedicht „Ikarus" Georges Grundproblem umrissen. Aus den Fibel-Gedichten gewinnt man den Eindruck, eine persönliche Erfahrung habe George zu dieser Ikarus-Deutung veranlaßt. Das Ikarus-Gedicht enthält die Grundstruktur der ersten beiden Fibel-Gedidite, Ich wandelte auf öden düstern bahnen", „Die Najade" 4 . Beide schildern eine plötzliche Begegnung mit einer himmlischen resp. märchenhaften Gestalt, die sich dann wieder zurückzieht und das Ich auf sich selbst verweist. Die vergangene Erfüllung wird zur Triebkraft der Sehnsucht nach ihrer Erneuerung, aus der Enttäuschung entspringt ein neuer Versuch. Im ersten Gedicht gelingt er: So muß idi doch das gütige schicksal loben Das midi durch Deine hand zur tat getrieben Und zu den Sternen midi emporgehoben.5 Indem das Ikarus-Gedicht den Sturz mit der Erreichung des Ziels motiviert, setzt es einen unabsdiließbaren Prozeß in Bewegung. Solange das erstrebte Absolute dem Idi als etwas anderes entgegengesetzt ist, ist keine dauernde Synthese, nur jeweils eine augenblicklidie Berührung denkbar. Was aber bedeutet ein solcher „sonnenkuß"? Das Absolute teilt sich dem Idi als Ergriffenheit mit, als inneres Erglühen, als Gefühl gesteigerter Intensität. Diese Wallungen, die für den jungen Dichter vor allem im Zusammenhang mit der Liebe stehen, haben jedoch objektive Bedeutung. Das Idi wird darin aus sich in etwas Göttliches erlöst. Es steht dahinter jene Auffassung, wonadi sidi Gott im Mensdien als besonders intensives Gefühl kundtut, welche der Augenblickslyrik zugrunde liegt«. 4

Werke II, S. 470

5

Ebd. D i e Entsprechung zur Situation C . F . Meyers ist deutlich. Beide erweisen sidi trotz des unterschiedlichen Alters als Zeitgenossen. George nahm 1 5 Gedichte Meyers in seine Anthologie auf. Sie beschließen darin „ D a s J a h r hundert Goethes".



312

Die Situation des gestürzten Ikarus prägt als Muster Georges Gedichte bis und mit dem „Jahr der Seele". Sie umspielen in unendlicher Variation das Thema der verlorenen Erfüllung und der daraus entspringenden Geisteslagen der Trauer, der Empörung, des Trotzes, der Sehnsucht und des ermattenden Neubeginns. Die durchgehende formale Strenge erscheint wie die Pedanterie dessen, der im Kleinen die Ordnung zu wahren und zu festigen versucht, da die Ordnung des Ganzen seiner Teilnahme entzogen bleibt. In den „Algabal"-Gedichten, die im Motiv des Sonnenkultes besonders eng an das Ikarus-Gedicht anschließen, wird das Verhältnis von Resignation und Formstrenge selber thematisch. Die entscheidende Weiterbildung der Ikarus-Konzeption bedeutet das „Vorspiel" zum „Teppidi des Lebens"7. Es ist ein legendenartiger Dialog zwisdien dem Idi und dem Engel, der im ersten Gedicht auftritt. Diesem Dialog sind alle übrigen Themen untergeordnet. Er ist das einheitsstiftende Prinzip in den viermal sechs Gedichten. Bereits zu Beginn des zweiten Gedichtes richtet das Ich an den Engel die Bitte: Gib mir den großen feierlichen hauch Gib jene glut mir wieder die verjünge Mit denen einst der kindheit flügelschwünge Sich hoben zu dem frühsten Opferrauch.8 Das Ich erwartet vom Engel die Aufhebung der Situation des gestürzten Ikarus. Es vermutet, er verfüge über die Stimulantien, nach denen das Ich schon immer gesucht hatte und die dem „frühsten Opferrauch" in ihrer erhebenden Wirkung gleich kämen. Der Engel weist die Bitte als widersprüchlich zurück. Der Widerspruch scheint darin zu bestehen, daß das Ich den Engel als einen von außen oder vom Himmel kommenden Gnadenbringer betrachtet. Schon im ersten Gedicht klingt an, daß zwischen Ich und Engel eine geheime Identität besteht. Der Engel erscheint als leibliches Ebenbild des Ich, das zudem feststellt Und seine stimme fast der meinen glich.® Diese Stimmenähnlichkeit wirkt sich im „Vorspiel" selbst dahin aus, daß in einigen Fällen nicht sogleich klar ist, ob das Ich spricht oder der 7

Werke I, S. 1 7 1 — 1 8 7 . Ober die zentrale Bedeutung des „Vorspiels" für Georges dichterisches Selbstverständnis besteht Einhelligkeit in der Forschung. 8 A.a.O. S. 1 7 2 » Ebd. 313

Engel. Dennoch bleibt zwischen beiden eine Spannung bestehen, groß genug, um einen Dialog zu ermöglichen. Der Engel ist im Verhältnis zum Idh der Natur näher. Auch hat er zur Kindheit des Ich eine nahe Beziehung. Von der leiblidien Ähnlichkeit war die Rede. Im Engel tritt dem Ich, das zuweilen auch „seele" heißt, seine eigene Leiblichkeit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit gegenüber. Claude David sagt von ihm mit Redit: „Ii représente cette partie de l'âme où se logent le vouloir, les projets, la confiance en-soi-même, cette image de soi que la réflexion se fixe comme un terme et à laquelle l'âme tend à s'égaler." 10 Wichtig ist der Hinweis auf die Entstehung des Engels aus der Reflexion. Tatsächlich tritt der Engel in dem Moment in den Blick des Idi, als sich dieses auf seine bisherige Entwicklung besinnt". Die früheren Werke Georges sind durch Anspielungen im „Vorspiel" vergegenwärtigt. Der Engel ist das identische Prinzip in den verschiedenen durchlebten Zuständen. Er hat das Ich geführt. So liegt es nahe, im Engel das zum Ich gehörige Selbst zu sehen. Die Motivverbindung zu Genius und Schutzengel unterstützen diese Deutung. Das mit der zitierten Bitte eingeleitete II. Gedicht schließt mit dem berühmten Satz Jakobs an seinen unerkennbaren Gegner: Ich lasse nicht, du segnetest mich denn.12 In der kaum merklichen Entstellung des Bibelspruches ist, dem Ich offensichtlich an diesem Punkt des „Vorspiels" noch nicht bewußt, das wahre Verhältnis von Ich und Engel angedeutet. „Lassen", hier absolut gebraucht, heißt, wie oft bei George, „müde werden", „auf eigene Anstrengung verzichten". Die Segnung durch den Engel bestünde darin, daß das Ich sich seiner eigenen Wünsche und Pläne entschlagen und sich ganz dem Engel anheimgeben würde. Das ist im folgenden Gedicht eingetreten, wo es heißt

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Claude David, Stefan George, son œuvre poétique. Lyon/Paris: 19J2. Bibliothèque de la société des Etudes Germaniques I X . S. 173 Das erinnert an Schillers „Das Ideal und das Leben". Oberhaupt ist George Schiller im „Vorspiel" in den wichtigen Punkten außerordentlich nahe. — Vgl. Stefan Schultz, Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller. In: Studien zur Dichtung Stefan Georges. Heidelberg: Stiehm 1967. S. 68—90 Werke I, S. 173. — Die Bibelstelle 1. Mos. 32, 27: „Ich lasse dich nicht, du segnest midi denn." — Die Anwendung dieses Bibelspruches auf das Verhältnis des Künstlers zur Inspiration oder zum Genius ist in der Zeit sehr beliebt.

Nun hält ein guter geist die rechte waage Nun tu ich alles was der engel will.13 Damit hat sidi das Idi seinem Selbst übergeben. Dieses ist fortan sein Herr. Die Unterstellung unter den Engel isoliert das Ich folgerichtig von seiner Umwelt. Es ist auf nichts mehr außer sich angewiesen. Darin sind Triumph und Vereinsamung gleicherweise beschlossen. Wäre jedoch der Engel lediglich das zum Ich gehörige natürliche Selbst, so wäre seine Engels-Gestalt nicht ausreichend gerechtfertigt. Sie weist auf eine religiöse Bedeutung hin. Diese verdeutlicht das VII. Gedicht „Ich bin freund und führer dir und ferge"14. Der Engel zeigt dem Ich von einer Bergeshöhe drei aktuelle Formen der Religiosität, die Weltfreudigkeit der Menge, die Weltentsagung des Christentums und das Hellenentum eines erwählten Kreises15. Das Ich bedarf nun dieser Weisen der Vermittlung des Göttlichen nicht mehr. Der Engel erscheint als Prinzip jeglicher religiöser Form. Er ist der Inbegriff des Mittlers. Das ist der Sinn der Christusanspielungen in seinem Umkreis. Mit dem Engel hat das Ich einen eigenen Zugang zum Göttlichen gewonnen. Dieses heißt im ersten Gedicht „das schöne Leben" und ist allgemein mit dem Leben der Natur identisch, auf welches der Engel das Ich öfters hinweist. Im motivischen Zusammenhang ist besonders wichtig, daß der Engel Flügel hat. Er vermag dem Idi damit den Aufschwung zum Absoluten zu vermitteln. Mit seinem Erscheinen stellt sidi somit die Frage nach dem Aufschwung auf neue Weise. Die Antwort darauf gibt das XIX. Gedicht: Zu wem als dir soll sie die blicke wenden Die glühend Suchende der du zuerst Die höhen wiesest und das glück bescherst Das diese bunten tage nimmer senden? Du gibst den rausch, sie sdiwebt zum ewigen tore Erhoffter strahlen jauchzendem gemisch Sie gleitet durch den saal zum göttertisdi Erfüllung leuchtet, lösung schallt im chore. 13 14 15

A.a.O. S. I7J A.a.O. S. 176 Der Blick aus der Höhe in die Tiefe hat auch hier die Funktion, im Wechselnden das Dauernde sichtbar zu machen. Doch liegt dieses hier nicht in den Erscheinungen, sondern geht ihnen im Engel, der den Blick lenkt, voraus. 315

Die unerreichte flur scheint ihr gewonnen Sie überfliegt die klüfte mit dem aar Und schaltet mit der kleinen sterne schar Und stürzt entgegen väterlichen sonnen. Nun mußt du sie im irren hasten zügeln Du beugest dich aus deiner wolkenstatt Und hüllst die zitternd ist und freude-satt Getreuer geist! mit schweren traumesflügeln.16 Die Frage der ersten Strophe bekommt ihr Gewicht auf dem Hintergrund der vielfachen Versuche des Ich in Georges bisherigen Gedichten, die jugendlichen Aufschwünge zu erneuern. Sie enthält zugleich den Ansatzpunkt der neuen Antwort. Jene frühen gelungenen Aufschwünge waren bereits das Werk des Engels gewesen. Dieser ist die Bedingung der Möglichkeit aller Aufschwünge, da diese leibliche Zustände, mithin solche des Selbst, darstellen. Mit dieser Einsicht ist die entscheidende Wendung vollzogen. Der Aufschwung ist nicht mehr als Bewegung auf ein in irgendeiner Höhe befindliches Ziel verstanden, sondern als Rauschzustand, in dem sich Visionen von Höhe, Göttertisch etc. einstellen. Die Zielvorstellungen sind ein Produkt der Ergriffenheit des Ich durch sein Selbst. Dieses ist der Ursprung der Erhebung. Das madit seine Gestalt als Engel deutlich. Damit, daß die Möglichkeit des Aufschwungs in das Selbst gelegt wird, verlieren die gottfernen Zeiten ihr Erschreckendes. Auch sie sind ¡a dem Engel unterstellt. Er ist es audi, der den Rauschzustand mit Hilfe des Traumes dämpft. Und da der Engel der Gesetzmäßigkeit der Natur untersteht, enthalten die aufschwunglosen Zeiten dieselbe Hoffnung auf ein Ende wie die Nacht auf den Tag, welchen Trost das XX. Gedicht17 formuliert. Er ist um so notwendiger, als damit, daß der Aufschwung zur Gabe des Engels wird, dem Ich jeder Einfluß darauf genommen ist. Es bleibt ihm nur der Glaube an die ständige Latenz dieser Möglichkeit. Zugleich aber erhält der Aufschwungs-Rausdi gesteigerte Bedeutung. Er ist als vom Engel ausgelöst indirekt das Werk des schönen Lebens selbst. Dieses tut sich unverhofft in ihm kund: 16

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Ebd. S. 184. Der Reim „zügeln" — „flügeln" ist aus dem Gedicht „Ikarus" übernommen. E r enthält dadurch die Bedeutung einer Anspielung, da George normalerweise der Wiederholung eines Reims auswidi. A.a.O. S. 184

Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern Es blinkt geläutert was dem staub g e z o l l t . . . Ein bräutliches beginnliches entschleiern . . . Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt! 18 Jede Erhebung wird zu einem Akt der Offenbarung des Ewigen in der Weise, daß es in der aus dem Rausch entspringenden Vision Gestalt annimmt. So wird der, dem der Aufschwung widerfährt, zum Propheten und Verkündiger. Indem somit dem Dichter sein Selbst als Engel erscheint, erkennt resp. beansprucht er seine Berufung zum Propheten. Das „Vorspiel" schließt damit an die Berufungsgeschichten der Bibel an. Das X I I . Gedicht konfrontiert die frühere Auffassung des Aufschwungs mit der neuen. Es geht in einer Ich-Rede von der Diskrepanz aus, daß der Mensch zwar die Fähigkeit habe, über Weltbilder als ihf Schöpfer frei zu verfügen, daß er aber im Metaphysischen immer noch von einer unverfügbaren Gnade abhänge, die Offenbarungen gebe und wieder zurücknehme. Das ist nochmals von der Ikarus-Erfahrung her gesprochen. Der Engel erwidert darauf die gewichtigen Verse: „Ich weiß daß euer herz verblutend stürbe Wenn ich den sprach nicht kennte der es stillt: Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet Durch eudi so groß ist und durch euch so g i l t . . . beweinet nidit zu sehr was ihr ihm liehet." 1 ' Damit ist gesagt, daß es sich grundsätzlich mit den Götterbildern nicht anders verhalte als mit den Weltbildern. Auch sie haben ihre Kraft, womit sie die Menschen faszinieren, von diesen selbst erhalten. Ein naheliegendes Mißverständnis ist hier jedoch auszuschließen. Es geht nicht um die Schöpfung von Götterbildern. Diese sind als vorhanden gedacht. Was vom Menschen verliehen wird, betrifft ihre Gültigkeit. Sie sind für ihn nur solange wirklich, als er sich ihnen im Aufschwung nähert, der in seinem Selbst seinen Ursprung hat. Das X I X . Gedicht kann dazu als Illustration dienen. Im Rausch wird dem Ich die überlieferte Bilderwelt real. Es glaubt sich im Himmel. Doch diese Realität hat allein im Rausch ihren Grund. Er ist es, der die Götter für kurze Zeit lebendig macht. Im Moment des Rausches wird der Mensch unter dem 18

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A.a.O. S. 178 A.a.O. S. 179 317

Schein höchster Abhängigkeit der höchsten Stufe seiner schöpferischen Potenz inne. Er haucht den Göttern seinen Atem ein. Es ist wichtig, daß der Engel diesen Zusammenhang aufdeckt. Denn das Mißverständnis, als sei der Mensch der Gnade der Götter ausgeliefert, konnte deshalb entstehen, weil der Akt des Leihens, nidits anderes ist der Aufschwung, nicht vom bewußten Idi ins Werk gesetzt werden kann, sondern aus der vom Engel repräsentierten Sphäre gelenkt wird. Die Analogie zur menschlichen Fähigkeit, aus eigener Kraft neue Weltbilder zu entwerfen, entzog sich gerade der Einsicht des Idi. Daher rührte seine Not. Erst durch die Erklärung des Engels ist der Anthropozentrismus einsichtig. Die Erklärung des Engels aus dem XII. Gedicht hilft auch zum Verständnis von dessen eigener Existenz. Er ist, worauf viele Anspielungen hinweisen, ein biblisches Wesen. Er gehört in den Umkreis der christlichen Gottesvorstellung. Das „Vorspiel" beläßt diese mythische Aura, zugleich aber gibt es dem Engel dadurdi neue Geltung, daß es ihn zur Personifizierung des Selbst macht. Das „Vorspiel" als Dichtung verleiht dem Engel, daß er „groß ist" und „gilt". Dieser Vorgang ersdieint als Allegorisierung. Doch dieses Verständnis entspricht nicht dem vom Engel entwickelten. Nach diesem haben alle religiösen Gestalten nicht an sich Realität, sondern erst dadurch, daß ihnen Bedeutung verliehen wird. Wenn hier aber die Dichtung den Engel neu belebt, so heißt das, daß sie dadurch für sich beansprudit, Offenbarung des Ewigen zu sein. So sdiließt sich auch von dieser Seite der Kreis. Das „Vorspiel" stellt Georges Versuch dar, sich zum prophetischen Dichter zu ernennen. Er beanspruchte damit für seine Dichtung religiöse Weihe. Damit wurde sie jenseits aller besonderen Thematik grundsätzlich zur Aufschwunglyrik. Die Forderung „Nun hilf dir Ikarus" war damit auf umfassendste Weise erfüllt. Mit der Unterordnung des Ich unter den Engel ist im „Vorspiel" eine folgenschwere Entscheidung gefallen. Das Ich, das sich bisher als selbständig handelnd und leidend verstand, hat sich damit zur „kleinen Vernunft" im Sinne Nietzsches erklärt, zum Anhängsel seines Selbst. Dieses steht dem Leib und der Natur nahe. Die Unterordnung des Ich unter den Engel bedeutet somit diejenige des Bewußtseins unter die Natur. Diese Verschiebung spiegelt sich im „Vorspiel" indirekt in der Absage an alle historischen und gesellschaftlichen Formen. Die horizontalen Orientierungen des Ich sind durch die eine vertikale ausgeschaltet und ersetzt. Daß das natürliche Selbst religiöse Qualitäten zugesprochen 318

erhält, bedeutet, daß auch Mythos und Religion zu Ersdieinungen der Natur erklärt werden. Ihre überlieferten Inhalte sind demnach Objektivationen jener Sphäre, der das Selbst angehört. Sie sind als Naturmythen Weisen, wie sich die Natur dem Ich verständlich macht. Die Identifizierung von Natur und Religion tendiert andrerseits darauf, den Naturgesetzen in der Ich-Sphäre verpflichtende Gültigkeit zu geben. Diese soll so in den alles durchwaltenden Rhythmus einbezogen werden. Indem die religiösen Gehalte naturalisiert werden, verlieren sie ihre Einmaligkeit. Sie können jeder Zeit und an jedem Ort neu entstehen oder neu belebt werden. Diese Erneuerung ist so gedacht, daß in den von der Natur dem Selbst eingegebenen Aufschwüngen traditionelle Gehalte aufgeschmolzen und mit neuem Leben erfüllt werden. Symptom dafür ist ein Synkretismus, der unbekümmert die Reinheit einmal geprägter Vorstellungen zugunsten ihrer Lebendigkeit preisgibt. Diese im „Vorspiel" proklamierte Anschauung liefert die Theorie für die Elementarmetaphorik nach, die das bisherige Werk Georges hauptsächlich bestimmt hatte. Wir waren ihr schon in „Ikarus" begegnet. Die Verbindung von höchstem Wert mit Sonne, Glanz, Glut, Feuer durchzieht das Gesamtwerk80. Die Objektivation des eigenen Selbstverständnisses hatte für George auch die Bedeutung eines Programms. Er weihte sich damit zum Sprachrohr der ewigen Natur. Da er sich nun dem Göttlichen unverlierbar verbunden wußte, war die Aufschwungproblematik grundsätzlich gelöst. Ein wirklidier Aufschwung mußte nun nur noch die Aktualisierung der Einheit mit dem Göttlichen bringen.

II. Georges reinstes Aufschwunggedicht ist „Entrückung" aus dem „Siebenten Ring". Es beschließt dort den innersten, „Maximin" übersdiriebenen Teil. Enger als jedes andere der bisher betrachteten Aufschwung-Gedichte gehört es zu einem Gedichtzyklus. Dieser wiederum zieht die Summe aus dem für George zentralen Maximin-Erlebnis. Daraus ergibt sich methodisch für die Interpretation, daß sie an manchen Stellen über das Gedicht hinausgehen und den gesamten Maximin-Kom10

Vgl. Stefan Schultz, Wellen und Flammen. A.a.O. S. 12$—146

319

plex einbeziehen muß. Immerhin soll audi hier versudit werden, das Gedidit primär von seinem Wortlaut her zu verstehen. Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die geeichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die idi liebte fahlen Daß ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten — rufer meiner quälen — Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungriindigen danks und unbenamten lobes Dem großen atem wunschlos mich ergebend. Mich überfährt ein ungestümes wehen Im rausch der weihe so inbrünstige schreie In staub geworfner beterinnen flehen: Dann seh idi wie sich duftige nebel lüpfen In einer sonnerfüllten klaren freie Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen. Der boden schütten weiß und weich wie m ö l k e . . . Ich steige über Schluchten ungeheuer · Ich fühle wie ich über lezter wölke In einem meer kristallnen glanzes schwimme — Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimmme.21 Die Gliederung des Gedichts ist widersprüchlich. Von Strophenmaß und Reimschema her ist sie vierteilig. Durch die unechten Terzinen, die abacbc gereimt sind, werden je zwei Strophen zusammengebunden, was den Aufbau 2 + 2 + 2 + 2 ergibt. Die Mitte liegt zwischen der vierten und der fünften Strophe. Diesem Aufbau widerstrebt jedoch die syntaktische Gliederung. Sie schließt die ersten drei und die letzten drei Stro21

Werke I, S. 293. Charles Du Bos geht in seinen „Maquettes pour un hommage à Stefan George" von „Entrückung" aus, ohne jedoch eine strenge Interpretation zu geben. In: Approximations I V . Paris: Corrêa 1930. S. 165 ff.

320

phen zusammen, so daß sich die Strophen in 3 + 1 + 1 + 3 gliedern. Dadurch werden die beiden mittleren Strophen zur Symmetrieachse. Sie sind thematisch eine Einheit. Der Doppelpunkt am Schluß der fünften Strophe deutet eine Überleitungsfunktion an. Diese zweite Gliederung ist eher eine innere, sie steht zur ersten, gegen die sie sich durchzusetzen hat, in Spannung. Sie trägt schließlich die Bewegung, welche dem Terzinenmaß mit der Veränderung der Reimordnung genommen ist. Die erste Zeile kündigt aufs knappste die Bewegung an, auf die der Titel vorbereitet. Das Ich registriert an sich die Vorboten einer Veränderung. Noch aber ist alles unbestimmt, was sich grammatisch in der Artikellosigkeit ausdrückt. Unklar ist auch, wer mit „anderem planeten" gemeint ist. „Planet" ist in Georges eigenen Gedichten ein Hapaxlegomenon22. Es erscheint noch einmal in den Dante-Ubertragungen als Wiedergabe von „pianeta". Bei Dante ist damit die Sonne bezeichnet. Auch bei George wird in der sechsten Strophe in „sonnerfüllt" die Sonne genannt. Doch in der ersten Zeile ist das noch nicht ersichtlich. Die Undeutlidikeit macht auch eine astrologische Auslegung möglich. Das Ich spürt das Eintreten einer anderen Konjunktur voraus. Was bisher war, dreht sich von ihm weg. Die erste Zeile evoziert eine räumliche und eine zeitliche Bewegung. Das Ich ist von dieser Veränderung betroffen und beobachtet gleichzeitig seine Betroffenheit. Die erste Zeile legt seine reflektierende Haltung fest. Sie gleicht derjenigen des Ich in C. F. Meyers „Himmelsnähe". Doch gilt sie hier einem Vorgang, dem die Reflexion nicht ohne weiteres beikommt. Daraus resultiert die Unbestimmtheit, die das ganze Gedicht hindurch bestehen bleibt. Was die erste Zeile geheimnisvoll andeutet, konkretisiert der erste Teil des Gedichts. Darin stellt das Idi eine Veränderung des Lichtverhältnisses in seiner Umgebung fest. Die Inchoativa „blassen", „fahlen", „erlöschen" zeichnen einen Vorgang des Verdämmerns nach. Er erfaßt fortschreitend Gesichter, Landschaft und den „geliebten Schatten". In dieser Abfolge der Substantive scheint die Klimax der Verben preisgegeben zu sein. Doch die Alliteration „lichter/geliebter Schatten" läßt erkennen, was es überhaupt mit diesem Lichtwechsel auf sich hat. Der Substantivreihe läuft diejenige der näheren Bestimmungen „die freundlich eben noch sich zu mir drehten", „die ich liebte", „geliebter" parallel. Daraus geht hervor, daß die Helligkeitswerte auf der inneren Anteil22

Vgl.

Claus

Victor

Bock, W o r t k o n k o r d a n z

zur Dichtung Stefan

Georges.

A m s t e r d a m : Castrum peregrini Presse 1 9 6 4

321

21 Pestalozzi, lyrisches Ich

nähme des Idi an den Objekten beruhen. Diese Objekte gehören alle einer näheren oder ferneren Vergangenheit an. Es sind Erinnerungen, Erinnerungsbilder des Ich. Es ist somit selbst die Lichtquelle der Welt, zu der sie gehören. In jeder der ersten sechs Zeilen, die ihr eingeräumt sind, kommt ein Pronomen der ersten Person vor. Was das Idi in der ersten Zeile voraus spürt, ist das Verdämmern seiner bewußten Idi-Welt. Die Dämmerung, welche die ersten drei Strophen beschreiben, ist Abendund Morgendämmerung zugleich. Gesichter, Bäume und Wege versinken ins Dunkel, „durch" wird wie oft von George im mittelhochdeutschen Sinn kausal verwendet. Die in der Erinnerung bewahrte Landschaft und Gemeinschaft werden unkenntlich, indem die Idi-Teilnahme daraus verschwindet. Damit löst sich auch die Bindung des Ich an die Umwelt. Im „rufer meiner quälen" verschränken sich Licht und Dunkel untrennbar. Er ist ein „lichter schatten" und erlöscht „in tiefere gluten". Er verdämmert ins Licht. Rückblickend scheint die neue Liditquelle, die sich durch ihn eröffnet, audi die Dunkelheit zu erklären, in welche Landschaft und Gesichter verdämmern. Es handelte sich dann um jene bekannte Erscheinung, daß ein starkes Licht schwächere durch seine Helle überstrahlt. Interferenzpunkt von Licht und Dunkelheit ist der „rufer meiner quälen". Durch ihn hängt das Gedicht mit dem Zyklus zusammen, den es beschließt. Der Geliebte Schatten ist Maximin. In der Umschreibung „lichter geliebter sdiatten — rufer meiner quälen —" ist das Verhältnis Georges zu Maximin umschrieben, wie es auch die „Vorrede" zu Maximin zeichnet. Daß er ein Schatten genannt wird, spielt auf seinen Tod an. Doch die antikisierende euphemistische Bezeichnung dient hier audi dazu, die Paradoxie zu verstärken, zumal die Apposition „rufer meiner quälen" seine Dunkelheit unterstreicht. In doppelter Weise gilt diese Erinnerung einem leidvollen Objekt. Doch gerade durch die damit angedeutete zwiespältige und gesteigerte Intensität, die auf ihn gerichtet ist, kann der Schatten seine Bedeutung bekommen. Die von ihm ausgelösten Emotionen überspülen ihren Anlaß und verselbständigen sich. Der Schatten verschwindet in Taumel und Schauer, die er hervorruft. Aus dem an ihn gebundenen wird auf diese Weise ein absolutes Gefühl. Der Schatten kann diese Mittlerfunktion zwischen den zuvor genannten erinnerten Objekten und dem absoluten Gefühl dadurch einnehmen, daß er allein nurmehr in der Erinnerung existiert. Er ist damit stärker als Gesichter und Landsdiaft dem Ich zugehörig. Das gibt dem Terminus „Schatten" noch eine spezifischere Bedeutung. 3 "

Er deutet auf jenes Verhältnis, welches der Engel des „Vorspiels" formuliert. Maximins Göttlichkeit hatte ihren Ursprung in Georges Zuneigung zu ihm. Er antwortete auf ein Suchbild des Heilbringers, das als Rolle an ihn herangetragen wurde. Mit den Worten der „Vorrede": Als wir Maximin zum erstenmal in unserer Stadt begegneten, stand er noch in den knabenjahren. Er kam uns aus dem siegesbogen geschritten mit der unbeirrbaren festigkeit des jungen fediters und den mienen feldherrlicher Obergewalt jedoch gemildert durch jene regbarkeit und Schwermut, die erst durch jahrhunderte christlicher bildung in die angesichter des Volkes gekommen war. Wir erkannten in ihm den darsteller einer allmächtigen jugend, wie wir sie erträumt hatten, mit ihrer ungebrochenen fülle und lauterkeit, die auch heute noch hügel versezt und trocknen fußes über die wasser schreitet — einer jugend die unser erbe nehmen und neue reiche erobern könnte. 23 Doch zum tatsächlichen Heilbringer machte ihn nicht die Rolle, sondern ein anderer, ursprünglicher Bereich, der als ihr Komplement durch sie zum Vorschein kam und den in der „Vorrede" die Adjektive „ursprünglich, heldenhaft, märchenhaft, verwunschen, golden, fremd, unfaßbar, unheimlich, anders" andeuten. Auch der Name gehört dazu, den „berger der goldenen krone" 24 umspielt. Es ist das Originelle an Maximin, im Doppelsinn des Ursprünglichen und Individuellen, das hinter dem mythischen Erscheinungsbild steht. Dieses ist es, was auf den Verleiher zurückwirkt, ja auch Maximin selbst beeinflußt. Medium dieses Bereichs und seiner Ausstrahlung ist vor allem die Stimme: Diese stimme war besonders rührend — am mächtigsten wenn er lobte oder verteidigte oder uns aus den dichtem las und uns überraschte mit einem neuen zauber des tönenden. Dann bezog sich die leichte bräunung seiner haut mit purpur und seine blicke leuchteten so daß die unseren sich niedersenkten. Aber auch ohne daß er sprach und tat: seine bloße anwesenheit im räum genügte um bei allen das gefühl von leibhaftem duft und wärme zu erwecken. Willig gaben wir uns der verwandelnden kraft hin die nur anzu-

23

24

Werke I, S. 522. D a s Suchbild führt in der Struktur dasjenige weiter, das George i j Jahre früher an Hofmannsthal herangetragen hatte. Doch ist es nun literarisch anders ausgerichtet. Vgl. G e o r g e — H o f m a n n s t h a l B W S. 12 D e r Hinweis auf diese scharadenartige Anspielung bei Schultz, a.a.O. S. 154. Schultz macht das Synkretistisdie an Georges M a x i m i n - K u l t durch die Beiziehung vieler mythengeschichtlicher Parallelen anschaulich.

3*5 21»

haudien oder anzurühren braucht um den alltäglichen Umgebungen einen jungfräulichen paradiesischen Schimmer zu spenden.25 Nach dem „Vorspiel" ist aber gerade auch dieses „andere" an Maximin etwas Verliehenes, das sich objektiviert. Maximin wurde für George zur Personifikation seines eigenen anderen, des Selbst. In der „Vorrede" wird Maximin so dargestellt, als habe das „andere"2® Maximins Erscheinung gleichsam aufgezehrt und so zu seinem frühen und jähen Tod geführt, der zugleich das Suchbild des mythischen Heilbringers bestätigte. Die Ewigkeit, in die er dadurch einging, war das Innere Georges und seiner Freunde. Er wurde ihnen nun endgültig zum Mittler zu ihrem eigenen Selbst. Sein Tod war dafür Anlaß und Bedingung der Möglichkeit zugleich. Die dritte Strophe von „Entrückung" deutet diesen Umwandlungsprozeß des Schattens als Vorgang, bei dem das Helldunkel in die größere Helle verdämmert und darin aufgeht. Das Götterbild versinkt in dem Element, aus dem es lebte. Der letzte Rest ist in der Bezeichnung des Schauers als „fromm" zu erkennen. Er verdient dieses Adjektiv, weil er die Schwelle bildet zu jenem Bereich, der die Göttlichkeit verlieh. Damit ist der erste Teil des Gedichts abgeschlossen. Die Veränderung, die sich in ihm ereignete, betraf die Welt des bewußten Ich, die aus Erinnerungsbildern bestand, die zugleich von Emotionen tingiert waren. Uberwog in Landschaft und Gesichtern der Anteil des Objektiven die Emotionalität, so war umgekehrt im geliebten Schatten diese dominierend. Sie löschte das Erscheinungsbild auf und wurde als „frommer schauer" beinahe selbständig. Damit hatte sich das Ursprüngliche gegen seine Objektivationen durchgesetzt, doch hatte der Schatten als mythische Objektivation erst diesen Wandel möglich gemacht. Im tönen." an ihm Sprache

Mittelteil setzt akustisches Geschehen ein. „Ich löse mich in N o d i immer ist das Ich dabei Beobachter. Es vollzieht sich etwas ohne sein Zutun. Bei diesem unwillkürlichen Tönen ist an jene der Empfindung zu denken, die nach Herder aller artikulier-

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Werke I, S . 524

26

D e n Begriff „das andere" stellt K o d i , offensichtlich unter dem Eindruck von Rudolf Ottos Buch „ D a s H e i l i g e " , ins Zentrum seiner George-Deutung. Willi Koch, Stefan George, Weltbild, Naturbild, Menschenbild. H a l l e 1 9 3 3 . V g l . die Besprechung dieses Buches durch W a l t e r Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Schriften I I , S . 3 2 3 . D i e Bedeutung von Benjamins A u f s a t z liegt in der Einordnung Georges in den Jugendstil.

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ten Sprache vorausliegt und in der sich „die empfindsame Maschine" unmittelbar äußert. Die Lautungen, die das Ich aus sich ausbrechen hört, sind mit „ungründigen danks" und „unbenamten lobes" als solche bezeichnet, denen aller Inhalt genommen ist. „Kreisend, webend" benennt das Gesetz dieser Äußerungen. Es geht auch hier um eine Bewegtheit, deren gleiche Phasen wiederkehren. Zusammen mit den negativen Bestimmungen charakterisieren sie eine ähnliche Doppelheit, wie wir sie bei Nietzsche gefunden haben, wo die rhetorische Verfremdung auf die Wiederkehr des gleichen tendierte 27 . Die Lösung in Tönen ist entsprechend Georges Tendenz, Komposita unter Beibehaltung ihrer Bedeutung auf einfache Verben zu reduzieren, Ablösung, Auflösung und Erlösung zugleich. Der Vorgang, der im ersten Gediditteil etwas Unheimliches hatte, enthüllt sich nun als eindeutig positiv. Das Ich ergibt sich ihm „wunschlos". Das Ich, das sich in Tönen löst, empfängt zugleich die Bewegung zurück, die von ihm ausgeht. In der fünften Strophe ist es demonstrativ als Objekt vorangestellt. Das Ausgesprochene wirkt auf den Spredier zurück und tut ihm Gewalt an nach Art der reflexiv-pathetischen Rede28. Nun wird die Funktion auch deutlich, die dem Akustischen zukommt. Es ist das Medium, in dem der Mensch zugleich hervorbringend und empfangend sein kann. So kann es die Mitte bilden, an der die aus der Auflösung entstandene Bewegung wiederum produktiv wird. Diese Wirkung illustrieren die Beterinnen, die außer sich von der Inbrunst ihrer eigenen Gebete im Staub liegen, nurmehr Attribute ihrer selbständig gewordenen Schreie. Das Gebet ist damit ebenfalls aller Inhalte entkleidet und zum psychischen ,Vorgang der Selbstbeschwörung geworden, bei dem Betender und Erhörender verschiedene Schichten einer Person sind. Der Vergleich mit den Beterinnen erfüllt ferner die Funktion, auch das, was sich an dem Ich vollzieht, religiös zu deuten. Es steht in Analogie zu dem, was den Beterinnen widerfährt. Aber wie zuvor aus Lob und Dank die Inhalte getilgt wurden, so besteht auch hier die Weihe allein im Rausch. Sie geschieht nicht mehr im Namen von etwas oder jemandem. Diese Reduktion religiöser Phänomene auf physio-psydio27 28

Vgl. das Nietzsche Kapitel dieser Arbeit. Vgl. Staigers Bemerkungen zum Pathos in: Grundbegriffe der Poetik. Züridi: Atlantis 1946. S. 156 ff.

logische Vorgänge, resp. die Aufwertung der letzteren zu religiösen ist im „großen atem" und in „ein ungestümes wehen" am deutlichsten. Hinter beiden Ausdrücken ist der alte Begriff des göttlichen πνεΰμα, spiritus, zu erkennen, der die Menschen ergreift. Aber hier handelt es sich nur noch um den menschlichen Atem. Die Metapher ist rückgängig gemacht, das Bild ist zur Sache geworden. Das bedeutet, daß der weihende Atem derjenige des zu weihenden ist. Was aber berechtigt dazu, diesem physiologischen Vorgang religiöse Bedeutung zu geben? Wo liegt die Differenz zum gewöhnlichen Atem? „Atem" und „Wehen" sind quantifizierende Adjektive „groß" und „ungestüm" beigegeben. Sie ordnen sich ein in die übrigen Adjektive des Mittelteils, „ungründig", „unbenamt", „wunschlos", „ungestüm", „inbrünstig". Alle stehen sie unter dem Vorzeichen „fromm" aus der Schlußzeile des ersten Teils. Offensichtlich gilt die Intensität des Gefühls als Kennzeichen einer religiösen Macht. Sie geht hervor gerade aus der Tilgung aller inhaltlichen Momente, wie die privativen Adjektive zeigen. Intensität und inhaltliche Festlegung sind somit Alternativen. So geht aus dem Verdämmern im ersten Teil der Ausbruch des überstarken Gefühls hervor. In diesem besteht die Weihe. Sie öffnet den Zugang zu jenem Bereich, in dem die Intensität ihren Ursprung hat. Der Doppelpunkt markiert die Schwelle. Im Mittelteil wiederholt sich somit am Ich, was zuvor mit dem Schatten geschehen war: es löst sich auf unter der Einwirkung jener Sphäre, in der es seinen Ursprung hat. Das Ich wird im Rausch von seinem Selbst überwältigt. Es gerät unter dessen Befehl und wird zum Organ einer höheren Gewalt. Für den mit der sechsten Strophe beginnenden dritten Teil heißt das, daß er eine andere Qualität hat als der erste, mit dem ihn das Medium des Optischen verbindet. E r enthält eine Vision, die aus diesem eröffneten Ursprung gespeist wird. Jetzt erst beginnt der Aufschwung. Der dritte Teil gliedert sich gegen Strophenmaß und Syntax in drei Abschnitte à 4, 3 und 2 Zeilen, deren Trennung durdi die auslaufenden Punkte und den Gedankenstrich angedeutet ist. Das sukzessive Kleinerwerden der Teile führt zu einer Verjüngung des Gedichts, die dem darin evozierten Aufsdiwung parallel läuft. Daß ein Zeilenpaar den Abschluß bildet, schiebt die Schlußpointe über das Gedicht hinaus in die Pause, die nach seinem Aufhören eintritt. Den drei Abschnitten entsprechen drei verschiedene Situationen: Zuerst eine wie auf hohen Bergen, dann der Aufstieg in das Lichtmeer, schließlich die Einheit mit dem Ursprung 326

des Kosmos. — Im dritten Teil des Gedichtes fällt der Reim „lüpfen" —; „bergesschlüpfen" besonders ins Ohr. Er stellt innerhalb des Gedichts einen sprachlichen Absturz dar. Ähnliches gilt für das Reimwort „mölke". Ebenso deutlich aber ist die Absichtlichkeit dieser mundartlichen Färbung. Sie läßt die Intention erkennen, die Aufwärtsbewegung sprachlich zu spiegeln und dafür eine im gegebenen Rahmen des hohen Stils möglichst niedrige Ausgangslage zu schaffen. Diese ist nach den auslaufenden Punkten bereits wieder verlassen, und in den beiden parallelen „ich-bin"Formeln hat das Gedicht seine hieratischste Gestalt erreicht. Da bei diesem sprachlichen Aufstieg der Rahmen des hohen Stils bestehen bleibt, kann er nur stilisiert stattfinden. Das Mittel dazu sind die beschriebenen vereinzelten Andeutungen. Da diese jedoch nicht völlig integriert sind, entsteht dennoch der Eindruck eines Stilbruchs. Er ist um so deutlicher, als sich das Gedicht sonst weitgehend im Rahmen blasser traditioneller Reime gehalten hatte. Es ist kein Zufall, daß diese Problematik in diesem dritten Gedichtteil auftritt. Hier geht es darum, zu gestalten, was vom Dichter aus jenseits des Sagbaren liegt, wofür daher einzig die Sprache selbst bürgen muß. Deshalb verstärkt sie das Aufgebot rhetorischer Mittel, ja man meint die Tendenz zu erkennen, den Inhalt in Rhetorik aufzulösen. Wenn unsere Deutung des Mittelteils zutrifft, so geht es hier darum, jene Intensitätssteigerung wahrnehmbar zu machen, die nach der Konzeption des Gedichts in die Heiligkeit führt. Die Ausgangssituation wird der auf einer Bergeshöhe verglichen, welche zur Nebelgrenze hinaufreicht. Diese Bildlichkeit unterstreicht den zentralen Begriff der Freiheit, der in der zweiten Zeile anklingt. Wir meinen, auf dem Hintergrund der Motivtradition die Bedeutung dieses Ausgangspunktes zu erkennen. Der Berggipfel ist als höchster irdischer Punkt jene Stelle, an der der Mensch sich an der Grenze der Welt befindet, ohne sie zu verlassen. Der Blick nach unten und oben ist frei. Hier ist der Tiefenblick durch den Nebel verstellt. Es geht nicht darum, vom äußeren Punkt der Welt aus ihr ewiges Gesetz zu erkennen. Vielmehr kann von hier aus die Bewegung aus der Welt und über sie hinaus ihren Anfang nehmen auf den anderen Planeten zu. — Bei Nietzsche offenbarte sich auf hohen Bergen das individuelle Selbst. Hier bildet dieses lediglich den Ausgangspunkt für die Auflösung in ein Absolutes, das noch dieses Selbst übersteigt. Das individuelle Selbst ist eine Position, die ebenso ins Licht verdämmern muß wie die konkreten Bezüge zur sichtbaren Welt. Die ersten vier Zeilen des dritten Teils evozieren, wie die Bewegung 327

immer näher an das Ich herankommt. Erst sind es nur die Nebel, die in den Aufwind geraten. Dann kommt der Boden ins Wanken, schließlich greift die Bewegung auf das Ich über. Das Ich, das so ergriffen wird, ist das bewußte Ich, das bisher unverrückt beobachtend den Wandlungen entzogen geblieben war. Nun ihm der Blick auf die Welt genommen ist, setzt seine Veränderung ein. Diese Veränderung ist daran abzulesen, daß das Ich grammatisch und nach seiner Stellung im Vers beherrschend wird. Es tritt viermal an den Zeilenanfang als Subjekt. Die beiden Schlußstrophen korrespondieren insofern mit den beiden ersten, als fast ebenso viele Pronomina der ersten Person darin vorkommen. Am Anfang ist, sieht man von der ersten Zeile ab, das Ich den Objekten, die zu ihm gehören, beigeordnet. Es steht in Relation zu andern Erscheinungen. Am Gedichtschluß aber ist es Subjekt intransitiver Verben. Seine beherrschende Stellung ist verbunden mit seiner Bewegung, während es zuvor als Beobachter fest stand. Diese Bewegung über die Welt hinaus geschieht im Medium des Lidits. Das erinnert an den Schwimmervergleich in Baudelaires „Elévation". Aber während dort das Ich für sich allein seine Losgelöstheit von der Welt genießt, „Dort regst du didi in freiheit" 29 , hat George übersetzt, geht es in „Entrückung" ein in den Glanz und das Licht. Es befolgt damit, mißt man es an „Elévation", die Aufforderung der Mittelstrophe, die in der Übersetzung Georges den Bezug deutlich erkennen läßt: Flieh weit aus dieser kranken dünste giften, In einem höhern luftraum werde rein Und trink wie einen himmlisch echten wein Das klare feuer in den lichten triften! 30 Die Zeile „Idi bin ein funke nur vom heiligen feuer" antwortet direkt darauf. Damit ist es Ikarus gelungen, zum „feuerball" zurückzukehren. Der „andere planet" ist erreicht. Doch nach der kopernikanischen Wendung, des „Vorspiels" ist die heilige Sonne nurmehr eine Objektivation des Rausches, anders gesagt die Metapher für eine innerste Sphäre des Menschen. Der Aufschwung spiegelt einen Abstieg dorthin, wo das Selbst in die Natur übergeht. 29

Werke II, S. 238 Ebd.

328

Es überrascht, daß die Schlußzeile, die der vorletzten genau parallel verläuft, dem abschließenden optischen noch einen akustischen Aspekt beifügt, ohne d a ß dadurch eine grundsätzlich andere Ich-Bestimmung dazu käme. Ließ sich zudem das „heilige feuer" aus dem K o n t e x t verstehen, so m u ß nach Abschluß des Gedichts völlig vage bleiben, was unter der „heiligen stimme" vorzustellen ist. Im K u l t um Maximin spielte Maximins Stimme eine zentrale Rolle. Sie ging von Maximin aus und w a r doch seiner Kontrolle entzogen. Er erschien als ihr Instrument, sie tönte durch ihn hindurch. A u f ihr beruhte in erster Linie seine verwandelnde Wirkung. Die „ V o r r e d e " beschreibt, wie die Stimme ihn überlebte und in die zurückgebliebenen

Freunde

eindrang. Auch im „Vorspiel" w i r d besonders betont, d a ß die Stimme des Engels fast der des Ich glich. U n d schließlidi belegt auch der Mittelteil v o n „Entrückung" den Ursprung der Stimme aus dem Bereich des Selbst. In der Schlußzeile erklärt sich somit das Ich z u m Instrument, das v o m Selbst gespielt wird. Es dröhnt Naturlaute. Die

Schlußzeile

stellt

das jedoch nicht nur fest. Sie stellt

eine

Reflexion darauf dar, daß das Gedicht und sie selbst gesprochen wird. Die heilige Stimme ist die Stimme dessen, der das Gedicht spricht. George und sein Kreis haben großen W e r t darauf gelegt, daß Gedichte laut gelesen werden 3 1 . George soll d a f ü r eine eigene psalmodierende Intonation entwickelt haben, die derjenigen Moissis nicht unähnlich war. In diesem T o n hat man sich das Gedicht vorgetragen z u denken. Diese Vortragsweise

darf

jedoch,

soll

die

Schlußzeile

zurecht

darauf

reflektieren,

nicht nach Belieben z u m Gedicht hinzukommen. Es m u ß v o n seiner Gestalt her zu einer solchen Vortragsweise drängen. Georg v o n Lukács hat in seinem ein Jahr nach dem Erscheinen des „Siebenten Rings" geschriebenen A u f s a t z ' 2 über George mit Recht d a v o n gesprochen, daß in dieser L y r i k , anders als in der auf das Volkslied zurückgehenden, die Begleitmusik wegfallen könne, da sie durch die Kombination v o n V o k a len und Konsonanten in den T e x t selbst hineingenommen sei. Das führe zur Einheit von T e x t und T o n , Melodie und Begleitung. D a s heißt, d a ß das Gedicht eine Sprechpartitur bildet, die in Lautung umgesetzt z u werden v e r l a n g t " .

" si

Vgl. Robert Böhringer, Über Hersagen von Gediditen, Das Leben von Gedichten. Nun in: George-Kreis S. 93 ff. Georg von Lukács, Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik. In: Die Seele und die Formen. Berlin 1911

329

Es ist hier nidit notwendig, auf alle Mittel der sprachlich-rhetorischen Instrumentation im einzelnen einzugehen. Sie sind im wesentlichen dieselben w i e bei Nietzsche, doch sind sie mit größerer Berechnung eingesetzt. M a n kann eine Steigerung feststellen: Im ersten Teil sind sie sparsam verwendet. Die differenzierte syntaktische Konstruktion ist bestimmender

als vereinzelte

Ornatuselemente.

Im Mittelteil

kommen

Klangqualitäten ins Spiel, die sogar z u einem Binnenreim führen. Im dritten Teil setzt sich immer stärker der rhetorisch-pathetische Parallelismus durch, den dann die Schlußzeilen rein verwirklichen. Im rhetorischen Ornatus verschwindet die inhaltliche Aussage immer mehr. In eben dieser Emanzipation des Ornatus besteht das Dröhnen, auf das sidi die Schlußzeile bezieht. Schließlich gehört auch die Tektonik des ganzen Gedichts, v o n der am A n f a n g die Rede w a r , z u den musikalischen Momenten, v o n denen Lukács spricht. Die Gegenläufigkeit v o n Strophenordnung und Bewegungsablauf entspricht derjenigen v o n T a k t und Rhythmus oder Melodie. Diese Beobachtungen hatte Georges berühmte Definition auf die Formel gebracht: D e n wert der diditung entscheidet nicht der sinn (sonst w ä r e sie e t w a Weisheit gelahrtheit), sondern die f o r m d . h . durchaus nichts äußerliches sondern jenes tief erregende in maaß und klang wodurch z u allen Zeiten die Ursprünglichen die Meister sich v o n den nachfahren den künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. . . . die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen teile z u einander, die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung. 34 Form ist verstanden als Medium der Wirkung. In ihr liegt beschlossen, was George als das Besondere der Dichtung bezeidinet: das geheimnis der erweckung und das geheimnis des Übergangs. 85 Form ist das p r o v o k a t i v e Moment des Gedichts. In ihr ist bereits enthalten, was sie erregt, so d a ß es heißen kann: Strengstes M a ß ist zugleich höchste freiheit.' 6

"

Sdiönberg hat „Entriickung" vertont im letzten Satz des Streichquartetts op. io Nr. 2 " Werke I, S. 530 « A.a.O. S. 531 »· A.a.O. S. $30 330

Nach diesem Grundsatz ist der letzte Teil von „Entrückung" gestaltet. Durdi die formalen Elemente wird suggeriert, was das Gedicht aussagt. Damit aber erscheint die Form doch als etwas Äußerliches. Die Form-Inhalt-Relation ist onomatopoetisch. Die sprachliche Form ist die Metapher des Gehalts und umgekehrt. Eines kommt zum andern hinzu. Auch der Reim wird metaphorisiert, wenn George fordert, daß zwischen durch den Reim verbundenen Worten eine innere Verbindung bestehen müsse, sonst sei er ein bloßes Wortspiel. Der Adressat dieser Wirkung ist der Leser. In ihm soll das Gedicht den Aufschwung provozieren, das Absterben der Erinnerungswelt und daraus sich ergebend das Lautwerden der eigenen Ursprünglichkeit. Das ist genau jene Art der Wirkung, welche im Mittelteil im Vergleich mit den Beterinnen anklingt. Indem nun das Gedicht zum Sdiluß auf die Stimme des Vortragenden aufmerksam macht, deutet es auf das, was es als ganzes legitimiert. Wenn die eigene Stimme vernommen wird als fremde und durch das Gedicht verfremdete, dann ist jene Ich-Freiheit erreicht, die das Gedicht anstrebt. Es ist zur Offenbarung der innersten Lebendigkeit geworden, die es wortlos weiterführt. Wir fanden auch bei Mallarmé und Hofmannsthal Beispiele, wie das Gedicht auf etwas hinführt, was nicht mehr es selber ist. In beiden Fällen ging es um das Schweigen. Georges Entrückung zielt auf die konkrete Leiblichkeit. In ihr soll der Leser sein Selbst erfahren. Schon Georges frühes Gedicht „Weihe" arbeitet mit diesem Mittel: Die vorletzte Strophe bereitet dort den Kuß der Herrin vor, ein Doppelpunkt leitet zu ihm über, so daß er in der folgenden Pause als stattfindend zu denken ist. Die folgende Strophe spricht von ihm im Praeteritum. Die Schlußzeilen lauten: Daß sie im Kuß nicht auszuweichen strebte Dem finger stützend deiner lippe nah.37 Über die letzte Zeile ist viel gerätselt worden®8. Sie klärt sich, wenn man sie als Andeutung auf die typische Lesehaltung versteht, die deshalb so unbestimmt gelassen ist, um möglichst viele verschiedene Nuancen aufnehmen zu können. Wie der Schluß von „Entrückung" auf die Stimme, reflektiert dieses frühe Gedicht auf die Gebärde des Lesers, um zu beglaubigen, was es aussagt. Je ungewohnter dieser Gehalt, um »7 A.a.O. S. 9 *8 Vgl. Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. Mündien' Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi i960. S. 9 331

so wichtiger wird diese Legitimation durch das Leben. Wenn diese auch nur an einem Punkt, Haltung, Stimme, gelingt, ist die Ubereinstimmung des Gedichts mit dem Leser und damit die Berechtigung seiner Aussage gewährleistet; denn es beansprucht, Offenbarung eines Göttlichen zu sein, das sich jeder dogmatischen Fixierung entzieht, aber jedem Ich als natürlicher Ursprung zugrunde liegt. Zu diesem Ursprung führt der Aufschwung zurück, den das Gedicht zum Thema hat und selber darstellt. Durch es soll sich der Mensch als Stimme erfahren und damit an jene Grenze gelangen, wo er als Einzelner sich mit dem Allgemeinen und Göttlichen berührt. Dieser Bereich ist jenseits des Bewußtseins. Er ist damit auch jenseits aller Vorstellung und Sprache. Dennoch hat das Gedicht eine festumrissene Sprachgestalt, und in den einzelnen Teilen bestehen konsequente Bildketten. Beides verdankt es der Orientierung am Vorbild Dantes. Um die Funktion dieser Stilisierung zu klären ist es nötig, auf Georges Verhältnis zu Dante etwas näher einzugehen. Nach verschiedenen Zeugnissen und Photographien bestand zwischen George und Dante, wie ihn die Bildnisse überliefern, eine erstaunliche physiognomische Ähnlichkeit. Sabine Lepsius berichtet, daß George selbst einmal vor dem Spiegel angesichts seines durch eine entsprechende Drapierung unterstrichenen dantesken Aussehens betroffen verstummt sei39. Er legte der Physiognomie als Spiegel des Innern große Bedeutung zu. Das kommt in seinen kurzen Charakterisierungen von Mallarmé und Verlaine zum Ausdruck40. Die Ähnlichkeit mit Dante konnte George nicht für zufällig nehmen. Wenn er auf den Münchner Faschingsfesten als Dante angetan erschien, war das nicht nur Mummenschanz, sondern Darstellung einer geheimen Identität. Sie schien zu profilieren, was die Natur angelegt hatte. Dante war für George nicht primär der Repräsentant des Trecento. Die erste Erwähnung im „Vorspiel" nennt ihn neben den „attischen gottesdienern", Petrarca und Shakespeare als einen jener „höchsten meister", die „trost und beispiel" sein können 41 . Im „Siebenten Ring" tritt er mit Goethe, Nietzsche, Böcklin, Leo XIII., Elisabeth von Österreich und Carl August Klein in eine Reihe42. Im Abschnitt über Mallarmé schließlich wird er unter jenen Dichtern genannt, in deren Dunkelheiten „wir das pochen und zucken unserer eigenen seelen mit genugse 40 41 42

Sabine Lepsius, Stefan George. Berlin: Die Runde 1935. S. 35/36 Vgl. Werke I, S. $0$, $08 A.a.O. S. 183 Zeitgedidite; ebd. S. 2 2 7 ff.

332

tuung herausfühlen" 43 . Zu Dante bestand für George ein Verhältnis idealer Gleichzeitigkeit. Er war als Mensch und in seiner Dichtung gegenwärtig als Gestalt, in der und durch die die eigene Lebendigkeit sich erkennen und erfassen konnte. Worin das Spezifische dieser Möglichkeit für George lag, deutet der Passus „Kunst und menschliches Urbild" an: Unsere lebensfließung (rhythmus) verlangt außer uns das urbild das in den vielen menschlichen gestalten oft einzelne züge und zeit- und näherungsweise eine Verkörperung findet. Eine andere erklärung gibt es weder für die Dantesche Geliebte noch für den Shakespearischen Freund. Nach der einen wirklichen Beatrice und dem einen wirklichen W. H. zu suchen ist eine Spielerei der ausleger.44 Hinter diesen Worten ist dieselbe Konzeption zu erkennen wie hinter dem „Vorspiel". Der Lebensrhythmus verleiht einer andern Gestalt Gültigkeit und macht es möglich, daß diese auf das Ich zurückwirkt. Die Liebe wird so in einem subtilen Sinn homoerotisch verstanden. Diese Gesetzmäßigkeit war es, die George u. a. bei Dante ausgeprägt fand. Er verhielt sich damit zu Dante wie dieser sich zu Beatrice verhielt: Er sah in ihm seine eigene „Lebensfließung" gestaltet. Die Bestätigung dafür sind die Versuche, das Verhältnis zu Maximin in demjenigen Dantes zu Beatrice zu spiegeln. Diese Spiegelung realisierte sich wiederum am sinnenfälligsten im Münchner Fasching. Kronberger notierte 1904 in sein Tagebudi: Wir bildeten eine Dichtergruppe, und zwar Wolfskehl, geführt von einem Leierknaben, als Homer, dann Vergil, hierauf George als Dante, von mir als einem Florentiner Edelknaben geführt. — Det Anzug paßte mir prächtig. Ich hatte rote Strümpfe, einen rotseidenen Überwurf, in der Hand eine rote Kerze und auf dem Kopf einen Kranz von roten Nelken. . . . George als Dante hatte einen weißen Überwurf, einen weißen Kopfputz und einen Lorbeerkranz. 45 Die Verkleidung Maximius schließt an die Schilderung Beatrices bei ihrem ersten Auftreten in der „vita nuova" an46. George rezitierte bei 4

»

44 45

46

A . a . O . S. 506 A . a . O . S. 5 3 2 Zit. in: Stefan George in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Franz Schonauer. Hamburg: Rowohlt i960 (rowohlts monographien 44). S. m „ A p p a r v e vestita di nobilissimo colore, umile e onesto, sanguigno, cinta e ornata a la guisa, die a la sua giovanissima etade si convenía." „ V i t a N u o v a " II 333

dieser Gelegenheit seine Übersetzung des ersten Gesanges aus dem „Purgatorio" 47 , jene Stelle, an der Vergil Dante auf Catos Geheiß mit Schilf bekränzt, damit er sich nach dem Gang durch die Hölle gereinigt weiterbewege: Dort geht die sonne auf, ihr sollt erproben Auf bestem steig den berg hinaufzuziehen. 48 Es macht den Anschein, als wollte George damit eine Epoche seiner menschlichen und dichterischen Existenz markieren. Der plötzliche Tod Kronbergers zwei Monate nach dem geschilderten Aufzug erscheint wie die Vollendung dieser Inszenierung durch eine im Hintergrund wirkende Regie49. Auch Beatrice war in jungen Jahren gestorben. Georges unzweifelhaft editen Schmerz mag ein Gefühl von Schuld zu jener Krise gesteigert haben, die er nach diesem Ereignis zu überstehen hatte. Aber die Weiterführung der Spiegelung durch das Leben und die Intensität seines Schmerzes mußten ihm zugleich als schicksalhafte Bestätigung dafür scheinen, daß er nicht nur der Schauspieler, sondern wirklidi eine Art Reinkarnation Dantes sei. Hier hatte sidi derselbe Übergang von der Dichtung ins Leben im großen vollzogen, der im Kleinen am Schluß von „Weihe" und „Entrückung" intendiert ist. So wurde es möglich, daß Leben und Tod Maximins zum Ausgangspunkt einer Heilsgewißheit wurden, wie es Leben und Tod Beatrices für Dante gewesen waren. Der erste literarische Niederschlag, die „Vorrede" zum Maximin Gedenkbuch, steht unverkennbar im Schatten Dantes. Lorenzo Bianchi50 hat die einzelnen Anklänge an die „Vita nuova" und die „Commedia" in einzelnen Ausdrücken, Bildern und selbst im Rhythmus aufgezeigt. Die „Vita nuova" endet mit dem Hinweis, Dante werde dereinst von Beatrice in einer Weise sprechen, wie noch von keiner je gesprochen worden 51 . Dieses Versprechen löste Dante mit der „Divina Commedia" auf das großartigste ein. Bei George sdieint ein entsprechend gewaltiger Schlußteil zu fehlen. An dessen Stelle schien die Übersetzung einzelner 47 48 49

50 51

Vgl. Kronbergers Tagebuch, zit. bei Schönauer S. 1 1 1 Werke II, S. 52 Dieser Gedanke der Bestätigung der literarischen Stilisierung durch das Leben im Tod erscheint als Überlegung auch bei Hofmannsthal im Zusammenhang mit Antinous. A S. 136. E r ist ferner der Kern einer Künstlernovelle von Dehmel. Lorenzo Bianchi, Dante un-d Stefan George. Bologna: Zanichelli 1936 „Vita N u o v a " X L I I

334

Partien aus der „Göttlichen Komödie" zu treten, mit der George schon 1900 begonnen hatte. Das anthologische Verfahren seines Übersetzens reditfertigte George in der Vorrede zur 1. Auflage von 1909: E r [sc. der Ubersetzer] weiß, daß das ungeheure weit-, staats- und kirchengebäude nur aus dem ganzen werk begriffen wird. Was er aber fruchtbar zu machen glaubt ist das dichterische, ton bewegung gestalt: alles wodurch Dante für jedes in betracht kommende volk (mithin auch für uns) am anfang aller Neuen Dichtung steht.52 Das ist die Anwendung jener Maxime aus den „Blättern für die Kunst": Die älteren dichter schufen der mehrzahl nach ihre werke oder wollten sie wenigstens angesehen haben als stüze einer meinung: einer Weltanschauung — wir sehen in jedem ereignis jedem Zeitalter nur ein mittel künstlerischer erregung. Auch die freisten der freien konnten ohne den sittlichen deckmantel nicht auskommen (man denke an die begriffe von schuld u.s.w.) der uns ganz wertlos geworden ist.5® Das bedeutet, daß in der „Divina Commedia" das Geschichtliche, Ethische und Theologische zum Beiwerk wird, zum Medium der künstlerischen Erregung. Wir hatten gesehen, daß dieses Moment auch in Dantes Werk eine wichtige Rolle spielt: Die äußere Bewegung durch den Stufenkosmos wird von einer inneren begleitet. George isolierte diese Schicht und erklärte sie für die eigentliche. Der mittelalterliche Weltaufriß wurde ihm so zum Überbau einer innersten Bewegung. Das Epos war eigentlich ein lyrisches Gedicht. So stellt es George dar, wenn er Dante in „Dante und das Zeitgedicht" sagen läßt: Ich nahm aus meinem herd ein scheit und blies — So ward die hölle, doch des vollen feuers Bedurft ich zur bestrahlung höchster liebe Und zur Verkündigung von sonn und stern.54 Nach dieser Auffassung Georges von Dantes Weltepos müßte seine Entsprechung dazu, die an die Maximin-Vorrede anschlösse, nicht ebenfalls ein Epos sein. Sie könnte ein lyrisches Gedicht von durchschnittlicher " 55 54

Werke II, S. 7 Vorrede. — Vgl. auch Gerd Midhels, Die Dante-Obertragungen Stefan Georges. München: Fink 1967 Auslese I, S. 13 Werke I, S. 228. Audi hier ist die Feuer-Glut-Metaphorik wichtig. Davon, daß George das „Purgatorio" unerwähnt läßt, wird weiter unten gesprochen. 335

Länge sein und auf Lehrinhalte irgendwelcher Art verzichten. Wir meinen es in „Entrückung" vor uns zu haben. Die drei Teile des Gedichts lassen sich zu „Inferno", „Purgatorio" und „Paradiso" in Beziehung setzen. Einerseits in bezug auf die Stillagen: Der dem ersten Teil gegenüber gehobenere Stil des Mittelteils entspricht dem gegenüber dem „Inferno" erhabeneren des „Purgatorio". Und ebenso gewinnt in beiden Fällen die Sprache im dritten Teil höchste Feierlichkeit. Was von Dante gesagt wurde, er sei im „Inferno" teilnehmender Zuschauer, im „Purgatorio" werde er selbst verwandelt und im „Paradiso" erfolge der eigentliche Aufschwung 55 , gilt audi vom Ich in „Entrückung". Dessen Bewegung verläuft gemäß der Topographie der „Commedia" erst in die Tiefe, dann auf anderem Weg in die Höhe und schließlich von einer Bergeshöhe hinaus in den kosmischen Raum. Wie das große Vorbild ist „Entrückung" von einer Lichtmetaphysik bestimmt, welche ein System von Hell und Dunkel schafft, in das sich alle Erscheinungen einordnen. Dabei spielt bei George der damit zusammenhängende Aspekt der Wärme bezeichnenderweise eine größere Rolle als bei Dante. Eingeführt wird das Lichtthema mit der ersten Zeile, welche an die Verse Inf. I, 16—18 anknüpft, die George so übersetzte: Sah ich hinauf und schaute auf dem kämme Die strahlen sdion sich breiten des planeten Der uns zum ziele führt auf jedem damme.56 Eine Parallele zum „Inferno" ist auch die Bezeichnung des toten Freundes als „schatten". Er ist Vergil an die Seite zu stellen, auf den das Epitheton „rufer meiner quälen" gleicherweise zutrifft. Die „tiefere glut", in die er erlöscht, entspräche Beatrice, dodi fallen die individualisierenden Unterschiede dahin. So ist überhaupt das unübersehbare Personal der „Commedia" auf wenige Menschen und Dinge reduziert. Diese sind von abstrakter Blässe, da es nicht auf sie als Individuen, sondern einzig auf die Bewegung, die sie tragen, ankommt. Am wenigsten einsichtig ist die Parallelität, um die es hier geht, im Mittelteil. Zwar ist die gehobenere Stillage durch einen reicheren Ornatus angedeutet, auch Lob und Dank und die Beterinnen können als Reminiszenzen an die Läuterung auf der Höhe des Purgatorio gelten. Doch nirgends bei Dante ist dem reinen Tönen solche lösende Bedeutung eingeräumt. 55 58

Vgl. S. 5 dieser Arbeit Werke II, S. 9

336

Im dritten Teil ist „Entrückung" Dante am nächsten sowohl in der Tonlage als auch in der Vorstellungswelt. Er erscheint wie ein Edio des dreißigsten Gesanges des „Paradiso". Selbst der so entlegene MolkenVergleich kann sich auf Dante berufen, der, wie wir gesehen haben, seine Visionen gern durch Vergleiche aus der alltäglichen Erfahrungswelt nachvollziehbar macht. Diese Entsprechungen und der Kontext, in dem „Entrückung" in Georges Werk steht, machen es möglich, in dem Gedicht eine ins mikrokosmische umgesetzte, d. h. lyrische „Divina Commedia" zu sehen. Genaugenommen besteht die Umsetzung darin, daß Dantes Epos um alles reduziert wurde, was sie an Objektivem enthielt. Beibehalten wurde die Grundstruktur, die damit eben von der des Kosmos zu der des Einzelmenschen wurde. Im Unterschied zu Dante setzt George an Stelle des Praeteritums das Praesens. Damit ist die Distanz verschwunden, die bei Dante zwischen Erzählen und Erzähltem besteht. Vorgang und sprachliche Gestalt werden eins. Die Sprache allein ist Garant dessen, was sie ausspricht. Sie ist entsprechend starrer und monumentaler. Häufen sich bei Dante, je mehr sich seine Jenseitsreise dem Empyreum nähert, die Unsagbarkeitsbeteuerungen, so gewinnt bei George die Sprache immer beherrschendere Kraft, und wird zum ausschließlichen Träger der Intensität. Mit den „ich bin"-Formeln ist der Höhepunkt erreicht. Ja, mit der Reflexion auf die tönende Stimme greift die Sprache noch über das Gedicht hinaus. Das Prinzip der Befestigung der Sprache ist auch in der Umformung der Terzinen zu erkennen. Curtius hat die Terzine definiert als „eine metrische Form, die das Prinzip unendlich weiterschreitender Verkettung mit dem unausweichlicher Strenge verknüpft" 57 . Durch die Reduktion der Reimwörter auf zwei hat George diese Polarität zu gunsten der unausweichlichen Strenge gestört. Von der metrischen Form her ist die Bewegung endlich gemacht. Zwar kommt, wie wir gesehen haben, durch Thematik, Syntax und Enjambements eine Bewegung dagegen zustande. Die Spannung, die so entsteht, löst sich am Sdiluß. Im letzten Strophenpaar unterstützen auffällige Parallelismen und Enjambement, was die Reimordnung vorzeichnet. Eine monumentale Deckung ist erreicht. Die Veränderung der Terzinen beruht darauf, daß die Dreizahl der Zeilen der Zweizahl des Reims unterstellt wird, was eine paarweise Gruppie57

E . R . Curtius, Europäische Francke 1954*. S. 383

Literatur

und

lateinisdies

Mittelalter.

Bern:

337 22 Pestalozzi, Lyrisches Idi

rung der Strophen zur Folge hat. Audi im Gesamtaufbau ist gegen die Dreiteilung eine polarisierende Tendenz festzustellen: der Mittelteil hat nicht denselben Umfang wie die Randteile, was ihn stärker zur Achse macht. Es fällt auf, daß auch „Dante und das Zeitgedicht" nur auf „Inferno" und „Paradiso" Bezug nimmt, also auf die extremen Pole der Intensitätsskala. In diesem Zusammenhang ist schließlich die Bemerkung Bianchis interessant: Diesem Erlebnis [dem Maximinerlebnis] wohnt Dreistufigkeit keineswegs als metaphysische Notwendigkeit inne, und wir haben ja auch gesehen, daß sie entweder als spätere Ordnung oder unter unmittelbarem Einfluß Dantes eintritt. 68 Die „metaphysische Notwendigkeit" ist bei Dante die Trinität, die als Gesetz der Dreizahl sein Epos durchwaltet. Inhaltlich wird sie faßbar als System von Mittelspersonen und Vermittlungen zwischen Ich und Gott. Dabei kommt Beatrice die zentrale Stellung zu. Die Entsprechung von Beatrice und Maximin beruhte für George jedoch darauf, daß beide nicht eigenständige Wesen, sondern Projektionen ihrer Dichter seien. Sie waren nicht eigentlich Mittler, sondern Spiegel, die reflektierend sichtbar machten, was in sie fiel. Die erlösende Liebe wirkte auf reflexive Weise. George fand dafür die prägnante Formel: Idi Geschöpf nun eignen sohnes.59 Schultz60 hat im Zusammenhang damit auf mystische Vorbilder dieser Formel hingewiesen, insbesondere auf die Anrufung der Maria durch den Heiligen Bernhard im letzten Gesang des „Paradiso": Vergine madre, figlia del tuo figlio" in der Ubersetzung Georges: Jungfrau und Mutter! Tochter deines Sohnes!' 2 Die Paradoxie erscheint bei Dante an derselben Stelle audi in bezug auf Gott, der durch Maria zur Schöpfung seines Geschöpfs wurde. Das Entscheidende an dieser Parallelität ist jedoch, daß George diese Formel für sich beansprucht, genauer für jenen heiligen Zustand, der am Ende des Gedichtes steht. Reflexive Selbstvergöttlichung ist die Bewegung, die 58 59

61

«

Biandii a.a.O. S. 2$ „Einverleibung". Werke I, S. 291 Schultz a.a.O. S. i j o , Anm. 7 Par. X X X I I I , 1 Werke II, S. 143

338

das Gedicht vollzieht und dem Leser suggeriert. Daß das Spiegelverhältnis an die Stelle einer echten Vermittlung getreten ist, ist die inhaltliche Entsprechung zur formalen Dominanz der Zweizahl über die Dreigliedrigkeit. Die Diskrepanz zwischen Georges Konzeption und derjenigen Dantes läßt erkennen, wie gewaltsam George bei der Stilisierung des Eigenen auf Dante hin verfahren mußte. Es galt dabei eine jahrhundertelange historische Entwicklung auszuschalten, um aus der idealen eine reale Gleichzeitigkeit zu machen. Auf diese Weise sollte eine neue Verbindlichkeit geschaffen werden. Von Georges Konzeption her gesehen erfüllte die Stilisierung des Gedidits auf die „Divina Commedia'' hin mehrere Funktionen. Zunächst erhielt „Entrückung" so eine geschlossene und feierliche Gestalt. Es konnte sich die Vorstellungswelt einer jahrhundertealten Überlieferung zunutze machen. Dodi sollte gerade nicht ein historisches Vorbild imitiert werden. Die Dante Anklänge sollten vielmehr zeigen, daß sich das Gedicht aus denselben Quellen speise wie Dantes großes Werk. In diesem Zusammenhang ist gerade wichtig, daß das Vorbild nicht sklavisch reproduziert wurde. Wenn die Verwandtschaft des Gedichts mit der „Divina Commedia'' auf einen gemeinsamen Ursprung zurück ging, konnte „Entrückung" für sich dieselbe religiöse Verbindlichkeit beanspruchen, die das Schwestergedicht erlangt hatte. Dann war es mehr als die Gestaltung eines individuellen Erlebnisses, nämlich tatsächlich eine Offenbarung des Ewigen. Die Dantenähe gab „Entrückung" die Weihe.

III. Die Interpretation von „Entrückung" ist auf manche Momente gestoßen, die George mit den Zeitgenossen verbinden, deren Aufschwunggedichte wir betrachtet haben. Das „Vorspiel" erscheint als die Aneignung von Schillers Position. Schultz hat in seinem Kommentar zum grundlegenden X I I . Gedicht darauf hingewiesen8*, daß der Begriff des „Leihens" bei Schiller in derselben Bedeutung erscheint. Tatsächlich beschreibt der Engel die Pygmalionstruktur, die denn auch dem Maximin-Erlebnis, wie es die „Vorrede" beschreibt, unverkennbar zugrunde liegt. Es ist weiterhin bedeutsam, daß das X I I . Gedicht auf die koperM

Schultz a.a.O. S. 149. Schillers Brief vom 10. Sept. 1789 ist gerichtet an Lotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz. 339

11*

nikanische Wendung anspielt und seine Lehre als deren Wetterführung im Metaphysischen darstellt 64 . Diese hat ihr zentrales Moment darin, daß die Transzendenz ganz an den Menschen gefallen ist. Er ist als der erkannt, in dem die religiösen Vorstellungen ihren Ursprung haben. Auf die Nähe gerade des „Vorspiels" zu Nietzsche ist von Böckmann ausführlich hingewiesen worden" 5 . So modern somit George ersdieint, von Mallarmé und Nietzsche ist er durch einen Graben getrennt. An einem Détail läßt sich die Differenz zu Mallarmé illustrieren. Bei George und bei Mallarmé erscheint das Motiv des Kampfes mit dem Engel. Bei Mallarmé hatte der Kampf zur Niederringung Gottes geführt, wodurch das Absolute an den dichtenden Menschen gefallen war. Er hatte nun die Aufgabe zu bewältigen, dem Absoluten einen neuen Namen zu finden, und zwar einen, der die Reinheit des Absoluten nicht neuerdings tangierte. Bei George endete der Kampf mit dem Sieg des Engels. Das Ich fiel dadurch an das Ewige und wurde zu dessen Organ. Dieses Ewige war George dasjenige, das sich in den historischen Religionen objektiviert hatte. Dem Dichter war damit nicht eine radikale Neuschöpfung aufgetragen, sondern eine Wiederbelebung der religiösen Vorstellungswelt aus der Intensität seines Innern. Seine Sprache konnte synkretistisch sein, denn den modernen Diditer unterschied nichts von den historischen Vorläufern Shakespeare, Petrarca und Dante. Ihr Verhältnis zum Ewigen stiftete unter ihnen eine ideale Gleichzeitigkeit. Während Mallarmé seinen Auftrag geschichtlich sah, verstand sich George als Künder eines Unveränderlichen. Mallarmé traf sich mit Nietzsche in der bilderstürmerischen Tendenz. Diese gerade wirft das Gedicht „Nietzsche" aus dem „Siebenten Ring" Nietzsche vor: Ersdiufst du götter nur um sie zu stürzen Nie einer rast und eines baues froh? und erhebt dagegen die Forderung nun ist not: Sich bannen in den kreis den liebe schließt . . 64

George nahm Schillers Gedicht „ D i e G r ö ß e der W e l t " in seine Anthologie „Deutsche Dichtung" auf. Seine Veränderung von „Weltsysteme" in „ W e l tenkreise" in der dritten Strophe enthält in nuce sein ganzes Programm.

65

V g l . Paul Böckmann, Die Bedeutung Nietzsches f ü r die Situation der modernen Literatur. D V j S 2 7 , 1 9 5 3 . S. 7 7 f .

«· Werkel, S. 65 340

Nietzsche hatte geschwankt zwischen der Demaskierung der geltenden Lehren und der Rücksicht auf die neu zu stiftende Gemeinschaft. Bei George überwog das zweite. Diese Notwendigkeit drängte ihn, verbindliche Maßstäbe aufzurichten. Die Selbsternennung zum Propheten eines Kreises legte das Festhalten an traditionellen Vorstellungen nahe. Darin lag nicht zuletzt der Berührungspunkt mit Hofmannsthal. Dessen Goethe-Nachvollzug ist Georges Dante-Stilisierung nahe verwandt. Auch Hofmannsthal hoffte, aus dem Ererbten der Gegenwart sichere Fundamente geben zu können. „Reiselied" gestaltet jedoch gerade die Diskrepanz zwischen Unmittelbarkeit und Tradition, eigener Erfahrung und historischem Vorbild. Es nähert die Pole einander an, ohne sie zur Deckung zu zwingen. So verweisen sie beide auf ein Unfaßbares· Drittes, das allein im Tod und in der Stummheit ahnbar werden kann. George wollte das Geheimnis nicht im Dunkel lassen. Er suchte es mit Gewalt zur Sprache zu bringen. Wie keiner seiner Zeitgenossen wollte er konsequent die Lyrik zum Träger der Offenbarung des Göttlichen und zu dessen Garant machen. Mehr im machtvollen Anspruch der Dichtung als in der poetischen Einlösung dieses Anspruchs gehört George mit den andern Aufschwungdichtern in eine Reihe.

341

Schluß Das lyrische Ich" I. Der literaturtheoretische Ertrag der Entwicklung, um deren V e r gegenwärtigung es dieser Arbeit ging, ist der Begriff des „lyrischen Ich". E r erscheint zum ersten M a l in dem Buch „Das Wesen der modernen deutschen L y r i k " von Margarete Susman 1 9 1 0 1 . Die Verfasserin unternahm es darin, die geistesgeschichtliche Situation der neuen L y r i k zu bestimmen und deren wichtigste Vertreter, vor allem Nietzsche, George, Hofmannsthal und Rilke, vorzustellen. Das Buch ist in seinen Kategorien ganz von Georges und Hofmannsthals Dichtungsauffassung bestimmt. Aus seinem Wortlaut sind oft die Gedichte und Prosaäußerungen der beiden Dichter unmittelbar zu vernehmen. So kann es als Popularisierung der neuen Auffassung gelten. Es ist ein Beispiel dafür, wie Dichtung

die

literaturwissenschaftliche

Auffassung

dieser

Dichtung

und

schließlich die Literaturwissenschaft überhaupt beeinflußt 2 , wenn man 1

2

Margarete Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart: Strecker & Schröder 1910. (Kunst und Kultur Bd 9) [zit. Susman] Margarete Susman stand durch ihre Freundschaft mit Karl Wolfskehl dem George-Kreis nahe. Gundolf schrieb an George über einen Besuch bei Simmel: „Margarethe Susman habe ich neulich dort getroffen, schwarz schwer still stolz reinlich rassig." (3. Febr. 1902) Stefan George/Friedrich Gundolf, Briefwechsel. München/Düsseldorf: Küpper vorm. Bondi 1962. S. 106. — Die Einbürgerung des Begriffs in die Literaturwissenschaft geht auf Oskar Walzel zurück. In seinem kleinen Buch „Leben, Erleben und Dichten. Ein Versuch", Leipzig: Haessel 1 9 1 2 , erwähnt er Margarete Susman und den Begriff des „lyrischen Ich" aus ihrem „interessanten, nur unnötig schwerverständlichen Büchlein". (S. 42) — Walzel nahm den Begriff dann auf in seinem Aufsatz „Schicksale des lyrischen Ich" in „Das literarische Edio" (18. Jg., 10, 1916) (auch in: O. W., Das Wortkunstwerk. Leipzig: Quelle Sc Meyer 1926. S. 260 f.).

342

bedenkt, daß gerade der Begriff des „lyrischen Idi" heute allgemein gebräuchlich ist, ohne daß man sich seiner Herkunft nodi bewußt wäre. Er ist eingegangen in das methodische Instrumentarium der Interpretation jeglicher Lyrik®. Aus der Literaturtheorie hat er wieder auf die Dichtung zurückgewirkt: bei Gottfried Benn wurde er, allerdings in entstellter Bedeutung, zur Formel für das dichterische Selbstverständnis4. Im folgenden soll versucht werden, zunächst den Begriff, wie ihn Margarete Susman verwendet, zu beschreiben. Im Anschluß daran sollen dann unter Verwertung der vorangegangenen Studien seine Implikationen entfaltet werden, was am Ende zu einer abschließenden Übersicht über diese Arbeit führen kann. Dabei werden, da sie die ausführlichen Einzelinterpretationen im Rücken haben, Verkürzungen und Simplifikationen in Kauf genommen. Der Begriff des „lyrischen Ich" ist von Margarete Susman polemisch verstanden. Sie richtet ihn gegen die Auffassung, das Ich des Gedichts sei dem individuellen Ich des Dichters gleichzusetzen. Im Sinne dieser Unterstheidung ist der Begriff heute fast allgemein gebräuchlich. Margarete Susman kommt es jedoch auf ein bestimmtes Verhältnis von individuellem und lyrischem Ich an. Der Passus, in dem der Begriff und seine Abgrenzung eingeführt werden, lautet: Nur die ewigen Zusammenhänge des Mythos haben in der lyrischen Kunst Raum, nicht das Schicksal, sondern die über das persönliche Schicksal hinausgehobene Wahrheit des Dichters: die F o r m seines Schicksals. Und darum kann es nie das personale, sondern nur das in den allgemeinen ewigen Zusammenhängen des Seins lebende Idi sein, das in ihr Raum hat: das lyrische Ich, das eine Form ist, die der 3

In einer der ursprünglichen sehr verwandten Bedeutung verwendet den B e griff Herbert Lehnert, Struktur und Sprachmagie. Stuttgart etc.: K o h l h a m mer 1966. (Sprache und Literatur 36) „ D a s lyrisdie Ich ist die Einheit v o n Sprecher und H ö r e r oder audi ein Selbstgespräch, w a s strukturell auf das gleiche hinausläuft." S . 1 0 — Ich verdanke dem Buch v o n Herbert Lehnert viele Anregungen v o r allem methodischer A r t . E s arbeitet in einer dem vorliegenden Versuch verwandten Richtung.

4

G o t t f r i e d Benn, Probleme der L y r i k . Wiesbaden: Limes 1 9 5 1 / 6 1 . Benn gebraucht den Ausdruck „das lyrisdie Ich" f ü r das dichtende Ich. In unserem Zusammenhang ist die Stelle bezeichnend: „Lassen w i r das Höhere, antwortet das lyrisdie Ich, bleiben w i r empirisch." S . 3 4 . — Benns A u f f a s s u n g ist, wenn ich recht verstehe, in K ä t e Hamburgers Theorie v o n der „Beschaffenheit des lyrischen I d i " eingegangen. K ä t e Hamburger, D i e L o g i k der D i d i tung. Stuttgart: K l e t t 1 9 5 7

343

Dichter aus seinem gegebenen Ich erschafft. Dies Gesetz, das die Grenze zwischen Wirklichkeit und Kunst festlegt, bleibt unveränderlich für alle Lyrik bestehen.5 Die etwas unscharfe Diktion umkreist den Grundgegensatz, daß das persönliche „Schicksal" des Idi zufällig und inkohärent sei, das „lyrische Idi" dagegen zusammenhängend, notwendig und ganz, jenes wechselnd, dieses „ewig", jenes formlos, dieses Form. Das Verhältnis des individuellen zum lyrischen Ich ist dabei einerseits das von Schöpfer und Geschöpf. Das „lyrische Idi" ist das Produkt des empirischen. Es wird von ihm gemacht, ist also künstlich. Dazu heißt es weiter unten erläuternd: Es ist kein gegebenes, sondern ein erschaffenes Idi, das, wie das Kunstwerk selbst, völlig unabhängig von seinen individuellen oder allgemeinen Inhalten seinen rein formalen Charakter bewahrt. Der Dichter findet dieses Idi nicht in sich vor, sondern ähnlich den redenden und handelnden Gestalten eines Dramas muß er audi das lyrische Ich erst aus dem gegebenen erschaffen. So wenig wie in der Plastik oder Malerei eine ungeformte natürliche Gestalt, so wenig können wir eine solche in der Dichtkunst — sei sie Drama, Epos oder Lyrik — ertragen.® Bereits in dieser eindringlichen Betonung der Künstlichkeit stecken jedodi Einschränkungen. Sie treten zutage in der Metaphorik, unter dei an einer anderen Stelle die Entstehung des „lyrischen Ich" gefaßt wird. Das individuelle und das „lyrische Ich" verhalten sich danach zueinander wie Puppe und Schmetterling, Keim und Blüte. Das sind die traditionellen Beispiele des Entelediiedenkens. Die innere Notwendigkeit des Vorgangs wird ein andermal durch den Vergleich mit dem der Kristallisation unterstrichen. Damit aber werden dem Dichter sein Dichten und sein Produkt, die ihm eben so deutlich zugesprochen worden waren, wieder halbwegs entwunden. Er erscheint nun als Organ eines ihn übergreifenden naturhaften Gestaltungswillens. Diese Doppelheit zeigt audi die Bestimmung des Ergebnisses, wenn es vom „lyrischen Idi" heißt, „daß es kein Ich im real empirischen Sinne, sondern daß es Ausdruck, daß es Form eines Ich ist". „Form" ist dem Aspekt des Schaffens zugeordnet 7 . Das geht nicht so sehr aus dem Terminus hervor als aus der Ergänzung durch „Ausdruck", womit 5

Susman S. 16 « A.a.O. S. 18 7 A.a.O. S. 16

344

der organische Aspekt gesondert benannt ist8. „Ausdruck" meint, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, Ausdruck dessen, was dem lebendigen Idi zugrunde liegt. Dafür kann auch „Offenbarung" stehen. Das „lyrische Idi" ist als Werk dem empirischen Idi nachgeordnet, zugleidb aber wird es als ursprünglicher aufgefaßt. Es reicht in tiefere Schichten hinab. Diese sind mit den „ewigen Zusammenhängen des Mythos" gemeint. Doch auch der Begriff des „Mythos" ist schillernd. Zuweilen ist er Synonym zu Dichtung, der Etymologie entsprechend, und bedeutet einfach „Ganzheit" oder „Anschauung von Ganzheit". Das „lyrisdie Idi" ist insofern der Mythos des Idi. Doch wird diese Bezeichnung nur deshalb verwendet, weil mit Mythos zugleich angedeutet wird, daß diese erdichtete Ganzheit einer ursprünglich vorgegebenen korrespondiert. Der Gegensatz von „individuellem" und „lyrischem Ich" umfaßt somit nach Margarete Susman folgende Gegensatzpaare: individuelles Wirklichkeit vorhanden inhaltlich Zufall individuell zeitlich Werden empirisch

lyrisches Ich Dichtung geschaffen formal Zusammenhang allgemein ewig Sein mythisch

Das Gedicht ist ein „lyrisches Ich", unabhängig davon, ob darin in der ersten Person gesprochen wird oder nicht. Das Kriterium ist einzig das aller Kunst: Wahr ist das Kunstwerk, insofern es in sich selbst geschlossen ist, sein eigenes immanentes Gesetz verwirklicht und jeden Anteil an einer andern Welt, eines anderen Dinges als Wahrheitsmaßstab ablehnt.® Als Kunstgebilde ist das „lyrische Ich" autonom. Es gehorcht allein seinem eigenen Gesetz. Alles Stoffliche, auf das es nicht verzichten kann, wenn es in Erscheinung treten will, ist diesem Gesetz unterstellt. Das eigene Gesetz ist bei Margarete Susman verstanden als „Rhythmus". Er ist das Prinzip, das das Ganze zum Ganzen macht. 8

A.a.O. S. 97 » A.a.O. S. 32 345

. . . so wird ein zeitlicher Verlauf durch den Rhythmus aus einer zufälligen Reihenfolge zu einer gesetzmäßigen Harmonie entwickelt, in der die ewigen Zeitverhältnisse selber — die vielleicht von denen des Raums letztlich nicht verschieden sind — sich rein an wechselnden Formen enthüllen. 10 Die Bestimmung des Rhythmus als „Wiederkehr des Gleichen" klingt hier an. Rhythmisierung wird als Stilisierung verstanden. Dabei schwankt die Verfasserin auch darin, wieweit diese Stilisierung Neues schafft oder wieweit sie enthüllt, was von Ewigkeit her ist. Die Zweiheit von empirischem und „lyrischem Ich" gilt nach Margarete Susman für die Lyrik aller Zeiten. Immer spricht im Gedicht ein allgemeines Ich, das das individuelle übersteigt und in tieferen Schichten gründet. Daß es zur Verwechslung beider Ich in der Goethezeit kommen konnte, motiviert sie mit einem Hinweis auf die geistes- resp. religionsgeschichtliche Entwicklung, die sich ihr folgendermaßen darstellt 11 : Ursprünglich war die Religion die Repräsentantin des Ewigen in der Zeit. Sie beherrschte als „zentrale Kultur macht" das Leben. Der Lyrik fiel dabei die Aufgabe zu, die in der Religion vorgegebenen mythischen Gehalte im Medium der Sprache zu gestalten. Daher kommt es, daß die Lyrik dieser Epoche eine beschränkte Thematik variiert. Das ist so bis in die Barockzeit hinein. — Mit der Reformation bereits hatte jedoch der Prozeß eingesetzt, in dessen Verlauf sich die Religion verinnerlichte und individualisierte. Mit ihrer „Objektivität" büßte sie ihre zentrale Stellung ein. Das Mythische, dessen Träger sie gewesen war, fiel an die Nachbargebiete Philosophie und Dichtung. Während es der Philosophie um die Auflösung des Mythos ging, suchte ihn die Dichtung zu bewahren und zu erneuern. Dabei wurde die Lyrik zur wichtigsten Erbin der Religion. Ihr oblag es nun, der verinnerlichten Religion neuen Ausdruck zu geben. Das bedeutete für sie, daß ihr nicht mehr einfach Gehalte zur Gestaltung vorlagen, sondern daß sie selbst Mythisches schaffen mußte. Als Stoff dafür hatte der Lyriker lediglich sein eigenes Leben, seine Erfahrungen und Erkenntnisse zur Verfügung. Diese gestaltete er im Gedicht. So konnte der falsche Eindruck entstehen, das Gedicht sei ein individuelles Bekenntnis. Dennoch kam ihm Verbindlichkeit zu als einem Symbol für das „Lebendige, Unauflösliche, ewig Inkommensurable" 12 . 10 n 12

A.a.O. S. 26 Das folgende nach Susman S. 39 ff. A.a.O. S. 21

346

Es schöpfte aus derselben Quelle wie früher die Religion. So kann Margarete Susman auch von den dichterischen Symbolen insgesamt in religiöser Terminologie sprechen, welche die geschichtliche Differenz zu Gunsten des gemeinsamen Ursprungs verwischt13. Doch bestehe die Tragik der lyrischen Religiosität darin, daß sie „entgegen dem eigentlich religiösen Prinzip schaffen muß, statt zu empfangen und zu glauben" 14 . Deshalb sei das Gedicht bestrebt, obwohl es nur gemacht werden könne, als ein geoffenbartes zu erscheinen. Dadurch hoffe es, von der Religion auch die Legitimität zu erben. — Der geschichtliche Wandel, den Margarete Susman beschreibt, vollzieht sich innerhalb des Mythischen, das dabei dem Wirklichen stets unverändert entgegengesetzt bleibt. Die Geschichte erhält damit das Aussehen einer entelechisch gesteuerten Metamorphose. In Margarete Susmans Bestimmung der modernen deutschen Lyrik kommt ein Widerspruch zum Vorschein, der sie der Ästhetik des Jugendstils zuordnet. Es ist der Widerspruch von Schaffen und Wachsen, von Geschichte und Metamorphose, von Technik und Natur. Benjamin hat im Zusammenhang mit Stefan George den Jugendstil als Regressionserscheinung gedeutet1®. Er ist es, was Margarete Susmans Buch betrifft, inso' fern, als sie zwar die Technik des Machens am Gedicht hervorhebt, zugleich aber, offenbar um der damit dem Gedicht drohenden Ungesichertheit und Unverbindlichkeit zu begegnen, dieses Machen auf ein Wachsen zurückführt. Und ebenso wird der irreversible geschichtliche Prozeß zwar als solcher erkannt und grundsätzlich gebilligt, zugleich aber zur Metamorphose eines Ewigen erklärt und damit verharmlost. Fremdheit und Unverständlichkeit der modernen Lyrik werden als notwendig aufgefaßt, aber doch als „Mythos der Zeit" gedeutet. Überall ist eine Scheu zu spüren, den Wirkungsbereich der bergenden Natur zu verlassen. Wie aber Jugendstilbauten und -geräte, entkleidet man sie aller floralen oder überhaupt organischen Ornamentik, mit einem Mal eine klare und sachliche Schönheit bekommen, so wird auch an Margarete Susmans Theorie eine unbestreitbare Relevanz sichtbar, wenn man ihre Wachstumsmetaphorik abstreift. Der Begriff des „lyrischen Ich" erweist sich als Stichwort, unter dem die Ergebnisse der vorausgegangenen Interpretationen zusammengefaßt werden können. 13 14 15

Vgl. a.a.O. S. 22 A.a.O. S. 109 Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George. Schriften, hrsg. von Th. W. und Gretel Adorno. Frankfurt: Suhrkamp 1 9 5 j . Bd 2, S. 323 f.

347

II.

Indem Maragrete Susman den Begriff des „lyrischen Idi" auf Gedichte aller Epochen anwendet, erklärt sie stillschweigend alle Dichter für in ihrem Sinne modern. Diese ideale Gleichzeitigkeit kommt jedoch dadurch zustande, daß ein moderner Begriff auf Dichtungen früherer Epochen angewandt wird. Was als Konstituens aller Lyrik erscheint, konstituiert in Wahrheit den Blick des Betrachters. Der Begriff des „lyrischen Ich" gehört einer bestimmten geistesgeschichtlichen Situation an. Sein Aufkommen läßt sich aus den geschichtlichen Gestaltungen des Erhebungsmotivs verstehen. Aufschwung und Aufstieg erwiesen sich in dieser Arbeit als Bewegungen des Ich zu seinem Selbst, als Akte also, mit denen sich das Ich seiner Identität vergewissert. Bei Dante und überhaupt im christlichen Menschenverständnis ist das Selbst in Gott beschlossen. Vor Gottes Angesicht erscheint der Mensch als der, der er in seinen verschiedenen Worten und Werken wahrhaft ist. Gott in der Höhe ist der objektive Garant des Selbst. Die Erhebung zu ihm ist möglich dank dem göttlichen Mittler und den in ihm begründeten Vermittlungen, vor allem dem göttlichen Wort. Aus eigener Kraft allein kann der Mensch nicht zu Gott gelangen. Die durch den ketzerischen Giordano Bruno eingeleitete Wendung besteht darin, daß Gott oder das Göttliche als unmittelbar im Menschen selbst wirksam dargestellt wird. Von innen sprengt es das Ich aus allen äußeren Verflechtungen heraus und bringt es im Vorgang der Loslösung zu sich selbst. Das Bei-sich-selbst-sein teilt sich dem Ich als erhöhtes Gefühl mit. Damit werden die Gefühlszustände, die bei Dante den Aufstieg zum Selbst in Gott begleiten, an sich zu Manifestationen Gottes. „Aufschwung" kann zum Synonym für Enthusiasmus werden. Auf dieser momentanen Übereinstimmung von empirischem Ich und Selbst im intensiven Gefühl beruht die Goethesche Lyrik. Die religiöse Spradie ist zugleich Sprache des Gefühls. Das aber heißt auch, daß das Selbst seine Verbindung mit Gott noch nicht verloren hat. Beim klassischen Schiller wird diese enthusiastische Einheit von Gott und Selbst zerbrochen. Die Konsequenz der Einwanderung Gottes in den Menschen kündigt sich an. Sdiiller versteht das Selbst als Freiheit, die im Menschen angelegt, jedoch aller Erfahrung entzogen ist. Ahnbar wird sie in der ästhetischen Reflexion. Das Kunstwerk kann die Freiheit zur Erscheinung bringen im schönen Schein. Es wird zu ihrer Offenbarung. Die „ästhetische Erziehung des Menschen" besteht zum einen Teil darin, 348

ihm mittels der Kunst sein freies und autonomes Selbst zum Bewußtsein zu bringen. Von jenem geschichtlichen Moment an, den hier Schiller bezeichnet, kann vom „lyrischen Ich" gesprodien werden. Damit ist jenes Selbst benannt, das dem Ich, weil es auf keine andere Weise zu fassen ist, im Gedicht vermittelt wird. Der im Begriff des „lyrischen Idi" implizierte Gegensatz zum empirischen Ich des Dichters entspricht demjenigen von Idi und Selbst, der nun unüberbrückbar geworden ist. Das „lyrische Ich" ist der neue Repräsentant dieses neuen Selbst. Deshalb darf das Gedicht keinen Bezug zur Wirklichkeit haben. Seine Fremdheit in der Welt spiegelt die Entfremdung des empirischen Ich vom Selbst. Die strenge Forderung, Kunst und Wirklichkeit müßten gänzlich geschieden sein, sucht das Kunstwerk für seinen höchsten Zweck, den beschriebenen anthropologischen, freizuhalten, genauso wie auf einer früheren Stufe der Pietist die Freuden der Welt verketzerte, um die Freude als Manifestation Gottes davon zu unterscheiden. Reine Kunst, „lyrisches Idi", ungreifbares Selbst gehören somit zusammen. Für alle drei ist die Voraussetzung der proklamierte oder verschwiegene Tod Gottes. Was sich so modellhaft umreißen läßt, ist bei Schiller erst im Prinzip vorhanden. Schiller versuchte, in seinen Gedichten das neue Programm vorzüglich mit Hilfe antiker Vorbilder zu realisieren. Sein Klassizismus stellte als ewige Möglichkeit dar, was ein Ergebnis des mit der Renaissance beginnenden Prozesses war. Er setzte voraus, daß der Mensch, sofern er Mensch war, ein autonomes Selbst besaß. In den sechs im Hauptteil dieser Arbeit interpretierten Gedichten ist ein stufenweiser Übergang zu erkennen. Bei Meyer und Baudelaire steht das Selbst noch bei dem in der Natur offenbaren Gott. Doch ist der Anruf aus der Natur allein nicht mehr deutlich genug. Das Gedicht ist als Dolmetscher eingeschaltet. Es artikuliert die stumme Verkündigung. Dadurch wird es zum Medium des Aufschwungs, dessen Ziel es transzendiert. Bei Nietzsche und Mallarmé erhebt sich die Frage nach dem Tod Gottes auf verschiedene Weise, aber mit gleicher Vehemenz. Dadurch wird dem Aufschwung das bisherige Ziel entzogen. Das Gedicht wird zum Versuch, das nirgendwo mehr Objektivierte auszusprechen. Der Fächeraufschwung Mallarmés und der Aufstieg des Nietzscheschen Einsiedlers führen in die Nähe des Selbst, ohne es erreichen zu können. Beiden Gedichten ist jedoch gemeinsam, und darin kommt das entscheidend Neue zum Vorschein, daß sich das Gedicht schließlich auf sich selbst zurückwendet. Bei Nietzsche ist diese Selbstreflexion in der Begegnung 349

mit dem erdichteten Dichter Zarathustra noch primär programmatisch gestaltet, ohne unmittelbaren Bezug auf das Gedicht selbst. Bei Mallarmé dagegen wurde deutlich, daß das Gedicht sich selbst zum Gegenstand wird. Der Aufschwung, von dem es spricht, mündet am Schluß in das Gedicht. Dieses erhält damit eine neue Dimension. Zugleich schließt es sich gegen außen ab. Es wird absolut. Daß der Aufschwung in das Gedicht mündet, besagt, daß das Ich auf dem Weg zu sich selbst zum „lyrischen Ich" wird. Es erfüllt sich, was Rückerts Verse aussprechen: Ich bin gestorben dem Weltgewimmel Und ruh' in einem stillen Gebiet Ich leb' in mir und meinem Himmel In meinem Lieben, in meinem Lied.16 In der Klimax Himmel, Lieben, Lied sind die historisch aufeinander folgenden Objektivationen des Selbst aneinandergereiht. Nun hat das „Lied" sie alle in sich „aufgehoben". Die Gedichte von Hofmannsthal und George haben die Selbstreflexion des Gedichtes zum Prinzip. Der Aufschwung, den sie gestalten, ist zugleich der Entstehungsprozeß des Gedichts. Und wiederum reflektiert der Schluß auf das Gedicht, im einen Fall auf seine Gestalt, im andern auf sein Lautwerden. Indem aber diese Erhebungsgedichte das Eingehen des empirischen in das „lyrische Ich" darstellen, sind sie selbst keine ganz reinen Gedichte, wie sie das „lyrische Ich" verlangt. Es ließen sich ja auch in allen individuelle Erlebnisreste feststellen. Und in manchen erscheint noch der Schauer als unmittelbare göttliche Regung. Auch in bezug auf historische Vorbilder liegt ein Moment der Unreinheit. Die interpretierten Gedichte sind Gestaltungen des Übergangs vom empirischen zum „lyrischen Ich". Sie proklamieren mehr, als daß sie selber ihr Programm bereits realisieren. Vorbild für die Gestaltung des „lyrischen Ich" ist erklärtermaßen die Musik. In ihr ist die Entfernung von aller Empirie gelungen zugunsten einer Komposition, die in Melos, Takt und Rhythmus der Wiederkehr des Gleichen als ihrem Gesetz untersteht. Darin ist in der Zeit die Zeit aufgehoben. Im Medium der Sprache ist Rhythmus ebenso zu realisieren. 16

Friedrich Rückert, Werke, hrsg. von Conrad Beyer. 6 Bde Leipzig: Fock o. J . Bd I, S. 339. (Liebesleben, Dritter Strauß. 3: Idi bin der Welt abhanden gekommen...) — Gustav Mahler hat dieses Gedicht unter seinen RiickertLiedern komponiert.

35°

Dodi die Entstofflidiung zu leisten ist schwierig, solange die Wort» spräche die Basis bildet. Sie wurde in den sechs Gedichten vor allem auf dem Weg über rhetorische Verfremdungen zu erreichen gesucht. Mallarmés Spezialität lag außerdem in der Ausnützung der „naturgegebenen" semantischen Unschärfe der Wörter. Doch auch bei ihm blieb die normale Umgangssprache präsent. Erst die Lyrik des 20. Jahrhunderts hat ergeben, daß das Ineinander von Rhtyhmus und Entstofflichung so weit gehen kann, wie es die ersten Modernen nicht hatten denken können. — Das Festhalten an der allgemeinen Mitteilungssprache ist jedoch nicht als Unvermögen zu deuten. Diese Basis garantierte und machte nachprüfbar, daß das Gedicht den Bezug zur Allgemeinheit wahrte. In der Scheu vor der totalen Unverständlichkeit kommt wiederum der Obergangscharakter dieser Lyrik zum Ausdruck. Im Moment, wo das „lyrische Ich" die Funktion zugesprochen bekam, dem empirischen Ich ein Selbst zu vermitteln, stellte sich die Frage der Legitimation. Strenggenommen konnte das Gedicht nur aus sich selbst und aus seiner Wirkung seinen Anspruch auf Selbstvermittlung rechtfertigen. Damit setzte es sich jedoch dem Vorwurf aus, es verfahre willkürlich. An den sechs Gedichten und an Margarete Susmans Theorie ist immer wieder das Bestreben wahrzunehmen, das „lyrische Ich" zum legitimen Erben religiöser Selbstvermittlung zu erklären, damit dem durch das Gedicht vermittelten Selbst ein davon unabhängiges Dasein zu geben. Das Entscheidende am „lyrischen Ich" gegenüber allen andern Medien der Selbsterfahrung besteht jedoch darin, daß es das Selbst vermittelt und kreiert. Wie Margarete Susman mit Recht erkannte: das Gedicht gestaltet und schafft in einem den Mythos des Ich. Doch dieser Mythos ist Dichtung, sosehr die Gedichte selbst mit Hilfe ihrer Bilderwelt ihn als Natur erscheinen lassen möchten. Die Konzeption des „lyrischen Ich" macht das Selbst ausschließlich zum Werk des menschlichen Geistes. Damit tritt das Moment der Wirkung des Gedichts in den Vordergrund. Margarete Susman grenzte das „lyrische Ich" allein vom Ich des Dichters ab. Doch der Dichter steht angesichts der Differenz von lyrischem und empirischem Ich mit dem Leser auf einer Stufe. Der Dichter wird im Gedicht seines Selbst inne, wie der Leser Ahnung oder Gewißheit des seinigen daraus liest. Da sich erst durch die Wirkung das Gedicht wahrhaft zu legitimieren vermag, treten die rhetorischen Mittel so deutlich hervor. Außer Mallarmé benutzen alle Dichter die traditionelle Rhetorik als Vehikel der Wirkung. Dazu kommen die Ansätze, auch die Typographie für die Wirkung des Gedichts nutzbar zu machen.

351

In der Ausstattung von Georges Gedichtbänden durch Melchior Lediter erreicht dieses Bestreben einen Höhepunkt, neben dem Mallarmés drucktechnische Versuche bescheiden anmuten. Es ist im geschichtlichen Zusammenhang bezeichnend, daß sich in diesem Moment die Dichtung jener Mittel zu erinnern begann, mit denen die Kirche jahrhundertelang ihren Text unterstützt hatte. — Das Gedidit kann seine Wirkung schließlich audi nicht beim einmaligen Lesen tun. Durch wiederholtes Lesen und Auswendiglernen erst bekommt es die Kraft, seine Funktion zu erfüllen. Im Gedicht „Excelsior" kann man eine modellartige Veranschaulichung der intendierten Wirkungsweise erkennen. Unter dem Aspekt der Wirkung läßt sidi das Verhältnis von Erhebungsmotiv und Gedidit nun auch umgekehrt sehen. Nicht nur mündet die Erhebung, die das Gedicht darstellt, in das Gedicht selber, sondern in der Erhebung wird die Wirkungsweise des Gedichts thematisdi. In diesem Motiv erhebt das Gedicht seinen Anspruch, „lyrisches Ich" zu sein. Es soll den Leser aus allen äußeren Verflechtungen herausreißen und ihm das Bewußtsein geben, ein identisches autonomes Selbst zu besitzen. Diese Isolierung, die das Gedidit damit bewirkt, ist jedoch nicht als endgültige gedacht. Die kraft der Dichtung zu sich selbst Gekommenen sollen zusammen eine neue Gesellschaft bilden. Darauf sollte schon nach Schiller die ästhetische Erziehung hinarbeiten. Auch Nietzsche schwebte zu Zeiten eine Art neuer Bruderschaft vor. George unternahm in seinem Kreis die aktive Verwirklichung dieses Plans. Noch Karl Jaspers sah 1 9 3 1 in seiner Diagnose der geistigen Situation im „Aufschwung", in dem die Möglichkeit des Selbstseins gründe, das Prädikat eines neuen Adels 17 .

III. Mit der Bestimmung des geschichtlichen Ortes des „lyrischen Ich" erhebt sich die Frage, ob wir heute noch im Bereich seiner Gültigkeit stehen. In einem parodistischen Gedidit „Die Königin der Vernunft" 1 ® hat Liliencron an die Bedingung der Möglichkeit erinnert, durch Erhe17

K a r l Jaspers, Die geistige Situation der Zeit ( 1 9 3 1 ) . Berlin: de G r u y t e r 1 9 4 9 .

18

Liliencron, Gesammelte Werke. B d 3. Berlin: Schuster & L ö f f l e r 1 9 2 1 . 9. A .

Unveränderter Abdruck der j . A u f l . (Göschen B d 1000). S . 2 1 6 S . 1 8 1 ff.

352

bung im Gedicht zu sidi selbst zu kommen. Im Dantesdien Terzinenton evoziert das Gedieht im ersten Teil eine Nietzschesche Hochgebirgslandschaft: In Klamm und Schroffen hatt ich mich verloren, Wo sich des Urgebirges höchste Zinken Spitz grades Weges in den Himmel bohren, Wo Einsamkeiten in die Stille sinken, So ungeheurer Stille sich verketten, Als wollten sie dem Tod die Tür aufklinken. In dieser Höhe gewahrt das Ich die geheimnisvolle Erscheinung einer „blassen Frau im Onyxstuhl", die plötzlich zu reden beginnt. Die Offenbarung, die aus ihrem Munde kommt, beginnt mit den Worten: Zuerst halt die gekrümmte hohle Hand, Die Trinkgeldhand, dem lieben Schicksal hin, Dass sie mit Gold gefüllt wird bis zum Rand. Denn ohne Geld, heißt Leben ohne Sinn. Ein Tausendmarkschein, ach, der engelreine, Ist wirklich der erhebendste Gewinn. Und schließt: Dann stehst du bald im Lebensschiff am Steuer Und schaust ins Meer der Ängste still und kalt, Und wirst dir selber jeden Tag getreuer. Und wenn es noch in dir nach Freude lallt, Dann weihe dich der Philosophenzunft: Die Einsamkeit sei deine Heilanstalt! Das kündet dir die Königin Vernunft. Liliencron parodiert von der früheren Auffassung aus, daß in der Freude und überhaupt im starken Gefühl der Mensch zu sich selbst komme. Sein eigenes, nicht parodistisches Gedicht „Aufschwung" stellt die Erhebung als Husarenritt mit dem Schwert in der Hand dar, bei dem die Bekleidung des Reiters Stüde um Stück von ihm fällt, bis er frei den Gipfel erreicht hat, von dem es ihn in des „Weltmeers Donnerchor" reißt". In „Die Königin der Vernunft" wird der einsame Weg »· A.a.O. S. 191 353 23

Pestalozzi, Lyrisches Ich

zu sich selbst als Ideologie der Wohlhabenheit hingestellt. Nur der kann zu sich selbst kommen, der eine sichere materielle Basis unter sich hat. Der einsame Aufstieg zu sich selbst ist Egoismus des besitzenden Einzelnen. Es fiele nicht schwer, Liliencrons Vorwurf mit Hilfe einer Untersuchung der sozialen und ökonomischen Umstände der sechs Dichter zu bekräftigen. Sie waren vorwiegend immer oder zu gewissen Zeiten ihres Lebens Privatiers. Einzig Mallarmé übte ständig einen bürgerlichen Beruf aus. Ist es zwar unbestreitbar, daß die Bedingungen, unter denen ein Kunstwerk entsteht, in irgendeiner Weise in dasselbe eingehen, so ist doch ebenso deutlich, daß diese über dessen Wahrheit und Wert nicht entscheiden. Die Frage nach den Bedingungen gehört eminent gerade in jene Zeit, aus der die sechs Gedichte stammen. Nietzsche hat wie niemand sonst außer Marx die Bindung des scheinbar freien Geistes an historische, soziale und psychische Voraussetzungen erkannt und aufgezeigt. Historisierung und Psychologisierung waren es nicht zuletzt, die ihn den Tod Gottes annehmen ließen. Ebenso resultierte daraus die Destruktion des traditionellen Ich-Verständnisses. Doch diese Widerlegungen waren nicht sein Ziel, sie standen im Dienst dessen, was er „Umwertung" nannte. Wir haben gesehen, daß z. B. die Bezweiflung des ego cogitans auf die Verwirklidiung des Selbst ausgerichtet war. Die neue Fundierung des Selbst im „lyrischen Ich" ist gerade im Zusammenhang mit der verbreiteten Entlarvungstendenz zu sehen. Sie trägt alle Zeichen des Versuchs, das autonome Ich zu retten, indem man es der durchforsdibaren Empirie entzog. Es sollte einen archimedischen Punkt bekommen, der die Wirklichkeit transzendierte und doch zu ihr gehörte. Das Gedicht sollte diesen archimedischen Punkt darstellen. Zu dieser Gefährdung des Ich von innen kam diejenige von außen. Die sechs Dichter stimmen in dem Mißtrauen überein, das sie der demokratischen Bewegung entgegenbrachten, die sie allenthalben heraufkommen sahen. Im künstlichen Aristokratismus, auf den hin sie ihr Leben ausrichteten, suchten sie sich für ihre Person dem Kollektivum zu entziehen. Dieser Haltung sollte das „lyrische Ich" die innere Begründung geben. Der Versuch der Rettung des Selbst mittels des „lyrischen Ich" erscheint uns heute historisch. Die Tendenzen, vor denen es bewahrt werden sollte, haben sich seither in einer Weise verstärkt, wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert nidit vorauszusehen war. Das damit dring3J4

lidier gewordene Problem der Begründung des autonomen Selbst kann nicht mehr von der Lyrik aus gelöst werden. Es macht jedodi den Anschein, als sei deren Funktion mittlerweile an die Literatur insgesamt übergegangen. Aus dem „lyrischen" wurde das „literarische Ich". Die allgemeine Lyrisierung aller Gattungen könnte diese Annahme bestätigen20. Und nicht an die Literatur allein, an die Kunst überhaupt scheint die Funktion der Selbstvermittlung gefallen zu sein. Niemals ist der Kunstkonsum so allgemein gewesen wie heute. Die von Nietzsche verkündigte Erlösung der Welt im ästhetischen Schein — ist sie nicht vollzogen? Das „lyrische Ich", in dem man den Ausgangspunkt der heutigen Situation sehen kann, basiert auf der Voraussetzung, daß Ich und Selbst grundsätzlich unüberbrückbar voneinander getrennt seien. Diese Voraussetzung ging als Forderung nach strenger Trennung von Kunst und Leben in das Programm der „reinen Poesie" ein. Dabei lag der Akzent auf der Reinigung des Kunstwerks vom Lebensstoff. Im „lyrischen Ich" lag jedodi die Gefahr des Mißverständnisses, als müsse die Kunst in das Leben umgestaltend eingreifen. Um die Jahrhundertwende sind Verwechslungen beider nicht selten. So ist heute der anderen Gefahr zu bebegegnen, der Ästhetisierung des Lebens. Das Kunstwerk kann seine selbstvermittelnde Funktion nur erfüllen, wenn es sich nicht an die Stelle dessen setzt, worauf es hinweisen soll. Die bilderstürmerische Forderung, sich kein Bildnis und Gleichnis zu machen, die bei Mallarmé und Nietzsche zum Tod Gottes geführt hatte, gilt nun dem an dessen Stelle getretenen „lyrischen", „literarischen", ja allgemein „ästhetischen Ich". Nur im Gedicht, das Konstruktion einer Ganzheit mit ihrer Destruktion verbindet, kann das Ich seines Selbst angemessen inne werden. Darin erst ist auch der Begriff des „lyrischen Ich" konsequent verwirklicht. Die Bedeutung der ästhetischen Selbstvermittlung ist wohl heute unbestritten. Sind aber damit die früheren Wege der Selbstgewinnung, „Himmel" und „Liebe", mit Rückert zu sprechen, überholt? Heute wie immer gilt, daß in einer Epoche, ja sogar im einzelnen Menschen, verschiedene historische Möglichkeiten gleichzeitig vorhanden sind. Das „lyrische Ich" hat demzufolge nicht aufgehoben, was vorher war, es ist als neue Möglichkeit dazugekommen. — Und schließlich: Wer sein 20

Diese L y r i s i e r u n g

der G a t t u n g e n

W e r t u n g sogar A . Eljaschewitsch

im 20. J a h r h u n d e r t

stellt mit

positiver

fest in seinem A u f s a t z „ E i n h e i t der

Me-

thode — V i e l f a l t der S t i l e " . K u n s t und L i t e r a t u r , Z s . z u r V e r b r e i t u n g sowjetischer E r f a h r u n g e n . 1 5 . J g . 1 9 6 7 , H . 8, i o ,

11.

35$ 23E

Pestalozzi, Lyrisches Idi

Verständnis seiner eigenen Gegenwart allein von einem geschiditsphilosophischen Entwurf abhängen läßt, verfällt seinerseits der Verwechslung von Dichtung und Leben und verbaut sich die Möglichkeiten, die nicht in seinen Entwurf passen. Eine Arbeit wie die vorliegende erfüllt ihren letzten Zweck darin, daß sie den Blick geschärft hat für das, was ihr widerspricht.

356

Namenregister Das Register enthält die Namen der Primär- und Sekundärautoren. Nidit aufgenommen sind in der Regel Herausgeber und Briefempfänger. Bei den im Text ausführlidier behandelten Dichtern sind die einzelnen Werke in der Reihenfolge Lyrik, Drama, Prosaschriften aufgeführt. Wo ein Name auf derselben Seite im Text und in einer Anmerkung vorkommt, ist nur die Seitenzahl gegeben. A = Anmerkung Abraham a Santa Clara 1709):

(1644 bis

305 A

Adam Α . : 1 7 j A Aesdiylos: Die Eumeniden 90 A l e w y n R . : 56 Ambrosius (ca. 339—397): (AdlerAllegorie) 47 f, 58 Amiel

H . F.

(1821—1881):

286,

289 A

Andreae J. V . (1586—1654): (1616)

Turbo

Í7

Angelus Silesius s. Sdieffler AriostL. (1474—IJ33):

34

Aristoteles: 6 , 1 2 , 3 5 , 4 0 , 8 2 Arnold G. (1666—1714): 68; Auf den gecreutzigten Jesum 65 A Auerbach B. ( 1 8 1 2 — 1 8 8 2 ) :

Auerbach E.: Augustinus

107

196 A A.

(354—430):

23 ff,

27 f, 41 ; confessiones 23 if Avenarius F. (1856—1923): Χ A Bach J. S. (1685—1750): 63, 67 Bachelard G. : XIII, 190 A, 217 A Balde J. (ca. 1603—1668): Fried-

hofsgedicht (Enthusiasmus...) 62; A d Sabinum Fuscum Tyrolensem 71 Ballauf F.: Baudelaire

88 A Ch.

4 f, 168—197,

(1821—1867): 203, 206, 22$,

XII, 229,

230 A, 250 ff, 349; Incompatibilité 169, 183, 194, 197, 201; Tous imberbes alors 182; Les Fleurs du Mal 1 7 0 , 1 7 1 , 1 7 4 , 1 7 5 , 1 8 1 , 1 8 4 , 1 8 6 , 1 8 8 , 1 9 0 , 1 9 3 , 2 5 0 f, 2 5 1 f : Albatros 175 — Alchimie de la douleur 183 A — Bénédiction 1 7 j — E l é v a t i o n 171 f, 1 7 5 — 1 9 7 , 229,

2 J I , 252, 275, 328 — Les femmes damnées 181 — Le flacon 181, 182 — Le goût du Néant 191 — L ' h o r loge 187 — La métamorphose du vampire 183 A — La mort des amants 188 A — La mort des pauvres 188 A — Les plaintes d'un Icare 311 A — Spleen et Idéal 171, 187 — Tableaux Parisiens 187 — Un Voyage pour Cythère 183 A ; La diambre double 357

23 E 4

193> Mon cœur mis à nu 230 A , 245 A ; Notes et documents pour mon avocat 170; Les paradis artificiels 171, 182, 184: — Le poème du Haschisch 171 — Le goût de l'Infini 171 A ; Richard Wagner 171,194 A ; Correspondances 171 A , 179» 250 Benjamin W. (1892—1940): 174, 182 A , 193 A , 195 A , 199 A , 230 A , 243, 324 A , 374 A Benn G. (1886—1956): XIII,

343 Bernoulli C . Α . : 243 A Bianchi L.: 334 A , 338 A Bibel: 3, 7, 132, 317, 318; Psalmen 201; Bergpredigt 201; I.Mose 32 2j6, 314 A ; j . M o s e 11,26—28 9 A ; Amos 5,23 69; Jeremía 9 A ; Sprüche i , i j f 9 A ; Psalm 8 69; Psalm 50,16 69 f; Psalm 102,8 30; Matth. 3,16—17 n o ; Matth. 7,13 9 A ; Matth. 7,14 21; Matth. 19,21 23; Luk. 22,28—30 203; Rom. 13, 1 3 — 1 4 23; 2 . K o r . 12,9 258; Phil. 2,6 137 Bidermann J. (1578—1639): Cenodoxus 57, 62 Bieser E.: 202 A Billanovich G . : 19 A , 25 A Bindsdiedler M.: 226 A Blumenberg H . : 21 A Böckmann P.: 340 A BöhringerR.: 329 A Böschenstein Β.: X I I A Böschenstein R. s. Schäfer R. Boëthius A . M. S.: 39 A , 128, 128 f, 185 A Bonaventura (1221—1274): Itinerarium mentis ad Deum 12; (pseud.) Nachtwachen des Bonaventura 104 Bopp L.: 175 A Borchardt R. (1877—1945):

358

304 A

Bossuet J. B. (1627—1704): 172,173, 178; Elévations 172 Bridgwater W. P. : 120 A Brockes B. H. (1680—1747): 82 A , 83, 97 A. 248 Bruno G. (1548—1600):

X I ; 30—42,

45» 49. 59. 7 1 . 77. 82, 84, 100, 179, 180, 201, 233, 235 f, 245, 248, 254, 348; Mio passar solitario 30, 49; Uscito de prigione angusta e nera 30; E chi mi impenna 31 ff, 37 fr, 49, 179; Del'infinito, universo e mondi 30; De immenso et innumerabilibus 32; Degl'Heroici Furori 33 A, 34, 36 A ,

49 Buchwald R.: 78 A , 82 A , 97 A Burckhardt J. (1818—1897): 22 A , 302 BurdachK.: 23 A Byron G. Ν . G. (1788—1824): 190, 286 Cassirer E.:

23 A , 35 A

Cazalis H. (1840—1909): 258 f, 262 A ; Brief 255 Chassé Ch.: 273 A Chérix R.: 170 A , 175 A Cues Ν . ν. s. Nikolaus von Kues Curtius E. R.: 16 A , 337 A Czepko D. v. (1605—1660): 70,74 A Dante (126J—1321): XI; 3—18, 28 f, 46, 53 A , 80, 86, 100, 1 1 0 A , 120, 132, 180, 18$ A , 212, 251, 284, 3 2I > 332> 341 pass., 342, 348—356 pass.; Divina Commedia 3 ff, 6 f, 7 A , 10, 334 fr, 339. — Inferno 336 f, 338. — Purgatorio 28, 41, 201, 334, 33j A , 336. — Paradiso 41, 80, 130, 179, 336, 338; Vita N u o v a 333 A , 334 David CI.: 314

210

Décartes R . ( 1 5 9 6 — i 6 j o ) : D e h m e l R . (1863—1920):

334

G a r v e C h . (1742—1798): A

Gast

35 A

Dilthey W.:

1918):

Dionysius A r e o p a g i t a ( E n d e $. J h . ) :

J, 239, 245 A

(1868—1933):

S.

6,

119,

198 A, 28$, 287, 288 A, 307, 310

73 Döring Α.:

—342, 342 A ,

88 A

Dornheim Α.:

A . v . (1797—1848):

Κ . E.



I d i wandelte

(1833—ΐ9 )

2Ι :

2

33>

2

R i n g 319. — D a n t e u n d das Z e i t — E n t r ü c k u n g 6, 3 1 9 ^ 340; D e r

(1788—1857):

190

Eljasdiewitsdi A. : 3 $ 5 A EmrichW.: XIII

d e s Lebens

— Vorspiel

313 A , 323 f, 328. — N u n h ä l t ein guter Geist 315; Tage u n d T a t e n 307 A ; V o r r e d e zu M a x i m i n 322 f ,

291 A

ErkenG.:

Na-

jade 3 i o f ; Weihe 331; D e r siebente

Teppidi J. v.

a u f öden d ü -

gedicht 3 3 j . — Einverleibung 3 3 8 A.

J5A 79 A

Eichendorff

Die

310 f. — D i e

stern b a h n e n

308 A, 104

34 DydU.: Dyck M . :

347, 350, 3 J 2 ;

Fibel 310, 312. — I k a r u s 310 f.

292 A, 301 A

Droste-Hiilshoff

Díihring

George

97 A

H . ) (1854—

P . (eig. Köselitz

329, 334, 339; Blätter

173

Essarts E. des (1839—1909): E x n e r R . : 305 A, 307 A

K u n s t 33J f ;

für

die

Obersetzungen 328,

334 ff, 338; D a s J a h r h u n d e r t G o e thes 312 A, 119

F i c i n o M . (1433—1499):

G e r h a r d t P . ( 1 6 0 7 — 1676) :

33, 34

Fide J . : 292 A F i o r e n t i n o F . : 30, 37 A, 39 A Föllmi H . : 70 A , 74 A Fontane

Th.

X I I ; 77. 99,

(1819—1898): n o ,

HI f, 115 f ; Aus den T a g e n d e r O k k u p a t i o n 10 j A, n o i ; Stechlin 1 1 2 F o u r i e r C h . (1772—1837): Francke

A. H .

194

(1663—1727):

64 ff,

131 f ; A n f a n g u n d F o r t g a n g d e r B e k e h r u n g 64 f François

L . v . (1817—1873):

152

Freiligrath F . (1810—1876): Ü b e r setzung v o n L o n g f e l l o w s „Excelsior!" 105 A F r e i w a l d C . : 292 A, 295 A F r e y Α . : 140 Α , 166 Frey H . J.: Friedrich

280 A Η . : V I I , 22 A,

175 A, 180, 196 A, 261 A

70

Gmelin H . : 3—18 passim G o e t h e J . W . (1749—1832):

168 A ,

I3J,

139,

I0

140,

°»

I0

5>

IJ2Í,

ιτ

9,

161,

VIII, J

33>

162 ff,

169, 283, 286, 291, 301 ff, 306, 308, 332, 341, 346, 348; D ä m m r u n g senkte sidi v o n oben 116 A ; G a n y m e d X I I ; 136 f, 137, 138, 140; H a r z r e i s e i m W i n t e r X I I ; Jägers A b e n d l i e d 139; K e n n s t d u das L a n d 292, 301, 305; Mächtiges Überraschen 296; M a r i e n b a der Elegie 132 f ; A n den M o n d 1 8 j A ; A u f dem See 301; W a n d rers S t u r m l i e d 206 A ; West.-östl. D i v a n 301 f ; Faust 152; Gespr. mit E c k e r m a n n 4, 190 A ; I t a l .

Reise 301 ff; W i l h e l m Meisters L e h r j a h r e 131 A , 303; Schöne Seele 66, 131 f, 173; Naturwissenschaft!.

Sdiriften

101A,

161 f ;

3J9

Farbenlehre Granit X I I Greiffenberg

ioo,

I J 3 ; Über den

C. R. v.

(1633—1694):

47. J7> 61, 63 A Gryphius A. (1616—1664):

4 3 , 4 7 ff,

5 3 . 5 5 . 57» 5 8 , 6 0 , 6 1 , 6 2 , 6 3 , 6 4

Gundolf

F.

198 A , 342

(1880—1931):

Briefe

302, 307 A ; Briefe des Zurückgekehrten 304 A ; Chandos-Brief 304 A ; Gespräch über Gedichte 306; Aufsatz über Amiel 289 A ; Aufzeichnungen 283 f, 304 A ; Poesie u n d Leben 307; Sizilien und wir 304 A ; Briefe 285 A, 290 Hölderlin

A

F.

(1770—1843):

78 A ,

302

Haller A. v. (1708—1777): Hamann

J. G.

83, 9 7 A

(1730—1788):

190 A

H a m b u r g e r K . : 343 A d ' H a r c o u r t R . : 1 3 J A , 137 A, 142 A H a r t m a n n von A u e : 9 A, 16 Hausenstein W . : 176 A, 181 A

H o m e r : 53 A, 120, 284, 302 H o r a z F. Q . (6$—8 v.Chr.): i 8 j A H o r v a t h Oe. v.: 199 A H o w a l d E . : 176 A Huch R. (1864—1947): Hugo

V.

286

247

Hegel

VII

Humboldt

G . W . Fr.

(1770—1831):

99,

Heilermann van H e e l W. : 16 A Henel H . : 119 A, 121 A, 146 A, 155 A , 164

Α , 1 6 J A

H e r d e r J. G. (1744—1803): 91, 124 ff, 324 f ; Über den Ursprung der Sprache 91 A, 124 f Herwegh G. (1817—1875): 141 Hesiod: 8 A Hess G . : 175 A, 180, 183 A, 195 A Heyse P. (1830—1914): 106; Brief i o j A, 1 0 6 A Hofmannsthal Η . ν. (1874—1929): 198 A ,

283—310,

323 A,

6,

334 A,

331, 341, 342, 350; N a d i einer Dante-Lektüre 6; Einem der vorübergeht 287 A ; Erlebnis 307 f ; Reiselied 290—309; Spiegel der Welt 300; Ein T r a u m von großer Magie 288 A ; Der Kaiser u n d die H e x e 290 A ; T o d des Tizian 2 8 6 , 2 8 8 ; T o r und T o d 3 0 J A ; Das kleine Welttheater 285; ad me ipsum 304 A ; Andreas-Fragment 307 A ; Augenblicke in Griechenland 304 A ; Buch der Freunde

360

183,

190,

f

Hebbel Chr. Fr. (1813—1863):

—VIII

Χ A

(1802—I88J): W . v.

(1767—1835):

96,

100

Ibsen H . (1828—1906):

287

Ingen F. v a n : 62 A Inglin M.: 106 A Isidor von Sevilla ("|" 636) :

James H . (1843—1916):

Jammer M.:

7

105 A

7 A, 35 A

Jaspers K. (1883—1969):

3J2

J e a n Paul s. Richter Jons D . W . : 45 A, 48 A Joyce J. (1882—1941):

Junker Ch.:

K a f k a F. (1883—1924):

Kaiser G . : Kant

I.

30$ A

82 A

214

83 A, 8 $ A (1724—1804):

83,

84,

96,

190 A, 227, 294

Keller G. (1819—1890):

106ff, 121;

Apotheker von Chamonix 106; M a r t i n Salander 105 A, 106 f ; Briefe 10 j A, 106 Keller W . : 86 A K e m p F.: 176 A

Kerényi Κ. : 272 A Klages L.: 218 A K l a j J. (1616—1656): liedt 56

Weihnachts-

Kleist H . v. (1777—1811): 308 A Klopstock F. G. (1724—1803): 83 f K n o d t Κ . Ε.: XA Koch W.: 324 A Köhler W . : 167 A Kopernikus N . (1473—1543): 36, 71, 96, 100, 169, 201, 328, 339 f Kudszus W. : 78 A Kuhlenbeck L.: 30 A K u h l m a n n Qu. (1651—1689): 45 L a n d m a n n M.: 220 A Langen Α.: 97 A, 132 A, 136 A Lausberg H . : 222 A Lavater J. C. (1741—1801): 194 Lefébure E.: 2 j o , 257 Leibnitz G. W. ( 1646—1716): 97 Lehnert H . : 292 A, 295 A, 298 A, 301 A, 307 A , 3 4 3 A Lepsius S.: 332 A Liliencron D. v. (1844—1909): 352 —354; Die Königin der Vernunft 352; Aufschwung 353 LiviusT.: 20,22 Löwith Κ . : 223 A, 225 A Lohenstein D . C. v. (1635—1683): 57, 58, 62; Die H ö h e des menschlichen Geistes 57 Lohner E.: 88 A, 91 A, 168 A Longfellow H . W . (1807—1882): 5, 102—116; Excelsior 102—116, 178, 205, 352; H y p e r i o n 104; Selbstkommentar zu Excelsior 113 L u k á c s G . v.: 329 Lusser Κ . E.: 163 A

136 A,

140 A, 142 A,

Mallarmé S. (1842—1889): V I I A ; X I I ; 102, 173, 196 A, 247—282,

289, 331» 332» 34° ff. 349 f. 351. 3i4> 355> Entre quatre murs 247; — L'art ose 247, 249. — Moi, quand j'étais petit 250. — P o u r ouvrir un album 249, 271. Autre éventail 260 ff ; Les Fenêtres 252 f, 256, 260, 262, 263 f, 268, 271, 276; H é r o d i a d e 2$6, 258; La dernière mode: 274; Les dieux antiques 272 A ; C r a y o n n é au théâtre 276; Q u a n t au livre 275, 278, 279; Symphonie littéraire 251 f, 274; Briefe 173 A, 2 5 5 ^ 262 A, 277 M a n n Th. (1875—1955): 300 A M a r k w a r d t Β. : 13 4 A Martens W . : 104 A, 105 A Matthisson F. (1761—1831): 104 M a u r o n C h . : 261 A Mennemeier F. N . : 292 A M e y e r B . (1831—1912): 120A, 140A, 141 A, 167 A Meyer C. F. (1825—1898): X I I ; 5, 77, 119—167, 183, 206, 231, 267, 312 A, 349; Romanzen und Bilder 149, 155, 160, 167; Das bittere Trünklein 139; Auf dem canal grande 164; Die Dryas 139; D e r Frühling kommt 140; Die gelöschten Kerzen 139; D a s heilige Feuer 164, 166; Mövenflug 164; Naditgeräusche 151; D e r Römisdie Brunnen 163 A ; Himmelsnähe 119 f, 201, 321; Zwei Segel 165; Die tote Liebe 311 A ; Engelberg 122; Huttens letzte Tage 167; Pescara 167; Jiirg Jenatsdi 167; Der Heilige 167; Die Hochzeit des Mönchs 5; Briefe 119, 135, 137, 142, 146, 162, 164, 166 f. Meysenbug Μ. v. (1816—1903): 233 f Midiaud G . :

261 A, 280 A 361

Michel P. H . : 30, 33 A, 34 A, 36 A, 38 A, 49 A Michelangelo (1475—1564): 142, 166 f Michels G.: 335 A Mörike E. (1804—187$) : 1 4 1 , 142 Moritz Κ. Ph. (17 56—1793): 97 A MorwitzE.: 331A Müller W. (1794—1827): Texte zu Sdiuberts Winterreise 206 A N ä f W . : 20 A Netzer R.: 261 A Nietzsche F. (1844—1900): X ; 5, 102, 10$ A, 1 1 4 f, 120 A, 136, 167, 198—246, 259, 260, 263, 289, 302, 318, 32$, 330, 332, 340 f, 342, 349. 35*. 353» 355; Aus hohen Bergen 198—208, 241, 242 A. — Einsiedlers Sehnsucht 216, 220 A, 230, 236, 239, 244 ff, 260; Dionysos-Dithyramben 246; Der Freigeist 232; Die Krähen schrein 232; An den Mistral 232; Rimus Remedium 232; Sils Maria 232, 241, 242; Venedig 2 3 1 ; Ecce homo 214, 242 A, 245; Fröhlidie Wissenschaft 1 1 4 , 209, 234, 245; Jenseits von Gut und Böse 232, 241; Menschlidies — Allzumenschliches 209, 213 A, 216, 2 3 1 ; Unzeitgemäße Betrachtungen 245, 289 A; Zarathustra 2 1 1 ff, 213, 216, 218, 220 A, 224 ff, 228, 230, 232, 235, 242, 246, 28$ A ; Briefe 31 A, 1 1 4 , 198, 201, 217, 232, 234 ff Nikolaus von Kues (Cusanus) (1401 —1464): 26, 35, 36, 82, 130, 1 3 3 ; de docta ignorantia 130 Nobiling F. J. : 261 A N o u l e t E . : 261 A, 267 A Novalis (Hardenberg F. v.) (1772— 1801): 13 y 362

Opitz M. (1J97—1639): 48, 51—69, 68 f, 76; Deutsche Poeterey j i f, 53. 55. 5 6 ; Vesuvius 54; Elegie 54; Begräbnuss-Gedicht J9 O t t o Rud. (1869—1937): 324 A Overbeck F. (1837—190J): 79 A, Mi Ovid N . P.: 68; Metamorphosen 96; Ars amatoria 59 Paracelsus Th. Β. ( ΐ 4 9 3 — I J 4 1 ) : f Parmenides: 130 Pascal Β. (1623—1662): 142, 163 Pestalozzi Κ.: 147 A, 289 A Petrarca F. (1304—1374): X I ; 19— 29, 4 1 , 100, 128, 1 9 1 , 332 PetschR.: 88 A Plato: 39, 48 f, $3, 80 ff, 86, 3 1 1 ; Timaios 129 Poe Ε. Α. (1809—1849): 28ο Pommier J.: 194 A Pomponius Mela: 20 A Poulet G.: X I I I , 14 A, 28 A, 129 A, 177 A, 252, 305 A Proust M. (1871—1922): 182 Ptolemäus: 71, 82 (ptolemäisdi) Raymond M.: 197 A Reidemeister Κ. : 261 A R e q u a d t P . : 292 A, 301 A, 305 A Richard J.-P.: 261 A, 270 A Richter J. P. F. (1763—1825): 104, 135, 138 A, 233 Ri A ter K.: 82 A Rilke R.M. (1875—1926): XA, X I I I , 261 A, 342 Ritter J . : 20 A Rohde E. (1845—1898): 242, 245 Ronsard P. (1524—1585): 51—53 Rosenfeld Η . : 162, i 6 j A Rosenthal G.: 89 A Rückert F. (1788—1866): 350,355

Schäfer R . : 73 A , 179 A Schaukai R . (1874—1942): 261 A Schefïler J . (Angelus Silesius) (1624— 1677): 43 A , 45, 70—76, 82, 83, 194 f , 196 Schelling F . W . J . (1775—1854): 16 Schiller F. v. (1759—1805): X I ; 77, 7 8 — 1 0 1 , 102, 104, m , 152, 1 6 1 , 168, 172, 2 1 3 , 248, 339, 348 ff, 352. Berglied 104; Bürgschaft 104; Die Belohnung 97; Der berufene Leser 97; Die Dichter 94 A ; Elegie auf den Tod eines Jünglings 85; A n die Freude 87, 88, 95, 100, 204; Geheimnis der Reminiszenz 80, 85; Die Götter Griechenlands 88; Die Größe der Welt 84> 95» 34° A ; Das Ideal und das Leben 77, 88 ff, 97, 99, 1 1 3 f, 169, 192, 2 1 3 , 298 A, 314 A ; Die Künstler 88; Lauragedichte 80, 85, 89, 9 1 ; Laura am Klavier 79, 82, 84, 86; Messiade 87 A ; Die Seligen Augenblicke 79, 86; Der Spaziergang 94 A ; An den Unendlidien 83; Vorwurf an Laura 79; Zuversicht der Unsterblichkeit 85; Leichenfantasie 85; Don Carlos 82 A , 85; Über die ästhet. Erziehung des Mensdien 88, 90, 91 f f , 98, 348; Über naive und sentimental. Dichtung 99; Über das Pathetische 95; Spaziergang unter den Linden 93; Theosophie des Julius 80, 82, 84 A ; Briefe 80, 81, 8j» 87. 96, 97, 99 Schleiermacher F. E. D . (1768—1834): 142 Schmitt W.: 68 A f Schmitz G . : X I I A Sdimolck Β. ( 1 6 7 2 — 1 7 3 7 ) : 61 Schnitzler A. (1862—1939): 198 A Schoeck G. : 46 A

Schöne Α . : 45 A , 47 A, 50 A, 51 A, 63 A Schönauer F.: 333 A Schopenhauer A. (1788—1860): 234, 238 f , 245, 285 A , 288 f, 294, 304 A, 306 A Schultz St.: 314 A , 3 1 9 A, 323 A, 338 A , 339 A Schulz G . : 87 A Shakespeare W. ( 1 5 6 4 — 1 6 1 6 ) :

120,

332» 3 4 ° Shelley P. B. (1792—1822): 190, 302 Snell Β.: I X , 8 A Staiger E.: X I I I , 81 A, 86, 89 A, 96 A , 98, 133, 137 A , 138, 1 5 1 A, 165, 303 A , 325 A Stein H . v. (1857—1887): 31 A, 198, 232—241 Stern M. : 288 A, 290 A Storm Th. ( 1 8 1 7 — 1 8 8 8 ) : 134, 138 Strauss D. F. (1808—1874): 141 Strich F.: 44 Sudermann D. (155 o — 1 6 3 1 ) : 62 Susmann M. (1874—1965): 342 ff Swedenborg E. (1688—1772): 194 Swinburne A. Ch. (1837—1909): 279 Tansillo L. (ca. 1 5 1 0 — 1 5 5 8 ) : 34 Tersteegen G. (1697—1769): 69, 1 3 6 Thibaudet Α.: 261 A, 280 A Thomas von Aquin (1225—1274): 129,130 UsingerF.: 82 A, 261 A Uz J . P . (1720—1796): 83, 97, 98 Valéry P. ( 1 8 7 1 — 1 9 4 5 ) : 174 Verlaine P. (1844—1896): 332 Viëtor Κ . : X I I A Vigny A. de (1797—1863): 172 if, 178. 195. 197 Vinet A. (1797—1847): 163 Visdier F. Th. (1807—1887):

140 fr,

363

i6o; Ästhetik Χ Α; Krit. Gänge 137 f Vivier R.: 173, 183 A Vordtriede W.: 168 A, 194 A, 308 A Wagner R. (1813—1883): 213 A, 233 f, 238 f, 245, 289 A WaisK.: 252 A, 261 A WalzelO.: 342 A Wedissler E.: 17 A, 21 A Weiss R. : 97 A Wieland Chr. M. (1733—1813): 302

364

Windielmann J. J. (1717—1768): 302 Wölfflin H. (1864—1945): X A , 44 WolandtG.: Vili A Wolfskehl Κ. (1869—1948): 310, 333. 342 A Wunberg G.: 289 A

Zeller H.: 165 A Zinzendorf N. L. v. (1700—1760): 65 A, 66, 6γ, 69, 70 A Ziolkowski Th. : 305 A