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German Pages [317] Year 2018
Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch
herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«
Jahrbuch 14 j 2018
»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.
Eckart Conze / Susanne Rappe-Weber (Hg.)
Die deutsche Jugendbewegung Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945
Mit 18 Abbildungen
V& R unipress
Finanziert durch das Hessische Ministerium fþr Wissenschaft und Kunst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Susanne Rappe-Weber Umschlagabbildung: »Janus«, Grafik: Erich Zimmer (1908–2001), Original im Archiv der deutschen Jugendbewegung Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-0908-9
Inhalt
Einleitung der Herausgeber
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eckart Conze Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kontinuität und Diskontinuität Torsten Mergen Selbstinszenierung und lyrische Geschichtsdeutung. Karl Christian Teut Müller und die Trucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kristian Mennen Die »falsche Art« der europäischen Einigung. Erinnerungsdiskurse des Begriffs Europa in der deutschen Jugendbewegung nach 1945 . . . . . .
55
Knut Bergbauer Andere Blicke zurück. Jüdische Jugendbewegung zwischen historischer Darstellung und Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Ulrike Pilarczyk Blickwechsel. Bildanalytische Perspektiven auf die jüdische Jugendbewegung in Deutschland und Palästina . . . . . . . . . . . . . .
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Belastung und (Selbst-)Historisierung Christoph Nonn »Mir scheint aber das ganze Unternehmen etwas verstaubt zu sein.« Theodor Schieders konservative Kritik an Werner Kindts Dokumentation der Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
6 Wolfgang Schieder Nachklänge der Jugendbewegung. Werner Conze nach 1945
Inhalt
. . . . . . . 127
Jürgen Reulecke Wie gelingt »ein richtiges Erkennen des Problems der Schuld«? Selbsthistorisierungen im Freideutschen Kreis in den späten 1940er und in den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Biografische Annäherungen Reinhard Mehring Rückkehr zu Humboldt. Der vergessene Bildungshistoriker Kurt Grube (1903–1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Benedikt Brunner Links und jugendbewegt. Walter Dirks, Helmut Gollwitzer und ihre vergangenheitspolitischen Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ewald Grothe »Das mißliche Geschäft der Selbstbespiegelung«. Ernst Rudolf Huber und die deutsche Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Erinnerungsdiskurse Franziska Meier Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Lied. Die Entwicklung des Geschichtsbildes in der bündischen Musik nach 1945
. 217
Max Zeterberg Gedenken ohne Aufarbeitung und Abgrenzung ohne Auseinandersetzung. Die (fehlende) Vergangenheitsbewältigung der evangelischen Pfadfinder in Berlin nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 231 Michael Kubacki Im Widerspruch mit sich selbst. Geschichtsbild und Selbsthistorisierung im Freundeskreis der Artamanen (1965–2001) . . . . . . . . . . . . . . . 245
Rezensionen Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017 (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Inhalt
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Thomas Kohut: Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Erlebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen 2017 (Hagen Stöckmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt, Sabine Reh (Hg.): Reformpädagogik und Reformpädagogikrezeption in neuer Sicht. Perspektiven und Impulse, Bad Heilbrunn 2016 (Paul Ciupke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Matthias Kruse: Fritz Jöde 1906–1923. Pädagogik im Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2017 (Franz Riemer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Cathy Ross, Oliver Bennett (Hg.): Designing Utopia. John Hargrave and the Kibbo Kift (Katalog), London 2015 / Annebella Pollen: The Kindred of the Kibbo Kift. Intellectual Barbarians, London 2016 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Claudia Selheim, Alexander Schmidt (Hg.): Grauzone. Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus (Beiträge der Tagung im Germanischen Nationalmuseum, 8. und 9. November 2013), Nürnberg 2017 (Saskia Fischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozialund Zeitgeschichte 52), Göttingen 2015 (Mareike Gronich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Rückblicke Frauke Schneemann Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung
. . . . . . . . . . . . 291
Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2017 . . . . . . 295 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2017 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Wissenschaftliche Archivnutzung 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
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Inhalt
Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Einleitung der Herausgeber
Die Einordnung der »Jugendbewegung« in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge als Praxis der Historisierung beziehungsweise Selbsthistorisierung begann nicht erst nach 1945. Vielmehr wurde der Aufbruch der Jugend in den Bünden des Wandervogels und verwandter Gründungen bereits zeitgenössisch und parallel zu den Entwicklungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv beobachtet und kommentiert. Daran beteiligten sich nicht nur berufene Kreise wie Wissenschaftler, Pädagogen oder Publizisten, sondern insbesondere Angehörige der Bewegung selbst, die der staunenden Öffentlichkeit das Geschehen rings um Gruppengemeinschaft und Fahrtenleben erklärten, aber auch die neuen Freiräume für die junge Generation diskutierten und deuteten. Bis 1918 erschienen dazu vor allem kürzere Texte, aber auch erste Gesamtdarstellungen wurden bereits vorgelegt, insbesondere die einflussreiche Arbeit von Hans Blüher.1 Nach dem Ersten Weltkrieg ging es dann angesichts der gesellschaftlichen Neuordnung vor allem darum, die in der Aufbruchphase des Wandervogels gewonnenen Erfahrungen an die neue junge Generation zu vermitteln.2 Nach 1945 aber kam ein schärferer Ton in die Geschichtsdarstellungen zur bündischen Jugend, als Autoren wie Karl Otto Paetel (1961), Walter Laqueur (1962) oder Harry Pross (1963) in zum Teil deutlichen Worten auf den Anteil beziehungsweise die Mitverantwortung »der Jugendbewegung« am Aufstieg des Nationalsozialismus hinwiesen.3 Ebenfalls kritisch, aber mit anderer Gewich1 Hans Blüher : Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 3 Bde., Berlin 1912. 2 Beispielhaft dazu: Victor Engelhardt: Die deutsche Jugendbewegung als kulturhistorisches Phänomen, Berlin 1923; Hans Schlemmer : Der Geist der deutschen Jugendbewegung, München 1923; Otto Stählin: Die deutsche Jugendbewegung. Ihre Geschichte, ihr Wesen, ihre Formen, Erlangen 1922; Elisabeth Busse-Wilson: Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925; Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927 3 Karl O. Paetel: Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen, Bad Godesberg 1961; Walter Laqueur: Young Germany. A History oft he German Youth Movement, London 1962 (dt. Köln
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Einleitung der Herausgeber
tung fiel die Deutung von Arno Klönne (1960) durch die Einbeziehung der Impulse für den Widerstand aus der Jugendbewegung aus.4 Gleichzeitig setzte unter Ehemaligen aus der Bewegung eine regelrechte Veröffentlichungswelle ein, veranlasst nicht zuletzt durch die Vorbereitungen zu den 50-Jahr-Feiern zum Freideutschen Jugendtag 1963, und überwiegend getragen von dem Wunsch, das eigene Erleben zwischen den Jahren 1900 und 1945 für die Erinnerung festzuhalten und in einem größeren Zusammenhang zu interpretieren, häufig auch in rechtfertigender, zuweilen apologetischer Absicht. Das umfassendste und organisatorisch anspruchsvollste Werk stellt in diesem Zusammenhang die dreibändige, von Werner Kindt herausgegebene »Dokumentation der Jugendbewegung« dar,5 das als Quellenedition bis heute von Bedeutung ist, auf deren blinde Flecken, insbesondere die fehlende beziehungsweise relativierende Thematisierung des Verhältnisses von Jugendbewegung und Nationalsozialismus, mittlerweile verschiedentlich hingewiesen worden ist.6 Diese Texte der rückschauenden Selbsthistorisierung, die notwendigerweise Passagen zur eigenen Haltung beziehungsweise Beteiligung am Nationalsozialismus enthalten mussten, stellen nicht nur hinsichtlich der Sache selbst ein wichtiges Forschungsfeld dar, sondern auch, weil sie erkennbar werden lassen, ob und wie den oft akademisch gebildeten, ehemaligen Bündischen der Übergang in die Demokratie der jungen Bundesrepublik ideell gelang und in welcher Weise die als bedeutend für den weiteren Lebensweg gedeutete Phase in der bündischen Jugend biografisch eingeordnet wurde. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und mit individueller wie gruppenbezogener NS-Belastung stellt auch mit Blick auf die Jugendbewegung und ihre Angehörigen ein an Bedeutung gewinnendes und keinesfalls hinreichend behandeltes Forschungsgebiet dar. Worauf sich entsprechende Untersuchungen richten könnten, nicht zuletzt in biografischer Perspektive, entfaltet einleitend Eckart Conze in seinem Beitrag, der wie alle weiteren Texte auf der Tagung des Archivs
1962), Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Wien 1964. 4 Arno Klönne: Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisationen im Dritten Rein, Franfurt a. M. u. a. 1955. 5 Werner Kindt: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung (Dokumentation der Jugendbewegung 1), Düsseldorf u. a. 1963; ders.: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung (Dokumentation der Jugendbewegung 2), Düsseldorf u. a. 1968, ders.: Die deutsche Jugendbewegung, 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften, Düsseldorf u. a. 1974. 6 Ann-Kathrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 16), Schwalbach 2010; Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013.
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der deutschen Jugendbewegung im Oktober 2017 auf Burg Ludwigstein vorgetragen wurde. Unterschiede in der Historisierungspraxis lassen sich u. a. hinsichtlich der jeweiligen Akzentuierung von Kontinuität bzw. Diskontinuität aufzeigen. Der Schriftsteller und Lehrer Karl Christian Müller (1900–1970), genannt »teut«, erlebte als Gründer der Jungenschaftsgruppe »Trucht« im Saarland 1930 seine intensivste Wirkungszeit. In Gedichten setzte er sich in poetischer Sprache und generalisierenden Deutungen mit diesen und den weiteren Erfahrungen in der NS-Zeit auseinander, konzipierte sein jugendbewegtes Engagement nach 1945 aber als Kontinuum traditionellen bündischen Erlebens – ein Widerspruch, der Ende der 1960er Jahre aufbrach, wie Torsten Mergen ausführt. Dagegen arbeitet Kristian Mennen heraus, wie die Rede von der »neuen europäischen Generation« nach 1945 eine Diskontinuität behauptete, die der historischen Analyse nicht standhält. Dazu untersucht er die während der nationalsozialistischen Herrschaft praktizierten Bündnisse und Veranstaltungen der »Jugend in Europa«, mithin den in dieser Phase sehr präsenten faschistischen Begriff von »Europa«, der sehr wohl auf die Nachkriegszeit ausstrahlte. – Wie sich Erinnerung und Geschichtsschreibung der jüdischen »Bündischen« nach der Shoah artikulierten, zeigen Knut Bergbauer und Ulrike Pilarczyk auf. Während Bergbauer die Personen und Orte eigenständiger jüdischer Geschichtsschreibung nachweist und einordnet, greift Pilarczyk die Überlieferung privater Erinnerungsstücke und Fotoalben auf, um an ihnen zu demonstrieren, wie nachträglich Bezüge zwischen der jugendbewegten Zeit in Deutschland und der neuen Heimat in Israel inszeniert wurden, wie die Selbsthistorisierung zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung zur Bewältigung der Erfahrungen von Flucht und Verfolgung genutzt wurde. Die Neuzeit-Historiker Theodor Schieder, geboren 1908, und Werner Conze, geboren 1910, standen beide während der NS-Zeit am Beginn einer, letztlich in der Bundesrepublik erfolgreichen akademischen Berufslaufbahn und engagierten sich auf unterschiedliche Weise im Sinne des NS-Regimes, was sie später in autobiografischen Äußerungen reflektierten. Dabei fiel ihr Bezug auf das bündische Erleben in der Deutsch-Akademischen Gildenschaft, das beide teilten, recht unterschiedlich aus. Christoph Nonn erläutert die Position Theodor Schieders entlang dessen Mitwirkung in der »Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung«, der Schieder 1959 mit einem Projektvorschlag für eine fundierte Darstellung der Bewegung beigetreten war. Werner Kindts Plan einer »Dokumentation«, die die Jugendbewegung zeigen sollte, als habe es den Nationalsozialismus gleichsam nicht gegeben, lehnte er dagegen ab und zog sich, als diese Konzeption beschlossen und umgesetzt wurde, anders als sein schwer NS-belasteter Kollege Günther Franz und andere Historiker sukzessive aus der Kommission zurück. Auch Werner Conze knüpfte in seinem
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Einleitung der Herausgeber
Engagement nach 1945 nicht mehr an bündische Verbindungen an, hielt sich überhaupt mit Auskünften und Erklärungen zum Zusammenhang seiner wissenschaftlichen Arbeit mit seiner Biografie sehr zurück, wie Wolfgang Schieder ausführt, der in diesem Zusammenhang den Begriff der »Prägung« durch die Jugendbewegung problematisierte. Dagegen bildete für die Angehörigen des »Freideutschen Kreises«, die Jürgen Reulecke, ebenfalls in der Rubrik »Belastung und (Selbst-) Historisierung«, thematisierte, die Zugehörigkeit zur Jugendbewegung den Ausgangspunkt für ihren Zusammenschluss nach 1945, in dem Fragen nach Verantwortung und Schuld während des Nationalsozialismus zwar nicht ungestellt blieben, aber doch vergleichsweise rasch in den Hintergrund traten. Anschließend bietet der Band ›Biografische Annäherungen‹ an zwei konträre Lebensläufe, die beide 1903 begannen. Reinhard Mehring erinnert an den nahezu vergessenen, früh (1936) verstorbenen Bildungshistoriker Kurt Grube, der sich von der Philosophie her kritisch mit der »expressionistischen« Übergangsform der Jugendbewegung befasste, ohne ihr jemals angehört zu haben, und anschließend zum Individualismus und Idealismus Humboldts als Grundlage künftiger Pädagogik kam. Ernst Rudolf Huber schließlich, der sich im Nationalsozialismus als führender Staatsrechtler hervor getan hatte und nach 1945 weithin als belastet und kompromittiert galt, nahm als früherer »Nerother Wandervogel« die Einladung in den »Freideutschen Kreis« dankbar an, wirkte an dessen Konstitution mit und äußerte sich dort umfassend zum Zusammenhang von Jugendbewegung und Nationalsozialismus – Selbsthistorisierung als Baustein für eine Zukunft, auch die eigene – in der Demokratie. Demgegenüber positionierten sich die, ebenfalls mit der Jugendbewegung verbundenen, links engagierten Theologen, Walter Dirks und Helmut Gollwitzer, nach 1945 explizit zu Fragen von Engagement und Verantwortung im Hinblick auf den Nationalsozialismus und die bündische Jugend. Damit schufen sie, wie Benedikt Brunner darlegt, Diskussionsräume zur Vergangenheitsbewältigung, nicht zuletzt für die kritisch engagierte Jugend der 1960er Jahre in der katholischen wie auch in der evangelischen Kirche. »Erinnerungsdiskurse« als Medium der Selbsthistorisierung innerhalb bestehender Gemeinschaften stellen die drei Beiträge von Franziska Meier, Max Zeterberg und Michael Kubacki vor. Im Fall der Rezipienten von überliefertem Liedgut ist damit die »bündische Szene« insgesamt gemeint, die sich in gruppenübergreifenden Singerunden über die Liedauswahl verständigen muss und sich dazu bestimmter Liederbücher bedient; zeitgeschichtlich interessant ist die – von Meier herausgearbeitete – seit den 1980er Jahren ausdrückliche Ablehnung von HJ- oder NS-Liedgut in den am weitesten verbreiteten Liedersammlungen. Zeterberg problematisiert die nach 1945 von den evangelischen Pfadfindern in Berlin schnell angenommene Selbstidentifizierung mit anderen Opfern des
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Nationalsozialismus, die postuliert und argumentativ genutzt wurde, ohne dass dem ein Interesse an beziehungsweise eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte vorausgegangen wäre. Während sich dieser Jugendbund trotz vorhandener Vorläufer quasi neu erfand, stellte der Älterenkreis des »Freundeskreis der Artamanen« die Zeit vor 1933 in den Mittelpunkt seiner Arbeit, lieferte der Nachweis eigenständiger Arbeit auf dem Gebiet des Landdienstes in der Eigenwahrnehmung doch den besten Beweis für die vermeintlich unpolitische Ausrichtung des Artamanen-Bundes. Dass diese Arbeit letztlich untrennbar mit der Ideologie von Reich, Rasse, Raum und Volk verknüpft war, führte die Ehemaligen, wie Kubacki ausführt, letztlich zum »Widerspruch mit sich selbst«. Insgesamt öffnet der Band vielfältige und unterschiedliche Perspektiven auf ein Forschungsgebiet, das über die Geschichte der Jugendbewegung hinaus in systematischer Hinsicht den Blick einer Bewegung – oder genauer : der Angehörigen einer Bewegung – auf sich selbst problematisiert und insofern auch Ansätze für den Vergleich mit anderen Bewegungen bietet: Relativierung des (Jugend-) Erlebnisses durch die weitere persönliche und gesellschaftliche Entwicklung, Formierung von Älterenkreisen als Erinnerungsgemeinschaften, Einordnung und Bewertung der NS-Zeit als zentrale Frage, Bedeutung objektivierender Fragestellungen – aktuelle Forschungsfelder, zu denen das Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung wissenschaftlich argumentierend und perspektivisch ausgerichtet auf die historische Jugendbewegung Position bezieht. Die Herausgeber danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre anregenden Texte und die angehme Zusammenarbeit. Im September 2018
Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber
Eckart Conze
Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945
I. Das Thema der Archivtagung 2017 »Historisierung und Selbsthistorisierung der deutschen Jugendbewegung nach 1945« wäre vor einigen Jahren noch ein heißes Eisen gewesen.1 Denn schon die Frage nach einer möglichen Selbsthistorisierung der Jugendbewegung wäre von manchen als von Skandalisierungs- und Entlarvungsabsichten motiviert verurteilt und abgelehnt worden. Selbsthistorisierung lässt sich ja zum einen durchaus verstehen als der Versuch ehemaliger Angehöriger der Jugendbewegung vor 1933, die historische Bedeutung der Jugendbünde der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und ihrer Mitglieder, insbesondere ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, darzulegen, und dies nicht selten in individuell, aber auch gruppenbezogen rechtfertigender, zuweilen sogar apologetischer Absicht. Selbsthistorisierung kann aber auch den Versuch bündischer Gruppen nach 1945 meinen, sich in die Tradition der historischen Jugendbewegung zu stellen. Selbsthistorisierung ist in diesem Sinne eine Ausformung von Historisierung, der Vergeschichtlichung der Jugendbewegung der Zeit vor 1933 und damit der Entstehung beziehungsweise Konstruktion von Geschichtsdeutungen. Ihr Skandalpotential hat die Thematik heute weitestgehend verloren. Das Thema der Tagung hat längst Eingang in die Forschung, insbesondere die historische Forschung gefunden, und gerade in den letzten Jahren zu einer ganzen Reihe wichtiger Publikationen geführt.2 Erwähnt seien pars pro toto die Arbeiten von Jürgen Reulecke und Barbara Stambolis über Jugendbewegungs1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um den geringfügig überarbeiteten Eröffnungsvortrag zur Archivtagung auf Burg Ludwigstein 2017. Der Vortragsduktus wurde weitgehend beibehalten. Dr. Susanne Rappe-Weber, der Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung, mit der zusammen ich die Tagung organisieren konnte, und ihrem Team danke ich für die ausgezeichnete Kooperation bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie bei der Herausgabe dieses Bandes. 2 S. den Forschungsüberblick bei Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 11–17.
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geschichte als Generationengeschichte, über jugendbewegte und jugendbewegt geprägte Biografien sowie über die Meißner-Treffen,3 die Untersuchungen von Thomas Kohut und Ann-Katrin Thomm über die Freideutschen und den Freideutschen Kreis,4 aber auch die Studien von Christian Niemeyer über die »dunklen Seiten der Jugendbewegung« und jugendbewegte Geschichts- und Erinnerungspolitik nach 1945.5 Letztere haben zwar zum Teil heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgelöst, sind aber trotz ihres zum Teil enthüllend-skandalisierenden Duktus und ihrer Idee »kriminalistischer Geschichtsforschung«, so Niemeyer über Niemeyer, wichtige Beiträge in unserem Zusammenhang.6
3 Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte (Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 5/2008), Schwalbach 2009; Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013; Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach, 50 Jahre davor. Der Meißnertag 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9/2012–2013), Göttingen 2014; Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis (Hg.): 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 18), Göttingen 2015. 4 Thomas Kohut: Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Erlebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen 2017 (engl.: A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven/London 2012); Ann-Katrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 16), Schwalbach 2010; s. aber auch Heinrich Ulrich Seidel: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 9), Witzenhausen 1996. 5 Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013; ders.: Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim 2015. 6 Ders.: Seiten (Anm. 5), S. 29. S. ansonsten neben den in Anm. 5 genannten Büchern u. a. die folgenden Aufsätze von Christian Niemeyer : Jugendbewegung und Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2005, 57. Jg., S. 338–365; ders.: Kam Hitler aus dem Nichts? – oder : Ein Fall von Reflexionsabwehr : Zur theoriepolitischen Bedeutung der Dokumentation der Jugendbewegung von Werner Kindt für die geisteswissenschaftliche (Sozial-)Pädagogik, in: Volker Kraft (Hg.): Zwischen Reflexion, Funktion und Leistung. Facetten der Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn 2007, S. 31–67; ders.: Werner Kindt in seiner Eigenschaft als Chronist der Jugendbewegung. Neue Befunde aus (quellen-)kritischer Perspektive, in: Gisela Hauss, Susanne Maurer (Hg.): Migration, Flucht und Exil im Spiegel der Sozialen Arbeit, Bern u. a. 2010, S. 227–245; ders.: 100 Jahre Meißnerformel – aber eben auch: 100 Jahre Antisemitismusskandal, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 2013, 11. Jg., S. 263–291; ders.: Wieviel Kritik verträgt die Jugendbewegung eigentlich?, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2013, 11. Jg., S. 416–438; ders.: Vom Ersten Weltkrieg und Zweiten – vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Ein Problemaufriss über ›vergessene‹ Zusammenhänge, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 2014, 12. Jg., S. 277–295; ders.: Jugendbewegung, völkische Bewegung, Sozialpädagogik. Über vergessen gemachte Zusammenhänge am Beispiel der Darstellung der Artamanenbewegung in der Kindt-Edition, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Ju-
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Das Thema bleibt wichtig, und es ist auch richtig und gerade vor dem Hintergrund der Debatten der letzten Jahre ein klares Signal, dass das Archiv der Jugendbewegung sich der Thematik nun in Gestalt einer Jahrestagung angenommen hat. Diese schließt in gewisser Weise an die beiden Jahrestagungen von 1979 und 1980 an, in denen es um das Thema »Jugendbewegung und Nationalsozialismus« ging.7 Was die Tagung des Jahres 2017 von jenen früheren unterscheidet, ist nicht zuletzt ihr breiter Zugriff, der die Frage nach Historisierung und Selbsthistorisierung der Jugendbewegung nicht nur als Thema der Jugendbewegungsgeschichte im engeren Sinne versteht, sondern sie – das deuten schon die Titel der in diesem Band versammelten Aufsätze an – in weitere politische, gesellschaftliche und sozialkulturelle Bezüge stellt. Darüber hinaus thematisiert und historisiert das Archiv der deutschen Jugendbewegung mit dieser Tagung auch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, sich selbst als fraglos zentralen und einflussreichen Akteur in der Erinnerungs- und Gedächtnisproduktion der Jugendbewegung, für ihre Historisierung und Selbsthistorisierung. Der Tagung ging es nicht primär um eine historiografiebezogene Beschäftigung mit der geschichtlichen Erforschung der Jugendbewegung und den Bildern, welche die Literatur über nunmehr gut ein Jahrhundert jeweils zeichnete. Denn die Geschichtsschreibung der Jugendbewegung und die zumindest wissenschaftsaffine Beschäftigung mit ihr sind fast so alt wie die Jugendbewegung selbst. Freilich hat auch die Auseinandersetzung mit dieser Forschungs- und damit Historisierungsentwicklung ihre Bedeutung. Sie müsste, um das nur mit wenigen Titeln – wiederum pars pro toto – anzudeuten und ohne sich mit den Werken und ihren Autoren näher zu beschäftigen, einsetzen mit den Büchern von Hans Blüher,8 Karl Korn,9 Knud Ahlborn,10 Adolf Grabowsky,11 Otto Stählin,12 Waldemar Gurian,13 Charlotte Lütkens,14 Elisabeth Busse-Wilson,15 Else
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gendbewegung, Antisemitismus und radikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart, Berlin 2014, S. 195–220. S. dazu die Beiträge in: Jahrbuch des Archivs der Jugendbewegung, 1980, Bd. 12 und 1981, Bd. 13. Zusammenfassend Winfried Mogge: »Der gespannte Bogen«. Jugendbewegung und Nationalsozialismus: Eine Zwischenbilanz, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1981, Bd. 13, S. 11–34. Zwei Tagungsberichte, die freilich auch, wenn nicht primär als Quellen, auch als biografische Quellen, zu lesen sind, verfasste Karl Vogt: Ludwigsteiner Archivtagung 1979, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1980, Bd. 12, S. 268–271; ders.: Ludwigsteiner Archivtagungen 1979 und 1980, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1981, Bd. 13, S. 295–304. Hans Blüher : Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde., Berlin 1912. Karl Korn: Die bürgerliche Jugendbewegung, Berlin 1910. Knud Ahlborn: Die Freideutsche Jugend, München 1917. Adolf Grabowski: Die freideutsche Jugend, Gotha 1920. Otto Stählin: Die deutsche Jugendbewegung. Ihre Geschichte, ihr Wesen, ihre Formen, Leipzig 1922.
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Frobenius16 und Kurt Grube17. Sie müsste fortsetzen mit den nationalsozialistisch durchdrungenen Arbeiten beispielsweise von Luise Fick,18 sich dann dem Buch des amerikanischen Soziologen und Besatzungsoffiziers Howard Becker »German Youth Bound or Free« von 1946 zuwenden,19 der Dissertation von Michael Jovy von 1952,20 den frühen Arbeiten von Arno Klönne aus den 1950er Jahren,21 den kritischen, zum Teil Aufsehen erregenden Büchern von Harry Pross,22 Karl Otto Paetel23 und Walter Laqueur24 aus den Jahren um 1960, deren Kritik in den Arbeiten von Michael Kater aus den 1970er Jahren noch einmal eine Fortsetzung und Zuspitzung fand.25 Zu verweisen wäre dann auch auf die beiden schon erwähnten Jahrestagungen des Archivs von 1979 und 1980 und die daraus hervorgegangenen Tagungsbände26 sowie eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in den 1980er Jahren; genannt seien nur die Namen Matthias von Hellfeld,27 Irmtraud Götz von Olenhusen,28 Gudrun Fiedler29 und Reinhard 13 Waldemar Gurian: Die deutsche Jugendbewegung, Habelschwerdt 1923. 14 Charlotte Lütkens: Die deutsche Jugendbewegung, Frankfurt a. M. 1925. 15 Elisabeth Busse-Wilson: Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925. Zu Busse-Wilson s. neuerdings Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim 2017. 16 Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927. 17 Kurt Grube: Zur Charakterologie der Jugendbewegung, Halle 1931. S. zu Grube den Beitrag von Reinhard Mehring in diesem Band. 18 Luise Fick: Die deutsche Jugendbewegung, Jena 1939. 19 Howard Becker : German Youth – Bond or Free?, New York 1946 (dt.: Vom Barette schwankt die Feder. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Wiesbaden 1949). 20 Michael Jovy : Deutsche Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Versuch einer Klärung ihrer Zusammenhänge und Gegensätze [1952], Münster 1984. 21 Arno Klönne: Jugendbewegung als Vorspann der Reaktion, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung, 1. 11. 1953, S. 265–268; ders.: Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Frankfurt a. M. u. a. 1955. 22 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Wien 1964; s. aber auch Pross’ Dissertation: Nationale und soziale Prinzipien in der Bündischen Jugend, Diss. Heidelberg 1949. 23 Karl O. Paetel: Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen, Bad Godesberg 1961. 24 Walter Laqueur : Young Germany. A History of the German Youth Movement, London 1962 (dt.: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962). 25 Michael H. Kater : Bürgerliche Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland 1926–1939, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1977, 17. Jg., S. 127–174; ders.: Die Artamanen. Völkische Jugend in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 1971, 213. Jg., S. 577–638. 26 S. o. (Anm. 7) sowie Walter Sauer (Hg.): Rückblicke und Ausblicke. Die deutsche Jugendbewegung im Urteil nach 1945, Heidenheim 1978. 27 Matthias von Hellfeld: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930–1939 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 3), Köln 1987. 28 Irmtraud Götz von Olenhusen: Jugendreich, Gottesreich, Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik, 1928–1933 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 2), Köln 1987.
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Preuß30 oder – in eher erziehungswissenschaftlicher Perspektive – Hermann Giesecke.31 Neben den bereits genannten Arbeiten von Stambolis, Reulecke, Kohut, Thomm und Niemeyer sei schließlich auch das kürzlich erschienene Buch von Rüdiger Ahrens über die »Bündische Jugend« (2015) angeführt, eine zugleich quellengesättigte und synthetisierende Arbeit, die geleitet ist von der Frage nach dem Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus und vor diesem Hintergrund präzise nach der Rolle der Jugendbewegung innerhalb des »nationalen Lagers« vor 1933 fragt.32 Im Hinblick auf das Tagungsthema markiert diese Literatur aber nur einen Teilaspekt. Denn hinzu trat das Interesse an den vielfältigen Prozessen und Formen der Selbsthistorisierung, also der Entstehung und Produktion von Geschichtsbildern und Geschichtsdeutungen in der bündisch-jugendbewegten Szene nach 1945 und bei Angehörigen der ehemaligen Jugendbewegung. Das lässt sich mit Blick auf einzelne Gruppen und Bünde der Zeit nach 1945 erforschen, aber auch mit Blick auf bestimmte Themen, beispielsweise das Verhältnis von Nation und Europa. Die Tagung hat versucht, Gruppen und Angehörige der Jugendbewegung einzubeziehen, die im Mainstream der Forschung oftmals vernachlässigt werden. Das gilt für die jüdische Jugendbewegung, der sich zwei Beiträge zuwenden; es gilt auch für die »linke« Jugendbewegung beziehungsweise für linke Angehörige der Jugendbewegung. Wir hätten gern noch einen Beitrag über die weibliche Jugendbewegung gewonnen, gerade auch im Hinblick auf Geschichtsbilder und Selbstwahrnehmungen nach 1945; das ist leider nicht gelungen.
II. Am 27. Oktober 1956 strahlte der Südwestfunk eine Sendung von Kurt Sontheimer über »Die antidemokratischen Tendenzen in der Jugendbewegung« aus. Der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker arbeitete damals an seiner Habilitationsschrift über das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik, die 1962 als Buch erschien und die bis heute als Referenzwerk zur politischen Kultur der Weimarer Republik und zu den ideellen Voraussetzungen des Na-
29 Gudrun Fiedler : Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 6), Köln 1989. 30 Reinhard Preuß: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 8), Köln 1991. 31 Hermann Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, München 1981. 32 Ahrens: Jugend (Anm. 2).
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tionalsozialismus gelten kann.33 Der Bündischen Jugend der 1920er und frühen 1930er Jahre attestierte Sontheimer in seinem Radiobeitrag, »in ihren Zielen und Idealen von einem Bekenntnis zum demokratischen Staat weit entfernt« gewesen zu sein. Die Jugendbewegung, so Sontheimer, habe sich in »Opposition zur Republik« befunden. »Sie verabscheute an ihr das liberale demokratische Prinzip, sie huldigte einem Aesthetismus (sic!) und utopischem Schwärmertum, das sie ideologisch in eine außerordentliche Nähe zum Nationalsozialismus brachte (…).« (…) »Die Bünde haben eine Gesinnung und ein Menschentum geprägt, das für die Verführungen des Nationalsozialismus besonders anfällig sein musste. (…) Sie haben für sich ein gerüttelt Maß Verantwortung für die unheilvollen letzten Jahre der Republik und auch für das, was auf sie folgte, zu tragen. Dass in der Jugend damals soviel echtes und ehrliches Streben vorhanden war, macht die Sache nur noch tragischer, aber nicht entschuldbar.«34 In der FAZ äußerte sich der Publizist Harry Pross knapp zwei Jahre später ganz ähnlich. Pross, der schon Ende der 1940er Jahre mit einer Studie über »Nationale und soziale Prinzipien in der Bündischen Jugend« promoviert worden war,35 entwickelte ein Narrativ, er zeichnete das Bild eines Irrwegs, der lange vor 1933 begonnen habe: »Der Wandervogel von 1901 floh die Stadt und die Zivilisation, der Freideutsche von 1913 wollte die Totalität des Charakters, der Bündische von 1923 machte sich auf die Suche nach dem ›Reich‹, der Jungenschafter von 1930 versuchte die Totalität der Gemeinschaft, und der Großdeutsche von 1933 wollte um jeden Preis mitmachen, fürchtete sich davor, ausgeschaltet zu werden aus dem ›großen Schicksal des Volkes‹, das offensichtlich anhub.«36 Vom »Gift der blauen Blume« sprach Pross wenig später in einem Beitrag für den Hessischen Rundfunk, das die Jugend intoxiert und für die Politik – für demokratisch-liberale Politik – verdorben habe.37 In seiner breit rezipierten und ungeheuer einflussreichen Quellensammlung »Die Zerstörung der deutschen Politik« (erstmals 1959 erschienen und Mitte 1961 bereits 78.000 mal gedruckt) zeichnete Pross ein ähnliches Bild, ebenso in seinem 1964 veröffentlichten Buch »Jugend – Eros – Politik«.38 Fast zeitgleich, 1962, veröffentlichte der in den 1930er Jahren emigrierte Historiker Walter Laqueur seine Studie »Young Germany. A History of the 33 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962. 34 Ders.: Die antidemokratischen Tendenzen in der Jugendbewegung (Radio-Vortrag, SWR, 27. 10. 1956), Abschrift in: AdJb, A 200, Nr. 206. 35 Pross: Prinzipien (Anm. 22). 36 Harry Pross: Wandervogel, Jungenstaat und Staatsjugend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 07. 1958, S. 7. 37 Ders.: Das Gift der blauen Blume. Eine Kritik der Jugendbewegung (Radio-Sendung, HRAbendstudio, 2. 5. 1961), Abschrift in: AdJb, A 200 (Texte, Manuskripte und Aufsätze). 38 Ders.: Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871–1933, Frankfurt a. M. 1959 u. ö.; ders.: Jugend (Anm. 22).
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German Youth Movement«, die noch im gleichen Jahr auch in deutscher Übersetzung erschien.39 Laqueur betonte den Antirationalismus der Jugendbewegung, den er als die Ursache dafür ansah, dass ihre Mitglieder »von philosophischen Scharlatanen und politischen Demagogen so leicht in die verschiedensten Richtungen gelenkt werden konnten«. Für ihn war die Jugendbewegung im Deutschland des 20. Jahrhunderts eine »Fehlleistung«, wenn auch eine »großartige«.40 Wir wissen heute ziemlich genau, wie sehr die Thesen und Publikationen von Pross, Laqueur, Sontheimer und einigen anderen in den Jahren um 1960 dazu beitrugen, dass aus dem Freideutschen Kreis heraus, jenem Verbund und Netzwerk ehemaliger Angehöriger der historischen Jugendbewegung, und in Verbindung mit dem Archiv der Jugendbewegung das Projekt einer Dokumentation der Geschichte der Jugendbewegung Gestalt annahm.41 Zwar war die Idee einer solchen Dokumentation schon älter, sie reichte in die frühen 1950er Jahre zurück, aber sie gewann doch durch die kritischen Veröffentlichungen und ihr mediales Echo an Dynamik. Im Sommer 1958 errichtete der Freideutsche Kreis Hamburg das »Gemeinschaftswerk Dokumentation der Jugendbewegung«, das unter der Federführung von Werner Kindt bis 1974 die drei bis heute wichtigen Quellenbände zur Geschichte der Jugendbewegung herausbrachte: die »Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung« (1963), den Band »Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919« (1968) sowie den umfangreichsten, fast 2.000-seitigen Band »Die deutsche Jugendbewegung 1920–1933. Die bündische Zeit« (1974).42 Träger des Gemeinschaftswerks waren der Freideutsche Kreis und die Vereinigung Jugendburg Ludwigstein. Die Dokumentation war der gewichtigste Teil des Versuchs einer Selbsthistorisierung der deutschen Jugendbewegung durch ehemalige Angehörige ihrer Gruppen und Bünde. Stärker als zunächst geplant, erhielt die Dokumentation die Funktion, der Kritik an der Jugendbewegung und dem Vorwurf, Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein, entgegenzuwirken. Ann-Katrin Thomm hat von einem »Projekt der Öffentlichkeitsarbeit für die bürgerliche Jugendbewegung« gesprochen und gezeigt, dass die Dokumentation ohne die Debatten 39 Laqueur : Germany (Anm. 24). 40 Ebd., S. 260f. (zit. nach der deutschen Ausgabe von 1978). 41 S. dazu u. a. Thomm: Jugendbewegung (Anm. 4), S. 305–368, sowie Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 19–63, ergänzend auch den Beitrag von Christoph Nonn in diesem Band. 42 Werner Kindt: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung (Dokumentation der Jugendbewegung 1), Düsseldorf u. a. 1963; ders.: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung (Dokumentation der Jugendbewegung 2), Düsseldorf u. a. 1968, ders.: Die deutsche Jugendbewegung, 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften (Dokumentation der Jugendbewegung 3), Düsseldorf u. a. 1974.
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und die Kritik der Jahre um 1960 vermutlich gar nicht zustande gekommen wäre.43 Immer wieder ist in letzter Zeit auch von den Bemühungen eines »Erinnerungskartells« die Rede gewesen.44 Ganz so einfach ist die Sache nicht. Zwar ist es richtig, dass vor allem Werner Kindt darauf zielte, der Kritik und den Vorwürfen ein anderes Bild entgegenzusetzen, das die Jugendbewegung insgesamt und viele ihrer Protagonisten entlastete. Für Kindt bedeutete der Anspruch »wissenschaftlicher Objektivität«, von dem immer wieder die Rede war, in erster Linie, die Quellen sprechen zu lassen, und zwar so sprechen zu lassen, dass sie ein bestimmtes Bild der Jugendbewegung vor 1933 ergaben: das Bild einer unpolitischen Jugend, einer Jugend, die sich politischer Reflexionen enthielt, die sich bewusst nicht in die politischen Auseinandersetzungen der Zeit einmischte und stattdessen selbstbezogen der Idee eines »Jugendreichs« anhing, eines Reichs weit weg von den politischen Realitäten der 1920er und frühen 1930er Jahren. Die Jugendbewegung sei dann gewissermaßen in die Strudel des Untergangs der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Machtübernahme geraten und in diesen Strudeln untergegangen.45 Aus dem Freideutschen Kreis selbst heraus stieß Kindt mit seinen Absichten auf Widerspruch. Friedrich Hoffmann, Obmann des Freideutschen Kreises, warnte davor, in der »Abwehr von Fehlinterpretationen« den Hauptzweck der Dokumentation zu sehen. Er schrieb an Kindt: »In Deinen Ausführungen tritt (…) der Gedanke viel zu stark hervor, dass die geplante Sammlung im wesentlichen zur Verteidigung gegen falsche Darstellungen dienen soll. Eine solche Apologie der Jugendbewegung ist aber durchaus nebensächlich und kann jedenfalls nicht zur Begründung einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen aufgebauten Dokumentensammlung dienen.«46 Am Ende jedoch bestimmte Kindt als federführender Herausgeber über den Inhalt, die Gestaltung und damit auch die Wirkungsabsicht der Dokumentation, deren dritter Band mehr oder weniger mit dem 30. Januar 1933 endet und lediglich noch einen Artikel aus der Feder Werner Kindts selbst vom 29. Juni 1933 abdruckt, in dem es hieß, die »Führer« der Bündischen Jugend hätten sich aus Verantwortungsbewusstsein dafür entschieden, sich an der »Gestaltung der 43 Thomm: Jugendbewegung (Anm. 4), S. 322. 44 Ebd.; vgl. auch in allgemeinerer Perspektive Angelika Schaser (Hg.): Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945, Bochum 2003. 45 S. in diesem Duktus und dieser Argumentation beispielsweise Werner Kindt: Legenden über die Jugendbewegung. Einspruch gegen einige Veröffentlichungen von Harry Proß (sic!), in: Das Sonntagsblatt. Die christliche Wochenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur vom 10. 07. 1960, S. 7, sowie ders.: Begründung und Plan für die Errichtung eines Gemeinschaftswerkes »Dokumentation der Jugendbewegung« (März 1959), in: AdJb, A 200, Nr. 85. 46 Brief Friedrich Hoffmann an Werner Kindt (30. 03. 1959), in: AdJb, A 200, Nr. 85.
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Volksjugend« zu beteiligen. Von der »großen nationalsozialistischen Volksbewegung« war bei ihm die Rede als dem »Ort, wo die Jugend ihren läuternden Umschmelzungsprozess erlebt, wie sie ihn einst in den stillen Wäldern am Lagerfeuer, später in den Schlachten des Weltkriegs erfuhr«.47 Der Kommentar zu Kindts Text, der einzige in dem Band, der eine solche kommentierende Einleitung erhielt, stammte aus der Feder des Historikers Günther Franz, der der für die Herausgabe der Dokumentation gebildeten Wissenschaftlichen Kommission angehörte. Franz, seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit 1935 der SS, erklärte nicht nur Kindts Text, sondern auch die zahllosen anderen bündischen Bekenntnisse zum Nationalsozialismus als »ein Beispiel der Anpassung an übermächtige Verhältnisse und des Willens zum Überleben als ›Gewissen der Nation‹«.48 Die Positionierungen Kindts oder auch Knud Ahlborns in der nationalsozialistischen Schrift »Deutsche Jugend. 30 Jahre einer Bewegung«, herausgegeben von Will Vesper, versehen mit einem Vorwort von Hans Friedrich Blunck und redigiert von Werner Kindt, aus dem Jahr 1934 überging die Dokumentation.49 Andere Stellungnahmen aus den ersten Monaten des Jahres 1933 und auch vor dem Hintergrund der Auflösung der Bünde und ihrer Überführung in die HJ, die zum Teil eine viel deutlichere Sprache sprachen als der Artikel Kindts, blieben ebenfalls unberücksichtigt. Beispielsweise jene Erklärung, mit der der schlesische Freischar-Führer und Leiter des Boberhauses in Löwenberg Hans Raupach, als Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Osteuropas an der Universität München und später auch Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ebenfalls Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission, im März 1933 zusammen mit anderen Freischar-Führern in die NSDAP eingetreten war.50 Der Abdruck dieser »März-1933-Erklärungen«, so Kindt, komme wegen der Gefahr der auf diese Weise gleichsam feierlichen Bestätigung »der mehr oder minder böswilligen Ausdeutung der bündischen Geschichte durch H. Proß (sic!), Howard Becker u. a.« nicht in Frage.51 Raupach kam in dem Band dennoch zu Wort, und zwar als Verfasser der Schlussbetrachtung am Ende der Gesamtedition.52 47 Werner Kindt: Wille und Werk, Pressedienst der deutschen Jugendbewegung, 29. 06. 1933, abgedruckt in: ders. (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 42), S. 1740f. 48 Ebd., S. 1740. Vgl. dazu auch Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 41f. Zu Günther Franz s. u. a. Wolfgang Behringer : Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992), in: Winfried Schulze, Otto G. Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 114–141; Ernst Klee: Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2005, S. 161; sowie Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 33f. 49 Werner Kindt: Kriegswandervogel und Nachkriegswandervogel, in: Will Vesper (Hg.): Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung, Berlin 1934, S. 64–102. 50 S. dazu Paetel: Jugendbewegung (Anm. 23), S. 161. Vgl. auch mit apologetischer Tendenz (und mit einem Vorwort von Hans Raupach): Martin Greiff: Das Boberhaus in Löwenberg/ Schlesien 1933–1937. Selbstbehauptung einer nonkonformen Gruppe, Sigmaringen 1985. 51 Zit. nach: Niemeyer : Seite (Anm. 5), S. 41.
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Die öffentliche Wahrnehmung der drei Bände war gemischt.53 War sie im Hinblick auf den Grundschriften-Band von 1964 noch einigermaßen positiv, auch wenn bereits hier die Zurückhaltung im Hinblick auf das Verhältnis Jugendbewegung – Nationalsozialismus moniert wurde, beispielsweise von Arno Klönne.54 Andere Rezensenten kritisierten die überbordende Materialfülle und sprachen von »Verschleierung« oder bemängelten die starke Kürzung der Quellentexte.55 Das Echo auf den Band von 1974 zur Bündischen Zeit bis 1933 war noch kritischer. Nicht nur betonten mehrere Rezensionen das Problem der Befangenheit der Urheber, sondern sie wiesen auch auf die Lückenhaftigkeit der Dokumentation hin – und das nicht nur im Hinblick auf das Verhalten der Bünde und vieler ihrer Führer im Jahre 1933. Die Nähe der bürgerlichen Jugendbewegung zum völkischen Denken der 1920er Jahre werde kaum gestreift: »Bei der Auswahl der Dokumente (…) vermisst man einiges, was für die Jugendbewegung nicht so schmeichelhaft ist«, hieß es in der Zeitung »Das Parlament«.56 Insofern verfehlte die Edition das nicht zuletzt von Werner Kindt verfolgte Ziel, die Jugendbewegung unangreifbar zu machen gegen die Kritik, wie sie von Harry Pross oder später, in den 1970er Jahren, von Michael Kater erhoben wurde. Gleichwohl trug die Dokumentation, deren Zustandekommen gerade auch im Hinblick auf die editorische Praxis, auf Textauswahl, Textkomposition, Leerstellen und Kürzungen, noch nicht hinreichend detailliert untersucht worden ist, dazu bei, die Erinnerung an die Jugendbewegung und auch ihre geschichtswissenschaftliche Erforschung zu kanalisieren. Das gilt letztlich bis heute, eben weil die Dokumentation auf vielen tausend Seiten einen vergleichsweise leichten Zugang zu wichtigen Quellen der Jugendbewegung bietet und deswegen nach wie vor als Referenzwerk betrachtet und genutzt wird.
III. Fraglos hatten – und haben – Historisierung und Selbsthistorisierung der Jugendbewegung einen, wenn nicht den entscheidenden Bezugspunkt in der Frage nach dem Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Diese Frage 52 Hans Raupach: Lebensformen, Führungsstil und Aktivitätsspielraum der deutschen Jugendbünde, in: Kindt: Jugendbewegung (Anm. 42), S. 1742–1752. 53 S. dazu Thomm: Jugendbewegung (Anm. 4), S. 359–368. 54 Arno Klönne: Zur Geschichte der Jugendbewegung, in: Das Parlament vom 04. 12. 1963. 55 Werner Helwig: Die Jugendbewegung in ihrem Widerspruch, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 1964, Nr. 18, S. 288, sowie Heinz-Rudolf Feller : Zur Jugendbewegung, in: Pädagogische Provinz, 1966, Nr. 20, S. 198; beide zit. nach: Thomm: Jugendbewegung (Anm. 4), S. 361f. 56 Franz Herre: Die bündische Jugend, in: Das Parlament, 25. 10. 1975, zit. nach: Thomm: Jugendbewegung (Anm. 4), S. 366.
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ist nicht identisch mit dem Vorwurf, die Jugendbewegung habe dem Nationalsozialismus den Weg bereitet. Von einer falschen, einer falsch gestellten Frage hat Jürgen Reulecke in diesem Zusammenhang schon vor über 20 Jahren gesprochen.57 Walter Laqueur hat freilich schon 1962 dafür plädiert, in der Auseinandersetzung zwischen dem Vorwurf, die Jugendbewegung habe dem Nationalsozialismus zum Aufstieg verholfen, und der Position, die Jugendbewegung treffe keinerlei Verantwortung für die Machtübernahme der Nationalsozialisten, nicht einfach die Wahrheit in der Mitte zu vermuten. Die Sache sei viel komplexer.58 Es ist Teil dieser Komplexität, dass sich die Geschichte der Jugendbewegung nicht in der Geschichte ihrer Bünde und Gruppen erschöpft, sondern dass zu ihr auch die vielen individuellen jugendbewegten Biografien gehören, die am 30. Januar 1933 oder mit der Auflösung der Bünde wenige Monate später nicht einfach endeten. Eine kritische Historisierung der Jugendbewegung erfordert daher auch die Frage nach den Biografien von Jugendbewegten in der Zeit des Nationalsozialismus, also nicht nur vor, sondern auch nach 1933. Zwar ist es kaum zu bestreiten, dass eine jugendbewegte Sozialisation, wie Jürgen Reulecke es einmal formuliert hat, eine durchaus bemerkenswerte Zahl von jungen Menschen auch zur Opposition gegen das Regime bis hin zum offenen Widerstand befähigt hat.59 Aber das ist doch nur die eine Seite der Medaille. Und so verständlich und nachvollziehbar es ist, dass sich ehemalige Angehörige der Jugendbewegung in der Zeit nach 1945 in ihrer Erinnerung und in dem Bild, das sie von der Jugendbewegung – und damit von sich selbst – entwarfen, auf solche Biografien bezogen und auch in der Öffentlichkeit auf sie verwiesen, so deutlich ist doch auch, dass es nicht vor, sondern in der NS-Zeit auch ganz andere jugendbewegte Biografien gab, dass viele Jugendbewegte nicht nur der HJ oder der NSDAP beitraten, sondern auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Weise das NS-Regime unterstützten und sich dadurch – zum Teil schwer – belasteten. Gerade in einer biografischen und damit auch generationsbezogenen Perspektive auf die Geschichte der Jugendbewegung können wir diese Entwicklungen, die Frage nach individuellen Lebens- und, nicht zuletzt, Karriereverläufen in der NS-Zeit, die Frage nach nationalsozialistischer Belastung nicht ausklammern. Denn es waren die individuellen Biografien, die aus der Zeit der Jugendbewegung vor 1933 über die Jahre des Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit hineinführten. Insofern ist es eine wichtige Frage, was die Tatsache vielfacher NS-Belastung von Jugendbewegten für das Bild der Jugendbewegung, 57 Jürgen Reulecke: Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet? Vom Umgang mit einer falschen Frage, in: ders.: »Ich möchte einer werden so wie die …«. Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 151–176. 58 Laqueur : Jugendbewegung (Anm. 24), S. 9. 59 Reulecke: Jugendbewegung (Anm. 57), S. 153.
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so wie es sich nach 1945 entwickelte, bedeutete. Aber es geht auch um die Frage, wie Organisationen und Zirkel ehemaliger Jugendbewegter vom Freideutschen Kreis bis hin zur Vereinigung Burg Ludwigstein mit der NS-Vergangenheit und der NS-Belastung vieler ihrer Angehöriger umgegangen sind. Und obwohl die Forschung in jüngerer Zeit begonnen hat, diese Fragen zu stellen und sich nicht zuletzt in biografischen Studien der Thematik anzunähern, was auch einige Beiträge in diesem Band demonstrieren, stehen wir doch diesbezüglich noch ganz am Anfang. Claudia Selheim hat im Jahrbuch »Jugendbewegung und Jugendkulturen« des Archivs 2015 Erich Kulke einen Beitrag gewidmet, der zwischen 1959 und 1963 Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein war, aber sich bereits vorher im Älterenkreis Wandervogel Deutscher Bund und im Kronacher Bund engagierte, und darüber hinaus Treffen des Dörnbergbundes besuchte, zu dem sich 1953 ehemalige Angehörige des völkischen Bundes der »Adler und Falken« unter Führung des ehemaligen SS-Sturmbannführers Alfred Pudelko zusammengeschlossen hatten.60 Kulke, der 1933 die Position seines Bundes zum Nationalsozialismus als »geklärt« betrachtete, weil »ein wesentlicher Teil unserer Älteren an führender Stelle innerhalb der Partei ihr Betätigungsfeld gefunden« habe, machte in der NS-Zeit Karriere als Hausforscher und Siedlungsplaner im Stabsamt des Reichsbauernführers, wo sich der 1908 geborene Architekt nicht zuletzt mit der deutschen Siedlung im Osten befasste. Durchaus im Kontext des Generalplans Ost, jenem Zentraldokument der Neuordnung Ostmitteleuropas unter völkisch-rassistischen Vorzeichen, war es eine seiner Aufgaben, »den Einfluss deutscher Siedlungskultur im russischen Raum und im Baltikum zu untersuchen und die erforderlichen Planungen für die künftige deutsche Siedlung im Baltikum (…) auszuarbeiten«. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und der Entnazifizierung (»entlastet«) blieb Kulkes Denken »deutschbetont«, wie er selbst es immer wieder ausdrückte; erst in hohem Alter begann er selbstkritisch auf den »Irrweg von 1933 bis 1945« zurückzublicken, unterstrich aber weiterhin »das ehrliche Ringen von damals, als unsere Liebe, unser Herz Deutschland galt (…)«.61 Kulke hatte seit 1933 versucht, in die NSDAP einzutreten; aufgenommen wurde er jedoch erst 1937. Seine NS-Belastung ergibt sich nicht aus seiner Parteimitgliedschaft, wie die Zugehörigkeit zur NSDAP, wenn überhaupt, nur ein allererster Indikator für eine mögliche NS-Belastung sein kann. Daher darf sich die Antwort auf die Frage nach einer NS-Belastung – auch von ehemaligen Ju60 Claudia Selheim: Erich Kulke (1908–1997): Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg, Göttingen 2015, S. 253–272. Zu Alfred Pudelko s. Ahrens: Jugend (Anm. 2), S. 409f. 61 Ebd., S. 267–272 (dort auch die Zitate).
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gendbewegten – auch nicht in Hinweisen auf die NSDAP-Mitgliedschaft erschöpfen. Bei Parteieintritten vor 1933 liegt die Sache natürlich etwas anders. Leider konzentriert sich die in den letzten Jahren verstärkt geführte Diskussion über NS-Belastung immer wieder auf die Frage der Parteimitgliedschaft, oder, präziser gesagt: sie verengt sich auf diese Frage. Das freilich ist – und das gilt auch für unseren Kontext – hoch problematisch. Eine NSDAP-Mitgliedschaft oder die Zugehörigkeit zu anderen NS-Organisationen kann Ausgangspunkt biografischer Forschung sein; sie lässt in bestimmten Fällen, beispielsweise bei Mitgliedschaften schon vor 1933, auch Rückschlüsse auf politische Orientierungen zu. Aber konstituiert sie auch für sich genommen bereits eine NS-Belastung?62 In Übereinstimmung mit der jüngeren zeithistorischen Forschung ist es auch für unsere Zusammenhänge wichtig, sich von der Fixierung auf die NSDAPMitgliedschaft zu lösen und diese nicht zum zentralen Bewertungskriterium für die Frage nach nationalsozialistischer Belastung zu erheben. Die Frage nach der NSDAP-Zugehörigkeit war das entscheidende Kriterium der Entnazifizierung in den Jahren nach 1945. Es geht heute aber nicht um eine »zweite Entnazifizierung«. Das wäre nicht nur wissenschaftlich unergiebig, weil sich NS-Belastungen eben nicht notwendigerweise aus Parteimitgliedschaft ergeben haben oder an diese gebunden waren. Wir wissen von NS-Verbrechern, die der Partei nicht angehörten, wir wissen aber auch von Parteigenossen, die dem Regime ablehnend gegenüberstanden, es womöglich sogar bekämpften, und wir wissen von Parteimitgliedern, die den Nationalsozialismus erst und zum Teil enthusiastisch befürworteten und sich später von ihm abwandten. Solcher Komplexität trägt eine Überbewertung der NSDAP-Mitgliedschaft nicht ausreichend Rechnung. Das darf umgekehrt allerdings nicht dazu führen, die Zugehörigkeit zur NSDAP oder zu anderen NS-Organisationen nicht nur zu marginalisieren, sondern sogar völlig zu verschweigen, wie es die Kindt-Edition getan hat, die damit freilich in ihrer Entstehungszeit nicht alleine stand. Dennoch ist es bemerkenswert, dass in den Kurzbiografien der Dokumentation zwar 66 NSDAPMitglieder auftauchen, die Parteimitgliedschaft indes nur in sechs Fällen erwähnt wird.63 Wenn wir die Frage nach der NS-Belastung stellen, dann müssen wir auch diesen Begriff selbst, den Begriff der NS-Belastung, reflektieren. Wann können wir von einer nationalsozialistischen Belastung sprechen? Was macht eine solche Belastung aus? Das Kriterium der NSDAP-Mitgliedschaft deutet die 62 Zur Frage der NSDAP-Mitgliedschaft s. Wolfgang Benz (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009; Jürgen W. Falter (Hg.): Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP (1919–1945), Frankfurt a.M. 2016. 63 Vgl. Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 207.
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Schwierigkeiten bereits an. Der Begriff der NS-Belastung ist kein statisches Konzept. Er bezieht sich zum einen jenseits rein formaler Kriterien auf Denkund, vor allem, Verhaltensweisen in der Zeit des Nationalsozialismus, zum anderen aber auch darauf, wie bestimmte Handlungen in der NS-Zeit in den Jahrzehnten nach 1945 von den Betroffenen selbst, von ihrem unmittelbaren Umfeld und in der deutschen Gesellschaft allgemein wahrgenommen und bewertet wurden. Es geht also darum, den Belastungsbegriff zu verflüssigen und zu dynamisieren. Was galt unmittelbar nach 1945, nicht zuletzt im Prozess der Entnazifizierung, als NS-Belastung? Was nahm die deutsche Gesellschaft, was nahmen bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft in den 1950er/1960er Jahren als NS-Belastung wahr, was noch einmal zwei Jahrzehnte später, und was verstehen wir heute, in Wissenschaft und Öffentlichkeit, auch in Teilöffentlichkeiten, als NS-Belastung? Es macht einen großen Unterschied, ob man bereits die NSDAP-Mitgliedschaft als Belastung versteht oder erst eine strafrechtliche Verurteilung als Kriegsverbrecher.64 Nicht nur in der Vereinigung Burg Ludwigstein wusste man fraglos bereits in den 1950er Jahren um die NS-Vergangenheit Erich Kulkes und seine Biografie nach 1933, ebenso in seinem beruflichen Umfeld, beispielsweise in dem 1950 gegründeten »Arbeitskreis für Hausforschung«, in dem Kulkes NS-Vergangenheit allerdings erst um 1980 thematisiert und kritisiert wurde.65 Warum erst so spät? Solche Fragen führen weit über die individuelle Biografie hinaus. Sie lassen eine Spannung zwischen zeitgenössischer und zeithistorischer Perspektive erkennen, die man beklagen, die man aber auch wissenschaftlich fruchtbar machen kann. Die Archivtagung 2017 stand in einem zeithistorischen Forschungskontext, der sich über die Jahrzehnte entwickelt und verändert hat. Unser Verständnis von Belastung hat in dieser Perspektive auch zu tun mit unserem Bild der NS-Herrschaft. So impliziert die Idee eines ideologisch und politisch homogenen, zentralistisch von oben nach unten organisierten »Führerstaats« eine andere Vorstellung von NS-Belastung (von der Größe der Gruppe der Belasteten bis hin zur Art der Belastung) als die Thesen der jüngeren »Täterforschung« seit den 1990er Jahren, die die ideologische Geschlossenheit des NS-Regimes relativiert, gesellschaftliche Eigendynamiken und individuelle 64 Zur jüngeren Diskussion über den Belastungsbegriff, insbesondere über seine Historisierung, Dynamisierung und Verflüssigung, s. u.a. Sarah Wilder u. a.: Marburger Rathaus im Nationalsozialismus. Gleichschaltung und Selbstverwaltung im Dritten Reich und NS-Vergangenheit städtischer Mandatsträger nach 1945, Marburg 2018, S. 186–193; Sabine Schneider u. a.: Vergangenheiten. Die Kasseler Oberbürgermeister Seidel, Lauritzen, Branner und der Nationalsozialismus, Marburg 2015, S. 190–200; Hanne Leßau, Janosch Steuwer : »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?« Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 2014, Bd. 36, S. 30–51. 65 S. Selheim: Kulke (Anm. 60), S. 270f.
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Handlungsmotivationen betont und das breite Zusammenwirken unterschiedlichster Institutionen und Personen in einem verbrecherischen System herausstellt.66 Daher blicken wir heute anders auf Erich Kulke als vor 30, 40 oder 50 Jahren. Wir können, ja wir müssen uns aber vor diesem Hintergrund auch anderen Biografien, auch anderen Protagonisten nähern, nicht zuletzt jenen Personen, die in den 1950er und 1960er Jahren im Umfeld des Ludwigsteins und insbesondere des Archivs der Jugendbewegung wirkten. Das sei an dieser Stelle nur angedeutet. Über Günther Franz und seine NS-Karriere, die sich nicht in der SSMitgliedschaft erschöpfte, der in Sachen Erinnerungspolitik und Geschichtsbildproduktion im »Gemeinschaftswerk Dokumentation der Jugendbewegung« und als Vorsitzender der »Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung« (in der Nachfolge Theodor Schieders) eine Schlüsselposition einnahm, ist bereits viel gesagt worden. Günter Behrmann hat es als »verlogen« bezeichnet, dass ausgerechnet Franz in seinem Vorwort zum dritten Band der Kindt-Edition die Begrenzung der Edition auf die Zeit bis 1933 mit folgenden Sätzen begründete: »Der Inhalt aller drei Bände bestätigt, dass die Jugendbewegung, auch über den Einschnitt des Weltkriegsendes 1918 hinweg, sich Zeit ihres Bestehens der Meißner-Formel verpflichtet fühlte, ›nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten‹. Diese innere Freiheit war nach dem 30. Januar 1933, als der Umbau zu einem totalitären, diktatorischen Staat einsetzte, nicht mehr durchzuhalten. Damit ergibt sich ein organischer zeitlicher Abschluss der Dokumentation. Jede spätere Äußerung wird unfrei, ist zumindest durch politische Rücksichtnahmen bestimmt.« Dies aus der Feder des überzeugten Nationalsozialisten Franz!67 Das Archiv der Jugendbewegung selbst ist bislang in unserem Zusammenhang allenfalls am Rande berührt worden. Archive sind wichtige und mächtige geschichts- und erinnerungspolitische Akteure. In den Jahren 1954 bis 1975, für die Geschichtsbildproduktion nicht nur wegen der Dokumentation der Jugendbewegung entscheidende Jahre, war Hans Wolf der ehrenamtliche Leiter des Archivs (und in dieser Eigenschaft auch Angehöriger der Wissenschaftlichen Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung). Wolf, Jahrgang 1896, 66 Dazu im Überblick: Ulrich Herbert: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des »Holocaust«, in: ders. (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a. M. 1998, S. 9–66; vgl. aber auch Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a. M. 1991, oder Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reservepolizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993. 67 Günther Franz: Vorwort, in: Kindt: Jugendbewegung (Anm. 42), S. 5–7; Günter C. Behrmann: »Sie betreiben Trockenübungen«. Ein offener Brief an Christian Niemeyer, in: Conze, Rappe-Weber : Ludwigstein (Anm. 60), S. 389–404, hier 401.
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nach 1918 Angehöriger der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, eines Freikorps, das an der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands und der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts sowie am Kapp-Putsch 1920 beteiligt war, gehörte seit 1920 der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein an. Im Herbst 1933 trat er in die SS ein; im Zweiten Weltkrieg war er Soldat; danach bis 1948 in amerikanischer Internierung.68 Als Historiker betätigte er sich, ohne entsprechende Qualifikation, bereits als Herausgeber einer 1961 erschienenen Edition über den Wandervogel und wirkte dann, nach anfänglichem Zögern und gewissen Spannungen mit Werner Kindt, auch an der Vorbereitung der Dokumentation mit.69 In seiner historisch-editorischen Tätigkeit leitete ihn, wie er 1959 an Erich Kulke schrieb, »die Gefahr, dass gegenwärtige und künftige Generationen ein verzerrtes Bild von der Jugendbewegung erhalten. Man ist dabei [das bezog sich auf Pross, Sontheimer u. a.; E.C.], der Jugendbewegung den Nachruhm zu nehmen.«70 Wolf und sein historisch-archivalisches Wirken sind bislang nur sehr oberflächlich untersucht worden, wie auch insgesamt das Archiv auf dem Ludwigstein einer noch viel gründlicheren Untersuchung gerade auch in unserem thematischen Kontext bedarf. Die Überlieferung des Archivs selbst, die sich auf der Burg befindet, bietet hierzu einen reichen Materialfundus. Ein dritter Name sei schließlich in unserem Zusammenhang noch genannt: Karl Vogt, zwischen 1953 und 1959 Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, später lange Jahre Berater der Stiftung Jugendburg Ludwigstein und des Archivs sowie in den 1970er und 1980er Jahren Mitherausgeber des Jahrbuchs des Archivs der Jugendbewegung. Vogt, Jahrgang 1907, Wandervogel seit 1919, war nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern Angehöriger der SS, in der er bis 1944 zum Obersturmbannführer aufstieg. Ferner gehörte er dem Lebensborn e. V. an, dessen Mitgliedschaft seit 1936 für hauptamtliche SS-Führer verpflichtend war. Im Reichslandwirtschaftsministerium war Vogt für die »Reichsosthilfe« zuständig, also die Schaffung »arischer« Bauernstellen in den besetzten Ostgebieten (hier sind Parallelen zu Erich Kulke erkennbar); er war aber auch persönlicher Referent von Reichslandwirtschaftsminister Herbert Backe, der das Ministerium 1942 von Richard Walther Darr8 übernommen hatte. Ob er als Zugführer der 1943 in Italien eingesetzten SS-Leibstandarte Adolf Hitler an den Kriegsverbrechen der Division beteiligt war, muss offen bleiben.71 Als sich im Jahr 2000 im Kloster Altenberg bei Wetzlar der Freideutsche Kreis auflöste,72 blickte Vogt in einer langen Rede auf »100 Jahre Jugendbewegung« 68 S. Ahrens: Jugend (Anm. 2), S. 417. 69 Gerhard Ziemer, Hans Wolf (Hg.): Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961. 70 Brief Hans Wolfs an Erich Kulke, 04. 08. 1959, in: AdJb, A 211, Nr. 146. 71 Vgl. Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 27f. 72 Zu den Treffen des Freideutschen Kreises in Altenberg 1947 und 2000 s. Jürgen Reulecke:
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zurück und damit, zumindest indirekt, auch auf sein eigenes Leben, seine eigene Biografie. »Bündische Menschen konnte die Diktatur nicht brauchen, musste sie bekämpfen«, sagte der ehemalige SS-Offizier, und bezog sich dann auf Sebastian Haffner, der den Nationalsozialismus in der Steigerung »Leistungen, Erfolge, Irrtümer, Fehler, Verbrechen und Verrat« beschrieben habe. Menschen aus der Jugendbewegung hätten, so Vogt weiter, dabei Karl O. Paetel zitierend, »im Bezirk der persönlichen Verhältnisse einen untrüglichen Instinkt für gut und schlecht, für anständig und unanständig entwickelt«. Dennoch sei auf dem Leben dieser Menschen, die »kaum konkrete Schuld auf sich geladen haben (…) bis heute ein dunkler Schatten des Entsetzens und der Scham geblieben, in eine Zeit unvorstellbarer Gräuel und Verbrechen des eigenen Volkes verstrickt gewesen zu sein.«73
IV. Im Wechsel der Generationen, insbesondere mit dem Abtreten der »MeißnerGeneration«, manchmal auch als »Jahrhundert-Generation« bezeichnet,74 und im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, um in der Sprache der Gedächtnistheorie zu sprechen, ist ein distanzierterer und deshalb auch kritischerer Blick auf die Biografien und auf das Handeln von Angehörigen der Jugendbewegung vor und nach 1945 möglich geworden, der nicht nur die Frage nach Affinitäten zum Nationalsozialismus und zu völkischem Denken vor 1933 einschließt, sondern auch die Frage nach Lebensverläufen, Berufskarrieren und Belastungen in der Zeit des Nationalsozialismus sowie dem Umgang mit diesem Lebensabschnitt nach 1945. Der biografische und generationsbezogene Blick, der sich für die Beschäftigung mit der Jugendbewegung geradezu aufdrängt, muss sich zwingend und unausweichlich auf das ganze Leben derjenigen Menschen richten, die uns als Angehörige der Jugendbewegung interessieren. Dazu gehört freilich auch, dass wir die Möglichkeit biografischer Entwicklung und Veränderung, die Möglichkeit auch eines demokratischen Lernens und individueller Demokratisierung zumindest konzedieren müssen, ohne sie da»Wo stehen wir?« – Der Freideutsche Kreis 1947/48: Von Altenberg zum Ludwigstein, in: Conze, Rappe-Weber : Ludwigstein (Anm. 60), S. 273–288; vgl. aber auch, insbesondere zu dem Treffen 1947, Winfried Mogge: Der Altenberger Konvent 1947. Aufbruch einer jugendbewegten Generation in die Nachkriegsgesellschaft, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1993–1998, Bd. 18, S. 391–418. 73 Karl Vogt: Hundert Jahre Jugendbewegung – Versuch einer Bilanz. Vortrag zum Schlusskonvent des Freideutschen Kreises in Wetzlar am 3. Juni 2000, in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises, 2000, Nr. 249, S. 42–58, hier 54f. 74 Beispielsweise bei Reulecke: Kreis (Anm. 72), S. 273.
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durch gleich prinzipiell zu behaupten. Aber es hat solche Wandlungs-, Anpassungs- und Lernprozesse auch in unserem Kontext fraglos gegeben, und auch auf sie müsste sich unser Forschungsinteresse richten. Es geht dabei nicht darum, gleichsam die zweite Lebenshälfte mit der ersten zu verrechnen oder die Entwicklungen und Lebenswege der Zeit vor 1945 hinter den Lebensverläufen der Zeit nach 1945 verschwinden zu lassen, sondern es geht – in der Perspektive des gelebten Lebens – um die inneren Zusammenhänge, zu denen auch die biografischen bzw. biografiebezogenen Deutungen und Selbstdeutungen gehören, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden sollten. Die Gruppen und Zusammenschlüsse von Angehörigen der ehemaligen Jugendbewegung, vom Freideutschen Kreis über den Dörnberg-Bund bis hin zu den Zirkeln und Organisationen im Umfeld des Ludwigsteins und seines Archivs waren wichtige Orte individueller und gruppenbezogener biografischer Selbstdeutung, Selbstverständigung und Selbstvergewisserung. Die Selbsthistorisierung der Jugendbewegung wird man heute als einen abgeschlossenen Prozess betrachten können, der darum selbst analysiert und zum Gegenstand historischer Forschung gemacht werden kann und gemacht werden muss. Die Historisierung der Jugendbewegung hingegen, verstandenen als die Vergeschichtlichung von Vergangenheit und Erinnerung, ist ein unabgeschlossener, ein offener Prozess. Sie lässt sich in ihren früheren Phasen einerseits selbst untersuchen. Andererseits tragen wir als Historiker auch zur weiteren Historisierung bei. Es gehört zum Wesen einer solchen Historisierung, dass in ihren Dynamiken unterschiedliche Positionen, Einschätzungen und Urteile aufeinandertreffen und dass um Bewertungen und Interpretationen auch gerungen wird.
Kontinuität und Diskontinuität
Torsten Mergen
Selbstinszenierung und lyrische Geschichtsdeutung. Karl Christian Teut Müller und die Trucht
In den Diskussionen der Jahrzehnte nach 1945 scheinen sich wesentliche Führungsfiguren der bündischen Jugend argumentativ wie moralisch in der Defensive befunden zu haben, »denn schon bald nach dem Krieg waren in dichter Folge Beiträge erschienen, die der bündischen Jugend ganz im Gegensatz zur Interpretation ihrer Protagonisten eine starke Rechtstendenz attestierten.«1 Diese Communis Opinio prägt bis heute auch den Umgang mit der bündischen Führungsfigur Karl Christian Müller (alias Teut oder Teut Ansolt):2 1998 erschien erstmals das Lexikon »Mann für Mann« des Hamburger Historikers BerndUlrich Hergemöller ;3 darin formulierte der (selbsternannte) Nestor der biografischen Männerforschung unter dem Lemma »Müller, Karl Christian«, was 23 Jahre nach Müllers Tod im kulturellen Gedächtnis konserviert worden ist: »Der gebürtige Saarländer trat nach der Promotion in den Höheren Schuldienst ein und veröffentlichte mehrere Novellen- und Gedichtbändchen. Unter dem Vereinsnamen ›teut‹ gehörte Müller zu den zentralen ›Führern‹ der bündischen Jugend. Die Ende 1933 publizierten ›Lieder der Trucht‹ bildeten eine verquaste Mischung aus Kameradschaftserotik und Paramilitarismus. Die NS-Funktionäre vertraten 1936 die Auffassung, dass ›teut‹ […] ›auf der Grundlage der Gleichgeschlechtlichkeit‹ stehe und zur ›moralischen Verseuchung und Zersetzung der Deutschen Jugendbewegung‹ beigetragen habe […].«4 Besondere Aufmerksamkeit verdient Hergemöllers Additum, den gedruckten Quellen seien keine Anhaltspunkte für homosexuelles Verhalten Teuts zu entnehmen, was einer Aufnahme in ein »Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität« – so der Untertitel der Erstausgabe – dennoch nicht im Wege stand. Angesichts eines solch leichtfertigen Umgangs mit historischen Urteils1 Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 14. 2 Vgl. Torsten Mergen: Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900–1975), Göttingen 2012, S. 21–25 und 416–421. 3 Im Folgenden zitiert nach Bernd-Ulrich Hergemöller : Mann für Mann. Ein biographisches Lexikon, Frankfurt a. M. 2001. 4 Ebd., S. 529.
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findungen belegen die Zeilen umso vehementer die herausragende Bedeutung von biografischer Grundlagenforschung. Im Folgenden gilt es, Leitlinien von Leben und Werk Karl Christian Müllers mit Fokus auf wesentliche Historisierungs- respektive Selbsthistorisierungsformen vorzustellen, wobei der Casus Müller Ahrens’ Beobachtung stützt, dass die Führungsgruppe der bündischen Jugend in der Nachkriegszeit der Idee folgte, »die Historisierung des eigenen Tuns am besten selbst in die Hand zu nehmen.«5
Die Bedeutung Karl Christian Müllers im Kontext der Jugendbewegung Es lassen sich durchaus namhafte Stimmen finden, die sich mit Müller bzw. dessen Alias Teut als bündischer Führerfigur auseinandergesetzt haben. Der Soziologe Harry Pross etwa konstatierte im Rahmen seiner Analyse der Jugendbewegung, Müller habe als »studierter Mann«6 bei der Bildung seiner Jungengruppe »an das Elite-Prinzip«7 geglaubt und »trotz George- und Hölderlinverehrung dem vernünftigen Tag [sic] offener«8 gegenüber gestanden. Der Historiker Walter Laqueur attestierte dem »Literaturhistoriker und Lehrer aus dem Saarland«9 sogar, er sei »in diesen Kreisen [der Jugendbewegung] ein dämpfender Faktor«10 gewesen, welcher eine hinreichende Distanz zur Politik und den Unwägbarkeiten der frühen 1930er Jahre anstrebte. Ferner findet sich in Armin Mohlers Handbuch »Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932« der Hinweis, dass Müller zu den exponierten Vertretern einer spezifischen Richtung innerhalb der bündischen Jugend gerechnet wird, zu den »konservativen Revolutionären«, wobei er »im deutschen nationalen Rahmen«11 geblieben sei und Experimente mit einer Annäherung an dem Kommunismus abgelehnt habe.12 Diese wenigen Verweise machen eine genauere Betrachtung der Entwicklung des Jungenbundes Trucht und seines Führers Teut erforderlich, um manche Prämissen für Selbsthistorisierungsformen in der Nachkriegszeit besser zu verstehen. 5 Ahrens: Jugend (Anm. 1), S. 374. 6 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern 1964, S. 382. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Walter Zeev Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 21978, S. 191. 10 Ebd. 11 Armin Mohler : Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 5 1999, S. 478. 12 Ebd.
Karl Christian Teut Müller und die Trucht
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Die Trucht in den 1930er und 1940er Jahren Es lässt sich rekonstruieren, dass Karl Christian Müller im Sommer 1929 nach einer enttäuschenden Berlin-Reise, abgestoßen vom Lebensstil und der Atmosphäre in der Metropole, den Entschluss fasste, gegen den so empfundenen Zeitgeist von Nihilismus und Dekadenz zu agieren.13 Ausgehend von seiner pädagogischen Tätigkeit als Saarbrücker Gymnasiallehrer hatte er den Kontakt zu Jungen im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren angebahnt. Insoweit war die Trucht eine originäre Schöpfung des Saarländers, die nicht aus einer der unzähligen Spaltungen oder Zusammenlegungen von Bünden hervorgegangen war.14 Unter seinem Alias Teut gründete er im Januar 1930 einen Jungenbund, der den Namen Trucht trug.15 Der aus dem althochdeutschen Wort »truht«16 bzw. mittelhochdeutschen Wort »truchtin«17 abgeleitete Bundesname sollte symbolhaft für »die Gefolgschaft, der Orden«18 stehen. Zugleich stellte dieser Entschluss einen radikalen Richtungswechsel in Müllers Leben dar, denn es sollte »ein Bund werden, über ganz Deutschland verteilt, mit einigen ganz erlesenen Jüngern und Führern.«19 Müller vertrat die Vorstellung, dass eine »neue« Welt begründet werden müsste, die von einer kleinen Elite getragen werden könne, im Gegensatz zur Massenkultur dieser »fürchterlichen« Parteien und des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik. In der Zukunft sollten neue intellektuelle Eliten eine Führungsrolle wahrnehmen, die auf einer »bündischen« Kultur bzw. Tradition gründeten.20 Konstruktives Vorbild lieferte Müller der Kreis um Stefan George, welcher auf der Vorstellung klar zugeschriebener Rollen basierte – ein sich als absolute Autorität inszenierender »Meister« dirigierte und instruierte 13 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 146–160 sowie Hermann Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik, München 1981, S. 81–87. 14 Vgl. Laqueur : Jugendbewegung (Anm. 9), S. 190–196. 15 Vgl. Nachlass von Karl Christian Müller im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken (= NL KCM), Mappe 313. 16 Vgl. Oskar Schade: Altdeutsches Wörterbuch. Zweiter Teil: P–Z, Halle a. d. Saale 1872–1882, S. 961f. und Jochen Splett: Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes. Band I,2: Wortfamilien M – Z. Einzeleinträge, Berlin 1993, S. 1022. 17 Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Zweiter Band: N–U, Leipzig 1876, Sp. 1534 und 1542 und Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1810, S. 899. 18 Karl Christian Müller : Bund und Stand [ca.1933], in: NL KCM, Mappe 95. 19 Teut Ansolt [Karl Christian Müller]: Tagebuch der Trucht [1930–1933], S. 37f., in: NL KCM, Mappe 490. 20 Vgl. Edgar J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich, Berlin 31930.
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eine folgsame und unter dem Gesichtspunkt der Elitenbildung konstituierte Gruppe von »Jüngern«.21 Emotionale Kategorien wie Freundschaft und Kameradschaft regulierten den sozialen Zusammenhalt dieser Gruppierungen. Teleologisch ausgerichtet war die Trucht auf die Förderung des Individuums und seiner Anlagen – unabhängig von der familiären oder sozialen Herkunft.22 Für den Saargebietsraum stellte sie neben Gruppierungen wie den St. GeorgsPfadfindern und den Nerother Wandervögeln die quantitativ größte Jungengruppierung dar.23 Hans Grauls Beschreibung legt nahe, dass die Trucht einer jener »elitären Kleinbünde« war, die sich »die ganze Rheinlinie entlang«24 finden ließen. Mit dem von Eberhard tusk Koebel geleiteten Jungenbund nahm Müller bereits 1930 näheren Kontakt auf: »1929 das Wagnis der Gründung eines neuen Bundes, der zuerst Jungentrucht hieß, dann Amelungenbund und der bald zur Begegnung mit dem ›Grauen Korps‹ und mit der ›dj.1.11‹ (tusk) führte. Mit tusk den ›Fuldabund‹ gegründet (Fulda – wir fuhren gerade mit dem Zug an Fulda vorbei, als wir unser Zusammengehen beschlossen). Bald danach ›Deutsche autonome Jungenschaft‹ genannt. Tusk wird Führer auf Grund seiner Grundidee, alle Bünde in einem gemeinsamen Bund zusammenzuführen und auf Grund dessen, daß er der Erfahrenere war und über eine weitaus größere Anhängerschaft verfügte. Teut wurde einer der drei Jarle [Stellvertreter], […] Das Jarltum Trucht umfaßt das Gebiet von der Saar bis zur Ruhr.«25 Der Saarbrücker erkannte bereits nach kurzer Zeit, dass »tusk nach anderen Zielen strebt«26. Die Eindrücke von Koebels Charakter wirkten a posteriori negativ, wenn Müller beispielsweise 1961 mit Blick auf das Streben Koebels nach politischem Engagement im Gefüge des Weimarer Parteienspektrums formulierte: »Mir gegenüber zeigte er [Tusk] sich immer verschlossen, etwas muß er an mir gescheut haben, und als er seinen großen Sprung ins aktuell Politische tat, ließ er mich in einer Weise im unklaren, die eigentlich schäbig war, denn schließlich ist die Jungenschaft, die autonome, von uns beiden gegründet worden. […] Die Trucht existierte für ihn nicht, wohl deshalb, weil sie seiner Hyp-
21 Vgl. Armin Schäfer : Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln 2005, S. 27–31, ferner Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 507f. mit expliziter Bezugnahme auf Müller und die Trucht. 22 Vgl. Brief von Karl Christian Müller an Horst Fritsch vom 16. 07. 1968, in: NL KCM, Mappe 113. 23 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 161–180. 24 Hans Graul: Der Jungenschaftler ohne Fortune – Eberhard Köbel (tusk). Erlebt und biographisch erarbeitet von seinem Wiener Gefährten Hans Graul, Frankfurt a. M. 1985, S. 51. 25 Brief von Karl Christian Müller an Horst Fritsch vom 16. 07. 1968, in: NL KCM, Mappe 113. 26 Teut Ansolt [Karl Christian Müller]: Tagebuch der Trucht [1930–1933], Eintrag vom 14. 03. 1931, in: NL KCM, Mappe 490.
Karl Christian Teut Müller und die Trucht
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Karl Christian Müller im Jahr 1929 (Nachlass von Karl Christian Müller im Literaturarchiv SaarLor-Lux-Elsass, Saarbrücken)
nose unzugänglich blieb. Er war der extremste ideologische Schamane in der Jugendbewegung, glich darin so manchen Leuten in diesen dreißiger Jahren.«27 Müller hätte 1932 offensichtlich eine stillschweigende Neutralität zu den politischen Lagern der extremen Linken wie Rechten präferiert.28 Doch Koebel verkündete im Frühjahr 1932 den Entschluss, in die Kommunistische Partei Deutschlands eintreten zu wollen und realisierte seine Ankündigung im April 1932. Der Versuch, die bündischen Gruppen in die Richtung des Kommunismus zu führen, wurde während des Eiswooglagers der Deutschen autonomen Jungenschaft an Pfingsten 1932 kontrovers und heftig diskutiert. Die Spaltung der Jungenschaft war die logische Konsequenz, wobei viele Jugendliche zwischen
27 Brief von Karl Christian Müller an Werner Helwig vom 14. 11. 1961, in: NL KCM, Mappe 92. 28 Vgl. Werner Helwig: Die Blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung, Baunach 1998, S. 297–282.
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dem charismatischen Koebel und dem rhetorisch begabten Müller schwankten.29 Zahlreiche Führer des Bundes, darunter Müller und der für die Publikationen zuständige Karl Daniel, nahmen konsequenterweise eine dezidiert kritische Haltung zu Koebels Entscheidung ein und warfen ihm vor, den Jungenbund in den Parteienstreit manövriert und somit politisch exponiert zu haben.30 Koebels apodiktische Erwiderung liest sich wie eine Generalanklage gegen seine ehemaligen Getreuen: »Schon während unserer gemeinsamen Zeit sahen wir, daß teut und Karl Daniel eine Seite von dj.1.11 mißverstanden haben. […] Besinnungsloser Aktivismus, Jungenkultur (im schlechten Sinn des Wortes).«31 Folglich kam es zur Spaltung der Deutschen autonomen Jungenschaft: »Als Tusk 1932 die Älteren zur KPD führen will und zum Teil führt, zerreißt der Bund. Die Gaue und Jarle wenden sich an Teut. Gegründet wird der neue Bund, der etwa 2/3 der DAJ [Deutsche Autonome Jungenschaft] umfaßt, als Deutsche Jungentrucht.«32 In den folgenden Monaten dehnte sich der Bund unter der Bezeichnung Jungentrucht reichsweit, sogar im ganzen deutschsprachigen Raum aus – vom Saargebiet bis hin nach Österreich und Polen.33 Bereits im Dezember 1932 konnte die Jungentrucht durch Unterstützung zahlreicher Bünde im jugendbewegten Lager eine Vorreiterrolle einnehmen, die sie dank der politischen Entwicklung im Deutschen Reich bis 1934 behielt. Ferner entstand bereits Anfang 1933 truchtinterner Streit über das wesentliche Kommunikationsmittel des Jungenbundes – die bündische Zeitschrift »der große wagen«, den Müller und sein Vertreter Werner Benndorf auf Expansionskurs ausrichten wollten.34 Diese Zeitschrift erschien in drei Reihen zwischen 1932 und 1935, die vom Leipziger Karl Daniel, von Benndorf und vom Saarbrücker Müller betreut und verantwortet wurden. Die Zeitschrift enthielt gattungsgemäß zahlreiche Fahrtenberichte, Erzählungen, Geschichtsberichte, Gedichte und Sprüche sowie Lieder und Zitate, meistens von Hölderlin, Nietzsche und George.35 Viele Jugendliche wünschten sich eine kritisch-kämpferische Positionierung der Bundesführung gegen die »Machtübernahme« der NSDAP und den Regierungsantritt von Adolf Hitler als Reichskanzler im Januar 1933.36 Im vierten Heft von 1933 findet sich 29 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 153–160. 30 Vgl. Michael Jovy : Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Analyse ihrer Zusammenhänge und Gegensätze. Versuch einer Klärung, Münster 1984, S. 122–125. 31 Tusk [Eberhard Koebel]: Vorrede, in: Der Eisbrecher, 1933, 4. Jg., H. 1 (Januar), S. 111. 32 Brief von Karl Christian Müller an Horst Fritsch vom 16. 07. 1968, in NL KCM, Mappe 113. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 161–164 sowie den Zeitschriften-Bestand in: NL KCM, Mappe 274. 36 Vgl. Giesecke: Wandervogel (Anm. 13), S. 176–183; Jovy : Jugendbewegung (Anm. 30), S. 150–155.
Karl Christian Teut Müller und die Trucht
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hingegen die Abschrift eines Briefes vom Leiter des Amtes für Jugendverbände der Reichsjugendführung an Karl Christian Müller, die den vordergründigen Erfolg seines Legalitätskurses belegt: »Ich bestätige Ihnen hiermit, daß die von Ihnen geführte Deutsche Jungentrucht ordnungsgemäß gemeldet worden ist und in derselben Form weiterbestehen kann.«37 Die im Deutschen Reich einsetzende Verfolgung der »bündischen Umbriebe« durch die Staatsorgane tangierte die Jungentrucht, deren Führung im Saargebiet unter der Verwaltung des Völkerbundes residierte, (noch) nicht.38 Die Affinitäten Müllers zur NS-Ideologie begünstigten den Kurs der sukzessiven Integration.39 Vor allem galt dies für das deutsch-völkische Gedankengut, die großdeutsche Einstellung, die Reichsideologie, die Konzeption der Volksgemeinschaft und die Ablehnung des »Versailler Schandvertrages«, ferner für »die Betonung von Führertum und Gefolgschaft, die Bereitschaft zu Einsatz und Dienst, de[n] Wunsch nach einem geschlossenen Wirken der jungen Mannschaft des Volkes, das Drängen, am Geschick des Volkes mitarbeiten zu können.«40 Karl Christian Müller hatte sich politisch umorientiert: Wie andere Jugendbewegte trat er im März 1933 der NSDAP bei.41 Diesen Schritt der aktiven Mitarbeit auf der Seite der Nationalsozialisten verübelten viele Jugendliche ihrem Bundesführer, da er angesichts von Koebels Engagement für die Kommunistische Partei noch 1932 argumentiert hatte, dass »ein pakt mit den parteien […] immer die duldung eines fremden ursprungs, eine preisgabe der eigenen schöpfung«42 symbolisiere. Allerdings eröffnen die in Müllers Nachlass überlieferten Zeugnisse ein komplexes Bild: Neben opportunistischen Faktoren im Kontext der Saar-Abstimmung und Müllers Engagement für die »Deutsche Front«, die für eine Rückgliederung des Saargebiets an das Deutsch Reich eintrat, mehrten sich die Indizien, dass für eine autonome Jungentrucht keine langfristige Perspektiven mehr bestanden: Müller erreichten seit Sommer 1933 wiederholt sowohl Hilferufe diverser Untergruppierungen als auch des Plauener Wolff-Verlages, des Hausverlages der Trucht. Zuletzt im Oktober 1934 wandte sich der Verlagsleiter an die Reichsschrifttumskammer mit der Bitte, die Boykottierung des Verlages
37 Zit. nach: der große wagen, 1933, H. 2/Oktober, S. 30. 38 Brief von Karl Christian Müller an Werner Helwig vom 14. 11. 1961, in: NL KCM, Mappe 92. 39 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 183–194 und Stefan Krolle: »Bündische Umtriebe«. Geschichte des Nerother Wandervogels vor und unter dem NS-Staat. Ein Jugendbund zwischen Konformität und Widerstand, Münster 21986, S. 3f. 40 Hans Christian Brandenburg: Die Geschichte der HJ. Wege und Irrwege einer Generation, Köln 1968, S. 67. 41 Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991, S. 90. 42 Teut [Karl Christian Müller]: Vorrede, in: Der Folger, 1932, H. 1, S. 2.
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durch die Reichsjugendführung zu unterbinden.43 In der »Gretchen-Frage« des Verhältnisses zum Nationalsozialismus verkündete Müller im »großen wagen« nach einem letzten Bundeslager seine Strategie: »Kameraden! Die Deutsche Jungentrucht ist aufgelöst. Am Feuer des Lagers zu Scharzfeld. Die Jungentrucht ist tot, es lebe die Folgertrucht! Die Gruppen waren alle schon in die H.J. oder ins Jungvolk eingegliedert oder vorher ausgetreten. Somit trifft keine Gruppe die Auflösung.«44 Integration in die »Hitlerjugend« verknüpft mit der (illegalen) Fortexistenz im Verborgenen – diese Doppelstrategie war für ihn »keine Preisgabe. Was in der Jungentrucht uns geworden ist, bleibt, ja es wird weiter leben in der H.J. und im Jungvolk. Werte, wie wir sie geschaffen haben, gehen nicht zugrunde, sondern werden im breiteren Raum fruchtbar.«45 Müllers strategisches Ziel einer geordneten Auflösung der Jungentrucht sollte die Wahrung des internen Gemeinschaftsgeistes und der Solidarität begünstigen. Die dichotome Struktur, die sie bis 1934 geprägt hatte – »Erlebniswelt vs. Weltanschauung, Affekt vs. Kognition, die ihr eigene Kluft zwischen Vernunft und Leben, zwischen Geist und Seele«46 – sollte auch das »Überwintern« im Nationalsozialismus ermöglichen. Hingegen sollten die jugendlichen TruchtMitglieder die Keimzelle der zukünftigen Führungselite des »Dritten Reiches« bilden und in wenigen Jahren Ideale und Werte der bündischen Jugend systemisch fortschreiben.
Erste Selbsthistorisierungsversuche: das Geschichtsdrama »Der Waffenstillstand« (1933) Eine Sonderstellung im Werk Müllers kommt dem 1933 im Leipziger Truchtverlag erschienenen »heldischen Spiel« zu, welches in bündischen Kreisen als zeitgeschichtliche Schlüssellektüre angepriesen wurde: »lest den ›waffenstill43 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 175–180; Wolfgang Hess: Der Günther-Wolff-Verlag in Plauen und die bündische Jugend im III. Reich, Plauen 1993; Alexander Lange: Meuten – Broadway-Cliquen – Junge Garde. Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich, Köln 2010, S. 117–132 und Justus H. Ulbricht: deutschland ewig unsere liebe. George-Splitter in zerrissener Zeit, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018, S. 85–109, hier S. 99ff. 44 Rundbrief von teut [Karl Christian Müller] an alle Truchtinge vom Juni 1934, in: NL KCM, Mappe 274. 45 Ebd.; vgl. dazu auch Karl August Schleiden: Literatur an der Saar im Spannungsfeld von Politik und Geschichte, in: Uwe Grund, Günter Scholdt (Hg.): Literatur an der Grenze. Der Raum Saarland – Lothringen – Luxemburg – Elsass als Problem der Literaturgeschichtsschreibung. Festgabe für Gerhard Schmidt-Henkel, Saarbrücken 1992, S. 25–36, hier S. 29. 46 Walter Sauer : Die deutsche Jugendbewegung. Schwierigkeiten einer Ortsbestimmung, Heidenheim an der Benz 1978, S. 11.
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stand‹ von teut, dann versteht ihr alles!«47 Das für jugendliches Laientheater konzipierte Werk fungierte folglich als Parabel: Im Publikationsjahr 1933 kam dem Text Identitätsstiftungs- und Reflexionsfunktion zu. Die Jugendlichen sollten in spielerischer Form einer Standortbestimmung unterworfen werden, scheinbar ausweglose Situationen waren für sie spätestens nach dem 30. Januar 1933 nichts Unbekanntes mehr. Dramatis personae des »heldischen Spiels« sind der »Herzog des Volkes« Ili, seine Mutter Otgeb, die »Fürsten« Götz, Ossi, Tasso, Gors und Edmar sowie die Knaben Erik, Uli, Helgi und Bodo. In fünf »Auftritten« zeigt der Einakter, in welcher Lage sich das nicht näher bestimmte Volk nach einem langwierigen Krieg gegen einen mächtigen Gegner befindet. Die Exposition skizziert genretypisch den Konflikt: Im Geheimen beraten die mächtigen Fürsten des Reiches ohne Wissen ihres Anführers Herzog Ili, ob und wie der Kampf gegen den scheinbar übermächtigen Gegner fortgeführt werden soll. »Der Waffenstillstand« repräsentiert insofern die Literarisierung der Spätphase der bündischen Jugend im Allgemeinen und der Trucht im Besonderen. Parallelen zu ihrer Situation im NS-Staat, die Matthias von Hellfeld auf die Formel »Anpassung und Widerstand«48 gebracht hat, sind der Darstellung zuzuordnen. Präziser beschreibt »Der Waffenstillstand« eine Welt, die auf Kameradschaft beruht, auf freiwilliger Gefolgschaft aus Überzeugung, in der das Individuum nicht austauschbar ist, sondern wertvoll als Teil einer Gemeinschaft, die sowohl auf einer sozialen Exklusivität als auch einer gemeinsamen Überzeugung beruhte. Gleichfalls wirkt diese Welt von außen bedroht. Über diese thematische Parallelität hinaus sind die Bezugspunkte zur Entwicklung der Trucht im Jahr 1933 jedoch noch augenfälliger : Die von MüllerTeut gewählten Namen der Fürsten – etwa Tasso und Ossi – entsprechen den bündischen Alias-Namen seiner engsten Vertrauten; beispielsweise verbarg sich hinter Tasso sein erster Stellvertreter.49 Daher reflektiert »Der Waffenstillstand« den starken Druck, den die Hitler-Jugend auf die bündische Jugend ausübte. In jambisch rhythmisierter Sprache resümierte der Text die bestehenden Handlungsoptionen, die in der Kollaborationsstrategie mit dem Nationalsozialismus mündeten: »Edmar : […] Nun branden sie herauf aus ihren Tälern verfolgen uns als aller Menschheit Haßgebild, selbst ihre Feigheit wird zu Mut. Weil unsere heldische Art der ganzen Welt 47 Einladungskarte von »helmut« an die Mitglieder der Jungentrucht in Leipzig (o. D.), in: NL KCM, Mappe 274. 48 Vgl. Matthias von Hellfeld: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930–1939 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 3), Köln 1987. 49 Vgl. Karl Christian Müller : Das Waldgeschrei [ca. 1974], in: NL KCM, Mappe 463.
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ist fremd und ihre Ruhe stört, wollen sie uns meucheln, aus uns rotten wie ein wild Getier. In Riesenmassen wollen sie uns Erdrücken, ohne eignes heldisches Opfer, Polypenarme greifen schon um uns. Wieviele Arme hieben wir schon ab? Es wuchs ein jeder nach. Wir mindern uns, sie schwellen wie die Schlammflut gurgelnd auf. Ist da noch Hoffnung auf den Sieg, des Todes Beschwingteren Bruder? Wo ist Sinn der Welt noch? […] Tasso: Zum Waffenstillstand also rätst du uns? Zwar ist das weder Tod noch Sieg, doch bleibt Die Hoffnung, daß, wenn Jahre hingegangen, sich unsere Kraft vermehrte und vielleicht im Kreis der Feinde einer aufgewacht, der gleichen Geists wie wir, der Kampf sich dann erneuern mag.«50
Trotz der 1934 vollzogenen förmlichen Auflösung der Trucht existieren Belege dafür, dass sie bis in den Zweiten Weltkrieg hinein fortexistierte und ihre Mitglieder im Verborgenen den bündischen Lebensstil zu pflegen strebten. Unter welchen Bedingungen sich Mitglieder der Trucht nach der offiziellen Auflösung im Berliner Stadtwald treffen mussten, beschrieb Müller retrospektiv im elften Reigen des (unveröffentlichten Manuskriptes) »Waldgeschrei«, zu datieren auf das Jahr 1974: »Einzeln, zu zweit, zu dritt, zu mehr nicht Drangen sie in die Pfade des Waldes Bei Nacht, trugen die Trommeln und Klampfen Verborgen, die Wimpel der Zeichen des Bundes. Versteckt. Geheimen Zielen gewiß. Der kleinen Lichtung in den Gebüschen. Nur von oben der Sternschein vermag dort Zu erhellen die silbernen Zeichen. Die Jungen, die Gefährten der Trucht Finden am Herzen des Waldes hier Zuflucht. Keiner weiß, für wie lange. Sehen sie je sich so wieder vereint?«51
50 Teut Ansolt [Karl Christian Müller]: Der Waffenstillstand. Ein heldisches Spiel, Leipzig 1933, S. 6f. 51 Karl Christian Müller : Das Waldgeschrei. 11. Reigen: Grunewald [circa 1974], in: NL KCM, Mappe 465. Vgl. auch Hermann Vinke: Fritz Hartnagel. Der Freund von Sophie Scholl, München 2008, S. 21f. mit dem Hinweis, dass zahlreiche »bündische Jugendliche« nach 1933
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Alle Erlasse respektive Verordnungen, die explizit das Verbot der bündischen Aktivitäten erneuerten, listeten neben zahlreichen anderen Jungenbünden die Trucht als Zielgruppe auf. Wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nannte Heinrich Himmlers Runderlass »Verbot der Bündischen Jugend« erneut die Trucht und nahm abermals ihr Liedgut als oppositionelles Refugium in den Blick.52 Die hier nur punktuell nachgezeichnete Verfolgung der bündischen Jugend hatte im Falle von Müller eine makabre Dimension. Denn er hatte trotz erheblicher interner Differenzen zu seinem NS-affinen Kurs bereits 1933 gegenüber den Trucht-Mitgliedern die Parole vertreten: »es ist indiskutabel: wir sind alle nationalsozialisten. wer das verneint, wird verstossen.«53 Nach dem Anschluss des Saargebietes 1935 passte Müller sich dem NS-Regime weitgehend an und übte diverse parteinahe Funktionen im Laufe der 1930er Jahre aus: Er arbeitete als Vorsitzender der Fachgruppe Schrifttum im Deutschen Kulturbund im Saargebiet, seit 1935 auch als Verbandskreisleiter des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller.
Die Trucht in der Nachkriegszeit Drei Aspekte der Nachkriegszeit sollen im Folgenden exemplarisch betrachtet werden: Zwischen 1948 bis 1972 lebte die Trucht als Jungenbund wieder mit einer umfangreichen Erzähl- und Liedproduktion auf. Hinzu kam des Weiteren die unternehmerische Tätigkeit Müllers als Verleger des kurzlebigen SteinwaldVerlages. Grundlage dafür waren aber auch zahlreiche ab 1954 veröffentlichte Gedichte, die zunächst einer naturlyrischen Tradition folgten. Dem Gedichtband »Wünschelrute« (1954) folgten »Am Nachtfluss« (1961), »Blütenleiter« (1963), »Hügel auf katalaunischem Feld« (1965), »Die Sandrose« (1966), »Waldsteine« (1967), »Kopfschmuck RES« (1973) sowie »Die entflammte Stunde« (1973) und »Meerhornruf« (1974). Sie deuten bereits durch die gewählten Titel an, dass Müller vorrangig Natur- und Geschichtslyrik verfasst hat, in den Nachkriegsjahren bis 1965 vorrangig Naturlyrisches, im letzten Lebensdezennium eher Historisches. Qualitativ wurde Müllers Œuvre von namhaften Autoren und Literaturkritikern wie den Brüdern Ernst und Friedrich Georg Jünger, Erhart Kästner, Karl Krolow, Rudolf Pannwitz oder Ingeborg Drewitz geschätzt.54 Ex-
an Freizeitaktivitäten der Trucht teilnahmen, so auch Fritz Hartnagel, der Jugendfreund von Sophie Scholl. 52 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 178–182. 53 Teut [Karl Christian Müller]: Herbstbotschaft vom 29. 09. 1933, in: NL KCM, Mappe 274. 54 Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 306–311.
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emplarisch bemerkten bündische Weggefährten über »Am Nachtfluss«, hier sei die »Seele einer ganzen Generation […] dichterisch«55 abgebildet. Gegenüber dem Schriftsteller Werner Helwig, dem »Burgpoeten« der bündischen Jugend,56 äußerte Müller bereits 1953 den Verdacht, dass sich die neuen Mitglieder der Trucht anderen Idealen verschrieben hätten als die erste Generation, sie »übernehmen nicht das mühsam erkämpfte Erbe, stellen vielmehr eine Zukunftsform dar, eine Welt, in der unsre Art Menschtum überhaupt keinen Raum mehr haben wird.«57 Trotzdem teilte er mit dem Jugendforscher Hans Heinrich Muchow die Auffassung, dass die »Burschen« in den Nachkriegsjahren und frühen Fünfzigern im Kern den Wunsch nach einem »Vater« hätten, »der sich als Autorität bewährt«58. Seine Vision eines Jungenbundes beschrieb er den Mitgliedern der Trucht in zahllosen Gemeinschaftsabenden und praktizierte sie auf Fahrten innerhalb und außerhalb Deutschlands. Im letzten Drittel der 1950er Jahre verschärfte sich die Dialektik zwischen idealistischen Ansprüchen im autoritären Gewand an die Truchtinge einerseits und den konkreten Sozialisationserfahrungen der um 1940 geborenen Jugendgeneration andererseits. Die Jungen der Trucht sahen im Mitfünfziger Teut nur noch in geringen Teilen den fürsorglichen, weltklugen und vorbildlichen Führer. Die Mehrheit nahm das Agitieren und Verhalten Teuts als Attitüde eines Trucht-Diktators wahr, der »nicht mehr der Mann [war], der jungen Leuten unserer Zeit, die hin- und hergeworfen sind von Fragen, welche Deiner Generation niemals auf den Nägeln brannten, einen verständnisvollen Helfer abgeben könnte.«59 Der Verfasser, der Bonner Philosophiestudent Wolfgang de Boer, war bis zu diesem Brief einer der engsten Vertrauten in der Trucht-Leitung.60 Aber er stellte zusehends die weltanschauliche Diastase zu seinem einstigen Idol heraus. Um den Einfluss des kritisierten Übervaters zu kanalisieren und einzudämmen, verwandelten die
55 Postkarte von Harald Krieger an Karl Christian Müller vom 18. 11. 1961, in: NL KCM, Mappe 596. 56 Ursula Prause: Werner Helwig (1905–1985). Leben und Werk, in: Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e. V. (Hg.): Die Waldeck. Lieder, Fahrten, Abenteuer. Die Geschichte der Burg Waldeck von 1911 bis heute, Berlin 2005, S. 225–231, hier S. 230. 57 Brief von Werner Helwig an Karl Christian Müller vom 30. 10. 1953, in: NL KCM, Mappe 92. 58 Hans-Heinrich Muchow: Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend, Hamburg 1959, S. 136. Vgl. auch NL KCM, Mappe 470. 59 Brief von Wolfgang de Boer an Karl Christian Müller vom 05. 01. 1959, in: NL KCM, Mappe 122. 60 Vgl. den Briefwechsel von Wolfgang de Boer mit Karl Christian Müller, in: NL KCM, Mappe 122. Noch kurz vor dem Zerwürfnis hatte Müller die kulturanthropologische Studie »Hölderlins Deutung des Daseins. Zum Normproblem des Menschen« ideell durch seine philosophische Prägenlehre mitinspiriert und diverse Textfassungen kritisch redigiert, ebenso die daraus entwickelte Studie von Wolfgang de Boer : Das Problem des Menschen und die Kultur. Neue Wege der Anthropologie, Bonn 1958, vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 297–304.
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Mitglieder die Trucht ohne explizite Zustimmung Müllers in einen eingetragenen Verein bürgerlichen Rechts.
Karl Christian Müller in den 1960er Jahren (Nachlass von Karl Christian Müller im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Saarbrücken)
Müller beschränkte sich bei künftigem Engagement Anfang der 1960er Jahre auf das regionale Umfeld.61 Die letzten Schüler, die er in seiner Funktion als Gymnasiallehrer unterrichtete, ferner die Kinder aus dem Bekannten- und Freundeskreis, wurden 1961 kritisch geprüft und allmählich in den Bann der gemeinsamen Sache gezogen: Er bildete drei »Horden« / 20 Jungen und warb um Vertrauen. Zugleich strebte er Anfang der 1960er Jahre danach, sein eigenes Handeln in und für die Trucht literarisch auf verschiedenen Wegen zu mythologisieren und gemäß seiner Interpretation zu instrumentalisieren, indem er beim Aspekt des Abenteuers ansetzte – die Erlebnisse der Fahrt sollten den
61 Vgl. Brief von Karl Christian Müller an die Hamburger Jungentrucht vom 14. 02. 1959, in: NL KCM, Mappe 192.
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jungen Menschen auf erzählerischer Art und Weise präsentiert werden.«62 Dazu konzipierte er eine große bündische Mythos-Erzählung mit dem Titel »Argonautenfahrt«, die – nie druckreif fertiggestellt – die Verbindung von griechischer Mythologie mit dem Selbstkonzept Karl Christian Müllers belegen sollte. Werner Helwig, der sich in dieser Zeit allmählich aus der Jugendbewegung zurückzog,63 gestand er ein, was ihn im Innersten antrieb: »Um alle Wissenschaft und Philosophie zu vermeiden, […] habe ich eine Mythe herangezogen und kommentiert, die Argonautenfahrt. Sie soll als ›vorlaufendes Bild‹ gelten. […] Ob dieses Bild ›angenommen‹ wird, weiß ich noch nicht. […] Homer, Hesiod, Virgil, Dante, Parzival. Da wird Gemeinschaftsgeist gestiftet.«64 Den 1961 veröffentlichten Gedichtband »Am Nachtfluß« ergänzte Müller des Weiteren um zwei lyrische Texte, die das Geschehen in und mit der Trucht symbolisch zu deuten bemüht waren, zugleich aber auch eine Antwort geben wollten auf die aus der Trucht immer vehementer vernehmbare Frage, wie Müller die Zeit des »Dritten Reiches« rückblickend bewertete. An erster Stelle empfand Müller den bohrenden Ton der jungen Generation als schmerzlich: »DIE Sümpfe durchwatend, Den Weg aus dem Nachtreich, Egel an deine Adern gesaugt, O, lösten vom Fleisch sich die Dolche!«65
Da er sich darum bemühte, die Geschichte und die Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lyrisch ins Bild zu setzen, konstruierte er im zeitund geschichtskritischen Gedicht »Verbrennungsöfen von Auschwitz« eine eschatologische Perspektive, die getragen war von der Frage, ob ein allgegenwärtiger Bruch mit den Sitten, Gebräuchen und Traditionen der älteren Generation in realo das historische Unrecht tilgen oder sühen könne: »VERBRENNUNGSöfen von Auschwitz, Salven in russischen Kellern, Phosphorbrände in Dresden, Atomblitz auf Hiroshima, Phönix, brennst du in diesen Feuern? Der Knabe Kazuo zerriß Das Buch der Sitten, erschlug Den von Not der Getroffenen Reich gewordenen Händler. Hat so er am Frevler 62 Brief von Karl Christian Müller an Karl Heinz Bolay vom 21. 12. 1961, in: NL KCM, Mappe 118. 63 Vgl. Prause: Helwig (Anm. 56), S. 229–232. 64 Brief von Karl Christian Müller an Werner Helwig vom 04. 02. 1961, in: NL KCM, Mappe 584. 65 Karl Christian Müller : Am Nachtfluß. Gedichte, Saarbrücken 1961, S. 30.
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Die Schande der Menschen gebüßt? Vergeblich zerrissen das Buch der Sitten, Neu schrieb sich’s in Runen der Reue. Bereit der Knabe, – Einverstanden der Vater – Mit eigner Hand sich zu töten. Wird so an eigener Aller Unrat gebüßt? Phönix, in welchem der Feuer brennst du?«66
Zweitens gründete Müller Mitte der 1960er Jahre einen eigenen Verlag: Der Steinwald-Verlag war als Trucht-Verlag konzipiert und »soll vor allem der geistigen Entfaltung der Trucht und Jungentrucht dienen.«67 Der Verlag bot eine wichtige Plattform zur Stiftung einer neuen Kohärenz zu geben, unter anderem durch die Zeitschrift »Geflügeltes Schiff«, welche seit 1966 erschien.68 Mit der neuen Zeitschrift schuf er dem kleinen Saarbrücker Bund ein wichtiges Medium, das mit einer Auflage von 150 Exemplaren als Quartalsperiodikum erschien.69 Autonom und weltanschaulich so homogen wie möglich sollte die Trucht der dritten Generation sein. Die Schlüsselpublikation jener Aktivitäten repräsentiert der Band »Hügel auf katalaunischem Feld«, der zugleich ein geschichtslyrisches Experiment des Saarbrücker Schriftstellers darstellt: »Teleskopisch wird die Vergangenheit in die Gegenwart hereingeholt. Natürlich nur solche Geschichte, die für unsere Gegenwart erhellenden Wert besitzt …«70 In diesen Zeilen enthalten ist zugleich ein Bekenntnis zur Bedeutung der Geschichtslyrik, denn Müller gestaltete Themen und Vorgänge der Geschichte in relativ kurzer und gedrängter Form.71 Er baute den Band, der 30 Gedichte enthielt, unter zwei Leitsprüchen auf, der jeweils die Hälfte der Gedichte untergeordnet sind: »Auf geborstenem Stein« und »Hügel auf katalaunischem Feld«. Namensgeberin des Bandes war ein historisches Ereignis – die Schlacht der Römer gegen die Hunnen unter Attila im Jahre 451 n. Chr. auf den Katalaunischen Feldern im damaligen Gallien.72 Diese »Schlacht auf katalaunischem Feld« 66 Ebd., S. 23. 67 Rundbrief Teuts [Karl Christian Müllers] »An alle Freunde der Trucht« o. D., in: NL KCM, Mappe 321. 68 Vgl. Brief von Karl Christian Müller an Karl Oelbermann vom 04. 05. 1965, in: NL KCM, Mappe 171. 69 Vgl. Brief von Karl Christian Müller an Horst Fritsch vom 15. 11. 1967, in: NL KCM, Mappe 113. 70 Brief von Karl Christian Müller an Karl Josef Keller vom 20. 09. 1964, in: NL KCM, Mappe 101. 71 Vgl. Briefwechsel von Karl Christian Müller mit Heinrich Voggenreiter, in: NL KCM, Mappe 159. 72 Die genaue Lokalisierung des Schlachtortes ist umstritten. Vgl. Volker Friedrich: Irgendwo in Gallien. Versuch einer geografischen Neulokalisierung der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern von 451, Gräfelfing 2004, S. 36ff. mit der Schlussfolgerung, dass die Schlacht
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hatte eine herausragende epochale Bedeutung, die er im Gedicht mit gleichlautendem Titel beschrieb: »Um einen Hügel ging der Kampf Der Heere, nachdem er die Länder zerbrochen. Wer den Hügel besaß, war Sieger. Mehr als ein Jahrtausend entschied sich. Schon das Unentschiedne des Kampfes Bezwang ihn, seit er den Hügel nicht mehr Besaß, den einen Hügel, den er nicht Gewann, den ein sich Opfernder deckte.«73
Solchen historischen Umbrüchen spürte der Verfasser in zahlreichen Texten mit einschlägigen Titeln akribisch nach. Müllers Verse bevorzugten einen lakonischen Ton und kritisierten alle Ansätze, welche die Steuerung der Geschichte durch den Menschen postulieren.74 Stattdessen betonten sie das »Trauma der jeweils Besiegten«75. Hingegen prägen den ersten Teil bitterironische Sprüche und kurze Gedichte, in denen der Verfasser Reminiszenzen mahnend und belehrend, sozusagen mit erhobenem Zeigefinger, niederschrieb. Wegen ihrer Erfahrungsgebundenheit wirken die Texte häufig trucht-spezifisch: »Worte der Wege wollte er bringen, Brot den Armen der wirren Welt. Die Herren der festen Wege höhnten: Wo ist Hunger nach anderem Weg? War einer hungrig?«76
Zivilisationskritische Töne zeichnen den Band im Besonderen aus, die sich in »Die höchste Aussicht« mit Bezug auf die Veränderungen der Naturwahrnehmung einstellten: »Drücke die höchste Ziffer des Fahrstuhls! Erfahre die Wirkung des Zaubers, Der düsenschnell dich hinaufwirft. Oben zu übersehen die Landschaft Der Artefakte, der Bahnen und Brücken, Stählern gesponnene Todesfallen.«77
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während des Rückzuges Attilas, vermutlich am 22. September 451, zwischen Metz und Trier in der Gegend des saarländischen Ortes Borg stattgefunden habe. Karl Christian Müller : Hügel auf katalaunischem Feld. Gedichte, Saarbrücken 1965, S. 32. Vgl. Günter Scholdt: Liebe als Landesverrat? Zur Bewertung transnationaler Geschlechterbeziehungen in der Belletristik des deutsch-französischen Grenzraums, in: Recherches Germaniques, 1993, Jg. 23, S. 165–184. Ebd., S. 174. Müller : Hügel (Anm. 73), S. 20. Ebd., S. 16.
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Müllers Gedichte irritierten wegen des partiellen Bruchs mit den etablierten naturlyrischen Konventionen. Mit Armin Mohler diskutierte er die verschiedenen Versionen und Textstufen und teilte ihm sein literarisches Anliegen mit: »Hier ist der Versuch gemacht, die Gegenposition zum Progressivismus zu formulieren. Das Prinzip Fortschritt oder Hoffnung oder wie man es nennen mag, das heute radikal alle beherrscht, die herrschen, erhält seine Entgegnung […], das der Quelle. Es kommt auch nicht darauf an, daß man gegen ›Fortschritt‹ ist, sondern daß man einen Gegenbegriff, ein Bild findet.«78 Wenige Jahre später, mit dem Gedichtband »Die Waldsteine« beschwor Müller in 220 Spruchgedichten den neuen »Beginn« und »Ursprung«: »Waldstein – Ursprung der Quellen. Waldgang – Stiftung der Brunnen.«79 Somit verfolgte der Saarbrücker eine klare Zielsetzung mit dem neuen Lyrikband: Erkenntnisse ansprechen, die er mit Bezug auf Gemeinschaft und Jugendbewegung gemacht hatte, ferner den Leser durch die lyrische Gestaltung zum Nachdenken zwingen, ohne in den Duktus einer penetranten Gesellschaftskritik zu verfallen.80 Darin enthalten war jene für Müller charakteristische Gewissheit, dass ein »Urgrund« existiere, der alles bewege. Politisierend gedeutet könnte man auf die Idee der Vergangenheitsbewältigung abheben – der in den 1960er Jahren omnipräsenten Frage nach der Schuld der älteren Generation im Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen.81 Dabei reklamierte Müller durchaus keinen Schonraum, er wusste aus eigener Erfahrung um die Verantwortung, die er im Laufe eines langen Lebens auf sich geladen hatte. Zugleich negierte er, dass er als Person schuldig geworden sei und daher als Autor zu verstummen habe: »Sprossen des Geweihs Verfestigen die Jahre. 78 Brief von Karl Christian Müller an Armin Mohler vom 05. 11. 1967, in: NL KCM, Mappe 96. 79 Brief von Karl Christian Müller an Karl Heinz Bolay vom 11. 02. 1967, in: NL KCM, Mappe 118. Vgl. auch Brief von Karl Christian Müller an Werner Helwig vom 11. 02. 1967, in: NL KCM, Mappe 92: »Diese Waldsteine sind spruchartige Gedichte und Sprüche, etwa 220, die eine Art Zyklus ergeben, in dem sich ein Weltbild entfaltet, in einer Art Fortsetzung der ›Sandrose‹, eine Art Brücke zum dritten Band, der wieder Gesänge enthalten soll. Es geht vor allem um die ›Ursprünge‹, um den ›Bund‹. Im dritten geht es um den großen Topos kommender Welt. Jedes Wort muß genau und peinlich erwogen werden, zumal bei den Sprüchen, weil sie leicht mißdeutet werden können. Nur ein Gleichgesinnter und zugleich Tiefdenkender und Formsicherer kann ein Urteil im einzelnen abgeben. Ich kenne eigentlich nur Dich und [Ernst] Jünger, die dazu imstande wären. Jünger gab ich den Entwurf. Die Thematik und die Gedanken fand er alle bedeutsam. Noch hatte er Einwände gegen manche bis ins letzte nicht durchgeformte Fassung. Seitdem habe ich kräftig weitergearbeitet. Alles ist klarer, vollständiger, sicherer geworden.« 80 Vgl. Brief von Karl Christian Müller an Karl Heinz Bolay vom 19. 12. 1965, in: NL KCM, Mappe 118. 81 Vgl. Karl Christian Müller: Waldsteine, Heidenheim 1967, S. 49: »Sie verdammen diese Zeit, / Die einen wie die andern. / Ich weiß nicht, verdammen beide / Dasselbe oder einander.«
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Die Last auf häuptens wie Ein Reiter beim Sprung getragen. Für den Anstieg der Äste Die Brust ihm ausgeweidet. Von Hufen erwanderte Meilen Verzweigen die Spindel der Winde. Abgeworfen alljährlich die Last für größere Last – Bis ins Sterngeflecht sich die Krone verfängt.«82
Apologetisch formulierte er darüber hinaus jene (zum Teil sarkastisch wirkenden) Epigramme, die durch extreme Kürze, Präzision im Ausdruck und bedingungslose Rigorosität im Umgang mit dem Postulat einer Aufklärungsfunktion von Literatur gekennzeichnet waren. Jenseits persönlicher Rechtfertigung postulierte er die Deutungshoheit des Lyrikers und argumentierte gegen zeitbedingte Vokabeln wie »Schuld« und »mangelnde Integrität«, die man den Generationen vorhielt, die im »Dritten Reich« politisch involviert waren:83 »Wer Schuld will versteinen, Des andern und eigne, Versteint das Herz, Das andre und eigne.«84
Ferner reflektierte er die wachsenden Probleme mit der Trucht, welche zuletzt Ende der 1960er Jahre erneut auf Distanz zu ihrem Gründer ging. Mit mahnender Geste forderte er Gefolgschaft und Treue, Abweichlern sowie gruppeninternen Kritikaster zeigte er bedingungslos die Konsequenzen ihres Handelns auf: »Ihr selber seid das Gewölbe des Bundes. Reißt du es ein, stürzt jeder, auch du. Der Stein erschlägt dich, den du hobst.«85
Wenig Verständnis für die Glorifizierung von Natur, Feuer und Gemeinschaftserlebnis zeigte die Literaturkritik: Müllers Bekenntnis zu einer überwältigenden sentimentalen Ergriffenheit passe nicht in die gesellschaftliche Wirklichkeit, seine Gedichte liefen ins Leere.86 Die jugendbewegte »Stunde der Feuerfliegen« schien längst vorbei, vielmehr sprach man von der »vergammelte[n] Romantik der Jugendbewegung.«87 82 83 84 85 86 87
Ebd., S. 17. Vgl. z. B. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945, Stuttgart 22004, S. 121–124. Müller : Waldsteine (Anm. 81), S. 49. Ebd., S. 35. Vgl. Mergen: Kampf (Anm. 2), S. 389f. Brief von Karl Christian Müller an Werner Helwig vom 12. 01. 1974, in: NL KCM, Mappe 92.
Karl Christian Teut Müller und die Trucht
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Ausblick Es sollte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass der Casus Müller den Versuch dokumentiert, wie ein führender Repräsentant der bündischen Jugend bei dem Versuch scheiterte, sich und der Trucht ein literarisches Monument zu setzen. Statt der erhofften Selbststilisierung verweist bereits die zeitgenössische, durchweg skeptische Reaktion des Schriftstellerkollegen Werner Helwig auf den Umbruch in der Wahrnehmung von mythisch-lyrischen Darstellungsweisen von Jugendbewegung: »Mit dem Gehalt an magischem Wissen völlig einverstanden. Aber wer macht das mit?«88 Dies deutet mutatis mutandis auf ein sich allmählich wandelndes Verständnis von Literatur hin: Müller als traditionalistischer Vertreter einer po8sie pure, welche an dem Anspruch festhielt, aus der (subjektiven) Retrospektive generalisierbare Gegenwartsdeutungen formulieren zu können, nutzte in seinen Texten oftmals eine chiffrierte Bild-Sprache, durch die Zeitgeschichtliches thematisiert werden sollte. Wie zahlreiche andere Lyriker der (frühen) Nachkriegszeit – zu nennen wäre als prominentestes Beispiel etwa Paul Celan – intendierte er eine spezifische literarische Antwort für die Herausforderung, die traumatischen historischen Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre in Worte zu fassen: »[A]ls Ursprung einer traumatischen Erfahrung liegen sie jenseits der Möglichkeiten einer expliziten, rationalen Thematisierung«89, wie man dieses Generationsspezifikum für entsprechende Literarisierungsstrategien charakterisieren kann. Das mythisch grundierte Sprechen und Schreiben respektive die damit verfolgte Intention, die Deutungshoheit – besonders über die Erfahrungen der bündischen Jahre – zu bewahren, konnten jedoch wegen »der Liberalisierungswelle der 60er Jahre«90 in den jugendbewegten Gruppierungen kaum noch mit einer nennenswerten Rezeptionsbereitschaft rechnen bzw. auf einen ästhetischen Resonanzraum hoffen.
88 Brief von Werner Helwig an Karl Christian Müller vom 27. 11. 1972, in: NL KCM, Mappe 92. 89 Ingo Irsigler : Westdeutsche Geschichtslyrik der frühen Nachkriegszeit, in : Heinrich Detering, Peer Trilcke (Hg.): Geschichtslyrik. Ein Kompendium, Bd. 2, Göttingen 2013, S. 1056–1089, hier S. 1075. 90 Ahrens: Jugend (Anm. 1), S. 388.
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Die »falsche Art« der europäischen Einigung. Erinnerungsdiskurse des Begriffs Europa in der deutschen Jugendbewegung nach 1945
Am 14. September 1942 trafen sich Vertreter von vierzehn europäischen Jugendverbänden auf Einladung von Gauleiter Baldur von Schirach und Reichsjugendführer Artur Axmann in Wien. Unter Führung der deutschen HitlerJugend (HJ) und der italienischen GioventF italiana del Littorio (GIL) gründeten sie den sogenannten »Europäischen Jugendverband«.1 Die Veranstaltung wurde durch eine dezidiert europäische Rhetorik begleitet: Laut der Darstellung im Tagungsband stritt die Jugend Europas »für eine Zukunft, die nicht nur ein Europa der Macht bringt, sondern auch ein neues Europa des Geistes, das sich der großen Tradition dieses Erdteils, die ihm die Führung der Welt gab, würdig erweist.«2 »Stärker und geschlossener als je zuvor,« so befand auch der Führer des niederländischen Nationale Jeugdstorm, Cornelis van Geelkerken, »marschiert die Jugend Europas zu einer strahlenden Zukunft auf.«3 Vom 20. Juli bis zum 6. September 1951 fand auf der Loreley die sogenannte »Begegnung europäischer Jugend« statt. Das Treffen wurde durch den Deutschen Bundesjugendring veranstaltet und durch die Bundesregierung und die alliierten Besat1 Anwesend waren Vertreter aus Deutschland, Italien, Spanien, Belgien (Flandern und der Wallonie), Bulgarien, Dänemark, Finnland, Kroatien, den Niederlanden, Norwegen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn. Vgl. Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 787–802; Christoph Kühberger : Europa als »Strahlenbündel nationaler Kräfte«. Zur Konzeption und Legitimation einer europäischen Zusammenarbeit auf der Gründungsfeierlichkeit des »Europäischen Jugendverbandes« 1942, in: Journal of European Integration History, 2009, 15. Jg., H. 2, S. 11–28; Alessio Ponzio: Shaping the new man. Youth training regimes in Fascist Italy and Nazi Germany, Madison 2015, S. 171–198; Jürgen Reulecke: »Baldurs Kinderfest« oder: Die Gründung des Europäischen Jugendverbandes in Wien am 14. 09. 1942, in: Franz-Josef Jelich, Stefan Goch (Hg.): Geschichte als Last und Chance, Essen 2003, S. 315–323; Torsten Schaar : Artur Axmann. Vom Hitlerjungen zum Reichsjugendführer der NSDAP – eine nationalsozialistische Karriere, Rostock 1998, S. 313–332. 2 Taras von Borodajkewycz: Neue Welt Europa. Die Revolutionen, in: Günter Kaufmann (Hg.): Europa. Kontinent der Jugend, Wien u. a. 1942, S. 53–54, hier S. 54. 3 Acht jaar Nationale Jeugdstorm. En de samenwerking der volken in Europa, in: De Zwarte Soldaat, 1942, 3. Jg., Nr. 4, S. 9–10 [Übersetzung des Autors].
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zungsbehörden finanziell gefördert. Obwohl von den 30.000 Jugendlichen aus vierzehn Ländern, die das Lager besuchten, die Mehrheit aus Deutschland oder Frankreich stammte, wurde und wird das Treffen als wichtiger Schritt für die Wiederherstellung europäischer Jugendkontakte nach dem Zweiten Weltkrieg und Startpunkt der »europäischen Jugendkampagne« in den 1950er Jahren gewertet.4
In den Niederlanden berichtet »De Stormmeeuw«, die Zeitschrift des nationalsozialistischen Jugendverbandes, im September 1942 unter der Überschrift »Die Jugend Europas vereinigt!« und mit einem Bild Baldur von Schirachs über die Gründung des »Europäischen Jugendverbandes«. Quelle: De Stormmeeuw, orgaan van de Nationale Jeugdstorm, 1942, 8. Jg., Nr. 9, digitalisiert durch die Openbare Bibliotheek Amsterdam (PPN 832184543, Collectie Jeugdtijdschriften 1883–1950) über das Portal Geheugen van Nederland.
Obwohl die zweite Veranstaltung gerade neun Jahre nach der ersten stattfand, sind die Unterschiede unverkennbar. Im Gründungskontext des Europäischen Jugendverbandes von Krieg, Besatzung und Gewaltherrschaft war ein wirklicher Dialog über die zukünftige Gestaltung von Europa oder über die passenden Ideale einer europäischen Jugend nicht möglich. Die faschistischen Jugendverbände in Westeuropa standen stark unter dem Einfluss der HJ und der GIL und 4 Gerhard Brunn: Das Europäische Jugendtreffen 1951 auf der Loreley und der gescheiterte Versuch einer europäischen Jugendbewegung, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Rückkehr in die Ferne. Die deutsche Jugend in der Nachkriegszeit und das Ausland, Weinheim 1997, S. 81–101; Uwe Müllenmeister : Die Begegnung europäischer Jugend 1951. Anfänge der internationalen Jugendarbeit, in: Deutscher Bundesjugendring (Hg.): Kein Alter zum Ausruhen. 40 Jahre Deutscher Bundesjugendring, Düsseldorf 1989, S. 176–183.
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vertraten in ihren jeweiligen Heimatländern nur Minderheiten der Jugend. Zwar waren auch die europäischen Ideale von 1951 sehr politisch motiviert und die damalige Europabegeisterung der westeuropäischen Jugendlichen kann in Frage gestellt werden.5 Dennoch standen die Formen europäischer Zusammenarbeit auf Jugendebene nach dem Zweiten Weltkrieg auf ganz neuer Grundlage. Die europäische Jugendkampagne befürwortete ein europäisches Einigungsprojekt im Rahmen des Europarates und der Montanunion, auf der Grundlage der Gleichwertigkeit und freiwilligen Übertragung von Kompetenzen an ein supranationales Gremium.6 In diesem Aufsatz steht die Kontinuität der Begriffe Europa und europäische Jugend im Mittelpunkt. Gerade in Deutschland und in der deutschen Jugend musste auf diskursiver Ebene die Verwendung dieser Konzepte nach dem Krieg aktiv aufgearbeitet werden. Die meisten Deutschen der jüngeren Generation waren ehemalige Mitglieder der HJ oder gar Angehörige der Wehrmacht oder der SS und kannten dementsprechend die nationalsozialistische Propaganda zum Thema Europa während des Zweiten Weltkriegs. Die Jugendführer, Verbände und Organisationen, die nach 1945 die Ideale der Europäischen Bewegung als neue Grundlagen einer europäischen Jugendzusammenarbeit hervorhoben, mussten sich damit befassen, dass Europa und europäische Jugend für viele junge Deutsche eine andere Bedeutung hatte und auch Vertreter der Partnerorganisationen im Ausland sich aktiv an die nationalsozialistische Europapropaganda erinnern konnten. Jürgen Reulecke weist darauf hin, dass bei dem Start der Europäischen Jugendkampagne 1951 »eine irgendwie geartete Erinnerung an oder gar ein Rückbezug auf das Projekt Baldur von Schirachs und seiner Mitstreiter von 1941/42 […] selbstverständlich von allen Beteiligten geflissentlich vermieden« wurde.7 Obwohl Reuleckes Wortwahl »vermieden« suggeriert, dass den Beteiligten 1951 durchaus die nationalsozialistische Belastung des Begriffs europäische Jugend bewusst war, bleibt die Frage, wie die deutschen Jugendverbände sich diskursiv von dieser belasteten Vergangenheit abgrenzten. Der nachfolgende Text behandelt zunächst das Grundproblem: die nationalsozialistische Version des Europagedankens, die auf der Ebene der Jugend5 Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4), S. 96–99; Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958, Göttingen 2016. 6 Marianne Lippens: La Campagne Europ8enne de la jeunesse (CEJ) de 1951 / 1958, in: Michel Dumoulin (Hg.): La Belgique et les d8buts de la construction europ8enne. De la guerre aux trait8s de Rome, Louvain-la-Neuve 1987, S. 51–57; Norwig: Generation (Anm. 5); Jean-Marie Palayret: Eduquer les jeunes / l’Union. La campagne europ8enne de la jeunesse (1951–1958), in: Journal of European Integration History, 1995, 1. Jg., H. 2, S. 47–60; Heinz Westphal: Jugendverbände und der Deutsche Bundesjugendring auf dem Weg in die internationale Gemeinschaft, in: Reulecke: Rückkehr (Anm. 4), S. 103–123, hier S. 116–123. 7 Reulecke: Kinderfest (Anm.1), S. 323.
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verbände in der Gründung des Europäischen Jugendverbandes 1942 gipfelte und auch nach 1945 noch präsent war. Nach einem kurzen Abriss zur Quellenlage und Forschungsmethodik werden die drei zentralen Narrative der Vergangenheit der deutschen Jugendbewegung angesprochen. Das dritte Narrativ, laut dem eine Lücke von zwölf Jahren bestanden habe und die deutsche Jugend zwischen 1933 und 1945 nicht in internationale Austausch- und Zusammenarbeitsstrukturen eingebunden gewesen sei, konnte sich nach 1947 durchsetzen. Dieses Narrativ konnte insbesondere durch die Unterstützung französischer Vertreter und durch die besondere internationale Interessenlage der Bundesrepublik um 1950 erfolgreich werden.
Der Europäische Jugendverband: Europäische Jugend nach nationalsozialistischen Vorstellungen Das vorliegende Projekt schließt sich einem Trend aktueller Forschung an, der die Erfolgsgeschichte des Europäischen Integrationsprozesses hinterfragt und auf konkurrierende Europadiskurse hinweist. Die Vision eines neuen Europa faschistischer Prägung zieht bereits seit Jahrzehnten die Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Einschlägige Studien zur wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Länder und der propagandistischen Verwendung des Begriffs Europa haben darauf hingewiesen, dass dieses Europa letztlich deutschen wirtschaftlichen und militärischen Interessen diente.8 Die sehr konkreten Pläne im deutschen Wirtschaftsministerium während des Krieges, einen europäischen Innenmarkt oder eine europäisch koordinierte Industriepolitik einzurichten, weisen Parallelen zu späteren Initiativen auf, auch wenn sie nicht als unmittelbare Vorläufer der heutigen Europäischen Union verstanden werden können.9
8 Enzo Collotti: L’Europa nazista. Il progetto di un Nuovo ordine europeo (1939–1945), Florenz 2006; Monica Fioravanzo: Die Europakonzeptionen von Faschismus und Nationalsozialismus (1939–1943), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2010, 58. Jg., H. 4, S. 509–541; Dieter Gosewinkel: Antiliberales Europa – eine andere Integrationsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2012, 9. Jg., H. 3, S. 351–364; Roger Griffin: Europe for the Europeans. Fascist Myths of the European New Order 1922–1992, in: Matthew Feldman (Hg.): A fascist century. Essays by Roger Griffin, New York 2008, S. 132–180; Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster 2002; Mark Mazower : Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Bonn 2010, S. 509–528; Hans Werner Neulen: Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939–45, München 1987. 9 Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, S. 264–285; John Laughland: The Tainted Source. The Undemocratic Origins of the European Idea, London 1998; Thomas Sandkühler : Europa und der Nationalsozialismus. Ideologie, Währungspolitik,
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Die nationalsozialistische Verwendung des Europabegriffs war jedenfalls mehr als nur ein zynischer Propagandaakt im Dienste machtpolitischer Erwägungen. Madeleine Herren und Benjamin Martin weisen darauf hin, dass die neuen internationalen oder europäischen Verbände während des Zweiten Weltkrieges zum Ziel hatten, die bestehenden Machtverhältnisse in der internationalen Wissenschaft und Kultur umzugestalten. Das liberale Europa mit den universalen Werten der Französischen Revolution Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sollte durch ein faschistisch definiertes Europa der national geprägten, völkischen Kulturen ersetzt werden.10 Zahlreiche Studien zum transnationalen Faschismus belegen, wie stark die europäische Idee und der Traum der Schaffung einer neuen Ordnung während des Zweiten Weltkrieges verbreitet waren.11 Die Historiografie zu den faschistischen Jugendverbänden und zum Europäischen Jugendverband hat dieses Europaengagement lange Zeit nicht ernst genommen.12 Natürlich war die Idee einer europäischen Jugend auch ein geschickter Propagandazug, um letztendlich die Jugendlichen in den besetzten und verbündeten Ländern für die deutsche Kriegsanstrengung in der multinational organisierten Waffen-SS zu rekrutieren.13 Die militärische Funktion der nationalsozialistischen Europavision wurde im Tagungsband des Gründungskongresses des Europäischen Jugendverbandes explizit hervorgehoben. Neues Europa wurde darin gleichgesetzt mit »dem Kreuzzug gegen die größte Barbarei, die Europa jemals bedrohte«: die Völker Europas leisteten vereint ihren »Anteil
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Massengewalt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2012, 9. Jg., H. 3, S. 428–441. Madeleine Herren: ›Outwardly … an Innocuous Conference Authority‹: National Socialism and the Logistics of International Information Management, in: German History, 2002, 20. Jg., H. 1, S. 67–92; Benjamin Martin: The Nazi-Fascist New Order for European Culture, Cambridge 2016. Vgl. Johannes Dafinger : The Nazi »New Europe«: Transnational Concepts of a Fascist and Völkisch Order for the Continent, in: Arnd Bauerkämper, Grzegorz Rossolin´ski-Liebe (Hg.): Fascism without borders. Transnational connections between movements and regimes in Europe from 1918 to 1945, New York 2017, S. 264–287. Ruth Ben-Ghiat: Italian Fascists and National Socialists. The Dynamics of an Uneasy Relationship, in: Richard E. Etlin (Hg.): Art, Culture, and Media under the Third Reich, Chicago 2002, S. 257–284; Bernard Bruneteau: »L’Europe nouvelle« de Hitler. Une illusion des intellectuels de la France de Vichy, Monaco 2003; Robert Grunert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945, Paderborn 2012; Martin: Order (Anm. 10); Neulen: Europa (Anm. 8). Kühberger : Europa (Anm. 1); Ponzio: Man (Anm. 1), S. 171–198. Buddrus: Erziehung (Anm. 1), S. 774–851; Robert Edwin Herzstein: When Nazi dreams come true. The Third Reich’s internal struggle over the future of Europe after a German victory, London 1982, S. 155–180; Kühberger : Europa (Anm. 1); Wilfried Loth: Rettungsanker Europa? Deutsche Europa-Konzeptionen vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 201–221, hier S. 201–204; Reulecke: Kinderfest (Anm. 1); Schaar : Axmann (Anm. 1), S. 316–330.
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an der Neugestaltung in der Riesenfront des Ostens«.14 Dadurch wurde die Gründung des Europäischen Jugendverbands aber keineswegs zu einer Chimäre.15 Mit Blick auf die Kontinuität der transnationalen Verbindungen der HJ seit 1930 war die Konferenz im September 1942 keine isolierte Erscheinung.16 Die Teilnahme ausländischer faschistischer Jugendverbände kann keineswegs ausschließlich auf deutschen Druck oder reine Propaganda zurückgeführt werden. Die Staatsjugendorganisationen Italiens und Spaniens konnten durchaus eine autonome Position gegenüber der HJ behaupten und sogar eigene Akzente bei der Definition einer europäischen Jugend setzen. Sie bekannten sich dennoch zum Gesamtkonzept einer europäischen neuen Ordnung nationalsozialistischer Prägung, wie auch Van Geelkerken in dem eingangs erwähnten Zitat. Europäische Verständigung, Austausch in internationalen Ferienlagern, Formen jugendlichen Zusammenlebens, das Erlebnis Jugendbewegung überhaupt waren während des Krieges nur in faschistischen Jugendverbänden möglich und denkbar. Der Europabezug des Nationalsozialismus wurde durch die alliierte Propaganda ebenfalls ernst genommen. Die Werte der Freiheit und Demokratie, Grundprinzipien der amerikanischen und britischen Kriegspropaganda, hatten keinen expliziten Bezug zu Europa. Mark Mazower vertritt sogar die These, dass erst das nationalsozialistische Europamodell die westlichen Alliierten und den europäischen Widerstand auf das Thema aufmerksam gemacht und zur Entwicklung alternativer europäischer Gedanken geführt habe.17 Erst Winston Churchills »Rede an die akademische Jugend« am 19. September 1946 machte ihn zu einer Leitfigur der frühen Europäischen Bewegung. Die europäischen Widerstandsbewegungen konnten ihre wichtigen Ansätze und Visionen eines zukünftigen Europas im Kontext von Krieg und Besatzung bis 1944/45 nicht aktiv verbreiten.18 Sowohl die bestehende Historiografie als auch die untersuchten Quellen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unterstützen die Hypothese, dass die Kon14 Borodajkewycz, Welt (Anm. 2), S. 54. Vgl. Hans Bähr : Europas Jugend an der Front, in: Kaufmann: Europa (Anm. 2), S. 84–88. 15 Michael Wortmann: Baldur von Schirach. Hitlers Jugendführer, Köln 1982, S. 213. 16 Vgl. Buddrus: Erziehung (Anm. 1), S. 742–851; Holger Skor : Brücken über den Rhein. Frankreich in der Wahrnehmung und Propaganda des Dritten Reiches, 1933–1939, Essen 2011, S. 279–297; Dieter Tiemann: Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989. 17 Mazower : Imperium (Anm. 8), S. 509–528. 18 Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Bonn 2004, S. 23–84; Walter Lipgens (Hg.): Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945, München 1968; Frank Niess: Die europäische Idee – aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt a. M. 2001, S. 30–47; Boris Schilmar : Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933–1945, München 2004.
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zepte Europa und europäische Jugend in der deutschen Jugend 1945 noch stark durch ihre nationalsozialistische Interpretation geprägt wurden. Neben dem oben genannten Zitat von Jürgen Reulecke stellt auch Gerhard Brunn für das Jugendtreffen auf der Loreley 1951 fest, dass »viele junge Deutsche noch mit der Idee Europas nostalgische Erinnerungen an das Deutschland der Jahre 1941 bis 1944 [verbanden], für das sie als Streiter hinausgezogen seien, um ein nazistisches Europa auf dem Sieg über das barbarische Rußland aufzubauen.«19 Die These, dass deutsche Jugendliche gerade deshalb so für den Europagedanken aufgeschlossen seien, weil sie in Krieg und Kriegsgefangenschaft bereits die nationalsozialistische Auffassung von Europa kennengelernt hätten, ist tatsächlich schon in publizierten Quellen in den 1940er Jahren vorhanden. Die Frage aber, ob die Jugendlichen wirklich aus der Motivation einer »Flucht vor dem schuldbehafteten Nationalstaat in ein partnerschaftliches Europa« aktiv die Auflösung Deutschlands in die Vereinigten Staaten von Europa befürworteten, lässt sich mit dem im Rahmen dieser Untersuchung untersuchten Quellenmaterial nicht beantworten.20 Die häufig kolportierte Europabegeisterung unter deutschen Jugendlichen scheint aus drei Gründen unwahrscheinlich: Zum einen würde sie den häufigen Klagen über das allgemeine Desinteresse der »skeptischen Generation« an politischen oder internationalen Themen widersprechen.21 Zum zweiten war nach dem Ende der politischen und finanziellen Unterstützung für die Europäischen Jugendkampagne auf der Ebene der Dachverbände von der Europabegeisterung deutscher Jugendlichen wenig mehr zu erfahren.22 Drittens war unmittelbar nach 1945 noch keineswegs geklärt, was ein Bekenntnis zu Europa oder europäischer Einigung bedeuten sollte. In den ersten Nachkriegsjahren war weder ausgeschlossen, dass Europa auf das nationalsozialistische Projekt Bezug nahm, noch sichergestellt, dass Deutschland in irgendeiner Form an einer alternativen europäischen Einigung teilnehmen dürfte. Zur Beantwortung der Fragen, von welchem Europa jeweils die Rede war und in welchem Zusammenhang das europäische Engagement und die belastete Vergangenheit der deutschen Jugend standen, will dieser Aufsatz einen Beitrag leisten. 19 Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4), S. 88. 20 Friedhelm Boll: Flucht aus der Geschichte oder »Erziehung zum aktiven Staatsbürger und Europäer«? Europabegeisterung von Schülern und Studenten in Hannover und Niedersachsen um 1950, in: Reulecke: Rückkehr (Anm. 4), S. 53–79, hier S. 79; Tony Judt: The past is another country : myth and memory in post-war Europe, in: Jan-Werner Müller (Hg.): Memory and Power in Post-War Europe, Cambridge 2002, S. 157–183, hier: S. 169; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 118–135. 21 Helmut Schelsky : Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. 22 Lippens: Campagne (Anm. 6); Müllenmeister : Begegnung (Anm. 4); Norwig: Generation (Anm. 5); Palayret: Jeunes (Anm. 6).
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Quellen, Forschungsebenen, Diskursanalyse Anhand der bestehenden Forschungsliteratur konnte eine Auswahl der einflussreichsten Zeitschriften getroffen werden. Die Zeitschriften waren bis zur Währungsreform 1948 das wichtigste Kommunikationsmedium der deutschen Jugendverbände. Für die hier vorgestellte Forschungsfrage sind sie aber in den meisten Fällen eine eher schwierige Quellengattung. In den Jugendzeitschriften wurde der Begriff Europa nämlich zwar häufig erwähnt, aber nur in den seltensten Fällen explizit definiert. Da die Jugendverbände zunächst noch unter Aufsicht der alliierten Besatzungsbehörden standen, war offene Kritik an der europäischen Nachkriegsordnung oder ein offener Dialog mit nationalsozialistischen oder kommunistischen Perspektiven nicht möglich.23 Umgekehrt wurde in den Publikationen und den Schriften der Europabewegung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die durchaus auch alternative Europakonzepte berücksichtigten, selten versucht, den »Gedanken des Vereinten Europas in den Herzen der jüngeren Menschen [zu] entzünden«.24 Neben der Zeitschriftenforschung sollten deshalb in den relevanten Archiven Tagebücher, private Korrespondenz und sonstige Quellen und Egodokumente von damaligen Jugendführern und Jugendorganisationen gesichtet werden.25 Ergänzend zum Quellenmaterial kann diese Untersuchung auf eine reiche Auswahl bestehender Studien zu den tatsächlichen Auslandskontakten deutscher Jugendverbände nach 1945 zurückgreifen. Dabei handelt es sich sowohl um Erinnerungen von Zeitzeugen als auch um Einzeldarstellungen, die entweder den Wiederaufbau einzelner Verbände, ihre Verbindungen zum Ausland26 oder
23 Doris von der Brelie-Lewien: Katholische Zeitschriften in den Westzonen 1945–1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen u. a. 1986; Manfred H. Burschka: Re-education und Jugendöffentlichkeit. Orientierung und Selbstverständnis deutscher Nachkriegsjugend in der Jugendpresse 1945–1948. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen 1987; Martin Hussong: Jugendzeitschriften von 1945 bis 1960. Phasen, Typen, Tendenzen, in: Klaus Doderer (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945–1960, Weinheim 1988, S. 521–585; J8rime Vaillant: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945–1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung, München u. a. 1978. 24 Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4), S. 89; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 51–81. Vgl. Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (Hg): Le discours europ8en dans les revues allemandes (1945–1955), Bern u. a. 2001. 25 Vgl. dazu Susanne Rappe-Weber: Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne (1951–1958), in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen 2017, S. 249–251. 26 Bodo Brücher : Auslandskontakte der sozialistischen Jugendbewegung nach 1945 und die Entwicklung der internationalen Jugendarbeit, in: Reulecke: Rückkehr (Anm. 4), S. 33–44;
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die Entwicklung in einer bestimmten Region27 betrachten. In dem durch Jürgen Reulecke herausgegebenen Sammelband »Rückkehr in die Ferne« wird unter anderem auf die politischen Hintergründe des Jugendtreffens auf der Loreley 1951 eingegangen.28 Die Europäische Jugendkampagne wurde durch Christina Norwig in ihrer 2016 erschienenen Studie analysiert. Ihre Untersuchung setzt allerdings erst 1951 an: Das nationalsozialistische Europaverständnis wird zwar kurz erwähnt, aber nicht weiter in Betracht gezogen.29 Die Frage nach der Aufarbeitung und Historisierung der belasteten Vergangenheit des Begriffs Europa wird in ihrem Buch nicht weiter berücksichtigt. Spätestens auf der Loreley 1951 setzte sich ein Verständnis von Europa durch, das eng an das Projekt westeuropäischer politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit in der Form von Europarat und Montanunion anknüpfte. Der Begriff europäische Jugend wurde nunmehr mit der Gleichwertigkeit der national organisierten Jugendverbände, mit Demokratie nach westeuropäischem Verständnis, mit Frieden und Versöhnung assoziiert. Dieser neue Diskurs ersetzte den bis 1945 vorherrschenden Ansatz von Europa und europäischer Jugend. Die deutschen Jugendverbände mussten dementsprechend aushandeln, wie denn das europäische Jugendprojekt von Faschismus und Nationalsozialismus historisiert und mit ihrem neuen Europaengagement in Einklang gebracht werden konnte. Mit Blick auf die oben angesprochene schwierige Quellenlage wird dieses Aushandeln anhand einer Diskursanalyse untersucht. Eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Begriffe Europa und Europäische Jugend kann nur indirekt, durch einen Abgleich der behandelten und gerade nicht behandelten Themen im Quellenkorpus festgestellt werden. Von den drei unterschiedlichen Analyseebenen ist die erste Ebene, die tatsächlichen Kontakte der deutschen Jugend während des Zweiten Weltkriegs und die Wiederaufnahme der Auslandsbeziehungen nach 1945, für die Diskursanalyse nicht unbedingt relevant. Die zeitgenössische Diskussion über die Bedeutung von Europa im Zeitalter von welthistorischen Umbrüchen und Konfrontation zwischen den beiden Blöcken im Kalten Krieg bildet eine zweite Analyseebene. Direkt nach Roland Gröschel: Zwischen Tradition und Neubeginn. Sozialistische Jugend im Nachkriegsdeutschland, Hamburg 1986; Westphal: Jugendverbände (Anm. 6). 27 Friedhelm Boll: Auf der Suche nach Demokratie. Britische und deutsche Jugendinitiativen in Niedersachsen nach 1945, Bonn 1995; Dieter Danckwortt: Internationale Jugendgemeinschaftsdienste und die Gründung der IJGD in Niedersachsen im Jahre 1948. Anlässe und Vorläufer für den Wiederbeginn des internationalen Jugendaustausches nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Reulecke: Rückkehr (Anm. 4), S. 45–51; Roland Gröschel, Michael Schmidt: Trümmerkids und Gruppenstunde. Zwischen Romantik und Politik: Jugend und Jugendverbandsarbeit in Berlin im ersten Nachkriegsjahrzehnt, Berlin 1990. 28 Reulecke: Rückkehr (Anm. 4). 29 Norwig: Generation (Anm. 5), S. 49ff.
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und teilweise sogar noch während des Zweiten Weltkriegs wurde kontrovers über eine neue Interpretation von Europa diskutiert. Die aktuelle Historiografie betrachtet dies als einen ergebnisoffenen Prozess, bei dem die europäische Integration im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zunächst nur eine Option unter vielen war. Dabei wird gerade viel auf die Europabewegung der Jahre 1946 bis 1948 und ihre Bedeutung für die Reintegration Deutschlands in die europäische Debatte über die Zukunft des Kontinents hingewiesen.30 In den Jugendzeitschriften in den deutschen Westzonen war zum Beispiel relativ viel über die enge Verbindung zwischen Europa und der »Rettung« des christlichen »Abendlandes« die Rede.31 In den untersuchten Zeitschriften wurden die Themen Ausland, Europa und Europäische Jugend nur in den seltensten Fällen explizit in Verbindung mit Nationalsozialismus, Kriegserfahrungen, oder Erinnerungen an Jugendaustausch vor 1945 behandelt. Die Analyse jedoch, wann welche Themen angesprochen und bestimmte Fragen um den Begriff Europa gerade nicht gestellt wurden, lässt auf die Verarbeitung der belasteten Vergangenheit der deutschen Jugendbewegung schließen. Dass Fragen nach einer Neugründung europäischer Jugenddachverbände oder Wiedergutmachungsaktionen durch die deutsche Jugend überhaupt gestellt wurden, ist dabei genauso wichtig wie die Tatsache, dass von deutscher Seite aktiv der Begriff Europa als Konzept für die Zukunft der Jugendzusammenarbeit hervorgebracht wurde. Die folgenden dominanten Narrative beziehen sich ausdrücklich auf eine dritte Ebene, die der Aufarbeitung der eigenen europapolitischen Vergangenheit der deutschen Jugendbewegung. Es geht darum, wie deutsche Jugendführer nach 1945 im Ausland und gegenüber ideologischen Gegnern die Fragen beantworteten, welche Europabezüge der deutschen Jugend während des Krieges bestanden und warum ein deutscher Jugendverband wieder in eine internationale Dachorganisation aufgenommen werden sollte. Dabei wurde in den seltensten Fällen eine genaue Definition von Europa angeboten oder ein expliziter Bezug auf den Europäischen Jugendverband von 1942 hergestellt. Wenn aber in der Darstellung der Vergangenheit der deutschen Jugend die nationalsozialistische Deutung Europas verschwiegen wurde oder so getan wurde, als ob es den Eu30 Christian Bailey : Between Yesterday and Tomorrow. German Visions of Europe 1926–1950, New York u. a. 2013; Brunn: Einigung (Anm. 18), S. 52–65; Conze: Europa (Anm. 9); Frederike Neißkenwirth: »Die Europa-Union wird Avantgarde bleiben«. Transnationale Zusammenarbeit in der niederländischen und deutschen Europabewegung (1945–1958), Münster 2016. 31 Brelie-Lewien: Zeitschriften (Anm. 23), S. 135–143; Conze, Europa (Anm. 9); Vanessa Plichta: »Die Erneurung des Abendlandes wird eine Erneuerung des Reiches sein«. Europaideen in der Zeitschrift Neues Abendland (1946–1958), in: Grunewald, Bock: Discours (Anm. 24), S. 319–343.
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ropäischen Jugendverband nie gegeben hätte, ist dies bereits ein wertvolles Forschungsergebnis. Es ist für diese Analyse nicht zwingend notwendig, den Diskurs noch einmal mit der eigentlichen Sachlage zu konfrontieren und festzustellen, was denn faktisch »richtig« oder »falsch« war.32 Die nachfolgend dargestellten diskursiven Ansätze bilden keine bewusste »Bewältigungsstrategie« der belasteten Vergangenheit des Europabegriffs. Vielmehr war für deutsche Jugendverbände bis 1947/48 einfach kein alternatives Konzept für europäische Jugend vorhanden. Erst nachdem für die nationalsozialistische Vergangenheit dieses Begriffs eine passende Lösung gefunden wurde, konnte die deutsche Jugend den diskursiven Anschluss zu den anderen Jugendverbänden in Westeuropa und ihrem Verständnis von Europa finden.
Drei Narrative der Vergangenheit In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden in den untersuchten Quellen die Darstellungen der eigenen Vergangenheit und der historischen Kontinuität der deutschen Jugend, ihres Europaverständnisses und ihrer konkreten europäischen Kontakte nach dem Muster der folgenden drei Narrative gefasst. Laut dem ersten Narrativ, der nationalsozialistischen Darstellung, bestand kein Widerspruch zwischen den Idealen und den europäischen Kontakten der Jugendbewegung vor 1933, und nationalsozialistisch geprägten Austausch- und Netzwerkaktivitäten nach 1933. In dieser Darstellung, die bis 1945 auch viele ehemaligen Jugendführer der bündischen Jugend unterstützten,33 stellten erst die deutschen Kriegsniederlage 1945, die Auflösung der Hitlerjugend und die Einschränkungen der alliierten Besatzungsbehörden Elemente der Diskontinuität dar. Ehemalige Nationalsozialisten betonten die europäische Dimension des Projektes der neuen Ordnung und kontrastierten diesen mit den europapolitischen Projekten der Nachkriegszeit.34 Als in den fünfziger Jahren erneut Pläne 32 Für diesen Ansatz vgl. Martin Conway, Volker Depkat: Towards a European History of the Discourse of Democracy : Discussing Democracy in Western Europe, 1945–60, in: Martin Conway, Kiran Klaus Patel (Hg.): Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Basingstoke 2010, S. 132–156; Judt: Past (Anm. 20). 33 Vgl. Jürgen Reulecke: »Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?«. Zum Umgang mit einer falschen Frage, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 222–243. 34 Gideon Botsch: Zur Kontinuität nationalsozialistischer Europa-Konzeptionen nach 1945. Studien zum Europabild des frühen Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1997; Andrea Mammone: Revitalizing and de-territorializing fascism in the 1950s. The extreme right in France and Italy, and the pan-national (›European‹) imaginary, in: Patterns of Prejudice, 2011, 45. Jg., H. 4, S. 295–318; Fritz Taubert: La m8moire d’une autre r8conciliation: le r8cit des anciens collaborationnistes au lendemain de la Seconde Guerre mondiale, in: Cahiers d’histoire, 2007, 100. Jg., S. 51–65.
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einer europäischen gemeinsamen Armee verhandelt wurden, wiesen Neonazis und Neofaschisten in Zeitschriften wie »Nation Europa«35 explizit darauf hin, dass solche Pläne eine Vorgeschichte vor 1945 hatten und die Waffen-SS die erste europäische Armee gewesen sei.36 Beispielhaft für dieses Narrativ der Kontinuität und Diskontinuität schrieb Otto Abetz abschließend in seinen 1951 veröffentlichten Memoiren: »Es ist heute viel von Europa die Rede: aber die Franzosen, die diesem Gedanken am meisten ergeben waren, weilen nicht mehr unter den Lebenden […]. Man spricht auch wieder und immer häufiger von der Notwendigkeit einer deutsch-französischen Verständigung: aber die französischen Vorkämpfer und treuesten Anhänger dieser Idee liegen unter der Erde, schmachten in Kerkern, sind von Haus und Hof vertrieben, aus ihren Berufen und Ämtern verjagt.«37 Er behauptete damit faktisch, dass die französischen Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg doch die »richtigen« Europäer gewesen seien und reihte ihr und sein Europaverständnis in die lange Tradition deutschfranzösischer Verständigung ein. Das zweite Narrativ wurde in erster Linie durch das Ausland und durch die Freie Deutsche Jugend (FDJ) in der Sowjet-Besatzungszone gehegt. Auch in dieser Darstellung bestand eine deutliche ideologische und personelle Kontinuität zwischen der Jugendbewegung vor 1933 und der Hitler-Jugend. Auch 1945 sei kein Moment des Umbruchs gewesen. Alle Bestrebungen, nach 1945 an Erbe und Tradition der deutschen Jugendbewegung anzuknüpfen, seien nur ein Tarnmanöver. Es seien immer noch die gleichen deutschen Jugendlichen, die gleichen Jugendführer und die gleiche Tendenz, andere Völker als untergeordnet zu betrachten und ein Europa deutscher Prägung anzustreben. Die Hitler-Jugend und der »europäische Jugendverband« seien keine Anomalie oder Unterbrechung in der Geschichte der deutschen Jugendbewegung, sondern logische Konsequenz einer auch nach 1945 bestehenden Kontinuität. Die Frage der tatsächlichen Kontinuität in der Geschichte der Jugendverbände muss selbstverständlich differenziert betrachtet werden: Sie wurden entweder nach 1945 ganz neu gegründet, konnten sich mit Recht auf Traditionen vor 1933 berufen oder bezogen sich sogar auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Der im Ausland und in der FDJ vorherrschende Diskurs der Kontinuität hatte aber sehr reale Auswirkungen auf die deutschen Jugendverbände in den allerersten Nachkriegsjahren. Sie wurden im Ausland immer wieder mit konkreten Verdächtigungen und mit einem allgemeinen, diffusen Misstrauen begegnet und 35 Armin Pfahl-Traughber : Zeitschriftenporträt: Nation Europa, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie, 2000, 12. Jg., S. 305–322. 36 Mammone: Fascism (Anm. 34), S. 302; nh: Die große Kameradschaft, in: Deutsche Jugend, 1954, 2. Jg., H. 1, S. 39. 37 Otto Abetz: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik, Köln 1951, S. 309.
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hatten dementsprechend ein großes Interesse daran, den Eindruck einer historischen Kontinuität wegzunehmen oder eine alternative Darstellung ihrer europapolitischen Vergangenheit vor 1945 vorzubringen. Das dritte Narrativ wurde ursprünglich von der deutschen Sozialdemokratie geprägt. Nach der Auflösung der sozialdemokratischen Organisationen 1933 ging die SPD-Führung ins Exil. Die deutsche Jugend, so ihre Erzählung, wurde zwangsweise in der Hitler-Jugend untergebracht, und gerade Arbeiterkinder und -jugendlichen hatten nicht die Möglichkeit sich zu organisieren. Erst 1945 konnte die Sozialdemokratie aus dem Ausland oder aus der inneren Emigration zurückkehren und an die abgebrochenen Traditionen, Verbände und Formen von vor 1933 anknüpfen.38 Es klaffte dementsprechend, so das Narrativ, eine Lücke von zwölf Jahren in der Geschichte dieser Verbände. Die kommunistische und Teile der konfessionellen Jugend verwendeten ähnliche Ansätze in ihrer Selbsthistorisierung, mit leicht unterschiedlichen Akzenten und unterschiedlicher Periodisierung. Katholische Jugendverbände wurden, geschützt durch das Reichskonkordat, nicht schon 1933 aufgelöst, sondern konnten sich noch einige Jahre behaupten. Die kommunistische Jugend und insbesondere die FDJ bezogen sich stark auf den antifaschistischen Widerstand. In beiden Fällen war der Bezug auf die Unterdrückung durch den Nationalsozialismus und den Widerstand eine erfolgreiche diskursive Lösung, jede Assoziierung des eigenen Jugendverbands mit dem Nationalsozialismus und seinem Projekt der europäischen Jugend vor 1945 von der Hand zu weisen.39
Kontext Die neu gegründeten deutschen Jugendverbände nach 1945 konnten selbstverständlich nicht allein über die Narrative ihrer Vergangenheit bestimmen. Das zweite Narrativ, der pauschale Vorwurf der Kontinuität der deutschen Jugendbewegung und Hitler-Jugend, war zunächst dominant und verhinderte auf der Ebene der tatsächlichen Jugendkontakte die Wiederherstellung der europäischen Jugendnetzwerke. Dass das nationalsozialistische Europaprojekt in der deutschen Öffentlichkeit präsent blieb, wird zum Beispiel durch einen Beitrag in einer der ersten Ausgaben der »Welt« belegt. Darin hieß es über die neue Ord38 Gröschel: Tradition (Anm. 26); Heinz Westphal: Fünfzig Jahre Arbeiterjugendbewegung, in: Deutsche Jugend, 1954, 2. Jg., H. 10, S. 449–455. 39 Zum Diskurs des Widerstands in der deutschen Jugend bzw. der deutschen Jugendbewegung, vgl. Wilfried Breyvogel: Die Gruppe »Weiße Rose«. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte und kritischen Rekonstruktion, in: ders. (Hg.): Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus, Bonn 1991, S. 159–201; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 307–313.
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nung: »Den anderen Nationen in Europa wurde eine untergeordnete Rolle zudiktiert, in der sie Sklavenarbeit für den deutschen Großraum zu leiten hatten. Die Lage, in der sich Deutschland jetzt befindet, wird von den bitteren Erfahrungen bestimmt, die andere Völker mit der neuen Ordnung in Europa gemacht haben.«40 Auch in Beiträgen ausländischer Schriftsteller und deutscher Kriegsgefangenen im Ausland, die in den neu erscheinenden Jugendzeitschriften abgedruckt wurden, wurde darauf hingewiesen, dass die deutsche Unterdrückung Europas während des Krieges »die falsche Art der Einigung, die Einigung der Sklaverei und nicht der Freiheit« und deshalb das Misstrauen der anderen europäischen Völker Deutschland gegenüber »absolut verständlich« sei.41 Häufig zeigten sich deutsche Jugendliche überrascht, als sie im Ausland herzlich und ohne Vorurteile begrüßt wurden.42 Durch den grundsätzlichen Verdacht gegen die deutsche Jugend im Ausland wurde sogar die FDJ getroffen, obwohl sie, ironisch genug, diesen Diskurs faktisch teilte und den bürgerlichen Jugendverbänden die Kontinuität nationalsozialistischer Ansätze vorwarf. Ihre Aufnahme in den Weltbund der Demokratischen Jugend (World Federation of Democratic Youth) scheiterte 1947 noch an der Ablehnung der polnischen und tschechoslowakischen Jugendverbände.43 Im sozialdemokratischen Milieu bestanden ähnliche Vorbehalte. Auf der Gründungskonferenz der neuen Internationalen Union Sozialistischer Jugendverbände in Paris erhielten die deutschen Verbände 1946 zunächst nur den Beobachterstatus. Trotz des Einsatzes für Verständigung durch den Vorsitzenden der Jugendinternationale, Per Haekkerup, wollte eine Mehrheit zu dem Zeitpunkt nicht durch die Wiederaufnahme der Deutschen den polnischen Mitgliedsverband verstimmen.44 Im Kontext des Kalten Krieges bestand vor allem in Frankreich und Großbritannien großes politisches Interesse, trotz der belasteten Vergangenheit von Krieg und Besatzung die junge Bundesrepublik als politischen, wirtschaftlichen und militärischen Partner in eine neu konzipierte europäische Einigung zu in40 Schicksal Europa, in: Die Welt, 12. 04. 1946, S. 1. 41 Günther Seneberg: Europa muß sich einigen, in: Benjamin, 1947, 1. Jg., H. 1, S. 24–25; Stephen Spender : Zerbrochene Brücken über den Rhein (I), in: Der Ruf der jungen Generation. Unabhängige Blätter, 1946/47, 1. Jg., H. 9, S. 6–7; Westphal, Jugendverbände (Anm. 6), S. 104. 42 Gerhard von Lingen: Voebug, ret Ryggen og tal Sanhed!, in: Jungenwacht. Ein Blatt evangelischer Jugend, 1947, 1. Jg., H. 9, S. 24; Hans Mertens: Fahrt nach England 1945, in: Der Fährmann, 1947, H. 8, S. 11–12; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 316–320. 43 Ulrich Mählert: Die Freie Deutsche Jugend 1945–1949. Von den »Antifaschistischen Jugendausschüssen« zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone, Paderborn 1995, S. 214–221; Harald H. Müller: »Weltbund« gegen Westmächte, in: Horizont. Halbmonatsschrift für junge Menschen, 1947, 2. Jg., H. 20, S. 12. 44 IUSJ – Internationale Union der Sozialistischen Jugend, in: Der Fährmann, 1948, H. 12, S. 8; Brücher : Auslandskontakte (Anm. 26), S. 34f.; Westphal: Jugendverbände (Anm. 6), S. 107.
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tegrieren. Die Einbindung Westdeutschlands in den westlichen Block wurde auf den Jugendbereich und auf die grenzüberschreitenden Kontakte der Jugend ausgeweitet. Das Konzept ihrer Umerziehung (Re-education), in der Erwartung, nationalsozialistische Ideen und Traditionen beseitigen zu können, wurde ein Leitgedanke der alliierten Jugendpolitik.45 Manche frühe Jugendinitiativen wurden direkt durch Vertreter der westalliierten Besatzungsbehörden veranlasst. Das Jugendtreffen auf der Loreley 1951 war zum Beispiel als antikommunistische Antwort auf die Weltjugendfestspiele in Ostberlin gedacht.46 Die World Assembly of Youth wurde durch die amerikanische CIA finanziell unterstützt; ob dies allerdings der Grund für die Entscheidung der sozialdemokratischen Falken war, dieser Organisation bis 1954 fernzubleiben, wie Heinz Westphal berichtete, ist zweifelhaft.47 In der einschlägigen Forschungsliteratur wird auf den Austausch deutscher, französischer und britischer Jugendlichen und auf direkte Einladungen ausgewählter Vertreter deutscher Jugendverbände nach England hingewiesen.48 Hier sind aber in erster Linie die Bemühungen der französischen Besatzungsbehörden von Interesse, durch eine Neuinterpretation des Verhaltens der deutschen Jugend im Krieg das nationalsozialistische Projekt einer europäischen Jugend in den Hintergrund zu drängen.
Ein neuer Diskurs und seine Gegner Die Internationale Jugendkundgebung, die vom 28. Juni bis zum 3. Juli 1947 in München stattfand, war ein Schlüsselereignis in der Aufarbeitungsgeschichte der belasteten Vergangenheit der deutschen Jugend. Wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die diskursiven Ansätze, die auch der bürgerlichen Jugendbewegung ein plausibles Narrativ zu ihrer Vergangenheit von 1933 bis 45 Klaus Brülls: Neubeginn oder Wiederaufbau? Gewerkschaftsjugend in der britischen Zone 1945–1950, Marburg 1985, S. 108–123; Burschka: Re-education (Anm. 23), S. 13–25; J8rime Vaillant (Hg.): Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949. Berichte und Dokumente, Konstanz 1984; Angela Schwarz: Die Wahrnehmung der deutschen Jugend im Ausland. Das Beispiel Großbritannien, in: Reulecke: Rückkehr (Anm. 4), S. 11–32. 46 Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4); Lippens: Campagne (Anm. 6); Jean-Charles Moreau: Jugendarbeit und Volksbildung in der französischen Besatzungszone, in: Vaillant: Kulturpolitik (Anm. 45), S. 23–41, hier: S. 37–40; Palayret: Jeunes (Anm. 6), S. 47ff. Vgl. Jo[l Kotek: Youth Organizations as a Battlefield in the Cold War, in: Giles Scott-Smith, Hans Krabbendam (Hg.): The Cultural Cold War in Western Europe 1945–1960, London 2004, S. 168–191. 47 Westphal: Jugendverbände (Anm. 6), S. 119f. Vgl. Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4), S. 90. 48 Boll: Suche (Anm. 27); Moreau: Jugendarbeit (Anm. 46); Joseph Rovan: Les relations francoallemandes dans le domaine de la jeunesse et de la culture populaire (1945–1971), in: Revue d’Allemagne, 1972, 4. Jg., H. 3, S. 675–704; Schwarz: Wahrnehmung (Anm. 45), S. 28–32; Vaillant: Kulturpolitik (Anm. 45).
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1945 boten, bereits vor dieser Tagung entwickelt oder sogar mit den französischen Jugend- und Europapolitikern abgestimmt wurden, wurden sie in München erstmals einer breiten Öffentlichkeit vermittelt. Im Vorfeld der Münchener Kundgebung wurde in den Jugendzeitschriften viel über die geistige Isolation der deutschen Jugend geschrieben – allerdings ging es dabei vorrangig um die Lage, die »seit über zwei Jahren«, also seit 1945, eingetreten sei.49 Das betraf neben der ausländischen Besatzung und der schlechten wirtschaftlichen Lage vor allem die Reisebeschränkungen. Nicht nur Fahrten zwischen den einzelnen Besatzungszonen, sondern auch Reisen ins Ausland waren nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich.50 Die Einladung zur Tagung in München ging an Intellektuelle aus dem europäischen Ausland, nicht so sehr an Jugendliche. Das Ziel war ausdrücklich, »der deutschen Jugend die Möglichkeit [zu] geben, Verbindung mit dem Ausland aufzunehmen«.51 Eingeladen wurden neben bekannten Schriftstellern auch Vertreter der Europäischen Bewegung. Joseph Rovan, Jean-Marie Domenach und Jean-Charles Moreau galten als prominente Befürworter einer deutschfranzösischen Verständigung im Jugendbereich. Eine der wichtigsten in München anwesenden Personen war Heinrich Ritzel, ehemaliger SPD-Exilant, Mitbegründer der europaföderalistischen Bewegung und Generalsekretär der Schweizer Europa-Union.52 Von Ritzel ist leider kein Redebeitrag überliefert – der auf der Münchener Tagung erfolgreich durchgeführte diskursive Schritt dürfte aber maßgeblich von ihm, im Zusammenwirken mit Rovan und Moreau herbeigeführt worden sein. Die französischen Gäste hoben ein anderes, neues Deutungsangebot hervor. Sie übernahmen den Ansatz der »Isolation« oder »Abkapselung« der deutschen Jugend, aber weiteten diesen auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus aus. Im Kern war dies das dritte Narrativ der deutschen Arbeiterjugend, die mit Recht auf eine Geschichte von zwölf Jahren Verbot, Verfolgung und Exil verweisen konnte. Es wurde aber 1947 auf die bürgerliche Jugendbewegung und auf die ganze Generation der Hitler-Jugend übertragen. Die Chronologie war zunächst noch ungeklärt: In München war auch noch die Rede von der »Türe, die 1939 ins Schloß fiel«.53 In Rovans Ansprache ging es um 49 Erich Kaestner : Am 28. Juni 1947, dem Tage von Versailles, fand in München die brückenschlagende Internationale Jugendkundgebung statt, in: Pinguin, 1947, 2. Jg., H. 8, S. 1. 50 1948? Wir wünschen uns…, in: Benjamin, 1947, 1. Jg., H. 22, S. 4–5; Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf, 1946/47, 1. Jg., H. 1, S. 1–2; Zwischen Freiheit und Quarantäne, in: Der Ruf, 1946/47, 1. Jg., H. 10, S. 1–2; Heinz Westphal: Ich sah Schweden 1947!, in: Horizont, 1947, 2. Jg., H. 11, S. 9; Westphal: Jugendverbände (Anm. 6), S. 103f. 51 Harry Schulze-Wilde: Begrüßung, in: Gerhard Fauth (Hg.): Ruf an die deutsche Jugend München 1947, München 1948, S. 17–18, hier S. 18. Vgl. Die junge Stadt: An die Jugend der Welt, in: Fauth: Ruf (Anm. 51), S. 7–9. 52 Die Übersicht der ausländischen Gäste findet sich bei Schulze-Wilde: Begrüßung (Anm. 51). 53 Das erste Gespräch, in: Der Ruf, 1947, 2. Jg., H. 13, S. 1–2.
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»vierzehn Jahre, in der Sie von der gesamten Welt abgeschlossen waren.«54 Aus »zwei Jahren« wurden dann aber konsequent »zwölf Jahre« der geistigen Isolation. Für die belastete Vergangenheit der deutschen Jugend war dies eine passende Lösung, erfolgreich die Verbindung zu den nationalsozialistischen Europaprojekten zu trennen. Auch die bürgerliche deutsche Jugend sei zwischen 1933 und 1945 von der Außenwelt abgeschnitten und wolle nur neu anfangen, wo nach dem Verbot der bündischen Jugend 1933 alle Kontakte jämmerlich abgerissen wurden.55 Über europäische Netzwerke oder transnationale Jugendkontakte, die mit den französischen Jugendverbänden noch bis 1938 aktiv gepflegt wurden, wurde nicht mehr gesprochen. Dass die Darstellung, die deutsche Jugend habe nach 1933 keinen Kontakt zum Ausland gehabt, faktisch falsch war, war im Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht entscheidend. Für die deutsche Jugend, auf der einen Seite, stand ohnehin die Frage im Raum, ob sie mitschuldig oder mitverantwortlich für die Verbrechen des Nationalsozialismus sei. In den Jugendzeitschriften wurde Baldur von Schirachs Stellungnahme in Nürnberg, die deutsche Jugend sei »unschuldig an dem, was Hitler dem deutschen und dem jüdischen Volk angetan hat«, breit rezipiert.56 Auf der anderen Seite wurde auf der Tagung in München klar, dass das Narrativ einer »Lücke« von zwölf Jahren durch die ausländischen Gäste hingenommen wurde. Sie hatten keine Einwände gegen diese Lösung, die belastete Vergangenheit der deutschen Jugend und des Konzeptes Europa für die Zukunft zu ignorieren. In den nächsten Jahren vereinnahmten vor allem die französischen Besatzungsbehörden aus politischen Gründen den Oberbegriff Europa für die Begegnungen mit den deutschen Jugendverbänden. Belastete Begriffe wurden wieder unverfroren verwendet – zum Beispiel für die »Begegnung europäischer Jugend« auf der Loreley.57 Die Zeitschrift der Europäischen Jugendkampagne, die in mehreren Ländern und Sprachen gleichzeitig erschien, hieß »Jeune Europe –
54 Joseph Rovan: Nur Verirrungen trennen, in: Fauth: Ruf (Anm. 51), S. 35–38, hier : S. 36. Vgl. Claus Heller : Von Mensch zu Mensch, in: Fauth: Ruf (Anm. 51), S. 41–43; Moreau: Jugendarbeit (Anm. 46), S. 31. 55 Burschka: Re-education (Anm. 23), S. 65–68; Gerhard Gallus: Deutsche Jungenschaft am Werk, in: Das junge Wort, 1945/46, 1. Jg., H. 14, S. 14; Michael Jovy : Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Zusammenhänge und Gegensätze. Versuche einer Klärung, Münster 1984; Walter Sauer (Hg.): Rückblicke und Ausblicke. Die deutsche Jugendbewegung im Urteil nach 1945, Heidenheim 1978. 56 Otto Hartmut Fuchs: Deutsche Jugend – vergiß dies nie!, in: Das junge Wort, 1945/46, 1. Jg., H. 20, S. 12; Wolfdietrich Schnurre: Offener Brief an Manfred Hausmann, in: Horizont , 1945/ 46, 1. Jg., H. 24, S. 9–10; Peter von Zahn: Verrat an der deutschen Jugend, in: Die Frage der Jugend. Aufsätze, Berichte, Briefe und Reden, München 1946, S. 34–38. 57 Brunn: Jugendtreffen (Anm. 4), S. 86–89; Moreau: Jugendarbeit (Anm. 46), S. 38f.; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 84–94.
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Jugend Europas – Giovane Europa«.58 Die Falken nannten ihr Großlager im Juli und August 1952 »Falken-Staat Junges Europa«.59 Der geografische Rahmen der neuen Auslandskontakte der deutschen Jugend förderte das dritte Narrativ und das Vergessen des nationalsozialistischen Europaprojektes. Die mitgliederstärksten Mitgliedsverbände des Europäischen Jugendverbandes von 1942 befanden sich nach dem Krieg jenseits des Eisernen Vorhangs. Jugendverbände aus Großbritannien oder Frankreich waren während des Krieges nicht an dem damaligen europäischen Jugendnetzwerk beteiligt, obwohl französische faschistische Jugendorganisationen durchaus mit der europäischen Propagandarhetorik des Nationalsozialismus für den Einsatz an der Ostfront warben. Die italienischen Jugendverbände mussten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit genauso wie die deutschen mit den Fragen der belasteten Vergangenheit befassen und fanden eine diskursive Lösung im Widerstand gegen den Faschismus.60 Die spanische Diktatur, wo noch eine aktive Erinnerung an dem Jugendaustausch im Zweiten Weltkrieg bestand, war zunächst aus den sich entfaltenden Strukturen europäischer Jugendzusammenarbeit ausgeschlossen.61 Kritik an dem europäischen Engagement der deutschen Jugendverbände, die explizit auf den Krieg und die belastete Vergangenheit in der Hitler-Jugend verwies, wurde dementsprechend nur gelegentlich in den Niederlanden und Belgien laut.62 Auch in der Bundesrepublik bestanden zunächst noch Vorbehalte gegen das neue Narrativ zur Geschichte der deutschen Jugend. Diese Vorbehalte entstammten mehrheitlich alternativen Verständnissen Europas, die der deutschen Westbindung in das neue europäische Projekt skeptisch gegenüberstanden. Kurt Schumacher nannte den Europarat in den Debatten im Bundestag ein »Europasurrogat« und kritisierte die Zustimmung Konrad Adenauers zum SchumanPlan und zur Montanunion. Durch den westdeutschen Beitritt zu diesen einseitig westlich-amerikanisch orientierten Initiativen ohne deutsche Gleichberechtigung würde ein wirklicher Friede in Europa mit einem wiedervereinigten Deutschland in weite Ferne rücken.63 Das Denken über Europa und europäische 58 Jean-Marie Palayret: Les journaux de la Campagne europ8enne de la jeunesse (1951–1958): Jeune Europe, Giovane Europa, Jugen Europas et Young Europe, in: Daniele Pasquinucci, Daniela Preda, Luciano Tosi (Hg.): Communicating Europe. Journals and European Integration 1939–1979, Bern 2013, S. 41–56. 59 Boll: Suche (Anm. 27), S. 164; Brücher : Auslandskontakte (Anm. 26), S. 40–43. 60 Norwig: Generation (Anm. 5), S. 307–313; Ponzio: Man (Anm. 1), S. 213–225. 61 Ebd., S. 277ff.; Heinz Westphal: Strukturen und Tendenzen in der europäischen Jugendarbeit, in: Deutsche Jugend, 1954, 2. Jg., H. 3, S. 104–106. 62 Eine junge Holländerin schreibt…, in: Horizont, 1947, 2. Jg., H. 18, S. 9; Norwig: Generation (Anm. 5), S. 314–326; Theo Rijks: Overpeinzing van jeugdleider na zijn bezoek aan West Duitsland, in: Vrije vaart. Orgaan van de Nederlandse Jeugd Gemeenschap, 1954, 9. Jg., H. 1, S. 10–11. 63 Christoph Egle: The SPD’s preferences on European integration: always one step behind?, in:
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Einigung war bei den Sozialdemokraten lange Zeit auf die Idee einer »dritten Kraft« und der Funktion Europas und vor allem Deutschlands als »Brücke« zwischen Ost und West gegründet.64 Die Gedenkstättenfahrten der Berliner Falken nach Polen und Jugoslawien, außerordentliche Beispiele für Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung der deutschen Kriegsverbrechen, waren in den fünfziger Jahren aber noch eine absolute Ausnahme.65 Die Europäische Jugendkampagne und der Deutsche Bundesjugendring konnten in dieser Periode ausreichend politische und finanzielle Ressourcen gegen dissidente Stimmen und alternative Versionen des Europabegriffs abrufen und den europaund erinnerungspolitischen Diskurs der deutschen Jugend dominieren.
Schlussbetrachtung Die Untersuchung der Jugendzeitschriften der unmittelbaren Nachkriegszeit hat eindeutig einen diskursiven Umbruch bezüglich der Verwendung des Begriffs Europa in Verbindung mit der Aufarbeitung der Tätigkeit deutscher Jugendliche während des Zweiten Weltkriegs ergeben. Der Europäische Jugendverband und das Netzwerk faschistischer Jugendverbände wurden zwar durchgängig verschwiegen. Die Vorwürfe aus dem Ausland sowie aus der FDJ, die deutsche Jugend stünde in einer Kontinuität zur bündischen Jugend und Hitler-Jugend, konnte zunächst nur mit dem Verweis auf eine angebliche Beteiligung am Widerstand zurückgewiesen werden. Allerdings geht bis 1948 aus vielen Artikeln und Aufsätzen deutscher Jugendliche und ehemaliger Jugendbewegte hervor, dass sie sehr wohl über den Missbrauch des Begriffs Europa durch den Nationalsozialismus und über die Rolle ihrer Generation in Krieg und Verfolgung informiert waren. Auf Auslandsreisen und bei Begegnungen mit ausländischen Jugendlichen mieden sie entsprechend Europa als Bezugspunkt. Für ein alternatives Europa auf der Grundlage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Demokratie nach englisch-amerikanischem Muster, wurden Deutsche nach dem Krieg erst einmal nicht als Vordenker oder Führer akzeptiert. Dionyssis G. Dimitrakopoulos (Hg.): Social Democracy and European Integration. The politics of preference formation, London 2011, S. 23–50; Wolfgang Müller : Die europapolitischen Vorstellungen von Kurt Schumacher 1945–1952. Eine Alternative für Deutschland und Europa?, Stuttgart 2003; Detlef Rogosch: Vorstellungen von Europa. Europabilder in der SPD und bei den belgischen Sozialisten 1945–1957, Hamburg 1996. 64 Hans Werner Richter : Deutschland – Brücke zwischen Ost und West, in: Der Ruf, 1946/47, 1. Jg., H. 4, S. 1–2; Conway, Depkat: History (Anm. 32); Loth: Rettungsanker (Anm. 13), S. 208–214. 65 Michael Schmidt: Die Falken in Berlin. Antifaschismus und Völkerverständigung. Jugendbegegnung durch Gedenkstättenfahrten, 1954–1969, Berlin 1987; Westphal: Jugendverbände (Anm. 6), S. 121.
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Eine erfolgreiche diskursive Reorientierung führte 1947 zu einer Lösung für die Vergangenheit der deutschen bürgerlichen Jugend zwischen 1933 und 1945. Im Kontext des frühen Kalten Krieges hatten die französischen Besatzungsbehörden großes Interesse daran, die westdeutschen Jugendverbände wieder in einen westeuropäischen Rahmen aufzunehmen. Das beste Deutungsangebot war mit dem sozialdemokratischen Narrativ bereits vorhanden: Die Jugend soll zwölf Jahre lang isoliert und Auslandskontakte nicht möglich gewesen sein. Die französischen Vertreter auf dem Jugendtreffen in München 1947 wählten, wahrscheinlich bewusst, das Narrativ der »Lücke« von zwölf Jahren als Deutungsangebot für die belastete Vergangenheit der deutschen Jugend. Die große Mehrheit der deutschen Jugend habe nichts von den europapolitischen Projekten des Nationalsozialismus mitbekommen und könne deswegen ohne weiteres wieder in das neue europäische Einigungsprojekt eingebunden werden. Auf deutscher Seite bot dieses Narrativ eine Lösung, eine Geschichte, die man sich selber und ausländischen Kontakten über die eigene Vergangenheit erzählen könnte – und die zumindest in Frankreich, ungehindert durch Kenntnisse über den Europäischen Jugendverband während des Krieges, hingenommen wurde. Es erlaubte der Jugend der deutschen Bundesrepublik, wieder über Europa und europäische Jugend auf der Grundlage der Demokratie, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und freiwilliger, gleichwertiger Beteiligung der europäischen Länder mitzureden. Es lässt sich leider kaum feststellen, wie bewusst diese Bewältigungsstrategie war. Wirkliche Dilemmas dieser Selbsthistorisierung und bewusste Vertuschungen der belasteten Vergangenheit der deutschen Jugendbewegung sind wahrscheinlich nur vereinzelt auffindbar, in Briefen oder Egodokumenten derjenigen Jugendführer, die wirklich Bescheid wussten. Es wird Aufgabe der nachfolgenden Forschungen sein, anhand solcher Quellen die hier vorgestellte zentrale These weiter zu untermauern.
Knut Bergbauer
Andere Blicke zurück. Jüdische Jugendbewegung zwischen historischer Darstellung und Selbstwahrnehmung
Wie beschreibt man den Platz der jüdischen Jugendbewegung im Koordinatensystem der Deutschen Jugendbewegung angemessen? Gelegentlich wird behauptet, die jüdische Jugendbewegung sei Teil dieser Jugendbewegung gewesen. Oberflächlich gesehen könnte das stimmen, denn in den Formen, einigen Liedern und Ideen lassen sich kaum Unterschiede erkennen. Man traf sich an den Wochenenden auf denselben Bahnsteigen, wählte ähnliche Wanderziele, aber es gab – vielleicht mit Ausnahme des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände – kaum organisatorische Verbindungen zwischen beiden Bewegungen. Sie einfach wegzulassen, wie das gelegentlich geschieht, ist auch unmöglich: man war in der jüdischen Jugendbewegung deutsch, genauso selbstverständlich wie man jüdisch war, außerdem definierte man sich selbst auch als Jugendbewegung. Im Tagungskontext von »Historisierung und Selbsthistorisierung« wurde ein Bezugsrahmen gewählt, in dem der Zeitraum »nach 1933 und vor 1945« wiederholt erwähnt wird. Ausgangs-, Dreh und Angelpunkt hierfür ist aber lediglich die Deutsche Jugendbewegung. Die jüdische Jugendbewegung hatte, im Rückblick und aus ihren Erfahrungen, ein eigenes Referenzsystem. 1913 stand hier nicht nur für den Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner, sondern auch für die heftigsten antisemitischen Ausfälle einiger Wandervogel-Führer (und die damit einhergehende – bestenfalls indifferente – Haltung vieler Jugendbewegter ihren jüdischen Mit-Wanderern gegenüber), die die sukzessive Verdrängung junger jüdischer Wanderer aus der Deutschen Jugendbewegung einleitete. 1933 stand für die Isolation in der deutschen Gesellschaft und die Entfernung der letzten jüdischen Mitglieder aus den deutschen Bünden. Aber gleichzeitig erwuchs in diesem Jahr auch ein neues Selbstverständnis der jüdischen Jugendbewegung: als bestimmende Kraft zur Sammlung, Ausbildung und Auswanderung junger Juden. Und vor dem Jahr 1945 stand für die jüdische Jugend das Jahr 1938: nicht nur das Pogrom vom 9. November, sondern auch das Verbot der letzten jüdischen Bünde und die Umwandlung der verbliebenen Hachschara-Stellen zu Lagern der Zwangsarbeit. Zudem gab es eigene ideologische Verortungen, die die Geschichte der jüdi-
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schen Jugendbewegung prägten. Dabei spielte der Zionismus eine Schlüsselrolle. Anfänglich, im frühen Wanderbund »Blau-Weiß«, firmierte er noch als Nationaljudentum. Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Zionismus zum Ausgangspunkt neuer Bünde, zum Streitpunkt mit Widersachern innerhalb der jüdischen Jugendbewegung und ab 1930 zur bestimmenden Kraft der jüdischen Bünde. Diese Darstellung beschäftigt sich im ersten Teil mit einigen frühen Versuchen, die jüdische Jugendbewegung zu beschreiben. Im zweiten Teil wird ein Blick auf die Zeit nach 1945 geworfen. Hier gab es, neben einer beginnenden akademisch-wissenschaftlichen Beschäftigung, eine Reihe von Treffen ehemaliger Jugendbewegter, sowie eine Vielzahl persönlich-biografischer Rückblicke, die das Erlebnis in den jüdischen Jugendbünden zum Inhalt hatten.
Erleben und Beschreiben. Die frühen Jahre Ebenso wie in der deutschen Jugendbewegung ging es in den jüdischen Bünden schon bald nach ihrer Etablierung auch um Prozesse der historischen Aneignung. So war man im jüdischen Wanderbund Blau-Weiß, wohl ebenso wie im deutschen Wandervogel, von Anfang an daran interessiert, die eigene Geschichte nicht nur zu erleben, sondern auch zu sammeln und dokumentieren. Und dennoch musste Glen Sharfman 1989, nicht ganz zu Unrecht, konstatieren: »The early history of the Blau-Weiss is sketchy and incomplete.«1 Daran hat sich, auch wenn etwa durch die Arbeiten von Jörg Hackeschmidt und Yvonne Meybohm2 inzwischen vieles genauer beschrieben werden konnte, noch immer nicht viel geändert, manches scheint nicht mehr rekonstruierbar. Schon im Herbst 1913, eineinhalb Jahre nach seiner Gründung, beteiligte sich der Breslauer Blau-Weiß an der »Ausstellung für Jugendpflege«, die anlässlich der Jahrhundertfeiern in Breslau-Scheitnig stattfand: »Wir haben Bilder von unseren Fahrten, Blauweißnadeln und unsere Zeitung ausgestellt. Ein geschmackvolles Plakat von Martha Blumenthal zwingt jeden Besucher zur Beachtung unserer Ausstellung.«3 Hier mischten sich das Sendungsbewusstsein einer jungen Bewegung, der Wunsch dies auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, mit dem Stolz auf das inzwischen Erreichte. Ein Jahr später begannen Blau-Weiße, zunächst von Prag und dann von Berlin aus, für ein eigenes Archiv zu werben. Im März 1915 konnte man 1 Glenn Sharfman: The Jewish Youth Movement in Germany 1900–1936. A study in Ideology and Organisation, Chapel Hill (North Carolina) 1989, S. 77. 2 Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997; Yvonne Meybohm: Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance, Frankfurt a. M u. a. 2009. 3 Wanderverein 1907 Breslau, in: Blau-Weiß-Blätter [BWB], 1913, H. 6, September.
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schließlich in den »Blau-Weiß-Blättern« lesen: »Die Arbeit für das Bundesarchiv hat begonnen und schon manch interessantes Dokument aus den ersten Tagen unseres Bundes ans Licht gebracht.«4 Und dennoch gab es bald erste kleinere Irritationen. Der Bund hatte im Herbst 1916 eine Werbenummer herausgegeben, in der eine kurze Chronik des Blau-Weiß enthalten war. Diese blieb nicht unbeanstandet. »Herr Dr. Weißenberg [Berlin] legt Wert darauf festzustellen, dass er, unabhängig von dem von Marcus gegründeten Wanderverein 1907 [Breslau], den Gedanken eines jüdischen Wanderbundes gefasst hatte.«5 Die Redaktion merkte noch an, dass die Frage nach dem Gründer oder den Gründern des BlauWeiß in den Aufgabenbereich künftiger Forschungen fiele. Schon fünf Jahre nach Gründung des jüdischen Wanderbundes war man sich also seiner eigenen Wurzeln unsicher und verschob die Frage an spätere Historikergenerationen. Obwohl sich die schon 1916 erschienene Dissertation Cora Berliners als ein »Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung«, so der Untertitel, einführte, handelte es sich indes um keine Beschreibung der Jugendbewegung. Die Autorin, die zudem Geschäftsführerin des Verbandes jüdischer Jugendvereine war, behandelte in ihrer Arbeit lediglich die Aktivitäten der jüdischen Jugendvereine jener Jahre. Die eigentliche Jugendbewegung dagegen streifte sie nur am Rande. So erschien erst im Jahre 1927, zwei Jahre nach Auflösung des Blau-Weiß, ein Aufsatz von Siegfried Kanowitz über die zionistische Jugendbewegung, als eine erste umfangreichere Darstellung. Sein Resümee lautete: »Der Blau-Weiß hat der Begegnung mit der Wirklichkeit nicht standgehalten – ein Schicksal, das er mit der ihm verwandten deutschen Jugendbewegung teilte.«6 Kanowitz’ Arbeit ist zwar vom Scheitern des Blau-Weiß geprägt, sie bestimmte aber erstmals die Bedingungen und Möglichkeiten zionistischer Jugendbewegung in Deutschland. Und sie beschreibt die »Pioniere« des Jungjüdischen Wanderbundes und des Misrachi (religiöse Zionisten) als legitime Erben der Blau-Weiß-Bewegung. Denn der Blau-Weiß war zu jener Zeit nicht mehr der einzige Bund der jüdischen Jugendbewegung. Schon im Weltkrieg war der Deutsch-jüdische Wanderbund Kameraden entstanden, nach Kriegsende gründeten sich der orthodoxe Esra und der JJWB. Letzterer gab zu seinen zehnten Jahrestag – 1930 – ein Sonderheft seines Periodikums »Der junge Jude« heraus. Das Heft beschäftigte sich nicht nur mit der Chronologie des Bundes, sondern sprach auch über Herkünfte und Perspektiven. Der JJWB-Brith-Hao-
4 Mitteilungen der Bundesleitung. Archiv, in: BWB, 1915, H. 9, März. 5 Sondernummer, in: BWB, 1917, H. 5, Februar. 6 Siegfried Kanowitz: Die zionistische Jugendbewegung, in: Die neue Jugend (Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie 4), Leipzig 1927, S. 287.
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lim, wie er sich nun nannte, war der erste chaluzische7 Bund, ein Amalgam aus Ost- und Westjuden und außerdem sozialistisch orientiert. Wolfgang Orbach von der Führerschaft schrieb darüber : »Wir haben uns unterdessen weit von manchen Auffassungen der alten Jugendbewegung entfernt, stehen ihr als Erscheinung ablehnend gegenüber. Der Weg der Zukunft geht weiter aufwärts, auf der Bahn der sozialistischen Verwirklichung in Eretz Israel.«8 Drei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war also der Weg eines der wichtigsten Bünde der jüdischen Jugendbewegung abgesteckt und seine Perspektive hieß Palästina, nicht Deutschland. Aber während man sich im »Jungen Juden« von 1930 vor allem mit der eigenen Geschichte beschäftigt hatte, veröffentlichte Harry Abt, ehemaliger Führer von Esra, 1932/33 eine Artikelserie, die sich erstmals umfassend der gesamten jüdischen Jugendbewegung widmete. Doch während er einerseits die Geschichte aller Bünde ausführlich erfassen und beschreiben konnte, blieben Abt für die Zukunft der jüdischen Jugendbewegung vor allem Fragen: »Die Jugendbewegung hat bei ihrem Entstehen durch die Meissner-Formel stark das eigene Verantwortungsgefühl betont …(…) Es wäre seltsam, wenn diese eigene Verantwortung schwinden würde angesichts der heute vorhandenen politischen Notwendigkeiten.«9 Noch konnte Harry Abt, wie wohl der große Teil der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands, nicht ahnen, dass ihnen nicht nur ihre Verantwortung, sondern auch alle Existenz bestritten werden sollte. Dabei hatte Abt, der noch 1939 nach Südafrika emigrieren konnte, wenigstens das Glück zu überleben. Ebenfalls im Jahr 1933 erschien eine »der jüdischen Jugend zugedacht(e)« Ausgabe des »Morgen. Monatsschrift der deutschen Juden«. Sie befasste sich mit der Geschichte einzelner Jugendbünde und war Ludwig Tietz, dem im November 1933 verstorbenen Führer des Reichsauschusses der jüdischen Jugendverbände, gewidmet. Aus der Führung des Reichsauschusses stammte auch Georg Lubinski, der seit Mitte der 1920er Jahre in zahlreichen Artikeln die Öffentlichkeit – das betraf sowohl die jüdische wie auch die nicht-jüdische – immer wieder über Entwicklungen und Ideen der jüdischen Jugendbewegung informiert hatte. Seine Ausführungen waren auch die Quelle für die einzige nennenswerte Darstellung der jüdischen Jugendbewegung durch einen nichtjüdischen Autoren. Es handelt sich um einen entsprechenden Abschnitt in Günther Ehrenthals Abhandlung »Die Deutschen Jugendbünde«, die 1929 in Berlin herausgegeben worden war. 7 Chaluz = Pionier; nach einer Ausbildung (in Landwirtschaft, Handwerk oder Hauswirtschaft) stand für die Chaluzim die Einwanderung nach Erez Israel und der Aufbau des Landes durch Kibbuzim. 8 Wolfgang Orbach: 10 Jahre J.J.W.B., in: Der junge Jude, 1930, Nr. 4, S. 113–115. 9 Harry Abt: Jüdische Jugendbewegung IX, in: Nach’lath Zwi, 1933, Oktober / November, H. 1–2, S. 29.
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Die Beschäftigung mit der jüdischen Jugendbewegung vor 1939 stand meist in einem engen Zusammenhang zu deren Akteuren. Man schrieb häufig, was man selbst erlebt oder aus der Nähe beobachtet hatte: eine lebendige Bewegung die noch nicht abgeschlossen schien.
Selbstvergewisserung und Wissenschaft. Der Blick zurück Die alte jüdische Jugendbewegung in Deutschland hatte zwischen 1938 und 1945 ihr definitives Ende gefunden. Aber es gab Interesse, sich als Angehörige der »jüdischen Jugendbewegung aus Deutschland« zu treffen, um sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verständigen. Das betraf anfänglich zunächst nur Wenige. Und es konnte nicht mehr in Deutschland stattfinden, sondern vor allem in Palästina / Israel, der neuen Heimat. Im April 1943 trafen sich im Kibbuz Givat Brenner Angehörige des Habonim-Deutschland, um an die Gründung des Brith Haolim, ihres Vorläufers, zwanzig Jahre zuvor zu erinnern. Doch wenn man hier an die Toten der Bewegung sprach, meinte man (noch nicht) die Opfer der Shoah, sondern die jungen Pioniere die – meist an Krankheiten – frühzeitig gestorben waren. Man referierte die Geschichte des Bundes und fand: »Im ›Brith Haolim‹ wuchs in der Stille ein Wegbereiter für die Zeit der Katastrophe und als diese im Jahr 1933 kam, fand der deutsche Zionismus einen Boden auf dem er sein Werk der Rettung aufbauen konnte. Dies war, so scheint es heute, die ›geheime‹ historische Funktion…«10 Dieses Treffen, dieser spezielle Blick zurück, blieb vorerst singulär. Man war mit anderem beschäftigt: der Einordnung in die jüdisch-palästinensische Gesellschaft, der Bewältigung der ökonomischen Probleme, aber auch mit den schrecklichen Nachrichten die aus Europa kamen. Schon vor, aber erst recht mit der Staatsbildung Israels nahmen die Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarn zu, bis hin zum Krieg von 1948. Da blieb kein Raum sich an die jüdische Jugendbewegung in Deutschland zu erinnern. Der Zeitpunkt, an dem man sich wieder mit der Geschichte des deutschen Judentums zu beschäftigen begann, ist relativ genau zu bestimmen. Grundlage hierfür war zunächst das Luxemburger Abkommen zwischen Deutschland und Israel von 1952. Die finanziellen Möglichkeiten, die nun durch die Gelder der Claims Conference geschaffen wurden, führten 1954/55 zu einer Reihe von Treffen jüdischer Intellektueller deutscher Herkunft in Jerusalem (darunter Martin Buber, Gershom Scholem und Ernst Simon). Aus diesen Treffen ging im Mai 1955 der Beschluss zur Gründung eines Leo Baeck Institutes (LBI) mit 10 Zum Jubiläum des Habonim -Brith Haolim, in: Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkaz Europa (MB), 16. 04. 1943.
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Standorten in Jerusalem, London und New York hervor.11 Das LBI verstand (und versteht) sich als wissenschaftliches Institut, wobei es gerade in den frühen Jahren immer auch eine Erinnerungs- oder Gedächtnisgemeinschaft war, die die Geschicke dieser Institution prägte. Hier sollte die Geschichte des deutschen Judentums, die nach Meinung aller ihr Ende gefunden hatte, aufgearbeitet und dokumentiert werden. Und das konnte, wie sich bald zeigen sollte, sehr kompliziert sein. Als eines der ersten Projekte des LBI wurde eine Arbeit zur »zionistischen Jugendbewegung in Deutschland« konzipiert, die man an Gerhard Holdheim vergab. Holdheim12 war zwar alter Zionist aber lediglich in der Studentenverbindung KJVund nicht im Blau-Weiß aktiv gewesen. Auf einer Sitzung des LBI-Boards im Dezember 1955 in Jerusalem befand Ernst Simon Holdheims Vorarbeiten als »interessant und gut geschrieben«13 und empfahl das Erscheinen eines Kapitel daraus für das zu erwartende erste »Yearbook« des LBI. Als das »Yearbook« 1956 unter der Regie von Robert Weltsch in London erschien, enthielt es jedoch keinen Beitrag Holdheims. Weltsch betonte in seiner Einleitung die Bedeutung der jüdischen Jugendbewegung: »The youth organisations (Jugendbünde) were symptoms of a unexpected Jewish revival.«14 Durch Beiträge von Ernst Simon über die »Jüdische Erwachsenenbildung in Nazi-Deutschland« und von Hans Gärtner über »Die Jüdischen Schulen während des Hitler-Regimes« in dem Band, beide mit expliziten Verweisen auf die jüdischen Jugendbewegung in Deutschland, wurde diese Bedeutung noch einmal betont. Dass der Artikel Holdheims nicht erschienen war, hatte jedoch andere Gründe. Gerhard Holdheim war im Juni 1956 mit seiner Arbeit schon gut vorangekommen, wie er an das LBI schrieb, sah sich aber mit ersten Schwierigkeiten konfrontiert, die er zunächst noch positiv umdeutete: »Von jenem Kreise, der in den letzten Jahren seines Bestehens den Blau-Weiss geleitet und mir bereits seine Kooperation zugesagt hatte, wurde ich zwar in Stich gelassen. Doch diese Tatsache war vielleicht meiner Arbeit gerade förderlich. Denn ich hätte sonst Zeit und Energie auf ›Sitzungen‹ verwenden müssen, wo ein noch sehr wenig Informierter einem Kollektiv von Kennern gegenüber gesessen hätte, die aus der Natur der Dinge zu einer ganz objektiven Berichterstattung und Erklärung kaum fähig gewesen wäre.«15 Franz Meyer, der das erste Gutachten über Holdheims Entwurf verfasst hatte, 11 Ruth Nattermann: Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung nach der Shoah. Die Gründungsund Frühgeschichte des Leo Baeck Institute, Essen 2004. 12 Gerhard Holdheim: Jurist und zionistischer Publizist, geb. 1892 in Berlin – gest. 1967 in Tel Aviv. 13 LBI -New York, NL Robert Weltsch AR 7185, Box 2, Folder 12, LBI Board, 01. 12. 1955, S. 12. 14 Robert Weltsch: Introduction, in: Year Book I, Publications of the Leo Baeck Institute of Jews from Germany, London 1956, S. XXIX. 15 G. Holdheim / LBI, 24.06.56, in: Yad Tabenkin Archives, NL Hannah Weiner (Kopie).
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fand ihn »ausgezeichnet« und empfahl die Veröffentlichung der Arbeit. Nun saßen im Board des LBI aber auch jene, denen Holdheim eine objektive Sichtweise abgesprochen hatte. Zunächst sprach sich Dolf Michaelis hier gegen die »polemische Darstellung« Holdheims aus, während Benno Cohen ihm vorwarf, nicht zum »Kern des Blau-Weiss vorgedrungen« zu sein. Da half auch eine weitere Intervention Franz Meyers nicht: Holdheims Projekt, eine erste umfassende Darstellung der jüdischen Jugendbewegung zu schreiben, war gescheitert. Guy Meron, der sich mit der Frühgeschichte des LBI befasst hat, geht in diesem Fall von persönlichen Animositäten aus, die sicher auch – das würde ich hinzufügen – mit echten inhaltlichen Differenzen verbunden waren.16 Trotz der anfänglichen Dissonanzen wurde gerade das Leo Baeck Institut zur wichtigsten Heimat für die Historiografie der jüdischen Jugendbewegung aus Deutschland. In den verschiedensten Publikationen (Year Book, Bulletin, Schriftenreihe, Konferenzberichte) des Institutes erschienen seit Ende der 1950er Jahre immer wieder Aufsätze, die sich direkt (etwa 20 Texte) oder indirekt mit Aspekten der Bewegung befassten. Der Schwerpunkt dieser Veröffentlichungen liegt hier in den 1960er-/1970er Jahren. Zum Vergleich: Im Jahrbuch des Tel Aviver Instituts für deutsche Geschichte, das seit 1972 erscheint, finden sich lediglich drei entsprechende Beiträge. Oft waren es ehemals Aktive aus der jüdischen Jugendbewegung, die im Umfeld des LBI oder als anerkannte Historiker diese Veröffentlichungen unterstützten oder auf den Weg brachten. Für Jerusalem waren das: Hans Tramer, Ernst Simon und Joseph Walk, für London: Arnold Paucker und Werner Rosenstock, für New York: Herbert Strauss. Nicht zu vergessen: Werner Tom Angress und Walter Laqueur, wobei letzterer sich eher umfänglich mit der deutschen Jugendbewegung befasste. Sein Beitrag zur jüdischen Frage im Wandervogel, der im 1961er Year Book erschien, versuchte jedoch den Brückenschlag zwischen beiden Bewegungen. Und er zeigte gleichzeitig auf, dass es eben kaum eine Brücke zwischen beiden Bewegungen gab. Im selben Band waren zudem Beiträge von Strauss zum Jugendverband und von Walk zum orthodox-zionistischen Bund erschienen. Schon ein Jahr später, 1962, wartete das LBI-Bulletin aus Jerusalem mit zwei Artikeln zum Blau-Weiß auf. Hans Tramer widmete sich hier der äußeren Geschichte des Bundes, während 16 Guy Meron: From memorial community to research center, in: Christhard Hoffmann: Preserving the legacy of German Jewry, Tübingen 2005, S. 106. – Hier gibt es dann doch eine (ungewollte) Parallele zur deutschen Jugendbewegung, denn es ging in der Auseinandersetzung vor allem um Fragen der Deutungshoheit. Doch – im Unterschied – gab es dafür keinen solch brisanten historischen Hintergrund, wie im Fall von Werner Kindts »Dokumentation der Jugendbewegung«. Dieser war ja, zusammen mit seinen Mitstreitern, ausdrücklich gegen die Deutung und Kritik der Jugendbewegung durch Harry Pross, K.O. Paetels und Walter Laqueur angetreten; dazu: Christian Niemeyer : Werner Kindt in seiner Eigenschaft als Chronist der Jugendbewegung, in: Gisela Hauss, Susanne Maurer (Hg.): Migration, Flucht und Exil im Spiegel der sozialen Arbeit, Bern u. a. 2010, S. 227–245.
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Dolf Michaelis sein persönliches Erlebnis schilderte. Es war genau diese Mischung aus persönlichen Erfahrungen und historischer Analyse, die viele der frühen Arbeiten prägte. Wobei zweierlei auffällt: Es dominierten die Geschichten einzelner Bünde, Überblicksdarstellungen wie die von Chanoch Rinott (1974) blieben eine Seltenheit.17 Und: Mit Ausnahme der Hachscharoth und Schulen beschäftigte man sich, im Zusammenhang mit der Jugendbewegung, erst relativ spät mit der NS-Zeit18. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert: Es gibt bisher keine überzeugende Geschichte der drei großen Bünde nach 1933 (Habonim, Bund deutsch-jüdischer Jugend und Makkabi Hazair). Zurück ins Jahr 1962: Es war kein Zufall, dass das man sich so intensiv mit dem ersten Bund der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland befasste, denn es war das 50. Gründungsjahr des Blau-Weiß und dieses Jubiläum wurde nicht im kleinen Kreis begangen. Hans Tramer schrieb nach dem Treffen: »Wer einmal Blau-Weisser war, – ihm ist die Prägung geblieben, der Schwung, die Aufgeschlossenheit, das Freundschaftsgefühl, die Erinnerung an den kostbarsten, den lebendigsten Teil seiner Jugend. (…) Der Blau-Weiss war eine Aufbruch-Bewegung, die den palästinozentrischen Zionismus, die Chalutziut in die Tat umsetzen wollte. […] sein Erlebnisinhalt blieb, er war eine echte Jugendbewegung – jüdisch, zionistisch, lebensrevoltierend mitten im Zentrum deutsch-jüdischer Bürgerlichkeit.«19 Es waren 1.000 ehemalige Blau-Weiße, die sich im Mai 1962 im nordisraelischen Naharia trafen: ehemalige Berliner, Breslauer und Wiener, die nun in Israel lebten. Nach einigen Reden und Erinnerungen, wurde, unter der Leitung des Dirigenten und ehemaligen Leipziger Blau-Weißen, Shabatei Petrushka, gemeinsam gesungen. Ebenso begeistert hörte man erst einem Chor Haifaer Schüler zu, um dann die alten hebräischen Lieder des Blau-Weiß mitzusingen. Benno Cohen, der Leiter des Treffens, würdigte in seiner Rede zudem zwei materielle Hinterlassenschaften des Bundes in Israel: die Naturfreundebewegung und das Jugendherbergswerk. Die Initiative zu letzterem hatte Joseph Marcus, der Gründer des Breslauer Blau-Weiß, schon 1937 ergriffen. In Folge des Treffens von Naharia wurde von den ehemaligen Blau-Weißen der Bau einer Jugendherberge in Arad vorangetrieben, die 1966 eröffnet wurde und die bis heute existiert.
17 Chanoch Rinott: Major Trends in the Jewish youth movments in Germany, in: LBI Year Book 1974, S. 77–95; dt.: ders.: Jüdische Jugendbewegung, in: Neue Sammlung, Göttingen, 1977, Jan./Febr., S. 75–94. 18 In der Gründungsphase des LBI gab es eine Majorität für die Begrenzung des Aufgabengebietes des Instituts bis 1933, auch um keine Konkurrenz zur gleichzeitig entstehenden Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem entstehen zu lassen. 19 H.T. (Hans Tramer): Nach dem Treffen in Naharia, in: MB, 1962, Nr. 23, 07. 06. 1962, S. 7.
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Mit Abstand forschen. Blicke von Außen und Innen Erst gegen Ende der 1960er Jahre hatten zwei Historiker, weitgehend außerhalb des Gravitationsfeldes des Leo Baeck Institute, damit begonnen sich intensiv der Geschichte der jüdischen Jugendbewegung zu widmen. Beide Ergebnisse haben bis heute Bestand. Chaim Schatzker aus Israel arbeitete gerade an seiner Dissertation zur jüdischen Jugendbewegung in Deutschland, als er von Werner Kindt mit der Bearbeitung dieses Abschnittes für die Dokumentation beauftragt wurde. Die Zusammenarbeit verlief, wie man im Nachlass Kindts nachlesen kann, nicht immer spannungsfrei;20 Schatzker konnte sich jedoch mit seiner Sicht durchsetzen. Da Chaim Schatzkers Dissertation nur auf Hebräisch erschienen war und seine anderen Aufsätze zum Thema in verschiedensten Bänden publiziert worden waren, bildet seine Darstellung im Kindt-Band die am häufigsten genutzte Interpretation der jüdischen Jugendbewegung. Hermann MeierCronemeyer dagegen war zufällig und scheinbar auch über Umwege zum Gegenstand seiner Forschungen gelangt. Er war, wie er in der Einleitung seiner Dissertation schrieb, Ende der 1950er Jahre auf einer Zugfahrt einem Israeli begegnet, der ihm begeistert über die Kibbuzim erzählte.21 Es lag auf der Hand, dass man, wenn man sich mit dem Kibbuz befasste, nicht umhinkam, sich auch mit der jüdischen Jugendbewegung zu beschäftigen. Aber Meier-Cronemeyer tat dies mit solcher Akribie und Intensität, dass das Ergebnis, vor allem sein Aufsatz in der »Germania Judaica« von 1969, auch heute noch Gültigkeit hat. Seine Aufsätze zum Thema erschienen leider, ebenso wie viele von Schatzkers Arbeiten, verstreut, seine 1.400 Seiten umfassende Habilitation von 1976 wurde nie gedruckt. So kommt es immer noch vor, dass neuere Arbeiten, die sich dem Thema jüdische Jugendbewegung nur oberflächlich nähern, deren Forschungsergebnisse nicht einmal wahrnehmen.22 Aber natürlich stehen Meier-Cronemeyers wie auch Schatzkers Arbeiten inzwischen nicht mehr singulär im Forschungsfeld. Erinnert sei an die hervorragenden Arbeiten von Hackeschmidt oder Sharfman, aber auch Ehemaliger wie Kutti Salinger23 oder Hannah Weiner,24 die der Kibbuzbewegung nahe stand.25 20 Knut Bergbauer: Davidstern am Hohen Meissner?, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau (SLR), 2014, 69. Jg., Nr. 2, S. 141–144. 21 Hermann Meier-Cronemeyer : Kibbuzim. Geschichte, Geist und Gestalt, Hannover 1969, S. 7. 22 Zuletzt etwa Stefan Vogt: Subalterne Positionen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, Göttingen 2016. Er kommt in einem Kapitel zu »Zionismus, Jugendbewegung und Konservative Revolution« ohne Meier-Cronemeyers Artikel »Wirkungen der Jugendbewegung im Staatsaufbau Israels« (Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 1974) und »Gemeinschaft und Glaube« (Tel Aviver Jahrbuch 1977) aus, obwohl sich diese direkt mit dem Themenfeld befassen. 23 Eliyahu Kutti Salinger : »Nächstes Jahr im Kibbuz«. Die chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943, Paderborn 1998.
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Zudem alle dem gibt es seit den 1960er Jahren eine stetig zunehmende Anzahl von Erinnerungen und Biografien, in denen auch der jüdischen Jugendbewegung gedacht wird. Manchmal geschieht das kryptisch und in einem Halbsatz -– wie bei Norbert Elias, manchmal umfassend, oft immer noch begeistert.26 Und doch ist ein Erlebnis, wie es Hanswerner Goldstein 1991 beschrieb, symptomatisch: »Auf einem Abfallplatz findet ein junger Mensch eine Broschüre. Da sie in deutscher Schrift ist bringt er sie uns. ›Blau-Weiß-Blätter. Chanuka 5677, Dezember 1916. Monatsschrift für jüdisches Jugendwandern‹ […] Die Erinnerungen an das Gestern, Vorgestern haben durch die Entwicklung einen Kurzschluss erhalten. Es ist gar nicht so lange her, daß das, was sich Jugendbewegung nannte, einen beinahe revolutionären Ausdruck einer jungen Generation darstellte.«27 Natürlich endete die Geschichte der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland nicht notwendigerweise auf einem Abfallplatz in Israel. Aber es ist doch ein Zeichen für den Bruch. Die »Blätter«, die auch in den Jahren der Aliya wahrscheinlich sorgsam aufbewahrt worden waren, können 1991 in Israel, kaum gelesen, kaum noch verstanden werden. Unsere Kenntnis über die jüdische Jugendbewegung verdanken wir dennoch Jenen, die ihre Periodika, Tage- und Fahrtenbücher aufbewahrt und mit ihren Erinnerungen weitergegeben haben, und Jenen, die sie untersuchen und dokumentieren.
Die Anderen sehen Es stellt sich noch die Frage, wie von jüdischer Seite, im Blick zurück, auf die deutsche Jugendbewegung geschaut wurde. 1954 beschäftigte sich Werner Rosenstock, in den »Informationen« der Assoziation of Jewish Refugees aus London relativ wohlwollend mit der gerade erschienen Darstellung Karl O. Paetels 24 Hannah Weiner: Youth in ferment within a complacent community, Tel Aviv 1996. 25 Als Forschungsüberblick: Knut Bergbauer : Jüdische Jugendbewegung in Deutschland von ihren Anfängen bis zur Shoah, in: SLR, 2000, Nr. 41, 2 (Sammelrezension), S. 23–36; neuere Arbeiten, die darin noch fehlen: Meybohm: Erziehung (Anm. 2); Ulrike Pilarczyk: Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina / Israel, Göttingen 2009; Yotam Hotam (Hg.): Deutsch-jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2009; Benjamin Benno Adler : Esra. Die Geschichte eines orthodox-jüdischen Jugendbundes zur Zeit der Weimarer Republik, Wiesbaden 2001. 26 Eine Untersuchung die die verschiedenen biografischen Äußerungen aus der jüdischen Jugendbewegung zusammenfasst, systematisiert und analysiert, bleibt ein Desiderat. Der Sammelband Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, enthält immerhin auch einige Beiträge zu jüdischen Jugendbewegten. 27 Hanswerner Goldstein: Blau-Weiss-Blätter, Dezember 1916, in: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer in Israel e.V., 1991, Nr. 55, S. 11.
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über das »Bild des Menschen in der deutschen Jugendführung«. Im Oktober 1958 konnte man ebenfalls in den »Informationen« in einer kleinen Meldung lesen, dass der Freideutsche Kreis Hamburg die Veröffentlichung einer »Dokumentation der Jugendbewegung« plane. Man war also daran interessiert, allerdings ohne dass das größere Auswirkungen hatte. Erst die Rezension Alfons Rosenbergs zu Werner Helwigs »Die Blaue Blume des Wandervogels« im Oktober 1960 wollte und sollte Reaktionen von Lesern, »die selbst aus dem Erlebniskreis der Jugendbewegung hervorgegangen sind« hervorrufen. Rosenberg gehörte, als ehemaliger Führer der Berliner Kameraden, eben zu jenen: »›Die einmal dabei waren‹ […] ich gehöre zu ihnen, und ich werde die Erinnerung an jene Tage im Herzen bewahren bis ans Ende meiner Tage.«28 In Helwigs Buch konnte er, so sein Fazit, viele seiner Erinnerungen wiederfinden, aber eines nicht: »Werner Helwig sagt: in der deutschen Jugendbewegung gab es keinen Antisemitismus. […] Er hätte einmal lesen – und zitieren sollen, was sich an Diskussionen über die Judenfrage in den Zeitschriften der Jugendbewegung findet. […] Helwig weiss nichts davon. Will er nichts davon wissen?«29 Dieses Nicht-Wissen-Wollen stieß auch Uri Naor (Hans Lichtwitz) in seiner Rezension des Hellwig-Buches für die »Allgemeine Jüdische Wochenzeitung« bitter auf: »Er [Helwig] ist zu sehr in die ›goldenen Tage‹ des Wandervogels und in den der Jugendbewegung angehörenden Menschen als Typus verliebt, als daß er zugeben könnte, daß das grosse und entscheidende Problem nicht an ihrem Beginn, sondern erst an ihrem Ende in Erscheinung trat.«30 Ebenso kritisierte Naor in seinem Beitrag auch das jüngste Buch Paetels »Jugendbewegung und Politik«. Uri Naor merkte aber zugleich an, Paetel stoße – im Gegensatz zu Helwig – »nahe an den Kern des Problems vor«. Paetel hatte sich -– als »kompromissloser Gegner des Nationalsozialismus« -– Naors volle Hochachtung verdient, während Helwigs Position alte Urteile zu bestätigen schien. Die Frage, »Was hast du nach 1933 gemacht?«, wurde selten offen gestellt. Aber es lässt sich, etwa an der Wertschätzung ehemaliger nicht-jüdischer Jugendbewegter, die sich aktiv gegen den NS und vor ihre jüdischen Mit-Wanderer gestellt hatten, ablesen, wer in Deutschland noch Vertrauen genoss. Neben Paetel – vor allem in den anglosächsischen Ländern – waren das lediglich Gustav Wyneken und Walter Hammer. An sie erinnerte man in den Exilpublikationen, würdigte deren Geburtstage und betrauerte deren Tod. Als Werner Kindt, als Herausgeber der »Dokumentation der Jugendbewegung«, über die Presse vom Treffen des 50. Jahrestages des Blau-Weiß in Naharia erfuhr, nahm er umgehend 28 Alfons Rosenberg: Wanderer ins Nichts?, in: AJR Information, 1960, October, S. 6. 29 Ebd. 30 Uri Naor : Das Schicksal der deutschen Jugendbewegung, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 01. 12. 1961.
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Kontakt zu Benno Cohen und Abner Neshuschtan (Alfred Kupferberg) auf, um sie zum Meißner-Fest 1963 nach Deutschland einzuladen. Cohen machte freundlich aber bestimmt sein Desinteresse an der Einladung deutlich. Abner Nechuschtan antwortete ihm: »Aber so stark die Anteilnahme ist, mit der ich davon Kenntnis genommen habe, so wenig würde ich meinen, dass meine Teilnahme oder die meiner -– weit prominenteren – Jugendfreunde aus Israel an dieser Tagung in Betracht kommt.«31 Die ehemaligen jüdischen Jugendbewegten fühlten sich lediglich den Orten, sei es der Hohe Meißner oder die Jugendburg Ludwigstein, immer noch verbunden. So fand im Sommer 1958 das von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden organisierte Ferienlager der Kinder auf dem Hohen Meißner statt und es fehlte auch hier nicht der Verweis auf dessen historische Bedeutung für die Jugendbewegung. Aber Zusammenkünfte mit den Ehemaligen der nicht-jüdischen Jugendbewegung fanden kaum statt. Das blieb bis weit in die 1970er Jahre eine Seltenheit. Und wenn es jemand, wie etwa der Abenteurer Walter Laqueur doch tat, blieben zwiespältige Erfahrungen zurück.32 Aber es erschien der schon 1962 im LBI-Bulletin veröffentlichte Beitrag von Hans Tramer über den Blau-Weiß unter einem modifizierten Titel in der Festschrift »Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung« 1963 im Eugen Diederichs Verlag. Beim Habonim dauerte es immerhin bis 1993, bis man, wie schon einmal 1943, im Kibbuz Givat Brenner wieder zusammentraf. Aber auch hier war noch derselbe Geist spürbar : die Beschwörung der revolutionären Jugend und die Verwirklichung von deren Idealen in Israel, von Arie Harel »das Gefühl der gemeinsamen Verantwortung« genannt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Art von Traditionspflege vor allem von ehemaligen Angehörigen zionistischer Bünde geleistet wurde, mir sind bisher lediglich drei ähnliche Verbindungen aus dem nicht-zionistischer Lager bekannt. Da ist zum einen »The circle of the old DJJG (Deutsch-Jüdische Jugend-Gemeinschaft)« um Martin Sobotker in New York, zum zweiten die Verbindung der ehemaligen Gross-Breesener. Groß Breesen war ein, von der Reichsvertretung der Juden und dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, eingerichtetes Landgut in Schlesien, auf denen junge Juden, ähnlich wie in der zionistischen Hachschara, eine landwirtschaftliche Ausbildung erhielten. Der Großteil der Jugendlichen in Groß Breesen war im Schwarzen Fähnlein oder im Bund deutsch-jüdischer Jugend sozialisiert worden.33 Die »Rundbriefe ehemaliger Gross-Breesener« erschienen von 1938 bis
31 Abner Nechuschtan an Werner Kindt, Tel Aviv, 13. 08. 1962, in: AdJb, N 14, Nachlass Werner Kindt, Nr. 195. 32 Walter Laqueur: Jugendbewegung. Betrachtungen auf einer Reise, in: Der Monat, 1960, Nr. 142, Juli, S. 51–58. 33 Groß Breesen aus der Sicht eines Absolventen (und späteren Historikers): Werner T. Angress:
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2003, Treffen gab es bis mindestens 2005. Der dritte Verbund gab keine eigene Rundbriefe heraus, sondern hielt die Kontakte über Reunion-Treffen. Es handelt sich um die ehemaligen Mitglieder von »Werkdorp«,34 einer früheren Ausbildungsstätte in den Niederlanden. Kategorien wie »eigene Schuld« oder »Mitverantwortung« konnten bei den ehemals jüdisch-Jugendbewegten keine Rolle spielen, und wenn, dann im Bedauern, nicht mehr jüdischen Jugendlichen geholfen zu haben. Da die Aktivitäten der zionistischen Jugend nach 1933 für die Rettung jüdischer Jugend aus Deutschland wegweisend geworden waren, hatten sie alle Möglichkeiten der Deutungshoheit. Die nicht-zionistische Jugend, mit Ausnahme der Orthodoxie, musste das Scheitern eines deutsch-jüdischen Dialogs, an dem sie lang festgehalten hatte, eingestehen. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Periodika des Leo Baeck Institutes allen Strömungen der jüdischen Jugendbewegung ihre Aufmerksamkeit widmeten. Hier ist eine Basis, die es neuen Generationen von HistorikerInnen, auch nach dem Ende der Erinnerungsgemeinschaften, ermöglicht, weitere Zugänge zu offenen Fragen und weißen Flecken der jüdischen Jugendbewegung zu schaffen, wie auch Einsichten zum Verhältnis von jüdischer und deutscher Jugendbewegung in Deutschland zu gewinnen.
…immer etwas abseits. Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliners 1920–1945, Berlin 2005. 34 Werkdorp Wieringermeer wurde 1934 mit Hilfe der deutschen Reichsvereinigung der Juden gegründet und bestand bis 1941. Viele jüdische Jugendliche aus Deutschland absolvierten hier eine Ausbildung bis zu ihrer Auswanderung. Eine letzte Gruppe von Werkdörplern wurde im Juni 1941 verhaftet und nach Mauthausen deportiert. Schon in den folgenden Monaten wurde der größere Teil der Gruppe dort ermordet. Die Überlebenden wurden in andere Vernichtungslager deportiert, es überlebte wohl niemand dieses Transportes.
Ulrike Pilarczyk
Blickwechsel. Bildanalytische Perspektiven auf die jüdische Jugendbewegung in Deutschland und Palästina
Dass Historisierungsprozesse auch über Bildmedien organisiert werden, weiß man spätestens, seit die historische Bildforschung bzw. »Visual History« dafür eindrückliche Belege geliefert hat.1 Aus dem Milieu der Jugendbewegung ist einen großer historischer Bildbestand überliefert, den mehrere Generationen Jugendbewegter über eine jahrzehntelange jugendkulturelle Bild-Praxis hervorgebracht haben. Für die Jugendlichen damals hat diese Praxis sicherlich einen ähnlichen Stellenwert gehabt wie die digitale Bildproduktion mit dem Smartphone und ihre Nutzung in den Social Media Networks heute. Dass wir mit der Erschließung dieser historischen Bildquellen jedoch erst am Anfang stehen,2 verdankt sich nicht nur der vielbeklagten Bildvergessenheit historischer (und sozialwissenschaftlicher) Forschung oder dem Mangel an theoretisch gesicherten, empirisch hinreichend erprobten Standards bildanalytischer Forschung. Es ist die jugendbewegte Alltags-Fotografie, die für die wissenschaftliche Analyse eine besondere Herausforderung darstellt.3 Denn dabei handelt es sich zumeist um Knipserfotografie, die ästhetisch wenig anspruchsvoll in gleichförmigen Wiederholungen das bündische Leben, insbesondere Fahrtaktivitäten registrierte und damit scheinbar nur für diejenigen eine Bedeutung besaß, die an der 1 Zur Entwicklung des Forschungsfeldes und der Gegenstände der Historischen Bildforschung vgl. Jens Jäger: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000; zu Visual History : Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006 und Visual History. Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung, https://www.visual-history.de [01. 03. 2018]. 2 Anfänge markieren u. a. die hier referierten Arbeiten der Autorin zur jüdischen Jugendbewegung, außerdem die Beiträge des Jahrbuchs des Archivs der deutschen Jugendbewegung: Barbara Stambolis, Markus Köster (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 12j2016), Göttingen 2016. 3 Zu den methodisch ausgearbeiteten und empirisch erprobten Verfahren, die auch Alltagsfotografie als historische Quellen nutzen, gehört die seriell-ikonografische Fotoanalyse, Ulrike Pilarczyk, Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, Volltext unter : http://www.pe docs.de/volltexte/2010/2666/ [01. 03. 2018].
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Fahrt teilgenommen hatten. Künstlerisch ambitionierte Verdichtungen sind hingegen selten.4 Andererseits war nun gerade die Wanderfahrt das zentrale Thema der jungen Fotograf/innen und damit jene jugendbewegte »Lebenslage«, an die – wie Hermann Mau nach dem Zweiten Weltkrieg rückblickend resümiert – das gebunden war, »um das die Jugendbewegung kreist, das Erlebnis der Gemeinschaft«.5 Dieses »Erlebnis« bestimmte im Anschluss daran Chaim Schatzker als »bewegende Mitte« der Jugendbewegung, der jüdischen wie der nichtjüdischen.6 Es war das »Eigentliche«, die prägende Kraft der Jugendbewegung. Das allerdings steht in einem umgekehrten Verhältnis zu seiner historischen Bedeutung. Hermann Meyer-Cronemeyer machte auf die paradoxe Situation aufmerksam, in die sich die historische Forschung mit der Jugendbewegung (bis heute) begibt: »Das Eigentliche, das Wandern und das Lagern, das Gefühl des Zusammengehörens, die Zuversicht des ›Mit uns zieht die neue Zeit‹ … genügte es, einmal zu registrieren und zu deuten, denn ob eine Fahrt nun nach X oder Y ging, ob besser oder schlechter gesungen wurde, ist historisch relativ belanglos, während das Uneigentliche, die Ideen, also das, was von den kaum zehn Prozent der älteren Mitglieder gedacht und erstrebt wurde, das historisch Relevante ausmachen. Die Mittleren und erst recht die Jüngeren verstanden ja gar nicht, worum es bei den geistigen Höhenflügen ging.«7 Zugleich sind das »Eigentliche« und das »Uneigentliche« in der Jugendbewegung auf geheimnisvolle, nicht zu lösende Weise verbunden, die strahlende Kraft aus der »bewegenden Mitte« heraus hat immer auch die Älteren auf ihren »geistigen Höhenflügen« inspiriert und gewärmt, ohne sie gibt es keine Jugendbewegung. Dem folgenden Beitrag liegt die Annahme zugrunde, dass Objektivierungen dessen, was den Jugendlichen wichtig war, im Medium der Fotografie und im Medium des Albums eine über den Moment und das individuelle Erleben hinausgehende Bedeutung haben. In die bildlichen Fixierungen und über die Praxis 4 Sie sind allerdings für die bildhermeneutische Arbeit im Rahmen der seriell-ikonografischen Fotoanalyse von besonderem Wert, vgl. dazu u. a. Ulrike Pilarczyk: Grundlagen der seriellikonografischen Fotoanalyse – Jüdische Jugendfotografie in der Weimarer Zeit, in: Jürgen Danyel, Gerhard Paul, Annette Vowinckel (Hg.): Visual History als Praxis, Wallstein 2017, S. 75–99. 5 Hermann Mau: Die deutsche Jugendbewegung – Rückblick und Ausblick, in: pädagogik. Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Verlag Volk und Wissen, Berlin Leipzig, 2/1947 Nr. 7, S. 18 (im Original alles klein). 6 Chaim Schatzker : Die »klassische« deutsche Jugendbewegung der Jahrhundertwende und die Studentenbewegung der 1960er Jahre. Ein phänomenologischer Versuch in: Historische Mitteilungen, 2003, 16. Jg., S. 171–189, hier, S. 177ff. 7 Hermann Meier-Cronemeyer: Jüdische Jugendbewegung, 1. Teil, in: Germania Judaica. Mitteilungsblatt der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums, 1969, N. F. 27/28, S. 1–123, hier S. 81.
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ihrer Gestaltung schreiben sich zum einen historische Weltverhältnisse ein, und es werden zum anderen auch – so die im Folgenden zu entfaltende These – Historisierungsprozesse visuell mit konstituiert. Über die Analyse von Verschränkungen und dem Zusammenspiel von privater, institutioneller und öffentlicher Fotografie soll der Zusammenhang von Gemeinschaftserlebnis und Historisierungen auf verschiedenen Ebenen spezifisch für die jüdische Jugendbewegung skizziert und jeweils Anschlussmöglichkeiten für weitere bildanalytische Forschungen aufgezeigt werden. In chronologischer Abfolge werden dafür zunächst jugendliche private Bildproduktionen aus dem Milieu der jüdischen Jugendbewegung in den Blick genommen, die in der bündischen Phase bis ca. 1934 durch Fotografieren, Albumgestaltung und Abdruck in Veröffentlichungen des Bundes auf den Entwurf und Typisierung von jugendbewegten Selbstbildern gerichtet waren. Auf einer zweiten Ebene geht es um Reformulierungen dieser Entwürfe in der privaten jüdischen Jugendfotografie nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, auf der dritten zeitgleich um Prozesse der Funktionalisierung des jugendbewegten Bildrepertoires durch professionelle jüdische Fotografen. Auf der vierten Ebene werden Beispiele für Biografisierungen der Jugendbewegung in Fotoalben beschrieben, die Jugendliche nach ihrer Emigration nach Palästina anfertigten. Am Schluss steht eine bildanalytische Untersuchung institutionalisierter Erinnerung an die jüdische Jugendbewegung in Deutschland am Beispiel einer Kibbuzchronik aus dem 1996.8
Jugendbewegte Selbstbilder I – Private fotografische Praxis im Milieu der bündischen jüdischen Jugendbewegung bis ca. 1934 Das bündische Fahrtenleben gestaltete sich im Rhythmus von Wochenend-, längeren Wanderfahrten und Bundeslagern. Man traf sich, zog mit Gepäck durch die Gegend – gemischt oder nach Geschlechtern getrennt. Es wurde gesungen und musiziert, man lagerte auf dem Boden, spielte, aß, schlief auf dem Feld oder im Zelt. Während der Bundeslager wuselte das Jugendleben zwischen Zelten. Zumeist gab es einen oder sogar mehrere, die fotografierten. Beliebt waren Totalen vom Lagerleben, Gruppen auf Wegen und Straßen, Porträts, für die man entweder einzeln oder als Gruppe poste und Schnappschüsse. Der Akt des Fo8 In Bezug auf Quellen und Methode schließt der Beitrag an die bildanalytischen Untersuchungen zum Wesen des visuell formulierten Gemeinschaftsbegriffes der jüdischen Jugendbewegung an vgl. Ulrike Pilarczyk (unter Mitarbeit von U. Mietzner, J. Jacobi, I. v. Cossart): Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel, Göttingen 2009, Volltext unter : http://www.igdj-hh.de/pu blikationen-digital.html.[01. 03. 2018].
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tografierens war zunächst auf die Fixierung des Gegenwärtigen, auf Beglaubigung des Erlebten orientiert. Doch darüber wurden zugleich auch Selbstbilder generiert und adressiert, die auf zukünftige Erinnerung gerichtet waren, auch wenn diese Zukunft wohl zunächst recht unmittelbar imaginiert wurde. An den Entwürfen waren sowohl die Fotograf/innen als auch die Fotografierten beteiligt. Denn die Fotograf/innen schufen mit den Möglichkeiten der Technik und der Wahl von Ausschnitt und Moment Bilder auf Adressat/innen hin und auch die Fotografierten, insofern sie die Chance hatten, für ein Foto zu posen, entwarfen Bilder von sich selbst, von der Gemeinschaft und von sich selbst in der Gemeinschaft auf zukünftige Betrachtungen hin.
Abb. 1: Private Jugendfotografie: Kameraden 1928
Da nicht jede/r einen Fotoapparat hatte, wurden nach den Wanderfahrten oder Bundeslagern Prototypen herumgeschickt. Man konnte Abzüge von den Aufnahmen bestellen, die besonders gefielen und die die Funktion – die Erinnerung an die Gruppe, an Freunde und an das gemeinsame Fahrterlebnis wachzuhalten – erfüllten. Danach wurden Fotografien für das eigene Album oder für die gemeinsame Gruppenchronik ausgewählt, arrangiert und gestaltet. Diese Auswahlen und der sich daran anschließende Akt der Albumgestaltung, d. h. die Fotoauswahl für eine Seite, das Bild-Arrangement auf der Seite, die Betextung und die chronologische Ordnung der Seiten, waren bestimmt durch einen größeren zeitlichen Abstand zum Erlebten als der vorausgehende Akt des Foto-
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Abb. 2: Private Jugendfotografie: Kadima 1932
grafierens. Dies ermöglichte eine Reflexion des Erlebten, über die auch ein Prozess der (Selbst-) Historisierung des jugendbewegten Fahrtenlebens in Gang gesetzt wurde – auf der Mikroebene sozusagen. Denn noch viel mehr als das Fotografieren war der Prozess der Albumgestaltung auf zukünftige und zwar eben zumeist auf kollektive Erinnerung gerichtet. Und anders als die einzelnen Aufnahmen waren die Alben schon im Entstehen als Speicher für eine lange Zeitspanne konzipiert. In den Fotoalben, die die Jugendlichen fertigten, dominierten daher Gruppenformationen. Dass sich so viele Fotografien von der Fahrt und letztlich auch die Foto-Alben motivisch und stilistisch gleichen, liegt vermutlich daran, dass die jugendbewegten fotografischen Bildproduktionen in ihrer bündischen Phase auf die Hervorbringung von »jugendbewegten« visuellen Formulierungen des Gemeinschaftserlebnisses gerichtet waren: formal: der Haufen, die Reihe, der Sitzkreis, das Lagern auf dem Boden, Gruppenposing usw.,9 thematisch-motivisch: Zelte, das Essen, das Spiel, die Kamerad/innen, Appell, Lagerfeuer, das Waschen und Baden im See, an der Pumpe… Im Fotografieren, im Fotografiertwerden und auch bei der Auswahl und Gestaltung der Alben übte man sich 9 Zur Ikonografie der bündischen Jugendbewegung und insbesondere Gruppenformen vgl. Pilarczyk: Gemeinschaft (Anm. 8), S. 59–83.
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Abb. 3: Private Jugendfotografie: Kameraden 1929
aktiv in einen jugendbewegten Habitus ein. Das war ein körperlicher und kommunikativer Vorgang, der durch institutionalisierte Fahrtfotografien in den Bundesveröffentlichungen permanent ausjustiert wurde. D. h. zwischen der Gestaltung privater Fahrterinnerung (in den Alben) und institutionalisierter Fahrterinnerung (in Gruppenalben und in den Publikationen der Bünde) gab es einen permanenten Bildtransfer und -abgleich. Denn mit der Auswahl privater Aufnahmen für die Gruppenalben und Bundes-Veröffentlichungen wurden bestimmte visuelle Formulierungen prototypisch, nach denen die Jugendlichen ihre Bildproduktion, bewusst und unbewusst, und zugleich ihr körperliches Ausdrucksverhalten ausrichteten. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass sich diese Prozesse auch kontinuierlicher Erziehungsarbeit verdanken, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte.10 Über das Fotografieren auf Fahrt, über die Gestaltung der Foto-Alben und auch über das Schreiben über die Fahrt in Gruppenbüchern und für die Bundesblätter wurden visuelle und sprachliche Formulierungen eingetragen und institutionalisiert, in denen Natur- und Gemeinschaftserlebnisse für die Gruppe und die eigene Erinnerung modelliert wurden. Die Peer-to-Peer-Fahrt-Fotografie und 10 Vgl. dazu den Beitrag von Knut Bergbauer in diesem Band.
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der Fahrtbericht waren Medien, diese Erlebnisse in gewünschter, jugendbewegter Weise erfahrbar werden zu lassen.11 So kam man auf »eine Wellenlänge«, man sprach nicht nur eine Sprache und trug die Kluft, man nutzte auch sich gleichende visuelle Formulierungen für die Selbstdarstellung sowie für die Werbung im und für den Bund. Was Form und Stil der jüdischen jugendbewegten Fotografie in ihrer bündischen Phase betrifft, unterscheiden sich die Gruppen untereinander in der Gesamtschau bis etwa 1934 kaum. Zeitgleich zunehmende innerjüdische Differenzen auf der programmatischen Ebene – vor allem von Hermann MeierCronemeyer seit den 1960er Jahren konturiert herausgearbeitet – sind visuell nicht repräsentiert.12 Das betrifft auch die für diese Zeit in Form und Stil recht ähnliche nichtjüdische Jugendfotografie. Es gab wohl über alle Differenzen13 hinweg eine spezifische Gestimmtheit – Hermann Mau sprach in diesem Zusammenhang von »Lebensstimmung« – eine Haltung, über die sich Jugendbewegte definierten und die sich in der Bildproduktion in typisch »jugendbewegten« Selbstbildern artikulierte. Zugleich ist natürlich jedes private Foto-Album auch ein Zeugnis individueller Aneignung und Verarbeitung, bei aller Ähnlichkeit und auch z. T. Verwendung exakt derselben Fahrt-Fotos in unterschiedlichen Alben, sind sie im Bildgebrauch und Gestaltung nicht identisch. Bildanalytische Untersuchungen dieser individuellen Gestaltungen im Vergleich und auch der anderen, eben nicht »jugendbewegten« Bilder in den privaten Alben, stehen noch aus.
Jugendbewegte Selbstbilder II – Aus dem Milieu der bündischen jüdischen Jugendbewegung unter nationalsozialistischer Herrschaft Die Albumseite (Abb. 4) zeigt ein Arrangement aus dem Jahr 1937 mit einer Gruppe des Habonim auf Fahrt. Es handelt sich dabei um ein Bild-Text-Arrangement in einer der oben klassifizierten bündisch-jugendbewegten visuellen Standardformulierungen »Gruppe auf Fahrt«, rechts in Reihe und Kluft auf die Betrachterin zuschrei11 Systematisch ausgearbeitet wurde dieser Zusammenhang von Erziehung und bildlicher Typisierung in Ulrike Pilarczyk: Natur-Erlebnis-Gemeinschaft. Lebensreform und Pädagogik im Medium »jugendbewegter« Fotografie, in: Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt, Sabine Reh (Hg.): Reformpädagogik und Reformpädagogik-Rezeption in neuer Sicht, Bad Heilbrunn 2016, S. 271–292. 12 Vgl. dazu insbesondere Meier-Cronemeyer : Jugendbewegung (Anm. 7). 13 Zu den Differenzen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Fotografie in der Jugendbewegung, Pilarczyk: Gemeinschaft (Anm. 8), S. 80f.
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Abb. 4: Private Jugendfotografie: Habonim 1937
tend, links post dieselbe Gruppe, ergänzt durch drei Mädchen im Vordergrund, in der Mitte des Bildes in atmosphärisch trüber, konturenlos verschwimmender Landschaft. Die jugendlichen Fotograf/Innen ebenso wie die Albumgestalterin nutzten hier das in den 1920er Jahren ausdifferenzierte jugendbewegte Bildrepertoire zu einer Zeit, da dieses Fahrt- und Lagerleben in Deutschland jüdischen Jugendlichen durch äußere Restriktionen nur noch unter großen Einschränkungen möglich war. Das Tragen der Kluft wurde an vielen Orten schon ab 1934 untersagt; Aufmärsche durften nicht mehr stattfinden. Jüdische Jugendliche durften nicht in Gruppen mit mehr als zwanzig Teilnehmer/innen bzw. in geschlossenen Ordnungen in der Öffentlichkeit erscheinen. Publikationen waren verboten, auch das »Mitführen oder Zeigen von Fahnen, Bannern und Wimpeln in der Öffentlichkeit« und selbst das Tragen jüdischer Sportabzeichen. Wanderungen, Heimabende und andere Veranstaltungen mussten bei den zuständigen Stellen angemeldet und Auskunft über Inhalte und Anzahl der Mitglieder gegeben werden.14 Zeltlager waren nur noch nach Genehmigung auf privaten Grundstücken gestattet und ihre Teilnehmerzahl begrenzt. Jugendherbergen standen den jüdischen Jugendlichen nach 14 Laut Gestapobericht, s. Meier-Cronemeyer : Jugendbewegung (Anm. 7), S. 102.
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dem Ausschluss jüdischer Vereine aus dem Reichsverband für deutsche Jugendherbergen nicht mehr offen. Zeitgleich hatte sich der größere Teil der jüdischen Jugendbewegung bereits in eine hierarchisch organisierte zionistische Hilfsorganisation gewandelt, deren Ziel die Politisierung der jüdischen Jugend mit dem Ziel Auswanderung nach Palästina war. Dadurch gewann sie großen Zulauf, bis 1937 hatte die zionistische Jugendbewegung etwa ein Fünftel der jüdischen Schuljugend erfasst.15 Tatsächlich handelt es sich bei dieser Aufnahme (Abb. 4) um eine Gruppe, die sich eigentlich auf Hachschara16 in Taucha bei Leipzig befand. In ihrer knapp bemessenen Freizeit und offensichtlich Verbote missachtend, demonstrieren sie hier für die Kamera selbstbewusst ein jugendbewegtes Fahrtleben in Thüringen – durch Arrangement im Album und die Betextung zusätzlich verstärkt. Solcherart Reformulierungen des jugendbewegten Bildrepertoires lassen sich in den Alben jüdischer Jugendlicher ab etwa Mitte der 30er Jahre häufig finden. Es scheint, also ob die Fotografien und Alben ein ostentatives Beharren auf der jugendbewegten Form präsentieren. Es ist zu vermuten, dass diese Bilder gemacht und gebraucht wurden, um medial ein Fahrterlebnis aufzurufen, zu erhalten und zu erinnern, das es in der Realität so gar nicht mehr gab – in einer kreativen Umdeutung des fotografischen Authentizitäts-Versprechens: Das Foto gibt es nicht, weil etwas stattgefunden hat – sondern weil es das Foto gibt, musste es auch stattgefunden haben. Zusammenfassend lässt sich die private jugendliche Bildproduktion (Fotografieren und Albumgestaltung) aus dem Milieu der jüdischen Jugendbewegung in die Phase einer Ausdifferenzierung und Typisierung jugendbewegter Selbstbilder unterscheiden (bündische Phase) und eine Phase, in der diese Bilder zum Selbsterhalt der jugendlichen Gemeinschaften und des jugendbewegten Selbstbildes gepflegt wurden (ab etwa 1934). Damit verbunden war eine Verschiebung 15 Angaben nach Eliyahu Salinger : »Nächstes Jahr im Kibbuz.« Die jüdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943, Paderborn 1998, S. 59. 16 Unter dem Begriff Hachschara (hebr. für Tauglichmachung) firmierte das umfassende Erziehungs-, Ausbildungs- und Auswanderungssystem, das die jüdische Selbsthilfe unter maßgeblicher Beteiligung der jüdischen Jugendbewegung nach 1933 schuf. Zugleich konnte den jungen Menschen, die aufgrund der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten ihr Studium abbrechen mussten und Jugendlichen, die die Schule nicht beenden konnten, eine Ausbildungs-Alternative geboten werden. Neben der allgemeinen Hachschara wurde daher bald die Mittleren-Hachschara (MiHa) und die Jugend-Alija für jüngere Jugendliche eingerichtet, zur Hachschara vgl. u. a. Herbert und Ruth Fiedler : Hachschara. Vorbereitung auf Palästina. Schicksalswege, Teetz 2004; Ilana Michaeli, Irmgart Klönne (Hg.): Gut Winkel – die schützende Insel. Hachschara 1933–1941, Berlin 2007; zur Jugend-Alija vgl. u. a. Susanne Urban: Die Jugend-Alija 1932 bis 1940. Exil in der Fremde oder Heimat in Erez Israel, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Kindheit und Jugend im Exil. Ein Generationenthema, München 2006, S. 34–61, Brian Amkraut: Between Home and Homeland. Youth Aliyah from Nazi Germany, Tuscaloosa 2006.
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von Bedeutung und Funktion. Beiden Phasen war die permanente Wiederholung visueller Formulierungen der Fahrt gemeinsam. Fahrtaktivitäten wurden zwar auf den Albumseiten per Kommentar unterschiedlich verortet, doch lassen sich in diesen Aneinanderreihungen von Bildern und Seiten keine Entwicklungen beschreiben und keine Narrationen rekonstruieren, visuell erscheint die Jugendbewegung als sich wiederholende Form in zeitlosem Raum. Allerdings gibt es auch Unterschiede zwischen den Phasen. Die beiden Fotografien auf der Albumseite aus dem Jahr 1937 (Abb. 4) lassen atmosphärisch Klarheit und Leichtigkeit des jugendbewegten Fahrtenlebens vermissen, die die Alben der 20er Jahre auszeichnet (hier Abb. 1–3) und die im Vergleich auch Fahrtfotos jener Jahre zeigen, wenn die Fahrten ins Ausland gingen. Inwiefern sich in den Fahrtfotografien der 30er Jahre nach 1934 auch die geänderten politischen Rahmenbedingungen, Ausgrenzung und Schikane und die gewandelten Erfahrungsräume der jüdischen Jugendlichen ausdrücken, wäre an einem größeren fotografischen Bestand empirisch zu prüfen, was für diesen Beitrag nicht geleistet wurde.
Bilder neuer Juden und Jüdinnen – professionelle Fotografie in jüdischen Medien in Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft Auf dieses innerhalb gängiger Praxen visueller Kommunikation hervorgebrachte Repertoire jugendbewegter Fahrtbilder greifen etwa zur gleichen Zeit auch jüdische Berufsfotografen zurück. Entsprechende visuelle Formulierungen werden nun also auch von Seiten jüdischer Organisationen genutzt, nachweislich in Veröffentlichungen des Reichsausschusses der jüdischen Jugendverbände, in der »Jüdischen Rundschau«, im »Israelitischen Familienblatt«, in den Mitteilungsblättern jüdischer Frontsoldaten sowie für Werbebroschüren des Hechaluz und für die Jugend-Alija. Diese Perspektiven waren im Unterschied zu den privaten Fotografien nicht nur professionelle, es waren auch die Perspektiven Erwachsener auf die jüdische Jugendbewegung. Damit änderten sich auch die Bilder, die sie hervorbrachten. Zu den wenigen zionistischen Fotografen, die nach 1933 noch in Deutschland17 tätig waren, gehörte Herbert Sonnenfeld.18 Für seine Reportagen aus 17 Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten wurden die Pressefotografen zwangsweise in den berufsständischen Organisationen des »Reichsverbandes deutscher Bildberichterstatter« vereinigt und per Gesetz auf die Prinzipien nationalsozialistischer Staatsideologie verpflichtet. Neben den Juden konnten so auch alle anderen ideologisch nicht angepassten Fotografen diskriminiert werden. Dann übernahm man die »Bildberichter-
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Abb. 5 und Abb. 6: Pressefotografie Herbert Sonnenfeld, Hachschara in Rüdnitz 1935
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Abb. 7 und 8: Pressefotografie Herbert Sonnenfeld, Hachschara in Schniebinchen 1938 statter« in den »Reichsverband der deutschen Presse«, für den auch der Nachweis einer »arischen« Abstammung erbracht werden musste. Jüdische Fotografen konnten danach nur noch im Auftrag jüdischer Organisationen oder Zeitschriften tätig sein, vgl. u. a. Ulrich Domröse (Hg.): Leitbilder für Volk und Welt. Nationalsozialismus und Photographie, Berlin 1995, S. 12–20.
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verschiedenen Hachschara-Stätten insbesondere in Brandenburg nutzte er häufig Fahrtmotive, wie die Bildbeispiele zeigen (Abb. 5–8) u. a. das Waschen an der Pumpe, die Reihe, die Hora, das gemeinsame Musizieren. Formal-ästhetisch ging dies mit Stilisierung und Heroisierung der jugendbewegten Form einher, semantisch mit einer deutlichen Verschiebung hin zu Arbeit. In seinen Formulierungen wird die Fahrtreihe zur Arbeitsreihe und die Orte, wo die Szenen sich abspielen, sind als Hachschara-Lager erkennbar. In Stil und Atmosphäre sind Sonnenfelds Fotografien stark durch die sich zeitgleich in Palästina entwickelnde zionistische Fotografie und den zionistischen Film beeinflusst, die auch in Deutschland präsent waren.19 Ein typisches Beispiel dafür ist die Reportage des in Palästina einflussreichen zionistischen Fotografen Zoltan Kluger aus dem Jahr 1935 für die »Jüdische Rundschau«, in der er eine deutsche JugendAlija Gruppe im Kibbuz Givat Brenner porträtierte (Abb. 9). Die Verschiebung des jugendbewegten Fahrtmotivs hin zur Arbeitsgruppe wird auch hier deutlich. Diese Bilder sollten im Rahmen der Werbung für die Jugend-Alija und Hachschara Jugendliche ansprechen, motivieren. Dafür bediente man sich offensichtlich einer Bildsprache, die den Jugendlichen vertraut war. Zu der Bildwelt, mit der in dieser Zeit jüdische Jugendliche interagierten, gehörten auch die zionistischen Filme, von denen etwa ein Dutzend bis 1938 in Deutschland ihre Uraufführung erlebten, darunter besonders hervorzuheben: Land der Verheißung (1935).20 In diesem Film – von den Jugendlichen mit Begeisterung aufgenommen – wurden zionistische Siedler (Männer und Frauen) in Palästina und ihre Erfolge in Landwirtschaft und Industrie porträtiert. Die filmischen Einstellungen wechseln dabei in geradezu rhythmischer Wiederholung zu Bildern von zur Arbeit ziehenden singenden Jugendlichen in kurzen Hosen – ganz im Stil dieser Fotografie aus der »Palästina-Bildbeilage« von Zoltan Kluger aus dem gleichen Jahr. Eine bildliche Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität nach 1933 in Deutschland fand hingegen weder durch die Jugendlichen selbst noch in den jüdischen Medien statt, auch nicht in den Mitteilungsblättern und in den Werbebroschüren des Hechaluz für die Hachschara und die Jugend-Alija. Zusammenfassend lässt sich diese professionelle Bildproduktion als Aufgreifen 18 Herbert Sonnenfeld (1906–1972) wurde 1933 nach seiner Entlassung als Versicherungsangestellter Berufsfotograf. 1939 emigrierte Sonnenfeld mit seiner Frau nach New York und arbeitete dort weiter als Fotograf. Ein Teil des fotografischen Nachlasses befindet sich im Jüdischen Museum Berlin, vgl. Maren Krüger : Herbert Sonnenfeld, Berlin 1992. 19 Prominente zionistische Fotografen wie Zoltan Kluger, Jakob Rosner und Walter Christeller sind auch in der »Jüdischen Rundschau« präsent. 20 Urim Palestine Film Company unter Leitung von Juda Leman, Fox Movietone, New York, im Auftrag von Keren Hajessod. In Deutschland fand die Uraufführung im Mai 1935 in Berlin, Breslau und Hamburg statt.
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Abb. 9: Pressefotografie Zoltan Kluger : Palästina-Beilage der Jüdische Rundschau 1935
jugendbewegter Bildformulierungen im Auftrag pädagogisch-politisch ambitionierter (zionistischer) Organisationen beschreiben. Was sich dabei gut beobachten lässt, ist die Stilisierung. Die jugendbewegte Form wird darüber zu einer funktionalen virtuellen Form. Die heroische Stilisierung verweist zugleich auf eine Historisierung der jüdischen Jugendbewegung, sie markiert das Ende der »alten« Jugendbewegung. In dem die zionistische Fotografie formal an den Erlebniskern der Jugendbewegung anknüpfte, löste sie ihn durch Transformation zu Arbeit und Aufbau der »neuen jüdischen Heimstatt« in Palästina zugleich auf. Darüber wurde dieser Generation der jüdischen Jugendbewegung eine große historische Aufgabe zugesprochen, die sie sowohl für die Rettung tausender Jugendlicher als auch für die Besiedlung Palästinas und die Gründung des Staates Israel dann auch tat-
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sächlich übernahm, die sie jedoch in ihren eigenen ästhetischen Produktionen nicht auszudrücken vermochte.
Erinnerte Jugend I – private Foto-Alben ehemals Jugendbewegter nach der Emigration Visuelle Erinnerungsarbeit und das heißt eben auch Selbst-Historisierung der jüdischen Jugendbewegung fand ebenso über individuelle Albumgestaltungen statt, die zeitlich Jahre nach dem Erlebnis der Jugendbewegung in Deutschland lagen.21 Für die Fotoalben, die der Untersuchung dieses Beitrags zugrunde gelegt wurden, lässt sich für die 40er und 50er Jahre eine Tendenz zur Biografisierung der jugendbewegten Zeit beschreiben. Damit verbunden ist ein quantitativer Rückgang des Anteils an Gemeinschaftsformulierungen zugunsten von Porträts und individueller Perspektiven. Zumeist ist die jugendbewegte Zeit in den Alben als Phase auf mehreren gestalteten Seiten hintereinander repräsentiert. Dieser Teil steht in der Regel in einer chronologischen Ordnung zwischen Kindheit/ Schulzeit und Abschied/Emigration/Neuanfang. Der erste Teil enthält Foto-Arrangements von der Familie, vom Heranwachsen sowie aus der Schule, danach von Freunden, Familie, Stadtansichten, Landschaften, oft auch von der Überfahrt sowie vom Ankommen im neuen Land. Hierbei ändern sich die Bildatmosphären allein durch die mediterranen Lichtverhältnisse, aber thematisch auch durch neue Orte und neue Rollen (als Arbeiter/in, Mutter, Vater, Soldat/in) sowie durch die Niederkunft der nächste Generation. Auffällig im Vergleich zu den Fahrt-Alben aus den 20er Jahren ist der Wechsel der atmosphärischen Gestimmtheit der jugendbewegten Darstellungen in den biografischen Fotoalben, die zudem von Album zu Album stark variieren. Die Bild-Text-Arrangements belegen ein Bemühen um das Vermitteln eines erinnerten Lebensgefühls, das sich offenbar mit der Jugendbewegung verband. Das konnte sich – wie die Beispiele hier zeigen – in einem liebevoll melancholischen Blick auf die fahrende Jungengemeinschaft, auf das Musizieren, das gewaltige Marschgepäck und Wimpel artikulieren (Abb. 10), oder auch über ein Kaleidoskop fröhlich-exaltierter Kadima-Mädchen auf Fahrt (Abb. 11). Nach der Erfahrung der Trennung von Familie und Freunden, der Loslösung vom Herkunftsland und des Eingewöhnens in neue Lebenszusammenhänge wurden über diese Fotoalben mit dem vorhandenen historischen Bildbestand 21 Informationen zur Entstehungszeit der Alben (nach der Emigration) stammen zumeist von den Besitzer/innen der Fotoalben. Teilweise lassen sich auch Rückschlüsse auf das Datum und Ort durch hebräische Kommentierungen, achronologische Bildarrangements – und Seitenreihungen ziehen sowie durch in Palästina gekaufte Foto-Alben.
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Abb. 10: Private Jugendfotografie: Kameraden 20er Jahre
Abb. 11: Private Jugendfotografie: Kadima Anfang der 30er Jahre
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individuelle Lebenserzählungen geschaffen. Darin erschien die Jugendbewegung als vergangene, als Zeit der Peers, nahezu völlig freigesetzt aus historischer Zeit und Raum.
Erinnerte Jugend II – mit der Jugendbewegung in den Kibbuz Hasorea ist eine Kibbuzgründung des Jugendbundes der Werkleute. Ab 1934 gingen Grüppchen der Werkleute (ehemals Kameraden) nach Palästina, kauften Land und gründeten 1936 einen Kibbuz im Emek bei Haifa. Im Jahr 1996 feierte Hasorea seinen 70. Geburtstag, anlässlich dieses Jubiläums erschien eine reich illustrierte Chronik.
Abb. 12: S. 11 der Chronik des Kibbuz Hasorea 1996 (linke Hälfte der Doppelseite)
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Auf den ersten Seiten der Chronik befindet sich eine grafisch gestaltete Doppelseite, die die jugendbewegten Ursprünge von Hasorea thematisiert. Auf der linken Seite (Abb. 12) erscheinen Porträts der führenden Köpfe der Bewegung, oben Hermann Gerson, langjähriger Führer der Kameraden/Werkleute, darunter ein Foto Martin Bubers, dem die Kameraden/Werkleute ihre ideell-philosophische Ausrichtung verdankten. Genau gegenüber auf der rechten Seite finden sich elf kleinere Fotografien in zwei Reihen untereinander aus dem Fahrtleben des Bundes in Deutschland (Abb. 13), auf der linken Innenseite unten das Symbol der Werkleute, darüber zwei Fotografien aus der Aufbauzeit des Kibbuz Hasorea, die sich mühelos als Allegorien auf den arbeits- und entbehrungsreichen Anfang des Kibbuz’ entschlüsseln lassen. Es sind die elf Fotos in Reihe auf der rechten Seite, mit denen die Gestalter der Chronik unmittelbar an das jugendbewegte visuelle Formenrepertoire aus den 20er Jahren anknüpften. Ihre Anordnung ist ungewöhnlich, sie erscheinen teilweise doppelt, dreifach und sogar einmal in vierfacher Wiederholung in zwei Reihen mit einer Leerstelle links. D. h. nur fünf der Aufnahmen lassen sich deutlich motivisch voneinander unterscheiden. Der darüber aufgerufene filmische Eindruck wird durch schnappschussartige Aufnahmen verstärkt, die keine formal vollendeten Bildgestaltungen präsentieren, sondern momenthafte Ereignisse, Zwischenbilder, ähnlich Filmstills, die sich damit auch klassischer Bildanalyse entziehen (Abb. 13, 4. Foto linke Reihe und 1.–4. Foto rechte Reihe von oben nach unten) Tatsächlich handelt es sich bei diesen Bildern um Einzelaufnahmen aus einem Film, der anlässlich des Bundestages der Kameraden im Jahr 1928 von Paul Falkenberg gedreht wurde. Der Film als Ganzes gilt zwar als verschollen, doch einige Filmstreifen, möglicherweise Schnittreste, hatten im Archiv von Hasorea überdauert. Über die Auflösung der Filmsequenzen in einzelne Aufnahmen der Chronik unter Beibehaltung des filmischen Gesamteindrucks haben die Gestalter kunstvoll die medialen Ausdrucksmöglichkeiten des Films ebenso wie die der Fotografie ins Spiel gebracht. Denn über die seriell-filmische Anordnung der Aufnahmen entfalten sich auf zwei Ebenen Erzählungen: auf die Personen bezogen wird hier eine Geschichte vom Großwerden in der Jugendbewegung erzählt, parallel dazu entfaltet sich eine Erzählung vom Wachsen und Werden einer zionistischen Gemeinschaft, die am Ende in einheitlicher Marschformation einem Ziel entgegen schreitet, das im Rahmen der Chronik nur »Kibbuz« heißen konnte. Diese Art von Narration können Fotografien – für sich genommen – nicht leisten, dazu bedarf es ihrer Inszenierung in anderen Medien, Serialität und Kontextualisierung. Gleichwohl ist ein Vorzug der Einzelfotografie, dass sich Ausgangs-, Wende- und Endpunkt der Geschichte fixieren und fotoanalytisch präziser fassen lassen als filmanalytisch der gesamte Prozess. Man kann daher davon ausgehen, dass die Einzelaufnahmen mit großer Sorgfalt aus den Film-
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Abb. 13: Ausschnitt aus S. 10 der Chronik des Kibbuz Hasorea 1996 (rechte Hälfte der Doppelseite)
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sequenzen gelöst wurden. Ebenso ist bedeutsam, wie viele Fotos für die jeweilig zu formulierende Aussage eingesetzt und wo Leerstellen gelassen wurden. So zeigt das erste Foto auf der linken Seite des Filmstreifens (Abb. 13) zunächst eine jugendbewegte Ausgangssituation in zweifacher Ausfertigung, die sich mit dem »Nest« auf den Begriff bringen lässt. Damit ist die beinahe familiäre Geborgenheit angesprochen, die gerade Jüngere in der Jugendbewegung erlebten, und die ihnen partiell Ablösung vom Elternhaus ermöglichte, durch die Nähe und Freundschaft zu einem nur wenig älteren Jugendführer und die Gemeinschaft der Gleichaltrigen. Das Wärmende und Nährende des »Nests« ist hier über Licht, Stroh und Hordentopf, das Gemeinschaftliche über die kreisförmige Gruppenform, das gemeinsame Singen und die Kluft symbolisiert und stimmungsvoll in Szene gesetzt. Die doppelte Anordnung in der Foto-Serie kategorisiert das Bild als sehr wichtig. Interessant ist, dass es außer der Kluft keine symbolischen Verweise auf einen bestimmten Bund gibt. Das ändert sich mit der Fotografie darunter, die bildhaft als Einheit der größeren Gemeinschaft, der des Bundes der Kameraden, gelesen werden kann. Die Jüngeren erscheinen hier im Bildvordergrund in Rückenansicht mit der dunkleren Kluft als Teil einer größeren (halb-) kreisförmigen Anordnung, über der die Fahnen des Bundes flattern. Die beiden Bilder präsentieren die Jüngeren ausschließlich lagernd, zunächst sitzend und liegend mit unterschiedlichen Blickrichtungen im »Nest«, dann in Sitzposition formiert, mit vergleichsweise einheitlicher Blickrichtung zur Mitte des Kreises hin. Die Fotografie darunter zeigt eine der schnappschussartigen Szenen einer Gruppe älterer Kamerad/innen in Kluft mit Wimpel in einer Kreisform, die sich eher zufällig ergeben zu haben schien. Die Blicke gehen in unterschiedliche Richtungen. In der formal planimetrischen Anordnung markiert der Kopf der sitzenden Kameradin die Bildmitte, im räumlichen Arrangement fungiert sie zugleich als Mitte dieses Kreises. Dennoch bleibt die Szene vieldeutig und rätselhaft. Im Ganzen vermittelt das Foto den Eindruck von Unentschlossenheit, des Wartens. Keine/r der Protagonist/innen vermittelt körperliche Spannung, Bewegung wird lediglich von außen in die Szene getragen, durch den Wind, der von rechts kommt und ihre Kleidung zaust. Unterhalb dieser Aufnahme gibt es drei Leerstellen, die durchaus mit drei weiteren Aufnahmen hätten gefüllt werden können. Das lässt sich in unterschiedlicher Weise deuten. Es könnte sein, dass die Gestalter keine passenden Aufnahmen fanden oder ästhetische Gründe für diese Gestaltung hatten. Es ist jedoch auch möglich, diese Leerstellen als Fortführung der zentralen Aussage dieser Fotografie zu interpretieren, als inszenierte Leere analog etwa zur Verwendung von Leerzeichen (…) im Text. Dann wären diese Leerstellen als Zeit der Unentschlossenheit, des Wartens, der Inaktivität, eben als Zeit der Leere zu deuten. Diese Deutung könnte auch vor dem Hintergrund der nächsten Foto-
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grafie auf der rechten Seite, die diese Geschichte in vierfacher Wiederholung fortschreibt, Plausibilität beanspruchen. Denn die Szene vermittelt größere körperliche Aktivität und Richtungsentscheidung durch mehrheitliche Drehung der Protagonisten nach rechts und Griff nach der Fahne. Ästhetisch erinnert sie auch an die in der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg beliebten Schattenrisse. Die Aussage des fotografischen Bildes ist damit deutlich hin zu Aufbruch (gegen den Wind) bzw. kurz vor dem Aufbruch verschoben. Durch eine Person genau konträr zur Gruppe wird zugleich auch der Aspekt des Widerstandes thematisiert. Dass zur Formulierung von »Aufbruch« nicht nur ein einzelnes Foto, sondern eine Filmsequenz mit vier Aufnahmen genutzt wurde, unterstreicht die außerordentliche Bedeutung dieses Bildes für die intendierte Erzählung. Noch die kleinsten Veränderungen, die sich im Vergleich der Aufnahmen beobachten lassen – wie sich der Wimpel im Zentrum von Aufnahme zu Aufnahme im Gegenwind (von rechts) immer stärker aufbläht – stützt diese offensichtlich sorgfältig inszenierte Aussage. Das letzte Foto der Serie zeigt nun erstmalig und in dreifacher Wiederholung einen Weg. Auf dem Weg marschieren mehrheitlich junge Männer und – kaum erkennbar – eine Frau im Gleichschritt. Diese Marschformation bewegt sich in dieselbe Richtung von links im Bild nach rechts, als Bündische durch die Kluft erkennbar, doch hier ohne Wimpel und Fahnen. Der Anschnitt links und rechts suggeriert fototypisch eine nicht begrenzte Menge an Personen. Die karge und hügelige Landschaft, durch die sich der Zug bewegt, ruft Assoziationen an den Emek vor der Kibbuzgründung Hasoreas auf. Die über die Serie konstruierte Entwicklung der jüdischen Jugendbewegung beginnt in der Geborgenheit des »Nestes« und endet mit dieser letzten visuellen Formulierung in einer Marschformation in Richtung Kibbuz. Diese Erzählung wird mit originalem Bildmaterial aus der Zeit des bündischen Fahrtlebens der 20er Jahre gestaltet. Die (filmischen) Aufnahmen aus dem Milieu des Bundeslagers wurden dafür aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und neu geordnet. Darüber wird die historische Zeit, in der der Bundestag stattfand und auch die Zeit, in der die Szenen während des Bundestages aufgenommen wurden, verschoben, aufgebrochen und gedehnt, um eine Chronologisierung zu ermöglichen, die eine Entwicklung aus der sich selbst genügenden, richtungslosen Jugendbewegung zu einer kraftvollen und zielbewussten Bewegung belegen sollte. Ziel des Beitrages war allerdings zu zeigen, dass die Historisierung der Jugendbewegung nicht erst mit diesen Versuchen der Chronologisierung und Ideologisierung beginnt. Die Historisierung erweist sich als ein Bestandteil ihrer Entwicklung von Anfang an, denn sie begann in der fotografischen Bildpraxis, mit der Arbeit an Typisierungen und zukünftigen Überlieferungen, die bis heute wenig Zweifel daran lassen, was als »jugendbewegt« anzusehen war und was
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nicht. Die Kanonisierung der Form ist eine Form der Historisierung. In dem Maße, wie sich der zeitliche Abstand zwischen der Entstehung einer Aufnahme und ihrer Verwendung vergrößert, löst sich auch das fotografische Bild von den Intentionen, die ursprünglich mit seiner Entstehung und Erstverwendung verbunden waren und öffnet sich neuen historischen Einordnungen und Zuschreibungen. Allerdings erschöpft sich der Wert von Fotografien als Quelle für die historische Forschung nicht in der Rekonstruktion ihres intentionalen Gebrauchs, denn ästhetische Produkte entziehen sich eindeutiger Zuschreibungen. So lassen sich zum Beispiel über die Fotos von Sonnenfeld und Kluger aus den 1930er Jahren auch die Alternativlosigkeit der historischen Situation und die Erfahrung von Ausgrenzung und Bedrückung analysieren.22 Und auch das letzte Beispiel der Serie aus der Chronik von Hasorea bietet Möglichkeiten zur Dekonstruktion der zionistischen Großerzählung – u. a. über die mitgeführte Suberzählung der nachträglichen Marginalisierung von Mädchen und Frauen in der jüdischen Jugendbewegung. Und darüber hinaus – die individuellen und kollektiven Perspektiven der jugendbewegten Mädchen und jungen Frauen sind in ihren fotografischen Bildproduktionen und -gestaltungen überliefert und warten auf bildwissenschaftliche Erschließung.
Bildnachweis Abb. 1
Aus einem privaten Fotoalbum von Arthur Schnitzler (Archiv Hasorea, Israel), Fotograf/innen unbekannt. Abb. 2 Aus einem privaten Fotoalbum von Hanni Davidson (Privatbesitz Davidson, Rishon le Zion, Israel), Fotograf/innen unbekannt. Abb. 3 Aus einem privaten Fotoalbum von Asher Benari (Arnold Löwisohn) (Archiv Hasorea, Israel), Fotografien von Asher Benari. Abb. 4 Aus einem privaten Fotoalbum von Esther Scharon (Kohn) (Privatbesitz Esther Scharon, Givat Hayyim Meuchad, Israel), Fotograf/innen unbekannt. Abb. 5–8 Aus der Sonnenfeld-Sammlung des Jüdischen Museums in Berlin, realisiert durch Mittel der Stiftung Klassenlotterien. Abb. 9 Aus der illustrierten Palästina-Beilage der Jüdischen Rundschau 1935. Abb. 10 Aus einem privaten Fotoalbum von Sascha Steinberg (Archiv Hasorea, Israel), Fotografien Sascha Steinberg. Abb. 11 Aus einem privaten Fotoalbum von Jehudith Shaltiel (Privatbesitz Shaltiel, Jerusalem, Israel). Abb. 12 Kibbuz Hasorea (Hg.): 70 Jahre Kibbuz Hasorea – Chronik. Hasorea 1996, S. 10/11 Abb. 13 Ausschnitt aus Abb. 12. 22 Vgl. dazu die Bildanalysen in Pilarczyk: Gemeinschaft (Anm. 8), S. 128–149.
Belastung und (Selbst-)Historisierung
Christoph Nonn
»Mir scheint aber das ganze Unternehmen etwas verstaubt zu sein.« Theodor Schieders konservative Kritik an Werner Kindts Dokumentation der Jugendbewegung
Im Frühjahr 1958 beschloss der Arbeitsausschuss und Ältestenrat des Freideutschen Kreises eine Aktion der Selbsthistorisierung. Auf die »aus unseren eigenen Reihen kommenden […] Angriffe«, die bündische Jugend sei »Wegbereiterin des Nationalsozialismus« gewesen, sollte eine wissenschaftlich fundierte Antwort gegeben werden.1 Um diesen Plan zu verwirklichen, bemühte sich insbesondere der Vorsitzende des Arbeitsausschusses Friedrich Hoffmann um Mitarbeit prominenter Historiker, die Beziehungen zur Jugendbewegung gehabt hatten oder noch hatten. Unter diesen Historikern war auch Theodor Schieder. Schieder erklärte sich Anfang 1959 bereit, den Vorsitz einer Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung zu übernehmen.2 Aber schon im nächsten Jahr bereute er diese Bereitschaft offenbar wieder. In einem Brief an einen alten Freund aus Studententagen kommentierte er 1960 das Projekt, die Geschichte der Jugendbewegung aufzuarbeiten: »Mir scheint aber das ganze Unternehmen etwas verstaubt zu sein.«3 Dabei war Schieder durchaus aufgeschlossen für eine Selbsthistorisierung der Jugendbewegung, wie sie nach 1945 vielfach angegangen wurden. Im Laufe der Jahre distanzierte er sich aber immer weiter von dem wichtigsten Resultat dieser Bemühungen – von Werner Kindts Editionsprojekt einer »Dokumentation der Jugendbewegung«. Diese Distanzierung Schieders wirft nur ein kleines Schlaglicht auf die jugendbewegten Ansätze zur Selbsthistorisierung. Es beleuchtet lediglich einen eng begrenzten Ausschnitt der vielfältigen Versuche nach 1945, etwas über das Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus auszusagen. Und wie man dieses kleine Schlaglicht bewertet, hängt natürlich auch wesentlich davon ab, wie man seine Quelle sieht. Deshalb muss an dieser Stelle zunächst einiges über Theodor Schieder selbst gesagt werden – zumal besonders 1 Notiz von Friedrich Hoffmann 17. 03. 1958, Bundesarchiv Koblenz (= BArch), Nachlass Theodor Schieder (= N 1188) /450. 2 Protokoll vom 17. 01. 1959, ebd. 3 Schieder an Alo Alzheimer 08. 07. 1960, ebd.
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über seine Biografie vor 1945 nicht nur einige fragwürdige Interpretationen, sondern auch schlicht falsche Annahmen verbreitet sind. Schieder war schon zu Schulzeiten Mitglied in jugendbewegten Gruppen. Während seines 1926 begonnenen Studiums in München trat er der DeutschAkademischen Gildenschaft (DAG) bei. Deren Münchner Aktivengruppe leitete er seit 1929. Seitdem war er auch auf den meisten überregionalen und nationalen Tagungen der Gildenschaft präsent. In der DAG war die Stellung zum Nationalsozialismus heftig umstritten. Der Streit darüber führte zu mehreren Spaltungen und Abspaltungen. Theodor Schieder bezog in diesen Auseinandersetzungen bis 1933 jeweils klar Position gegen eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. Unter anderem erklärte er den Gegensatz von »arischem« und »jüdischem Geist« zum »Mythos«. Jürgen Reulecke hat die meisten dieser Stellungnahmen Schieders schon vor einem Vierteljahrhundert dokumentiert und sie zu Recht als einen Beleg für die Vielgestaltigkeit der Jugendbewegung interpretiert: In der Bewegung waren vor 1933 sowohl Wegbereiter wie Gegner der Nationalsozialisten aktiv.4 Theodor Schieder zählte vor 1933 zu den jugendbewegten Gegnern des Nationalsozialismus. Das änderte sich seit 1933. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten näherte Schieder sich diesen an. In diesem Annäherungsprozess gab es keinen spektakulären Wendepunkt, er vollzog sich langsam und schrittweise. Zunächst hatte er noch eher den Charakter einer äußerlichen Anpassung. Bis etwa 1938 waren Schieders Texte und die in ihnen verwendete Begrifflichkeit vielfach ambivalent; sie können sowohl im nationalsozialistischen wie in einem traditionell konservativ-deutschnationalen Sinn gelesen werden. Zunehmend identifizierte Schieder sich aber auch innerlich mit dem neuen Regime. Diese Nationalsozialisierung war bis zu den frühen 1940er Jahren weitgehend vollzogen. Die Bedeutung des Nationalsozialismus für Theodor Schieder hat sich also stark gewandelt nach 1933. Umgekehrt war das allerdings nicht der Fall: Im Nationalsozialismus blieb Schieder ein kleiner Fisch. Ingo Haar, Götz Aly und andere haben Bilder gezeichnet von Schieder als erfolgreichem Politikberater, einem der Väter des »Generalplans Ost«, der auf höchster Ebene das Ohr von zentralen Entscheidungsträgern hatte. Dafür gibt es in den Quellen keinerlei Anhaltspunkte. Schieder hat sich zwar wiederholt darum bemüht, das Ohr der Mächtigen zu gewinnen. Aber irgendeinen Erfolg hatten seine Anläufe in dieser Richtung nicht. Auch seine berühmt-berüchtigte Denkschrift vom Oktober 1939 hat die zentralen Entscheidungsträger der Polen- und Judenpolitik des Dritten Reichs nicht beeinflusst – sie hat sie tatsächlich nicht einmal erreicht. 4 Jürgen Reulecke: »Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?« Zum Umgang mit einer falschen Frage, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 222–243.
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Das entlastet Schieder allerdings keineswegs von Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen. Seine Mitverantwortung liegt freilich weniger in seiner – gescheiterten – Karriere als Politikberater. Sie liegt vielmehr in dem, was er in seinem ureigenen Metier als Historiker tat. Hier beanspruchte er bis 1945 wiederholt polnisches Gebiet als »deutschen Kulturboden«. Damit trug Schieder zur Verbreitung einer kolonialen Herrenmentalität bei, die nach der deutschen Besetzung Polens dazu führte, dass Polen und Juden quasi als vogelfrei behandelt wurden.5 Nach 1945 vollzog Schieder dann erneut einen langsamen Wandel. Auch dieser war zunächst nur ein äußerlicher. Seit Gründung der Bundesrepublik 1949 näherte Schieder sich jedoch auch innerlich der Adenauerdemokratie an. Hintergrund dieses Prozesses waren der Kalte Krieg und der Wirtschaftsboom der 1950er Jahre. Am Ende dieses Jahrzehnts war Theodor Schieder in der Adenauerrepublik angekommen. Er war nun treuer Stammwähler der CDU und Vertreter eines entradikalisierten Konservatismus, während er in der späten Weimarer Republik noch eher zum Umfeld einer konservativen Revolution gezählt wurde.6 Diese Ablösung von der eigenen Vergangenheit – nicht nur der vor 1945, sondern ebenso der vor 1933 – spiegelte sich auch in seinem Verhältnis zur Jugendbewegung. Schieder pflegte zwar persönliche Kontakte zu Freunden und Bekannten aus der Jugendbewegung nach 1945 weiter, oder nahm sie wieder neu auf. So schrieb er Persilscheine und engagierte sich etwa erfolgreich für den Wiedereinstieg Werner Conzes in eine akademische Karriere. 1949 verwaltete Theodor Schieder kurzfristig sogar eine Unterstützungskasse für in Not geratene »Gildenbrüder«.7 5 Vgl. nur Angelika Ebbinghaus, Karl-Heinz Roth: Vorläufer des »Generalplans Ost«: Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1992, 7. Jg., S. 62–94; Götz Aly : Rückwärtsgewandte Propheten, in: ders.: Macht – Geist – Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 153–183; ders.: Theodor Schieder, Werner Conze oder: Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 22002 und ders.: Theodor Schieder, in: Handbuch der Völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 623–629. Während bei Ebbinghaus/Roth und Aly die Fakten immerhin weitgehend stimmen und nur deren einordnende Interpretation fragwürdig ist, wimmelt es bei Haar auch von faktischen Fehlern. Vgl. Christoph Nonn: Theodor Schieder, Düsseldorf 2013, S. 55–122, und ders.: Direkte und indirekte Beiträge zur nationalsozialistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Die Landesstelle Ostpreußen der Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte unter Theodor Schieder, in: Sven Kriese (Hg.): Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus, Berlin 2015, S. 211–219. 6 Nonn: Schieder (Anm. 5), S. 123–224. 7 Rundbrief Schieders Januar 1949, BArch, N 1188/373, und weitere Korrespondenz ebd.; Kurt von Raumer an Schieder 25. 04. 1951, ebd. 1250.
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Für eine Wiederbelebung der Organisation der Deutsch-Akademischen Gildenschaft und ihrer politischen Ziele war er jedoch nicht zu haben. »Was uns einst bewegte«, betonte er bereits Anfang 1949 in einem Rundbrief, in dem er um Spenden für notleidende frühere Mitglieder der Gilde bat, »ist gewesen. […] Das Beste an unserer Gildengemeinschaft waren nicht Ideale und Ideologien, sondern die menschliche Bewährung in einer freiwilligen Gemeinschaft.«8 Als die DAG 1958 wiedergegründet wurde, lehnte er eine Mitgliedschaft ab: »Es ist einfach unmöglich, den damaligen Geist und seine inneren und äußeren Voraussetzungen in irgendeiner Weise restaurieren zu können. […] Wenn jetzt wieder eine Organisation aufgebaut wird, die an jene Zeit anknüpfen soll, dann entsteht doch notwendigerweise ein Missverhältnis zwischen dem, was damals sinnvoll war und heute keinen Sinn mehr haben kann. […] Die Welt hat sich so radikal verändert.«9 Zu gelegentlicher Mitarbeit bei den Freideutschen war Theodor Schieder dagegen zunächst noch bereit. Allerdings wandte er sich spätestens Ende der 1950er Jahre gegen Tendenzen, die Jugendbewegung gegen alle Vorwürfe einer Mitverantwortung für den Nationalsozialismus zu verteidigen oder sie ausschließlich in den Reihen des Widerstands gegen diesen zu verorten.10 Auf einer »Zusammenkunft führender Leute« alter Bünde im Freideutschen Kreis auf Burg Gutenfels bezog er 1959 gegen solche Thesen Stellung. Er betonte dort, die Jugendbewegung und damit »man« selbst sei sehr wohl mitverantwortlich gewesen für den Aufstieg der Nationalsozialisten zur Macht: »Man war gegen die ›Erfüllungspolitiker‹, gegen den Weimarer Staat, war antibürgerlich und antiliberal – und merkte nicht, dass die Alternative nur die verschleierte oder offene Diktatur sein konnte. […] Die nationale Jugend hat ihr Ziel nicht zu Ende gedacht; objektiv war sie auf einem falschen Weg.«11 Bei den von der Führung des Freideutschen Kreises angestoßenen, ebenfalls in den späten 1950er Jahren beginnenden Gesprächen über das Projekt einer Selbsthistorisierung der Jugendbewegung betonte Theodor Schieder, Ziel müsse eine objektive Untersuchung ohne Polemik sein. In ersten Besprechungen mit Friedrich Hoffmann übte Schieder dabei bereits Kritik an der Dokumentation der Jugendbewegung, die von Werner Kindt vorbereitet wurde: Es sei »nicht 8 Rundbrief Januar 1949, ebd. 373. 9 Schieder an Otto Scherzer 22. 05. 1958, ebd. Vgl. auch Wolfgang Linck an Schieder 16. 04. 1960, ebd. 382. 10 Vgl. zu diesen Tendenzen Ann-Kathrin Thomm: »Aufbruch der Jugend«. Bürgerliche Jugendbewegung und Nationalsozialismus aus Sicht des Freideutschen Kreises in der frühen BRD, in: Henning Albrecht u. a. (Hg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2006, S. 102–117 sowie dies.: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 16), Schwalbach/Ts. 2010. 11 Vortrag beim Treffen auf Burg Gutenfels 28. 11. 1959, BArch N 1188/207.
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richtig, daß Werner Kindt zunächst mit den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln einfach alles erreichbare und brauchbar erscheinende Material sammle und daß dann später erst von einem Kreis von Sachverständigen hieraus die zu publizierenden Objekte ausgewählt würden.«Vielmehr müssten Fachhistoriker von Anfang an beteiligt sein. Nach seinen Erfahrungen mit der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa könne man solche Aufgaben nicht Amateuren aus der Generation der Zeitzeugen überlassen. Die im Ludwigsteiner Archiv zu sammelnden Quellen aus der Jugendbewegung selbst sollten deshalb auch durch archivalische Überlieferung anderer Herkunft ergänzt werden. Statt lediglich einer Dokumentation schwebte Schieder eine großangelegte wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Jugendbewegung durch Fachleute vor. Für deren Finanzierung hoffte er auf eine Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.12 Dieser ambitionierte Plan ließ sich freilich leichter entwerfen als in die Praxis umsetzen. Die Suche nach potentiellen Bearbeitern für das von Schieder skizzierte Projekt verlief weitgehend erfolglos. Eine Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft erwies sich auch deshalb als schwierig. Dagegen nahm der von Werner Kindt mit großem persönlichem Einsatz vorangetriebene alternative Plan einer Dokumentation schnell Gestalt an. Die Freideutschen konzentrierten ihre Hoffnungen so zunehmend auf Kindts Idee. Mit einem »Gemeinschaftswerk« versuchten sie dafür die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen. Ende 1959 drängte Friedrich Hoffmann auf der ersten Sitzung der »Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung« bei Schieder in Köln, die Kommission solle Kindts Dokumentation mitherausgeben, damit diese »als eine wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechende objektive Quellenedition gelten und wirksam werden könne, während eine nach außen nur vom Gemeinschaftswerk und Werner Kindt getragene Publikation leicht als ein parteiisches Machwerk verschrien werden könnte.« Günther Franz, zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission gewählt, stimmte dem vorbehaltlos zu. Der als Vorsitzender gekürte Theodor Schieder stellte jedoch Bedingungen für eine solche Instrumentalisierung seines wissenschaftlichen Ansehens. Die von Harry Pross, Arno Klönne und anderen herausgestellten Beziehungen zwischen jugendbewegten Gruppen und Nationalsozialismus dürften in Kindts Dokumentation nicht unter den Tisch gekehrt werden: »Auf keinen Fall dürfe das Ganze bloß der Apologie der Jugendbewegung dienen, auch die Verbindungslinien zum Dritten Reich müßten offen dargelegt werden.« Deshalb solle
12 Protokolle von Besprechungen bei Schieder in Köln 30. 07. 1958 (Zitat), 17.01. und 05. 12. 1959, BArch N 1188/450.
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Kindt sich bei der Auswahl der Quellen auch nicht nur auf die jugendbewegter Zeitzeugen beschränken.13 Schieder trug damit die in der Öffentlichkeit diskutierte Kritik an der Jugendbewegung, auf die die Kommission eine Antwort hatte sein sollen, in diese selbst hinein: Konnte man Jugendbewegte wirklich als Opfer des Nationalsozialismus darstellen? Über das damit zusammenhängende Problem der Quellenauswahl für Kindts Dokumentation kam es bereits auf der konstituierenden Sitzung der Kommission in Köln zwischen dem gastgebenden Vorsitzenden und anderen Mitgliedern zu Meinungsverschiedenheiten. So betonten Günther Franz, Walter Hubatsch und Hans Raupach gegen Schieder den Quellenwert der Zeitzeugenberichte. Diese Meinungsverschiedenheiten vertieften sich, als die Kommission Ende März 1961 in Kassel und auf Burg Ludwigstein zu ihrer nächsten, zweitägigen Sitzung zusammentraf. Schieder griff hier die Kritik auf, die Hermann Mitgau an der Gliederung des von Werner Kindt vorgestellten Editionsprojekts übte, um Kindts Quellenauswahl prinzipiell in Frage zu stellen. Kindt könne sich bei der Edition nicht auf die Organisationsgeschichte der Jugendbewegung beschränken. Unbedingt müsse auch die soziale Zusammensetzung der bündischen Jugend als bürgerlicher Bewegung in eine Analyse einbezogen werden. Genau genommen machte dieser Umstand in Schieders Augen sogar das Projekt einer Dokumentation der Jugendbewegung grundsätzlich fragwürdig, denn, so betonte er, »soziologische Tatsachen kann man nicht aus ihren primären Quellen entnehmen!« In diesem Zusammenhang brachte er schließlich auch seine Zweifel am Quellenwert der Zeitzeugenperspektive erneut vor. Darin wurde Schieder am ersten Tag des Treffens zumindest teilweise noch von Hans Herzfeld unterstützt. Als am zweiten Tag auf Ludwigstein die Debatte sich wieder an diesem Thema entzündete, fehlte Herzfeld jedoch. Schieder sah sich jetzt einer geschlossenen Front der drei Historikerkollegen Hubatsch, Mitgau und Helmut Croon gegenüber. Diese drei hielten nämlich jüngere Leute wie Arno Klönne und Harry Pross nicht für befugt, das Verhalten der Jugendbewegung gegenüber dem Nationalsozialismus zu kritisieren. Schieder widersprach dem. Die Kritik von Klönne und Pross sei keineswegs schon durch das geringe Alter der Kritiker desavouiert: »Die Bewertungsmaßstäbe veränderten sich mit den Generationen notwendigerweise. Da wir selbst Betroffene und Zeugen seien, müssten wir uns zurückhalten. Die junge Generation sähe vieles anders, aber sie sähe es nicht unwissenschaftlich.« Dafür fand er jedoch keine Zustimmung. Mit der selbstkritischen Ansicht, eher sei schon das Urteil der eigenen Generation getrübt – man müsse »bedenken, dass wir Zeugen und Richter in einer Person seien« – stand Schieder alleine da. 13 Protokoll der ersten Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission 05. 12. 1959, ebd.
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Es war deshalb wenig überraschend, dass auch sein wenig verhüllter Vorschlag, Werner Kindts Arbeit nicht zu fördern, auf keine Gegenliebe stieß. Am Ende der Debatten in der Kommission schlug Schieder vor, das vom »Gemeinschaftswerk Dokumentation der Jugendbewegung« gesammelte Geld für die Finanzierung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters zu verwenden. Der Vorschlag lief darauf hinaus, Kindt auszubooten. Doch das verweigerte auch sein Stellvertreter im Kommissionsvorsitz Günther Franz, der sich bisher in der Diskussion zurückgehalten hatte, und nun dafür plädierte, mit dem Geld stattdessen »Werner Kindt eher von seinen Berufspflichten freizustellen«.14 Bereits ein knappes Jahr später übersandte Kindt, der sein Projekt mit Hochdruck vorantrieb, Schieder und Franz ein Manuskript des ersten Bandes der Dokumentation. Im Begleitschreiben zu diesem Entwurf der »Grundschriften der deutschen Jugendbewegung« erklärte er eher nebenher, dass er »Absätze, die nur zeitbedingt zu verstehen waren und deren Fehlen das Verständnis nicht beeinträchtigt, schon aus Gründen der Raumersparnis weggelassen habe«.15 Tatsächlich hatte Kindt wiederholt Textabschnitte in den Quellen gekürzt, die eine Geistesverwandtschaft der jugendbewegten Autoren mit nationalsozialistischen Positionen nahelegten, ohne die Auslassungen kenntlich zu machen.16 Das fiel Schieder bei einem kursorischen Durchblick des Manuskripts offenbar nicht auf.17 Allerdings gewann er doch den Eindruck, dass Wichtiges fehlte. So beanstandete er gegenüber Kindt Ende April 1962 nicht nur die Abwesenheit von Dokumenten zu Arbeiterjugend und jungnationaler Bewegung. Empfindliche Lücken gebe es »vor allem aus der Zeit der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Hier sind ja auch die schärfsten Vorwürfe erhoben worden, und es wäre deshalb gut von vornherein einer Kritik zu begegnen, man wolle hier ausweichen.« Spätere Berichte aus der Perspektive von Zeitzeugen könnten dafür gestrichen werden.18 In seiner Antwort erklärte Kindt sich zwar dafür offen, im Manuskript zu Arbeiterjugend und jungnationalem Bund Ergänzungen anzubringen. Bei der Frage der Zeitzeugenberichte war er jedoch nur zu minimalen Zugeständnissen bereit. Und gegenüber der von Schieder nachdrücklich betonten Forderung, das 14 Protokoll der Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein 25./26. 03. 1961, ebd. 15 Kindt an Schieder und Franz 25. 02. 1962, BArch N 1188/525. 16 Das wurde ihm nach dem Erscheinen des Grundschriften-Bandes schon bald zum Vorwurf gemacht, siehe etwa Hoffmann an Kindt 06. 06. 1965, ebd. Vgl. zusammenfassend Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung, Tübingen 2013, S. 38–63. 17 Dem Verleger Eugen Diederichs gegenüber beanstandete Schieder am 29. 07. 1963 formale Fehler in Kindts Edition, bei denen es sich vergleichsweise um Kleinigkeiten handelte (BArch N 1188/525). 18 Schieder an Kindt 26. 04. 1962, ebd.
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Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus zu berücksichtigen, wiegelte er ganz ab.19 Das fiel ihm umso leichter, als Günther Franz in seinen Bemerkungen zum Text sich mittlerweile Schieders Kritik in den ersten beiden Punkten angeschlossen hatte, in diesem entscheidenden letzteren aber nicht.20 Etwas später, Anfang August 1962, schrieb Theodor Schieder an Günther Franz, dass er vom Vorsitz der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung »suspendiert« werden wolle. Statt seiner solle bitte Franz die »Federführung« übernehmen. Als Grund gab Schieder die Übernahme des Rektorats an der Universität zu Köln an. Deshalb habe er in den nächsten Jahren keine Zeit mehr für die Kommission.21 Diese Aussage hat Christian Niemeyer für bare Münze genommen: Schieder habe sich lediglich aus Zeitmangel vom Vorsitz der Kommission zurückgezogen. Meinungsverschiedenheiten mit Kindt, Franz oder anderen Kommissionsmitgliedern hätten dafür keine Rolle gespielt. Es habe also auch keine inhaltliche Distanzierung Theodor Schieders von der Arbeit Werner Kindts und der Kommission gegeben.22 Die hier wiedergegebene Vorgeschichte blendet Niemeyer dabei ebenso aus wie die weitere Entwicklung. Aus dem gesamten umfangreichen Quellenmaterial berücksichtigt er lediglich noch ein Schreiben, das er als Beleg für seine These anführt. Denn drei Wochen vor seiner Selbstbeurlaubung vom Kommissionsvorsitz, am 9. Juli 1962, akzeptierte Schieder Kindts Vorschlag, den Pädagogen Theodor Wilhelm um eine Einleitung für den ersten Band der Dokumentation der Jugendbewegung zu bitten und darin auf die Kritik von Harry Pross zu antworten. Tatsächlich sagte Schieder wortkarg zu, »in dem vorgeschlagenen Sinne« an Wilhelm zu schreiben.23 Das tat er am selben Tag auch. Wilhelm, dessen Biografie der Schieders stark ähnelt, zierte sich zunächst. Dann akzeptierte er die Aufgabe aber doch. In seiner Einleitung zu Kindts Edition der »Grundschriften der Jugendbewegung« argumentierte er, die Bewegung sei nicht »der ältere Bruder« der Hitlerjugend gewesen. Allerdings könne man auch »das Thema ›Jugendbewegung und Nationalsozialismus‹ nicht verlassen, ohne einiger Tatsachen zu gedenken, von denen dieser Band nicht mehr berichtet.« So habe die Hitlerjugend »auf einer ganzen Reihe von Arbeitsgebieten das Erbe der bündischen Jugend bedenkenlos übernommen. Umgekehrt fiel es auch Teilen der bündischen Jugend nicht übermäßig schwer, sich mit den soldatischen Idealen der HJ zu befreunden.« Dennoch sei
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Kindt an Schieder und Franz 07. 05. 1962, ebd. Franz an Kindt 05. 05. 1962, ebd. Schieder an Franz 01. 08. 1962, ebd. Niemeyer : Jugendbewegung (Anm. 16), S. 32. Schieder an Kindt 09. 07. 1962 (in Beantwortung von Kindt an Schieder 03. 06. 1962), ebd.
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eine »gegenseitige Reserve« geblieben, die bei »vielen« Jugendbewegten schließlich Widerstand gegen den Nationalsozialismus begründet habe.24 Wilhelms Text erscheint heute in mancher Hinsicht kritikwürdig. Sein Vorgehen unterschied sich allerdings von Werner Kindts Praxis des Auslassens. Darin stimmte Wilhelm mit Schieder überein. Wie Schieder Ende April 1962 Kindt angehalten hatte, der öffentlichen Kritik am Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus nicht durch Verschweigen zu begegnen, so empfahl er auch Wilhelm am 9. Juli, als er diesen um die Übernahme der Einleitung zu den »Grundschriften« bat: »Heiße Eisen sollten dabei m. E. ruhig berührt werden, vor allem da ja, wie Sie wissen, in letzter Zeit auch Angriffe gekommen sind.«25 : Auch wenn Schieder bereitwillig auf Werner Kindts Vorschlag einging, Theodor Wilhelm um das Verfassen der Einleitung zu bitten: Auf eine Identität der Ziele von Kindt und Schieder lässt sich daraus nicht schließen – schon gar nicht wenn man die Vorgeschichte berücksichtigt. Auch der Schluss, Theodor Schieder habe sich nicht wegen inhaltlicher Differenzen, sondern wegen Zeitmangel aus der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung zurückgezogen, ist alles andere als zwingend. Das gilt selbst dann, wenn man Schieders Begründung für den Rückzug gegenüber Günther Franz 1962, er habe wegen Übernahme des Rektorats keine Zeit mehr für die Kommissionsarbeit, beim Wort nimmt. »Keine Zeit« zu haben, drückt schließlich nichts anderes aus als die Setzung von Prioritäten. Während seiner Tätigkeit als Rektor in Köln erübrigte Schieder aber weiterhin Zeit für die Leitung der Dokumentation der Vertreibung und für die Redaktion der Historischen Zeitschrift. Er engagierte sich unter anderem auch weiter im Beirat des Instituts für Zeitgeschichte und im Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte. 1963 übernahm er zudem während des Rektorats einen Posten im Beirat der Stiftung Wissenschaft und Politik, 1964 den Vorsitz der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und einen Sitz im Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung. Alle diese Aktivitäten hatten für ihn höhere Priorität als die Leitung der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung – die er 1967 schließlich endgültig niederlegte, während er im gleichen Jahr die Wahl zum Vorsitzenden des Historikerverbands akzeptierte. Der Grund dafür war offenbar, dass er die anderen Tätigkeiten als angenehmer und erfolgversprechender empfand. In der Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung war er dagegen nicht nur weitgehend isoliert. Er hatte auch seinen Plan einer fachwissenschaftlich fundierten, von professionellen Historikern erarbeiteten Dar24 Theodor Wilhelm: Einleitung, in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung (Dokumentation der Jugendbewegung 1), Düsseldorf 1963, S. 22–24. 25 BArch, N 1188/525.
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stellung der Geschichte der Bewegung seit 1959 nicht durchsetzen können. Stattdessen konnte Werner Kindt mit seinem Dokumentationsprojekt reüssieren. Diesem Projekt aber stand Schieder ebenso skeptisch gegenüber wie der Person des Bearbeiters. Das blieb auch nach 1962 so. Ende des Jahres gab Kindt den GrundschriftenBand in den Druck, ohne Schieders Änderungswünschen vom April zu entsprechen, und tatsächlich sogar ohne den Text vorher noch einmal den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Kommission zu unterbreiten. Schieder legte nachträglich, angesichts des von Kindt geschaffenen fait accompli mittlerweile in deutlich resigniertem Ton, Protest dagegen ein.26 Mitte 1963 wurde er auf ein anderes, aber durchaus verwandtes geschichtspolitisches Projekt aufmerksam gemacht – nämlich auf die Jubiläumsfeier zur 50. Wiederkehr des Ersten Freideutschen Jugendtags auf dem Hohen Meißner, die in Göttingen stattfinden sollte. Auch hier spielte Werner Kindt bei der Vorbereitung der Feier eine wichtige Rolle. Im Vorfeld gefragt, ob er daran teilnehmen werde, antwortete Schieder bezeichnenderweise: »Äußerlich und innerlich bin ich an der ganzen Sache nicht beteiligt, überlege lediglich, ob ich nicht nach Göttingen aus ›Pietät‹ fahren soll.«27 Im Herbst 1964 schöpfte Schieder noch einmal Hoffnung, seinen Alternativplan zu Kindts einseitiger Edition doch verwirklichen zu können: Die Thyssen-Stiftung hatte die Möglichkeit finanzieller Unterstützung für sein Vorhaben einer wissenschaftlich fundierten Darstellung signalisiert. Die Bewilligung der Geldmittel zog sich freilich hin.28 Mittlerweile trieb der unermüdliche Kindt das Editionsprojekt voran. Tatsächlich gelang es ihm im Lauf des Jahres 1965, seine Stellung gegenüber der Wissenschaftlichen Kommission wesentlich zu stärken. Während die Drucklegung des Grundschriften-Bandes noch von Beiträgen ehemaliger Jugendbewegter an das »Gemeinschaftswerk« finanziert worden war, schlief dessen Aktivität danach praktisch vollkommen ein. Umtriebig gründete Kindt eine eigene Fördervereinigung und warb auf diese Weise bald erfolgreich Geld für den zweiten Band der Edition ein. Schieder erkannte richtig, dass die ohnehin schon begrenzten Möglichkeiten, auf Kindt Druck auszuüben, dadurch noch geringer geworden waren: »Die Wissenschaftliche Kommission hängt damit in der Luft und hat keine Legitimation mehr.« Er unternahm einen letzten Anlauf und versuchte es mit einem persönlichen Appell an Kindt, die Editionsprinzipien zu überdenken. Kindt solle sich auf das beschränken, »was der Historiker primäre Quellen nennt«, der
26 An Kindt 03. 01. 1963, ebd. 27 Schieder an Hans-Joachim Schoeps 24. 07. 1963, BArch N 1188/244. 28 Schieder an Günther Franz 21. 10. 1964 und an Wilhelm Ruoff 24. 02. 1965, ebd. 525.
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Bearbeitung der Zwischenkriegszeit Priorität einräumen und dabei Sachfragen mehr berücksichtigen, wie »die Äusserungen zur Judenfrage«.29 Kindt antwortete einmal mehr ausweichend.30 Zwar wurden, nachdem der erste Band seiner Dokumentation veröffentlicht worden war, 1965 und verstärkt 1966 auch andere Stimmen in der Wissenschaftlichen Kommission laut, die seine Editionsprinzipien kritisierten. Kindt hatte aber nicht nur seine Machtposition gegenüber der Kommission durch die Gründung der Fördervereinigung beträchtlich gestärkt. Es gelang ihm auch immer wieder, andere jugendbewegte Zeitzeugen zu mobilisieren, die ihn unterstützten. Letzten Endes verzettelte die Kommission sich in endlosen internen Auseinandersetzungen, während er sein Editionsprojekt zielstrebig vorantrieb.31 Die Erwartungen, mit Hilfe der Thyssen-Stiftung den alternativen Plan einer fachhistorisch fundierten Darstellung finanzieren zu können, erfüllten sich dagegen nicht. Die Leistungen der Stiftung beschränkten sich, als sie ab dem Sommer 1966 endlich zustande kamen, auf die Finanzierung eines Doktorandenstipendiums und einer Schreibkraft im bis dahin ehrenamtlich geleiteten Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein. Sie blieben außerdem zunächst auf ein Jahr befristet, mit der Möglichkeit der Verlängerung um ein weiteres.32 Eine gewisse Professionalisierung der Archivarbeit auf Ludwigstein konnte damit wohl vorangetrieben werden. Die fachwissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Jugendbewegung, die Theodor Schieder seit den späten 1950er Jahren gefordert hatte, blieb aber auch auf dieser schmalen Basis ein Ding der Unmöglichkeit. Für Schieder war damit der Zeitpunkt gekommen, sich endgültig von den geschichtspolitischen Anstrengungen des Freideutschen Kreises abzunabeln. Als Friedrich Hoffmann und auch Günther Franz ihn Anfang 1967 zur Teilnahme an einer Aussprache mit Kindt baten, lehnte er das ab. Er halte es »für recht fraglich, ob bei einer solchen Besprechung überhaupt noch etwas herauskommt, nachdem sich Werner Kindt so in seinen Meinungen festgefahren hat. Ich sehe eigentlich keine Möglichkeit mehr, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.«33 Im Juni 1967 zog er dann mit der schriftlichen Erklärung gegenüber Franz, »mich ganz aus der Kommission zurückzuziehen«, den endgültigen Schlussstrich. Er sei ja bereits lange untätig gewesen, »aber diese Untätigkeit ist doch vor allem
29 Schieder an Kindt 24. 08. 1965, ebd. 30 Kindt an Schieder 04.09. und Schieder an Franz 09. 09. 1965 (Kindts Antwort sei »recht wenig überzeugend«), ebd. 31 Ebd. passim. 32 Franz 01. 02. 1966 und Archivbeirat der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein an Schieder 10. 4. 1967, ebd. 33 Schieder an Hoffmann 25. 01. 1967, ebd.
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durch meinen seit langem feststehenden Eindruck bestimmt worden, daß Herr Kindt für seine Aufgabe nicht geeignet ist.«34 Theodor Schieders Rücktritt vom Vorsitz der Kommission zur Erforschung der Jugendbewegung war das Resultat einer langjährigen Entfremdung von Werner Kindt und denjenigen jugendbewegten Kreisen, die hinter dessen Editionsprojekt standen. Schieder zog damit die letzte Konsequenz daraus, dass er die geschichtspolitischen Aktivitäten der Kommission nicht in die von ihm gewünschte Richtung hatte steuern können. Welche weitergehenden Schlüsse lassen sich nun aus dieser Geschichte ziehen? Wie einleitend gesagt: Die Distanzierung Theodor Schieders von Werner Kindts Editionsprojekt wirft ein kleines Schlaglicht auf einen Teilaspekt der Selbsthistorisierung der Jugendbewegung nach 1945. Was man daraus schließen kann, hängt auch wiederum ganz wesentlich von den Kontexten ab – in diesem Fall konkret von der Lichtquelle, von dem das kleine Schlaglicht ausgeht, also von der Person Schieders. Der Theodor Schieder der späten 1950er und 1960er Jahre hatte eine ganze Reihe von politischen Häutungen hinter sich. Aus dem jungen Springinsfeld der Weimarer Zeit, der sowohl als Anhänger der konservativen Revolution wie auch als »Nationalbolschewist« bezeichnet worden ist, wurde nach 1933 ein überzeugter Nationalsozialist, nach 1945 dann ein entradikalisierter Konservativer. Seine politische Heimat wurde nun die Adenauer-CDU. An ihr schätzte er vor allem den Charakter der »Kaderpartei«: Denn geringe Mitgliederzahl, schwach ausgeprägte innerparteiliche Demokratie und starke Stellung des Vorsitzenden begünstigten ein von Schieder bevorzugtes elitäres Politikmodell. Auch wenn dieser sich mit dem demokratischen System mittlerweile abgefunden hatte, blieb er bis an sein Lebensende skeptisch gegenüber dem Prinzip der Parteienkonkurrenz. Letztlich stand er in der Tradition eines preußisch-protestantischen Staatsdenkens, das in Parteien vor allem ein Hindernis für die Wahrnehmung des Allgemeininteresses sah. Schieder wurde im Grunde ein »Vernunftdemokrat«.35 Wie bei der Hinwendung zur Demokratie blieb Theodor Schieder auch bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit auf halber Strecke stehen. Zwar rang er sich im Lauf der 1950er Jahre zu einer Position durch, die die Verantwortung von Gruppen, denen er selbst angehört hatte, für den Aufstieg des Nationalsozialismus thematisierte. Das Bürgertum und die aus ihm erwachsene Jugendbewegung trage für den Aufstieg Hitlers zumindest eine Mitverantwortung. Allerdings sprach er dabei meist unpersönlich von Gruppen, von »man«, selten von »uns«, nie von sich persönlich. Und über die Verantwortung für das, was dann nach Hitlers Aufstieg zur Macht, also zwischen 1933 und 1945, 34 01. 06. 1967, ebd. 35 Nonn: Schieder, S. 202–210.
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in Deutschland geschehen war, schwieg er – sei es dort, wo es um ihn selbst ging, oder auch da, wo es um die Jugendbewegung und ihre Mitglieder ging.36 Dieses Verhalten war für Historiker seiner Generation nach 1945 durchaus nichts Ungewöhnliches. Schieder befand sich damit in sehr zahlreicher, wenn auch nicht unbedingt in bester Gesellschaft. Aber nicht um Theodor Schieder und seine Generation geht es in diesem Aufsatz, sondern darum, welches Licht sein Urteil auf das Projekt der Dokumentation der Jugendbewegung wirft. Schieders Ansprüche an »Vergangenheitsbewältigung« hielten sich in biografisch begründeten, engen Grenzen. Selbst diese begrenzten Ansprüche wurden aber durch Werner Kindts Editionsprojekt offenbar nicht befriedigt. Dessen Ansatz zur Selbsthistorisierung der Jugendbewegung reichte sogar einem in Sachen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit recht genügsamen Mann wie Theodor Schieder nicht aus. Man muss deswegen nicht gleich Kindts Edition als in jeder Hinsicht unbrauchbar abqualifizieren. Man muss, um ihre Entstehung zu erklären, nicht auf Verschwörungstheorien zurückgreifen. Aber allzu günstig ist das Licht, das aus dieser Quelle auf Werner Kindts Dokumentation der Jugendbewegung und ihre Entstehungsgeschichte fällt, auch nicht gerade.
36 Ebd., S. 210–224.
Wolfgang Schieder
Nachklänge der Jugendbewegung. Werner Conze nach 1945
Was die persönliche Biografie von Historikern über ihre wissenschaftliche Ausrichtung aussagt, ist eine durchaus offene Frage. Das gilt erst recht, wenn man glaubt, bestimmte Generationserfahrungen für maßgeblich halten zu können. Historiker können derselben Generationskohorte angehören und doch methodisch, darstellerisch und weltanschaulich oder politisch jeweils ganz verschieden orientiert sein. Zu unterscheiden ist auch, ob sie in ihrer Forschung bewusst oder unbewusst an eigene oder kollektive Lebenserfahrungen anknüpfen. Es macht einen Unterschied, ob man sich dezidiert auf seine persönlichen Erinnerungen bezieht oder ob diese nur unreflektiert in die wissenschaftliche Produktion einfließen. Außerdem können eigene Erinnerungen und kollektive Lebenserfahrungen einander überlagern, ohne dass klar ist, welche von ihnen größeres Gewicht haben. Und schließlich ist es sehr die Frage, ob man bestimmte Verhaltensweisen ausschließlich auf frühere Erfahrungen zurückführen kann und man nicht stets von multivalenten Erfahrungshorizonten ausgehen und innerhalb dieser gewichten muss. Alle diese Vorbehalte müssen auch gemacht werden, wenn man nach der Selbsthistorisierung von Historikern oder überhaupt Akademikern fragt, die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland durch die bündische Jugendbewegung hindurchgegangen sind. Dass die Jugendbewegung eo ipso eine prägende und sogar dominante Lebenserfahrung gewesen sei, sollte nicht ohne weiteres vorausgesetzt, sondern jeweils im Einzelfall überprüft werden. Wer als Student der Jugendbewegung angehörte, kann lebenslang davon geprägt geblieben sein, er kann sich aber auch von dieser selbstkritisch abgesetzt oder gegen diese Lebenserfahrung gestellt haben. Möglich ist auch, dass er biografisch stärker von anderen Erfahrungen bestimmt wurde, die Erinnerung an die Jugendbewegung daher verblasst ist oder nur verdeckt erhalten geblieben ist. Dies war offenkundig bei dem Historiker Werner Conze (1911–1986) der Fall, dessen Verhältnis zur Jugendbewegung im Folgenden untersucht werden soll. Werner Conze entstammte einem bildungsbürgerlichen Elternhaus mit
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deutlich protestantischer Prägung.1 Der Großvater, Alexander Conze, war Archäologieprofessor in Halle und Wien, später Leiter der Berliner Antikensammlung, der Vater, Hans Conze, war Reichsgerichtsrat am Leipziger Reichsgericht. Nach der Vorstellung des Vaters hätte er selbstverständlich Jura studieren und in eine burschenschaftliche Verbindung eintreten sollen. Werner Conze tat beides nicht, sondern begann im Sommersemester 1929 an der Universität Marburg mit dem Studium der Kunstgeschichte. Statt in eine burschenschaftliche Verbindung, welche er verabscheute, trat er in eine bündische Studentenorganisation ein.2 Er entfernte sich dadurch zwar nicht von seinem bildungsbürgerlichen Hintergrund, blieb diesem vielmehr sein Leben lang verpflichtet, aber er setzte in der Familie doch einen neuen Akzent. Conze war, das scheint mir wichtig zu sein, noch nicht einmal 18 Jahre alt, als er mit dem Studium begann. Kein Wunder, dass er seiner noch nicht sicher war, 1 Zur Autobiografie Werner Conzes vgl. seine Antrittsrede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 1962/63, Heidelberg 1964, S. 64–70; ders.: Die Königsberger Jahre, in: Andreas Hillgruber (Hg.): Vom Beruf des Historikers in einer Zeit beschleunigten Wandels. Akademische Gedenkfeier für Theodor Schieder am 8. Februar 1985 in der Universität zu Köln, München 1985, S. 23–32; Wilhelm Zilius: Interview mit Werner Conze, 18. 10. 1975, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein (AdJb), M 15, Nr. 7: Projekt Zilius. Von den Nachrufen auf Conze sind zu nennen: Jürgen Kocka: Werner Conze und die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1986, 37. Jg., S. 595–602; Reinhart Koselleck: Werner Conze. Tradition und Innovation, in: Historische Zeitschrift, 1987, 245. Jg., S. 529–543; Wolfgang Schieder : Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 1987, 13. Jg., S. 244–266; Irmline Veit-Brause: Werner Conze (1910–1986). The Measure of History and the Historian’s Measures, in: Hartmut Lehmann, J. Van Horn Melton (Hg.): Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, S. 299–343; Wolfgang Zorn: Werner Conze zum Gedächtnis, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1986, 73. Jg., S.153–157. Nicht befriedigend sind die beiden bisher vorliegenden Biografien Conzes: Thomas Etzemüller : Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, verkürzt seine Biografie mit einem systemtheoretischen Ansatz auf den methodischen Erneuerer Conze. Überzeugender ist die Biografie von Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, der einen multiperspektivischen Zugang gewählt und dafür auch erstmals ungedrucktes Material erschlossen hat. Umso unverständlicher ist allerdings, dass von ihm wichtige Felder der Biografie Conzes wie vor allem seine jahrzehntelange Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte so gut wie überhaupt nicht behandelt werden. Für Conzes Mitgliedschaft in der Jugendbewegung ist der Aufsatz von Jürgen Reulecke grundlegend: Werner Conze, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 199–208. Reulecke hat erstmals das maschinenschriftlich überlieferte, im AdJb befindliche Interview ausgewertet, das der Journalist Wilhelm Zilius im Rahmen einer Interviewreihe am 18. 10. 1975 mit Conze geführt hat. 2 In dem Interview mit Zilius versteigt sich Conze, S. 1 zu der Bemerkung, dass er »eine ausgesprochene Abneigung gegen studentische Korporationen« gehabt habe, »die waren mir widerlich«.
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auch und gerade was seinen Berufsweg anbetraf. Nach dem ersten Semester in Marburg wechselte er zum Wintersemester 1929/30 zurück nach Leipzig – an den Wohnort seiner Eltern. Das hatte bei ihm im Jahr der Weltwirtschaftskrise wohl finanzielle Gründe, war aber zweifellos auch einer gewissen Unsicherheit über seine Zukunft geschuldet. 1976 sprach er rückblickend davon, dass er beim Studienbeginn noch von »allerlei jugendlichem Wirrwarr« geprägt gewesen sei.3 Erst 1931 schwamm er sich durch seinen Wechsel an die Universität Königsberg frei. In Leipzig hatte er sich, ohne dass darüber Näheres bekannt ist, allerdings schon für die Geschichtswissenschaft entschieden. In Königsberg wurde er aber durch den nationalkonservativen Historiker jüdischer Herkunft Hans Rothfels angezogen, in dessen Kreis er bis zu seiner Promotion 1934 bleiben und den er lebenslang als seinen intellektuellen Mentor verehren sollte. In Rothfels habe er, so bekannte Conze rückblickend, ein Vorbild gefunden, das ihn »durch die Kraft seiner Persönlichkeit und das Ethos seiner wissenschaftlichen Verantwortung in der Spannung zwischen politischem Sich-Stellen und historisch-kritischer Unbedingtheit vom Wert und von den großen Möglichkeiten seines Faches« überzeugt habe.4 Rothfels habe ihn vor allem auch an die »Fragen des Ostens« herangeführt. Wegweisend war dabei ein auch als Broschüre verbreiteter Vortrag, den Rothfels 1932 unter dem Titel »Bismarck und der Osten« auf dem Göttinger Historikertag gehalten hat.5 Conze hat seine Studienzeit von 1929 bis 1934 rückblickend als »Krisenjahre höchster politischer Hitze« bezeichnet, was sie in der Tat auch waren. Das sei, so weiter Conze, »eine schlechte Voraussetzung für die Muße und Konzentration« beim Studium gewesen, »aber ein fortgesetzter Anreiz zu politischen Fragen«. Auch wenn er später behauptete, es sei vor allem das gemeinsame Wandern in der Natur gewesen, das ihn schon in Marburg dazu gebracht habe, einer Vereinigung der bündischen Jugend beizutreten, war es deshalb zweifellos auch eine politische Entscheidung. Conze beschloss, nicht Politiker zu werden, einer politischen Partei trat er nie bei, auch nicht nach 1945, aber er beteiligte sich am Ende der Weimarer Republik an der Suche nach einem Ausweg aus der »Krise des Parteienstaates«, wie er das später nennen sollte.6 Diesen fand er in der »Deutsch-Akademischen Gildenschaft« (DAG), in deren Marburger Vereinigung »Saxnot« er als sogenannter Jungbursch aufgenommen wurde.7 In Königsberg
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Conze: Jahre (Anm. 1) S. 25. Conze: Antrittsrede (Anm. 1), S. 55. Vgl. dazu auch Dunkhase: Conze (Anm. 1), S. 27–34. Hans Rothfels: Bismarck und der Osten, Leipzig 1934. Werner Conze: Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: Historische Zeitschrift, 1954, 178. Jg., S. 47–83. 7 Vgl. dazu und überhaupt zur Deutschen Gildenschaft Helmut Kellershohn: Im »Dienst an der nationalsozialistischen Revolution«. Die Deutsche Gildenschaft und ihr Verhältnis zum Na-
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blieb er weiterhin in der dortigen Gilde »Skuld« aktiv, nahm hier an mehreren »Gildefahrten« teil, welche in die baltischen Staaten und nach Finnland, kurzum in den »Norden« führten. Es handelte sich dabei nicht um akademisch vorgeschriebene Exkursionen, sondern vielmehr um großdeutsch motivierte Begegnungsreisen. Diese im Jargon der Jugendbewegung als Fahrten, nicht als Exkursionen bezeichneten Reisen haben jedoch auch Conzes wissenschaftliches Interesse an Ostmitteleuropa geweckt. Um neben Französisch und Englisch – Sprachen, die er schon von der Schule her beherrschte – Polnisch, Russisch und sogar Litauisch zu lernen, wählte er in Königsberg Slawistik als Nebenfach.8 So konnte er sich wissenschaftlich zum Osteuropahistoriker mausern, eine akademische Spezifizierung, die es damals freilich noch nicht gab.9 Conze verstand sich, schon durch seine Bindung an Rothfels, als nationaler deutscher Historiker, auch wenn seine Dissertation sowie auch seine Habilitation sozialgeschichtlichen Problemen Litauens bzw. Weißrusslands gewidmet waren.10 Die Deutsch-Akademische Gildenschaft (DAG) gehörte zur dritten Generation der deutschen Jugendbewegung nach der Urburschenschaft und der Freischar. Es handelte sich dabei um keine genuin politische Studentenorganisation, aber doch um eine, bei der das Politische stark im Vordergrund stand. Das lässt schon der Wahlspruch der DAG »deutsch, wehrhaft, fromm« erkennen, den man zugespitzt auch als »völkisch, militaristisch, antisemitisch« interpretieren kann.11 Ihr Gründer, ein gewisser Albrecht Meyen, war ein völkischer Antisemit, der die akademische Jugend zur »Führerschaft« des über die Grenzen der Weimarer Republik hinaus verbreiteten deutschen Volkes berufen sah.12 Die DAG wurde allerdings langfristig keineswegs durch ihn allein geprägt, wie sich seit 1930 an den kontroversen Diskussionen über das Verhältnis der DAG zum Na-
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tionalsozialismus, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19 (1999–2001), S. 255–292, hier S. 262f. Conze: Antrittsrede (Anm. 1), S. 55. Vgl. dazu kritisch Marco Wauker : Volksgeschichte als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze und die deutsche Ostforschung, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung, 2003, 52. Jg., S. 347–397. Werner Conze: Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland, Berlin 1934; ders.: Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland, Teil 1: Die Hufenverfassung im ehemaligen Großfürstentum Litauen, Leipzig 1940. Der zweite Band ist nie erschienen, da, wie Conze in seiner Akademierede, S. 56 mitteilte, »alles dafür z. T. schon gesammelte Material« im Krieg verloren gegangen war. Zit. nach Kellershohn: Gildenschaft (Anm. 7), S. 259. Albrecht Meyen, Siegfried Leffler : Der Gedankenkreis der Deutschen Akademischen Gildenschaft. Ein Rückblick und ein Ausblick für jungdeutsche Burschen, Augsburg 1925. Vgl. auch Albrecht Meyen: Der Gedankenkreis der Deutsch-Akademischen Gildenschaft (1925), in: Werner Kindt (Hg.), Die deutsche Jugendbewegung von 1920–1933. Die bündische Zeit. (Dokumentation der Jugendbewegung 3), Düsseldorf 1974, S. 1374–1382. Ferner dazu auch Dunkhase: Conze (Anm. 1), S. 20f.
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tionalsozialismus zeigen sollte. Conze bezeichnete diese im Rückblick als Debatten »leidenschaftlich jugendlicher Irrationalität«.13 Ein bisschen problematischer waren sie aber schon. Die »Gildenbrüder«, wie sie sich bezeichnenderweise nannten, waren dezidiert völkisch-großdeutsch orientiert. Wie ich von Theodor Schieder weiß, fuhren sie z. B. von München aus nach Südtirol, um den von den Faschisten unterdrückten ehemaligen Österreicher heimlich Materialien (Fibeln) für die kirchlichen Untergrundschulen zu überbringen. »Grenzkampf« nannte man das, eine für die Gildenschaft bezeichnende politische Aktivität.14 Conze hat daran allerdings nie teilgenommen, weil er zu der politischen Romantik der Jugendbewegung im Grunde immer in gewisser Distanz blieb. Das »Bündische« habe für ihn, wie er im Interview 1975 sagte, immer etwas »Irreales und Romantisches und Unrealistisches« gehabt, was freilich nicht bedeutete, dass er ihm nicht jahrelang anhing.15 Für ihn konnte zwar im Grenzkampf »natürlich gar nichts rauskommen«.16 Jedoch teilte er zweifellos die elitäre Einstellung der Gildenbrüder, die sich bewusst von der »Masse« des Volkes absetzten, welche sie gleichwohl politisch zu führen beanspruchten. Mit Anfang der dreißiger Jahre insgesamt nur etwa 1.200 Mitgliedern war das ein ziemlich kühner Anspruch. Die Gildenbrüder sahen sich jedoch in einer Gemeinschaft mit dem Volk verbunden, die sich von der vorgeblich abstrakten und kalten Gesellschaft des demokratischen Parteienstaates abhob. »Gemeinschaft« sei »sozusagen das Zauberwort« gewesen, erinnerte sich Conze viel später.17 Im Verhältnis zum Nationalsozialismus ergaben sich damit zwar gewisse ideologische Überschneidungen, in internen Debatten setzte sich die DAG zwischen 1929 und 1932 jedoch noch überwiegend von diesem ab.18 Im Unterschied zum Nationalsozialismus verstand man die Volksgemeinschaft nicht als ein hierarchisches sondern ein genossenschaftliches Gebilde. Man hantierte dabei mit den Begriffen wie Selbstverwaltung und Autonomie des Individuums, die zum Traditionsbestand der konservativen Revolution gehörten. Und man kritisierte den bürokratischen Parteicharakter des Nationalsozialismus. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Gildenschaft deshalb dauerhaft in Distanz zum Nationalsozialismus geblieben oder gar in den Widerstand gegen diesen gegangen wäre. Schon vor 1933 bröckelte die elitäre Einheitsfront, als 13 Conze: Jahre (Anm. 1), S. 24f. 14 Zur Entdeckung der »Grenze« durch die bündische Jugend vgl. Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 130f. 15 Zilius: Interview (Anm. 1), S. 5. 16 Ebd. S. 2. 17 Ebd. S. 4. 18 Vgl. dazu eindringlich Jürgen Reulecke: »Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet?« Zum Umgang mit einer falschen Frage, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 222–243.
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einzelne Gilden zu den Nationalsozialisten überliefen. Nach dem 30. Januar 1933 passte die DAG sich dann in einer Art von freiwilliger Gleichschaltung an das »Dritte Reich« an. Eine der letzten Amtshandlungen der Bundesleitung der Gildenschaft bestand im Herbst 1933 in einem Aufruf an die Gildenbrüder, entweder in die SA oder die SS einzutreten.19 Conze ist diesem Aufruf gefolgt und noch 1933 SA-Mitglied geworden, nach der Aufhebung der Eintrittssperre wurde er wie viele andere seiner Gildenbrüder 1937 in die NSDAP aufgenommen. Da er sich nie dazu geäußert hat, wissen wir nicht, ob dies aus einer geänderten Überzeugung oder politischer Anpassung geschah. Zu seinem Glück hat Conze von seiner Parteimitgliedschaft wenig aktiven Gebrauch machen müssen, da er sich 1934 zunächst für ein Jahr freiwillig zum Wehrdienst meldete und von 1939 an in der Wehrmacht eine Offizierslaufbahn einschlug. Von 1940 an war er zunächst in Frankreich und dann in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg an der Front. Dass er jedoch in den dreißiger Jahren einige Aufsätze geschrieben hat, die antijüdischen Geist atmen, ist allerdings nicht zu leugnen. Das ist schon seit 1968 bekannt, als sein Schüler Joscha Schmierer, der einer der aufmüpfigen Heidelberger Studenten und später einer der Führer des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands war, dies herausbekommen und auf Flugblättern verbreitet hatte.20 Einige nur auf Enthüllungen, nicht auf kritische Analyse bedachte Historiker haben dies einfach übernommen, ohne die Ursache von Conzes antijüdischer Einstellung zu erkennen.21 Conze war kein genereller Antisemit, wie schon seine Verbundenheit mit Rothfels zeigte. Das im zeitgenössischen Kontext Auffallende an seinen antisemitisch orientierten Aufsätzen war nämlich nicht der antijüdische Affekt, sondern die damals durchaus ungewöhnliche propolnische Einstellung, die diesem zugrunde lag. Das bevölkerungspolitische Eintreten Conzes für eine »Entjudung« polnischer »Dörfer und Flecken« sollte nach seiner Vorstellung auch nicht deutschen Ostrittern, sondern autochthonen Polen zugutekommen, die jüdische »Übervölkerung« sollte zugunsten der polnischen Minderheit beseitigt werden.22 Problematisch bleibt freilich, dass Conze sich zu 19 Vgl. unten Anm. 41. 20 Vgl. dazu allgemein Dunkhase: Conze (Anm. 1), S. 248–252. 21 Vgl. etwa Götz Aly : Rückwärtsgewandte Propheten. Willige Historiker. Bemerkung in eigener Sache, in: ders.: Macht – Geist – Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 153–183; Ingo Haar: »Volksgeschichte« und Königsberger Milieu. Forschungsprogramme zwischen Weimarer Revisionspolitik und nationalsozialistischer Vernichtungsplanung, in: Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Nationalsozialismus und Kulturwissenschaften, Bd. 1, Göttingen 2004, S. 169–209. 22 Werner Conze: Die ländliche Übervölkerung in Polen, in: Arbeiten des XIV: Internationalen Soziologen- Kongresses Bucaresti. Mitteilungen, Abteilung B – Das Dorf, Bd. 1, Bukarest [1940], S. 40–48. Vgl. auch Werner Conze: Polnische Dorfforschung in Oberschlesien, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1938, 47. Jg., S. 286–299. Auf einem im Nachlass von Conze
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diesen gleichwohl fragwürdigen Veröffentlichungen nach 1945 nie geäußert hat, weder 1968 noch in späterer Zeit. Was blieb bei Conze nach 1945 von seiner jugendbewegten Vergangenheit erhalten? Zunächst einmal war er dem äußeren Habitus nach deutlich der akademischen Jugendbewegung verpflichtet. Ich kann hier freilich nur subjektive persönliche Eindrücke wiedergeben,23 da bisher die Habitustheorie, wie sie unabhängig voneinander die Soziologen Pierre Bourdieu und Norbert Elias entwickelt haben, erstaunlicherweise noch kaum auf die Jugendbewegung angewandt worden ist.24 Dabei liegt es auf der Hand, dass die erste Jugendbewegung mit ihrem virilen Auftreten in kurzen Hosen, offenem Schillerkragen, ohne Hut und glattrasiertem Gesicht die bürgerliche Welt des Deutschen Kaiserreiches mindestens ebenso provozieren wollte wie mit ihren emanzipatorischen Ideen. Dieser Habitus war auch noch für die Jugendbewegung der zwanziger Jahre charakteristisch, wie zahlreiche überlieferte Fotografien erkennen lassen. Und es war nicht zu übersehen, dass bei Conze auch nach 1945 noch einiges davon hängengeblieben ist, auch wenn er behauptete, sich in der Gilde über die »alten Hüte« der ursprünglichen Jugendbewegung lustig gemacht zu haben.25 Conze trug kaum je einen Hut, dafür häufig eine Baskenmütze, die in der Jugendbewegung weniger ein Zeichen von Frankophilie als vielmehr von abweichendem Verhalten gegenüber der wilhelminischen Gesellschaft gewesen war. Meiner Erinnerung nach besaß er auch keinen richtigen Schirm, der in der Jugendbewegung ebenfalls als bourgeoises Requisit gegolten hatte. Das Wandern in der Natur lag ihm weiterhin im Blut. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit gehörte deshalb in Heidelberg am Ende eines Semesters auch für das Oberseminar eine Wanderung zum Programm, die jeweils in einer Kneipe ihren Abschluss fand. Der Höhepunkt war dabei häufig ein Auftritt Conzes, bei dem er die Internationale sang – auf Russisch wohlgemerkt. Mit seinen Studenten machte er in Heidelberg auch gerne regelrechte Exkursionen. Ich erinnere mich an solche in die Pfalz (mit dem Doktoranden Helmut Kohl als Teilnehmer) und nach Basel.26 Schließlich ist auch sein verqueres Verhältnis zum Auto möglicherweise
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erhaltenen Sonderdruck dieses Aufsatzes findet sich von seiner Hand die Bemerkung: »Diesem Rezensionsbericht waren etwa 112 Seiten vorangestellt, in denen das deutsch-polnische Nationalitätenverhältnis problematisiert wurde. Diese Einleitung ist vom redigierenden Harmjanz gestrichen worden, ohne daß er mich vorher gefragt oder auch nur darüber unterrichtet hat. Nachträglicher Protest wurde barsch zurückgewiesen.« Meine Erinnerungen gehen auf die Zeit von 1960–1967 zurück, in der ich in Heidelberg Wissenschaftlicher Assistent Werner Conzes war. Vgl. dazu Beate Kraus, Gunter Gebauer : Habitus, Bielefeld 2007. Vgl. Zilius: Interview Conze (Anm. 1), S. 2. Vgl. auch Conzes Auflistung von Exkursionen zwischen 1959 und 1961 im Universitätsarchiv Heidelberg, Acc. 54/02, Tätigkeitsbericht des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Frühjahr 1964, S. 20.
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auf seine jugendbewegte Sozialisation zurückführen. Jedenfalls machte er keinen Hehl daraus, dass er die Fortbewegung im eigenen Auto eigentlich ablehnte. Er dozierte ständig beim Fahren, was das Mitfahren zu einem Albtraum machte. Und schließlich: Conze lebte nach wie vor so bedürfnislos, wie das in der akademischen Jugendbewegung üblich gewesen war. Das war bei ihm sicherlich auch den schwierigen Jahren geschuldet, die er mit seiner Familie nach dem Krieg durchmachen musste, zum Teil war es auch durch sein christliches Ethos bedingt. Aber vor allem entsprach es doch dem lebensreformerischen Geist, von dem auch die DAG geprägt war. Wichtiger als sein äußerer Habitus ist natürlich die Frage, ob und in wieweit Conze nach 1945 von seiner jugendbewegten Vergangenheit mental geprägt war, ob diese für ihn so etwas wie eine geistige Richtungsentscheidung bewirkt hatte, der er auch später noch folgte. Hier kann man zunächst einmal darauf hinweisen, dass die alten Königsberger Freundschaften und Kontakte in der Gildenschaft bei seinem wissenschaftlichen Neubeginn in der Bundesrepublik durchaus eine Rolle spielten. Das hatte mit jugendbewegter Traditionspflege wenig zu tun, es zeigte jedoch, wie stark Conze in dieser Hinsicht seiner Vergangenheit personal verpflichtet war. Schon als Extraordinarius hatte er in Münster damit begonnen, der von ihm initiierten sozialgeschichtlichen Forschung eine institutionelle Grundlage zu verschaffen. In Heidelberg gründete er 1957 zu diesem Zweck den noch heute bestehenden »Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte«, eine methodisch innovative, dezidiert interdisziplinäre wissenschaftliche Vereinigung außerhalb der Universität. Von den Gründungsmitgliedern waren ihm zuvor nur zwei nicht persönlich bekannt (die Wirtschaftshistoriker Ludwig Beutin und Harald Jürgensen), mit dem Mediävisten Otto Brunner war er ferner ironischerweise Weise nur in Berührung gekommen, als dieser 1943 in Wien Einwände gegen seine Habilitation erhoben hatte, weil er ihn eher für einen Soziologen als für einen Historiker hielt. Zwei weitere Gründungsmitglieder (den Neuhistoriker Nürnberger und den Wirtschaftshistoriker Wilhelm Treue) kannte er aus seiner Göttinger Zeit, ohne dass er zu ihnen nähere persönliche Beziehungen gehabt hätte. Das war alles selbstverständlich nicht außergewöhnlich, da in solchen Fällen wissenschaftlicher Kooperation ja stets die sachliche Kompetenz maßgebend ist, in diesem Fall die Affinität zu einer modernen Sozialgeschichtsschreibung. Auffällig ist jedoch, dass nicht weniger als sechs der ersten 13 Mitglieder von Conzes sozialgeschichtlichem Arbeitskreis eine bündische Vergangenheit hatten (die Soziologen Gunther Ipsen und Carl Jantke, die Volkswirtschaftler Georg Weippert und Hans Raupach sowie die Historiker Erich Maschke und Theodor Schieder), drei von diesen sogar wie Conze in der Gildenschaft gewesen waren. Zwar gab es unter den übrigen Gründungsmitgliedern auch zwei Professoren, die einem studentischen Corps angehört hatten (die Juristen Andreas Predöhl und
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Herbert Krüger). Der engste Kreis der Vertrauten, auf den sich Conze beim Aufbau seines Arbeitskreises stützte und der diesem sein besonderes wissenschaftliches Profil gegeben hat, d. h. Gunther Ipsen, Theodor Schieder und vor allem Carl Jantke, waren jedoch in der Jugendbewegung aktiv gewesen. Mit letzterem, einem historischen Soziologen, bildete Conze in der Gründungsphase des Arbeitskreises geradezu ein wissenschaftliches Tandem, das sich in allem abstimmte. Auch wenn es seinerzeit unter Historikern und Sozialwissenschaftlern in der Bundesrepublik nicht viele gab, die mit Conze sozialgeschichtliche Wege hätten beschreiten können, wäre es ihm schon möglich gewesen auch andere Wissenschaftler seiner Generation um sich zu sammeln, z. B. Heinz Gollwitzer oder Friedrich Lütge. Conze zog es jedoch vor, vor allem ihm seit langem vertraute, schon aus der Jugendbewegung bekannte Kollegen heranzuziehen. Das muss nicht heißen, dass der personale Rückgriff auf Freunde in der Jugendbewegung gezielt erfolgte; es scheint vielmehr, dass Conze durchaus unbewusst handelte. Er wollte mit Sicherheit keine Netzwerke wiederherstellen, wie manchmal kurzschlüssig unterstellt wird.27 Die Jugendbewegung war für ihn eine abgeschlossene Lebensphase, wie er mehrfach im Gespräch erklärte, sie wiederauferstehen zu lassen oder sogar zu erneuern, lehnte er ausdrücklich ab. Als der Obmann des Freideutschen Kreises, Willi Walter Puls, ihn anlässlich seines 65. Geburtstages im Januar 1976 drängte, auf der Basis seiner Erinnerungen die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Jugendbewegung voranzutreiben, gestand er zwar zu, dass dies ihn »im Grunde viel« angehe, wich aber einer konkreten Festlegung bezeichnenderweise aus.28 In einem Interview, das er im Oktober von 1975 im Rahmen einer Befragung ehemaliger Jugendbewegter gegeben hatte, hatte er sich kurz zuvor bemerkenswert kritisch über seine Zeit in der Jugendbewegung geäußert. Das »bündische Leben«, das er rückblickend durchaus mit Sympathie betrachte, habe doch »etwas Irreales und Romantisches und Unrealistisches« gehabt.29 Die Orientierungsversuche zwischen links und rechts, die er noch beim letzten Gildentag in Jena im Herbst 1933 miterlebt habe, seien zu Erfolglosigkeit verurteilt gewesen. Wenn man daran erinnert, dass Conze die von ihm betriebene Sozialgeschichte in ständiger »Erweiterung« auf neue gesellschaftliche Gruppen betrieb (Bauern, Arbeiter, Nation, Familie, Bildungsbürgertum, um nur einige seiner Arbeitsfelder zu nennen), ist es gleichwohl überraschend, dass er die Jugend(bewegung) kaum zu einem zentralen Thema seiner wissenschaftlichen 27 Mit einer fragwürdigen Netzwerktheorie operiert in seiner Darstellung der Biografie von Conze vor allem Etzemüller : Sozialgeschichte (Anm. 1). 28 Willi Walter Puls an Werner Conze, 07. 01. 1976; Werner Conze an Willi Walter Puls, 19. 01. 1976, in: AdJb, M 15 Nr. 7. 29 Zilius: Interview Conze (Anm. 1), S. 5.
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Forschung gemacht hat.30 Sonst hat er sich ja erinnerungspolitisch gelegentlich durchaus zu Phasen seiner Biografie geäußert, am auffallendsten in seiner »Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940–1945«, mit der er in der Sowjetunion im Krieg war.31 Zwar war er Mitglied der »Wissenschaftlichen Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung«, hat sich in dieser aber, soweit das festzustellen ist, nicht besonders engagiert. Dem erinnerungssüchtigen Freideutschen Kreis hat er zwar angehört, seine Mitgliedschaft hat jedoch dort ebenfalls keinerlei Spuren hinterlassen. Abgesehen von einigen eher beiläufigen Äußerungen in seiner Heidelberger Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften von 1964 und seinem 1985 unter dem Titel »Die Königsberger Jahre« veröffentlichten Nachruf auf Theodor Schieder von 1976 hat sich Conze rückblickend von sich aus nur einmal etwas ausführlicher zur Jugendbewegung geäußert.32 Aus diesen Ausführungen geht allerdings hervor, dass seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen in der Jugendbewegung einen bemerkenswerten Einfluss auf ein zentrales Forschungsfeld Conzes zur Geschichte der Weimarer Republik hatten. Außerdem gibt es von Conze einen Vortragstext, der indirekt auf seine jugendbewegte Vergangenheit verweist. Ein wichtiges Thema war die Geschichte der Jugendbewegung für Conze aber deshalb letzten Endes nicht.33 Um in seinen wissenschaftlich begründeten Äußerungen Anklänge an die Jugendbewegung herauszufiltern, bedarf es einiger Interpretation. Dass diese lohnend ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Indirekt bezog sich Conze auf seine jugendbewegte Vergangenheit 1980 in einem begriffsgeschichtlichen Artikel über »Dienst – die Aktualität eines alten Begriffs«.34 Der Aufsatz ging auf einen Vortrag im Rotaryclub HeidelbergSchloss zurück und wurde auch in der Hauspostille dieses Clubs »Der Rotarier« veröffentlicht. Conze war schon in Münster der 1905 in Chicago gegründeten und seit 1945 sich auch in Deutschland verbreitenden Rotary-Bewegung beigetreten und engagierte sich in dieser in Heidelberg bemerkenswert intensiv. In dem Artikel geht er davon aus, dass »Dienst« eine Kategorie des alten Europa gewesen sei. Sie hätte zum Ausdruck gebracht, dass das Verhältnis von »Herr« 30 Werner Conze: Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur, 1974, 19. Jg., S. 501–508. 31 Ders.: Die Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940–1945, Bad Nauheim 1953. 32 Ders.: Jugendbewegung – politisch gesehen. Auf dem Wege zu einem politischen Realismus, in: Deutsche Universitätszeitung. 1950, 5. Jg., Nr. 5, S. 8–10. 33 Gerade einmal eine halbe Seite von insgesamt 83 widmete er der Jugendbewegung in seiner Darstellung der deutschen Sozialgeschichte 1850–1918, in: Hermann Aubin, Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 638. 34 Werner Conze: »Dienst« – die Aktualität eines alten Begriffs, in: Der Rotarier, 1980, 30. Jg., S. 923–929.
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und »Knecht«, von Höhergestelltem und Niedriggestelltem auf personaler Gegenseitigkeit beruhte. Dienst sei dem geleistet worden, der sich den Dienstleistenden gegenüber verantwortlich fühlte. Dieses gegenseitige Treueverhältnis sei mit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verloren gegangen. Conze bedauerte das zwar nicht ausdrücklich, aber er hielt es doch für einen Verlust, dass in der modernen, auf Freiheit und Gleichheit aller Menschen beruhenden Gesellschaft kein Platz mehr für ein freiwilliges, auf Unterordnung beruhendes Dienen sei. In einer früheren Veröffentlichung hatte er es 1957 schon offen kritisiert, dass die »Erziehung zum Dienen« heute durch »den allgemeinen Sicherheits- und Wohlfahrtskomplex erstickt zu werden« drohe.35 1980 forderte er deshalb, »an das uralte, aber immer neue Gebot des Gemeinwohls zu denken und dafür persönliche Opfer zu bringen«, um auf diese Weise dem Begriff des Dienens einen neuen Sinn zu geben.36 Er griff damit indirekt auf eine Rede zurück, die er am 17. Juni 1959 im Deutschen Bundestag gehalten hatte. In dieser hatte er gesagt, dass »der alte deutsche Satz Gemeinnutz geht vor Eigennutz nicht deshalb ungültig sei, weil er im Parteiprogramm der NSDAP« gestanden habe.37 Bundespräsident Heuss ist daraufhin nach Schluss der Veranstaltung, ohne ihm die Hand zu geben, an dem verdutzten Conze vorbei empört aus dem Saal geeilt.38 Conze ließ sich dadurch jedoch nicht einschüchtern, 21 Jahre später kam er vielmehr in dem Heidelberger Rotaryclub mit etwas anderen Worten unbeirrt auf seine ominöse Behauptung zurück. Was hat das aber mit der akademischen Jugendbewegung zu tun? Zunächst einmal kann man mit Conze darauf verweisen, dass die Idee eines freiwilligen Arbeitsdienstes in den zwanziger Jahren schon vor dem Nationalsozialismus gerade in der Jugendbewegung verbreitet war.39 Man sah hierin eine Möglichkeit, in Gemeinschaft für die Gemeinschaft tätig zu werden, ohne sich den Zwängen der ungeliebten industriellen Gesellschaft zu unterwerfen. Im Interview von 1975 verweist Conze darauf, dass die »Vokabel Gemeinschaft« in der Jugendbewegung »sozusagen das Zauberwort« gewesen sei.40 Der gemeinschaftliche Arbeitsdienst sollte in natürlicher Umgebung stattfinden und damit ein Gegenmodell zur 35 Werner Conze (Hg.): Robert Michels. Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Neudruck der 2. Aufl. 1925, Stuttgart 1957, S. 404 (Nachwort). 36 Conze: »Dienst« (Anm. 1), S. 926. 37 Werner Conze: Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1959 (Sonderdruck aus dem Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung), Bonn 1959, S. 19. 38 Mündlicher Bericht Conzes gegenüber dem Verfasser in Heidelberg nach seiner Rückkehr aus Bonn. 39 Im Interview mit Zilius verweist Conze auf den »Vor-NS-Arbeitsdienst«, in dem überall »Bündische drin gewesen« seien, vgl. Zilius: Interview Conze (Anm. 1), S. 3. 40 Ebd., S. 4.
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technisch-industriellen Lebenswelt liefern. Nicht zufällig taucht der Begriff des Dienstes auch noch in pervertierter Form im Aufruf des letzten Bundesführers der DAG, Friedrich Weber, auf, der einer der frühen Mitglieder der NSDAP und als Freikorpsführer des Bundes Oberland am 9. November 1923 Teilnehmer von Hitlers Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle war.41 Weber forderte die Gildenschaften »zum Dienst an der nationalsozialistischen Revolution in der Gefolgschaft des Führers Adolf Hitler« auf.42 Damit soll nicht behauptet werden, dass Conze diese faschistische Ausdeutung des Dienstbegriffes bekannt war oder dass er sie gar unterstützt hätte, obwohl er sie seinerzeit durchaus zur Kenntnis genommen haben könnte, ja eigentlich müsste. Jedoch spricht alles dafür, dass sein Engagement in der Rotary-Bewegung mit seiner jugendbewegten Vergangenheit zusammenhing, obwohl er diese in seinem Artikel über Dienst mit keinem Wort erwähnte. In der Ideologie der Rotarier, in der die Aufforderung zum selbstlosen Dienen eine zentrale Rolle spielt,43 erkannte er die Lebensanschauung wieder, welche ihn in der Gildenschaft geprägt hatte, auch wenn die gehobene Geselligkeit, welche bei den Rotariern gepflegt wird, nicht gerade dem Habitus der Jugendbewegung entsprach. Sehr viel deutlicher ist Conzes Herkunft aus der akademischen Jugendbewegung an seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Reichkanzler Heinrich Brüning nachzuweisen. Das mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, hatte doch der katholische Zentrumspolitiker rein gar nichts mit der Jugendbewegung zu tun. Für Conze gab es jedoch einen erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem er Brüning als Wissenschaftler rückblickend gesehen hat. Er vertrat als Zeithistoriker bekanntlich die These von der »Krise des Parteienstaates«, welche zum Zusammenbruch der Weimarer Republik geführt habe.44 Das brachte ihn zu einer historischen Aufwertung der Politik Reichskanzler Brünings, dessen Minderheitsregierung vom Vertrauen des Reichspräsidenten Hindenburg abhing. Entgegen der vorherrschenden, seinerzeit vor allem von Karl Dietrich Bracher vertretenen Forschungsmeinung, wonach die autoritäre Wende Brünings vom März 1930 die erste Stufe der »Auflösung der Weimarer Republik« gewesen sei,45 hielt Conze diese Politik für 41 Vgl. zu Weber Jakob Müller : Die Jugendbewegung als deutsche Hauptrichtung neukonservativer Reform, Zürich 1971, S. 307. 42 Zit. nach Kellershohn: Gildenschaft (Anm. 7), S. 258. 43 Nach Artikel 4 der heute gültigen Verfassung von Rotary International ist »die Dienstbereitschaft im täglichen Leben« das »Ziel« der Bewegung. Die »Förderung des Dienstideals« soll durch fünf »Rotary-Dienste« erfolgen. Der Dienstbegriff ist daher in der Bewegung zentral. 44 Werner Conze: Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: Historische Zeitschrift, 1954, 178. Jg., S. 47–83. 45 Karl Dietrich Bracher : Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955. Conze hat die verschiedenen Auflagen des
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unausweichlich. Seiner Auffassung nach war der Übergang zu einem vom Reichspräsidenten gestützten, aber noch parlamentarisch abgesicherten Präsidialsystem die einzige Möglichkeit, wenn sie denn funktioniert hätte, die Weimarer Republik vor Hitler zu retten. Conze hat mit dieser Forschungsmeinung nur wenig Anklang gefunden, auch wenn er sie immer wieder durch neue Aktenfunde zu stützen suchte.46 Die Auffassung Brachers hat sich letzten Endes durchgesetzt.47 Das Erscheinen der Memoiren Brünings stellte, so umstritten ihre Authentizität auch war, Conzes These vollends in Frage.48 Brüning ließ darin bekanntlich eindeutig erkennen, dass er im Grunde zum Konstitutionalismus Bismarcks zurückkehren und die Monarchie wiedereinführen wollte. Eine Rettung des demokratischen Parteienstaates der Weimarer Republik hatte er also keineswegs im Auge, sondern dessen verfassungsmäßige Rückbildung. Conze hielt jedoch auch nach dem Erscheinen der Memoiren an seiner Auffassung fest und untermauerte diese 1972 nochmals mit einem abschließenden Aufsatz in der Historischen Zeitschrift.49 Wie konnte Conze in dieser Forschungskontroverse so unbeirrt an seiner Auffassung festhalten? Ich glaube die These vertreten zu können, dass das auch etwas mit seiner Zeit in der Jugendbewegung zu tun hatte. Als Brüning im März 1930 an die Regierung kam, war Conze erst 19 Jahre alt und noch immer auf der Suche nach einer zukunftsträchtigen Lebensperspektive. Der Übergang zum Geschichtsstudium hatte ihn, obwohl er noch nicht einmal wahlberechtigt war, politisch mobilisiert. Den Weimarer Altparteien brachte er jedoch kein Vertrauen entgegen, er gab ihnen vielmehr die Schuld für den Niedergang der Republik. Brünings präsidial gedeckte, wenn auch nicht vollständig vom Reichstag
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Buches insgesamt dreimal rezensiert, wobei er seine ursprüngliche methodische Ablehnung, ungeachtet seiner inhaltlichen Meinungsverschiedenheit, revidierte, ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Vgl. Historische Zeitschrift, 1953, 175. Jg., S. 657; ebd., 1957, 183. Jg., S. 379–382; ebd., 1959, 187. Jg., S. 407–409. Werner Conze: Zum Sturz Brünings (Dokumentation), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1953, 1. Jg., S. 260–288; ders.: Brünings Politik unter dem Druck der großen Krise, in: Historische Zeitschrift, 1964, 199. Jg., S. 529–550; ders.: Die Regierung Brüning, in: Ferdinand A. Hermens, Theodor Schieder (Hg.): Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 233–248; ders.: Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929–1933, in: ders., Hans Raupach (Hg.), Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929/33, Stuttgart 1967, S. 176–352; ders.: Die Reichsverfassungsreform als Ziel der Politik Brünings, in: Der Staat, 1972, 11. Jg., S. 209–217. Vgl. zuletzt die abgewogene Bewertung von Eberhard Kolb, Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 8. Aufl. München 2013, S. 256–260. Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970. Werner Conze: Brüning als Reichskanzler. Eine Zwischenbilanz, in: Historische Zeitschrift, 1972, 214. Jg., S. 310–334.
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losgelöste Regierungsbildung nach dem Bruch der Großen Koalition schien ihm dagegen eine Perspektive für die Entstehung einer Republik jenseits der Parteien geboten zu haben. Brüning wurde dabei von ihm weniger als Repräsentant einer katholischen Partei als vielmehr als ein Mann des Staates angesehen. Das entsprach durchaus der in der Gildenschaft verbreiteten Einschätzung. Entscheidend war für die Gildenbrüder offenbar nicht Brünings Konfession, sondern die Tatsache, dass er sich von den etablierten Parteien, letzten Endes auch vom Zentrum wegbewegte. Man glaubte in der Gildenschaft, dass Brüning die Weimarer Republik aus der Krise herausführen und zu einem der gesamten Volksgemeinschaft verpflichteten starken Staat umwandeln würde. Manche politisch besonders Engagierte in der Gildenschaft traten bezeichnenderweise in die Volkskonservative Vereinigung ein, ein Sammelbecken ehemaliger Mitglieder der DVP und der DNVP, welche die Politik Brünings unterstützten.50 Die erfolglose Splitterpartei wurde nach eigener Auskunft auch von Conze gewählt, ihr Mitglied wurde er allerdings nicht. Dass Conzes spätere wissenschaftliche Einschätzung der Politik Brünings etwas mit seinem jugendbewegten Enthusiasmus für die Politik des Reichskanzlers zu tun hatte, darf damit schon als wahrscheinlich angenommen werden. Der Zusammenhang von politischer Krisenerfahrung und späterer wissenschaftlicher Positionierung Conzes lässt sich sogar belegen. Das erste, aber auch einzige Mal, dass Conze sich nach 1945 von sich aus ausführlicher zur Jugendbewegung geäußert hat, war 1950 ein Artikel in der damals in Göttingen erscheinenden Deutschen Universitätszeitung (DUZ). Der relativ kurze Text erschien unter dem allein schon aufschlussreichen Titel »Jugendbewegung – politisch gesehen. Auf dem Wege zum politischen Realismus«.51 Anlass war das Erscheinen der deutschen Übersetzung des ersten kritischen Buches über die Jugendbewegung, des Amerikaners Howard Becker über »German Youth – Bound or Free«, das 1949 in deutscher Übersetzung unter dem etwas saloppen Titel »Vom Barette schwankt die Feder« publiziert worden war.52 Conze sah sich herausgefordert, gegen die »ungerechte Parteinahme« des Buches und die darin enthaltenen »Halbwahrheiten« Stellung zu nehmen und Jugendbewegung und Nationalsozialismus als »zwei durchaus gegensätzliche Erscheinungen« zu bezeichnen.53 Um das zu beweisen gab Conze in seiner ablehnenden Rezension zunächst 50 Theodor Schieder war beispielsweise vom März bis Oktober 1930 Mitglied der Volkskonservativen Vereinigung. Vgl. Kellershohn: Gildenschaft (Anm. 7), S. 282. 51 Werner Conze: Jugendbewegung – politisch gesehen. Auf dem Wege zu einem politischen Realismus, in: Deutsche Universitätszeitung, 1950, 5. Jg., Nr. 19, S. 8–10. 52 Howard Becker : German Youth – Bond or Free, London 1946; ders.: Vom Barette schwankt die Feder, Wiesbaden 1949. 53 Conze: Jugendbewegung (Anm. 51), S. 8.
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einen knappen Abriss der ersten Phase der Jugendbewegung vor 1914, um zu zeigen, dass diese als auf Freiwilligkeit beruhende Gemeinschaftsschöpfung von Anfang an eine andere Verfassung gehabt habe als der autoritär strukturierte Nationalsozialismus. Er stützte sich dabei auf das noch im »Dritten Reich« erschienene Buch von Luise Fick, ohne jedoch deren fragwürdige Wertungen zu übernehmen.54 In einem zweiten Abschnitt behandelte er die Geschichte der Jugendbewegung im Ersten Weltkrieg, für die er nach der politisch »unbestimmten Meißnerformel« ein »gesteigertes Gemeinschaftsbewusstsein« reklamierte.55 Er bezeichnete das mit Hinweisen sowohl auf die pazifistische Freideutsche Jugend als auch auf das völkisch-nationalistische Jungdeutschland als »Weg zur Politik«.56 So pauschal diese Hinweise auch sein mögen, kann man Conze bis hierhin folgen. Sehr überraschend ist dann jedoch seine Behauptung, dass die Jugend der zwanziger Jahre durch eine neue »Nüchternheit« und einem »Realismus mit deutlicher Absage gegen verschwommene Ideologien« gekennzeichnet gewesen sei. Und Conze übersteigerte diese Aussage auch noch mit dem apodiktischen Satz: »Die Jugend fand zum Staat.«57 Sollte das bedeuten, dass die Jugendbewegung sich mit voller Kraft dem Weimarer Staat zugewandt habe? Das konnte Conze jedoch wohl kaum im Ernst gemeint haben. Oder sollte das nur heißen, dass sie ihre politischen Spaltungen überwunden und den ungeliebten Weimarer Parteienstaat hinter sich gelassen habe? Das ist schon eher plausibel. Und es wird vollends deutlich, wenn man auch den Schluss von Conzes Artikel zur Kenntnis nimmt. Ohne jede Überleitung offenbarte Conze hier nämlich, dass sich seine Behauptung der angeblichen Staatsbejahung der bündischen Jugend eigentlich nur auf Brünings Präsidialpolitik bezog. Ich zitiere den entscheidenden Satz Conzes: »Die Politik Brünings, die geeignet war, den Staat gegen Nationalsozialismus und Bolschewismus zu retten und einen Weg aus der ›Krise der Demokratie‹ zu weisen, wurde von dieser ›bündischen‹ Jugend bejaht.«58 Ausdrücklich betonte Conze schließlich noch, das der »Weg Brünings« gangbar gewesen sei und von Hitler nicht hätte gestoppt werden können. Weshalb Brüning keinen Erfolg hatte und was diesen verhinderte, diskutierte er nicht weiter. Er räumte lediglich ein, dass die Jugendbewegung bis 1933 gegen das Eindringen des Nationalsozialismus in den eigenen Reihen habe kämpfen müssen, aber keine »überzeugende Widerstandsfront« dagegen aufgebaut habe.59 Angesichts dieses Befundes liegt es auf der Hand, dass die von Conze be54 55 56 57 58 59
Luise Fick: Die deutsche Jugendbewegung, Jena 1939. Conze: Jugendbewegung (Anm. 51), S. 9. Ebd., S.10. Ebd. Ebd. Ebd.
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hauptete Zustimmung der Jugendbewegung zum politischen Kurs Brünings vor allem die seine gewesen ist. Conze wurde als jugendbewegter Student von Brünings politischem Präsidialkurs angezogen, weil er die von ihm später sezierte ›Krise des Parteienstaates‹ zu beenden schien. Vor allem war auch die der Jugendbewegung insgesamt unterstellte Staatsbejahung die seine. Conze glaubte nach dem Krieg unverändert daran, dass die Weimarer Republik als Staat zu retten gewesen wäre, wenn sie vorübergehend als Maßnahmenstaat über Artikel 48 der Verfassung vom Reichspräsidenten gesteuert worden wäre. Als er als Historiker über die Ära Brüning zu schreiben begann, schrieb er in dem Geist, in dem er die Zeit als jugendbewegter Student selbst miterlebt hatte. Der erste Artikel über Brüning erschien schon 1953, also nur drei Jahre nach dem Aufsatz über die Jugendbewegung in der Deutschen Universitätszeitung.60 Ein Jahr später veröffentlichte Conze 1954 seinen bahnbrechenden Artikel über »Die Krise des Parteienstaates« in der Historischen Zeitschrift. Die Kontroverse mit Bracher begann mit einem weiteren Aufsatz über »Brünings Politik unter dem Druck der großen Krise«. Diese Veröffentlichungen lagen zeitlich alle nicht sehr weit auseinander, Conzes wissenschaftlicher Aufarbeitung der Ära Brünings lag somit unzweifelhaft die Erinnerung zugrunde, die er in seinem Aufsatz über die Jugendbewegung 1950 ausgebreitet hatte. Monografische Zugriffe wie der auf die Abkunft Werner Conzes aus der Jugendbewegung stehen immer in der Gefahr am Ende monokausale Antworten zu geben. Ich will daher abschließend etwas gegensteuern und auf Conze andeutungsweise aus anderen Perspektiven zurückzublicken. Conze war nicht nur jugendbewegt, er war vielmehr auch und vielleicht sogar mehr noch ein praktizierender Protestant, wenn man das so nennen darf. Manches von dem, was man seiner jugendbewegten Herkunft zuschreiben kann, lässt sich auch aus seiner kirchlichen Bindung im Protestantismus herleiten. Dies gilt vor allem für seinen puritanischen Lebensstil. Er war ferner durchaus ein gelegentlicher Kirchgänger, sei es in der Heidelberger Universitätskirche, wo die Professoren der Theologischen Fakultät predigten, sei es in der Kirchengemeinde in Heidelberg-Schlierbach. In dieser zog ihn mit seiner Frau ein Pfarrer an, dessen charismatische Predigten vor allem intellektuellen Kirchgängern wie den Conzes galten.61 Aber seine Religiosität hat sich auch in manchen seiner Veröffentlichungen niedergeschlagen. So schrieb er der Jugendbewegung zu, durchweg von 60 Vgl. dazu und zum Folgenden Anm. 44. 61 Es handelte sich um Herbert Krimm (1905–2002), der seit 1961 Ordinarius für Diakoniewissenschaften an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg gewesen ist. Über seine Predigten gibt der Band Heidelberger Predigten, N. F. 1962/1963, Göttingen 1963 Auskunft. Gleich dem ihm freundschaftlich verbundenen Conze war er Mitglied des Rotaryclubs Heidelberg-Schloss. Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Rep. 101/89, Korrespondenz Krimm-Conze.
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christlichem Glauben durchtränkt gewesen zu sein. Der Artikel über »Dienst« hat einen Schluss, auf den ich bisher nicht eingegangen bin. Er ist »Dienst im Geiste des Neuen Testaments« überschrieben. Conze erinnert hier daran, »dass wir fast alle in Christus getauft worden sind und Christen genannt werden« und behauptet deshalb, dass das Dienen »spezifisch christlich« sei. Dabei beruft er sich auf Luthers »Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan« und fordert am Ende ein »christliches Dienen im menschlichen Bezug«.62 Seinem öffentlichen Auftreten nach hatte Conze schließlich auch etwas preußisch-militärisches an sich. Er legte Wert darauf, in Neuhaus an der Elbe geboren zu sein, das seit 1815 zu Hannover und damit seit 1866 zu Preußen gehörte. Sein Vater und dessen Brüder sind vor dem Ersten Weltkrieg preußische Reserveoffiziere gewesen. Ganz selbstverständlich hatte sich Conze nach seiner Promotion 1934 für ein Jahr freiwillig zum Militärdienst bei der Artillerie gemeldet. Von 1939 bis 1945 war er, wie erwähnt, die gesamte Zeit beim Militär, seit 1940 als Offizier an der Front, zunächst in Frankreich, dann in der Sowjetunion. Das hat ihn mindestens ebenso, wahrscheinlich sogar mehr geprägt als seine Jahre in der akademischen Jugendbewegung. Sowohl Conzes militärische Affinitäten als auch seine Verbundenheit mit der Evangelischen Kirche zeigen, dass man seine Herkunft aus der Jugendbewegung nicht eindimensional verengen darf. Als Osteuropahistoriker, als überragender Sozialhistoriker, als Wegbereiter der modernen Begriffsgeschichte, als global denkender Zeithistoriker und überhaupt als öffentlicher Historiker, wie man das heute nennt, hatte er ganz davon abgesehen ein wissenschaftliches Profil, das sich in seiner außergewöhnlichen Vielfalt nicht allein aus seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen in der Jugendbewegung herleiten lässt. Dass diese jedoch zum Verständnis seiner Biografie von einiger Bedeutung waren, ist nicht zu bestreiten.
62 Die Zitate aus Conze: »Dienst« (Anm. 34), S. 28f.
Jürgen Reulecke
Wie gelingt »ein richtiges Erkennen des Problems der Schuld«? Selbsthistorisierungen im Freideutschen Kreis in den späten 1940er und in den 1990er Jahren
Als Einstieg in das Thema vorweg ein metaphorisches Wortspiel: Von dem Historiker Reinhart Koselleck (1923–2006), einem besonders »begnadeten Begriffszauberer«1 und »originellen Außenseiter« unter den Historikern – bis 1988 Geschichtsprofessor an der Universität Bielefeld – stammt die inzwischen fast ganz alltäglich gewordene Weisheit, dass sich unser Leben im Hier und Jetzt immer im Spannungsverhältnis zwischen unseren hinter uns liegenden »Erfahrungsräumen« und den vor uns liegenden »Erwartungshorizonten« entwickelt.2 Koselleck hatte dabei jedoch anfangs noch einen dritten Begriff im Auge, den er eine Zeit lang auch benutzt hat und der sich auf das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Begriffen bezieht. Dieser dritte Begriff ist dann anschließend in der Intellektuellenszene breit aufgegriffen und vielfältig benutzt worden und hat bis heute eine »steile Karriere« gemacht: der Begriff »Sattelzeit«. Allgemein glaubte man, Koselleck habe damit metaphorisch den geistig-gesellschaftsgeschichtlichen »Bergsattel« zwischen etwa 1750 und 1850 mit seinen immensen historischen Auf- und Umbrüchen von der Epoche der Frühen Neuzeit in Richtung Moderne gemeint, das heißt die entscheidende abendländische Epochenschwelle mit ihren gewaltigen gesellschaftlich-politischen, mentalitätsgeschichtlichen und ökonomischen Umwälzungen. Koselleck distanzierte sich jedoch daraufhin von seinem Begriff »Sattelzeit«, ohne das öffentlich näher zu begründen.3 Er hatte nämlich unter »Sattelzeit«, wie er mir einmal bei einem gemeinsamen Frühstück erläutert hat, etwas ganz anderes verstanden und ansprechen wollen. Als ehemaliger junger Soldat im Zweiten Weltkrieg, der in seiner Einheit für die Betreuung der Pferde verantwortlich war, 1 Stephan Schlak: Begnadeter Begriffszauberer, in: DIE ZEIT Literatur, Dezember 2006, S. 31. 2 Reinhard Koselleck: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – Zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 41985 (11979), S. 349–375. 3 S. dazu Frank Becker : Mit dem Fahrstuhl in die Sattelzeit? Koselleck und Wehler in Bielefeld, in: Sonja Asal, Stephan Schlak (Hg.): Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage (marbacher schriften, neue folge, band 4), Göttingen 2015, S. 88–110, bes. S. 95.
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war für ihn die »Sattelzeit« die kurze Phase am Morgen nach dem Frühstück gewesen, in der es darum ging, die Sättel zu holen und die Pferde sorgfältig zu satteln, um nach dieser Vorbereitung gut ausgestattet und mit konkreten Erwartungshorizonten im Blick in den neuen Tag reiten zu können. So gehe es uns ja auch, so Koselleck, im übertragenen Sinn an den jeweiligen Lebensschwellen zwischen den hinter uns liegenden Erfahrungsräumen und unseren Perspektiven in Richtung auf das, was bei unseren Aufbrüchen zu neuen Erwartungshorizonten möglicherweise auf uns zukommt und worauf wir Einfluss nehmen wollen bzw. was wir gestalten möchten. »Sattelzeit« also nicht im inzwischen eingebürgerten allgemeinen Sinn, sondern im Koselleck’schen Verständnis als Schwelle in entscheidenden Lebensphasen: Diese Metapher soll im Folgenden den Impuls liefern, die unmittelbar nach Kriegsende noch völlig diffusen Erwartungshorizonte im damaligen Hier und Jetzt in Richtung auf eine noch gänzlich ungewisse Zukunft in den Blick zu nehmen – dies vor dem Hintergrund der erlebten krassen Herausforderungen der zurückliegenden Erfahrungsräume NS-Regime und Krieg und der Selbstsicht darauf! Die Lebenssituation, in der sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 die zum Beispiel in jugendbewegten Kreisen nach dem Ersten Weltkrieg geprägten Mitglieder der sogenannten »Jahrhundertgeneration« (geboren etwa zwischen 1902 und 1913) befanden, lässt sich als eine besonders extreme Sattelzeit-Phase beschreiben – bezogen auf die Frage, wie diese Menschen, nun im mittleren Lebensalter stehend und zumeist im »Dritten Reich« zumindest angepasst, wenn nicht sogar in Organisationen des NS-Regimes politisch aktiv gewesen, mit sich und den aktuellen Herausforderungen dieser »Sattelzeit« und vor allem auch mit dem Thema Schuld umgegangen sind. Die in dieser Hinsicht wohl am besten befragbare jugendbewegte Szene nach 1945 ist der Freideutsche Kreis (FK), zu dem an der Universität Siegen in den frühen 1990er Jahren ein vom Bundesfamilienministerium unterstütztes Forschungsprojekt durchgeführt worden ist und über den jüngst der amerikanische Historiker Thomas Kohut, Sohn des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers und Initiators der »Selbstpsychologie« Heinz Kohut (1913–1981), aufgrund einer psychohistorischen Analyse der damals durchgeführten Lebenslaufinterviews mit über sechzig Mitgliedern dieses Kreises eine umfangreiche Publikation vorgelegt hat.4 Der FK war Pfingsten 1947 im Kloster Altenberg bei Wetzlar gegründet worden und bestand bis zum Jahre 2000. Zur historischen Einordnung der Angehörigen dieser jugendbewegt geprägten »Jahrhundertgeneration« noch folgendes: Die Altersgruppe, zu der die meisten »Freideutschen« gehörten, ist zugespitzt auch »NS-Generation« genannt worden. Als Kriegskinder bzw. 4 Thomas A. Kohut: Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Erlebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen 2017 (engl. Originalausgabe: New Haven 2012).
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Kriegsjugendliche des Ersten Weltkriegs, oft vaterlos aufgewachsen, suchten viele von ihnen in der Weimarer Republik nach Sinnstiftung und Orientierung und in diesem Kontext dann auch nach »Führern«, die nicht mehr zu den »Wilhelminern«, d. h. zu ihrer als problematisch empfundenen Vätergeneration gehörten. Bereits im Jahre 1939 hat der in Berlin geborene und 1938 nach England emigrierte junge Journalist Sebastian Haffner (1907–1999) in einer Autobiografie über seine Altersgenossen geurteilt, sie seien »die eigentliche Generation des Nazismus«, die in ihrer Jugendzeit den Ersten Weltkrieg »ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit als großes Spiel erlebt« habe und nun – also 1938/39 – »seine Wiederholung vorbereite«.5 In seiner kritischen Biografie von Werner Best (1903–1989), dem obersten Organisator der Gestapo, hat Ulrich Herbert die männlichen Angehörigen dieser Altersgruppe als Personen beschrieben, die sich – von Kühle, Härte und Sachlichkeit geprägt – an soldatischen Idealen und männerbündischen Werten orientiert und das Fehlen der eigenen Fronterfahrung dadurch kompensiert hätten, dass sie ein von Kompromissen freies, radikales, dabei aber organisiertes und langfristig ausgerichtetes Handeln an den Tag legten.6 Und Michael Wildt kam in seiner Studie zum Führungskorps des NS-Reichssicherheitshauptamtes, das zum überwiegenden Teil aus Angehörigen der Kriegsjugendgeneration bestand, zu dem Urteil, die Mitglieder dieses Amtes hätten als Gegenmodell zum Bestehenden eine »neue, radikal andere Ordnung« schaffen wollen, die »eine wahre Gemeinschaft stiftete und dem Einzelnen einen verlässlichen Halt seiner selbst gab.«7 Der FK wurde Pfingsten 1947 von etwa achtzig in der bündischen Jugendbewegung der 1920er Jahre geprägten Personen im Kloster Altenberg bei Wetzlar gegründet, zählte recht bald etwa zweitausend Mitglieder, darunter eine Reihe bekannter Persönlichkeiten des Bildungsbürgertums, und bestand – Stichwort »Jahrhundertgeneration« – bis Anfang Juni 2000. Die Zielsetzung des Kreises lief von vorneherein darauf hinaus, aus jugendbewegtem Ethos und Denken heraus einen Beitrag »zur geistigen Überwindung des Nationalsozialismus« zu leisten und beim Aufbau einer humanen, demokratischen und friedvollen Nachkriegsgesellschaft mitzuwirken, ohne sich allerdings dabei parteipolitisch festzulegen. Jährlich versammelten sich die Mitglieder zu einem großen »Konvent« an wechselnden Orten der Bundesrepublik und beschäftigten sich vor allem auch differenziert mit den jeweils aktuellen Zeit- und Gesellschaftsverhältnissen. In etwa zwanzig Städten entstanden gleichzeitig auch Ortsgruppen des Kreises, und 5 Sebastian Haffner : Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart, München 2000, bes. S. 21ff. 6 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996, S. 44f. 7 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, bes. S. 847ff.
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zudem wurden bis zum Jahr 2000, als sich der Kreis zum letzten Mal zu einem Konvent, diesmal wieder am Gründungsort Altenberg bzw. Wetzlar, traf und sich dann auflöste, 250 Rundschreiben mit einer Fülle von zeit- und auch selbstkritischen Beiträgen publiziert.8 Stichwort »Sattelzeit«: Zeitkritische Reflexionen innerhalb des Kreises mit Blick auf das jeweils aktuelle Spannungsverhältnis zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« spielten zwar mehr oder weniger intensiv bei allen Konventen und in den »Rundschreiben des Freideutschen Kreises« eine Rolle, doch lassen sich bezogen auf den insgesamt 53 Jahre lang bestehenden FK zwei recht ausgeprägte »Sattelzeiten« feststellen, in denen vor allem das Thema »Schuld« eine zentrale Rolle spielte – Schuld bezogen einerseits auf das persönliche wie auch allgemeine »bündische« Verhalten in der NS-Zeit und andererseits bezogen auf die nach vorn gerichteten Folgerungen daraus mit Blick auf die Zielsetzungen des FK und die Weitergabe der Erkenntnisse an die folgenden zwei Generationen: die Kriegskinder und die Kriegsenkel. Vor allem das Gründungstreffen 1947 im Kloster Altenberg9 sowie die darauf folgenden Treffen im Herbst 1947 auf Burg Ludwigstein10 und anschließend Anfang 1948 wieder in Altenberg und ein weiteres Mal im Oktober 1948 auf Burg Ludwigstein lassen sich als eine erste »Sattelzeit« des FK deuten – geprägt durch das Thema (so die Einladung zum Treffen Pfingsten 1947) »Wo stehen wir? Die geistige Überwindung des NS«, wobei von vorneherein als geistiges Erbe und als weiter gültige Richtschnur das bei dem Treffen der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner von 1913 formulierte Gelöbnis11 zitiert wurde: In seinem Einleitungsvortrag zu dem 1947er Gründungstreffen hat der kurz vorher aus schwedischer Emigration zurückgekehrte Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) – neben Friedrich Kreppel (1903–1992) und Werner Kindt (1898–1981) einer der drei Organisatoren des Treffens – ausdrücklich betont, dieses Gelöbnis von 1913 8 Zur allgemeinen Geschichte des FKs: Heinrich Ulrich Seidel: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 9), Witzenhausen 1996, sowie Sabiene Autsch: Erinnerung – Biographie – Fotografie. Formen der Ästhetisierung einer jugendbewegten Generation im 20. Jahrhundert, Potsdam 2000, und Kohut: Generation (Anm. 4). 9 S. dazu Winfried Mogge: Der Altenberger Konvent 1947, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 18 (1993–1998), S. 391–418. 10 S. dazu Jürgen Reulecke: »Wo stehen wir?« – Der Freideutsche Kreis 1947/1948: Von Altenberg zum Ludwigstein, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 11j2015), hg. von Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber, Göttingen 2015, S. 273–288. 11 »Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen sein.« Diese Formel wurde unter der Überschrift »Das Erbe« im ersten Heft der nach Altenberg erscheinenden »Freideutschen Rundbriefe« auf der Titelseite abgedruckt (Nr. 1 vom September 1947).
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sei die »geistig-seelische Haltung«, die alle Freideutschen »von jeher verbunden (habe)« und weiterhin verbinden werde. Der von Schoeps vorbereitete Vortrag erfolgte am Sonntagmorgen, doch hatte es bereits zu Beginn des Treffens in der allerersten Stunde am Samstagabend einen Impuls gegeben, der die Entscheidung über den weiteren Verlauf des Zusammenseins maßgeblich bestimmen sollte. Ein Kamerad – so heißt es in der Rückschau auf das Treffen – sei aufgestanden und habe von den Motiven berichtet, »die ihn selber 1933 zur NSDAP gehen ließen, und von der Entwicklung, die ihn dann in die Reihen der Männer vom 20. Juli 1944 führte.«12 Er habe dann nachdrücklich alle Anwesenden aufgefordert, »getreu dem Gelöbnis vom Hohen Meißner mit letzter innere Wahrhaftigkeit über ihren Lebensweg in den letzten 14 Jahren zu berichten.« Ein Geist sei daraufhin aufgebrochen, der »das äußerste Gegenstück zu der heute in Deutschland verbreiteten Spruchkammermentalität« gewesen sei: Jeder Anwesende habe sich aufgefordert gefühlt, Rechenschaft über seinen Lebensweg zu geben und sich eher zu belasten als etwas zu beschönigen. Bei den anschließenden Gesprächen13 ging es dann vor allem um die Frage nach der Mitschuld an der Entstehung des NS-Regimes und danach, ob man nicht statt von Schuld treffender von Versagen sprechen solle: Die alte Jugendbewegung sei jetzt »von Schmerz und Scham« erfüllt, weil sie sich Anfang der 1930er Jahre nicht gegen die »Umfälschung« und »verhängnisvolle Sinnverkehrung« ihrer Ideen und Ideale durch den Nationalsozialismus gewehrt habe: Sie habe naiverweise damals geglaubt, »ihre auf Freiwilligkeit basierten Gemeinschaftsformen von Führung und Gefolgschaft durch eine Massenpartei ins Große auf den Staat übertragen« zu können. Und in einer eindrucksvollen Rede zur aktuellen politischen Situation beklagte Achim Oster (1914–1983), Sohn des am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichteten Hans Oster (geb. 1887) und selbst im Widerstand engagiert gewesen, dass zur Zeit die deutschen Menschen »nichts oder wenig wissen von der deutschen Schuld, die junge Generation im besonderen«, die annehme, in gutem Glauben gehandelt zu haben. Ihm scheine »im richtigen Erkennen des Problems der Schuld der Schlüssel zum Erkennen« der aktuellen Lage überhaupt und zu einem neuen Anfang zu liegen. Die Schuld sei ein
12 Ebd.; es handelte sich um Normann Körber (1891–1973), engagierter Katholik und ehemals Mitglied der Politischen Gilde der Deutschen Freischar, im Frühjahr 1933 Eintritt in die NSDAP und die SA, preußischer Regierungsrat in Königsberg, im Krieg u. a. Korvettenkapitän, gleichzeitig jedoch Hinwendung zur Bekennenden Kirche, nach dem Krieg Amtsgerichtsrat in Delmenhorst. Zu Körber s. Hinrich Jantzen: Namen und Werke, Band 5 (Frankfurt 1982), S. 145–148 (mit einem Nachruf von Friedrich Kreppel), s. außerdem Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 403f. 13 Zum Folgenden s. Reulecke: Kreis (Anm. 10), S. 277f.
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»großer, auf dem deutschen Volk lastender Berg und nicht wegzudiskutieren, ob der Einzelne daran nun unmittelbar teilhabe oder nicht.«14 Die Selbstsicht auf das Ergebnis des Treffens im Kloster Altenberg bestand schließlich in der Feststellung, dass sich hier einer der ganz wenigen Kreise in Westdeutschland gebildet habe, in dem »heute ohne Vorbehalt und Ressentiment« darüber gesprochen werden könne, wie man angesichts »der realen Hoffnungslosigkeit der deutschen Lage« wieder zu »menschlicher Begegnung, sachlicher Aussprache und vertrauensvoller Arbeit« kommen könne. Der zu gründende FK solle »durch ganz Deutschland … Männer und Frauen aus der deutschen Jugendbewegung sammeln«, um mit ihnen »die Dinge realistisch nüchtern und mit einem hingabebereiten Willen zur Gestaltung« anzugehen und dabei den Nationalsozialismus geistig zu überwinden – dies auch durch eine selbstkritische Analyse der zum Teil verhängnisvollen Rolle der Jugendbewegung. Wenn diese Aufgabe von Menschen wie den Freideutschen nicht gemeistert werde, dann sei der deutsche Untergang definitiv nicht mehr aufzuhalten.15 Die nach den Debatten in Altenberg und in der Folgezeit geäußerten Grundgedanken führten dann bei dem zweiten Treffen des FK im Herbst 1947 auf Burg Ludwigstein zu der programmatischen Selbstdefinition: »Die Vielfalt der deutschen Wirklichkeit unserer Gegenwart mit allen ihren Spannungen in unseren Gemeinschaften sichtbar werden zu lassen und in vorbehaltloser Wahrhaftigkeit zu ertragen, ohne dass daraus ein neuer Richtungsstreit, eine einseitige politische Dogmatik, ein geistiger Kurzschluss oder aber eine laue Verschwommenheit entsteht – das soll und muss unser aller Anliegen und Herzensbedürfnis sein.«16
Das Bekenntnis einer eigenen »Schuld«, welches in Altenberg die Diskussion bestimmt hatte, tauchte allerdings von nun an nur noch selten auf. Lediglich Rüdiger Robert Beer (1903–1985) ist in einer rückblickenden Stellungnahme zum Herbstreffen von 1947 noch einmal auf die »Schuldfrage« eingegangen und hat zwar die Notwendigkeit betont, »zuerst für das einzustehen, was durch uns geschehen ist«, auch wenn man dabei gleichzeitig immer auch an die vielen Millionen Toten infolge der alliierten Vertreibungen aus dem Osten denke, meinte aber, dass man das Thema Schuld, obwohl es eine »fortwirkende Realität« sei, in Zukunft nicht ständig wieder aufgreifen solle: Es gebe, so Beer, »in diesen Dingen keine Aufrechnung Leben gegen Leben, Blut gegen Blut; es muss jeder 14 Oster : Situation (Anm. 11), S. 11–13; Oster bekleidete ab 1950 eine Mitarbeiterstelle in der »Zentrale für Heimatdienst« im Bundeskanzleramt und war ab 1964 als Brigadegeneral ein deutscher Vertreter bei der NATO. 15 Zitate aus dem ersten Rundbrief des FK (s. Anm. 11), bes. S. 12f., sowie aus Rundbrief 3 vom März 1948; s. dort vor allem den Text von Helmut Tormin: Die geistige Überwindung des Nationalsozialismus und die Freideutsche Bewegung, S. 1–5; Tormin (1891–1951) war Beamter im Landesarbeitsamt Hamburg und Mitglied der Gilde Soziale Arbeit. 16 So Kindt in: Rundbrief, Nr. 2, S. 4.
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zuerst für das Seine einstehen, wenn irgendwann die fürchterliche Kette von Rache und Vergeltung und Wiedervergeltung abreißen soll.« Deshalb müsse man von nun an (Stichwort »Erwartungshorizont«) alles daran setzen, eine neue Gesinnung zu schaffen, »nach außen hin und bei uns im Innern.«17 Rückblickend wurden deshalb die Altenburger Schuldbekenntnisse als eine notwendige, aber dann weitgehend abgeschlossene »Selbstreinigung« verstanden, und dabei sollte es bleiben, bis vier Jahrzehnte später von den sich nun im hohen Alter befindenden Freideutschen im Hinblick auf ihr baldiges Abtreten aus der Zeit (Stichwort »Sattelzeit«) noch einmal das Thema »Schuld« aufgegriffen wurde und auch bei der definitiven Auflösung des Freideutschen Kreises Anfang Juni 2000 (wieder in Altenberg bzw. Wetzlar) eine Rolle spielte.18 In den Jahren vorher war in den in der Publikation von Thomas Kohut dokumentierten Interviews mit Mitgliedern des FK zwar von Scham und auch von Versagen, aber nicht mehr von Schuld die Rede. Auf deutliche Anschuldigungen, die zunehmend seit Ende der 1960er Jahre Angehörige der Kriegskindergeneration ihren Eltern gegenüber äußerten, hätten – so Kohut – die Befragten »im Allgemeinen mit trotzigem Schweigen« reagiert: Zwar hätten sie den Nationalsozialismus und den Antisemitismus verurteilt, doch habe man offenbar Schuldgefühle infolge einer »defensiven« Grundhaltung nicht mehr zugelassen, »weil Schuld mit ihrem überaus starken Harmoniebedürfnis und mit ihrem Selbstwertgefühl nicht mehr vereinbar« gewesen sei.19 Dabei blieb es bis in die 1990er Jahre, als es zu einer neuen »Sattelzeit« mit intensiven Reflexionen über die »Erfahrungsräume« der FK-Mitglieder und deren »Erwartungshorizonte« im Hinblick auf ihre letzten Lebensjahre kam. Ende 1993 provozierte der ehemalige Intendant des Saarländischen Rundfunks Will Zilius (1913–2004), seit 1990 der Redakteur der Rundschreiben des FK, die Freideutschen, indem er ihnen mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur »Trauerarbeit« vorwarf.20 In den zurückliegenden Jahrzehnten habe man, so Zilius, im FK »seit Jahr und Tag und immer weiter an unserem Heldenepos« gestrickt; jetzt müsse es den Freideutschen in ihrem hohen Alter endlich darum gehen, die Nachwelt »aus sehr genauer Kenntnis und Erfahrung über unsere Schwächen und unser Versagen aufzuklären.« In den letzten Jahren hätten ihn 17 Rüdiger Robert Beer: Die deutsche Lage, in: Freideutscher Rundbrief, 1948, Nr. 4 (Mai), S. 3–9, Zitate S. 8. Beer war nach Hermann Schafft mehrere Jahre der Obmann des Freideutschen Kreises, seit Anfang 1948 Beigeordneter des Deutschen Städtetages; vorher war er Redakteur bei der »Frankfurter Zeitung« gewesen. 18 S. dazu Seidel, Aufbruch (Anm. 6), S. 46f., sowie Jürgen Reulecke: Der Historiker als »Ombudsmann«? Eine Begegnung mit dem Freideutschen Kreis, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 85–102, bes. S. 94ff. 19 Kohut: Generation (Anm. 4), bes. S. 322f. 20 Will Zilius: Trauerarbeit, in: Rundschreiben des FK, 1993, Heft 233 (Dezember), S. 144–147.
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verschiedene Äußerungen im FK bedrückt, die ihn zu der Frage motivierten: »Habe ich mein Leben in einer anderen Zeit verbracht als viele der Freunde? Und wenn nicht, wie ist es dann möglich, dass von einer tiefen Betroffenheit, was den Zusammenhang zwischen 1933 und 1945 angeht, nichts zu spüren ist?« Ein ernsthaftes Interesse an der neueren Geschichte habe er im FK nicht feststellen können; alles Frühere werde »eingehüllt in die wohltuende Wärme einer jugendbewegt besonnten Vergangenheit«! Keine noch so guten Taten vorher und nachher könnten jedoch »die Schuld tilgen, die wir mit unserem Versagen auf uns geladen haben.« Der 1992 gewählte neue Sprecher des FK, Hans-Joachim Orth (geb. 1919), reagierte mit deutlicher Verstimmung auf den Artikel »Trauerarbeit« von Zilius, weil er die »pauschalen Bezichtigungen eines Freundes, der 40 Jahre lang« auch in der Führung des FK mitgearbeitet habe, für »unverständlich und schmerzlich (halte)«.21 Dessen Vorwurf, zum Beispiel der FK habe sich zu wenig den Gegenwartsfragen zugewandt, könne nicht unwidersprochen bleiben, denn, so Orth: »In der Generation der heute über 80jährigen gibt es wohl kaum eine andere Gruppierung, die ihren Mitgliedern bei ihren zahlreichen Treffen so viele gesellschaftspolitische, pädagogische und soziale Anstöße gegeben hat.« Mit dieser Beurteilung des FK hatte Orth zwar zweifellos recht, doch die Schuldfrage, um die es Zilius vor allem gegangen war, hat Orth nicht angesprochen, aber doch den Appell formuliert, zu den »umstrittenen Äußerungen« von Zilius für das nächste Heft des Rundschreibens Reaktionen zu formulieren. Tatsächlich löste diese Herausforderung bei vielen der damals 80- bis 90jährigen FK-Mitglieder eine erregte Debatte und – so Zilius rückblickend – eine Auseinandersetzung im FK aus, »wie es sie so wohl noch nie gegeben hat.«22 In einem Doppelheft des Rundschreibens war nämlich im August 1994 eine beträchtliche Zahl von Stellungnahmen zu seinem Beitrag vom Dezember 1993 abgedruckt worden. Zwar wurde Zilius z. B. einerseits vorgeworfen, er habe die Freideutschen in »angemaßter Überheblichkeit und mit angemaßtem Richteramt zu be- und gar zu verurteilen« begonnen23, doch die meisten Reaktionen, vor allem von Frauen, die nun im bisher stark männerbündisch ausgerichteten FDKreis allmählich stärker Einfluss nahmen, unterstützten nachdrücklich und mit intensivem Dank den Aufruf von Zilius, endlich die bisher nicht geleistete »Trauerarbeit« zu vollbringen, denn – so ist in einem Brief zu lesen – »die Last, die unserer Generation auferlegt wurde, wiegt schwerer mit den Jahren und wird immer unbegreiflicher.«24 Zunehmend bekannte man sich jetzt dazu, aus Scham 21 Hans-Joachim Orth: Unbewältigte Vergangenheit?, in: Rundschreiben des FK, 1994, Heft 224 (April), S. 15f. 22 Zilius: Erwiderung auf die Äußerungen über die Trauerarbeit, in: Rundschreiben des FK, 1995, Heft 228 (März), S. 45–47. 23 Rundschreiben des FK, 1994, Heft 225/226 (August), S. 105. 24 Ebd., S. 100f.
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über seine Verstrickungen so lange geschwiegen zu haben. Und mit Blick nach vorn lautet ein weiteres Urteil: »Lasst uns endlich aufhören mit dem Aufrechnen von Schuld! Nur das Sich-schämen über alles unmenschliche Geschehen kann Anfang von Versöhnung sein, wenn es nicht ein leeres Lippenbekenntnis bleibt, sondern das alltägliche Leben bis in vermeintliche Kleinigkeiten hinein bestimmt. Nur so wird Schuld, ob eigene oder fremde, verwandelt und einst aufgehoben werden.«25 Vor allem einigen männlichen Mitgliedern des FK wurde vorgehalten, sie sollten endlich damit aufhören, sich selbst zu entlasten, indem sie auf andere schauten und z. B. den ehemaligen Gegnern einen Großteil der Schuld zuwiesen, sondern die Tugend der Demut pflegen und bereit sein, die eigene Last der Erinnerung bewusst zu tragen. Zilius hat Anfang 1995 einfühlsam und dankbar auf das breite Spektrum von Anmerkungen zu seinem Aufruf zur »Trauerarbeit« geantwortet: Die »Generalbeichte« von Altenberg 1947 sei zwar gelegentlich immer einmal erwähnt worden, doch eine bloße historische Erinnerung daran vermöge nicht zu trösten, im Gegenteil: »Das Versprechen, das sich die Gründungsmitglieder seinerzeit gegeben haben, kann nur seinen Sinn bewahren, wenn es nicht als Freibrief gilt, heute wieder dem alten Ungeist zu verfallen.« Und so fragt Zilius abschließend mit Blick nach vorn, ob man im FK wirklich meine, wie es in der Vergangenheit oft geschehen sei, »diese Last aus unserer jüngsten Geschichte ein für allemal, etwa durch die ›Generalbeichte‹ von Altenberg, abwerfen zu können.« Zwar war auf diese Weise die Debatte der konkreten »Sattelzeit« 1994/95 an ein erstes Ende gekommen, doch spielte von nun an bis zur Auflösung des FK im Jahr 2000 die Einsicht, dass man dem Schuldgeschehen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht entfliehen könne und deshalb engagiert an einer zeithistorischen Sinnstiftung mit deren Erwartungshorizonten mitwirken müsse, immer wieder eine Rolle, vor allem dann bei dem Schlusskonvent des FK Anfang Juni 2000 wieder in Altenberg und Wetzlar. Der Hauptredner dieses Schlusskonvents aus den Reihen des FK war der 93jährige Karl Vogt (1907–2002), der, geprägt in einer Breslauer Wandervogelgruppe in den 1920er Jahren, während des NS-Regimes als Mitglied der SS im mittleren Management des Landwirtschaftsministeriums, u. a. in Richtung »Reichsosthilfe«, d. h. der Schaffung von »arischen Bauernschaften im Generalgouvernement«, beschäftigt gewesen war und sich nach 1945 mit großem Engagement vor allem im jugendbewegten Umfeld der Nachkriegszeit z. B. als Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein eingesetzt hatte.26 Im 25 Erika Wabnitz: Noch einmal zur »Trauerarbeit«, in: Rundschreiben des FK, 1994, Heft 227 (Dezember), S. 156–159. 26 S. dazu »Dr. Karl Vogt 1907–2002«, in: Mitteilungen. Zeitschrift des Ringes junger Bünde, 2002, Nr. 116. Ausführlich zu Vogt, auch zu seiner selbstkritischen Beurteilung s. Karl Vogt:
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Kontext des Zilius-Projekts 1993/94 hatte er sich, obwohl aktives Mitglied des FK, allerdings nicht engagiert, weil er im FK ein erhebliches Defizit an »aus bündischer Prägung geleisteter Trauerarbeit zum NS« beklagte: Diese sei »viel zu kleinkariert und auf die eigene Entschuldigung ausgerichtet, zu viel unergiebige Nabelschau der eigenen Geschichte, zu viel ›geistiger Persilschein‹«.27 Mit tiefer Scham, so Vogt in einem Interview bereits Anfang der 1990er Jahre, müsse »jeder für sich allein fertig werden: Fortstehlen (könne man) sich bis an sein Lebensende nicht.«28 Und auf sein eigenes Verhalten im NS-Regime und sein rückblickendes Umgehen damit stellte er in dem Interview fest: »Ja, heute bereue ich das alles. Juristisch fühle ich mich zwar unschuldig, moralisch aber nicht. Mit der Scham, wie sie Theodor Heuss mal genannt hat, werde ich bis zu meinem Tod leben. Ich habe mitgemacht und das System vielleicht durch meine gute Arbeit auch noch unterstützt. Mit diesem Irrtum muss ich leben; durch bloße Entschuldigung ist er nicht gut zu machen. Aber das ist allein meine Sache.«
Als bei dem Schlusskonvent anwesender Zeitzeuge, der übrigens eingeladen worden war, in der Altenberger Klosterkirche am 2. Juni 2000 als Vertreter und Historiker der Söhnegeneration ebenfalls einen Vortrag zu halten29, wurde mir noch einmal klar, dass die 53-jährige Geschichte des Freideutsche Kreis zwar ausdrücklich, wie bisher angenommen, unter dem Gesichtspunkt des sinnerfüllten Alterns einer recht speziellen Generationseinheit (Stichwort »Generationalität«) interpretiert werden konnte, viel mehr aber noch eine weitere Deutung nahe legte: Das enge Zusammengehörigkeitsgefühl in diesem Kreis ließ sich, so begann ich zu begreifen, auch als Ausdruck einer Art kollektiver Selbsttherapie zur Überwindung bzw. zum Ertragen der individuellen Scham über die eigene Beteiligung am NS-Regime interpretieren. Der FK war dadurch, dass man sich hier gegenseitig bestätigte und engagiert nach vorn gerichteten Sinn produzierte, so etwas wie ein Trostspender, mit dem man sein Scheitern vor den historischen Herausforderungen des frühen 20. Jahrhunderts und sein Schuldig-Gewordensein überspielen konnte – überspielen auch im ganz vordergründigen Sinn z. B. durch Liedersingen, Tanzgruppen, Theateraufführungen, bereichernde Vorträge, Exkursionen, gemeinsame Kunsterlebnisse usw. Im Grunde hatten die Freideutschen die gesamte Zeit über (unbewusst, aber ef»Aufrecht zwischen den Stühlen«, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 18 (1993–1998), S. 207–218. 27 Zitat aus einem Brief von Karl Vogt im Kontext des FK-Forschungsprojekts an der Universität Siegen vom 13. 12. 1994 (Anm. 4). 28 S. den Abdruck des Interviews in Heft 116 der »Mitteilungen« (Anm. 26), S. 24–32, Zitat S. 27. 29 Abgedruckt ist der Vortragstext im letzten FK-Rundschreiben, 2000, Heft 250/251 (September), S. 112–118; s. zum Folgenden auch den rückblickenden Beitrag »Historiker als Ombudsmann« aus dem Jahre 2015 (s. Anm. 8).
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fektiv) eine kollektive »life-review-Strategie« verfolgt: eine Strategie der Bewältigung und der Versöhnung mit einer aus der Rückschau negativ besetzten Vergangenheit! Sie hatten auf diese Weise – individuell wie auch kollektiv – mit sich allein fertig werden wollen. Dieses schambedingte »Mit-sich-allein-fertigwerden-wollen« wiederum war es wohl, was in den zurückliegenden Jahrzehnten vielen aus meiner Generation, geboren Ende der 1930er/Anfang der 1940er Jahre, vor allem die Vätergeneration oft so unnahbar, so unbefragbar, so verhärtet erscheinen ließ! Mit anderen Worten: Seit dem frühen 20. Jahrhunderts war zwar eine spezifische Art von Männlichkeit propagiert und produziert worden, aber zugleich war eine »vaterlose Gesellschaft« entstanden, in der die Väter, wenn sie nicht tatsächlich dauerhaft aufgrund zweier Kriege fehlten, seelisch abwesend waren und keine einfühlsame »Väterlichkeit« vermittelten, so dass es gleichzeitig zu einem Mangel an »Söhnlichkeit« kam, dessen Folgen wir erst im fortgeschrittenen Alter bedrückend zu spüren und aufzuarbeiten begonnen haben.30 Wir, die Generation der Kriegsjugendlichen und Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, wuchsen in den 1950er Jahren zwar durchaus mit einem allgemeinen Wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus auf, aber gleichzeitig in einem Klima, in dem die ältere Generation in den Familien, Schulen, Medien usw. ihre konkreten Verstrickungen und eigenen aktiven Beteiligungen am NS-Regime weitgehend verschwieg. Und wir, die Kriegskinder und »Trümmerjugend«, fragten auch bis weit in die 1960er Jahre hinein nicht danach: Zu sehr hatten wir das Elend der Erwachsenen, ihre Not, ihre Verzweiflung in der Kriegsendphase und unmittelbaren Nachkriegszeit hautnah miterlebt, als dass wir durch bohrendes Nachfragen in offenen Wunden hätten wühlen wollen. So kam es zu einem in den späten 1940er und in den 1950er Jahre »eigenartigen Pakt zwischen den Generationen«, nämlich zu einem »stillen Konsens« darüber, dass – bis auf wenige Ausnahmen – das persönliche Mitwirken im NS-Regime kein Thema zwischen den Eltern und ihren Kindern, speziell zwischen den Vätern und ihren Söhnen war (Stichwort: »Schweigekartell«).31 Erst die weitgehend ohne diese 30 S. grundsätzlich zu dieser Thematik den »Klassiker« von Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, zuerst 1963, hier zitiert nach der Neuauflage München 1973; vgl. dazu Micha Brumlik: Über das Fehlen der realen Vaterlosigkeit in Mitscherlichs »Vaterloser Gesellschaft«, in: Barbara Stambolis (Hg.): Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten, Weinheim u. a. 2013, S. 19–32; s. vor allem Hartmut Radebold: Abwesende Väter und Kriegskindheit. Alte Verletzungen bewältigen, Stuttgart 2010, sowie Hermann Schulz, Hartmut Radebold, Jürgen Reulecke: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, 3. erweiterte Aufl. Berlin 2009, Barbara Stambolis: Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht, Stuttgart 2012, und Lu Seegers: »Vati blieb im Krieg«. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert. Deutschland und Polen, Göttingen 2013. 31 S. dazu Peter Schulz-Hageleit: Die Kinder der Täter. Vom Trauma des Jahres 1945 zur Wiedergewinnung einer humanen Lebensorientierung, in: psychosozial, 1997, 20. Jg., Nr. 68,
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Jürgen Reulecke
spezielle Mitleidensempathie aufgewachsenen Geborenen der Geburtsjahrgänge ab Ende der 1940er Jahre, die so genannten »68er« also, kündigten dann seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend jenen »Pakt« auf: Odo Marquard (1928–2015), Philosophieprofessor an der Universität Gießen, hat die Aufbruchsbewegungen der 68er-Zeit treffend als »nachgeholten Ungehorsam« charakterisiert: Die zwischen 1933 und 1945 »ausgebliebene Revolte gegen den Diktator (den Vater der vaterlosen Gesellschaft)« sei jetzt erst ein Vierteljahrhundert später »stellvertretend nachgeholt (worden) durch den Aufstand gegen das, was nach 1945 an die Stelle der Diktatur getreten war.«32 Unter den diesen »68ern« dann nachfolgenden Altersgruppen gibt es inzwischen einige Wissenschaftler, die mit vorschneller Be- und Verurteilung aus ihrer heutigen Sicht sowohl das Verhalten von Angehörigen der »Jahrhundertgeneration« (z. B. aus dem Freideutschen Kreis in der NS-Zeit und in den 1950er/1960er Jahren) anklagen als auch unsere erfahrungsgeschichtlich-psychohistorisch orientierten Versuche , als Historiker der Kriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs, ihrer »Vätergeneration« mit »Empathie« (was nicht Sympathie heißt!) gerecht zu werden, ablehnen und massiv kritisieren.33 Solche Kritik, die nicht zuletzt auch im Hinblick auf unsere Publikationen über den Freideutschen Kreis geäußert worden ist, zeugt m. E. nicht von einer Bereitschaft zu einem empathischnachfragenden Begreifenwollen des Handelns von Menschen in einer anderen Epoche angesichts der für sie offenen Zukunft (Stichwort »Erwartungshorizont«), weil von jenen ahistorischen »Moralisten« die subjektiven mentalitätsgeschichtlichen Kontexte und Hintergründe des Denkens und Handelns der Damaligen völlig ignoriert werden. Da sollte man wohl dem französischen Historiker Marc Bloch zustimmen, der einmal gesagt hat, der Historiker sei kein rächender Erzengel, und den Zuruf von Friedrich Nietzsche an uns ernst nehmen: »Ihr seid nicht klüger ; ihr kommt nur später!«34
S. 91–101, s. außerdem die beiden Beiträge von Roland Eckert: Individuelle und kollektive Traumata in der zweiten Generation, und von Vera King: Symbolische und reale Vaterlosigkeit in Deutschland infolge der NS-Zeit und ihre weiteren Auswirkungen, abgedruckt in: Stambolis: Vaterlosigkeit (Anm. 30), S. 33–54 und S. 55–73. 32 Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1982, S. 10. 33 Auseinandersetzungen dieser Art begannen auf dem Frankfurter Historikertag 1998; s. den Bericht darüber mit dem Titel »Intentionen – Wirklichkeiten«, München 1999, S. 209–214. Auf die Tatsache, dass es in den letzten Jahren auch zu einer zunehmenden Diskussion über die Psychohistorie der »Kriegsenkel« gekommen ist, sei hier nur hingewiesen. 34 Zu diesem Grundproblem jeder Geschichtsinterpretation s. Norbert Frei, Dirk van Laak, Michael Stolleis (Hg.): Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000.
Biografische Annäherungen
Reinhard Mehring
Rückkehr zu Humboldt. Der vergessene Bildungshistoriker Kurt Grube (1903–1936)
Die Jugendbewegung wirkte bekanntlich intensiv in die Pädagogik. Das gilt nicht nur für die pädagogische Praxis, sondern auch für deren wissenschaftliche Erfassung. Sie wurde zur Mutter der Emanzipation und Autonomisierung der Erziehungswissenschaften als eigene Disziplin. Vom heutigen Ausbau der Pädagogischen Fakultäten her wird dabei allerdings meist unterschätzt, wie bescheiden die personellen Ressourcen des Faches zunächst waren und wie lange die institutionelle Verbindung mit etablierten Leitwissenschaften anhielt. Psychologie und Pädagogik emanzipierten sich erst nach 1918 von der Fachphilosophie. Akademische Pädagogen und Philosophen erwarben vor und nach 1933 lange noch die Venia für Philosophie. Die institutionelle Verbindung von Philosophie und Pädagogik blieb selbst nach 1945 noch in vielen Hochschulen lange erhalten. Pioniere der Pädagogik waren also vor und nach 1933 lange habilitierte Philosophen. Viele waren durch die Jugendbewegung hindurchgegangen. Einige kamen aus Berlin, wo Wilhelm Dilthey, Friedrich Paulsen und Carl Stumpf um 1900 im philosophischen Institut auch die Pädagogik und Psychologie glänzend und wirksam vertraten. Dilthey war einige Jahre Gymnasiallehrer gewesen und las regelmäßig über Geschichte der Pädagogik, Paulsen war der bedeutendste Bildungshistoriker seiner Zeit, und Stumpf begründete die gestaltpsychologische Schule. Eduard Spranger und Hermann Nohl waren dann Pioniere der Emanzipation der Erziehungswissenschaften, die als Dilthey-Schüler die – heute im Fach verpönte – sog. »geisteswissenschaftliche Pädagogik« entwickelten. Beide waren von der Jugendbewegung stark beeindruckt und prägten auch den akademischen Diskurs über die Jugendbewegung. So publizierte Nohl 1933 im »Handbuch der Pädagogik« seine berühmte Darstellung »Die pädagogische Bewegung in Deutschland«, die die Volkshochschulbewegung, Kunsterziehungsbewegung, Arbeitsschulbewegung und Landerziehungsheimbewegung von der Jugendbewegung her darstellte. Eduard Spranger,1 ein »Klassiker« des 20. Jahrhunderts, 1 Für die hier vertretene Auffassung vgl. Reinhard Mehring: Die Erfindung der Freiheit. Vom
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publizierte 1923 seine »Psychologie des Jugendalters«, begründete ein »Archiv der Jugendbewegung« und entwickelte die gewichtigste philosophische Pädagogik seiner Zeit. Spranger unterschied nicht nur typische Lebensformen, sondern auch Lebensalter und Lebenszyklen. 1950 publizierte er einen rückblickenden Aufsatz »Fünf Jugendgenerationen 1900–1949«,2 der für unsere Thematik von besonderem Interesse ist. Spranger skizziert hier allerdings nicht die politischen Wandlungen einer Jugendgeneration, sondern eine Abfolge bürgerlich-akademischer Jugendgenerationen. Dabei unterscheidet er plastisch zwischen der »eigentlichen« Jugendbewegung, einer neo-romantischen »Selbstreservierung der Jugend«,3 deren negativierendes Ethos in der »Autonomieformel« des Hohen Meißner 1913 treffend zum Ausdruck kam,4 und der »Bündischen Jugend« der Weimarer Republik, die sich in diverse Richtungen politisierte. Diese »Bündische Jugend« wurde bekanntlich durch den Nationalsozialismus gleichgeschaltet und konnte allenfalls in subkutanen Formen noch etwas von dem Freiheitspathos bewahren, mit dem sie einst antrat. Spranger betonte das Bekenntnis der »eigentlichen« und freideutschen Jugendbewegung zur »inneren Wahrhaftigkeit« und meinte: »Nur ein Beruf ist von der eigentlichen Jugendbewegung wirklich befruchtet und vertieft worden: der des Lehrers und Erziehers, also ein entschieden jugendbezogener Beruf.«5 Solche Selbstkritik und Selbsthistorisierung der Jugendbewegung setzte früh ein. Der Bruch zwischen dem Aufbruch vor 1914 und den nachfolgenden sektiererischen und politisierenden Verhärtungen der »Bündischen« Jugend wurde auch früh empfunden. Dabei überwog anfangs aber noch die Hoffnung auf die Entwicklung eines »neuen Menschentyps« in der »Kulturkrise« der Gegenwart.6 Im Folgenden wird nur an einen vergessenen Vertreter der Jugendbewegung erinnert, der ins Lehramt und in die Erziehungswissenschaften strebte: an den 1903 geborenen Kurt Grube, der zunächst Volksschullehrer wurde und nach dem Lehrerexamen ein Universitätsstudium anschloss, promovierte und sich später in Prag habilitierte. Er publizierte drei Monografien: eine Dissertation »Zur Charakterologie der Jugendbewegung« von 1931, eine Habilitationsschrift »Die
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Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, Würzburg 2018; der hier publizierte Text geht insbesondere in den Teilen I und II, in der Erörterung von Grubes Dissertation und Abhängigkeit von Utitz, über die im Buch zu findenden Ausführungen hinaus. Eduard Spranger : Fünf Jugendgenerationen 1900–1949, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. VIII, Tübingen 1970, S. 318–344. Ebd., S. 325. Ebd., S. 323f. Ebd., S. 328; Sprangers väterlicher Freund und pädagogischer Kampfgefährte Georg Kerschensteiner bspw. beteiligte sich am Treffen des Hohen Meißner mit einem »Freundeswort«. Dazu vgl. Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913, S. 88f.; auch Gurlitt, Natorp, Wyneken u. a. beteiligten sich. So Waldemar Gurian: Die deutsche Jugendbewegung, 2. Aufl. Habelschwerdt 1923, S. 58.
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Idee und Struktur einer rein-menschlichen Bildung« von 1934 sowie 1935 eine Monografie über Wilhelm v. Humboldt. Grube verstarb bereits 1936 in Prag. Er repräsentiert einen Weg aus der Jugendbewegung und pädagogischen Praxis in die Bildungsgeschichtsschreibung. Nicht nur dieser Weg interessiert hier aber, sondern auch das Verhältnis zum Doktorvater Emil Utitz (1883–1956), dessen langjähriger Assistent Grube in Halle und Prag war. Utitz, Jahrgang Spranger, war ein Prager Jude und Klassenkamerad Kafkas. 1910 in Rostock mit einer Arbeit zur philosophischen Ästhetik habilitiert, entwickelte er in den 20er Jahren als Autor eines Lehrbuches und Herausgeber des in sechs Bänden erschienenen »Jahrbuchs für Charakterologie« das Projekt einer philosophischen Charakterologie. 1925 wurde er Ordinarius für Philosophie in Halle. 1933 als Jude vertrieben, kehrte er in seine Heimatstadt Prag zurück, wo er 1934 Ordinarius an der Deutschen Karls-Universität wurde. Utitz gelang es nach der deutschen Besetzung Prags nicht mehr zu emigrieren und er wurde 1942 ins KZ-Theresienstadt deportiert. Er überlebte und blieb nach 1945 in Prag.
Utitz’ Projekt einer interdisziplinären Charakterologie Der Historiker Per Leo7 hat unlängst das Projekt der »Charakterologie« als Weltanschauungsdiskurs mit schwachen akademischen Standards kritisiert und als eine Leitdisziplin des Antisemitismusdiskurses markiert. Auf Utitz geht er dabei nicht näher ein, obgleich Utitz schon durch sein Jahrbuch gewiss einer der Hauptakteure der Akademisierung der Charakterologie war. Die generelle Behauptung einer starken Affinität zwischen dem charakterologischen und dem antisemitischen Diskurs ist sicher falsch. Für den akademischen Außenseiter Ludwig Klages, den Leo ins Zentrum stellt, trifft sie wahrscheinlich zu. Für den liberalen, sozialdemokratischen und säkularen »Volljuden« Utitz aber überhaupt nicht. Utitz lehnte die irrationalistische »Einseitigkeit« von Klages auch deutlich ab.8 Man muss hier zwischen einem akademischen und einem außeruniversitären charakterologischen Diskurs unterscheiden. Zweifellos gab es in der weiten und wabernden popularwissenschaftlichen Weltanschauungsliteratur der Zwischenkriegszeit auch starke naturalistische, antisemitische und ras7 Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940, Berlin 2013. 8 Dazu Emil Utitz: Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart, Stuttgart 1927, S. 70ff., S. 149f..; zum Spätwerk von Utitz vgl. meine Dokumentationen: Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1873–1956), Würzburg 2015; Philosophie im Exil. Emil Utitz, Arthur Liebert und die Exilzeitschrift »Philosophia«. Dokumentation zum Schicksal zweier Holocaust-Opfer, Würzburg 2018.
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sistische Auslegungen des Charakterbegriffs. Wahrscheinlich verstanden sich manche Täter und Aktivisten der Vernichtung auch als lautere Charaktere. Von solchen naiven und reflexionsblinden Verwertungen des Charakterbegriffs müssen aber kritische Versuche der Akademisierung unterschieden werden. Gerade weil der ideologische und naturalistische Missbrauch des »Charakters« nach 1900 landläufig unübersehbar war, gerade weil der anthropologische Diskurs der Zwischenkriegszeit auf eine abschüssige Bahn geriet, war die Universitätsphilosophie zur kritischen Auseinandersetzung aufgefordert. Immanuel Kant hatte die philosophische Anthropologie in »pragmatischer Hinsicht« schon »kritisch« diskutiert; er entwickelte seine »anthropologische Charakteristik«, von der »Kritik der Urteilskraft« ausgehend, dabei als Kunst, »das Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen«. Auch Utitz konzipierte seine Charakterologie anti-essentialistisch und limitativ und argumentierte gegen starke essentialistische Identitätszuschreibungen. Anders als andere zeitgenössische Autoren argumentierte er aber nicht pauschal für die exzentrische »Weltoffenheit« des Menschen als »Neinsager« (Max Scheler)9 des Lebens, in radikaler Abgrenzung vom instinktgebundenen Tier ; Utitz nahm vielmehr als Ästhetiker den psychologischen und psychiatrischen Diskurs seiner Zeit intensiv auf und entwickelte seine Charakterologie in der interdisziplinären Auseinandersetzung von der medizinischen Psychiatrie her, für die Namen wie Eugen Bleuler, Emil Kraepelin oder Ernst Kretschmer stehen. Diese Weiterentwicklung der Psychopathologie zur Charakterologie, die eine große Tradition von Platon und Theophrast bis Jaspers beerbte, war ein interessantes Parallelprojekt zu den damaligen anti-darwinistischen Abwehrgefechten der Philosophischen Anthropologie von Scheler bis Plessner. Sie war in der empirischen und interdisziplinären Ausrichtung, mit schwachen philosophischen Geltungsansprüchen, nicht weniger interessant als das Projekt der Philosophischen Anthropologie, das seine Pointe in der überscharfen Mensch-Tier-Unterscheidung und idealistischen Reservation der »exzentrischen Positionalität« des Menschen als Neinsager des Lebens hatte. Utitz übersetzte seine Charakterologie in Weimar in eine Kulturphilosophie, die Grube für seine Kritik der Jugendbewegung adaptierte. Zwei Werke sind hier vor allem zu nennen: »Die Kultur der Gegenwart«, von 1920, 1927 als »Die Kultur in der Epoche des Weltkrieges« erneut aufgelegt, sowie »Die Überwindung des Expressionismus«, von 1927, im Untertitel als »Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart« bezeichnet. Letzteres Buch betont die »Unmöglichkeit 9 Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928; das selektive Gedächtnis der gängigen Philosophiegeschichtsschreibung zeigt sich nicht nur im Fall von Emil Utitz, der heute fast unbekannt ist, sondern etwa auch für den Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg, der im Konzentrationslager verstarb und dessen »Einführung in die philosophische Anthropologie« (Frankfurt a. M. 1934) eigentlich höchst beachtlich ist.
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des Expressionismus«10 als aktuellem Zeitstil. Dieses Werk vor allem gab Grube seinen Ausgangspunkt, weshalb es hier näher vorgestellt sei. Utitz konstatierte einen Übergang der Gegenwart zur »nachexpressionistischen Kunst«11 und wünschte in Übereinstimmung mit vielen zeitgenössischen Kulturphilosophen, namentlich etwa Eduard Spranger und Theodor Litt, eine Tendenz zu einer »neuen Klassik« und einem »neuen Humanismus«.12 Die Spitzenwerke expressionistischer Kunst blieben zwar als Werke gültig,13 diese spontanistische Ausdrucks- und Erlebniskunst sei aber dem funktionalen »Zeitstil« und den »neuen Wirklichkeiten« der 1920er Jahre nicht mehr angemessen. Utitz diskutiert den »neuen Humanismus«, von Friedrich Schillers »ästhetischem« Humanismus ausgehend, als neue Verhältnisbestimmung von »Leib und Geist«, Geist und Leben.14 Er findet etwa bei Rudolf von Laban15 neue, auch aus der Jugendbewegung hervorgehende Formen der Gemeinschaftsgestaltung, bezieht sich aber vor allem auf Corbusier und Gropius als Pioniere des neuen Stils.16 Utitz betont, dass die Jugendbewegung »stark im Zeichen des Expressionismus stand«17 und in der Negation der neuen »Wirklichkeit« und »Objektivität« steckenzubleiben drohte. Deshalb habe die neuere Pädagogik sie auch als Suchbewegung und Aufgabe verstanden. Die Politisierung der Jugendbewegung betrachtet Utitz als Antwort auf dieses Formproblem: »Wenn sich politische Parteien und andere Einrichtungen dieser Jugend bemächtigen, leitete sie – wenn wir einmal vom Bedenklichen dieses Vorgehens absehen wollen – doch der Gesichtspunkt, den Schwung dieser Jugend einzulenken in das Jetzt und Hier. Mag dieser Weg der Jugendbildung verkehrt sein, das Problem bleibt: den Weg zu finden, der gleichsam organisch zum Ethos der Reife führt, zu seiner Zucht und Strenge.«18
Im Ergebnis formuliert Utitz: »Die Unmöglichkeit des Expressionismus als weiteren Zeitstil besiegeln selbstverständlich nicht die von ihm geschaffenen Werke, sondern seine Schwächen. Seine scheinbare Weltweite war doch in Wahrheit erschreckende Enge. Damit musste er vor der Aufgabe schließlich kapitulieren, zu deren Lösung er so begeistert aufgebrochen war : der Unterwerfung der naturalistischen Zivilisation. Er wollte gleichsam die ganze Welt in
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Utitz: Überwindung (Anm. 8), S. 188. Ebd., S. 5. Ebd., S. 20, 88, 99, 113, 125, 187 u. ö. Ebd., S. 187. Ebd., S. 103ff. Ebd., S. 110ff. Ebd., S. 129ff. Ebd., S. 46, vgl. S. 112f., 165ff. Ebd., S. 168.
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einen Feuerbrand verwandeln, um aus der ungeheueren Orgie des Gefühls heraus eine neue Welt zu gebären.«19 Utitz plädiert dagegen für »Besonnenheit, Maß, Zucht, Überlegenheit«.20 Seine polaren und nicht unpolemischen Begrifflichkeiten klingen für sich genommen etwas einfach und einschichtig und gewinnen ihren Sinn nicht zuletzt aus der nuancierten Überschau über die neueren Kulturentwicklungen. Utitz skizziert eine kulturphilosophische Synthese, die ihre Überzeugungskraft in der epochalen Unterscheidung der expressionistischen »Epoche des Weltkriegs« von der Weimarer Epoche hat. Diese epochale Unterscheidung ist eine normative Idealisierung: Utitz präsentiert 1927 keine Weimarer Republik der kulturellen Krise, sondern des Aufbruchs zu neuen Formen und neuer Sachlichkeit.
Grubes Dissertation: charakterologische Kritik der Jugendbewegung Grubes intellektuelle Biografie lässt sich aus einigen Quellen erschließen. Seine Habilitationsakte war im Prager Universitätsarchiv zwar nicht auffindbar, die Promotionsakte ist aber im Universitätsarchiv Halle erhalten. Neben den Publikationen finden sich darüber hinaus Nachrufe von Utitz, Ernst Otto und auch Jan Patocˇka, einem bedeutenden tschechischen Philosophen und Mitbegründer der Charta 77, sowie einige Briefe von Grube. Im Lebenslauf der Promotionsakte21 heißt es: »Am 6. Januar 1903 wurde ich, Kurt Grube, evangelischen Bekenntnisses preußischer Staatsangehörigkeit, als Sohn des Tischlers Max Grube und seiner Ehefrau Anna, geb. Wagner zu Magdeburg geboren. Ich besuchte 8 Jahre lang die Volksschule meiner Heimatstadt, darauf drei Jahre lang die dortige Präparandenanstalt. Ostern 1920 siedelte ich nach Delitzsch über, wo ich Ostern 1923 die erste Lehrerprüfung an dem Lehrerseminar ablegte. Im Jahre 1923 holte ich die für Lehrer vorgeschriebene Reifeprüfung für das Realgymnasium in Halle nach. Seit Ostern 1923 bin ich mit 1 1/2 -jähriger Unterbrechung an der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg immatrikuliert. Während meines Studiums legte ich das Graecum am Domgymnasium in Magdeburg ab. Meine Studienfächer waren: Philosophie, Pädagogik und neuere Sprachen.«
Das Zeugnis der ausgezeichnet bestandenen Lehrerprüfung ist in den Dissertationsunterlagen erhalten. Utitz publizierte 1936, nach Grubes frühem Tod, unter dem Titel »Zeitungsverkäufer, Dachdecker, Hochschullehrer« in der Pra19 Ebd., S. 188. 20 Ebd., S. 189. 21 UAHW (Universitätsarchiv Halle-Wittenberg), Rep. 21, Nr. 678.
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ger Tageszeitung »Bohemia«22 dann eine anrührende »Erinnerung an Dozent Kurt Grube«. Sie lautet leicht gekürzt: »Der 33 Jahre alte Privatdozent unserer Universität, der einem tückischen Darmleiden erlag, stammte aus sehr dürftigen Verhältnissen. Der Vater fiel im Weltkriege. Der Knabe verkaufte in den Straßen Magdeburgs, seiner Heimat, Extrablätter, um seiner Mutter ein wenig helfen zu können. Schon damals fasste er den Plan: zu studieren, sich der Wissenschaft zu widmen. In seiner Lage erschien ihm selbst der Plan ganz abenteuerlich. Allein: Schritt für Schritt überwand er alle Schwierigkeiten. Er wurde z. B. ein guter Turner. Da hörte er, dass Kirchturmdachdecker anständig bezahlt werden, weil diese Tätigkeit gänzliche Schwindelfreiheit und erheblichen Mut erfordert. So entschloss er sich, in den Ferien Kirchturmdachdecker zu werden und ersparte das Geld für seine Studien. Endlich machte er die Lehrerprüfung und unterrichtete an Volksschulen. In der freien Zeit trieb er eifrigst Griechisch, um die Gymnasial-Matura abzulegen. Er siedelte sich dann später in einer winzigen Landschaft an, weil es da an Sprachlehrern mangelte. Er hatte eine ausgezeichnete Sprachbegabung und unterrichtete: Französisch, Englisch und Italienisch. Die Fahrt in die Universitätsstadt war immer eine kleine Reise, die er vor Tagesanbruch antreten musste. Und um sechs Uhr früh war er schon in dem philosophischen Seminar. […] Er wurde mein Assistent und schrieb unter meiner Leitung seine Dissertation über die deutsche Jugendbewegung. Nach dem Doktorat war sein Hauptstreben, akademischer Dozent zu werden. Der phantastische Traum der Kinderzeit wollte sich erfüllen. Rührend stand ihm seine Braut zur Seite. Keine materielle Sicherung durch feste Anstellung lockte die beiden; entsagungsvoll steuerten sie nur dem einen Ziele zu. Endlich war es erreicht. Grube war Privatdozent; er heiratete; er begründete sein Heim. Und wenige Monate später : das schreckliche Ende.«
Utitz erwähnt keine prägende Sozialisation Grubes in der Jugendbewegung und auch Grube spricht in seiner Dissertation nicht autobiografisch von sich als Mitglied der Jugendbewegung. Nur einmal redet er in seinen Ausführungen zur »Panerotik« eingehender als Teilnehmer und Zeuge (»Wer jemals erlebt hat, mit welcher Inbrunst Liebeslieder…«).23 Die ziemlich umfangreiche Dissertation ist eine scharfe Abrechnung und Beisetzung. In breiter Berücksichtigung der Literatur gliedert sie sich in zwei Hauptteile: »Jugendbewegung als allgemeine Charaktermöglichkeit« und »Jugendbewegung als einmaliger, individueller Charaktertypus«. Der erste Teil erörtert die anthropologische »Möglichkeit« der Jugendbewegung und der zweite erörtert das »Grunderlebnis« der historischen Jugendbewegung, des »individuellen Typus«, als »charakterologisches Sinnzentrum«. Allgemein unterscheidet Grube zwischen der »biologischen«, »weltanschaulichen« und »kulturellen« Möglichkeit. Dabei geht er von Sprangers Psychologie 22 Emil Utitz: Zeitungsverkäufer, Dachdecker, Hochschullehrer. Erinnerung an Dozent Kurt Grube, in: Bohemia vom 11. August 1936, S. 3. 23 Kurt Grube: Zur Charakterologie der Jugendbewegung, Halle 1931, S. 44.
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der Pubertät aus, setzt sich dann kritisch von Hans Blühers Apologie des Eros als homoerotisches »Inversionsphänomen« ab und spricht stattdessen mit Elisabeth Busse-Wilson lieber von einem vollzugsdefizitären »Erosverzicht« mit resultierender »Panerotik«. Grube hat also einigen Sinn für genderpolitische Aspekte der Jugendbewegung, die heute verstärkt diskutiert werden. Für das Weltanschauungsstreben, die Affinität der Jugend für weltanschauliche Identifikationen, zitiert er u. a. Gustav Wyneken, Wilhelm Stählin und Friedrich W. Förster. Dabei betont er, von Utitz beeinflusst,24 den Zusammenhang zwischen dem jugendlichen Weltanschaungsstreben und der »weltanschaulichen Krise«25 der Gegenwart. Kulturphilosophisch bejaht er solche Weltanschauungsbildung zwar als »Wertverwirklichung«,26 fragt aber mit seinem Hallenser Lehrer Utitz auch, ob diese Reaktionsbildungen nicht neoromantische »Fluchtreaktionen« waren. Etwas Einsicht in diese Verlegenheit schreibt Grube auch dem historischen Typus zu: »Kommt eines Tages doch die Erkenntnis, dass Flucht keine Änderung der Welt herbeiführen kann, dass Träume keine Wirklichkeiten schaffen, dann brandet fanatischer Hass gegen das feindliche Bollwerk der gegenwärtigen Kultur an.«27 Für diese frühe Selbstkritik zitiert er Stählin, spitzt seine charakterologische Absage dann aber mit Utitz auf das Schlag- und Stichwort vom »Expressionismus« zu. Grube vertritt grundsätzlich die These, dass die Jugendbewegung dem entspricht, »was wir zwischen ›Naturalismus‹ und ›neuer Sachlichkeit‹ als ›Expressionismus‹ erlebt haben. Der Jugendbewegte ist ein Vertreter des expressionistischen Menschen.«28 Das ist die zentrale – auch von Utitz vertretene – These seiner Dissertation, die er im zweiten Teil »charakterologisch« durcharbeitet. Es sei hier zunächst betont, dass Grube für die unmittelbare Evidenz dieser These von einem Erlebnis spricht (»was wir …. erlebt haben«). Das »Wir«, das er evoziert, bleibt deutlich unterbestimmt. Es könnte die gesamte Mitwelt und alle Zeitzeugen meinen oder auch die kritisch analysierte Generation der Jugendbewegung, die Grube »charakterologisch« und ethisch-appellativ anspricht; es könnte aber in engster und letztlich überzeugendster Lesart auch nur die Vergemeinschaftung des Schülers mit dem eigenen »Doktorvater« meinen, der 1927 »Die Überwindung des Expressionismus« proklamiert hatte. Wenn Grube das Wort »Expressionismus« bei seiner Thesenformulierung, wie zitiert, in Anführungszeichen setzt, zeigt sich das zeitgenössische Schlagwort als Utitz-Zitat. Jedenfalls gibt Grube keine weiteren begrifflichen Analysen und Definitionen von seinen Epochenbegriffen des »Naturalismus«, der »neuen Sachlichkeit« und 24 25 26 27 28
Emil Utitz: Die Kultur in der Epoche des Weltkriegs, Stuttgart 21927. Grube: Charakterologie (Anm. 23), S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.
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des »Expressionismus«, die er als Stilbegriffe dem ästhetischen Diskurs entnahm und deren starke Verwendung als Epochenbegriffe jenseits von Utitz’ Kulturphilosophie keineswegs selbstverständlich war. Die Zweiteilung der Dissertation durch die Unterscheidung zwischen der allgemeinen »Möglichkeit« und dem historischen und generationellen »Grunderlebnis« ist systematisch zwar einleuchtend und interessant, von Grube selbst aber schon der Referenzautoren wegen nicht strikt durchgeführt. Seine Analyse der allgemeinen »Möglichkeit« orientiert sich eng an der zeitgenössischen Literatur. Deshalb wiederholt sich im zweiten Teil manches, was schon angedeutet war. Grube spricht aber nun nicht mehr von einer allgemeinen, humanen oder anthropologischen »Möglichkeit«, verlässt also den Diskurs der Philosophischen Anthropologie im engeren Sinn, und argumentiert fortan als Charakterologe oder Pathognostiker, der einen historischen Typus seziert und dabei ein »Grunderlebnis« als »charakterologisches Sinnzentrum der Jugendbewegung« auslegt.29 Grube erwähnt dafür namentlich die »Freideutsche Jugend« und die »proletarische Jugend« und interessiert sich auch für die innere Entwicklung und Geschichte der Jugendbewegung. Er konstatiert eine »Ichzentriertheit der Lebensorientierung« und fasst vorläufig zusammen: »Die jugendbewegte Lebensorientierung geht im Gegensatz zu der der naturwissenschaftlichen Kulturepoche auf Ichzentriertheit (im angegebenen Sinne) des Lebens, aus der heraus sie zur ungehemmten Hingabe an eine durchseelte Welt gelangt. Sie löst jede Stabilisierung des Lebens auf und erwartet Intensivierung des Erlebens. Sie findet schließlich in der Gleichsetzung von Leben und Erleben eine allgemeine Formel für den Lebenssinn, die letzten Endes nur für den schlechthin genialen Menschen gilt«.30
Diese Sinnbestimmung von Leben als Erleben betrachtet Grube dann in den Formen der »Gemeinschaftsbindung« und unterscheidet dabei zwischen »demokratisierenden« und diktatorisch-»individualisierenden« Vergemeinschaftungen: »Demokratie und Diktatur, beide sind von der Grundlage der Jugendgemeinschaft aus möglich, ja dialektisch bedingt.«31 Grube spricht von einem »Führergefolgschaftsproblem«,32 das er in seiner distanzierenden typologischen Betrachtung aber nicht weiter politisch diskutiert, und problematisiert vielmehr die Eignung des Erlebniskultes zur Schaffung einer neuen Jugendkultur und eines »Persönlichkeitsideals«. Auch hier ist der Befund überaus negativ : Wer Leben als Erleben stilisiert, akzeptiert bürgerliche Berufe nur als Berufung: »Bei der Radikalität der Jb., bei ihrer Zivilisationsfeindschaft, Erlebnissehnsucht, Vitalorientierung, bei der Zweckfreiheit ihrer Kulturformen blieb schlechter29 30 31 32
Ebd., S. 23ff. Ebd., S. 37. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44.
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dings nur die Möglichkeit, für den Beruf die Auswirkungsmöglichkeit der Berufung zu fordern oder zu ersehnen.«33 Das »Persönlichkeitsideal« zielte, so Grube, in die »unbestimmte Weite der Allseitigkeit«. Es folgte ein »Bekenntnis zum Dilettantismus«, das Genialität als »Ideal« prätendierte. Grube schreibt hier am Ende geradezu sarkastisch: »Das Bekenntnis zum Dilettantismus hat erst in der Hoffnung auf das Genie seinen letzten Ermöglichungsgrund.«34 Spöttisch macht er dies noch am »Niveau der Kunstgewerbeerzeugnisse« fest: »Man kann einen merkwürdigen Abstand beobachten, den die Kunstgewerbeerzeugnisse der Jb. in ihrem künstlerischen Niveau zu den Durchschnittsleistungen des übrigen Kunstgewerbes aufweisen, und der gar nicht das Bewusstsein des Unzulänglichen, Dilettantenhaften (im üblen Sinne) bei der Jb. hervorruft.«35
Schon Utitz interessierte sich als Ästhetiker für das zeitgenössische Kunstgewerbe und arbeitete in Halle eng mit der Gewerblichen Zeichen- und Handwerkerschule Burg Giebichenstein zusammen, die heute noch als Kunsthochschule existiert. Auch beim Niveau des Kunstgewerbes argumentierte Grube also vermutlich in einiger Übereinstimmung mit seinem Doktorvater. Die breit angelegte Analyse fasst er in folgende Formulierungen zusammen: »Auf Grund ihrer charakterologischen Struktur musste die Jb. zur Formulierung eines Allseitigkeitsideals kommen, das aber nicht von objektiven Werten her gestaltet ist, sondern als subjektives nur in der Forderung der Auswirkungsmöglichkeit für die Gesamtheit aller individueller Strebungen besteht, d. h. nur in der formalen Beistimmung der Gelöstheit. Es folgt daraus das Bekenntnis zum Dilettantismus, der für die Formenwelt konstitutives Merkmal wird.«36
Ähnlich wie Spranger sieht Grube produktive Auswirkungen eigentlich nur für die Pädagogik. Dazu schreibt er : »Die Anerkennung des Normhaften des Persönlichkeitsideals muss ganz natürlich zu einer Pädagogik im weitesten Sinne führen. ›Pädagogische Angelegenheit‹ (Körber) ist die Jb. daher von Anfang an. Ihre Beziehungen zur modernen Pädagogik seien nur mit einigen Namen von Persönlichkeiten angedeutet, die zu ihr in engerer oder loserer Verbindung stehen: Luserke, Halm, Natorp, Neuendorff, Jöde, Kurella, Kawerau, Wilker, Gurlitt, Klatt, Tepp, Geheeb usw. In der viel gehörten Forderung, jede Unterrichtsstunde müsse den Schülern zum Erlebnis werden, im Gedanken des Arbeitsunterrichts, der dahin führen und gleichzeitig auch dem Individuum den größtmöglichen Spielraum für eine autonome Persönlichkeit lassen soll, in der Betonung des Gemeinschaftsgedankens begegnen sich Jb. und moderne Pädagogik.«37 33 34 35 36 37
Ebd., S. 61. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 66.
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Grube rechnet also charakterologisch mit dem historischen Typus ab. Er schaut auf die »eigentliche Jugendbewegung« des Wandervogel und Hohen Meißner zurück und setzt diese Bewegung als »Übergangs- und Durchgangstyp«38 bei. Für die Gegenwart konstatiert er ein »Ende der Jb. im eigentlichen Sinne«,39 wie Spranger es später rückblickend als organisatorische Verfestigung und Politisierung der »eigentlichen« Jugendbewegung durch die »bündische Jugend« der Weimarer Republik beschrieb. In seinem Dissertationsgutachten nimmt Utitz nicht näher zu Grubes historischer und charakterologischer Beisetzung der Jugendbewegung Stellung. Das Gutachten vom November 1929 lautet: »Herr Kurt Grube hat mit seinen Beiträgen zur Charakterologie der deutschen Jugendbewegung eine gediegene und scharfsinnige Arbeit geliefert. Im ersten Teil untersucht er die Auffassungen, die in der Jugendbewegung einen gewissermaßen zeitlosen Typus erblicken, der darum auch in verschiedenen Epochen sich verwirklichen kann. Er setzt sich darum mit den grundsätzlichen biologischen, weltanschaulichen und kulturellen Möglichkeiten der Jugendbewegung auseinander. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Jugendbewegung im eigentlichen Sinne um einen streng historischen Typus handelt, dessen Charakter er im zweiten Teile – der den Hauptabschnitt bildet – zu umreißen versucht. Er geht dabei von dem »Gesamterlebnis« aus, das er als Gesamtverhalten des Individuums zur Welt kennzeichnet, wobei er sich besonders der Begriffe der Erlebnisbeschränkung, der negativen Erlebnisakte und weiterhin der Ich- und Sachzentrierung bedient. Die nähere Ausdeutung jenes Grunderlebnisses vollzieht er durch Prüfung seiner Beziehungen zur Lebensorientierung, zu Gemeinschaft und Gesellschaft, Natur und Kultur, Metaphysik und Religion, und zu personalen Idealbildungen. Herr Grube stützt sich in seinen Ausführungen auf eine sehr umfassende Literatur und auf seine eigenen Erfahrungen. Angesichts des schwierigen Themas ist es besonders anzuerkennen, dass es dem Verfasser gelungen ist, den Typus der Jugendbewegung charakterologisch mit bemerkenswerter Klarheit zu erfassen.«40
Grubes Dissertation wurde hier – im Archiv der Jugendbewegung – breiter dargestellt, um den Ausgangspunkt für die spätere Wendung zur Bildungsgeschichtsschreibung zu markieren. Es wurde der »charakterologischen« Kritik nicht zugestimmt und nur die grundbegriffliche Nähe und Abhängigkeit vom Doktorvater betont, ohne den Standort dieser frühen Kritik in der Jugendbewegung oder die kritischen Topoi näher zu verorten. Eine zeitgenössische Kritik der Erlebnissehnsucht und des Erlebniskultes findet sich schon bei Max Weber. Weber münzte seine Kritik ausdrücklich auf die Jugendbewegung, so in Burg Lauenstein. Es sei erinnert, dass Weber seine Münchner Berufungsvorträge, 38 Ebd., S. 17. 39 Ebd., S. 70. 40 UAHW, Rep. 21, Nr. 678.
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»Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf«, auf Einladung der »Freistudentischen Jugend« hielt. Innerhalb dieser Vorlesungsreihe sollte Georg Kerschensteiner über »Erziehung als Beruf« sprechen; der einladende Organisator Immanuel Birnbaum gab ihm als Thema die Unterscheidung zwischen Beruf und Berufung vor. Birnbaum formulierte als Vortragsfrage: »Wie ist geistige Arbeit als Beruf ihren inneren u. äußeren Bedingungen nach heute überhaupt möglich?«41 Mit ähnlichen Worten wird Birnbaum auch Weber instruiert haben. Während Weber aber nach seiner Beschreibung der »äußeren Bedingungen« die innere »Berufung« ins Anforderungsprofil hineinschrieb und sich damit vor dem jugendbewegten Publikum als charismatischer Führer empfahl, problematisierte Grube überspannte Forderungen der »Berufung« als jugendbewegte Gleichsetzung von Leben und Erleben. Grubes kritische Topoi ließen sich näher begriffsgeschichtlich untersuchen. Starke polemische Beisetzungen des Erlebniskultes gibt es spätestens seit Hegels ätzender Romantikkritik, die bis auf Carl Schmitts »Politische Romantik« und neuere Abrechnungen wirkte. Grube formulierte seine Romantikkritik als Expressionismuskritik. Dabei blieb sehr unbestimmt, was er eigentlich als »Expressionismus« begriff, wenn nicht die genialistische Auslegung des Erlebniskultes. Seine Verwendung des Schlagworts lässt sich nicht mit den heutigen ästhetischen Epochenbegriffen ohne Weiteres gleichsetzen. Die jugendbewegte Fahrtenromantik verbinden wir heute alltagssprachlich und spontan schwerlich mit dem Schlagwort des Expressionismus, für das etwa (Berliner) Großstadtlyrik und grelle Straßenszenen stehen, apokalyptische Landschaften, Bordelle und Bars, Ernst Ludwig Kirchner, Gottfried Benn oder auch Arnold Schönbergs »Pierrot Lunaire«. Wer Jugendbewegung mit Expressionismus kurzschließt, kann für die gegenmoderne Natürlichkeitsromantik eher schon Otto Müllers nudistische Badeszenen assoziieren, deren morbide Pädophilie freilich den sentimentalischen Charakter dieses Natürlichkeitsstrebens verrät. Die neoromantische Maske des Mittelalters, die die Jugendbewegung stilisierte, ist dem Expressionismus fremd. Er steht, wie Utitz meinte, für eine apokalyptische Wahrnehmung von Weltkrieg und Zeitenwende, für Bilderstürze und Formzertrümmerung. Grube stellt ihn zwischen Naturalismus und Neue Sachlichkeit. Dabei hofft er vielleicht, dass der Bruch zwischen »Natur« und Erleben, Mensch und Welt, zu »sachlichen« oder funktionalen Formen findet, mit denen der Mensch im urbanen Alltag wieder heimisch wird. Grube führt seine Begriffe aber nicht systematisch aus. Weil seine Expressionismuskritik vage bleibt, eigentlich nur auf Utitz verweist, muss sie hier nicht weiter diskutiert werden. 41 Birnbaum am 20. September 1918 an Max Weber, ediert in: Reinhard Mehring: Georg Kerschensteiner, Erziehung als Beruf. Erstveröffentlichung eines Vortrags, in: Pädagogische Rundschau, 2014, 68. Jg., S. 626–644, hier S. 629.
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Es sei nur angedeutet, dass eine kritische Diskussion des Expressionismusverdikts neben der Verwendung bei Utitz auch den weiten zeitgenössischen Gebrauch des Schlagworts untersuchen und dabei zwischen Affirmation und Polemik unterscheiden müsste. Wenn Thomas Mann etwa in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« seinen zivilisationsliterarischen Bruder als »Expressionisten« rubriziert und kritisiert, ist ein großzügiger polemischer Umgang mit der Vokabel zu konstatieren. Mann definierte: »Expressionismus, ganz allgemein und sehr abgekürzt zu sprechen, ist jene Kunstrichtung, welche, in heftigem Gegensatz zu der Passivität, der demütig aufnehmenden und wiedergebenden Art des Impressionismus, die Nachbildung der Wirklichkeit aufs tiefste verachtet, jede Verpflichtung an die Wirklichkeit entschlossen kündigt und an ihre Stelle den souveränen, explosiven, rücksichtslos schöpferischen Erlass des Geistes setzt.«42
Thomas Mann definierte also durch Gegenbegriffe und präzisierte sogleich: »Impression und Expression waren allezeit beide notwendige Elemente des Künstlerischen […] Der Gegensatz von impressionistischer und expressionistischer Kunst ist der von Realismus und Groteske. Tolstoi und Dostojewski, der realistische Plastiker und der visionäre Groteskkünstler stehen sich da innerhalb einer Nation und Epoche in voller Größe gegenüber. Zu fragen, wer der Größere sei, bleibt müßig.«43 Thomas Mann grenzte sich damals vom »expressionistisch-satirischen Gesellschaftsroman« seines Bruders polemisch ab. Heinrich Mann wurde damals tatsächlich als ein Vater des literarischen Expressionismus betrachtet. So meinte Gottfried Benn 1931 rückblickend: »Wir feiern den Meister, der uns alle schuf.«44 Thomas Mann polemisierte aus der Defensive gegen eine exklusive Gleichsetzung von Expressionismus mit Avantgarde. Seine Relativierung des Expressionismus-Gütesiegels zielte zunächst auf die Anerkennung einer ästhetischen Augenhöhe, konnotierte den Expressionismus in der eigenen Definition dann freilich negativ als »Groteske« und spielte dagegen den »Realismus« positiv aus. Auch Mann betonte den Anti-Naturalismus des Expressionismus. Man könnte seinen positiven Begriff vom »Realismus« in die Nähe der »Neuen Sachlichkeit« rücken, die Grube im Einklang mit Utitz als epochale Überwindung des Expressionismus betrachtete. Thomas Manns letzte ästhetische Gegenbegriffe heißen in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« aber »Ironie und Radika-
42 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1974, S. 564. 43 Ebd., S. 564 f. 44 Gottfried Benn: Heinrich Mann zum sechzigsten Geburtstag, in: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1959, Bd. I, S. 129–139, hier : S. 138.
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lismus«; Mann verband den expressionistischen Bruder mit Radikalismus und bekannte sich selbst zur liberalkonservativen Ironie. Der Seitenblick auf Mann sollte nur andeuten, dass eine weite und polemische Auffassung des Expressionismus damals zeitgenössisch durchaus geläufig war. Utitz und Grube sind hier keine Einzelfälle. Die normative Kritik argumentierte dabei nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch und politisch. Eine nähere »charakterologische« Diskussion des Expressionismus wäre interessant. Mann definierte den deutschen Nationalcharakter45 in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« mit Dostojewski als »protestierende« Nation. Der expressionistische Aufbruch vor 1918 setzte ästhetisch, ethisch wie politisch tatsächlich enorme Energien frei, die mit der anarchistischen Rede von »schöpferischer Destruktivität« recht euphemistisch umschrieben sind. Wer den Aufbruch der Jugendbewegung »expressionistisch« nennt, sollte nicht vergessen, dass intellektuelle Erben der Jugendbewegung, so Martin Heidegger, auch Hölderlin als expressionistischen Dichter des 20. Jahrhunderts rezipierten und dabei das Erbe Stefan Georges im Hölderlin-Kultus fanden. Die poetische Stilisierung und hymnische Selbstauffassung der Jugendbewegung mündete in der ästhetischen Spitze in solche Formen.
Grube in Prag Utitz prüfte am 18. Dezember 1929 mündlich über die Phytagoreer und Platon, Kant und Dilthey. Der Zweitgutachter Paul Menzer (1873–1960), ein DiltheySchüler, fragte nach Comenius’ Pansophie, den pädagogischen Ideen der Aufklärung, Philanthropie und Neuhumanismus sowie Kerschensteiners Konzept staatsbürgerlicher Erziehung. Die Verhältnisbestimmung von pädagogischem Philantropismus und Neuhumanismus wurde Grube dann zum Thema seiner Habilitation. Mir sind leider keine Quellen bekannt, die seinen Wechsel an die Deutsche Karls-Universität dokumentieren. Sicher wechselte er aber nicht zusammen mit Utitz nach Prag. Wahrscheinlich war er 1933 weder »rassisch« noch politisch verfolgt. Es ist möglich, dass er lediglich um seiner Habilitationsperspektiven willen nach Prag wechselte. Es ist freilich auch möglich, dass er vor der nationalsozialistischen Politisierung auswich und seinem akademischen Lehrer weiterhin verbunden bleiben wollte. Wir wissen aber nicht, was Grube nach seiner Dissertation machte und wann genau er nach Prag wechselte. Utitz wurde jedenfalls zum Wintersemester 1933/34 aus Halle vertrieben und 45 Mit Orientierung an Thomas Mann jetzt Dieter Borchmeyer : Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017; dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2017, 65. Jg., S. 782–783.
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bald darauf nach Prag berufen, weil der Lehrstuhl des verstorbenen Christian v. Ehrenfels gerade vakant war. Erst zum Wintersemester 1934/35 war seine Berufung formal vollzogen. Grube war damals bereits in die Prager Erziehungswissenschaften gewechselt und das Habilitationsverfahren lief bereits. Seine umfangreiche und akademisch anspruchsvolle Monografie erschien 1934 im Druck. Grubes Wechsel in die Erziehungswissenschaften bedeutete damals aber keinen Bruch mit Utitz und der Philosophie. Als Utitz Anfang 1935 mit Jan B. Koz#k zusammen einen ambitionierten philosophischen Gesprächskreis gründete, den Cercle philosphique, wurde Grube vielmehr sein Sekretär der deutschsprachigen Fraktion innerhalb des deutsch-tschechischen Kreises, der ein verständigungsorientiertes Kooperationsprojekt zwischen den philosophischen Instituten der nationalistisch zerrissenen und verstrittenen Prager Universitäten war. Sekretär der tschechischen Seite war der bereits erwähnte Jan Patocˇka, mit dem Grube in Prag in engem Kontakt stand. Die Aktivitäten des Cercle sind hier nicht zu schildern. Als Höhepunkt gelten die berühmten KrisisVorträge Edmund Husserls vom November 1935, die Husserl, der gebürtige Mähre, sowohl in der deutschen als auch der tschechischen Universität hielt. Grube führte organisatorische Korrespondenz mit Husserl, einige Briefe sind erhalten. Er betreute bis zu seinem Tod auch die Publikation der Cercle-Vorträge in der Emigrationsfachzeitschrift »Philosophia«, die in Belgrad erschien.
Humboldt-Revokation 1935 Grube habilitierte sich mit einer pädagogikgeschichtlichen Arbeit zum Übergang aus dem Philanthropismus in den Neuhumanismus. Die Habilitationsschrift »Die Idee und Struktur einer rein menschlichen Bildung« analysierte den Schritt vom Philanthropismus zum Neuhumanismus als Schritt in die »Immanenz« und »Wendepunkt zu einer rein-menschlichen Bildung«.46 Grube betonte den Einfluss von Rousseau und arbeitete den damaligen pädagogischen Diskurs breit auf. Die Säkularisierung und Umbesetzung des pietistisch beeinflussten Philanthropismus in den Neuhumanismus war ein zentrales Kapitel deutscher Bildungsgeschichte: der Schritt in die säkulare und ökumenische Moderne. August Hermann Francke und die »Franckeschen Stiftungen« in Halle waren hier wegweisend. Grube schrieb seine Habilitation also über ein Ruhmeskapitel der Hallenser Universität, behandelte aber darüber hinaus auch die »reine Menschenbildung« bei Herder, Humboldt, Goethe und Schleiermacher. Sogleich schloss er eine schmale Monografie über »Wilhelm v. Humboldts Bildungsphi46 Kurt Grube: Die Idee und Struktur einer rein-menschlichen Bildung. Ein Beitrag zum Philanthropismus und Neuhumanismus, Halle 1934, S. 16.
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losophie«47 an und vollendete so seine Geschichte des Übergangs in die »reinmenschliche« Bildung. Diese Humboldt-Monografie muss als positives Gegenstück zur Dissertation und bildungsphilosophisches Vermächtnis gelten. 1935 feierte man Humboldts 100. Todestag.48 Während exponierte nationalsozialistische Pädagogen, wie Bäumler und Krieck, damals größere Beiträge zum Humboldt-Jubiläum mieden, weil ihnen die Schlacht gegen Humboldt schon gewonnen schien, suchten nationalliberale Repräsentanten wie Spranger noch einmal eine Ehrenrettung. Der exponierte Nationalsozialist Wilhelm Grau49 rückte dagegen Humboldts enge Kontakte zum Berliner Judentum in antisemitisches Zwielicht. Ludwig Feuchtwanger thematisierte damals in der »Jüdischen Rundschau« die geschichtspolitische Bedeutung der Humboldt-Kontroverse:50 Es ging um den universalistischen Weimarer Neuhumanismus und die deutschjüdische Symbiose insgesamt. Grube datiert den Abschluss seiner Monografie mit dem 8. April 1935 auf Humboldts 100. Geburtstag. Einleitend richtet er sich ausdrücklich gegen das aktuell vorherrschende »Verdammungsurteil«51 und verteidigt auch den Politiker Humboldt. Grube rekonstruiert Humboldts »weltanschauliche Grundhaltung« immanent. Dazu schreibt er im Vorwort: »Vielleicht gelingt es so, den Gegentypus zu finden zu einem Bild vom Menschen, wie es sich in der Gegenwart schon deutlich profiliert. Das gegenwärtige neue Bild des Menschen in seiner Struktur darzustellen, muss einer besonderen Untersuchung vorbehalten werden, die die vorliegende Schrift zu ihrer Voraussetzung hat.«52 In der dazugehörigen Fußnote schreibt Grube: »Man kann A. Baeumlers Aufsätze in ›Männerbund und Wissenschaft‹ (Berlin 1934) als einen ersten Versuch, das neue Bild vom Menschen in der Gegenwart zu zeichnen, ansehen.«53 Auch heute noch würde eine Darstellung der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus daran anknüpfen. Im Vorwort schreibt Grube zur Untersuchung auch: »Sie will nur deskriptiv aufweisend darstellen, wie sich das Strukturgefüge Humboldtschen Denkens aufbaut. Die weltanschaulichen Folgerungen für die gegenwärtige Lage zu ziehen, muss […] einer späteren Arbeit vorbehalten werden, die erst 47 Kurt Grube: Wilhelm v. Humboldts Bildungsphilosophie, Halle 1935. 48 Dazu eingehender Reinhard Mehring: Humboldt 2017–1935, in: Erfindung (Anm. 1), S. 177–191; zeitgenössisch ergänzend Siegfried Kaehler : Individualismus und Staatserlebnis. Zum 100. Todestag Wilhelm von Humboldts, in: Neue Rundschau, 1935, 46. Jg., S. 512–531. 49 Wilhelm Grau: Wilhelm v. Humboldt und das Problem des Juden, Hamburg 1935. 50 Ludwig Feuchtwanger : Verändertes Geschichtsbild. Die Emanzipation vor 125 Jahren – Wilhelm v. Humboldt, in: Jüdische Rundschau, 40. Jg., Nr. 86 vom 25. Oktober 1935; Wiederabdruck in: ders.: Auf der Suche nach dem Wesen des Judentum. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte, Berlin 2011, S. 18–21. 51 Grube: Bildungsphilosophie (Anm. 47), S. 1. 52 Ebd., S. 2. 53 Ebd., S. 98 Fn. 1.
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dann zu leisten ist, wenn Typ und Gegentyp in ihren Strukturen einigermaßen durchsichtig geworden sind.«54 Wenn Grube Humboldt derart gegen Baeumler profiliert, scheint er sich eindeutig vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Tatsächlich ist in seiner konzisen Rekonstruktion auch nicht der geringste Einwand und Vorbehalt gegen Humboldt zu erkennen. Grubes charakterologische Auffassung von Humboldts Philosophie stellt die Bedeutung von Ideen und Idealen für die Selbstformung des Individuums eindringlich heraus und spricht hier terminologisch von einem »Übergang der reinen Charakterologie zur Bildungstheorie«.55 Grube begreift es als spezifisch pädagogische Einsicht und Betrachtungsweise, die Selbstbildung des Individuums nicht von fixen Normen und Zwecken her zu verstehen, sondern von einer Selbsttranszendenz des Individuums in »Richtung auf die Idee« oder ein IchIdeal. Grube rekonstruiert diesen »idealen Charakter« textgenau und überzeugend. Mit Humboldt erfasst er dabei auch die »Wechselwirkung« von Selbstgestaltung und »Weltgestaltung« und sympathetische Verbundenheit der Menschen in einer »menschlichen Welt«. Grube verwahrt Humboldt gegen das Klischee eines weltlosen, selbstgenügsamen Individualismus. Am Beispiel der Jugendbewegung hatte er erstmals die Selbsttranszendenz des Individuums erfasst: die Lebensgestaltung aus der Idee und Sorge um mögliche Zukunft. Im Spektrum der neuhumanistischen Autoren eignete sich Humboldt dann besonders gut für die paradigmatische Explikation der Bildung als Selbstbildung und Selbstgestaltung eines Individuums. Grube war mit seiner Monografie und mehreren Humboldt-Vorträgen und -Aufsätzen ein exponierter Akteur des Humboldt-Jubiläums von 1935. Nach seinem frühen Tod veröffentlichte der Prager Erziehungswissenschaftler Ernst Otto als fünften Band der von Grube begründeten Reihe zur »Pädagogik in Geschichte, Theorie und Praxis« eine Broschüre mit zwei unpublizierten Vorträgen, darunter einem Humboldt-Vortrag. Im Vorwort schreibt Otto dazu, dass Grube sich Humboldt als seinem »großen Meister […] in tiefster Seele verpflichtet«56 gefühlt hatte. Der Vortrag »W. v. Humboldt und die weltanschauliche Entscheidung« wurde Anfang April 1935, zum 100. Todestag, in den Kantgesellschaften von Dessau und Bernburg im nationalsozialistischen Reich gehalten. Grube stellt sich hier auf den Standpunkt des nationalsozialistischen Reiches und fragt: »Muss uns Humboldt nicht ein Toter sein, Humboldt der Staatsfeind, der Liberalist, der Individualist, der Idealist, der Mann eines versinkenden
54 Ebd., S. 4. 55 Ebd., S. 40ff. 56 Ernst Otto: Vorwort, in: ders. (Hg.): Kurt Grube: Wilhelm von Humboldt und die weltanschauliche Entscheidung. Das Problem der Humanität. Aus den hinterlassenen Schriften des Begründers der Sammlung, Halle 1937, S. 6.
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Jahrhunderts?«57 Grube empfiehlt dann aber, die »weltanschauliche Entscheidung« zunächst einzuklammern und Humboldts Position einfach historisch zur Kenntnis zu nehmen. Grube geht nun vom nationalsozialistischen Umbruch aus und meint: »Wir wissen: die Vorordnung der Weltgestaltung in der Form der Staatsgestaltung ist unsere eigene heutige Entscheidung. Die Vorordnung der Persongestaltung in der Form der Bildung des Individuums ist die Grundentscheidung Humboldts. In Humboldt haben wir damit irgendwie den Gegentypus zu unserer Zeit zu sehen. Und hierin ruht auch das, was man Humboldt als Individualismus heute zum Vorwurf macht.«58 Grube rekonstruiert dann erneut Humboldts Individualismus und Idealismus. Am Ende verteidigt er weniger den Individualismus als den Idealismus und schweigt weitgehend von Humboldts Liberalismus. Grube meidet insgesamt eine Erörterung des Verhältnisses von Individualismus und Liberalismus. Den politischen Idealismus hält er aber für vorbildlich. Grube sagt: »Wir stehen heute auch in einem Neubau der Welt. Und das Problem, die Menschen für diesen Neubau in eine neue Form zu bringen, ist uns eine der dringendsten Angelegenheiten. Wir beginnen mit dieser Menschenformung unmittelbar bei der Gemeinschaft, Humboldt begann beim Individuum.«59 Als Schlusssatz meint er sogar : »Er wird in unseren Reihen mitmarschieren.«60 Viele Hörer werden das damals als Affirmation des Nationalsozialismus verstanden haben. Es ist dennoch nicht klar, wie sein »wir« zu verstehen ist: Stellte Grube sich lediglich rhetorisch auf den Standpunkt der kollektivistischen Revolution oder akzeptierte er ernstlich den neuen Primat der Politik? Seine affirmative Rekonstruktion von Humboldts Standpunkt war eigentlich unnötig, wenn Grube tatsächlich von Humboldt zum Nationalsozialismus übergelaufen wäre. Auch Ernst Otto und Utitz meinten dies in ihren Nekrologen aber offenbar nicht. Ich gehe davon aus, dass Grube sich damals in Dessau und Bernburg, auf dem Territorium des nationalsozialistischen Reiches, nur rhetorisch, gleichsam ironisch-pädagogisch, auf den nationalsozialistischen Boden der Hörer stellte, um für Humboldts Individualismus und Idealismus zu werben. Seine eigenen Publikationen dienerten sich mit keinem Wort an den Nationalsozialismus an. Der Humboldt-Vortrag aber schwankt etwas zweideutig zwischen philosophischer Aktualisierung und historischer Besetzung. Leider fehlen die Quellen, Grubes politische Entwicklung nach 1933 deutlich zu sehen. Es scheint aber, dass Grube neuhumanistische Positionen vertreten wollte und die Wendung zur Bildungsgeschichtsschreibung als Strategie ver57 58 59 60
Grube: Entscheidung (Anm. 56), S. 8. Ebd., S. 16. Ebd., S. 24. Ebd.
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stand, unliebsame Positionen zeithistorisch zu erinnern. Die Historisierung war vermutlich nicht als Beisetzung gedacht. Will man Grubes Akkomodation an Ernst Otto gerecht beurteilen, muss man seine schwierige karrierestrategische Lage bedenken: Prag allein bot keine Zukunft; die Tür akademischer Heimkehr ins Reich konnte Grube, endlich verheiratet, ungestraft kaum zuschlagen. Seine Karriere war aus nationalsozialistischer Sicht durch den jüdischen Doktorvater ohnehin schwer belastet. Grubes Publikationen zeigen jenseits deutlicher Historisierungsmarker keinerlei nationalsozialistische Belastung. Es sind letzte Erinnerungen an die »rein menschliche« Bildung des Neuhumanismus im Diskursfeld einer nationalistisch und nationalsozialistisch vergifteten Pädagogik.
Schluss: nur eine Fußnote zur Bildungsgeschichtsschreibung? Kurt Grube verstarb früh mit gerade 33 Jahren. Auch unabhängig von den schwierigen sozialen Umständen seiner Karriere ist der akademische Output seines Lebens deshalb eindrucksvoll. Seine Monografien sind thematisch konzentriert, bauen sinnvoll aufeinander auf, sind historisch gelehrt und insbesondere die Humboldt-Monografie ist auch philosophisch überzeugend. Die Tagung fragte nach der retrospektiven Erfahrungsauslegung der Jugendbewegung: Für Grube ist das nur bis 1936 zu sagen. Die Anfälligkeit und partielle Verantwortung der Jugendbewegung für ihre Nazifizierung war zwar nach 1945 offenbar. Zahlreiche nationalsozialistische »Führer« waren von der Jugendbewegung geprägt. Die Politisierung der Jugendbewegung war aber nicht erst nach 1945 erkennbar. Sie war den Akteuren schon vor und nach 1933 deutlich. Spranger wie Grube betonten deshalb auch beide früh schon den Bruch zwischen der »eigentlichen« Jugendbewegung des Hohen Meißner und der bündischen Jugend der Weimarer Republik. Die Politisierung vor 1933 unterschied sich vielleicht nur graduell von der späteren Militarisierung und Durchorganisation nach dem »Führerprinzip«. Auch in Weimar schon schien der Aufbruch der ersten Generation des Hohen Meißner teils romantisch verklärte Geschichte gewesen zu sein. Grube beantwortete seine Sicht des »Endes« der eigentlichen Jugendbewegung und seine charakterologischen Vorbehalte gegen die Flucht vor den bürgerlichen Bildungen mit einer Rückwendung zum Neuhumanismus der Goethezeit. Seine rekonstruktive Historisierung ist anregend und originell. Sein Lebenswerk brach aber allzu frühzeitig ab. Vielleicht war eine Revokation der »rein menschlichen« Bildung im nationalsozialistischen Reich damals für einen Nachwuchswissenschaftler kaum noch möglich. Vermutlich musste man außerhalb des Reiches in Prag sein, um Humboldt erneut zu beschwören, ohne seine Karriere als Nachwuchswissenschaftler zu begraben. Jenseits philologisch
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heute nur schwer zu klärender Fragen bleibt Grube jedenfalls als Repräsentant des Dreisprungs aus der Jugendbewegung in den Beruf des Volksschullehrers und die Bildungsgeschichtsschreibung beachtlich. Im pädagogischen Diskurs gab es damals offenbar die Alternative des Sprungs in die politische Pädagogik des Nationalsozialismus einerseits und der Rückkehr zum Neuhumanismus andererseits. Der Rückgang auf Humboldt ist auch heute noch eine vielfach vertretene und ehrwürdige Position. Während die Humboldt-Rhetorik schulund hochschulpolitisch dabei mitunter ziemlich plakativ und lautstark gepflegt wird, ging Humboldts 250. Geburtstag am 22. Juni 2017 doch sehr leise über die Bühne. Kurt Grube hatte den 100. Todestag dagegen für eine Revokation des Neuhumanismus in dunklen Zeiten eindrucksvoll genutzt.
Benedikt Brunner
Links und jugendbewegt. Walter Dirks, Helmut Gollwitzer und ihre vergangenheitspolitischen Programme
Einleitung Walter Dirks (1901–1991) und Helmut Gollwitzer (1908–1993) sind auf den ersten Blick vielleicht unwahrscheinliche Vergleichspole. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von interessanten Aspekten im Werk und Leben der beiden, die einen Vergleich lohnenswert erscheinen lassen.1 So beeinflussten beide als „public intellectuals“2 in hohem Maße die politischen und theologischen Diskurse ihrer Zeit, wobei sie vor allem durch ihre enorm hohe Zahl an Publikationen wirkten.3 Sowohl Dirks als auch Gollwitzer wurden in erheblichem Maße durch die Erfahrungen, die sie während der Zeit des Nationalsozialismus machten, geprägt und versuchten diese Erfahrungen in ihre vergangenheitspolitischen Programme einfließen zu lassen.4 Und nicht zuletzt wurden beide dem „linken“ Spektrum ihrer Konfessionen zugeordnet, was ebenfalls eine erklärungswürdige Koinzidenz darstellt.5 Im Folgenden soll in einem ersten Schritt 1 Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass eine weitere Gemeinsamkeit auch in der unverhältnismäßigen Zurückhaltung der (historischen) Forschung zu beiden Persönlichkeiten besteht, was sich erst langsam ändert. Zu Dirks vgl. demnächst Benedikt Brunner u. a. (Hg.): „Sagen was ist“. Walter Dirks in den intellektuellen und politischen Konstellationen Deutschlands und Europas, Bonn (Politik- und Gesellschaftsgeschichte) [im Druck] sowie die in der Entstehung begriffene Bonner Dissertation von Gabriel Rolfes. Vgl. zu Gollwitzer W. Travis McMaken: Our God Loves Justice: An Introduction to Helmut Gollwitzer, Minneapolis, MN 2017; Andreas Pangritz: „Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft.“ Das Lebenswerk Helmut Gollwitzers (1908–1993), Stuttgart 2018 und Gottfried Orth: Helmut Gollwitzer. Zur Solidarität befreit, Mainz 1995. 2 Vgl. Richard A. Posner: Public Intellectuals. A Study of Decline, Cambridge (MA) 2003. 3 Die entsprechenden Bibliografien nennen im Falle Gollwitzers 1097 Veröffentlichungen, im Falle Dirks’ gar 4108 Publikationen, hinzu kommt in beiden Fällen noch eine umfangreiche archivalische Überlieferung. 4 Einen Teil dieser Fragen habe ich im Hinblick auf Dirks untersucht in meinem Beitrag in: Brunner (Hg.): Sagen (Anm. 1); vgl. ferner ders.: Ein „singender Stotterer“ – Walter Dirks und die „Kulturkrise“ der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2018, 70. Jg., S. 29–51. 5 Vgl. Jean-Yves Para"so: Walter Dirks (1901–1991) – Christ und Linkssozialist, in: Interna-
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die Bedeutung der Jugendbewegung für die Sozialisation der beiden Intellektuellen nachgezeichnet werden, ehe im Anschluss auf ihre spezifischen Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus eingegangen wird. Hiernach werden die vergangenheitspolitischen Programme der beiden nach 1945 rekonstruiert und ein besonderes Augenmerk auf die Rolle der Jugendbewegung gerichtet.
Jugendbewegung als Sozialisationsinstanz Grundsätzlich versteht man unter Sozialisation „den Prozess, in dem der Mensch die Normen und Werte der Gruppen, denen er angehört, lernt.“6 Eine weitere grundlegende Definition stammt von Dieter Geulen, nach dem „[i]m Prozess der Sozialisation […] der Mensch durch die Gesellschaft und ihre jeweils historischen, materiellen, kulturellen und institutionellen Bedingungen konstituiert und geformt [wird], und zwar im eigensten Wesen als Subjekt.“7 Sozialisationstheorien haben also den Anspruch, auf wissenschaftlich nachvollziehbarem Wege zu erklären, wie die Entstehung des Subjekts, also der Identität eines Individuums vonstattengeht. Moderne Sozialisationstheorien gehen davon aus, dass es sich hierbei um einen lebenslangen Prozess handelt, in dem sich der Mensch immer neu Dinge aneignet und sich in seinem Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Faktoren definiert.8 Sowohl Dirks als auch Gollwitzer waren „Jugendbewegt geprägt“9, wobei der Forschungsstand in dieser Hinsicht durchaus disparat ist. Gute Kenntnisse bestehen über die Bedeutung der Jugendbewegung im Hinblick auf Walter Dirks.10
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tionale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1995, 31. Jg., S. 498–519; zu Gollwitzer : Thomas Kroll: Der Linksprotestantismus in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann, in: ders., Tilman Reitz (Hg.): Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, S. 103–122. Helmut Fend: Sozialisierung und Erziehung, Weinheim, Basel 1973, S. 11, zitiert nach Kurt Mühler : Sozialisation. Eine soziologische Einführung, München 2008, S. 43. Dieter Geulen: Das vergesellschaftete Subjekt: zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt a. M. 1989, S. 11, zitiert nach ebd., S. 44. Vgl. Mühler : Sozialisation (Anm. 6), S. 50. Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen (Formen der Erinnerung 52), Göttingen 2013. Vgl. Ulrich Bröckling: Walter Dirks, in: Stambolis: Essays (Anm. 9), S. 209–222. Der wichtigste Aufsatz zu Dirks stammt nach wie vor von Klaus Große Kracht: Das Pneuma der Kritik, oder: Linkskatholizismus als intellektueller Habitus, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 66), München 2009, S. 21–37.
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Wie Ulrich Bröckling gezeigt hat, erlebte dieser im katholischen Quickborn ein Initialerlebnis von geradezu therapeutischer Tragweite.11 Wie Dirks in der autobiografischen Rückschau berichtet, habe sich in der Jugendbewegung nämlich sein Stottern verloren. Sie habe ihn „froh und frei gemacht“ und ihn in vielem zurechtgerückt.12 Im Quickborn wurde der katholische Theologe und Priester Romano Guardini (1885–1968)13 zu einer ganz entscheidenden Orientierungsfigur für den jungen Dirks, der eine Zeitlang auch als dessen Privatsekretär fungierte und von ihm an die liberale Rhein-Mainische Volkszeitung vermittelt wurde.14 Die große Bedeutung Guardinis unterstreichen auch die immer wiederkehrenden publizistischen Erinnerungsfragmente an ihn.15 Die prägende Kraft der Jugendbewegung wird in einer Rede besonders deutlich, die im „Burgbrief“ des Quickborn abgedruckt wurde. Im Quickborn versuche man seiner Ansicht nach gemeinsam „Einsicht zu gewinnen über den Menschen, wie er nach Gottes Schöpferwillen und in der Ordnung der Erlösung wirklich ist.“16 Besonders beeindruckt habe ihn als jungen Mann der Geist der Gemeinschaft und der Bruderschaft „derer, die gemeinsam aufgebrochen waren nach einem noch nicht genau erkannten, aber groß gefühlten Ziel“17 und nicht zuletzt auch das Gefühl der Bruderschaft in der Kirche. Allerdings erkennt Dirks auch ganz nüchtern, dass die Zeiten auch am Quickborn nicht spurlos vorüber gegangen sind: „Heute lebt Quickborn in einer anderen Welt. Es hat keinen Sinn mehr, gegen den Trinkzwang und den Stehkragen in der Weise zu protestieren, wie wir das 11 Bröckling: Dirks (Anm. 9), S. 211. Zum Quickborn vgl. Johannes Binkowski: Jugend als Wegbereiter. Der Quickborn von 1909 bis 1945, Stuttgart 1981. Vgl. schon zeitgenössisch Walter Dirks: Katholische Jugendbewegung, in: Gaublatt des westfälischen Quickborn, 1921, 2. Jg., H. 12, S. 136f., wiederabgedruckt in: Walter Dirks: Republik als Aufgabe. Publizistik 1921–1933 (Gesammelte Schriften 1), hg. v. Fritz Boll, Ulrich Bröckling, Karl Prümm. Mit einem Vorwort von Walter Dirks und einer Einleitung von Karl Prümm, Zürich 1991, S. 33–37. 12 Vgl. Bröckling: Dirks (Anm. 9), S. 212. 13 Vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Romano Guardini. Konturen des Lebens und Spuren des Denkens, 3., aktualisierte Auflage, Kevelaer 2017. 14 Zu dieser vgl. Bruno Lowitsch: Der Kreis um die Rhein-Mainische Volkszeitung. Mit einem Geleitwort von Oswald von Nell-Breuning, Wiesbaden 1980. 15 Vgl. beispielsweise Walter Dirks: Romano Guardini, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart u. a. 1966, S. 248–252; ders.: Anfänge und Folgen katholischer Jugendbewegung, in: Elisabeth Korn, Otto Suppert, Karl Vogt (Hg.) im Auftrag des Hauptausschusses zur Vorbereitung des Meißnertages 1963: Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf u. a. 1963, S. 243–250, zu Guardini: S. 249; ders.: Guardinis Wirkung, in: Frankfurter Hefte, 1965, 20. Jg., S. 76. 16 Walter Dirks: Rede zur Abzeichenverleihung am Ende der Werkwoche der Mittelschicht des Bundes Quickborn, in: Burgbrief, 1954, Nr. 3/4, S. 23–29, hier S, 23. Für die Überlassung dieses Artikels danke ich Herrn Gabriel Rolfes, Bonn. 17 Ebd., S. 24.
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damals getan haben. Es gibt heute ganz andere Dinge, gegen die zu protestieren ist, und gegen die man nicht einfach mehr durch Demonstration eines bestimmten symbolischen Verzichtes oder durch ein entgegengesetztes Symbol protestieren kann. So einfach, wie wir uns damals die Erneuerung der Gesellschaft und der Kultur vorgestellt haben, ist es nicht gewesen.“18 Guardini sei es dann vor allem gewesen, der den Quickborn zu einem Bildungsereignis gemacht habe. Unter Bildung versteht er dabei „nicht etwas Intellektuelles, etwas für die studierte Schicht, sondern […] die Grundform der menschlichen Gestalt in der Aneignung des Geistes […].“19 Romano Guardini habe die Generation, auf die er im Quickborn traf, in die Auseinandersetzung mit diesem Geist, der sich etwa in der Kunst oder der Philosophie manifestiere, geführt. Die andere Herausforderung, die Walter Dirks nennt, ist die der Politik. Er analysiert recht schonungslos, dass viele im Zuge der Ruhrbesetzung 1923 völkisch beziehungsweise nationalistisch geworden seien, nach dem im Großen und Ganzen die Quickborner eher unpolitisch gewesen wären. Andere aber „hat diese Erfahrung der Ruhrbesetzung, der Konflikt, der unser eigenster, persönlicher Konflikt wurde, in tiefere Schichten der Versöhnung und des Friedens hineingezwungen; er hat uns in die Bewegung gebracht, der es um die Verhinderung des Krieges ging.“20 Dirks selbst hatte während der Ruhrbesetzung einen Bruder verloren, der von einem französischen Soldaten erschossen worden war.21 Es ist bemerkenswert, dass Dirks sein langjähriges Engagement in der Friedensbewegung auf seine Erfahrungen im Quickborn zurückführt.22 Dennoch, so stellt Dirks dann ebenfalls klar, sei der Quickborn keine politische Bewegung. Er stehe vielmehr für einen ganzheitlichen Ansatz. „Das Geheimnis des Quickborn besteht darin, dass wir versuchen, ganze Menschen zu bleiben und ganz in der Gemeinschaft zu bleiben, wenn wir uns sehr intensiv und sehr ernst und sehr radikal mit einer bestimmten Aufgebe abgeben müssen. […] Darin sehe ich den Zusammenhang, die Kontinuität zwischen 1919 und 1954 und zugleich das Existenzrecht der Sonderart Quickborn, in dieser Offenheit und Weite.“23 Nun wäre es freilich übertrieben, die Bedeutung des Quickborn zu hoch zu veranschlagen. Nichts-
18 Ebd., S. 25. 19 Ebd., S. 26. 20 Ebd., S. 27. Vgl. auch ders.: Ruhrnot – Was sollen wir tun?, in: Quickborn, 1923, Jg. 11, H. 1/2, S. 6–13, wiederabgedruckt in: Dirks: Republik (Anm. 11), S. 38–51. 21 Vgl. Fritz Boll: Einleitung, in: Dirks: Republik (Anm. 11), S. 11–30, hier S. 13. 22 Zur katholischen Friedensbewegung der Zwischenkriegszeit vgl. Dieter Rieseberger : Die katholische Friedensbewegung in der Weimarer Republik. Mit einem Vorwort von Walter Dirks, Düsseldorf 1976. 23 Dirks: Rede (Anm. 16), S. 28f.
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destotrotz scheinen Dirks’ Erfahrungen mit der Jugendbewegung in seiner Sozialisationsphase von großer Wichtigkeit gewesen zu sein.24 Im Hinblick auf Helmut Gollwitzer gestaltet sich diese Analyse schon etwas schwieriger, was auch damit zusammenhängt, dass von diesem nur wenige autobiografische Texte vorliegen. Seine Frau Brigitte hatte ihn ermahnt, dass es Wichtigeres zu tun gäbe und in gewisser Weise könnte dies auch seiner eigenen Einstellung entsprochen haben.25 Gollwitzer wuchs in einem konservativen lutherischen Pfarrhaus auf. Während seiner Gymnasialzeit in Lindau wurde er dann, wie er selbst sagte, vom Deutsch-Nationalen Jugendbund geworben.26 Später zählte sich Gollwitzer zum „Großdeutschen Jugendbund“ den man zum rechten Spektrum der Jugendbewegung dieser Zeit zählen kann. Eine Weile lang soll er zudem die Redaktion der Bundeszeitschrift „Die Heerfahrt“ übernommen und Verbindungen zu anderen Gruppierungen der Jugendbewegung aufgenommen haben.27 Dies ist auch wohl der geistige Hintergrund, wie FriedrichWilhelm Marquardt, ein Schüler Gollwitzers meint, vor dem sich seine Tätigkeit als Meldejunge bei der Lindauer SA während des Hitlerputsches erkläre.28 Einen besonders tiefen Eindruck hinterließ bei Gollwitzer – hierin übrigens ähneln sich seine Erfahrungen sehr stark mit denen Walter Dirks’ – das „neue Singen“ in der Jugendbewegung.29 Allerdings kritisierte er 1963 auf dem Hohen Meißner die Ziele dieses Singens recht harsch, worauf noch weiter unten zurückzukommen sein wird. Gollwitzer erinnert sich, ein „steiler idealistischer Jugendbewegter“30 gewesen zu sein. Zu einem einschneidenden Erlebnis wurde ihm die Lektüre von Martin Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16, durch die ein Verständnis für die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade in sein Leben gekommen sei.31 Neben der Theologie Martin Luthers war es dann aber auch und vor allem der prägende Einfluss Karl Barths, der für Gollwitzer besonders wichtig war.32 Ein Vergleich zwischen den beiden Linksintellektuellen zeigt be24 Zu anderen Elementen vgl. Große Kracht: Pneuma (Anm. 10); Brunner : Stotterer (Anm. 4). 25 So meinen zumindest die Herausgeber von einigen autobiografischen Fragmenten Gollwitzers: Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wolfgang Brinkel, Manfred Weber (Bearb.): Helmut Gollwitzer. Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von dens., Gütersloh 1998, S. 7. 26 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Kritische Anhänger – Unbequeme Störer. Studien zur Politisierung deutscher Jugendlicher im 20. Jahrhundert, Berlin 2010. 27 Vgl. Marquardt: Skizzen (Anm. 25), S. 28. 28 Gollwitzer nimmt dies viele Jahre später zum Anlass um über sein damaliges antisemitisches Weltbild zu reflektieren und es zu „beichten“, vgl. Marquardt: Skizzen (Anm. 25), S. 28. 29 Vgl. Walter Dirks: Der singende Stotterer. Autobiographische Texte. Mit einem Vorwort von Fritz Boll, München 1983, S. 93–95. 30 Marquardt: Skizzen (Anm. 25), S. 35. 31 Vgl. ebd. 32 So auch Pangritz: Gott (Anm. 1), S. 11–16; McMaken: God (Anm. 1), S. 26–29. Zum guten Verhältnis der beiden zueinander vgl. Helmut Gollwitzer : „Fürchte dich nicht!“, in: Fritz
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reits an dieser Stelle, wie unterschiedlich die zweifellos prägende und wichtige Zeit in einer jugendbewegten Gruppe sich auswirken konnte. Dies mag sicherlich zum einen mit dem spezifischen Profil der jeweiligen Gruppierung zusammenhängen, zum anderen aber natürlich auch mit den weiteren Sozialisationserfahrungen und biografischen Einflüssen, denen die beiden in unterschiedlicher Weise ausgesetzt waren.33
Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus Um das „vergangenheitspolitische“ Engagement von Dirks und Gollwitzer in der späteren Bundesrepublik adäquat nachvollziehen zu können, ist es ratsam zu rekapitulieren, wie sie die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben und welche Erfahrungen sie mit dieser Zeit verbinden. Wie zu zeigen sein wird, führte diese Zeit sie trotz großer Unterschiede im Einzelnen zu ähnlichen Schlussfolgerungen und Lebensentscheidungen. Dirks verdiente sich seine ersten journalistischen Sporen als Redakteur der liberalen und nicht zufällig in Frankfurt am Main erscheinenden Rhein-Mainischen Volkszeitung.34 Sie galt als ein Sprachrohr des linken Flügels der Zentrumspartei um Friedrich Dessauer (1881–1963) und Joseph Wirth (1879– 1956).35 Wichtig war sein Engagement aber vor allem aufgrund der Kontakte, die Dirks in dieser Zeit etablierte, beispielsweise zu Ernst Michel (1889–1964) oder dem heute kaum mehr bekannten Karl Neundörfer (1885–1926).36 Vom erstgenannten rezipierte Dirks die Vorstellung einer „Politik aus dem Glauben“, die die
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Boll, Manfred Linz, Thomas Seiterich (Hg.): Wird es denn überhaupt gehen? Beiträge für Walter Dirks, München 1980, S. 241–251; Walter Dirks: Der heiße Kern, in: Andreas Baudis (Hg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag, München 1979, S. 395f. Umso wichtiger ist also auch die Arbeit an kritischen Biografien der beiden. In Bonn bereitet Gabriel Rolfes eine Arbeit über Dirks vor; vom Verfasser ist eine Biografie Gollwitzers in Planung. Vgl. Bruno Lowitsch: Der Frankfurter Katholizismus in der Weimarer Republik und die „Rhein-Mainische Volkszeitung“, in: Heiner Ludwig, Wolfgang Schroeder (Hg.): Sozial- und Linkskatholizismus. Erinnerung – Orientierung – Befreiung, Frankfurt a. M. 1990, S. 46–74. Zur Bedeutung Dessauers vgl. Michael Habersack: Friedrich Dessauer (1881–1963). Eine politische Biographie des Frankfurter Biophysikers und Reichstagsabgeordneten, Paderborn u. a. 2011 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 119). Zu Michel vgl.: Bruno Lowitsch: Ernst Michel (1889–1964), in: Jürgen Aretz, Rudolf Morsey, Anton Rauscher (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 5, Mainz 1982, S. 223–238; zu Neundörfer : Alexander Hollerbach: Der Mainzer Priester Dr. iur. Karl Neundörfer (1885–1926). Aspekte seines Lebens und Wirkens, in: Albert Raffelt, Barbara Nichtweiß (Hg.): Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg im Breisgau 2001, S. 313–326.
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Krisenphänomene der Gegenwart auf der Grundlage des katholischen Selbstverständnisses zu bewältigen versuchte und überdies an der Begründung einer „katholischen Politik“ interessiert war.37 Mit beiden Figuren verbindet sich das zunehmende Engagement Dirks’ in der katholischen Laienbewegung. Dirks glaubte an eine „kirchliche Sendung der Laien“ und daran, dass sich der katholische Laie zwischen „Kirche und Welt“ zu verorten habe.38 Publizistisch führte Dirks schon seit Mitte der 1920er Jahre eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus, der für ihn den Nationalsozialismus miteinschloss.39 Mit der Unterzeichnung des Reichskonkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich begann für Dirks etwas, dass als Phase eine „eingehegten Annäherung“ bezeichnet werden kann.40 Mit dem Reichskonkordat war die Auflösung der Zentrumspartei verbunden, die ja einen wesentlichen Bezugspunkt seiner Publizistik in den vorangegangen Jahren dargestellt hatte. Er betont zu dieser Zeit jedoch die Chancen des Neuanfangs und stellt der Führung der Zentrumspartei ein vernichtendes Zeugnis aus.41 Die Anbiederungsversuche, wie sie für einen relativ kurzen Zeitraum auch von Dirks an den Nationalsozialismus herangetragen worden sind, hat Bernd Sösemann unter die treffende Bezeichnung der „konzilianten Kommunikation“ subsumiert.42 Im genannten Artikel wandte sich Dirks auch besonders an die jungen Menschen: „[W]ichtiger als die Rettung von Mandaten und Organisationen ist in diesen Monaten, dass der Funke zündet: daß die besten politischen Menschen im Katholizismus, die Jugend vor allem, nicht ,irgendeinen‘ Verbindungspunkt mit dem Nationalsozialismus sucht und findet, nicht irgendeine Form der Anpassung ausbildet, – sondern, daß sie mit Leidenschaft die geschichtliche Aufgabe im Nationalsozialismus erkennt, die mit 37 Vgl. Ernst Michel: Politik aus dem Glauben, Jena 1926; ders.: Zur Grundlegung einer katholischen Politik, Frankfurt a. M. 1923. 38 Vgl. die entsprechenden Schriften von Ernst Michel: Von der kirchlichen Sendung der Laien, Berlin 1934, sowie Karl Neundörfer : Zwischen Kirche und Welt. Ausgewählte Aufsätze aus seinem Nachlaß, hg. v. Ludwig Neundörfer und Walter Dirks, Frankfurt a. M. 1927. Zum Gesamtkontext vgl. Klaus Große Kracht: Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920–1960, Paderborn u. a. 2016 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 129). 39 Vgl. hierzu Brunner : Stotterer (Anm. 4), S. 40–45. 40 Vgl. für den folgenden Abschnitt ebd., S. 45–48. 41 Vgl. vor allem Walter Dirks: Mut zum Ende und Mut zum Anfang, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, 07. 07. 1933, wiederabgedruckt in: Fritz Boll, Ulrich Bröckling, Karl Prümm (Hg.): Gegen die faschistische Koalition. Politische Publizistik 1930–1933. Mit einem Vorwort von Walter Dirks und einer Einleitung von Karl Prümm (Gesammelte Schriften 2), Zürich 1990, S. 150–155. 42 Vgl. Bernd Sösemann: Konziliante Kommunikation im Katholizismus während der NSDiktatur. Die frühen Phasen medialer Selbstvergewisserungen und national-sozialer Sinnstiftungen, in: Wolfram Pyta u. a. (Hg.): Die Herausforderung der Diktaturen. Katholizismus in Deutschland und Italien 1918–1943/45 (Reihe der Villa Vigoni 21), Tübingen 2009, S. 137–173.
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der Überwindung von Liberalismus und parlamentarisch-liberaler Demokratie um eine Epoche näher gerückt ist; es ist die Aufgabe, das Reich zu erkämpfen, das die echte und mächtige Ordnung dieser unserer modernen, technischen, ökonomisierten, ,säkularisierten‘ Gesellschaft ist, die erst in dieser Ordnung wieder Volk werden soll und kann.“43
Wie viele andere Katholiken auch setzte Dirks also vor allem beim Reichsbegriff an, den er in seinem Sinne umzudeuten versuchte.44 Deutlich ist aber auch der Versuch, die katholischen Bevölkerungsteile dahingehend zu mobilisieren, der „nationalen Revolution“ ihren Stempel mitaufzudrücken.45 Dirks unterlag in seinen Aufsätzen dieser Zeit vielen Trugschlüssen und überschätze seine Möglichkeiten, publizistisch auf den Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Damit steht er allerdings unter seinen Zeitgenossen keineswegs allein. 1934 belegte man Dirks mit einem Schreibverbot; die Rhein-Mainische Volkszeitung durfte schon bald nicht mehr erscheinen. Er konnte sich also nicht mehr politisch äußern und veröffentlichte einige Jahre im Feuilleton der Frankfurter Zeitung46, ehe er sich in den Kriegsjahren mit Werbetexten über Wasser hielt. Dirks selbst hat seinen Zustand in diesen Jahren als den einer „inneren Emigration“ beschrieben.47 Für Helmut Gollwitzer war derselbe Zeitraum äußerst bewegt. Als Schüler und enger Vertrauter Karl Barths schloss er sich – man ist geneigt zu sagen: natürlich – der Bekennenden Kirche an, im erklärten Antagonismus zu den nationalsozialistisch durchdrungenen Deutschen Christen.48 Allerdings gab es auch Friktionen innerhalb der Bekennenden Kirche. Gollwitzer rechnete sich hier „dem ,dahlemitischen‘ Flügel der Bekennenden Kirche zu, der aus der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 auch Konsequenzen für die Kirchenleitung ableitete […].“49 Er war 1933 zunächst vom Fürsten Reuß nach Ernstbrunn bei Wien berufen worden um als Schlossprediger und Prinzenerzieher tätig zu sein. Durch dessen Besitztümer in Thüringen kam Gollwitzer in Kontakt mit der dortigen Bekennenden Kirche. Auf diese Weise etablierte sich der wichtige Kontakt zu Martin Niemöller, einem der führenden Köpfe dieser Gruppe. Seine kritische Haltung wurde dadurch „bestätigt“, dass ihm die Thü43 Dirks: Mut (Anm. 41), S. 154 [Hervorhebungen im Original]. 44 Vgl. Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934). Mit einem Geleitwort von Walter Dirks, München 1969. 45 Vgl. Walter Dirks: Der sozialistische Sinn der Revolution, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, 11. 07. 1933. 46 Vgl. Günther Gillesen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986. 47 Vgl. Hans-Otto Kleinmann: Walter Dirks (1901–1991), in: Jürgen Aretz u. a. (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 8, Mainz 1997, S. 265–281, hier S. 273f. 48 Vgl. als Überblick Christoph Strohm: Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011. 49 Pangritz: Gott (Anm. 1), S. 17.
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ringer Gestapo Anfang 1937 ein Redeverbot erteilte.50 Nach seiner Promotion bei Karl Barth in Basel im Februar 193751 holte Niemöller ihn im Mai schließlich als Hilfsprediger nach Berlin.52 Er sollte sich hier eigentlich, wie schon in Thüringen, um die Ausbildung des theologischen Nachwuchses kümmern. Nachdem Niemöller allerdings am 1. Juli 1937 verhaftet und später ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht worden war, „rückte er auf dessen Wunsch faktisch in die Position des Stellvertreters des Inhaftierten in der Gemeinde Berlin-Dahlem ein.“53 Um ihn sammelte sich in Dahlem die „Bekennende Gemeinde“, die durchaus nicht mit der dahlemitischen Gesamtgemeinde gleichzusetzen ist.54 Identitätsstiftend wurden insbesondere die Fürbittgottesdienste in der St.-Annen-Kirche, die zum einen der Fürbitte für den inhaftierten Pfarrer dienten, zum anderen aber zwischen den Zeilen durchaus regimekritischen Aussagen ein Forum gaben.55 Hervorzuheben ist auch Gollwitzers Bußtagspredigt vom 16. November 1938, die als eine der wenigen Beispiele dienen kann, in denen sich Mitglieder der evangelischen Kirchen kritisch zum Verhalten gegenüber den Juden in Deutschland äußerte.56 Mit dieser Predigt war Gollwitzer aber selbst innerhalb der Bekennenden Kirche eine Ausnahme, die hinsichtlich der „Judenfrage“ auf keinen gemeinsamen Nenner kam und sich auch nicht geschlossen und schon gar nicht öffentlich gegen die nationalsozialistische „Judenpolitik“ wandte.57 Mit Kriegsbeginn drohte dann auch für ihn die Einberufung zum Kriegsdienst. Nachdem ein erster Einberufungsbefehl noch zurückgenommen worden war „wurde Gollwitzer [am 3. September] jedoch aus Berlin ausgewiesen und mit Reichsredeverbot belegt und am 5. Dezember als Infanterist der Wehrmacht 50 Vgl. Pangritz: Gott (Anm. 1), S. 18. 51 Vgl. Helmut Gollwitzer: Coena Domini. Die altlutherische Abendmahlslehre in ihrer Auseinandersetzung mit dem Calvinismus, dargestellt an der lutherischen Frühorthodoxie mit einer Einführung zur Neuausgabe von Dietrich Braun (Theologische Bücherei, Systematische Theologie 79), München 1988 [zuerst 1937]. 52 Vgl. Jürgen Schmidt: Martin Niemöller im Kirchenkampf (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 8), Hamburg 1971. 53 Pangritz: Gott (Anm. 1), S. 19. 54 Vgl. Gerhard Schäberle-Koenigs: Und sie waren täglich einmütig beieinander. Der Weg der Bekennenden Gemeinde Berlin/Dahlem 1937–1943 mit Helmut Gollwitzer, Gütersloh 1998. 55 Vgl. ebd., S. 121–182. 56 Die sogenannte „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938 ging dieser Predigt zuvor. Die Predigt ist abgedruckt in: Helmut Gollwitzer: Dennoch bleibe ich stets an dir… Predigten aus dem Kirchenkampf 1937–1940 (Ausgewählte Werke 1), hg. v. Joachim Hoppe, München 1988, S. 52–61. Zur Bedeutung der Predigt im intellektuellen Profil Gollwitzers vgl. Benedikt Brunner, Helmut Gollwitzer – theologische Virtuosität zwischen Christen- und Bürgergemeinde, in: Christine Aka, Dagmar Hänel (Hg.): Prediger, Charismatiker, Berufene – Rolle und Einfluss religiöser Virtuosen [im Druck]. 57 Vgl. Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden (Studien zu Kirche und Israel 10), 2., bearbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1993.
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nach Potsdam einberufen.“58 Bis 1943 war er an unterschiedlichen Orten in Frankreich stationiert. Im Februar 1943 wurde er dann an die Ostfront versetzt und erfuhr vieles über die dort durchgeführten Kriegsverbrechen, insbesondere an den Juden, was einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ.59 Am 11. Mai geriet er dann in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst Ende 1949 entlassen wurde.60 1951 veröffentlichte er seine Erinnerungen an diese Zeit, die in 18. Auflagen erschienen und in sechs Sprachen übersetzt worden sind.61 Sie begründen zum einen seinen nicht unerheblichen Bekanntheitsgrad in der deutschen Gesellschaft, zum anderen aber auch sein Renommee als Experte in Sachen Kommunismus und Marxismus.62 Nicht zuletzt mag sein Ruf an die Freie Universität Berlin – nachdem er zuvor den Lehrstuhl Karl Barths in Bonn inne hatte – mit dieser Expertise zusammenhängen.
Was nun? Die vergangenheitspolitischen Programme von Walter Dirks und Helmut Gollwitzer Ehe auf die konkreten Programme eingegangen wird, muss zumindest noch auf das titelgebende „links“ in diesem Aufsatz eingegangen werden, ist es doch keineswegs selbsterklärend. Initialisierend war für Dirks wohl unter anderem die Begegnung mit dem Moraltheologen Theodor Steinbüchel (1888–1949), bei dem er auch an einer unabgeschlossenen Promotion arbeitete.63 Vereinfacht gesagt ging es diesem darum, im Sozialismus die Komponenten herauszuarbeiten, die mit der katholischen Moraltheologie vereinbar sein könnten. Hierfür steht vor allem seine 1921 erschienene Arbeit „Der Sozialismus als sittliche Idee. Ein Beitrag zur christlichen Sozialethik“.64 Mit einigen weiteren Weggenossen arbeitete Dirks an einem „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“, wie er ansatzweise im Ahlener Programm der CDU von 1947 seinen Niederschlag 58 59 60 61
Pangritz: Gott (Anm. 1), S. 27. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 29. Helmut Gollwitzer : …und führen wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, München 1951. 62 Vgl. Benedikt Brunner: Vom reichen Christen und dem armen Lazarus – Auseinandersetzungen über Sozialismus und Marxismus in der evangelischen Sozialethik nach 1945, in: Matthias Casper, Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter (Hg.): Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik (Schriftenreihe Religion und Moderne 5), Frankfurt a. M. u. a. 2016, S. 237–273, zu Gollwitzer S. 257–260. 63 Diese Dissertation blieb unvollendet, da Dirks’ Bruder aus – wohl berechtigter Angst vor Hausdurchsuchungen – das Manuskript 1935 zerstörte. 64 Vgl. Andreas Lienkamp: Theodor Steinbüchels Sozialismusrezeption. Eine christlich-sozialethische Relecture, Paderborn u. a. 2000.
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fand.65 Zur Gallionsfigur des deutschen Linkskatholiken wurde er durch sein Geschick, mit dem er seine Überzeugungen über die ihm zur Verfügung stehenden Organe – allen voran die „Frankfurter Hefte“ zu verbreiten versuchte. Seine Stärke lag dabei eher im Definitorischen, nicht so sehr in der Entwicklung konkreter politischer Programme. Klaus Große Kracht hat zutreffend vom Linkskatholizismus als einem intellektuellen Habitus gesprochen, mithin vom Pneuma der Kritik, das Dirks beseelt habe und als typisch linkskatholisch angesehen werden könne.66 Gollwitzer gelangte vor allem über das intellektuelle Milieu um Karl Barth zu seinen sozialistischen Überzeugungen. Nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft führte ihn dies in eine intensive Auseinandersetzung mit marxistischen und sozialistischen Theoretikern und Denkfiguren. Zudem war er einer der maßgeblichen Protagonisten im christlich-marxistischen Dialog seit den 1960er Jahren, die sein Profil als das eines „linken“ Protestanten weiter verstärkten.67 Sein Engagement in der Friedensbewegung sowie sein Eintreten für die Anliegen der Studentenbewegung und seine zum Teil umstrittenen Äußerungen in der Frage um den Einsatz von Gewalt in revolutionären Kontexten trugen hier ihr Übriges dazu bei.68 Weder Dirks noch Gollwitzer gehörten zum „Mainstream“ ihrer Konfessionen. Gleichwohl entfalteten sie als Religionsintellektuelle im Sinne Volkhard Krechs eine nicht unerhebliche Wirksamkeit, ohne die die (Religions-)Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert nur unvollständig verstanden werden kann.69 Dies soll im Folgenden anhand der vergangenheitspolitischen Programme der beiden einmal exemplarisch nachvollzogen werden. Ein nicht unerheblicher Teil des publizistischen Wirkens von Walter Dirks sah sich unter die Aufgabe gestellt, dass sich der Nationalsozialismus nicht wiederholen dürfe. Es müssten Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen dieser Zeit gezogen werden. Von der unbewältigten Vergangenheit, so Dirks 1960, „ist in den letzten Jahren so viel gesprochen worden, daß mancher dieser Formel möglicherweise wieder überdrüssig geworden ist. Aber die letzte Instanz für den Wert 65 Vgl. Doris von der Brelie-Lewien: Abendland und Sozialismus. Zur Kontinuität politischkultureller Denkhaltungen im Katholizismus von der Weimarer Republik zur frühen Nachkriegszeit, in: Detlef Lehnert, Klaus Megerle (Hg.): Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990, S. 188–218. 66 Große Kracht: Pneuma (Anm. 10). 67 Vgl. Pascal Eitler : „Gott ist tot – Gott ist rot“: Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a. M. u. a. 2009. 68 Vgl. Alexander Christian Widmann: Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 56), Göttingen 2013. 69 Vgl. Volkhard Krech: Motor, Kritiker, Transformator : Drei Funktionen von Intellektuellen in der Religionsgeschichte, in: Graf (Hg.): Intellektuellen-Götter (Anm. 10), S. 83–99.
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einer Parole ist nicht die Neuheit, sondern die Wahrheit […]. So tut sich hinter der Auseinandersetzung mit dem Verbrechen der Horizont geschichtlicher Besinnung der deutschen Nation auf. Man bewältigt seine Vergangenheit nicht, indem man sich rechtfertigt.“70
Während das moralische Problem den Einzelnen angehe, bestehe das aktuelle politische Problem in zwei riesigen Gruppen des deutschen Volkes, die die Mehrheit desselben darstellten. Auf der einen Seite stünden die Mitläufer, auf der anderen Seite die Passiven und Lahmen. Darin, dass sie ihre Vergangenheit nicht gründlich genügt bewältigt hätten, liege „der massivsten und am schwersten zu ändernde Kern der Schwierigkeit.“71 Bezugnehmend auf Max Schelers Studie „Reue und Wiedergeburt“ stellt Dirks seine Überzeugung dar, dass eine nichtbewältigte Vergangenheit den Weg in die Zukunft verstelle und den Menschen stattdessen an seinen jeweiligen Ort fixiere.72 Hier und da merkt man auch, dass Dirks seine eigene Vergangenheit aufarbeitet, wenn er etwa darauf verweist, dass „[w]ir Älteren insgesamt […] für Adolf Hitler mitverantwortlich [sind], weil wir für die Umstände mitverantwortlich sind, die ihm die Chance gaben […].“73 Eine besondere Bedeutung komme dabei der Bildung und vor allem der Erwachsenenbildung zu. Von der „Haltung und Arbeit“74 der Bildung werde es vor allem abhängen, ob Deutschland eine demokratische Zukunft haben könne.75 In den Zeitraum dieses und anderer Artikel fällt seine Tätigkeit im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, der zwischen 1953 und 1964 Reformvorschläge erarbeitete.76 Es ist für Dirks nun typisch, dass er sich vor allem darauf konzentriert, die „geistesgeschichtlichen“ Grundlagen für die Bildungsreformen zu erarbeiten.77 Dies wird besonders deutlich in einem Vortrag, den er 1966 gehalten hat. Die Relevanz für Politische Bildung ist seiner Ansicht nach überdeutlich. Wer die Zeit des Nationalsozialismus erlebt habe, „wird heute nicht bereit sein, unsere Zukunft der Einfachheit halber als die unbegrenzt verlängerte Gegenwart anzusehen. Er ist in Sorge, und er hofft zwar nach wie vor auf 70 Walter Dirks: Unbewältigte Vergangenheit – demokratische Zukunft, in: Frankfurter Hefte, 1960, 15. Jg., S. 153–158, hier S. 153. Vgl. ferner ders.: Wie wir unsere Vergangenheit bewältigen. Bericht in fremder, eigener und allgemeiner Sache, in: Frankfurter Hefte, 1960, 15. Jg., S. 81–84. 71 Dirks: Vergangenheit (Anm. 70), S. 153. 72 Vgl. ebd., S. 154. 73 Ebd., S. 155. 74 Ebd., S. 158. 75 Nicht zufällig lautet der Titel des Bandes der Gesammelten Schriften, der seine bildungspolitischen Aufsätze zusammenfasst „Die unvollendete Aufklärung“. 76 Vgl. Walter Dirks: Politische Bildung in unserer Zeit, in: Die berufsbildende Schule, 1959, 11. Jg., S. 762–773; ders.: Sorgen um die politische Erziehung, in: Radius, 1960, 5. Jg., S. 27–33. 77 Schwer beeindruckt war Dirks von Georg Pichts Buch: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg 1964.
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gute Zeiten und arbeitet für sie, aber er rechnet auch mit bösen Dingen. […] Hitler war abscheulich, aber ich kann mir auch attraktivere Diktaturen vorstellen, in denen selbst die Konzentrationslager hygienisch sind. Die gefährlichste könnte die sein, in denen die klügsten Interessenten der Macht die demokratischen Institutionen scheinbar voll aufrechterhalten, aber ebenso vollständig manipulieren würden, durch einen Pakt der Mächtigsten mit dem gekauften Sachverstand und mit der gekauften Werbung, in der Illusion der Freiheit.“78
Kritische politische Bildung sei also zur Verhinderung weiterer Katastrophen unbedingt erforderlich. Dirks meint, es gebe drei Stufen der politischen Bildung. Die erste sei die mitmenschliche Bildung, die man als Kind bereits aus dem Zusammenleben mit den Eltern, Geschwistern und den ersten Spielkameraden erwerbe – wenn alles gut gehe. Diese erste Stufe setze alles Weitere voraus.79 „Autoritäre Väter und Lehrer“, so Dirks weiter „bilden keine Demokraten heran.“80 Die zweite Stufe bezeichnet er als soziale Bildung, die in den Klassengemeinschaften und der Schule eingeübt werden müsse.81 Die dritte Stufe ist dann die Politische Bildung als solche. Sozial- und Politikkunde seien die Grundlage für sie, dazu müsse aber noch die Erfahrung kommen, da man Politik nicht lernen könne. Seine Erfahrungen im Quickborn mögen hier durchaus Pate gestanden haben für die konkreten Empfehlungen, die er im Anschluss anführt.82 Angesichts der Zukunft wäre schon viel gewonnen, wenn gute Politiker, gute Politik machen würden. Ohne ein reifes, politisch gebildetes Volk könne es allerdings keine gute Politik geben und vice versa, so dass man mitunter von einem „Zirkel des Unheils“83 sprechen könne. Zur Durchbrechung dieses Zirkels sah Dirks die Christen gefordert.84 Für gelingende politische Bildung sei ein zeitgeschichtliches Bewusstsein, das zur Tat führe und von engagierten und lebendigen Lehrern vermittelt werde, unabdinglich.85 Anlässlich der 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner im Jahre 1963 verband Dirks seine Reflektionen über eine politisch gebildete Jugend mit den Implikationen, die die nationalsozialistische Vergangenheit für diese mit sich bringe.86
78 Walter Dirks: Zeitgeschichtliches Bewußtsein – Grundvoraussetzung politischer Bildung. Vortrag, gehalten am 7. März 1966 bei den Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Nauheim (Sonderdruck), Bad Homburg v. d. Höhe u. a. [1966], S. 1. 79 Vgl. Dirks: Bewußtsein (Anm. 78), S. 2. 80 Ebd., S. 2. 81 Vgl. ebd., S. 2f. 82 Vgl. ebd., S. 3f. 83 Ebd., S. 15. 84 Vgl. hierzu ders.: Gottesglaube und Ideologiekritik, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Wer ist das eigentlich – Gott?, München 1969, S. 220–231. 85 Vgl. Dirks: Bewußtsein (Anm. 78), S. 16. 86 Vgl. Jürgen Reulecke: Das Meißnertreffen von 1963 – „auf halber Strecke“ zwischen 1913 und 2013, in: Barbara Stambolis, ders. (Hg.): 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur
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So habe ein klassisches Problem im Quickborn im Verhältnis von (kirchlicher) Autorität und Freiheit bestanden. Gerade im katholischen Kontext habe dieses eine andere Färbung einnehmen müssen, als im säkularisierten Leben.87 Die Lösung sei in dem Moment gefunden worden, „als der Impuls der selbständigen [sic], kritischen, dynamischen Jugendbewegung stärker wurde als die Vorstellung vom edlen Jugendreich, als sich teils in unmerklicher Auslese, teils in dramatischen Kämpfen die ,Radikaleren‘ durchsetzten.“88 An der Politisierung der Jugendbewegung habe ihr katholischer Zweig zwar teilgenommen, allerdings in reduzierter Form.89 Die größten Kontingente habe sie nicht den Kommunisten oder den Nationalsozialisten geliefert, sondern vielmehr der demokratischen Mitte. Er hebt dabei besonders die Kreise um die Rhein-Mainische Volkszeitung und „Das Heilige Feuer“ hervor.90 Allerdings will Dirks deren Beitrag auch nicht überbewertet wissen: „Am aktiven Widerstand während der Diktatur war die katholische Jugendbewegung wenig beteiligt, dagegen wohl überdurchschnittlich an der Erhaltung der passiven katholischen Widerstandskraft. Man muß aber feststellen, daß es der Mehrheit der katholischen Jugendbewegung nicht gelungen ist, ihre kulturkritischen Ansätze auf das Feld der Politik zu transportieren. Es gehörte zu ihren Schwächen, daß sie die tiefe Relevanz des Politischen nicht erkannte.“91 Häufig beklagte Dirks das Theoriedefizit im deutschen Katholizismus, das seine Wehrhaftigkeit gegenüber den faschistischen Bewegungen stark eingeschränkt habe.92 Denn die Jugendbewegung habe, trotz der insgesamt vielfältigen Anstöße in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, in politischer Hinsicht den geringsten Einfluss gezeitigt. Dies hält Dirks für einen gefährlichen Mangel.93 Helmut Gollwitzer war nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Professor für Systematische Theologie an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität in Bonn geworden. Andreas Pangritz hat ihn aufgrund seiner viel-
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Geschichte der Jugendbewegung (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 18), Göttingen 2015, S. 261–330. Dirks: Anfänge (Anm. 15), hier S. 245. Ebd., S. 245. Vgl. ebd.: Anfänge (Anm. 15), S. 247. Vgl. außerdem ders.: Politisierung der Jugendbewegung, in: Deutsche Volkschaft, 1931, 4. Jg., S. 18–20, wiederabgedruckt in: ders.: Republik (Anm. 11), S. 58–63. Zum Heiligen Feuer vgl. Thomas Reinecke: „Das Heilige Feuer“. Eine katholische Zeitschrift 1913–1931, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, 1871–1918, München 1996, S. 164–171. Dirks: Anfänge (Anm. 15), S. 247. Vgl. nur zahlreiche Überlegungen zusammenfassend: Walter Dirks: Wehrlos vor dem Faschismus. Das Theorie-Defizit des Deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit, in: Frankfurter Hefte, 1981, 36. Jg., S. 39–48. Vgl. Dirks: Anfänge (Anm. 15), S. 250.
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fältigen Kontakte in Politik und Gesellschaft einmal als „Hoftheologen“ der frühen Bundesrepublik bezeichnet. Möchte man sich den Themen nähern, mit denen sich Gollwitzer in dieser Zeit auseinandersetzte, nützt ein Blick in seinen Band „Forderungen der Freiheit“. Neben Beiträgen zur politischen Ethik, nehmen der Ost-West-Konflikt sowie der Antisemitismus und das Thema „Krieg und Frieden im Atomzeitalter“ einigen Raum ein. Ein letzter Abschnitt sammelt dann die Reden, die sich beinahe ausschließlich dem Thema des Nationalsozialismus widmeten.94 „Es gibt Vergangenheit, die aus dem Weg geräumt werden muß, die also nicht einfach hinter uns liegt, sondern vor uns, zwischen uns und der Zukunft, wie ein Gestrüpp jeden freien Schritt hindernd. Solche unvergangene Vergangenheit ist die Schuld. Sie aus dem Weg zu räumen – darum geht es bei der Buße; Buße und Vergebung sind der einzige Weg dazu.“95 Erst Vergangenheit, die wirklich vergangen ist, könne für die Zukunft befreien. Mit der Schuld habe sowohl der zu tun, der sie tue, als auch der, dem sie angetan werde. Deswegen seien auch beide erforderlich, um Schuld wegräumen zu können. Buße müsse geleistet und Vergebung gewährt werden. Das Problemfeld Schuld und Vergebung habe überdies nicht nur seine Bedeutung im Privaten; auch für die politischen Gegebenheiten im zerrissenen Europa sind sie seiner Ansicht nach von großer Bedeutung.96 Denn „[d]ie politischen Gegensätze haben nie nur mit Sachfragen zu tun, sondern sind immer und gerade heute verflochten mit dem Allermenschlichsten, mit Schuld und Vergebung. Ohne Buße und Vergebung kann das neue Klima nicht entstehen, in dem die Völker Europas endlich miteinander leben können, statt sich gegeneinander das Leben zu verderben.“97 Würden die Deutschen bußfertig werden, könnte eine genaue Überprüfung der eigenen Vergangenheit erfolgen, Fehler zugegeben und Irrtümer und Schuld beim rechten Namen benannt werden. Er geht dann aber noch weiter. Nur als Bußfertige könnten die Deutschen aus dem Zusammenbruch von 1945 die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, nur so, sei eine Wiederholung der alten Fehler zu vermeiden.98 Es ist doch zumindest bemerkenswert, wie klar und explizit Gollwitzer an vielen Stellen diese Schuld benennt.99 Vergebung sei der einzig gangbare Weg in eine freie Zukunft, den er für das deutsche Volk aus94 Vgl. Helmut Gollwitzer : Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1962, S. VII–IX. 95 Ders.: Schuld und Vergebung, in: ders.: Forderungen (Anm. 94), S. 351–355, hier S. 351. Hierbei handelt es sich um eine Ansprache im NWDR zum Bußtag am 17. 11. 1954. 96 Vgl. Helmut Gollwitzer : Die Kirche in der zerspaltenen Welt, in: Zeitwende, 1955, 26. Jg., S. 8–19. 97 Gollwitzer : Schuld (Anm. 95), S. 351. 98 Vgl. ebd., S. 352. 99 Vgl. ebd., S. 353.
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machen kann. Hier wird deutlich, welche Gedanken Gollwitzer in die Friedensbewegung und in den christlich-jüdischen Dialog brachten.100 Dies wird auch in einer Rundfunkpredigt besonders klar, die er am Sonntag Reminiscere 1963 hielt und die an unterschiedlichen Publikationsorten abgedruckt wurde. Bei der „Bewältigung der Vergangenheit“ handle es sich um ein aktuelles Thema. Dabei seien zwei Arten der Bewältigung voneinander zu unterscheiden. Die Falsche, in der sich der Mensch selbst vergebe auf der einen Seite und die Richtige, in der der Mensch sich Gottes Gericht ausliefere und ihn um Vergebung bitte, auf der anderen Seite.101 Folgerichtig wird er im Verlauf der 1950er Jahre auch zunehmend zu einem Kritiker derjenigen Strömungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die die Erinnerung an diese Themen eher in den Hintergrund drängen wollen.102 Gollwitzer plädiert stattdessen für ein öffentliches, politisches Engagement der Christen und wird zu einem wichtigen Dialogpartner der Neuen Sozialen Bewegungen.103 Mitte der 1960er Jahre entwickelte er aufschlussreiche „Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Leben“, die er im Rahmen einer Vorlesung über „Christliche Ethik des Politischen“ gehalten hatte. Durch Jesu Sendung des Christen in die Welt und durch sein Liebesgebot, sei der Christ zur Teilnahme am öffentlichen Leben verpflichtet.104 In Abgrenzung zur Zwei-Reiche-Lehre vieler lutherischer Theologen folgt Gollwitzer dem Ansatz seines Lehrers Barth und sieht die Politik unter der Königsherrschaft Christi stehen.105 Es gebe allerdings keine christliche Politik, genauso wenig wie es christliche Medizin gebe, sehr wohl aber müsse es Christen in der Politik geben.106 Aus dem Zeugnis der Schrift resultierten „konstante Gesichtspunkte“ die christlichem Handeln Kontinuität und Konsens geben könnten. Er nennt hier die Ausge100 Vgl. auch ders.: Nur ein Auftrag: Dies nicht wieder!, in: Stimme der Gemeinde, 1956, 8. Jg., Sp. 721–724. 101 Vgl. ders.: Rundfunkpredigt am Sonntag Reminiscere 1963, in: Junge Kirche, 1963, 24. Jg., S.181–186, hier S. 183. 102 Vgl. ders.: Christ und Bürger in der Bundesrepublik, in: Junge Kirche, 1960, 21. Jg., S. 337–345. 103 Vgl. Claudia Lepp: Helmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen, in: Siegfried Hermle, dies., Harry Oelke (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 47), Göttingen 2007, S. 226–246. 104 Gollwitzer : Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Leben, in: Junge Kirche, 1964, 25. Jg., S. 620–623. 105 Zu diesem Verhältnis vgl. Benedikt Brunner: Kirche in der zerspaltenen Welt. Volkskirche und Zwei-Reiche-Lehre als theologische Orientierungspunkte in der frühen Bundesrepublik, in: Jürgen Kampmann, Hans Otte (Hg.): Angewandtes Luthertum? Die Zwei-ReicheLehre als theologische Konstruktion in politischen Kontexten des 20. Jahrhunderts (Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 29), Gütersloh 2017, S. 141–166. 106 Vgl. Gollwitzer : Leitsätze (Anm. 104), S. 620.
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richtetheit auf alle Menschen, auch die Fernstehenden. Das Ziel des Handelns müsse der Frieden und der Kompromiss sein und niemand dürfte aus dem Verantwortungsbereich des christlichen Handelns ausgeschlossen werden.107 Der Berliner Theologe versucht also, seine Erfahrungen in der deutschen Geschichte in ein theologisches Programm zu gießen, dem vergangenheitspolitische Implikationen zu eigen sind. Seit den 1960er Jahren maß Gollwitzer der Jugend und vor allem den Studenten eine zunehmend große Rolle in seinem vergangenheitspolitischen Programm bei. Die Berliner Studenten haben nachweislich einigen Eindruck auf ihn gemacht, Rudi Dutschke lebte sogar einige Zeit mit seiner Familie bei den Gollwitzers.108 Später hielt dieser die Beerdigungspredigt für Dutschke.109 „Den Berliner Studenten, dankbar für ihr Aufbegehren und Vorwärtsdrängen“, so lautet die Widmung einer Schrift Gollwitzers aus dem Jahre 1969.110 Schon dieses Zitat fängt ein, wie sehr er sich vom revolutionären Geist dieser Zeit anstecken ließ und das auch er Hoffnungen hegte, dass sich eine sozialistische Umgestaltung der westdeutschen Gesellschaft durchführen ließ. Seine Studenten, die junge Generation blieben eine wichtige Inspirationsquelle seiner Arbeit. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Rede auf dem Hohen Meißner von 1963 zu sehen, die hohe Wellen schlug.111 In ihr wird sein Verhältnis zur Jugendbewegung und die Rolle, die er ihr zuspricht, so deutlich wie an kaum einer anderen Stelle. Während das Fest – also die 50. Wiederkehr des Treffens auf dem Hohen Meißner – für die Älteren ein Tag der Dankbarkeit und der Prüfung sei, müssten die Jüngeren prüfen, in welchem Zusammenhang die Vergangenheit mit der von ihnen zu gestaltenden Zukunft stehe. Es habe „Notwendigkeit und Sinn“112 Rechenschaft darüber abzulegen, was heute noch zu lernen sei aus dem damaligen Aufbruch der deutschen Jugend, „aus seinen Erfahrungen und seinem Verlauf, aus seinem Gewinn und aus seinen Irrtümern.“113 107 Ebd. 108 Vgl. Angela Hager : Rudi Dutschke: Radikal Fromm, in: Gudrun Litz, Heidrun Munzert, Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, Leiden 2005, S. 779–796. 109 Helmut Gollwitzer : Leidenschaft für Menschen. Beerdigungspredigt für Rudi Dutschke […] auf dem St. Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem, in: Junge Kirche, 1980, 41. Jg., S. 3–5. 110 Helmut Gollwitzer : Die reichen Christen und der arme Lazarus. Die Konsequenzen von Uppsala, München 1969, S. 5. 111 Ich danke Herrn Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer (Münster) für wertvolle Hinweise zum Verhältnis zwischen Gollwitzer und der Jugendbewegung. 112 Helmut Gollwitzer : Hoher Meißner 1963 – Auszüge aus der Festrede, in: Junge Kirche, 1963, 24. Jg., S. 633–640, hier S. 634. Vgl. zu dieser Rede Detlef Siegfried, Helmut Gollwitzer, in: Stambolis (Hg.), Jugendbewegt, 2013, S. 285–293 und Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 179f. 113 Gollwitzer : Meißner (Anm. 112), S. 634.
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Der besagte Aufbruch sei unter anderem vom Stolz auf die Unabhängigkeit geprägt gewesen. Man habe es damals als jugendgemäß empfunden, „auszutreten aus dem Erfolgsdenken, dem Besitzdenken, dem Zweckdenken“114, sei also geradezu konsumkritisch gewesen und habe den freiwilligen Verzicht betont. Ferner sei die Jugendbewegung ein großes pädagogisches Ereignis gewesen. Die Jugend sei hier nämlich nicht nur Objekt der Erziehung gewesen, sondern zu ihrem Subjekt gemacht worden. Sie wollte sich selbst führen und nahm ein kritisch-distanziertes Verhältnis zu den unterschiedlichen Autoritäten ein. Diese wiederum seien heute im Zerbrechen begriffen und es sei noch unklar, was an ihre Stelle treten solle. Ein wichtiges Stichwort sieht Gollwitzer darum in der Selbsterziehung der Jugendlichen, die auch für gegenwärtige bildungsreformerische Programme eine hohe Bedeutung habe. Der gemeinsame Lebensstil habe überdies eine „großartige Toleranz“115 geschaffen. Fanatismus sei vielen Jugendbewegten der Zwischenkriegszeit abscheulich gewesen. An den Kommunisten und Nazis sei ihnen deren Absolutheitsanspruch am Fremdesten gewesen. „Nicht vom Politischen, sondern vom Pädagogischen her versprachen wir uns Deutschlands Erneuerung, also nicht vom Sieg einer Partei, sondern von einer inneren Wandlung der Menschen.“116 Verhängnisvoll sei dabei gewesen, dass man nicht erkannt habe, dass die Demokratie die geeignetste Staatsform für diese Vielfalt sei. Was Dirks also im Blick auf den Quickborn formuliert, sieht Gollwitzer für die Jugendbewegung als Ganzes: sie hatte ein eminentes Demokratiedefizit in dem Sinne, dass sie keineswegs auch nur überwiegend demokratisch gesinnt gewesen sei. Die Demokratie in Westdeutschland sei noch längst nicht gewonnen, vielmehr fürchteten schon viele, dass sie wieder im Schrumpfen begriffen sei. Deswegen gehöre die „Leidenschaft für Demokratie als Lebensform […] zum besten Erbe der Jugendbewegung.“117 Heute drohe die Gefahr der zunehmenden Klerikalisierung und die Kirchen liefen in Gefahr, ihre jungen Menschen für den nächsten „Heldentod“ abzurichten.118 Sei das nicht schon zwei Mal geschehen, fragt Gollwitzer dann bewusst provokativ : „Stimmen nicht alle Zitate, mit denen man heute beweist, wie der Weg der bündischen Jugend zielsicher ins Dritte Reich einmündete? Jawohl, sie stimmen. Die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus war unter uns ebenso verbreitet wie unter den Erwachsenen. Die völkische Selbstanbetung fand auch bei uns Gefallen, und der Arierparagraph spukte schon früh in einigen Wandervogelgruppen. Es ist zu unserer besonderen Beschämung geschehen, daß die gesellschaftlichen Visionen der Jugend114 115 116 117 118
Ebd., S. 636. Ebd., S. 637. Ebd., S. 637 [Hervorhebung im Original gesperrt, BB]. Ebd. Ebd., S. 638.
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bewegung, die bei uns in Deutschland zerstoben sind, von jungen jüdischen Menschen in Israel heute in die Wirklichkeit übersetzt sind wie sonst nirgends in der Welt.“119
Gerade dieser Absatz macht deutlich, warum Gollwitzers Rede für solch ein Aufsehen und auch gehörigen Unmut sorgte. Der Zusammenbruch Deutschlands sei nicht 1945 geschehen, sondern 1933 und viele Jugendbewegte hätten tatkräftig daran mitgewirkt. Aus all diesen Erfahrungen müsse ein unbedingtes Eintreten für den Frieden erfolgen und zwar in Solidarität mit der Jugend der ganzen Welt.120 Der Rückblick auf die Vergangenheit, so schließt Gollwitzer dann seine Rede, ist der Ermöglichungsgrund für eine von den begangenen Irrtümern freie Zukunft und muss darum als deren Vorbedingung angesehen werden.121
Schluss: Links, jugendbewegt – und kritisch Bei allen unterschiedlichen Akzentsetzungen bringt der Vergleich von Dirks und Gollwitzer doch spannende Parallelen hervor. Beide waren in nicht unerheblichem Maße von der Jugendbewegung und ihren Idealen geprägt, auch wenn sie sich später durchaus kritisch mit diesen Erfahrungen auseinandersetzten. Gleichwohl blieb ihre Überzeugung bestehen, dass sie auch für die Zukunft etwas Bleibendes darstelle. Umso wichtiger schien es ihnen, in eine kritische Auseinandersetzung mit der (deutschen) Vergangenheit einzutreten und die Jugendbewegung in diesen kritischen Blick miteinschließen. Als progressive, linke Denker verarbeiteten beide ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, indem sie sich in ähnliche Themenfelder einarbeiteten, trotz ihrer unterschiedlichen Berufe. Bewegt von Themen und Erfahrungen bemühten sich beide, ihrerseits zu bewegen; sie wurden zu „Motoren“.122 Nicht zuletzt aber waren beide kritische Denker. Klaus Große Krachts Beschreibung vom Pneuma der Kritik als Merkmal des Linkskatholizismus lässt sich auch auf linksprotestantische Intellektuelle wie Gollwitzer übertragen.123 Im Kritisieren von Missständen lag sicherlich ein elementarer Bestandteil ihres Schaffens. Womöglich ist damit, wenn man an Karl Mannheim denkt, ein freischwebendes Moment konstitutiv für die Rolle, die man außerhalb des Mainstreams einnimmt.124 119 120 121 122 123
Ebd. Vgl. ebd., S. 639. Vgl. ebd., S. 640. Vgl. Anm. 69. Vgl. zeitgenössisch Hermann Ringeling: Kritisches Christentum. Wirkungen und Folgen religiöser Gesellschaftskritik, München 1972. 124 Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, 3., vermehrte Auflage, Frankfurt a. M. 1952.
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»Das mißliche Geschäft der Selbstbespiegelung«. Ernst Rudolf Huber und die deutsche Jugendbewegung*
Die Beziehungen des Staatsrechtlers Ernst Rudolf Huber1 zur deutschen Jugendbewegung waren zwiespältig. Zum einen hat sie ihn lebenslang geprägt, zum anderen war das Verhältnis mehr als instabil, wirkt es doch wie ein Auf und Ab zwischen unmittelbarer Nähe und relativer Ferne, das insbesondere von den politischen Rahmenbedingungen abhängig war. Hubers Aktivitäten in der Jugendbewegung beginnen in den 1920er Jahren und reichen mindestens bis in die 1960er Jahre. Mehr als bezeichnend ist, dass er sie in seinen autobiografischen Schriften an nur wenigen Stellen überhaupt erwähnt und dann auch nur kurz streift.2 Aus Briefwechseln, Erinnerungen seiner Freunde oder aus seiner Familie ist jedenfalls bekannt, dass die bündischen Beziehungen für Huber eine wichtige Bedeutung besaßen. Sie dienten als persönliche Bande ebenso wie als berufliches Netzwerk, und sie entfalteten ihre Wirksamkeit aus Hubers tiefer innerer Verbundenheit zum jugendbewegten Weltbild und zu den bündischen Idealen heraus. Nachfolgend wird den Spuren der verschiedenen bündischen Kontakte von Ernst Rudolf Huber vor und nach 1945 nachgegangen; diese werden näher beschrieben, analysiert und eingeordnet.
* Der Wortlaut entspricht weitgehend dem Vortrag während der Archivtagung 2017; die Anmerkungen beschränken sich auf die notwendigen Nachweise. Für kritische Durchsicht und konstruktive Ratschläge danke ich Edgar Liebmann und Ulrich Sieg. 1 Zur Person Hubers sei auf folgenden Sammelband verwiesen: Ewald Grothe (Hg.): Ernst Rudolf Huber. Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015. Dort findet sich die ältere Literatur aufgeführt. Vgl. auch Christoph Gusy : Ernst Rudolf Huber (1903–1990). Vom neohegelianischen Staatsdenken zur etatistischen Verfassungsgeschichte, in: Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Wolff (Hg.): Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland – Österreich – Schweiz, Berlin, Boston 2015, S. 589–601. 2 Eine Edition ungedruckter autobiografischer Zeugnisse Hubers findet sich bei Ewald Grothe (Hg.): Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926–1981. Mit ergänzenden Materialien, Berlin 2014, S. 520–581. In den Reden von 1961 und 1983 übergeht Huber seine Mitgliedschaft im Wandervogel; ebd., S. 558, 572.
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Prägungen und Beziehungen Hubers zur Jugendbewegung vor 1933 Über Ernst Rudolf Hubers frühe politische Prägungen ist vergleichsweise wenig bekannt. Seine Jugend und frühe Erwachsenenzeit als 15- bis 20-Jähriger von etwa 1918/19 bis 1921/22 liegt weitgehend im Dunkeln, weil schlichtweg (auto-)biografische Quellen fehlen. Er wuchs als Sohn eines Kaufmanns in Oberstein an der Nahe auf. Der Ort gehörte damals zum Fürstentum Birkenfeld, das seinerseits eine Exklave des Großherzogtums Oldenburg war. Somit zählte die Region westlich von Bad Kreuznach territorial zu einem norddeutschen Kleinstaat, während sie geografisch im Rheinland lag.3 Bei einer generell schlechten Quellenlage gibt es immerhin folgende Aussage Hubers aus dem Jahr 1987, also aus der Rückschau rund siebzig Jahre später. Darin spricht er von einer »[s]eit 1908 anhaltenden europäischen und zugleich inneren Krisenzeit. Frieden, äußere Sicherheit und verläßliche innere Ordnung waren für unsere Altersstufe nur traumhafte Erinnerung oder nebelhafte Hoffnung. Was die damalige Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen kannte, war im Kern eine Kette von inneren Kämpfen: von Streiks, von Vertrauenskrisen, von Erschütterungen des Ansehens des kaiserlichen Amtes, und zugleich von äußeren Krisen: Bosnienkrise, Balkankrise, Marokkokrise, Tripoliskrise. Daran reihte sich der Weltkrieg mit seinen Siegeshoffnungen und Teilerfolgen, mit den beginnenden Niederlagen, endend im äußeren Zusammenbruch und im inneren Umsturz. Die ersten Nachkriegsjahre waren erfüllt von äußerer Bedrückung, von inneren Not- und Gewaltzuständen und von den zu ihrer Überwindung bestimmten Notmaßnahmen.«4 Es handelte sich hierbei nicht nur um Hubers individuelle Wahrnehmung, sondern um eine Generationserfahrung: Die Multiplizierung von Krisen und Notlagen, von Krieg und Nachkrieg, von Unsicherheit und Ungewissheit bildete den Erfahrungsraum der Jahre vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Hinzu kommt, dass sich diese Erfahrungen bei einem Jugendlichen besonders tief einprägten und lebenslange Nachwirkungen zeitigten. Huber, Jahrgang 1903, zählte zur sogenannten Kriegsjugendgeneration der 3 Huber selbst sprach später von einer »staatsrechtlich-historischen Kuriosität«. Ernst Rudolf Huber : Lebensbericht, 1961/62, in: Grothe: Briefwechsel (Anm. 2), S. 556–568, hier S. 556. 4 Ernst Rudolf Huber : Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988, S. 33–50, hier S. 34. Vgl. auch Ewald Grothe: Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2005, 53. Jg., S. 216–235, bes. S. 219–222.
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zwischen 1900 und 1910 Geborenen, die den Ersten Weltkrieg erlebte, aber aufgrund ihres geringen Alters nicht zum Militär eingezogen wurde und damit nicht an die Front musste.5 Kurz vor Kriegsbeginn trat Huber als Schuljunge im Alter von elf oder zwölf Jahren der Wandervogel-Bewegung bei.6 Bei Kriegsende war er 15 Jahre alt. In einem heroisierenden Sprachstil hebt er in dem Zitat das Schicksalhafte und Grundstürzende der Erlebnisse hervor7 und legt mit dem leitmotivisch wiederholten Krisenbegriff zugleich nahe, dass das Streben nach Ordnung für seine Generation geradezu unausweichlich erschienen sei. Das ausgeprägte Krisenempfinden der kurz nach der Jahrhundertwende geborenen Generation und dessen Rückwirkungen auf den Verfassungsbegriff, der zu einer prägenden Ordnungsvorstellung wurde, hat Huber an anderer Stelle eindringlich beschrieben: »Wir bald nach der Jahrhundertwende Geborenen sind in Verfassungskrisen [seit den Reichstagswahlen von 1912, E.G.], in Verfassungskonflikten, im Verfassungsumsturz, in mühsamem Verfassungsneubeginn und bald in neuen Verfassungskrisen aufgewachsen. Wir haben ›Verfassung‹ nicht als gesicherte normative schutzgewährende Ordnung, sondern als einen gefährdeten, umstrittenen, schutzbedürftigen, aber auch reformbedürftigen Gesamtzustand erlebt. […] [D]ie Verfassung war für unsere Generation ein Stück konkret erlebter Wirklichkeit.«8 Diese Wahrnehmung der Verfassung als potentiell bedrohter normativer Ordnung spiegelte sich in einem »existentiellen, auf Wirklichkeit und Wert bezogenen Staats- und Verfassungsdenken« wider. Die Methode des staatsrechtlichen Positivismus mit ihrem Postulat der unpolitischen Wertneutralität erschien demgegenüber hoffnungslos veraltet und überlebt. Ihr machte man den Vorwurf, dass sie »die Verfassung auf ein normatives Legalitätssystem reduziere, statt sie als einen Inbegriff ›wirklicher Fundamentalprinzipien‹ von ›überlegaler Würde‹ in das Bewußtsein zu heben« und sie damit »anschaubar und erlebbar« zu machen.9
5 Vgl. Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. 6 So Tula Huber-Simons in einem Brief an den Biografen Ralf Walkenhaus, 07. 09. 1994; Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 554. 7 Ähnlich heißt es 1952: »Der Zusammenbruch des alten Staates stürzte uns in vielfältige Verwirrung.« Ernst Huber : Höhere Schule und staatswissenschaftliche Bildung, in: 80 Jahre Göttenbach. Staatlich-naturwissenschaftliches Gymnasium Idar-Oberstein, o. O. [Idar-Oberstein] 1952, S. 67–72, hier S. 67. 8 Ernst Rudolf Huber : Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit, in: Hans-Wolf Thümmel (Hg.): Arbeiten zur Rechtsgeschichte. Festschrift für Gustav Klemens Schmelzeisen, Bd. 2, Stuttgart 1980, S. 126–141, hier S. 134. 9 Ebd., S. 131, 134. Interessant ist, dass Schmitt, dem Huber diesen Aufsatz zuschickte, keineswegs mit der Deutung einverstanden war, er habe die führende Rolle unter den deutschen Staatsrechtlern der Zeit eingenommen. Dieses Abschieben der Verantwortung der »damals Jungen« (ebd., S. 131) auf ihn bezeichnete er in einem kurzen Kommentar als »vergifteten
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Lebensweg und Lebensleistung standen nicht nur für Huber, sondern generell für die Angehörigen seiner Generation in besonders enger Wechselbeziehung. Zu den Charakteristika der Kriegsjugendgeneration gehörten Krisenerfahrung und Wertewandel, die – zumal bei akademischen Karrieren – oft zu einer sehr zielstrebigen beruflichen Einstellung führten. Zugleich machten diese Merkmale für eine republikfeindliche Haltung besonders anfällig, weil die politischen und ökonomischen Krisen der Zwischenkriegszeit den eigenen Berufsweg behinderten, wenn nicht gar blockierten. Das Empfinden dieser Weimarer Generation von Mittzwanzigern war gekennzeichnet durch einen antirepublikanischen Ehrgeiz, in den vielfach Bitterkeit und zum Teil Aggression einflossen. Ein Vierteljahrhundert später, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Huber nüchtern fest, er sei »enttäuscht« gewesen »von der parlamentarischen Demokratie des Weimarer Stils«.10 In dieser Entlastungsschrift Hubers, einem »Expos8«, das er zu seiner Verteidigung für das anstehende Entnazifizierungsverfahren 1947 verfasste, findet sich sein jugendbewegtes Engagement bereits im zweiten Satz. »Seit 1913 gehörte ich der Jugendbewegung an, in der ich zuletzt als Mitbegründer und Führer des ›Nerother Wandervogel‹ wirkte. Der Bund wurde nach 1933 mit besonderem Haß verfolgt und in einer Liste verfemter Organisationen ausdrücklich aufgeführt. Der mir nahe befreundete Leiter des Bundes[,] Robert Oelbermann [,] fand im Konzentrationslager den Tod. Unter dem Einfluß der Jugendbewegung formte sich in dem Zusammenbruch von 1918 mein frühes politisches Denken.«11 Huber war linksrheinisch geboren und erlebte somit die Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar. Aus dieser Zeit rührt bei ihm ein deutliches antifranzösisches Ressentiment, das er zeitlebens nicht verlor.12 Konfrontiert mit den massiven politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Kriegsniederlage, engagierte er sich in der Jugendbewegung und wurde Mitgründer des Nerother Wandervogels.13 Der Nerother Wandervogel war völkisch ausgerichtet, trat für ein geeintes Deutsches Reich ein, verhielt sich konfessionell neutral und zeigte sich partei-
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Liebesgruß«. Zit. nach Dirk Blasius: Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001, S. 24. Ernst Rudolf Huber : Expos8, 1946/47, in: Grothe: Briefwechsel (Anm. 2), S. 520–556, hier S. 522. Ebd., S. 520. So auch Ralf Walkenhaus: Huber, Ernst Rudolf, in: Rüdiger Voigt, Ulrich Weiß (Hg.): Handbuch Staatsdenker, Stuttgart 2010, S. 179–183, hier S. 179. Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1997, S. 11. Weitere Informationen bei Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften. Mit einem Nachwort von Hans Raupach, Düsseldorf, Köln 1974, S. 211–224; Rudolf Kneip: Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919–1938, Frankfurt a. M. 1974, S. 190–192. Tula Huber-Simons an Ralf Walkenhaus, 07. 09. 1994. Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 554.
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politisch nicht gebunden. Nach seiner Satzung erklärte der Nerother Bund Freundschaft, Führertum und Gefolgschaftstreue zu seinen Grundlagen.14 Die Ideale der Naturverbundenheit und das Gemeinschaftserlebnis haben Huber offenbar überzeugt und angelockt. Der Wandervogel gab ihm Orientierung und Halt in einer Welt, die in seiner und der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen aus den Fugen geraten war. Immer wieder treten ähnliche Einschätzungen in Hubers autobiografischen Aufzeichnungen hervor. Später hebt er die enge Gemeinschaft am Lehrstuhl oder die Dozententreffen in privater Runde hervor und betont ganz auffällig die ausgedehnten Ausflüge mit der Familie und die sportlichen Aktivitäten in der freien Natur wie Wandern oder Skifahren. Welche Aktivitäten Huber zu Beginn der 1920er Jahre in der Jugendbewegung an den Tag legte, ist unbekannt.15 Die in den 1920er Jahre zunehmend straffere und militärischere Ausrichtung der Jugendbünde sagte Huber jedenfalls weniger zu. In der Besprechung eines Buches des Philologen Otto Stählin über die deutsche Jugendbewegung schrieb er 1931: »Denn was seit jener Zeit [gemeint war 1921] unter dem Namen und in den Formen, mit den Symbolen und selbstverständlich auch mit den ›Ideologien‹ der Jugendbewegung auftritt, hat mit dem einmaligen und nicht wiederholbaren Ereignis der deutschen Jugendbewegung nur die Schale gemein […]. Was dann blieb, waren Organisationen mit den Zielen und Ideen, aber ohne den Geist, der dem Wandervogel Sinn und Haltung gab.«16 Huber war damit gut ein Jahrzehnt nach seinem Beitritt zu einem Jugendbund auf deutliche Distanz gegangen, nicht zu den Grundgedanken, aber zu den neuen Formen und dem äußeren wie inneren Erscheinungsbild der deutschen Jugendbewegung um 1930.
Jahre der »Stille« nach 1933 In den Jahren des Nationalsozialismus scheinen die Jugendbewegung und auch alle Kontakte Hubers zu den ehemaligen Kameraden aus bündischer Zeit allenfalls eine sehr marginale Rolle für ihn gespielt zu haben. Jedenfalls lassen sich – bei generell schwieriger Quellenlage – hierzu fast keine Dokumente finden. Ob es dafür ideologische Gründe gab, lässt sich nur spekulieren. Einerseits war ein öffentliches Bekenntnis zur Jugendbewegung für einen führenden NS-Wissen14 Christian Starck: Ernst Rudolf Huber. 18. Juni 1903–28. Oktober 1990, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1991, Göttingen 1992, S. 232–243, hier S. 232f. 15 Die Unterlagen zum Nerother Wandervogel im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) sind äußerst schmal und geben hierüber keinen Aufschluss; AdJb, A 19, Nr. 3. 16 Ernst Rudolf Huber : Rez. zu Otto Stählin, Die deutsche Jugendbewegung. Ihre Geschichte, ihr Wesen, ihre Formen, in: Der Ring, 1931, 4. Jg., S. 236f., hier S. 236.
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schaftler sicher nicht möglich, andererseits waren damit Briefkontakte keineswegs völlig ausgeschlossen, wenn man nicht eine diesbezügliche Zensur befürchten musste. Wenn es aber Schriftwechsel gegeben haben sollte, sind sie im Fall Hubers nicht überliefert. An einer Stelle seiner »Straßburger Erinnerungen« wird indes das Singen von Liedern der Jugendbewegung erwähnt.17 Und in einem anderen Zusammenhang meint er, dass es an der Zeit sei, eine Geschichte der Jugendbewegung zu schreiben, und setzt über die Jahre 1944/45 fort: »Die Einwirkung der Jugendbewegung auf die geistige Entwicklung der letzten 4 Jahrzehnte [kann] gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gerade seit sie als Organisation nicht mehr besteht, wirkt sie in der Zerstreuung unsichtbar fort«.18
Aufbruch im Jahr 1947 Das nahezu vollständige Schweigen über die Jugendbewegung endete für Ernst Rudolf Huber in den Jahren nach 1945. Inzwischen lebte er mit seiner Familie zurückgezogen und nach der Auflösung der Reichsuniversität Straßburg ohne Anstellung in Falkau im Hochschwarzwald. An Pfingsten, vom 24. bis 26. Mai 1947, nahm er an dem sogenannten Altenberger Konvent teil.19 In einem ehemaligen Prämonstratenserinnenstift wenige Kilometer westlich von Wetzlar trafen sich rund achtzig Angehörige verschiedener jugendbewegter Bünde. Der Historiker und Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps wertete als einer der Hauptorganisatoren das Altenburger Treffen als ein »großes, ja überwältigendes Erlebnis«,20 als »verheißungsvollen Neuanfang erwachsener Männer und Frauen aus der alten Jugendbewegung«.21 Die Teilnehmer beabsichtigten, an die Tradition der freideutschen Jugend von 1913 anzuknüpfen. Sie entstammten verschiedenen Bünden und waren entschlossen, einen Freideutschen Kreis zu gründen. Huber trug sich als Angehöriger des »Nerother Bundes« in die Teilnehmerliste ein. Er kannte einige Anwesende persönlich, so die Journalisten Rüdiger Robert Beer, Werner Kindt und Harry Pross, die Nationalökonomen
17 Ernst Rudolf Huber : Straßburger Erinnerungen, in: ders.: Autobiographische Aufzeichnungen. Als Manuskript gedruckt, o. O. [Freiburg] 1999, S. 109. 18 Ebd., S. 126. 19 Dazu vor allem: Winfried Mogge: Der Altenberger Konvent 1947. Aufbruch einer jugendbewegten Gemeinschaft in die Nachkriegsgesellschaft, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1998, 18. Jg., S. 391–418. Die Unterlagen befinden sich im Nachlass Werner Kindt (AdJb, N 14, Nr. 133) sowie im Bestand Freideutscher Kreis (AdJb, A 200, Nr. 29). 20 Freideutscher Rundbrief, September 1947, Nr. 1, S. 1. 21 Hans Joachim Schoeps: Die letzten dreißig Jahre, Stuttgart 1956, S. 146.
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Wilhelm Michael Kirsch und Bruno Seidel sowie den Juristen Constantin Cramer von Laue.22 Eines der Hauptthemen auf dem Altenberger Treffen war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Im Vorfeld hatten allerdings mehrere Interessenten aus Bedenken wegen der noch nicht abgeschlossenen Entnazifizierungsverfahren ihre Teilnahme abgesagt. Einige Anwesende fühlten sich dazu berufen, ihr Verhalten in der NS-Diktatur zu erklären. Das von Schoeps ausgegebene Ziel war »die geistige Überwindung des Nationalsozialismus«. Die Fragen von Schuld oder Mitschuld der Jugendbewegung, ihrer Bünde oder einzelner ihrer Mitglieder wurden in den Aussprachen intensiv diskutiert. Ausweislich des Protokolls meldete sich an diesem Punkt Huber zu Wort und stellte zur Übernahme von Begriffen der Jugendbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus fest: »Wenn man Formeln von großer Prägnanz ausspricht, dann ist man auch verantwortlich für den Mißbrauch, der damit getrieben wird. […] Führung und Gefolgschaft, das war eine Zauberformel, die einem ungeheuren Mißbrauch eine Chance gab.«23 Das war nichts anderes als eine Selbstanklage.24 Huber ging in einem eigenen Referat ausführlicher auf das Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus ein. »Der NS muß überwunden werden, das ist eine Notwendigkeit, wir müssen jedoch vorher in geistige Auseinandersetzung mit ihm treten. In diesem Kreise kann rückhaltlos gesprochen werden. Soweit wir im NS gestanden haben, gewinnen wir jetzt die nötige Distanz dazu, die Mißstände und Mißbräuche treten stärker zutage. Wir haben während der 12 Jahre bereits ein gut Stück der Auseinandersetzung hinter uns gebracht, in den letzten zwei Jahren war das sehr schwierig. […] Von uns sind nur wenige aus taktischen Gründen in die Partei eingetreten, wir glaubten an ein echtes Anliegen, so sind viele von uns einer verhängnisvollen Fiktion zum Opfer gefallen. Wenn man den NS vom Jahre 1945 aus betrachtet, dann ist die Behauptung, er sei eine Bewegung des Nihilismus gewesen, richtig. Im Jahre 1933 sah die Sache ganz anders aus. Wir fragen nun, was hat die Jugendbewegung mit 22 Vgl. die Teilnehmerliste bei Mogge: Konvent (Anm. 19), S. 413–415. 23 Zit. nach ebd., S. 410. AdJb, A 200, Nr. 29. Im Tagungsprotokoll im Nachlass von Werner Kindt heißt es wörtlich: Huber zeigte auf, »daß man auch an dem Mißbrauch ausgegebener Parolen durch andere Schuld tragen könne. Wenn in Kreisen der Jugendbewegung vom Dritten Reich oder von der Führeridee gesprochen worden sei, dann ist gewiß etwas ganz anderes gemeint gewesen als das, was die Nazis daraus gemacht haben. Aber esoterische Geheimnisse können daemonische Gewalt erhalten, wenn sie verraten werden und Demagogen in die Hände kommen! Es sei in der Geschichte nun einmal so, daß man für prägnante Formulierungen von großer Schlagkraft oder für Leitbilder von hohem massensugggestivem Gehalt die Verantwortung behalte, auch wenn ganz etwas anderes daraus wird.«; AdJb, N 14, Nr. 133. 24 Zu den Gedanken über Führertum und Gefolgschaft vor 1945 siehe Ernst Rudolf Huber : Verfassung, Hamburg 1937, S. 103.
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dem NS zu tun. Warum haben wir ein echtes Anliegen darin vermutet. Wir hofften, die Gedanken der Jugendbewegung im NS wiederzufinden (z. B. Volksgemeinschaft, Überwindung des Klassenkampfes, Führung und Gefolgschaft, Elitebildung, Persönlichkeit, Freiheit und Bildung). Im NS schien die Möglichkeit einer praktischen Lösung all dieser Fragen und Ideale zu liegen. Die Jugendbewegung war von sich aus nicht zur politischen Aktion fähig, nun schien eine große politische Bewegung da zu sein, die fähig und bereit war, zu handeln. Wir haben uns grausam getäuscht, es war ein furchtbarer Irrtum. Wir fragen uns, ob der NS die Chance einer anderen Entwicklung gehabt hat. […] Wir sind erfüllt von dem Schmerz, daß alles, was der Jugendbewegung heilig war, mißbraucht worden ist. Keines der uns heiligen Worte kann mehr ausgesprochen werden, ohne daß man dabei erröten muß. Es ist zu einer Diffamierung des preußischen Staatsethos und der Reichsidee, des Nationalgefühls gekommen. Der NS hat diese Ideen aufgegriffen und in seiner Polemik verwendet. Der NS hat mit terroristischen Methoden gearbeitet, dagegen lehnen wir uns auf. Wir sind hier zur rückhaltlosen Wahrhaftigkeit gezwungen, wir müssen deshalb bekennen, daß auch im Volk und in der bündischen Jugend die Möglichkeiten zum Terror lagen. Und zwar entspringt er aus einer radikalen geistigen und sittlichen Haltung, aus einer Unbedingtheit im Absoluten.«25 Huber stellte anschließend die Jugendbewegung in die Tradition der Französischen Revolution, der Burschenschaften und der Attentäter des 20. Juli 1944. Man habe aus dieser Haltung heraus zum Terror des Nationalsozialismus geschwiegen. Er sprach von Missbrauch und Täuschung, erkannte aber auch die in der Jugendbewegung selbst vorhandenen problematischen Einstellungen. Ende Juni 1947 wandte sich Huber brieflich an Hans-Joachim Schoeps und kam erneut auf das Verhältnis der Jugendbewegung zum Nationalsozialismus zu sprechen: Die Debatte darüber sei »verzerrend« wiedergegeben, dies sei »wenn nicht verhängnisvoll, so doch jedenfalls gefährlich«. »Wir haben in Altenberg gesehen, wie unendlich differenziert dieses Problem ist.« Man dürfe es nicht der »vergröbernden Diskussion der Journaille« ausliefern. Das Treffen in Altenberg werde hoffentlich durch »ständige Integration der neugeknüpften Beziehungen, durch Briefe und neue Begegnungen« eine besondere Form der Aktivität hervorbringen. Er »lebe in ständiger Auseinandersetzung mit dem, was dort aufgebrochen ist«.26 Tatsächlich war Huber in die Überlegungen des Führungszir25 AdJb, A 200, Nr. 29. 26 Huber an Schoeps, 26. 06. 1947. Der Briefwechsel wird von Ulf Morgenstern und Daniel Stienen für eine Edition in der »Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte« vorbereitet: Wiederbelebungen. Ernst Rudolf Huber und Hans-Joachim Schoeps, Preußen und die Jugendbewegung nach 1945, herausgegeben und eingeleitet von Ulf Morgenstern und Daniel Benedikt Stienen. Ich danke ihnen herzlich für die Möglichkeit, die Transkription einzusehen und aus den Briefen zu zitieren.
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kels der Freideutschen 1947/48 eng eingebunden. Das zeigt sich in den Korrespondenzen von Rüdiger Robert Beer, Werner Kindt und Hans Raupach. Huber war Mitglied des Freideutschen Konvents und forderte nachdrücklich dazu auf, »konstruktive Leitbilder zu entwickeln«. Die Parteien seien nicht in der Lage, Lösungen zu finden; deshalb müsse die Jugendbewegung die Diskussion über Föderalismus und Demokratie führen.27
Hubers Ausarbeitung »Idee und Realität eines Freideutschen Bundes« Im Frühjahr 1948 verfasste Huber eine Ausarbeitung, die er kurz darauf beim zweiten Treffen des Freideutschen Kreises, das an den Ostertagen Ende März wieder im Kloster Altenberg bei Wetzlar stattfand, vortragen wollte.28 In den zehn eng beschriebenen maschinenschriftlichen Seiten über »Idee und Realität eines Freideutschen Bundes« diagnostiziert er Sinn und Zweck ebenso wie Aufgaben und Perspektiven eines solchen Bundes. Zu Beginn macht er deutlich, dass es ihm nicht um »das mißliche Geschäft der Selbstbespiegelung, der eigenen Wesensanalyse, der unfruchtbaren Selbstdeutung« gehe. Huber spricht von der Chance, aber auch von der Verantwortung, die dem Bund »in dieser Zeit der großen Wandlung der Werte und der letzten Sammlung der Kräfte« auferlegt sei. Letztlich macht er deutlich, dass es ihm weniger um eine historische Rückschau als um die zukünftige Entwicklung des Freideutschen Kreises geht. Huber sah den von ihm vorgeschlagenen Freideutschen Bund als eine Form der sozialen Einung und die Jugendbewegung insgesamt als »eine Form der Neo-Romantik«. Er kritisierte das »problematische Verhältnis zur Wirklichkeit« ebenso wie »die Unfähigkeit zur Aktion«. Mit ihrem Organisationsmodell von Führung und Gefolgschaft habe die Jugendbewegung »einen Beitrag zu dem explosiven Stoff, aus dem der moderne Jacobinismus sich formte«, geleistet. Huber warnte eindringlich vor einer »beflissenen Anpassung an die Verhältnisse und die vorbehaltlose Unterwerfung unter die jeweilige Macht«. In der Zukunft stünden große Aufgaben vor dem Freideutschen Bund: Er solle die »Ordnung der sozialen Einheit« erneuern bzw. »eine neue Ordnung der 27 AdJb, N 14, Nr. 134; A 200, Nr. 16 (Beer, 09. 12. 1947). 28 Grothe: Briefwechsel (Anm. 2), S. 504–519 (hier versehentlich auf 1949 datiert). Alle nachfolgenden Zitate daraus. Dem Bericht von Heinz Dähnhardt in: AdJb, N 14, Nr. 134, ist zu entnehmen, dass Hubers Ausarbeitung nicht vorgetragen werden konnte. Sie war unter dem Titel »Idee und Wirklichkeit unseres Bundes« im März 1948 bereits konzipiert oder lag sogar schon vor. Sie sei »auf das Grundsätzliche gerichtet« und solle die Verfassungsdiskussion vorbereiten. Huber hatte sich im Vorfeld mit dem Pädagogen Friedrich Kreppel verständigt. Huber an Kindt, 17. 03. 1948; die Einladung für den 27.–29. 03. 1948; AdJb, A 200, Nr. 17.
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geistigen Werte und der materiellen Güter errichten«. Dabei grenzte er den Bund in aller Schärfe von einer Partei ab, die sich durch Interesse, Weltanschauung und Willen zur Macht auszeichne. Den Bund präge dagegen das »Gemeinschaftserlebnis einer bestimmten Generation«, und deshalb sei er in der Lage, »vorbildliche qualifizierte sachliche Arbeit« zu leisten und »eine von Interessen und Ideologien freie sachliche Politik« zu treiben. Es gälten für den Bund die Prinzipien von Auslese, Hierarchie, Toleranz, Solidarität, differenzierter Einheit, Freiheit und Autorität. Huber bekannte sich in seinem Text zum »Menschenbild des christlichen Humanismus«. Er formulierte als Zielvorstellung die »Wiedergeburt des Volkes nach einem halben Jahrhundert des fortschreitenden Verfalls, der beschämenden Barbarisierung«. Die Aufgabe des Freideutschen Kreises sei die Mitarbeit »am Werke der Selbstbesinnung, der Erneuerung und der Wiederaufrichtung« von Volk und Nation, eine renovatio, aber auch die Befreiung von der gegenwärtigen »Besatzungsdiktatur«. Es handelt sich bei Hubers »Idee und Realität eines Freideutschen Bundes« um ein bemerkenswertes Dokument von zurückhaltendem und teilweise demütigem Charakter. Es zeugt von Neubesinnung und drückt gelegentlich Scham angesichts der Vergangenheit aus. Aber es war nicht allein ein Bekenntnis, sondern auch ein mutiger Neuanfang. Huber ging deutlich weiter als andere belastete Intellektuelle nach 1945. Mit dieser Ausarbeitung grenzte sich Huber zudem nachdrücklich von der Einstellung seines Doktorvaters Carl Schmitt ab. Diesem berichtete er absichtlich beiläufig im Juni 1948: »Meine Beziehungen zur ›Welt‹ beschränken sich im wesentlichen auf die Pflege meiner freideutschbündischen Beziehungen. […] Ich füge Ihnen eine Aufzeichnung bei, die ich für einige wenige ausgesuchte Leute aus diesem Kreis angefertigt habe. Es ist eine Gelegenheitsschrift von mehr utopischem als realistischem Charakter.«29 Er könne sich denken, dass nur in bestimmten Kreisen, u. a. um den Staatsrechtler Ernst Forsthoff, »Ansätze für dieses Ethos der Sachlichkeit entwickelt werden könnten«. Unklar ist, welche Reaktion Huber von Schmitt eigentlich erwartete. Im Grunde konnte er sich denken, dass diese engstirnig ausfallen musste. Schmitt konnte weder mit der Jugendbewegung etwas anfangen, noch wollte er sich kritisch mit der NS-Zeit auseinandersetzen. Nachdem Huber seine Ausarbeitung im Juni 1948 an Schmitt gesandt hatte, erhielt er eine Woche später eine Antwort, in der sich das Unverständnis deutlich widerspiegelte: »Ihre ›Idee und Realität‹ hat mir wieder zum Bewusstsein gebracht, wie missverständlich und vereinsamt meine eigene Position in der vorangehenden Zwischensituation bleiben musste. […] Hier steckt wohl eine unserer größten Wesensverschiedenheiten, und ich fühle oft den Wunsch, Sie gerade darin besser zu verstehen, 29 Huber an Schmitt, 11. 06. 1948; Grothe: Briefwechsel (Anm. 2), S. 323–327, hier S. 326.
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ein Wunsch, der durch die Lektüre ihrer ›Idee und Realität‹ wieder sehr lebhaft geworden ist.«30 Huber war von Schmitts Reaktion zwar nicht überrascht, dennoch zeigte er sich tief enttäuscht über seinen akademischen Lehrer. Er beklagte die in dessen Schreiben deutlich gewordenen »Grenzen des gegenseitigen Verstehens« und legte dar, dass er die »Freude an der streitbaren Diskussion« vermisse. Man müsse, so führte er eindringlich aus, »nachträglich […] realisieren, was das ›dritte Reich‹ als Vernichtungssystem effektiv bedeutet hat«. Es gebe »kaum [eine] erschütterndere Dokumentation als den aktenmäßigen Niederschlag des Terrorismus«.31 Huber spielte damit direkt auf seinen Besuch in Nürnberg im April 1946 an, bei dem er Einblick in die Akten der Kriegsverbrecherprozesse genommen hatte.32 Im Gegensatz zu Schmitt, der nichts verstehen wollte, zeigte Huber Reue – auch und gerade angesichts der eigenen Rolle in der NS-Zeit.
Huber und die Jugendbewegung von den 1950er bis in die 1970er Jahre Aus Hubers weitgespannten Plänen für eine Erneuerung der freideutschen Bewegung wurde nichts. Zwar war ein Vortrag von ihm auf der Jugendburg Ludwigstein für den Herbst 1948 vorgesehen,33 und auch die Gründungsversammlung des Freideutschen Kreises in Freiburg fand in seinem Haus statt, aber Hubers Kontakte beschränkten sich zunehmend auf seine alten Freunde.34 Bereits im Oktober 1949 diagnostizierte er gegenüber Schoeps, dass sich der in Altenberg gegründete Freideutsche Kreis in einer Krise befinde. »Die Geschichte der Jugendbewegung ist eine Geschichte von Sezessionen. Mir ist unbehaglich dabei, daß wir dabei sind, auf diesem Weg der permanenten Dekomposition fortzuschreiten.«35 Hubers Kritik an einer gemeinschaftlichen Aktion und einem Zusammenschluss verschärfte sich in den kommenden Jahren. Im Frühjahr 1952 schied er turnusgemäß aus dem Altenberger Konvent aus.36 Es mischten sich
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Schmitt an Huber, 18. 06. 1948; ebd., S. 327–332, hier S. 330, 332. Huber an Schmitt, 07. 07. 1948; ebd., S. 332–336, hier S. 333f. Dies schildert er in einem autobiografischen Text mit dem Titel »Nürnberger Reise«. AdJb, A 14, Nr. 134. Das Thema des Referats am 15. 10. 1948 sollte sein: »Verfassung und politische Wirklichkeit. Aufgabe und Möglichkeiten der freideutschen Bewegung im politischen Leben.« 34 Rudolf Br8e: [Nachruf Ernst Rudolf Huber], in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises, August 1991, Nr. 214, S. 165f., hier S. 166. 35 Huber an Schoeps, 22. 10. 1949 (wie Anm. 26). 36 AdJb, N 14, Nr. 134.
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immer mehr Skepsis und Enttäuschung in seine Briefe. Im Januar 1957 sprach er gegenüber Schoeps vom »deplorablen Eindruck freideutschen Spiessertums«.37 Wenn es auch an Hubers weiterer Beteiligung an jugendbewegten Treffen zunehmend mangelte, so diente sein anfängliches Engagement als Argument und Beleg für seine persönliche politische Umkehr. Sein früherer Assistent aus Leipzig und Straßburg, Hellmut Becker, inzwischen Rechtsanwalt in Kreßbronn am Bodensee, wandte sich Ende 1952 an den Freiburger Ordinarius Fritz Pringsheim, als es um Hubers Lehrauftrag an der Albert-Ludwigs-Universität ging und er als Nachfolger des nach München berufenen Theodor Maunz im Gespräch war. Es stellten sich aus seiner Sicht Fragen, ob Hubers Biografie vor 1945 etwas »moralisch Fragwürdiges« anhafte und ob die Gefahr eines ideologischen Rückfalls bestehe. Becker erklärte dazu, dass Huber aus der Jugendbewegung »Sinn für politische Ordnungsformen« mitbringe und aus dieser Denkhaltung und Lebenseinstellung seinen »entscheidenden Antrieb« beziehe.38 Neben Beckers Engagement setzten sich alte Kameraden aus der Jugendbewegung in den 1950er Jahren für die Wiedererlangung eines juristischen Lehrstuhls für Huber ein.39 Aus dem Kreis der Teilnehmer des Altenberger Konvents von 1947 spielten bei den Verhandlungen um einen Ruf an die Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven40 in den Jahren 1956/57 die Journalisten Rüdiger Robert Beer und Werner Kindt eine wichtige Rolle. Beer, Beigeordneter des Deutschen Städtetages, blockierte einen drohenden Angriff der »Hannoverschen Presse«. Er teilte dem Osteuropa-Forscher Hans Raupach in Wilhelmshaven mit, dass »unser Freund« Huber auf dem Altenberger Treffen 1947 »zu den eindrucksvollsten Gestalten« gehört habe. Der Staatsrechtler habe seine führende Rolle in der NS-Zeit »ernst und schmerzhaft in sich überwunden« und »innere Kämpfe« durchstanden; er verdiene nun Respekt und die Zulassung zu einem Lehramt.41 Der Wilhelmshavener Rektor Siegfried Wendt erwiderte Beer, man habe den Eindruck, »als ob von seiten der niedersächsischen Opposition ein Wahlschlager aus der Berufung Hubers ge37 Huber an Schoeps, 28. 01. 1957 (wie Anm. 26). 38 Universitätsarchiv Freiburg, B 110, Nr. 391 (21. 12. 1952). Weitere Briefe Beckers in der Freiburger und der folgenden Wilhelmshavener Angelegenheit finden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abt. VI, Nachlass Hellmut Becker, Nr. 282. 39 Dazu bereits: Ewald Grothe: Eine ›lautlose‹ Angelegenheit? Die Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1999, 47. Jg., S. 980–1001, hier S. 990–997, sowie ders.: Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 326–328. Im Folgenden werden zusätzliche Quellen erstmals herangezogen. Für Hinweise zur Wilhelmshavener Hochschule danke ich dem Zeitzeugen Horst Müller. 40 Zur Wilhelmshavener Hochschule maßgeblich: Jens Graul: »Wilhelmshaven muß mehr werden als es war.« Der kulturelle Neuanfang 1945, Wilhelmshaven 2009, S. 131–175. 41 Universitätsarchiv Göttingen, Kurator, Personalakte Huber, Bd. 1, fol. 69 (09. 10. 1956).
Ernst Rudolf Huber und die deutsche Jugendbewegung
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macht werden sollte.«42 Neben Beers Einfluss auf die Sozialdemokraten hoffte man darauf, dass er Verbindungen zu den Gewerkschaften vermitteln könne, die angeblich eine Veröffentlichung über »Feinde der Demokratie« planten. Über Kindt konnte ein drohender Artikel im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« verhindert werden, wusste Wendt an den niedersächsischen Sozialminister Heinz Rudolph zu berichten. Bei Huber sei schließlich, so versicherte er, »kein Ansatzpunkt für eine politische Kritik zu finden«.43 Auch der Braunschweiger Stadtrat Frank Glatzel, Leiter des Jungdeutschen Bundes nach 1919, wurde auf Huber angesprochen. Nach dem Willen Wendts sollte er den sozialdemokratischen Oberbürgermeister Otto Bennemann für Huber einnehmen, der sich im Nationalsozialismus »persönlich absolut integer verhalten« habe. Der Rückzug des Staatsrechtlers aus der Wissenschaft nach 1945 spreche »für seine sittliche Kraft«.44 Glatzel betonte, dass man »einen Wissenschaftler nicht ständig ausschalten kann, weil er einmal in den Anfangszeiten seiner Laufbahn auf ein falsches Pferd gesetzt« habe.45 Er kenne Huber aus dem Freideutschen Konvent und könne sich daher für ihn verbürgen. Neben dem umtriebigen Rektor Wendt verwendete sich dessen Vorgänger Hans Raupach besonders aktiv für die Berufung des Verfemten an die Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven. Raupach nahm Kontakt mit Glatzel auf und betonte für den Fall, dass man die Verlegung der Hochschule nach Braunschweig erwäge, mit Huber »eine sehr beachtliche wissenschaftliche Gruppe« beisammen sei.46 Raupach und Huber kannten sich seit 1932. Nachdem der Wilhelmshavener Lehrstuhl durch den Weggang von Christian-Friedrich Menger nach Speyer frei geworden und eine erste Berufungsliste gescheitert war, hatte sich Raupach im Dezember 1955 vertrauensvoll an seinen alten Weggefährten Huber gewandt und ihm Dokumente zur Wilhelmshavener Hochschule zugesandt. Ende Januar 1956 konnte Raupach Huber bereits mitteilen, »daß wir Dich an erster Stelle eines Berufungsvorschlags mit weitem Abstand […] genannt haben«. Huber kam zu einem persönlichen Besuch nach Wilhelmshaven und wohnte bei seinem alten Freund und dessen Frau, die gleichfalls 1947 in Altenberg dabei gewesen war.47 Raupach erwartete bei einer Berufung Hubers »mögliche Angriffe der Opposition« und eine »politische Attacke«.48 Gegenüber 42 43 44 45 46
Ebd., fol. 76–77 (18. 10. 1956). Ebd., fol. 46–47 (27. 08. 1956). Ebd., fol. 48–49 (30. 08. 1956). Ebd., fol. 55 (25. 09. 1956). Stadtarchiv Braunschweig, G IX 42, Nr. 49 (17. 10. 1956) und die Antwort Glatzels am 16. 11. 1956. 47 Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Hans Raupach, Nr. 7. Huber an Raupach, 29. 12. 1955, Raupach an Huber, 28. 01. 1956, Huber an Raupach, 09. 03. 1956. 48 Ebd., Raupach an Huber, 28. 01. 1956.
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Ewald Grothe
dem Kultusministerium in Hannover hob er Hubers zweibändiges Mammutwerk über das »Wirtschaftsverwaltungsrecht« besonders hervor. In den Rezensionen werde die »Überwindung früherer einseitig politischer Einstellung bescheinigt«. Außerdem passe Huber bestens nach Wilhelmshaven, weil er die »notwendige Integration rechtswissenschaftlichen, ökonomischen und soziologischen Denkens in neuer, den Forderungen der Zeit entsprechender Weise« beabsichtige.49 In einer Besprechung im Kultusministerium war man sich zwar einig, dass die Berufung Hubers »ein starkes Politikum« sei, dennoch wollte man sie angesichts des »Mangels an Hochschullehrern des öffentlichen Rechts« durchsetzen.50 1957 ging Huber schließlich nach Wilhelmshaven,51 wo der Nationalökonom Bruno Seidel, gleichfalls ein Altenberger Teilnehmer, im Jahr von Hubers Berufung Rektor wurde. Die letzten überlieferten schriftlichen Zeugnisse eines Kontaktes von Huber zu Mitgliedern der Jugendbewegung stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Sie ergeben aber kein geschlossenes Bild. Ernst Rudolf Huber war 1962/63 Mitglied der Freideutschen Gesellschaft,52 und 1963 erklärte er gegenüber einer Zentralfigur der Jugendbewegung, Knud Ahlborn, seinen Beitritt zur Gilde Hoher Meißner.53 Anfang der 1970er Jahre korrespondierte er schließlich nochmals mit Werner Kindt, der ihn 1970/71 auch besuchte und von dem ein kleiner Briefwechsel mit Hubers Frau Tula überliefert ist.54 Nach Hubers Tod erschien ein kurzer Nachruf in einem Rundbrief des Freideutschen Kreises.55
Huber und die Jugendbewegung: ein Resümee Insgesamt lässt sich über das jugendbewegte Engagement von Ernst Rudolf Huber aufgrund mangelnder schriftlicher Zeugnisse nur ein lückenhaftes Bild zeichnen. Dies ist erstaunlich, wenn man in Betracht zieht, dass seine jugendbewegten Aktivitäten über fünfzig Jahre seines Lebens angedauert haben. Wir wissen dennoch wenig Konkretes über die Anfänge und über das Ausklingen 49 Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover, Best. Nds. 401, Acc. 2003/ 128, Nr. 335, fol. 31–35. Raupach an Kultusministerium, 19. 01. 1956. Zum Zeitpunkt früherer Publikationen – Grothe: Angelegenheit (Anm. 39) und Grothe: Geschichte (Anm. 39) – wurde die Personalakte Hubers noch im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geführt und deshalb mit diesem Standort zitiert. 50 Ebd., fol. 43, 45–48 (Vermerk von Oberregierungsrat Brien, 24. 01. 1956), sowie Brien an Kultusminister, 11. 02. 1956). 51 Am 6. Juni 1956 nahm er den Ruf an. Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 173. 52 AdJb, N 14, Nr. 155. 53 AdJb, N 14, Nr. 182 (23. 02. 1963). 54 Ebd. (Huber an Kindt, 04. 08. 1974). Der Briefwechsel stammt aus den Jahren 1970/71. 55 Br8e: Nachruf (Anm. 34).
Ernst Rudolf Huber und die deutsche Jugendbewegung
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dieser Beziehungen. Am aussagekräftigsten ist die Ausarbeitung Hubers über »Idee und Realität eines Freideutschen Bundes« von 1948, in der sehr präzise seine Anschauungen zum Ausdruck kommen, die auf eine Neubesinnung und Reform der Jugendbewegung hinauslaufen. Es handelt sich bei dem Dokument um eine eindringliche Diagnose mit klaren Aussagen zu Aufgaben und Perspektiven eines solchen Bundes. Der Staatsrechtler und Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber war in mehrfacher Hinsicht mit der deutschen Jugendbewegung verbunden. Zum einen war er als junger Mann an der Gründung des Nerother Wandervogels in den Anfangsjahren der Weimarer Republik beteiligt. In der NS-Zeit rückte sein früheres Engagement aufgrund der ideologischen Verwerfungen zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus jedoch in den Hintergrund. Zum anderen nutzte er nach Kriegsende die früheren Kontakte aus der bündischen Zeit, als es Ende der 1940er Jahre um seine »Resozialisierung« und Mitte der 1950er Jahre um seine Berufung auf eine Professur ging. Erst diese Rückkehr in den Kreis der Wissenschaft schuf jene akademischen Freiräume, in denen Hubers Hauptwerk, die achtbändige »Deutsche Verfassungsgeschichte« zwischen 1957 und 1991 entstehen konnte.56 Huber ist ein Beispiel für die Selbsthistorisierung und das daraus gewonnene neue Zukunftsbild eines Mitglieds der Jugendbewegung. Nicht zuletzt aus dem Gemeinschaftserlebnis und der Berufung auf bündische Werte schöpfte er sein Selbstbewusstsein, das ihm bei seiner Reetablierung in der Wissenschaft nach der Katastrophe zugutekam.
56 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957–1991.
Erinnerungsdiskurse
Franziska Meier
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Lied. Die Entwicklung des Geschichtsbildes in der bündischen Musik nach 1945
Singerunden sind in der heutigen bündischen Kultur – verstanden als Jugendgruppen, die sich auf die Praxen des Wanderns, Lagerns und Singens ausrichten und welche ausgesprochen oder unausgesprochen ihren Ursprung in der Jugendbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts haben – einer der wichtigsten Bestandteile. Häufig kommt bei solchen Gelegenheiten die Sprache auf die Herkunft des aktiven Liedguts der Bündischen, das innerhalb dieser Subkultur überliefert wurde. Einen Kristallisationspunkt dieser Debatte stellte beispielsweise der Workshop »Musizieren, Marschieren, Sterben« dar, der im November 2015 von der Jugendbildungsstätte Ludwigstein organisiert wurde.1 Dabei wurden aus sehr unterschiedlichen Forschungsperspektiven heraus vor allem Hans Baumann (1914–1988) und Wolfgang Stumme (1910–1994), u. a. in ihrer Funktion als Liedschreiber für die Hitlerjugend und im Hinblick auf ihre Karrieren und Wirkungen nach 1945 hin, vorgestellt. Es wurde diskutiert, welche Informationen bzw. Kenntnisse Bündische über die Herkunft ihres Liedguts haben und ob sie Konsequenzen daraus ziehen. Während des Workshops wurde deutlich, dass v. a. Ältere der Jahrgänge vor 1950 (fast 60 % der Teilnehmenden waren 66 Jahre oder älter) ein derart emotionales Verhältnis zu manchen Liedern haben, auch zu solchen mit kritikwürdigem Hintergrund, dass ein Verzicht auf das Singen dieser Lieder unmöglich erscheint. Doch wie steht es bei den jüngeren, bis zu 25 Jahre alten Bündischen? Sie beschäftigen sich stärker mit Fragen wie: Was kann man noch singen? Und was sollte man besser nicht mehr singen? Allerdings gibt es auf solche Fragen mit ethischen Implikationen keine einfachen Antworten. Während des Workshops verliefen die Diskussionen offen, die Kontroverse über die heutige Singbarkeit mancher zweifelhafter Lieder wurde nicht letztgültig ausgetragen. So scheint es sinnvoll, die Liedkultur der heutigen Bündischen genauer in den Blick zu nehmen und insbesondere auf ihre Bezüge 1 Ein kurzer Bericht dazu findet sich in der Vereinszeitschrift »Ludwigsteiner Blätter«: Stefan Sommerfeld: Seminar »Musizieren, Marschieren, Sterben«, in: Ludwigsteiner Blätter, 2017, Nr. 273, S. 16–18.
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Franziska Meier
zum Nationalsozialismus zu untersuchen, denn darin besteht der stärkste Aufklärungsbedarf, wie sich an Personen wie Wolfgang Stumme und Hans Baumann gezeigt hat. Die vorliegende Untersuchung nimmt dieses Desiderat auf und fragt danach, wie jüngere bündische Gruppen mit Liedgut, das sich auf den Nationalsozialismus bezieht, umgehen.2 Dazu, was musikalische Praxis in der Zeit des Nationalsozialismus bedeutete und wie das NS-Führungspersonal Musik zu Propagandazwecken und nicht zuletzt zur Indoktrination der Kinder und Jugendlichen in Jungvolk und Hitlerjugend nutzte, sowie zu den Protagonisten der NS-Kulturpflege gibt es inzwischen einige Untersuchungen, vor allem Karin Stoverocks umfangreiches Werk zur »Musik in der Hitlerjugend«.3 Auch die entgegengesetzten musikalischen Ausdrucksformen der Protest- und Widerstandsbewegungen wurden in Teilen bereits erforscht, etwa durch Sascha Lange in »Meuten, Swings und Edelweißpiraten«.4 Das heutige Singen der Bündischen jedoch findet bislang wenig Betrachtung; erstmals greift Simon Nußbruch das Thema in seiner Dissertation auf, indem er sich aus musikwissenschaftlicher Perspektive mit drei Liedern der heutigen Bündischen und ihrer Geschichte auseinandersetzt.5
Methodisches Vorgehen: Kategorisierung der NS-Bezüge im Lied und Überprüfung der Vorannahmen durch eine kurze Abfrage auf dem Überbündischen Treffen 2017 Um nun die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im bündischen Liedgut einordnen und in Ansätzen bewerten zu können, muss zunächst kategorisiert werden, in welcher Form der Nationalsozialismus ein Bezugspunkt sein kann und konnte. Das folgende Schema kann einen Anhaltspunkt bieten.
2 Nicht betrachtet werden an dieser Stelle die emotionale und psychologische Wirkung von Melodie, Rhythmus, Text usw. Vgl. dazu bspw. Robert Heyer, Sebastian Wachs, Christian Palentien (Hg.): Handbuch Jugend – Musik – Sozialisation, Wiesbaden 2013; Susanne Kristen, Gabriele Römer : Emotional besetze Musik als Werkzeug der Erinnerung: Eine empirische musikpsychologische Studie, in: Michael Fischer, Tobias Widmaier (Hg.): Lieder/ Songs als Medien des Erinnerns (Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Zentrums für Populäre Kultur und Musik 59), Münster 2015, S. 243–251. 3 Karin Stoverock: Musik in der Hitlerjugend. Organisation, Entwicklung, Kontexte, 2 Bde., Uelvesbüll 2013. 4 Sascha Lange: Meuten, Swings und Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus, Mainz 2015. 5 Simon Nußbruch: Dissertationsprojekt: Musik der Bündischen Jugend nach 1945, in: Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9j2012–13), Göttingen 2014, S. 317–319.
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Lied
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Kategorien des NS als Bezugspunkt im bündischen Liedgut Kategorie 1: Protest/Widerstand/ Verfolgung/Unangepasstheit & Zwischen 1933 und 1945 entstanden/genutzt
Kategorie 2: Protest/Widerstand/ Verfolgung/Unangepasstheit & Nach 1945 entstanden
Kategorie 3: NS-Ideologie/NS-Propaganda & Zwischen 1933 und 1945 entstanden/genutzt
Kategorie 4: NS-Ideologie/NS-Propaganda & Nach 1945 entstanden
Zum einen sind »Lieder mit NS-Bezug« diejenigen, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 entstanden bzw. gesungen und gleichzeitig politisch-ideologisch genutzt wurden. Das beinhaltet sowohl die Lieder, die von Unterdrückten, Verfolgten, Widerständlern, Oppositionellen und Unzufriedenen gesungen und verbreitet wurden und die häufig von dem NS-Regime mit Verboten belegt wurden (Kategorie 1), als auch diejenigen Lieder, die der NS-Ideologie und zur Indoktrination des Volkes dienten (Kategorie 3). Andererseits können Lieder einbezogen werden, die nach Ende des Krieges und damit nach der nationalsozialistischen Herrschaft entstanden sind und die ex post die Vorgänge und Verhältnisse des »Dritten Reichs« beurteilen. Diese Urteile können theoretisch sowohl negativ (Kategorie 2) als auch positiv (Kategorie 4) ausfallen. Unter diesen Vorzeichen wurden erste Vorannahmen bezüglich Liederbüchern, Liedern und Kommentaren, soweit vorhanden, getroffen, um die heutige bündische Musikpraxis zu hinterfragen. Hierbei offenbart sich jedoch das Problem, dass 1. die Tatsache, dass Liederbücher existieren, nicht bedeutet, dass sie auch genutzt werden und dass 2. die Tatsache, dass bestimmte Lieder in diesen Liederbüchern stehen, ebenfalls nicht bedeutet, dass sie auch gesungen werden bzw. bekannt sind. Eine erste Gelegenheit zur Überprüfung der Vorannahmen und des Forschungskonzeptes insgesamt ergab sich beim Überbündischen Treffen auf dem Allenspacher Hof, einer Veranstaltung, die etwa 2.000 Bündischen für sechs Tage als Ort der Zusammenkunft diente und bei der gemeinsam gesungen, gekocht, gearbeitet und gefeiert wurde.6 Mit einem Fragebogen wurden die Teilnehmenden nach Bundeszugehörigkeit, Geschlecht, Alter, von ihnen genutzten Liederbüchern und ihnen bekannten Lieder mit jedwedem NS-Bezug gefragt. An der Umfrage konnten die BesucherInnen in der Kulturjurte auf dem Gelände des Überbündischen Treffens teilnehmen. Am Ende gab es 43 verwertbare Ant6 Berichte und Videos zur Veranstaltung finden sich u. a. auf der offiziellen Website des Überbündischen Treffens, vgl. https://uet2017.de/[29. 05. 2018]; siehe auch: http://scouting. de/video-vom-uet-2017-ueberbuendisches-treffen/ [29. 05. 2018].
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wortbögen; die 43 Teilnehmenden gehörten 19 verschiedenen Jugendbünden an; am stärksten vertreten waren der Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder, der Pfadfinderbund Horizonte und die Pfadfinderschaft Süddeutschlands mit 8,5 und 4 Nennungen. Das Geschlechterverhältnis war nahezu ausgeglichen. Die Altersspanne lag zwischen 10 und 60 Jahren7, mit einer deutlichen Häufung zwischen 15 und 22 Jahren. Die geografische Zuordnung der Bünde entsprach der Nähe zu dem Veranstaltungsort Böttingen in BadenWürttemberg.
Liederbücher – Sammlungen des bündischen Musikgeschmacks Die Teilnehmenden nannten als Antwort auf die offene Frage, »Welche Liederbücher nutzt du?«, insgesamt 28 verschiedene gedruckte Liederbücher ; durchschnittlich gab jede Person drei ihr bekannte Liederbücher an. Die drei am häufigsten Genannten, der »Liederbock«, das »Bulibu I+II« und »Der Keiler« werden im Folgenden näher betrachtet.8 Der »Liederbock«, 1990 aus einer Initiative der VCP-Bezirke Homburg und Harz in seiner ersten Fassung mit einer Auflage von 300 Stück entstanden, wurde mehrfach überarbeitet. Mitte der 1990er-Jahre trat der Arbeitskreis Liederbock bereits ein zweites Mal zusammen. Dazu schrieb einer der Beteiligten, Stefan »Löffel« Tönnies: »Erstmals beschäftigten wir uns […] mit den inhaltlichen Belangen der Lieder, ihren Quellen und ihrem Ursprung. So sollte die Liedauswahl auf keinen Fall zu sehr politische Lieder beinhalten, keine chauvinistischen und frauenfeindlichen Inhalte haben und, und, und, und? Aber ein Liederbuch mit nur zehn Liedern ist auch irgendwie Käse, oder?«9 Pragmatisch gingen sie die Lieder durch und entschieden fallweise, welche Lieder Bestand haben und welche entfernt werden sollten. 1995 erschien die neue Ausgabe, wie schon die erste in braunem Einband. Die Nachfrage war derart groß, dass schon bald eine dritte Auflage, noch einmal durchgesehen und diesmal mit blauem Einband, auf den Markt kam. Dazu hatte sich der Arbeitskreis Liederbock um Mitglieder der Überbündischen Hochschulgruppe zu Göttingen (übhsg) erweitert und nahm eine zusätzliche Selektion vor: es »flogen die wenig bis gar nicht gesungenen Lieder raus. Kinderlieder wurden ebenfalls entfernt, da man für die Kurzen ein 7 Die jüngsten zwei Personen waren 10, die älteste 60 Jahre alt. Dabei war die Verteilung der Angaben sehr unausgewogen: 83,7 % waren 27 Jahre oder jünger, die restlichen 16,3 % waren 32 Jahre und älter – genauso viel machten allein die 17-jährigen aus. 8 VCP-Bezirke Homburg und Harz (Hg.): Liederbock, o.O., o. J.; Deutscher Pfadfinderbund Mosaik (Hg.): Bulibu I+II, Köln 1988; o. V.: Der Keiler, o. O., o. J. 9 Stefan »Löffel« Tönnies: Die Chronik des Liederbocks, 2010, verfügbar unter: http://www.ubhsg. de/index.php?id=619& no_cache=1& sword_list%5B0 %5D=liederbock [28. 02. 2018].
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Lied
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extra Liederbuch gestalten wollte«.10 Neu war ein weiteres, für den Forschungsansatz wichtiges Kriterium: »Die Hinweise auf Urheber und Quellen der Lieder wurden in aufwendiger Arbeit aus anderen Liederbüchern entnommen, sofern überhaupt welche vorhanden waren.«11 Dieser Ansatz war für den zuvor ausschließlich intern agierenden Arbeitskreis Liederbock der VCP-Bezirke Harz und Homburg ganz neu, die bis dahin keine Liederbücher anderer Bünde zur Kenntnis genommen hatten; er basierte auf der überbündischen Zusammenarbeit. Nun kamen den Beteiligten auch die Zusammenhänge, in denen die Lieder tradiert worden waren, zu Bewusstsein. Wie aber traf der Arbeitskreis, der sich mit den historischen Bezügen auseinandersetzte, seine Auswahl? Gab es feste Kriterien oder Ausschlusskriterien? Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein, vielmehr habe man jedes Lied einzeln betrachtet und dann eine Entscheidung getroffen: »Das ›Jalava-Lied‹ beschreibt die Rückkehr Lenins aus dem finnischen Exil im Oktober 1917. Der finnische Lokomotivführer Jalava hat Lenin von Finnland nach St. Petersburg geschmuggelt. Der Text stammt von Heinz R. Unger, die Musik von den österreichischen ›Schmetterlingen‹. Sicherlich ein politisches Lied, welches heute weit verbreitet gesungen wird ohne unbedingt zu hinterfragen, wer die Person Lenin war und welche Greultaten [sic!] am sowjetischen Volk mit ihm verbunden sind. Das Afrika-Lied der Deutschen Schutztruppen von Lettow-Vorbeck in Deutsch-Südwest (heute Namibia) ›Wie oft sind wir geschritten (Heia Safari)‹ [dagegen] wurde bewusst nicht im Liederbock abgedruckt, weil wir der Auffassung sind, dass dieses Lied nicht mehr in die heutige Zeit passt. Diese, vielleicht als doppelmoralisch falsch interpretierten Entscheidungen spiegeln keine übereinstimmende politische Meinung wieder, sondern sind die Momentaufnahme einer mehr oder weniger geistigen Einstellung zum Inhalt unserer Lieder.«12
Durch Schilderungen wie diese entsteht der Eindruck, dass in diesem Kreis mit der »eigenen«, der deutschen Geschichte strenger umgegangen wurde als mit der – in diesem Fall – sowjet-russischen. Dieser uneinheitlichen Linie war sich Tönnies bewusst, sah deswegen aber keinen weiteren Handlungsbedarf. Auch wies er darauf hin, dass »durch den Liederbock […] andere Lieder, die wir in den 80ern gesungen haben, weitestgehend verdrängt [wurden]«.13 Offen bleibt in dieser Darstellung, welche Lieder verdrängt wurden und aus welchen Gründen. Wurden sie einfach nicht mehr als schön empfunden, hatte sich die Mode der bündischen Liedkultur geändert oder waren politische Überlegungen von Belang? Ein Zufall war die Liedauswahl in den neueren Auflagen des »Liederbock« also nicht mehr. Der historische Hintergrund und die politische Idee der Liederen 10 11 12 13
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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den Liederbuchmachern bekannt, was jedoch nicht bedeutet, dass die NutzerInnen des Liederbuches es gleichermaßen zum bewussten Singen verwendeten, trotz des allgemeinen Aufrufs im Vorwort: »Jugendbewegtes Singen hat fast immer, als Gegensatz zu seiner Unmittelbarkeit beim Singen, einen historischen Kontext. Setzt euch mit den Liedern auseinander und singt nicht die hohlen Phrasen herunter.«14 2004 entstand die bislang letzte, gegenüber der dritten Auflage von Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre unveränderte Auflage des »Liederbock«. Das am zweithäufigsten genannte Liederbuch ist das »Bulibu«. Der erste Band kam erstmals 1986 heraus, der zweite Band folgte 15 Jahre später (2001) und weist eine völlig andere Liedauswahl auf. Als Herausgeber fungierte in beiden Fällen der Deutsche Pfadfinderbund Mosaik in Köln, wobei die Redakteure, Grafiker usw. in beiden Bänden unterschiedliche Personen waren. Mutmaßlich gab es in diesem Fall zwischen 1986 und 2001 eine vergleichbare Entwicklung wie bei der Liedzusammenstellung des »Liederbock« zwischen 1990 und 2004. Möglicherweise spiegeln sich darin überbündische Moden oder Akzentverschiebungen, weil sich die Sensibilität in der Nutzung politischer oder historischer Lieder in der bündischen Liedkultur geändert hatte. Diese These systematisch zu untersuchen, muss jedoch späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Das Liederbuch »Der Keiler« ist erst vor kurzer Zeit in den Kreisen der Pfadfinderschaft Süddeutschland15 zum internen Gebrauch entstanden und hat keine frühere Entsprechung16. Im Vorwort des Liederbuchs wird die »Ich«-Perspektive gewählt, ein Verfasser bzw. Herausgeber wird jedoch nirgends namentlich genannt, genauso wenig wie Ort und Jahr, da diese Angaben für den internen Gebrauch nicht erforderlich sind. Das Liederbuch ist in 17 thematische Rubriken unterteilt, Rubrik 18 enthält separate Anmerkungen zu den einzelnen Liedern. Innerhalb der Rubriken sind die Seiten nummeriert.
Nationalsozialismus im Lied: Lieder mit NS-Bezug Auf dem Fragebogen wurde auch nach der Kenntnis einzelner Lieder gefragt, wobei pro Person im Durchschnitt drei Lieder angegeben wurden. Mehr als die Hälfte der Personen (24 Nennungen, entspricht 56 %) nannte das Lied »Die 14 Liederbock (Anm. 8), S. 2. 15 Die Pfadfinderschaft Süddeutschlands (PSD) ist 1975 als Abspaltung des Deutschen Pfadfinderbundes (Hohenstaufen/gegr. 1911) entstanden und besteht heute aus fünf Stämmen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Siehe: https://psdonline.de/ [30. 05. 2018]. 16 Beispielsweise erhältlich über die Kämmerei des Stammes Kondor der Pfadfinderschaft Süddeutschlands (PSD), vgl. https://stamm-kondor.de/kaemmerei-shop/ [28. 05. 2018].
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Edelweißpiraten«, darauf folgten »Die Moorsoldaten« (13 Nennungen) und »Drei rote Pfiffe« (10 Nennungen). Zunächst ist festzuhalten, dass sowohl im aktuellen »Liederbock« als auch im »Keiler« die drei genannten Lieder abgedruckt sind. Im ersten Band des »Bulibu« sind »Die Moorsoldaten« zu finden, »Die Edelweißpiraten« und »Drei rote Pfiffe« im zweiten. Bezogen auf die oben eingeführten Kategorien, stammte nur eines der drei meistgenannten Lieder unmittelbar aus der Zeit des Nationalsozialismus, das Moorsoldaten-Lied (= Kategorie 1 – Protest/ Widerstand/ Verfolgung & Entstanden in der NS Zeit), zu dem es eine eigene Studie gibt.17 Danach entstand das Lied bereits 1933 im KZ Bürgermoor im Emsland; den Text schrieb Johann Esser in Zusammenarbeit mit Wolfgang Langhoff, musikalisch umgesetzt wurde es von Rudi Goguel. 1935 überarbeitete Hanns Eisler die Melodie geringfügig. Das Lied kritisierte sowohl durch seinen Text als auch durch die musikalisch provozierte, melancholischtriste Stimmung und seine erste Aufführung die Zustände im KZ und bei der Arbeit im Moor. Es wurde auch den dortigen SS-Aufsehern schnell bekannt und kurze Zeit nach seiner Erstaufführung verboten. Trotzdem verbreitete es sich weiter durch die verschiedenen Konzentrationslager, im Widerstand in Deutschland und reiste mit manchem ehemaligem Häftling ins Exil.18 Probst-Effah weist u. a. darauf hin, dass das Moorsoldatenlied nach 1945 in der DDR hoch im Kurs stand und einen Bedeutungswandel hin zu einem generellen Arbeiterlied vollzog, was ob der politischen Inhaftierung vieler Häftlinge in Börgermoor anschlussfähig schien. In der Bundesrepublik fristete es lange Zeit ein Schattendasein in kleinen subkulturellen Gruppierungen. Erst 1966 gelangte das Lied durch die Interpretation von Hein und Oss Kröher auf dem Waldeck-Song Festival in das Ohr weiterer Kreise.19 Durch das Folkrevival, das sich von Amerika nach Europa ausdehnte und auch die Jugend der Bundesrepublik mit sich riss, entstanden in der BRD neue Formen der Volksmusik – das engagierte Lied in Deutschland und der topical song in den USA, für dessen Popularisierung exemplarisch Phil Ochs steht.20 Das Chanson Folklore International Festival auf Burg Waldeck, das von 1964 bis 1969 jährlich stattfand, beeinflusste die deutsche Liedkultur stark, eine neue Liedermacherszene entstand. Die damals beteiligten Organisatoren und Musiker verstanden sich als jungenschaftlich sozialisiert und verbanden altes, bündisches Liedgut mit ihrem 17 Gisela Probst-Effah: »Das Moorsoldatenlied«. Zur Geschichte eines Liedes von säkularer Bedeutung, in: Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke (Hg.): Good-bye memories? Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts, Essen 2007, S. 155–174. 18 Ebd., S. 156f. 19 Ebd., S. 164, 167f., 170. 20 Zum Folk Revival in den USA bspw. Robert Cantwell: When we were good. The folk revival, Cambridge (Mass.) 1996; s. a. Sean Wilentz: Bob Dylan in America, New York 2010, hier v. a. Kap. I und II, bes. S. 59ff.
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Verständnis von politisch engagiertem Folk, teils griffen sie aber auch auf Lieder mit demokratischer Tradition, jiddische Lieder und zeitgenössische, französische Chansons zurück.21 Hein und Oss Kröher sangen auf dem Waldeck Festival 1966 die Eisler-Vertonung der »Moorsoldaten«, und auch in den heute bekannten Liederbüchern der Bündischen wie dem »Liederbock« und dem »Bulibu« ist diese Überlieferung bekannt. Im »Keiler« sind keine Noten abgedruckt. Die historische Einordnung des Liedes wird nicht überall vorgenommen. Im »Liederbock« steht dazu: »Entst. Im Konzentrationslager Börgermoor 1933, Text: Johann Esser, Wolfgang Langhoff, Melodie: Rudi Goguel, Hans Eisler. Das Lied wurde auch in anderen Moorlagern gesungen und entlassenen Häftlingen mitgegeben, die es in vielen Gegenden Deutschlands bekannt machten. Bald wurde es auch im Ausland bekannt und der Moskauer Rundfunk übertrug es zu Ehren deutscher Antifaschisten.«22 Im »Bulibu« gibt es keine Bemerkung23 und im »Keiler« findet sich in einer eigenen Anmerkungen-Rubrik der Hinweis: »Entstanden in einem Konzentrationslager bei Papenburg wurde das Lied schnell bekannt und Ende der 1930er Jahre nach der Bearbeitung durch Hanns Eisler auch von Ernst Busch gesungen.«24 Alle drei ursprünglichen Autoren werden auch hier genannt, d. h. denjenigen, die das Lied heute singen, sollte der historische Kontext geläufig sein, auch wenn die kurzen Kommentare sicher ein gewisses Vorwissen zur Einordnung und Urteilsbildung erfordern. Die weiteren, ebenfalls sehr häufig als bekannt genannten Lieder, waren »Drei rote Pfiffe« und »Die Edelweißpiraten«, die zur zweiten Kategorie zählen (= Protest/ Widerstand/ Verfolgung & Entstanden nach 1945). »Drei rote Pfiffe« wurde 1979 von der österreichischen Folk-Politrock-Band »Die Schmetterlinge« auf ihrer LP »Herbstreise – Lieder zur Lage« veröffentlicht. Der Text des Liedes erzählt in drei Strophen von einer alten Frau, die als Ich-Erzählerin ihren Enkeln von ihrer Vergangenheit berichtet. Jelka – so ihr Deckname – spricht über ihre Zeit im Widerstand gegen den Faschismus, gegen den Nationalsozialismus. Sie brachte Partisanen, die sich im südösterreichischen Wald versteckt hielten, Versorgung und verteilte Flugblätter. Letzten Endes ermahnt Jelka ihre Enkel dazu, wachsam zu sein und eine solche Unrechtsherrschaft nicht wieder zuzulassen. Die Liedmacher thematisieren damit den Nationalsozialismus und nehmen Bezug auf die Gegenwart. Inwiefern entspricht das der heutigen Rezeption? 21 Für Deutschland beschreibt Detlef Siegfried das Phänomen des Folk-Revival: Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 41), Göttingen 2008, v. a. Kap. IV. 3. 22 Vgl. Liederbock (Anm. 8), S. 421. 23 Vgl. Bulibu (Anm. 8), S. 310f. 24 Vgl. Keiler (Anm. 8), S. 18–26.
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Im »Liederbock« endet die letzte Strophe nicht mit der ermahnenden Textzeile »jetzt trampeln sie wieder auf euren Rechten herum«, sondern mit der schwächeren Aussage: »meine Zeit ist bald herum«, was den Gegenwartsbezug auf der Textebene ins rein Historische verbannt.25 In den beiden anderen Liederbüchern – »Bulibu« und »Keiler« – ist die originale, von den »Schmetterlingen« gesungene, auf Platte gebannte Version zu finden. In allen drei Liederbüchern sind die Schaffer des Liedes angegeben: »Worte: Heinz Rudolf Unger, Weise: Georg Herrnstadt/ Wilhelm Resetaris.«26 Allein im »Keiler« finden sich weitere Informationen: »Die österreichische Partisanin Helena Kuchar (1906–1985) fungierte als Verbindungsfrau zwischen mehreren Partisanengruppen, während der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten. Sie hielten sich in den Bergen versteckt, das dreimalige Pfeifen war ihr Erkennungszeichen.«27 Die Band »Die Schmetterlinge« schrieb darüber hinaus weitere Lieder mit politischer Botschaft, darunter das bereits erwähnte »Jalava-Lied«, in dem der Nationalsozialismus abgelehnt, dafür aber – wie so oft in den 1970er Jahren – ein anderes diktatorisches System, in diesem Falle der Leninismus, verklärt wird. Der historische Kontext von »Drei rote Pfiffe« ist für heutige Singende – anders als bei den »Moorsoldaten« – auch ohne Kommentar klar erkennbar, weil im Text der »markige Nazigesang von deutschem Boden und Blut« zur Sprache kommt. Zudem werden in dem Lied die Nachwirkungen in Deutschland und Österreich beklagt. In der letzten Strophe heißt es: »Der Krieg war vorbei, da war Stille im Land, da waren die Lautesten leis. / Sie nahmen das Hitlerbild von der Wand. Ihre Westen die wuschen sie weiß.« Die Stimme »Jelkas« prangert das kollektive Verschweigen des Gewesenen – der Beteiligung und der Mitschuld – durch die Nachkriegsgesellschaft an, ein Thema, das in den 1970er Jahren von vielen Studierenden und der jüngeren Generation insgesamt auf die Tagesordnung geholt, angeklagt und aufgearbeitet wurde. Auch das Lied »Die Edelweißpiraten« stammt aus dieser Zeit. Es wurde 1982 von der Gruppe »Lilienthal« erstmals veröffentlicht – das allerdings auf einer Mix-Doppel-LP mit dem Titel »Wir wollen Leben – Lieder gegen den Untergang«. So finden sich neben einem Lied der »Schmetterlinge« u. a. auch Lieder von Dieter Süverkrüp, Hanns Dieter Hüsch, Zupfgeigelhansel, Hein und Oss Kröher, Walter Mossmann und Hannes Wader – ein Potpourri der damaligen Liedermacher. Der Liedtext markiert die »Edelweißpiraten« als Inbegriff jugendlichen Widerstands gegen das NS-Regime.28 Wie in dem ersten Lied werden zunächst 25 26 27 28
Liederbock (Anm. 8), S. 199f. Vgl. ebd. und Bulibu II (Anm. 8), S. 139ff. Keiler (Anm. 8), S. 18–25. Weiterführende Literatur zu den Edelweißpiraten und anderen oppositionellen Jugendgruppen: Detlev Peukert (Hg.): Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich – eine Dokumentation, 2Köln 1983 [1980]; aber auch: Lange: Meuten
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die Protagonisten und ihre Taten beschrieben, während die letzte Strophe auf die Gegenwart Bezug nimmt; zwischen den Strophen steht jeweils ein Kehrvers. In der Wortwahl sind die »Edelweißpiraten« noch deutlicher : den »freiheitsliebenden, mutigen Edelweißpiraten« werden die »völkermordenden, verbrecherischen Nazihorden« gegenüber gestellt. Ebenfalls häufig, aber nicht meistgenannt waren die Lieder »Fronleichnam« und »And’re, die das Land so sehr nicht liebten« auf der Grundlage von Gedichten Theodor Kramers aus den 1930er und 1940er Jahren, die 1985 vom FolkDuo »Zupfgeigenhansel« (Erich Schmeckenbecher und Thomas Friz) vertont wurden. Darin setzt sich Kramer, der als Wiener Jude 1939 ins Exil nach London ging, mit dem Nationalsozialismus auseinander.29 Die Aufnahme des Materials durch die späte Folkrevival-Generation zeigt deren Haltung zum Nationalsozialismus. Die Umbruchphase von »1968« war auch für die bündische Musik und den Umgang mit dem NS entscheidend, besonders sichtbar am Kristallisationspunkt Burg Waldeck, wo die bereits erwähnten Hein und Oss, Walter Mossmann, Peter Roland, Hai und Topsy, Christoph Stählin, Michael Wachsmann, Diethard Kerbs, Jürgen Kahle, Heiner Rothfuß oder Arno Klönne auftraten. Zeitlich und auch personell fällt diese Entwicklung zusammen mit dem Infragestellen der Rolle der Elterngeneration im »Dritten Reich«, mit dem Aufklärungswillen und der Anklage der jungen Generation gegenüber der älteren. Auf den Festivals auf Burg Waldeck wurden politische Lieder mit antifaschistischem Impetus vorgestellt. Diese Lieder waren nicht reine Adaptionen von bereits Dagewesenem, sondern zu einem großen Teil Neudichtungen. Durch diese Entwicklungen verfestigte sich die für die junge Generation prägende Sicht auf den Nationalsozialismus aus der Perspektive des NS-Widerstands, der im Medium »Lied« die Opposition und die Anklage thematisierte und für Singende und Rezipierende anschlussfähig war ; während die Schuldperspektive oder gar eine (partielle) Verteidigung undenkbar blieben. Gerade dadurch sind ist das Lied von den »Edelweißpiraten« ohne große Vorkenntnisse in seinem historischen Zusammenhang zu verstehen; daher fallen die Kommentare in den Liederbüchern eher gering aus. Im »Liederbock« und im »Bulibu« werden nur die Namen des Textdichters, Herwig Steymans, und des Melodieurhebers, Hans Jörg Maucksch, genannt.30 Allein im »Keiler« mit einem ausführlichen Zusatz über die Bedingungen des Widerstands gegen den NS und deren Präsenz, u. a. in Köln:
(Anm. 4); Barbara Manthe: Navajos und Edelweißpiraten in Köln, in: Geschichte in Köln, 2007, Nr. 54, S. 197–218. 29 Konstantin Kaiser (Hg.): Theodor Kramer 1897–1958. Dichter im Exil, Wien 1984. 30 Liederbock (Anm. 8), S. 283.; Bulibu (Anm. 8), S. 232f.
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»Mit dem Verbot bündischer Gruppen und der Zwangsmitgliedschaft in der HJ 1936 wurden unangepasste Jugendliche mehr und mehr kriminalisiert. Sie schlossen sich zu verschiedenen Gruppen zusammen, die auch Elemente aus der bündischen Jugend übernahmen. Und wurden, obwohl zum Teil zunächst unpolitisch, durch Verfolgung zunehmend in eine oppositionelle Rolle gedrängt, sodass einige von ihnen aktiv Widerstand gegen das NS Regime leisteten. Vor allem im Köln existierten viele Gruppen, dort liegt auch der Märchensee, einer der Treffpunkte der Jugendlichen. Die Edelweißpiraten sind bis heute nicht offiziell als Widerstandskämpfer anerkannt.«
Auch die Bezeichnung »Edelweißpiraten« wird erklärt: »Der Name Edelweispiraten stammt ursprünglich von der Gestapo in Anlehnung an eines der Erkennungszeichen der Gruppen, ein an die Kleidung geheftetes Edelweiß. Mehr : Alexander Goeb, Er war sechzehn, als man ihn hängte.«31 Diese besonders ausführliche Kommentierung zeigt die herausgehobene Bedeutung des Liedes aus Sicht der Herausgeber und vermittelt Lesenden und Singenden einen deutlichen historischen Bezugspunkt. Für die Bündischen bietet dieses Lied besonders dichte Anschlussmöglichkeiten, handelt es sich bei den Edelweißpiraten doch um autonome Jugendzusammenschlüsse, im Unterschied zu den Zwangsarbeitern im KZ Börgermoor, zu Theodor Kramer oder Jelka und den österreichischen Partisanen. Die Jugendzusammenschlüsse scheinen an die Geschichte der bündischen Jugend der Weimarer Republik anzuschließen und so über die NS-Zeit hinaus in der Nachkriegszeit präsent zu sein. Und auch hier zeigt sich: An derart oppositionelle Gruppentraditionen anzuschließen, die aus der Idee der Jugendbewegung entstanden, erscheint eingängiger als der Bezug auf die Aufarbeitung der Kollaboration, Anpassung oder Teilhabe. Gut bekannte Lieder aus den Bereichen »Lieder aus der NS-Zeit & NS-Ideologie/ Propaganda« (Kategorie 3) gibt es offenbar nicht. Zwar wurden in der eingangs erwähnten ersten Testumfrage zwei Lieder von Hans Baumann explizit (»Gute Nacht, Kameraden«, »Der Nebel steigt im Fichtenwald«) und weitere von ihm generell genannt. Diese zählen aber, ebenso wie weitere Lieder aus diesem Spektrum, nicht zum aktiven Liedschatz. Bekannt, aber nicht in Gebrauch ist z. B. das durch den Film »Hitlerjunge Quex« bekannt gewordene Lied »Unsre Fahne flattert uns voran« mit dem Text von Baldur von Schirach und der Melodie von Hans-Otto Borgmann.32 Zu der Kategorie 4 (»NS-Ideologie/ Propaganda & 31 Keiler (Anm. 8), S. 18–25f. Vgl. auch Alexander Goeb: Er war sechzehn, als man ihn hängte. Das kurze Leben des Widerstandskämpfers Bartholomäus Schink, Reinbek 2001 (1981). 32 Hierzu finden sich auf der Website »Jugend! 1918–1945« im digitalen Archiv »Editionen zur Geschichte« illustrierend zusammengestellte Quellen und eine historische Kontextualisierung zu dem Lied: NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln: Vorwärts, vorwärts, 2018, verfügbar unter : http://www.jugend1918-1945.de/portal/archiv/album.aspx?root=6380& id =6380& redir=%2fportal%2fJugend%2fthema.aspx%3fbereich%3darchiv%26root%3d26 636%26id%3d4927 [28. 02. 2018].
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entstanden nach 1945«) findet sich nach der ersten Umfrage in der bündischen Alltagspraxis gar kein Beleg. Aus der Abfrage sind, bei aller Vorläufigkeit des Verfahrens, erste Hinweise auf die Beliebtheit und den Gebrauch der Lieder zu entnehmen. Die am häufigsten genannten zehn Lieder fallen ausnahmslos in die Kategorien 1 und 2 (»Protest, Verfolgung, Widerstand«), nur sieben von insgesamt 25 Liedern gehören in die Kategorien 3 mit jeweils nur ein bis zwei Nennungen (»NS-Ideologie/ Propaganda & Entstanden in der NS-Zeit »)
Schlussbetrachtungen: Erinnerungen, so wie man sie mag! Aus der Untersuchung lässt sich die Hypothese ableiten, dass unter den Bündischen die Sensibilität für und die Sichtbarkeit von Liedgut, das Protest, Widerstand und Unangepasstes gegenüber dem Nationalsozialismus artikuliert, viel präsenter ist als nationalsozialistisch ideologische Lieder. Auch ist eine Sensibilität gegenüber historischen Themen erkennbar geworden. Das lässt sich zum einen damit erklären, dass sich schon die neu entstandene bündische Jugend der Nachkriegszeit auf die, durch den Nationalsozialismus verbotenen Bündischen der Weimarer Republik, das Verbot der autonomen Jugendbünde 1933 und die Edelweißpiraten bezog. Dieses Geschichtsbild war angenehmer zu tradieren als eines, das sich mit Kollaboration oder Unterstützung des NS-Regimes auseinandersetzen muss. Die Sympathie für, aus politischen oder anderen Gründen, Verfolgte wie Theodor Kramer kommt in den bekannten Liedern klar zum Ausdruck. Zum anderen verschwanden Lieder, die nach 1945 unerwünscht waren und als nicht singbar galten, tatsächlich aus der Erinnerung oder sie wurden, wie z. B. durch den Arbeitskreis Liederbock, aus den Liederbüchern getilgt. Diese Vorgänge fügen sich in den allgemein-gesellschaftlichen Umbruch der 1968er, die den studentischen Protest gegen die Verharmlosung der NS-Zeit artikulierten. Die NS-Liedermacher und ihre Lieder gerieten damit weitgehend in Vergessenheit. Dass sie dennoch weiterwirken, zeigt sich daran, dass die Diskussionen um das aktive Liedgut nicht verstummen, bspw. in der Frage nach dem Bundeslied des Jugendbundes »Freibund«.33 Zudem ist die Sensibilität gegenüber
33 Dieses Lied, »Nur der Freiheit gehört unser Leben«, ist ca. 1935 entstanden und wurde von Hans Baumann für den Gebrauch in der Hitlerjugend und im Bund deutscher Mädel geschrieben. Es wird bis heute als Bundeslied des »Freibund – Bund Heimattreuer Jugend e.V.« genutzt, was auch im Umfeld der Jugendburg Ludwigstein zu Diskussionen führte. Siehe bspw. Jesko Wrede: Burg Ludwigstein: »… mehr fordern als bisher« Junge-Freiheit-Autor übt Kritik an der »offenen Burg«, http://rechte-jugendbuende.de/?p=2337#more-2337 [06. 06.
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mutmaßlichen NS-Verbindungen, rassistischer Sprache oder Kriegs- und Gewaltverherrlichung gewachsen und belastet das unbefangene Singen vieler Lieder. Der historische Kontext der meisten Lieder erfordert einen reflektierten Umgang, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Bünden selbst. Einen Anfang dafür bildet bspw. das Liederbuch »Codex Patomomomensis«, das eine ausführliche Kommentierung der Lieder bereitstellt, diesem Vorbild können sich weitere Projekte anschließen.34
2018], auch: Roland Wehl: Unreflektierter Traditionalismus, https://www.globkult.de/ge schichte/zeitgeschichte/984-unreflektierter-traditionalismus [06. 06. 2018]. 34 Tim Oliver »Pato« Becker, Paul »Momo« Rhode: Codex Patomomomensis, Hamburg 2014.
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Gedenken ohne Aufarbeitung und Abgrenzung ohne Auseinandersetzung. Die (fehlende) Vergangenheitsbewältigung der evangelischen Pfadfinder in Berlin nach 1945
In der historiografischen Thematisierung von Selbsthistorisierungen in der Jugendbewegung nach 1945 steht bisher meistens die Frage im Mittelpunkt, wie diejenigen, die vor 1945 Teil der Jugendbewegung waren, nach 1945 mit ihrer eigenen Vergangenheit umgegangen sind. Dabei gerät aus dem Blick, dass nach 1945 erneut jugendbewegte Gruppen entstanden, die teilweise Neugründungen von in den 1930er-Jahren verbotenen Organisationen waren. Diese Organisationen hatten zu Beginn eine direkte personelle Kontinuität zur Jugendbewegung der Vorkriegszeit und stehen bis heute, wenn sie noch existieren, in einer organisationalen Kontinuität. An diesem Punkt setzt dieser Aufsatz an, in dem analysiert wird, wie die Nachgeborenen mit der Geschichte ihrer Organisation, insbesondere in Bezug zum Nationalsozialismus, umgegangen sind. Dafür werden evangelische Pfadfinder auf lokaler Ebene in Westberlin untersucht. Konkret sind das die Westberliner Gruppen der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands (CPD) beziehungsweise ab 1973 des Verbands Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP). Dieser Ansatz stellt insofern Neuland dar, als dass die Zeit der Jugendbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die „Restgeschichte“,1 im Gegensatz zu den Jahren vor 1933 kaum erforscht ist.2 Es gibt 1 Barbara Stambolis: Jugendbewegung, 2011, verfügbar unter : http://ieg-ego.eu/de/threads/ transnationale-bewegungen-und-organisationen/internationale-soziale-bewegungen/barba ra-stambolis-jugendbewegung [10. 11. 2016]. 2 Das liegt vermutlich daran, dass, wie Florian Malzacher und Matthias Daenschel betonen, die Jugendbewegung nie wieder die gleiche gesellschaftliche Resonanz wie in der Weimarer Republik erzeugen konnte, vgl. Florian Malzacher, Matthias Daenschel: Jugendbewegung für Anfänger, Witzenhausen 1993, S. 172. Für einige Autoren endet die Jugendbewegung 1933, s. Werner Helwig [1960]: Die Blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung, Überarbeite Neuausgabe mit einem Bildanhang, Baunach 1998; Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen (Formen der Erinnerung 52), Göttingen 2013. Für andere Autoren endete sie 1945, s. Joachim H. Knoll, Julius H. Schoeps (Hg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988. Christian Niemeyer beschäftigt sich ausschließlich mit der NS-Vergangenheit und Vergangenheitsbewältigung der Jugendbewegung, s. Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten
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lediglich einige veröffentlichte Erinnerungen von Zeitzeugen3 sowie Studien zum Verhältnis zwischen Jugendbewegung und den Protesten von 1968.4 Auch über die Geschichte der Pfadfinderbewegung nach 1945 gibt es keine Gesamtdarstellung,5 sondern lediglich Einzelstudien zu bestimmten Themen sowie Überblickswerke zu einzelnen Bünden und Verbänden.6 Hinzu kommt eine Vielzahl von Festschriften, die meist lokale Gruppierungen selbst herausgegeben haben.7 Auch in Bezug auf die Geschichte der evangelischen Pfadfinder steht kaum wissenschaftliche Literatur zur Verfügung, sondern nur auf einige Aufsätze von Zeitzeugen.8 Diese liefern – trotz des fehlenden wissenschaftlichen
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der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013; Christian Niemeyer : Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim 2015. S. bspw. Claus-Dieter Krohn: Bündische Jugend der 1950er Jahre im „kommunikativen Gedächtnis“, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen (Formen der Erinnerung 58), Göttingen 2015, S. 61–83. Vgl. Malzacher, Daenschel: Jugendbewegung (Anm. 2), S. 153ff.; Reinhard Barth: Jugend in Bewegung. Die Revolte von Jung gegen Alt in Deutschland im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 31ff.; S. 59ff.; S. 123ff. S. auch die Beiträge in: Alfons Kenkmann, Detlef Siegfried (Hg.): Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968 (Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugedbewegung, NF 4), Schwalbach 2008; Eckard Holler (Hg.): „Hier gibt es Jungen, die nicht einmal ein eigenes Bett haben“. tusks KPD-Eintritt 1932 und die jungenschaftliche Linke nach 1945, Ebersdorf 2012. Im Sammelband „Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland“ werden allerdings ausgewählte Themen in Einzelbeiträgen behandelt, s. Jürgen Reulecke, Hannes Moyzes (Hg.): Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland (Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 6), Schwalbach 2010. Bspw. Wilfried Breyvogel (Hg.): Pfadfinderische Beziehungsformen und Interaktionsstile. Vom Scoutismus über die bündische Zeit bis zur Missbrauchsdebatte, Wiesbaden 2017; Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012; Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden weltweit. Die Internationalität der Pfadfindergemeinschaft in der Diskussion, Wiesbaden 2015; Matthias D. Witte, Yvonne Niekrenz (Hg.): Aufwachsen zwischen Traditions- und Zukunftsorientierung. Gegenwartsdiagnosen für das Pfadfinden, Wiesbaden 2013. Zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder: Reinhard Schmoeckel: Strategie einer Unterwanderung. Vom Pfadfinderbund zur revolutionären Zelle: die „Umfunktionierung“ des Bundes Deutscher Pfadfinder als Lehrbeispiel, München 1979; Axel Hübner, Rolf Klatta, Herbert Swoboda (Hg.): Straßen sind wie Flüsse zu überqueren. Ein Lesebuch zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP), 2., erweiterte Aufl., Frankfurt a. M. 1991; Eckart Conze: „Pädagogisierung“ als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: Conze, Witte: Pfadfinden (s. oben), S. 67–81. Vgl. Bibliographie zur Geschichte der Jugendbewegung. Quellen und Darstellungen (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 13), Schwalbach 2009, S. 109ff. Siehe Ulrich Bauer, Bernd Lindner, Thomas Korte. (Hg.): 15 Jahre VCP. Eine Rückschau auf die Entwicklung des VCP von 1973 bis 1988, Kassel 1989; Ulrich Bauer, Jobst Besser, Hartmut Keyler, Albrecht Sudermann (Hg.): Kreuz und Lilie. Christliche Pfadfinder in Deutschland von 1909 bis 1972, Berlin 2013. Zur Geschichte der evangelischen Pfadfinder in Berlin s. Klaus Detert: Christliche Jungenschaft in Berlin nach 1945, in: ebd., S. 107–118; Klaus Lischewsky : Kugelkreuz und Lilie. Christliche Pfadfinder der Jungen Gemeinde Ostberlins 1946–1961,
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Anspruchs und einer teilweise stark subjektiven Erzählweise – einen groben Abriss der Geschichte der evangelischen Pfadfinder in Berlin. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit der Gründung der ersten CPDGruppen in den späten 1940er Jahren und endet 1990, da sich mit dem Mauerfall und der Vereinigung beider deutscher Länder der VCP Berlin auf Ostberlin und Brandenburg ausdehnte und sich die Zusammensetzung des Landesverbands erheblich änderte. Der Fokus liegt auf den Gruppen des „Gau Südwest“ bzw. ab 1975 des „Bezirk Süd/West“, also den Stämmen und Siedlungen in den Bezirken Zehlendorf und Steglitz. Dieser Fokus ergibt sich zum einen aus der Quellenlage und zum anderen sind dies die einzigen Gliederungen, in denen eine Tradition über 1968 hinaus bestand: Die CPD-Gruppen im restlichen Berlin lösten sich Mitte der 1960er Jahre auf oder wurden erst in diesem Zeitraum gegründet, weshalb sie sich für eine Langzeitbetrachtung nicht eignen. Für die Analyse werden die Bestände des Archivs des „Bezirk Süd/West“ genutzt und Publikationen, Protokolle, Positionspapiere sowie andere Schriftstücke ausgewertet. Die Nachkriegsgeschichte der CPD beziehungsweise des VCP in Westberlin lässt sich in zwei Phasen unterteilen: Die erste ist die Phase des Wiederaufbaus der CPD in den Strukturen und Formen der Vorkriegs-CPD bis zur Krise Mitte der 1960er Jahre, die zweite umfasst die Erneuerung der CPD und anschließende Stabilität des deutlich kleineren VCP in den 1970er und 1980er Jahren. Für die erste Phase sind in Bezug auf die Erinnerungskultur zwei Aspekte wichtig: Erstens, dass die CPD an gewisse inhaltliche Positionen der Vorkriegszeit anknüpfte, wie etwa an das Selbstverständnis als protestantische Kampfgemeinschaft oder die konservativ-preußische Ausrichtung.9 Zweitens übernahm die CPD-Berlin unreflektiert nationalsozialistische Symbole: So trug man in der CPD Berlin keine blauen Halstücher, sondern schwarze – genau wie früher in der Hitlerjugend (HJ).10 Die CPD Berlin stellte sich damit nicht bewusst in eine Nachfolge der HJ, sondern begründete die Halstuchfarbe mit ihrer Trauer über Salzgitter 2001; Michael Maillard: Einleitung, in: ders. (Hg.): Spurensicherung. Texte aus 50 Jahren Christlicher Pfadfinderarbeit im Südwesten Berlins, Berlin 2000, S. 2–3. Für die evangelischen Pfadfinderinnen s. Hedwig Döbereiner: Feuer und Altar. Der Bund Christlicher Pfadfinderinnen 1922–1972, Kassel 2003; Christine Kunze, Ursula Salfeld, Ruth Stahlmann: Die Geschichte des Evangelischen Mädchen-Pfadfinderbundes EMP. Eine Dokumentation, Kassel 1993. 9 Im Landesmarklied bezeichnete sich die CPD Berlin als „Bruderschaft der grauen Tracht“ in der Auseinandersetzung mit einer unbestimmt-feindlichen Umwelt, der „[d]er Christenwille […] genüg[t] im Kampfe wenn der Sturm beginnt“, VCP-Bundesarchiv [im Folgenden VCPBA], Bestand Bezirk Süd/West, CP Berlin: Landesmarklied CP Berlin, Berlin undatiert. Das konservativ-preußische Selbstverständnis wurde vor allem im Gau Südwest hochgehalten, vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Gau Südwest: Elternbrief III, Berlin 1955, S. 3; ebd., S. 6. 10 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Vorschlag zur Halstuchfarbe, Berlin 1955.
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die Teilung Berlins, aber sie zeigte auch keinerlei Problembewusstsein über die Konnotation schwarzer Halstücher. Explizite Bezüge zum Nationalsozialismus lassen sich in den Quellen jedoch kaum finden. Nur der Zweite Weltkrieg wurde hin und wieder erwähnt, beispielsweise in Friedensgebeten oder bei Gedenkveranstaltungen für die Gefallenen.11 Dabei ging es aber nicht um die Rolle von Pfadfindern in der Weimarer Republik oder im Nationalsozialismus.
Abb. 1: Sippe aus dem Berliner CPD-Gau Südwest in den 1950er Jahren auf Fahrt. Rechte: VCPBundesarchiv, Bestand Bezirk Berlin-Süd/West (Fotograf unbekannt)
An dieser „Nicht-Auseinandersetzung“ mit der eigenen Geschichte hat sich auch nach der Krise der CPD Berlin nicht viel geändert. Und das, obwohl sich die evangelischen Pfadfinderinnen12 und Pfadfinder in Berlin um 1968 politisierten und mit deutlichen Worten von ihren bündischen Vorgängern abgrenzten. Wie dieser Aufsatz zeigen wird, beschäftigten sie sich nur selten mit der Geschichte der Pfadfinder und der bündischen Jugend vor 1945. Aufgrund dieser Befunde ist die Selbsthistorisierung der gesamten Nachkriegszeit bis 1990 unter dem Titel „Gedenken ohne Aufarbeitung und Abgrenzung ohne Auseinandersetzung“ zusammengefasst. Im Folgenden werden drei Ursachen für diese Art des Diskurses herausgearbeitet, die mitunter auch die Selbsthistorisierung in anderen 11 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Gau Südwest: Elternbrief XVI, Berlin 1962, S. 7; VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Gau Südwest: Elternbrief Dezember 1958, Berlin 1958, S. 7f. 12 Ab 1969 hatte die CPD-Berlin weibliche Mitglieder, vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Protokoll Stammesthing 1968, Berlin 1968, S. 3.
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jugendbewegten Gruppen gehemmt haben: zum einen der Abbruch direkter struktureller und personeller Verbindungen zur Vorkriegs-CPD, zum zweiten die Nachrangigkeit von Erinnerungskultur gegenüber praktischen Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit sowie zum dritten die hohe Durchschlagskraft des Narrativs der bündischen Jugendbewegung als Opfer des Nationalsozialismus beziehungsweise als Widerstandskämpfer.
Die abgebrochene Kontinuität in der CPD Berlin Die fehlende personelle und strukturelle Kontinuität hatte zum einen mit dem Prinzip „Jugend führt Jugend“ zu tun, welches die CPD-Berlin bis Mitte der 1960er und der „Bezirk Süd/West“ des VCP Berlin bis nach 1990 aktiv verfolgte. Zum anderen führte die Krise Mitte der 1960er Jahre in der CPD-Berlin zur Auflösung der Verbindungen zur Vorkriegs-CPD. Ursprünglich bauten, ähnlich wie im Rest von Deutschland, vor allem ältere Pfadfinder der Vorkriegs-CP, sogenannte Kreuzpfadfinder, die CPD in Berlin wieder auf. Die CPD soll in Berlin, bevor sie ihre Jugendlichen an die HJ abgeben musste, zwischen 2.000 und 2.500 Mitglieder gehabt haben.13 Nach 1945 gründeten die Kreuzpfadfinder Stämme im Süden, Westen und Osten der Stadt, woraus sich die drei Markschaften der Landesmark bildeten. Ab 1950 kamen weitere bündische Gruppen hinzu, die den „Gau Südwest“ bildeten. In den 1950 Jahren bestand die CPD in Berlin aus circa 20 Stämmen und Siedlungen. Abgesehen vom Wegfall der Ostberliner CPD-Gruppen mit dem Mauerbau 1961 waren diese Strukturen bis Mitte der 1960er stabil.14 Ab Mitte der 1960er Jahre befand sich die CPD bundesweit in einer Krise,15 doch die Landesmark Berlin traf es besonders hart: 1966 bestand sie nur noch aus 194 aufgenommenen Pfadfindern in neun Stämmen und drei Siedlungen.16 Als sich kein neuer Landesmarkführer fand, diskutierte das Landesthing den Vorschlag, die Landesmark aufzulösen oder zum Bund Deutscher Pfadfinder überzutreten.17 Dazu kam es nicht, aber ein Jahr später lösten sich die Mark13 Vgl. Alfred Pointner : Kreuz über Berlin. Geschichte einer verbotenen Jugend, Geschichte eines verbotenen Films, Salzgitter 1999, S. 12. 14 Vgl. Detert: Jungenschaft (Anm. 8), S. 108ff. Detert gibt an, dass zwischen 2.000 und 3.000 Personen zur CPD-Berlin gehört haben. Angesichts der Anzahl der Ortsgruppen scheint dies aber eine Schätzung der Gesamtzahl aller Personen gewesen zu sein, die irgendwann zwischen 1945 und 1965 Mitglied gewesen sind. 15 So schwand die Mitgliederzahl von 25.000 im Jahr 1965 auf 11.000 im Jahr 1968, vgl. Albrecht Sudermann, Konsolidierung und Umbrüche: 1961–1969, in: Bauer : Kreuz (Anm. 8), S. 119–147, hier S. 138ff. 16 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CPD Berlin: Thingprotokoll, Berlin 1966, S. 1f. 17 Vgl. VCP-BA, CPD Berlin: Thingprotokoll (Anm. 16), S. 2.
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schaften und der „Gau Südwest“ auf. Es existierten noch sechs Ortsgruppen, von denen drei bis zu ihrer offiziellen Auflösung 1973 nur noch ein Schattendasein führten.18 Die Arbeit auf Landesmarkebene kam beinahe vollständig zum Erliegen, sodass ein Stammesleiter 1970 sogar „die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Bestehens einer Landesmark“ stellte.19 Die Landesmark (ab 1969 „Land“ Berlin)20 blieb aber bestehen, auch da in der Zeit der Krise in den Bezirken Schöneberg und Charlottenburg jeweils ein neuer Stamm gegründet wurde. Zudem siedelte der seit 1950 bestehende Stamm Ernst-Moritz-Arndt in zwei Nachbargemeinden in Zehlendorf. Aus diesen Gruppierungen entstand 1975 in Anlehnung an den früheren „Gau Südwest“ der „Bezirk Süd/West“. Gemeinsam mit den neuen Stämmen in Schöneberg und Charlottenburg bildeten sie seit 1973 das VCP Land Berlin.21 Damit gab es keine Stämme mehr, die VorkriegsCPDer gegründet hatten oder die aus Siedlungen dieser Stammesgründungen hervorgingen. Auch die Führung der Landesmark bestand seit spätestens 1969 ausschließlich aus Mitgliedern des ehemaligen „Gau Südwest“ und den von Quereinsteigern neu gegründeten Stämmen.22 Dass diese strukturellen Veränderungen die Erinnerungskultur beeinflussten, zeigen zwei Beispiele, bei denen im pfadfinderischen Alltag die eigene Geschichte reflektiert wurde. Zum einen waren dies die Proben zum Stand der Späher.23 Um diese Proben zu bestehen, mussten die Anwärter sich nicht nur mit Themen wie Pfadfindertechnik und Religiosität, sondern auch mit der „langweiligen Pfadfindergeschichte“24 befassen. Konkret bedeutete dies, dass sie die Geschichte ihres Stammes bzw. ihrer Siedlung oder ihres Gaus niederschreiben mussten.25 Die Resultate geben Einblicke in die Geschichte der jeweiligen Gliederungen, beginnen
18 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CPD Berlin: Personal Landesmark Berlin, Berlin 1967, S. 1f.; VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, VCP Berlin: Protokoll Landesversammlung, Berlin 1973, S. 8. 19 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Jahresbericht 1969/70, Berlin 1970, S. 6f. 20 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Berlin: Protokoll Landesmarkthing September 1969, Berlin 1969, S. 1. 21 Vgl. Detert: Jungenschaft (Anm. 8), S. 118. 22 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Berlin: Protokoll Landesmarkthing September 1969, Berlin 1969, S. 1. 23 In den 1960er Jahren gab es in der CPD die Stände der Knappen (ab etwa 14 Jahren), der Späher (ab etwa 16 Jahren) und der Kreuzpfadfinder (ab 18 Jahren). Wenn Jugendliche der CPD beitraten, waren sie zunächst nicht Mitglied eines Standes, sondern erhielten je nach Alter den Status eines Neulings, Jungpfadfinders oder Pfadfinders. Siehe Bernhard Bischoff: Stände, Altersstufen, Proben: Der Weg des einzelnen Pfadfinders, in: Bauer : Kreuz (Anm. 8), S. 169–177. 24 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Gau Südwest: Elternbrief Dezember 1964, Berlin 1964, S. 5. 25 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West: CP Gau Südwest, Späheraufgaben, Berlin 1963, S. 1.
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aber, wie nicht anders zu erwarten, frühestens 1945.26 Ein anderer Anlass waren Jubiläumsveranstaltungen, zu denen auch ältere Ehemalige eingeladen wurden. In den Jahren 1984 und 1990 feiert der „Bezirk Süd/West“ mehrere Jubiläen. Die Programmabläufe der Feiern zeigen, dass die Geschichte der bündischen Jugend und der Pfadfinder vor der Gründung des „Gau Südwest“ – also vor 1950 – den Organisatoren nicht wichtig war.27 Im Gegensatz dazu hatte die 75-Jahre-Pfadfinder-„Jubelfeier“ des VCP Berlin im Jahr 1983 durchaus die Zeit vor 1945 auf dem Programm: So sollte ein Film über die „Palästina-Fahrt“28 der CPD 1931 in Anwesenheit eines Mitfahrers gezeigt und in einer „Erzählecke“29 sollte auch über die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen werden. Da es keine Dokumentation dieser Feier gibt, ist es allerdings unklar, ob das tatsächlich so geschehen ist und was der Inhalt der Gespräche war.30 Diese beiden Beispiele zeigen, wie sich die Krise der CPD in Berlin auf die Erinnerungskultur auswirkte: Da sich die aktiven Pfadfinderinnen und Pfadfinder – wenn überhaupt – dann nur mit der Geschichte ihrer eigenen Gliederung beschäftigten, führte der Niedergang der von Vorkriegs-CPDern gegründeten Stämme dazu, dass sich fast gar nicht mehr mit der Vorkriegsgeschichte der CPD in Berlin beschäftigt wurde. Das Prinzip „Jugend führt Jugend“ verstärkte diesen Effekt, da durch den Weggang der alten Kreuzpfadfinder nach der ersten Wiederaufbauphase auch kaum personelle Verbindungen zur Vorkriegs-CPD erhalten blieben.
Keine Erinnerungskultur in der Jugendarbeit Die Beispiele für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte im normalen pfadfinderischen Programm sind verbunden mit der zweiten Ursache für die fehlende Auseinandersetzung mit der Geschichte der CPD: Die Nachrangigkeit der Erinnerungskultur gegenüber den alltäglichen Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit. Denn abgesehen von einigen wenigen Beispielen war die Geschichte der CPD und der Jugendbewegung kaum Thema für die evangelischen Pfadfinder in Westberlin. Die Analyse der Archivbestände zeigt, 26 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West: Meyer, Geschichte des Gaus Südwest (Berlin), Berlin 1961. 27 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, VCP Bezirk Süd/West: Einladung Jubiläumsfeier, Berlin 1984; VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, VCP Bezirk Süd/West: Programm Jubiläumsfeier, Berlin 1990. 28 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, VCP Berlin: Einladung LV und Jubelfeier, Berlin 1983. 29 Ebd. 30 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, VCP Berlin, Einladung und Protokoll LR, Berlin 1983, S. 2.
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dass die Bedeutung von Erinnerungskultur verschwindend gering war : Nur in neun von über 450 ausgewerteten Dokumenten findet sich ein Bezug zur „Pfadfindergeschichte“, sei es in Form von Aktivitäten oder internen Schulungen. Keines dieser Dokumente gibt einen Hinweis darauf, dass die Pfadfinder über die Bedeutung von Erinnerungskultur diskutiert hätten. Da die Dokumente im Archiv – Protokolle von Sitzungen, Mitgliederzeitschriften und -rundbriefe, Diskussions- und Positionspapiere, Einladungen und Berichte zu Veranstaltungen, Ablaufpläne und Protokolle von Schulungen – ein lebendiges Bild des Gruppenlebens vermitteln und die Diskussionen unter den Gruppenleitern detailreich abbilden, verdeutlicht die geringe Anzahl an lediglich oberflächlichen Verweisen auf die Geschichte der Pfadfinderbewegung, dass die Pfadfinder andere Themen wichtiger fanden. Es ist umso erstaunlicher, dass es kaum Aktivitäten zur eigenen Geschichte gab, da sich die Berliner CPDer und VCPer ansonsten immer wieder mit politischen und gesellschaftlichen, teilweise auch historischen Themen beschäftigten. Beispielsweise führte die CPD 1961 einen zweiwöchigen Kurs mit dem Titel „Deutschland im Vorfeld des kommunistischen Machtblocks“31 in Westberlin durch, der sehr historisch angelegt war. 1965 gab es eine Gesprächsrunde zur Wiedervereinigung, zu der die Teilnehmer vorher Texte zum Thema einreichen mussten.32 Zwei Jahre später diskutierten die „Führer“ und „Rover“ aus dem „Gau Südwest“ die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus33, und 1968 lud die CP-Berlin einen Vertreter des SDS zu einer Diskussionsrunde ein.34 Das Programm umfasste also weit mehr als Pfadfindertechnik und Religiosität oder sonstige typische Pfadfinderthemen. Nach 1968 gaben die Pfadfinder den politischen und gesellschaftlichen Themen noch mehr Gewicht; zumindest in den Gruppen, die sich 1975 zum „Bezirk Süd/ West“ zusammenschlossen. In diesen Gliederungen wurde nun Pfadfinden als „gesellschaftskritische Jugendarbeit“ definiert, durch die Jugendliche „zur Kritik gegenüber der Gesellschaft, zur Selbstkritik, zur Selbsterkenntnis und zur Selbstständigkeit“35 erzogen werden sollen. Da das Ziel war, eine „demokratische“36 Gesellschaftsform zu erreichen, sollten die Jugendlichen lernen, „Gleich31 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Berlin: Programm Jungmannschaft, Berlin 1961, S. 2. 32 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Berlin: Rundbrief Diskussion Wiedervereinigung, Berlin 1965, S. 1; VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CPD Berlin: Textsammlung zur Frage der Wiedervereinigung, Berlin 1966, S. 1ff. 33 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, CP Gau Südwest: Einladung Arbeitstreffen für Führer und Rover, Berlin 1967, S. 1. 34 Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Gerloff: Staatsbürgerlicher Informationsbrief Nr. 4, Berlin 1968, S. 1. 35 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Diskussionspapier Pfadfinden, Berlin 1971, S. 1. 36 Ebd., Grundsätze und Richtlinien in EMA, Berlin 1972, S. 2.
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heit unter den Menschen“ und den „Abbau jeder Herrschaft des Menschen über den Menschen“ zu verwirklichen sowie „kritisch demokratisch [zu] [d]enken“37. Deshalb diskutierten die Pfadfinderinnen und Pfadfinder auf ihren Fahrten und in ihren Heimabenden Themen wie die „repressive Familie“,38 „Gesellschaftsstrukturen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen, unter besonderer Berücksichtigung der Konfliktsituation“,39 „Umweltschutz“,40 den Putsch in Chile,41 „Sexualität in der Jugend und Sexpresse“42 oder die „Stellung des Jugendlichen in einem bürgerlichen Bezirk in Elternhaus und Schule und von seinen Möglichkeiten, seine Freizeit sinnvoll zu gestalten.“43
Abb. 2: Mitglieder des Bezirk Süd/West auf dem Landeslager des VCP Berlin in Langeleben / Elm 1975; Rechte: Michael Maillard
37 Ebd., Werbung, Berlin 1971, S. 2. 38 Ebd., Bericht Osterfahrt Rover, Berlin 1974, S. 3. 39 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Senator für Arbeit und Soziales Berlin: Zuschüsse Seminar, Berlin 1974, S. 1. 40 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Protokoll Stammesversammlung Juni, Berlin 1974, S. 2. 41 Vgl. ebd.: Rechenschaftsbericht 1973/74, Berlin 1974, S. 5. 42 Ebd., S. 6. 43 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Rechenschaftsbericht Jugendgruppen, Berlin 1973, S. 1.
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Diese Themen lassen den Einfluss von „1968“ deutlich sichtbar werden. Dahingehend ist es umso verwunderlicher, dass es kaum eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gab, da gerade die gesellschaftliche „Nicht-Auseinandersetzung“ mit dem Nationalsozialismus ein Anlass für die Proteste der Studentenbewegung war. Gleichzeitig zeigt die politische Ausrichtung auch, dass die Pfadfinderinnen und Pfadfinder grundsätzlich sehr gerne Themen diskutierten, die nichts mit „traditionellen Pfadfinderthemen“ zu tun hatten. Die eigene Geschichte erschien den Akteuren aber wohl im Vergleich zu anderen Themen nicht interessant genug.
Das bündische Opfer- und Widerstandsnarrativ Vielleicht hat das Narrativ der bündischen Jugendbewegung als Opfer des Nationalsozialismus und Widerstandskämpfer, die dritte Ursache für die schwach ausgeprägte Erinnerungskultur, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Organisation unnötig erscheinen lassen. Dieses Narrativ verfälscht die historische Wirklichkeit, da es verschleiert, dass die CPD in den frühen 1930er Jahren in vielen Punkten mit der NSDAP übereinstimmte44 und speziell in Berlin sich den Nationalsozialisten als zweite Jugendorganisation neben der Hitlerjugend anbiederte.45 Die persönliche Verstrickung der Gruppenleiter in dieses Gebaren der Vorkriegs-CPD ist vermutlich der Grund, weshalb es keinerlei Zeugnisse aus den 1950er Jahren für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der CPD in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus gibt. Aus den späteren Jahrzehnten gibt es einige Beispiele für diese Auseinandersetzung; in ihnen zeigt sich jedoch, dass die evangelischen Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Berlin dem Opfer- und Widerstandsnarrativ folgten. Das erste Beispiel hierfür ist eine Diskussion über die historische Bedeutung der „Fahrt“ in der Landeszeitung des VCP Berlin von 1982. Zwei Autoren aus dem „Bezirk Süd/West“ diskutierten vor dem Hintergrund einer Rückbesinnung auf jugendbewegte Traditionen in ihrem Bezirk diese Form jugendbewegten Lebens. Einerseits kritisierten sie dabei den Eskapismus der Wandervögel, die „vor dem ganzen kleinbürgerlichen Mief, der Steifheit und Verlogenheit ihrer Welt [wegliefen] und hofften im Kreise unverdorbener Jugend in der unverdorbenen Natur das Gute, Wahre und Schöne wieder zu finden.“46 Der Autor 44 Siehe Wilfried Duckstein, Matthias Mahlke: In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft: 1933–45, in: Bauer : Kreuz (Anm. 8), S. 58–84; deutlich unkritischer Günter Brakelmann: Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/34, Kamen 2013. 45 Ein glorifizierender Bericht hierzu, siehe Pointner : Kreuz (Anm. 13). 46 VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Marius Fiedler : Gestern „Wandervögel“ – Heute „Al-
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merkte spöttisch an, dass sie dieses wohl nicht gefunden hätten, „denn sonst hätten wir sicherlich davon gehört.“47 Andererseits argumentiert die andere Autorin, dass „das Auf-Fahrt-Gehen ein Ausüben von Widerstand gegen die Anordnungen des Naziregimes [war].“48 Hier wurde die Fahrt zur politischen Aktion und die bündische Jugendbewegung zum Beispiel für Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Das zweite Beispiel betrifft die Geschichte der CPD. Diese musste zum Jahreswechsel 1933/34 ihre unter 18-Jährigen Mitglieder an die HJ abgeben und wurde 1937 von der Gestapo endgültig verboten.49 Diese Verbotserfahrung führte in der CPD zu einem Opfernarrativ, das auch im VCP Berlin gepflegt wurde. So waren diese beiden Ereignisse und eine Kundgebung gegen die Reichskirchenregierung die einzigen Stichpunkte zum Nationalsozialismus, die sich Peter von Schlieben-Troschke, einer der Hauptakteure der Politisierung der CPD Berlin um 1968, für ein Referat zur Pfadfindergeschichte notiert hatte.50 Dass die CPD vor 1933 „ein Teil der konservativ-reaktionären Opposition gegen die Republik“51 war, wie Wilfried Duckstein und Matthias Mahlke geschrieben haben, wird von Peter von Schlieben-Troschke nicht erwähnt, vermutlich aus Unwissenheit. Tatsächlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er willentlich versucht hat, das Verhalten seiner bündischen Vorgänger schön zu reden. Denn bezüglich anderer Themen hatten sich die Gruppen des späteren „Bezirks Süd/West“ in der Phase ihrer Politisierung sehr deutlich und mit scharfen Worten von ihren Vorgängern abgegrenzt. So schrieb die Leiterrunde des Stamm EMA, dass sie „keine verlausten Waldläufer, geschweige denn Lagerfeuerromantiker“52 seien. Zwar lehnten sie auch den Scoutismus von Baden-Powell ab, da er „heute keinen gesellschaftspolitischen Wert mehr ha[be]“,53 aber die bündischen Pfadfinder waren in der innerverbandlichen Auseinandersetzung um das Verständnis von Pfadfinden die wichtigeren Gegner.54
47 48 49 50 51 52 53 54
ternative“? Zur Geschichte und Funktion der Fahrt, in: VCP Berlin: Landeszeitung. Fahrt, Berlin 1982, S. 7–8, hier S. 8. Ebd. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Juliane Redlich: 1933–45, in: VCP Berlin: Landeszeitung (Anm. 46), S. 9–10, hier S. 10. Vgl. Duckstein, Mahlke: Herrschaft (Anm. 44), S. 75ff. Vgl. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Schlieben-Troschke: Referat Geschichte Pfadfinder, Berlin 1974, S. 2. Duckstein, Mahlke: Herrschaft (Anm. 44), S. 83. VCP-BA, Stamm EMA: Diskussionspapier (Anm. 36), S. 1. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Gruppenleiterausbildung. Ziele der Gruppenleitung, Berlin 1973, S. 1. So wollte Peter von Schlieben-Troschke 1974 die Mitglieder der Bewegung „Kreuzpfadfinder 73“, einem Teil der „Allzeit-Bereit-Bewegung“, zum Austritt aus dem VCP auffordern, vgl.
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Auf einer anderen Ebene unterzogen sie ihrer Organisation einer symbolischen Entnazifizierung, indem sie ihre Terminologie veränderten und die offensichtlich vom Nationalsozialismus belasteten Begrifflichkeiten austauschten: Statt dem Stammesführer gab es nun ein „Stammesleitungsteam“,55 das Stammesthing wurde zur „Stammesversammlung“56 und die „Führerrunde“ erst zum „Gruppenleiterkollektiv“57 und später zur „Leiterrunde“.58 Ein Antrag, den weniger belasteten Terminus „Stamm“ durch „Statt(t)eilgruppe [sic!]“59 zu ersetzen, wurde jedoch nicht angenommen. Diese „terminologische Entnazifizierung“ ändert jedoch nichts an dem Befund, dass es keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der CPD und anderer jugendbewegter Gruppen gab. In den 1950er Jahren mag es diese Auseinandersetzung noch nicht gegeben haben, da die damaligen Führer in der CPD ihre eigene unrühmliche Rolle in den frühen 1930ern hätten reflektieren müssen. In den folgenden Jahrzehnten erlagen auch die größten Kritiker des bündischen Pfadfindertums dem Narrativ der Verfolgung und des Widerstands der bündischen Jugendbewegung und trugen es weiter. Damit gab es auch für sie keine Notwendigkeit zur kritischen Selbstreflexion.
Fazit und Ausblick Es konnte gezeigt werden, dass in Berlin drei Faktoren für die insgesamt sehr geringe und oberflächliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der CPD ursächlich waren: Entscheidend war erstens die fehlende personelle und strukturelle Kontinuität in der CPD und im VCP in Berlin zu der Vorkriegs-CPD. Dies ist deswegen so wichtig, weil damit keine Erfahrungen und Geschichten aus der Zeit vor 1945 über die Kohorten weitergegeben wurden. Außerdem begann für die nachgeborenen Pfadfinder die Geschichte „ihrer“ Organisation erst um 1950. Der zweite Faktor war, dass die Erinnerungskultur gegenüber den aktuellen Herausforderungen der Kinder- und Jugendarbeit nachrangig war ; kurz gesagt: Es war wichtiger, das nächste Zeltlager oder die anstehenden Gruppenstunden zu organisieren, als sich mit der Geschichte der eigenen Organisation zu beschäftigen. Schließlich hat das Narrativ der bündischen Jugend als Opfer im bzw. als Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus auch in CPD/
55 56 57 58 59
VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Schlieben-Troschke: Rede zur Landesversammlung, Berlin 1974, S. 9f. VCP-BA, Bestand Bezirk Süd/West, Stamm EMA: Protokoll Thing 1969, Berlin 1969, S. 1–2. Ebd., Brief über die Wahlergebnisse der Stammesversammlung 1969, Berlin 1969, S. 1. Ebd. Ebd., Stammesordnung inklusive Grundsätze und Richtlinien, Berlin 1972, S. 1–5. Ebd., Protokoll Stammesversammlung Februar, Berlin, 21. 02. 1974, S. 1.
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VCP-Berlin gewirkt. Somit schien die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit weit uninteressanter zu sein, als wenn diese Auseinandersetzung das Potenzial für eine Kritik an den bündischen Pfadfindern geboten hätte. Da dieses Potential aber nicht bekannt war, nahm die Erinnerungskultur selbst in der Phase der Politisierung um 1968 keinen wichtigen Stellenwert im Programm ein. Da es bisher keine weiteren Studien zur Erinnerungskultur in der deutschen Jugendbewegung auf lokaler Ebene gibt, ist schwer abzuschätzen, inwieweit das Beispiel der evangelischen Pfadfinder in Berlin zu verallgemeinern ist. Zumindest bei Gruppen, die eine direkte personelle und strukturelle Kontinuität zu den Jahren vor 1945 aufweisen, könnte die Erinnerungskultur anders ausgesehen haben. Darüber können aber, insbesondere bei den größeren Bünden und Verbänden, nur weitere Lokalstudien Aufschluss erbringen. Die Analyse der Archivbestände des „Bezirks Süd/West“ zeigt, dass dies ein lohnendes Unterfangen ist.
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Im Widerspruch mit sich selbst. Geschichtsbild und Selbsthistorisierung im Freundeskreis der Artamanen (1965–2001)
„Die Artamanen. Landarbeit und Siedlung bündischer Jugend in Deutschland 1924–1935“1, unter diesem Titel veröffentlichte der diplomierte Landwirt Peter Schmitz das wohl letzte Produkt der Selbsthistorisierung des Freundeskreises der Artamanen. Die einzige Darstellung der Geschichte der Artamanen, die bisher als Monografie herausgegeben wurde, ist zwei Jahre später im Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung von Arno Klönne rezensiert worden. Darin bemängelt Klönne, dass „[d]ie Entpolitisierung der Geschichte der Artamanen […] den verfehlten Hoffnungen ehemals Beteiligter nicht gerecht [wird], selbst dann nicht, wenn sie es ihnen scheinbar leichter macht, mit der eigenen Vergangenheit zurechtzukommen.“2 Gemeint ist damit die Abgrenzung Schmitz’ von anderen Autoren früherer wissenschaftlicher Arbeiten, die seiner Meinung nach „vor allem die politischen Aspekte herausgestellt“ haben, indem er unterstreicht, dass es sich bei seinem Buch „um einen fachlich betonten Bericht, der sich an konkreten Unterlagen und Fakten orientiert“ handle und ihn dazu bewege, „auf politische Wertungen“3 zu verzichten. Welche Gründe dafür von Bedeutung waren, verschweigt Schmitz und überlässt dem ehemaligen Artamanen, Wilhelm Niebuer, im Vorwort die vage Beantwortung dieser Frage: Die Artamanen stünden nicht nur in der Tradition der deutschen Jugendbewegung, sondern könnten „exemplarisch für viele Bünde und Gruppierungen der Jugendbewegung nach 1920 gelten, die in ihrer Hinwendung zu auch konkreten Aufgaben in Staat und Gesellschaft einen neuen Weg beschritten“ und sich dadurch vom Wandervogel, „in de[m] idealistisch überhöhte, wirklichkeitsfremde und irrationale Zielsetzungen überwogen“, unterschied. Gemeinsamkeiten mit anderen Gruppierungen der bündischen Jugend sieht er in der „Fahrtenromantik – Nationalbewußtsein – Gesell1 Peter Schmitz: Die Artamanen. Landarbeit und Siedlung bündischer Jugend in Deutschland 1924–1935, Bad Neustadt a. d. Saale 1985. 2 Arno Klönne: Rezension zu „Peter Schmitz: Die Artamanen“, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 16–1986/87, S. 430–431. 3 Schmitz: Artamanen (Anm. 1), S. 15.
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schaftskritik etc.“, obwohl mit der „Landarbeit, der Landwirtschaft und der Naturnutzung durch Agrarproduktion“ das zentrale Betätigungsfeld dieser Siedlungsbewegung erfasst werden kann. Abschließend geht Niebuer auf das Verhältnis zwischen der deutschen Jugendbewegung und dem Nationalsozialismus ein und lobt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema auf den Tagungen des Archivs der deutschen Jugendbewegung, die ein differenzierteres Bild dieses Verhältnisses zeigten und nicht „von einer fast pauschalen Schuldzuweisung am Scheitern der Weimarer Republik durch Politikabstinenz und Antiparlamentarismus“ der Jugendbewegung ausgingen. Um das Gesagte zu untermauern, folgt ein Zitat aus dem Flugblatt der Weißen Rose und der abschließende Satz: „In der ex-post Nachforderung an das politische Verhalten der Jugendbewegung ist Bescheidenheit, sind leise Töne angebracht.“4 Das Vorwort soll demzufolge den Eindruck vermitteln, dass die Artamanenbewegung gleichgestellt war mit anderen Gruppierungen, die aktiv gegen die Nationalsozialisten Widerstand geleistet haben, und dass sie sich als politisch Unbeteiligte jeder Verantwortung für das politische und moralische Versagen entzieht. Was hier am Beispiel des Buches von Peter Schmitz kurz dargestellt wurde, soll im vorliegenden Aufsatz näher untersucht werden. Die damit angsprochene Selbsthistorisierung des Freundeskreises der Artamanen ist bisher nur von Christian Niemeyer am Beispiel der Werner Kindt-Edition behandelt worden.5 Dabei ist die Selbsthistorisierung ein zentraler Motivationsgrund für die ehemaligen Artamanen gewesen, um sich gegen vermeintliche „grobe Entstellungen über die Artamanenbewegung“6 behaupten zu können und der Öffentlichkeit ein beschönigendes Bild zu liefern, das frei von jeglichen Beziehungen zum Nationalsozialismus, völkischen Denken und anderen moralisch belastbaren Ideen war, obwohl die weltanschaulichen Grundüberzeugungen aus der Vergangenheit im Freundeskreis nicht geleugnet, sondern aktiv fortgeführt wurden. Die produktivste Phase der Selbsthistorisierung ist mit dem Namen Alwiß Ro4 Wilhelm Niebuer : Vorwort, in: Schmitz: Artamanen (Anm. 1), S. 9–14. 5 Niemeyer kritisiert berechtigterweise die Auslassungen in den Kurzbiografien der WernerKindt Edition, vor allem diejenigen, welche eine aktive Rolle in der NSDAP verschweigen. Ebenso weist er nach, dass die völkischen Gründungsväter der Artamanen nicht benannt werden. Tatsächlich finden sich in der Korrespondenz zwischen Bernhard Just und Werner Kindt noch weitere Briefe, die im vorliegenden Aufsatz beschrieben werden. Darin wird die manipulative Einflussnahme des Freundeskreises der Artamanen auf die Gestaltung des eigenen Kapitels in diesem Band deutlich, die Niemeyer nicht berücksichtigt hat, vgl. Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung, Tübingen 2013, S. 52ff.; ders.: Jugendbewegung, völkische Bewegung, Sozialpädagogik. Über vergessen gemachte Zusammenhänge am Beispiel der Darstellung der Artamanenbewegung in der Kindt-Edition, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik, Berlin 2014, S. 195–220. 6 ARTAM-Rundbrief, 1966, H. 4.
Geschichtsbild und Selbsthistorisierung im Freundeskreis der Artamanen
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senberg verbunden, der bis zu seinem Tod 1980 als Sprecher des Freundeskreises den folgenreichen Versuch unternommen hat, die Artamanenbewegung zu entpolitisieren und sie in dem Kreis der deutschen Jugendbewegung zu verorten. Dies wurde bisher kaum in der Forschung thematisiert, denn im Vordergrund standen die Fragen nach den ideologischen und politischen Ideen sowie deren Umsetzung in der Zwischenkriegszeit, aber auch jene Bezüge zum Nationalsozialismus, die beispielsweise auf mögliche Einflüsse auf einige Organisationen der SS hinweisen. Verbunden war dies mit der Zugänglichkeit der Quellen, die in dieser Fülle im eigenen Archiv des Freundeskreises vorhanden waren, von diesem aber in den 1980er Jahren allmählich dem Archiv der deutschen Jugendbewegung übergeben wurden. Walter Palesch war der erste, der auf dieses Archiv zugreifen konnte,7 gefolgt von dem schon erwähnten Peter Schmitz, 1990 dann Dirk Baas8 und zuletzt Stefan Brauckmann, der 2005 wie seine Vorgänger, eine akademische Abschlussarbeit zu diesem Thema vorlegte und darüber hinaus eine Reihe von Aufsätzen verfasste.9 Der Freundeskreis der Artamanen wurde bisher nur in der aufklärerischen Broschüre von Jesko Wrede und Maik Baumgärtner behandelt,10 welche die Grundlage für einen Eintrag im, von Wolfgang Benz herausgegebenen, Handbuch des Antisemitismus von Gideon Botsch bot.11 Darin wurden die Kontakte mit dem rechtsextremen Milieu hervorgehoben, die im vorliegenden Aufsatz ebenso Erwähnung finden, um das Spannungsfeld zwischen eigener Vergangenheit, rechtem Denken und dem Anspruch, der Nachwelt eine „saubere“ Geschichte zu hinterlassen, zu beleuchten. Zuletzt erschien zudem ein Aufsatz von Ulrich Linse über völkisch-jugendbewegte Siedlungen vor und nach 1945, in dem die Rolle des Freundeskreises bei der Realisierung des rechtsradikalen „Konzept Koppelow“ thematisiert wird, dessen
7 S. Walter Palesch: Artamanen. Die ideologische Konzeption einer grossstadtfeindlichen Bewegung in Theorie und Praxis (Diplomarbeit), Mannheim 1977. 8 Siehe: Dirk Baas: Die „Artamanen“-Bewegung – vom völkischen Jugendbund zum „Landdienst“ der HJ (Diplomarbeit), Marburg 1990. 9 Siehe Stefan Brauckmannn: „zur saat und tat“. Die Artamanen als Gruppierung innerhalb der völkisch-nationalistischen Strömungen 1924–1935 (Magisterarbeit), Hamburg 2005; ders.: Artamanen. Bündische Gemeinden oder Nationalsozialistischer Arbeitsdienst auf dem Lande?, in: Claudia Selheim, Alexander Schmidt (Hg.): Grauzone. Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus, Nürnberg 2017, S. 23–34. Die Dokumente, Zeitschriften, Fotografien, usw. des Artamanen-Archivs gehen auf langjährige Spenden und Käufe zurück. Folglich standen Stefan Brauckmann mehr Quellen zur Verfügung als früheren Arbeiten. 10 Maik Baumgärtner, Jesko Wrede: „Wer trägt die schwarze Fahne dort…“. Völkische und neurechte Gruppen im Fahrwasser der Bündischen Jugend heute, Braunschweig 2009. 11 Botsch, Haverkamp: Jugendbewegung (Anm. 5).
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Siedlerinnen und Siedler gegenwärtig in der deutschsprachigen Presse als „NeoArtamanen“ bezeichnet werden.12
Freundeskreis der Artamanen Erste Sammelversuche ehemaliger Artamanen gehen auf Otto R. Meyer zurück, der 1963 auf eine kurze Notiz in der von Siegfried Schmidt herausgegebenen „Tatgemeinschaft“ aufmerksam geworden ist, die über einen neuen „Bund Artam“ informierte. Als sich nach Meyers Anfragen herausstellte, dass es sich nicht um ehemalige Artamanen, sondern eine unbedeutende Gruppe von vier Personen handelte, beschloss er, mit Ehemaligen Kontakt aufzunehmen und ein erstes Treffen 1965 in Marktbreit zu organisieren. Während in diesem Jahr nur zwanzig Personen teilgenommen hatten, waren es zwei Jahre später schon dreihundert interessierte ehemalige Artamanen, die ihre früheren Weggenossinnen und Weggenossen wiedersehen wollten.13 Diese von da an jährlich stattgefundenen Treffen waren, neben dem eigenen Mitteilungsblatt, „Artam – Blätter eines Freundeskreises“ (kurz: Artamblätter), das zentrale Forum des Freundeskreises für gemeinsame Sing- und Lagerfeuerabende, Gymnastikübungen, Vorträge, Diashows und dergleichen. Die hohe Mitgliederzahl erforderte eine zunehmend bessere Organisation, um die Aufgaben lösen zu können. Die Mehrheit der Ehemaligen entschloss sich, „Erinnerungsarbeit“ zu leisten statt, wie Otto R. Meyer es vorschlug,14 die Praxis aus der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart zu implementieren und junge Menschen für landwirtschaftliche Arbeit zu gewinnen, die, der Auffassung der ehemaligen Artamanen entsprechend, einen „freiwilligen Dienst“ am (deutschen) Volk verrichten sollten.15 Seine Idee und sein überhöhter Geltungsanspruch machten ihn innerhalb des sich gerade konstituierenden Freundeskreises zu einer unbeliebten Führungsperson und so musste er, mit dem Inkrafttreten der „Organisatorische[n] 12 Siehe Ulrich Linse: Völkisch-jugendbewegte Siedlungen im 20. und 21. Jahrhundert, in: Botsch, Haverkamp: Jugendbewegung (Anm. 5), S. 29–73. 13 Vgl. Otto R. Meyer: Wie kam es zum jetzigen losen Zusammenschluss ehemaliger Artamanen?, in: ARTAM-Rundbrief, 1966, H. 4. 14 Siehe die Korrespondenz zwischen den ehemaligen Artamanen im August 1967, in: AdJb, A 227, Nr. 52. 15 Im heutigen Wortgebrauch würde man das Äquivalent „ehrenamtliches Engagement“, ohne den nationalistischen Grundgedanken, der bei den Artamanen von existenzieller Bedeutung war, gebrauchen. Diese völkische Siedlungsbewegung verfolgte ein, auf die unbeliebte landwirtschaftliche Arbeit fokussiertes, Ideal eines „Bauernadels“, welcher der ländlichen Bevölkerung und dem Bauerntum in der krisenzerrütteten Weimarer Republik, neue Geltung verschaffen und auf die wirtschaftliche Bedeutung der nahrungsmittelversorgenden Berufe und Bevölkerungsgruppen aufmerksam machen sollte.
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Richtlinien des Freundeskreis der Artamanen“16, die in den Artamblättern abgedruckt waren, seine leitende Position an den gewählten ersten Sprecher Alwiß Rosenberg abgeben. Rosenberg, der zudem Ehrenmitglied bei den „Geusen“17 war, nahm die Gründung des Freundeskreises zum Anlass, einen „Überbündischen Kreis“ mit den ehemaligen Mitgliedern früherer völkische Gruppierungen der bündischen Jugend ins Leben zu rufen.18 Bei den gemeinsamen „Freizeitwochen“ und „Herbsttreffen“ sind auch Referentinnen und Referenten eingeladen worden, die nachweislich dem radikal-nationalistischen und rechtsextremistischen Milieu der Bundesrepublik angehörten.19 Der rege Kontakt zwischen den Bünden der Ehemaligen im Überbündischen Kreis lässt sich in Abschlussberichten nachvollziehen, die in den Artamblättern veröffentlicht worden sind. In einigen Fällen sind die Texte der Referentinnen und Referenten in gekürzter Fassung abgedruckt worden. Im Rahmen des Überbündischen Kreises ist es in Zusammenarbeit mit Siegfried Schmidt zur Gründung eines „Arbeitskreises Überfremdung“ gekommen, welcher „gegen alle Bestrebungen, die zur biologischen und kulturellen Überfremdung unserer Volkes“20 führten, mit der Verteilung von Flugblättern, Zusendung von Briefen an örtliche Zeitungen, Landtagsab16 S. Organisatorische Richtlinien des Freundeskreises der Artamanen!, in: Artambrief, 1968, H. 9, S. 11–12. Neue Aufgabenbereiche wurden damit geschaffen: Sprecher, 1. Stellvertreter des Sprechers und Schriftwart, 2. Stellvertreter des Sprechers, Organisationswart, Kassenwart, Schriftleiter der Artamblätter, Archiv, Dokumentation, Hilfswerk. 17 Der Jungvölkischer Bund „Die Geusen“ war eine radikale völkische Gruppierung die sich im August 1919 vom Bund Fahrende Gesellen abspaltete. 1930 zählten die Geusen, dessen Mitglieder vor allem aus kaufmännischen Berufen stammten, etwa 1800 Mitglieder. Seit 1926 näherten sie sich der NSDAP an und verhandelten mit Parteimitgliedern über die Zusammenarbeit mit der Hitlerjugend. Die Führer des Bundes (Georg Anton, Richard Bülk, Peter Berns) engagierten sich sowohl bei den Geusen, wie auch in der NSDAP. S. Georg Anton: Die Geusen, in: Werner Kindt: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die Bündische Zeit (Dokumentation der Jugendbewegung 3), Düsseldorf 1974, S. 813–819; Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 323. 18 Vgl. Baumgärtner, Wrede: Fahnen (Anm. 10), S. 105–107. Alwiß Rosenberg schrieb an Kurt Bachmann, dass der Überbündische Kreis „kulturelle Veranstaltungen, Vorträge in Städten“ veranstalten solle, um sich „gegen den zersetzenden Zeitgeist […] zur Wehr [zu] setzen. Gedacht ist an eine politische Weiterbildung.“, siehe: Brief v. A. Rosenberg an K. Bachmann (u. a.), 10. 12. 1968; AdJb, A 227, Nr. 7. 19 Dazu gehörten u. a. Wolfgang Juchem (NPD-Mitglied, Vorstand der Aktion Freies Deutschland), Werner Haverbeck (ehem. Mitglied der Waffen-SS und Reichsleitung der NSDAP, zudem Gründer des rechtsextremen Collegium Humanum), Jürgen Rieger (NPDMitglied, Vorsitzender der Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung und Organisator des Rudolf-Heß-Gedenkmarsches), Karl Springenschmid (ehem. Mitglied der SS), Fritz Stüber (Gründer des Eckartboten, Vorsitzender der Österreichischen Landsmannschaft und zweiter Präsident des Deutschen Kulturwerks Europäischen Geistes), s. Baumgärtner, Wrede: Fahnen (Anm. 10), S. 37. 20 Arbeitskreis Überfremdung, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1980, H. 58, S. 37.
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geordnete reagieren sollte. Entsprechende Flugblätter sind den ehemaligen Artamanen mit dem eigenen Mitteilungsblatt zugeschickt worden. Einige der ehemaligen Artamanen sind in dieser Hinsicht nicht passive Konsumenten rechten Gedankenguts geblieben, sondern produzierten selbst in den Artamblättern Pamphlete dieser Art. So beklagte sich Wilhelm Seibert, dass „volksbewußtes Denken heute auch durch mancherlei äußere Überfremdung [gefährdet sei]: Fremde Truppen in unserem Land, fremde Arbeiter in unseren Städten und Fabriken, fremdes Kapital in unserer Wirtschaft, fremde Weisungen im sozialistischen Lager“. Außerdem sei „der Weg zu einer freien Völkergemeinschaft […] unerträglich belastet, solange wir nur fortfahren, am Mahnmal von Belsen-Bergen [sic] unsere Schuld zu bekennen“21. In ähnlicher Weise äußerte sich Alwiß Rosenberg: „Wir sollen weiterhin im Büßerhemd einhergehen, obwohl sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, daß das deutsche Volk keine größere Schuld auf [sich] geladen hat als auch andere Völker im Osten und Westen. Es ist unredlich vergangenes Unrecht immer wieder hervorzukehren und so zu tun als ob die Gefahr bestünde, das deutsche Volk könne neues Unheil heraufbeschwören.“22 Radikalere Töne sind in den Artamblättern nicht zum Ausdruck gekommen und beschränkten sich allenfalls auf unmittelbare Kommunikationswege, wie etwa private Gespräche und den Briefverkehr. Der archivische Bestand des Freundeskreises der Artamanen, welcher von der Archivmitarbeiterin Birgit Richter 2016 vollständig erschlossen wurde, beinhaltet auch die Korrespondenz des Freundeskreises, die einen Einblick in die inoffizielle und persönliche Kommunikation unter Gleichgesinnten gewährt. So erfährt man von Jochen Frost, der sich über holocaustleugnende Äußerungen auf den Jahrestreffen des Freundeskreises bei Alwiß Rosenberg beschwerte und als bisher einzig Person bekannt ist, die im aktiven Kreis der Ehemaligen Kritik an der Unfähigkeit, kritisch mit der eigenen Vergangenheit umgehen zu können, äußerte. Die persönlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die Berichte über die deutschen Konzentrationslager hatten ihn dazu gebracht, sich differenziert mit seiner früheren Überzeugung im „Dritten Reich“ auseinanderzusetzen. Anlass für den Brief war u. a. eine Rede von Alwiß Rosenberg, der sich in Bezug auf den ehemaligen Artamanen und späteren Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, folgendermaßen äußerte: „Rudolf Höß kam von der Freischar Schill im Frühjahr 1929 zu uns. Er war mit allen landwirtschaftlichen Arbeiten vertraut und hatte Führungseigenschaften, weshalb er bald eine Artamgruppe zu führen übertragen bekam. Wir haben ihn als gradlinigen Kameraden kennen gelernt, etwas scheu und zurückhaltend, hilfsbereit und gütig 21 Wilhelm Seibert, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1969, H. 16, o. S. 22 Alwiß Rosenberg: Rückschau und Ausblick, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1979, H. 56, S. 1–5, hier: 2–3.
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Mensch und Tier gegenüber. Er konnte es nicht mitansehen, wenn z. B. Pferde geschlagen wurden und nahm jedem Kutscher Peitsche und Zügel aus der Hand um ihnen zu zeigen, daß es auch anders gehe. Auch sonst ist er jeder Ungerechtigkeit, wo immer sie geschah, sofort und nachdrücklich entgegen getreten. Rudolf Höß verstand es seine Gefühle zu verbergen; auf keinen Fall nach außen zu zeigen. Er war der geborene Soldat und fühlte sich auch als solcher, der gelernt hatte zu gehorchen, wie es preußische Pflichtauffassung stets forderte, und die militärische Führung im letzten Krieg auch immer erzwang. Nach herrschender Rechtsauffassung fehlte ihm daher das subjektive und objektive Schuldbewußtsein, das zu einer Verurteilung der geschehenen Verbrechen Voraussetzung war. Es war eine tragische Verflechtung verschiedener Umstände, die ihn an die Stelle eines KZ-Kommandanten brachte, die er nur widerwillig, aber pflichtgemäß versah, seine verschiedenen Ablösungsgesuche und Meldungen an die Front wurden abgelehnt. […] Wer könnte mit Bestimmtheit von sich sagen, daß er sich hätte anders verhalten können?“23
Aus den „Autobiographischen Aufzeichnungen“ von Höß ist bekannt, dass er 1924 plante, nach Ablauf seiner Zuchthausstrafe, für die Beteiligung am Parchimer Fememord an Walter Kadow, eine Familie auf einem eigenen Bauernhof zu gründen, und dass er sich deshalb den Artamanen anschloss. Politische Kämpfe der extremen Rechten lehnte er ebenso ab wie die Auswanderung aus Deutschland; er erhoffte sich, bei den Artamanen sein neues Lebensziel zu erreichen. In einer Artamanengruppe lernte er seine zukünftige Frau Hedwig Hensel kennen. Dennoch entschied er sich für die Laufbahn in der SS, die ihn zum Massenmörder werden ließ.24 Jochen Frost beschwerte sich bei Rosenberg über den Mangel an Empathie gegenüber den Opfern und der fehlenden Einsicht, die Taten eines Massenmörders einzusehen und forderte zudem die Streichung von Rudolf Höß aus der Totenliste, zum Gedenken ehemaliger Artamanen. Jochen Frost machte sich mit seinen Äußerungen bei den ehemaligen Artamanen 23 Alwiß Rosenberg: Rede auf dem Artamanen-Treffen in Lauterbach 1973; AdJb, A 227, Nr. 101. 24 Vgl. Martin Broszat (Hg.): Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, München 151996, S. 74–79. Höß’ aktive Zeit bei den Artamanen zeigt beispielhaft, dass NSDAP-Mitglieder in dieser völkischen Siedlungsbewegung nicht ausgeschlossen waren und sogar die Möglichkeit hatten, zu Artamanenführern aufzusteigen. Dass sich Höß, trotz seiner verbesserten Aussichten auf ein anderes Leben, radikalisieren ließ, zeigt, dass bei den Artamanen keine Bemühungen eingeleitet wurden, gegen rechte Einflüsse vorzugehen. Die Schwäche des Bundes drückte sich in ihrer Beeinflussbarkeit von der extremen Rechten aus, die an die vorhandenen Vorstellungen von „Raum“, „Reich“, „Rasse“, und andere ambivalente Begriffe wie „Volk“ anknüpfen konnte. Der offenkundige Antisemitismus und die Feindschaft gegenüber der Demokratie wurden entweder übernommen oder in Kauf genommen. Harry Pross erwähnt die verschiedenen nationalsozialistischen Bewegungen, bevor Hitler unbestrittener Führer war, um auf die Uneindeutigkeit der Semantiken der Symbole hinzuweisen. Eine Distanz zu antisemitischen, rassistischen und nationalistischen Ideen hat der Bund Artam nicht zu gewinnen versucht; vgl. Harry Pross: Harry : Jugend – Eros – Politik, Wien 1965, S. 348.
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unbeliebt und Wolf von Hirschheydt bezeichnete ihn sogar als „Volks- und Landesverräter“25. Trotz der gegensätzlichen (politischen) Meinung war er als ehemaliger Artamane bei Einigen immer noch als Gast bei den Jahrestreffen willkommen.26 Die Situation verschlechterte sich nach einem persönlichen Angriff des Holocaustleugners Thies Christophersen auf Frost, die in der Zeitschrift „Die Bauernschaft“ abgedruckt war. Christophersen, ehemaliges Mitglied der Waffen-SS, NPD-Politiker und Autor der Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“, die innerhalb des rechtsextremen Milieus große Bekanntheit erlangte,27 ist auf die Treffen des Freundeskreises der Artamanen von Prinzessin Marie Adelheid Reuß-zur Lippe eingeladen worden, die nach eigenem Bekunden auch nach 1945 immer noch überzeugte Nationalsozialistin war und die Herausgabe von Christophersens Publikationen finanzierte.28 An den Schriftführer des Freundeskreises, Walter Dietrich, schrieb Frost: „Die Sympathie, die Th.[ies Christophersen] im Freundeskreis entgegengebracht wird, macht es mir unmöglich, mich im gleichen Kreis zu bewegen, wenn ich nicht riskieren will, daß es zu ganz heftigen Auseinandersetzungen über Schuld und bewältigte Vergangenheit kommt.“29 Frost konnte sich mit seiner Meinung nicht durchsetzen und verließ daraufhin den Freundeskreis der Artamanen.
Selbsthistorisierung im Freundeskreis der Artamanen Unter diesen Umständen kann von einer Selbsthistorisierung der ehemaligen Artamanen auf Grundlage einer unvoreingenommenen Sicht auf die eigene Vergangenheit, nicht die Rede sein. Was am Beispiel von Höß dargestellt wurde, 25 Brief von Wolf v. Hirschheydt an Walter Dietrich, 29. Lenzing (=März) 1972, in: AdJb, N 112, Nr. 2. 26 Brief von A. Rosenberg an W. Dietrich, 02. 07. 1972, in: ebd. 27 Art. Thies Christophersen, in: Thomas Grumke, Bernd Thomas (Hg.): Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, Opladen 2002, S. 243–244. 28 Marie Adelheid Reuß-zur Lippe schrieb am 10. Februar 1951 an den Amerikanischen Hochkommisar McCloy : „Tief erschüttert durch die Tatsache, daß sieben der 28 zum Tode verurteilten Landsberger sogenannten „Kriegsverbrecher“ […] weiterhin verurteilt bleiben, bitte ich Sie […] mich als Stellvertretung für einen der Sieben hinzurichten und zwar für den unter ihnen, der die meisten Kinder durch seinen Tod vaterlos machen würde. Ich bin alte Nationalsozialistin, und es ist einem Versprechen gemäß, das ich 1930 dem Reichsführer SS gegeben hatte, meine Aufgabe, für die Angehörigen der SS zu sorgen, wo und wie es mir möglich wäre.“, siehe: Lionel Gossman: Brownshirt Princess. A Study of the ,Nazi Conscience‘, 2009, https://www.openbookpublishers.com/product/18/ [21. 02. 2018], S. 107–126, hier S. 110. 29 Brief von Jochen Frost an W. Dietrich, 14. 08. 1977, in: AdJb, N 112, Nr. 1.
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war eine inoffizielle Meinung des ersten Sprechers des Freundeskreises, die in den Schriften des Archivs der deutschen Jugendbewegung, der eigenen Publikation „50 Jahre Artam“ und dem dritten Band der Werner Kindt-Edition, keine Erwähnung fand. Das Artamanenarchiv als Wissensmonopol über die eigene Geschichte und die schon erwähnte Entpolitisierung dieser Bewegung gehörten zu den beiden wichtigsten Betätigungsfeldern, die Einfluss auf den Diskurs über die eigene Geschichte hatten. Höchste Priorität erhielt die Selbsthistorisierung durch die einstimmige Festlegung in den „Organisatorischen Richtlinien“ des Freundeskreises. Darin heißt es: „Es ist die Aufgabe des Freundeskreises, eine umfassende Dokumentation der Artamanenbewegung zusammenzutragen, die dazu dienen soll, der Nachwelt ein wahrheitsgetreues Bild jener vom Idealismus der Jugend getragenen Tat zu vermitteln.“30 Grund hierfür seien „verlogene Darstellungen in Presse, Literatur, Rundfunk und Fernsehen usw.“, welche angeprangert werden sollten. Über eine „Dokumentation Artamanenwerk“, die von Fritz Hugo Hoffmann begonnen und von Alwiß Rosenberg fortgesetzt wurde, haben sich die Ehemaligen schon früh Gedanken gemacht.31 Nach der ersten Monografie von Alwiß Rosenberg32 verfasste Achim Sämmer eine wissenschaftliche Abschlussarbeit zu diesem Thema, die hauptsächlich die deutsche Jugendbewegung thematisierte und nur neun Seiten der Geschichte der Artamanenbewegung widmete. Sämmer begründete dies mit der mangelnden Verfügbarkeit von Quellen und fußte seine Erkenntnisse auf Kontakte zu „Fritz Hugo Hoffmann […], ferner den Herren Erich Becker, Hans-Adolf Salzer, Dr. Alwiß Rosenberg und Kurt Schölzke sowie […] Hans Wolf“, die ihn mit Literatur versorgten und bei Beantwortung von Fragen behilflich waren.33 Weitaus unabhängiger waren die Arbeiten von Wolfgang Schlicker und Michael H. Kater, der das Verhältnis der Artamanenbewegung zum Nationalsozialismus untersuchte. Katers Arbeit ist deutlich umfangreicher als die beiden anderen und seine Quellengrundlage basiert auf eigenen Recherchen in unterschiedlichen Archiven der Bundesrepublik Deutschland, während Schlicker entsprechende Quellen in der Deutschen Demokratischen Republik auswertete. Beide wurden vom bereits existierenden Freundeskreis intern kritisiert.34 30 Freundeskreis der Artamanen: Organisatorische Richtlinien des Freundeskreises der Artamanen!, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1968, H. 9, S. 11f., hier S. 11. 31 Vgl. ARTAM-Rundbrief, 1966, H. 4, o. S. 32 Alwiß Rosenberg: Die Artamanenbewegung. Der erste Einsatz deutscher Jugend für ein neues Bauerntum 1924–1934 (Diss.), Berlin [1942]. 33 Vgl. Achim Sämmer : Die Wurzeln der Artamanenbewegung (Staatsexamensarbeit), Münster 1959, Vorbemerkung. 34 Gegen die Erwähnung von beiden Artikeln in den Literaturempfehlungen am Ende des
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Besonders Katers Aufsatz erregte Aufsehen im Freundeskreis der Artamanen, der sich dadurch in seinen Bemühungen um Selbsthistorisierung bestätigt sah. Kater vermutete nämlich mögliche Einflüsse der Artamanenbewegung auf Organisationen der Schutzstaffel. Der Reichsführer der SS Heinrich Himmler, selbst kein aktiver Artamane, jedoch vom Kanzler des Bundes Artam, Hans Holfelder, zum Gauleiter in Bayern ernannt, empfahl arbeitslosen SA-Leuten eine Betätigung in Artamanengruppen, war in Kontakt mit dem „Bundschuh“35 und kam womöglich dadurch zu den Schriften der Deutschen Bauernhochschule von Bruno Tanzmann, von der er „in fast wörtlicher Form genau […] ideologische Bestandteile einer zukünftig rein rassisch-orientierten und völkischmotivierten Bauernpolitik“ übernahm.36 Obwohl Himmler keine aktive Rolle in den Geschicken des Bundes Artam nachgewiesen werden konnte und er den Artamanen offenkundig wenig Beachtung geschenkt hatte, umso mehr in den politischen Kampf der Nationalsozialisten eingebunden war, lenkte der Name doch die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Artamanen, die sich aber erst 1995 zu einem kurzen Protest entwickelte.37 Erst Walter Palesch konnte während seiner Recherchen das Artamanenarchiv, das sich in Bernhard Justs Wohnung befand, nutzen und erhielt eine Auswahl von Quellen als Fotokopie, die seine Grundlage für „die ideologische Konzeption einer grossstadtfeindlichen Bewegung in Theorie und Praxis“ bildete. Als die Hoffnungen auf eine wissenschaftliche Arbeit, die den Vorstellungen des Freundeskreises entsprach, mit Erscheinen der Arbeit von Palesch verblassten, Kapitels über die Artamanen in der Werner-Kindt-Edition waren sich Rosenberg und der Artamanenarchivar Bernhard Just einig. Werner Kindt und die Wissenschaftliche Kommission dieses Bandes blieben in dieser Hinsicht hartnäckig und setzten das Abdrucken der Titel dieser Aufsätze durch. Nur bei Wolfgang Schlicker wurde der Literaturhinweis stark verändert: „Schliecker [sic], H.[sic], ,Die Artamanenbewegung‘. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin/Ost 1970, S. 66–75.“,vgl. mit Wolfgang Schlicker : Die Artamanenbewegung – eine Frühform des Arbeitsdienstes und Keimzelle des Faschismus auf dem Lande, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1970, 18. Jg., S. 66–75. 35 Der erste Artamanenführer, August Georg Kenstler, gründete den Bundschuh, eine Vereinigung derjenigen Personen, welche die Artamanenbewegung ideologisch und nicht durch die landwirtschaftliche Arbeit unterstützen wollten. Zu den Mitgliedern gehörten unter anderem der spätere Reichsbauernführer Richard Walther Darr8 und der Rassenideologe Hans F. K. Günther. Michael Kater bezeichnete den Bundschuh als „ideologische Kaderschmiede“ des Bundes Artam, s. ders.: Die Artamanen – Völkische Jugend in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, 1971, Bd. 213, H. 1, S. 577–638, hier S. 581. 36 Klaus Mües-Baron: Heinrich Himmler. Aufstieg des Reichsführers SS, 1900–1933, Göttingen 2011, S. 364–369. 37 Die „Antifa-Koordination Rhein-Mosel“ versuchte, das 31. Jahrestreffen des Freundeskreises der Artamanen zu boykottieren, scheiterte dabei am Eingreifen von der Polizei. Den ehemaligen Artamanen wurde bei den Protesten die Verherrlichung des Nationalsozialismus vorgeworfen, siehe dazu: Störungsversuche durch ANTIFA-KREISE, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1995, H. 119, S. 1–3.
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reagierten sie mit einer Stellungnahme. 52 Seiten umfasst die Sammlung von Briefen, die Paleschs Arbeit kritisieren. Der Autor äußerte sich dazu: „Die Argumente der Artamanen basierten überwiegend auf persönlichem Erleben, meine Antwort aber mußte sich an vor Monaten gelesenen schriftlichen Zeugnissen orientieren, welche mir heute nicht mehr vorliegen.“38 Ähnliche Fälle der direkten Konfrontation mit den Verfasserinnen und Verfassern vermeintlich falscher Darstellungen der Geschichte der Artamanen sind aus den Beständen des AdJb bekannt, fallen aber nicht so umfangreich aus wie in Paleschs Fall.39 Anfang der 1970er Jahre boten sich dem Freundeskreis zwei Möglichkeiten, um die Artamanenbewegung einerseits im dritten Band der Quellenedition von Werner Kindt, andererseits im Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung zu porträtieren.40 Damit ergab sich die Möglichkeit, die Artamanenbewegung unter den Mantel der sich als unpolitisch verstehenden Szene der Jugendbewegung zu stellen. Mit dem Aufsatz von Karl Bühler über „Arbeitsdienst als Erziehungsaufgabe“, der die Artamanen als Arbeitsdienst mit völkischen Erziehungsmethoden identifizierte, kam es im Freundeskreis zu Unterstellungen an den Autor und polemischen Reaktionen.41 Alwiß Rosenberg verfasste daraufhin zwei Aufsätze, die gleichzeitig im neunten Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung erschienen. Während „Artamanen und der Arbeitsdienst“42 eine direkte Antwort auf Bühlers Aufsatz war, welcher durch unzählige Verweise und Richtigstellungen die wissenschaftliche Arbeit diskreditieren sollte, bot Rosenberg mit „Bäuerliche Siedlungsarbeit des Bundes Artam“43 ein anderes Bild aus der Feder eines Dabeigewesenen, das die Artamanen als erfolgreiche, unpolitische und deshalb jugendbewegte Siedler darstellte. Mit der Quellenedition von Werner Kindt verband sich die Möglichkeit, die Artamanenbewegung in den Kanon der bündischen Jugend von 1919–1933 zu setzen. Auf dieses problematische Kapitel der Kindt-Edition hat schon Christian Niemeyer hingewiesen und auf die Auslassungen in den Biografien der ehema38 Walter Palesch: Freundeskreis der Artamanen: Anmerkungen zu Artamanen. Die ideolgische [sic!] Konzeption einer Großstadtfeindlichen Bewegung in Theorie und Praxis (Diplom-Arbeit von Cand.rer.oec. Walter Palesch aus Thalfinden), Mai 1977. 39 Siehe: Berichte und Berichtigungen, in: AdJb, A 82 Nr. 53. 40 Kindt: Zeit (Anm. 18). 41 Wilhelm Seibert wehrte sich mit der Behauptung, bei den Artamanen ging es darum, „die Ehre des deutschen Volkes wiederherzustellen als Voraussetzung für ein echtes Zusammenleben der Völker. Darum war sie völkisch und lehnte ab, was sie als undeutsch empfand.“, in: Wilhelm Seibert: Eine Entgegnung, in: Artam – Blätter eines Freundeskreises, 1976, H. 41, S. 8–10. 42 Alwiß Rosenberg: Die Artamanen und der Arbeitsdienst, in: Jahrbuch des AdJb, 1979, Nr. 9, S. 230–241. 43 Ders.: Bäuerliche Siedlungsarbeit des Bundes Artam, in: ebd., S. 199–229.
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ligen Artamanen im Anhang des Buches aufmerksam gemacht. NSDAP-Mitgliedschaften und die völkische Weltanschauung der Gründungsväter und Führer der Artamanen wurden dabei verschwiegen.44 Damit wollte Niemeyer beweisen, dass die Publikation von Kindt, die durch den Vorsitzenden der Historischen Kommission, Theodor Schieder, den Anschein der akademischen Glaubwürdigkeit erhalten hatte, unwissenschaftlich war.45 Es trifft zu, dass die Verantwortlichen dieser Publikation keine gründlicheren Untersuchungen vorgenommen haben und dass im Kapitel über die Artamanen die Forschungsliteratur kaum mit den Quellen verglichen wurde. Die Verantwortung über die Richtigkeit und Vollständigkeit der Quellenauswahl lag in den Händen der Ehemaligen der bündischen Gruppierungen. Im Falle der Artamanen übernahm Bernhard Just, der Archivar des Freundeskreises, die Zusammenstellung der Quellen, der mit Werner Kindt brieflich korrespondierte. Aus diesen Briefen geht hervor, dass Just gegenüber Kindt die biografischen Informationen des „wichtigsten Mannes in der Artamanenbewegung“, Friedrich Schmidt, vorenthielt und sie ihm erst nach Beginn der Drucklegung des Buches und nach dem Tod Schmidts per Brief zuschickte. In diesem Lebenslauf ist zu lesen, dass Schmidt 1931 Gaupropagandaleiter und Gaugeschäftsführer in Württemberg war, ab 1937 Leiter des Hauptschulungsamtes der NSDAP, seit 1939 Gouverneur von Lublin, Stabsleiter des Arbeitsbereiches Osten sowie SSBrigadeführer und ab 1942 bis Kriegsende Untersturmführer einer Waffen-SSDivision in Frankreich, wo er in Kriegsgefangenschaft geriet.46 Vermieden wurde diese Bloßstellung nicht nur gegenüber den ehemaligen Weggenossen, sondern auch wegen des Rufes der Artamanen, welche die Aufmerksamkeit auf die Nähe zu den Nationalsozialisten gelenkt hätte.
Die deutsche Jugendbewegung und die Artamanen Die Autoren bisheriger wissenschaftlicher Arbeiten über die Geschichte der Artamanenbewegung haben die Zugehörigkeit zur deutschen Jugendbewegung nur unbefriedigend belegen können. Dirk Baas bemerkt, dass die Führer der Artamanenbewegung „an die Tradition der Bündischen Jugend anzuknüpfen [versuchten], obwohl sich die Lebens- und Arbeitsweise der Artamanen grundlegend von der anderer Bünde unterschied.“47 Das Ideal einer bündischen Gemeinde, wie sie in den romantischen Vorstellungen der Artamanen existierte, 44 45 46 47
Vgl. Niemeyer : Seiten (Anm. 5), S. 55. S. Anm. 5. Brief von Bernhard Just an Werner Kindt, 06.10. 1974; AdJb, N 14, Nr. 183. Baas: Artamanen (Anm. 8), S. 79.
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kam, so Stefan Brauckmann, aufgrund der sich verschärfenden politischen Umstände nie zustande,48 zudem sei es „mehr als zweifelhaft“, ob bündische Traditionen in die Artamanengruppen Eingang fanden.49 Auch Ina Schmidt und Stefan Breuer sehen bei den Artamanen einen Bund, „der nur bedingt der Jugendbewegung zugerechnet werden kann“50. Der Bund Artam, der als solcher erst ab 1926 existierte, sei nach Wackwitz’ Meinung schon seit den Anfängen „ein Werk der nationalsozialistischen Richtung der DBHS [Deutschen Bauernhochschule] um Bruno Tanzmann und August Georg Kenstler“ gewesen. Seiner Meinung nach sei es nicht entscheidend, ob die darauffolgenden Artamanen sich nicht mehr nach Tanzmann richteten.51 Dem Selbstverständnis der ehemaligen Artamanen nach waren sie kein Freizeit-, sondern ein Arbeitsbund, wie Peter Schmitz schrieb.52 Tatsächlich ist eine solche Zuordnung aufgrund der Heterogenität der einzelnen Gruppen53 und des Charakters der Artamanenbewegung nicht möglich. Denn der gemeinsame Nenner war die Vorstellung, einer Elite anzugehören, die annahm, gesellschafts- und wirtschaftswirksame Veränderungen in der Weimarer Republik herbeiführen zu können. Eine solche Elite konnte, dem Selbstverständnis der Artamanen nach, nur durch Züchtigung und Auslese erreicht werden; harte Arbeit in der Landwirtschaft und die Kontrolle der ideologischen Gesinnung in den Gruppen und auf den Land- und Führerlehrgängen waren die wesentlichen Mechanismen der Erziehung künftiger „Hüter der Schollen“54 : „Erst mußten also die einzelnen jungen Menschen haltungs- und gesinnungsmäßig ausgerichtet werden – in einem auch äußerlich erst aufzubauenden Zusammenleben – bevor die entscheidenden Anforderungen von Gemeinschaft und Führung an sie gestellt wurden. […] Eine einfache Lebenshaltung war Grundsatz; der Verzicht auf die Genüsse der Stadt […] war selbstverständlich. Jeder einzelne mußte sich erst in der Gemeinschaft, ihrem Tagewerk und ihrer Ordnung bewähren, sie war also das Haupterziehungsziel. […] Jeder untüchtige, unsaubere Mensch wurde durch natürliche Selbstauslese ausgeschieden. Nur charakterfeste, anständige Kerle konnten sich in-
48 Brauckmann: Artamanen (Anm. 9), S. 47. 49 Vgl. ebd., S. 71. 50 Stefan Breuer, Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933) (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 15), Schwalbach/Ts. 2010, S. 26. 51 Günter Wackwitz: Willibald Hentschel, Bruno Tanzmann und der Bund der Artamanen, in: Hubert Orłowski, Günter Hartung (Hg.): Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus, Poznan 1992, S. 49–61, S. 58. 52 Als Freizeitbünde benennt Schmitz „die Pfadfinder, der katholische „Bund Neudeutschland“ oder „Wanderbünde“ wie der „Wandervogel deutscher Bund“, die „Nerother“, „Geusen“ u. a.“, s. Schmitz: Artamanen (Anm. 1), S. 131. 53 Zur Heterogenität der Artamanengruppen, s. Brauckmann: Grauzonen (Anm. 9), S. 23ff. 54 Jochen Frost: Artamanen, in: Freundeskreis der Artamanen. 50 Jahre, Hamburg 1974, S. 15.
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nerhalb von Gemeinschaften halten, die so wie die Artamanenschaften aufeinander angewiesen waren.“55
Weiter heißt es bei Rosenberg, dass „[a]ls Richtschnur in erster Linie nicht das Wohl des Einzelnen, sondern das der Gemeinschaft“56 galt. Somit hatten alle Anwärterinnen und Anwärter theoretisch die Möglichkeit bei den Artamanen tätig zu sein, mussten sich aber der Gemeinschaft unterordnen. Dazu Jochen Frost in einem Brief an Walter Dietrich: „Daß ,Jugend aus allen politischen Lagern zu den Artamanen‘ kam, bestreite ich nicht; aber daß Jeder toleriert wurde, auch wenn er aus der SAJ [Sozialistische Arbeiterjugend] oder dem RFB [Roter Frontkämpferbund] kam […] halte ich nach wie vor für ein Gerücht, mit dem wir uns heute noch den berühmten Persilschein selbst ausstellen.“57 Die Führung der Artamanenbewegung legte fest, welche weltanschaulichen Ideen toleriert wurden. Zunächst war es die Deutsche Bauernhochschule unter Bruno Tanzmann, welche die Artamführer ausbildete und stellte; später mussten sich künftige Artamführer in sogenannten Führerlehrgängen als geeignet erweisen. Dort wurden Inhalte vermittelt, die mit völkischen Idealen im Einklang standen. Eine ähnliche Wirkung hatten die bündischen Ideen nicht. Sie wurden auf Gruppenebene geduldet, solange sie mit den völkischen Ideen kompatibel waren. Artamanen mussten ihre Mitgliedschaft beim Heimatbund nicht aufgeben, was sie zu einer überbündischen Siedlungsbewegung machte.58 Inwieweit sie weiterhin bündisch aktiv waren, wurde bisher nicht untersucht. Hier wäre es interessant herauszufinden, in welchem Verhältnis die Artamanen zu den Gruppierungen der bündischen Jugend standen und ob sie nur den Zweck hatten, Ideen und Mitglieder für die Artamanen zu bieten. Denn die äußere Erscheinung und Freizeitpraktiken der bündischen Jugend bedeuteten nicht, dass sich die Personen, die diese annahmen, auch charakterlich veränderten. Eine Übernahme bündischer Symbole und Praktiken erfolgte durch die Artamanen selber, die diese aus den Heimatbünden mit in die Artamanenbewegung hineintrugen. Sie gehörten immer noch der bündischen Szene an, welche, nach Rüdiger Ahrens, als „themenfokussierte Netzwerke“ zu verstehen sind, „die sich vor allem durch Kommunikation und Interaktion konstituieren und entsprechend labil sind“ und als „Netzwerke dezentral agierender Gruppen“59 gesehen werden können. Die Ausdrucksformen der einzelnen Bünde glichen sich an, Mitglieder wechselten ihre Bünde und standen somit auch untereinander in 55 56 57 58 59
Rosenberg: Artamanenbewegung (Anm. 30), S. 45f. Ebd., S. 49. Brief von Jochen Frost an Walter Dietrich, 02. 04. 1972; AdJb, N 112 Nr. 1. Vgl. Kater: Artamanen (Anm. 33), S. 610. Ahrens: Jugend (Anm. 17), S. 182.
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Kontakt.60 Die Artamanen waren demnach nicht Teil der deutschen Jugendbewegung bzw. der bündischen Jugend, sondern hatten Anteil an dem, was als jugendbewegt oder bündisch galt. Somit war der Versuch des Freundeskreises der Artamanen, die Geschichte der Ehemaligen mit der Verortung in die deutsche Jugendbewegung zu entpolitisieren, fehlgeschlagen und er stiftete Verwirrung im Selbstverständnis unter den ehemaligen Jugendbewegten, Historikerinnen und Historikern. Dies machte sich schon bei Harry Pross bemerkbar,61 aber auch gegenwärtig bieten die Artamanen eine Vorlage, die deutsche Jugendbewegung und mit ihr das Archiv der deutschen Jugendbewegung anzugreifen.62
60 Ebd., S. 181f. 61 Pross erwähnte die Artamanen, um im Vergleich mit Wynekens „Sprechsälen“ die Schwierigkeit des Benennens jugendbewegter Gemeinsamkeiten exemplarisch darzustellen, vgl. Pross: Jugend (Anm. 22), S. 13. 62 Siehe Christian Niemeyer : Vorwort, in: Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim 2017, S. 11–15, hier S. 11.
Rezensionen
Wolfgang Braungart
Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt: Philipp von Zabern 2017, 208 S., ISBN 978-3-8053-5067-9, 29,95 E
»Du mußt dein Leben ändern«: Der wuchtige Imperativ Rilkes, Schlussvers seines berühmten Sonetts »Archa"scher Torso Apollos«, erscheint in einem eigentümlichen Licht, wenn man ihn im Kontext der Lebensreform in Deutschland sieht. Diese fast zudringlich deutliche Aufforderung zur Lebensreform geht bei Rilke aber vom großen Kunstwerk aus, an dem – gerade als Torso – »keine Stelle [ist], die dich nicht sieht«. Diesen An-Spruch des Kunstwerks hat Peter Sloterdijk in seinem Groß-Essay 2009 zum Titelstichwort genommen. Um 1900 war die Kunst für diese Bewegung, die auf eine grundlegende Reform des Lebens zielte und bekanntlich die vielfältigsten Verbindungen zur historischen Jugendbewegung aufweist, aber eher instrumentelles Medium zeigender, verdeutlichender, auch ideologisch richtungsweisender Artikulation, jedenfalls nicht autonomer Diskurs. Die lebensreformerische Praxis nahm in vielfacher Hinsicht selbst Züge einer umfassenden ästhetischen Praxis an. Von Sloterdiijk her könnte man die Lebensreform durchaus als »methodische Lebensführung« (S. 17) mit dem Ziel der Gesellschaftsreform (S. 20), als ständig zu übende Selbstoptimierung aus dem Geist aufklärerischer Kulturkritik verstehen. In ihren Ideologien träte insofern nichts anderes als die Janusköpfigkeit der Aufklärung selbst hervor. Dieses Kapitel der mit dem 18. Jahrhundert eröffneten Makroepoche Moderne ist bis heute nicht abgeschlossen. Fast schon trivial ist es, daran zu erinnern, wie viel von dem, was sich heute alternativ nennt, in der Lebensreformbewegung um 1900 bereits Kontur gewinnt. Eine Bewegung: ja, das war sie, weil sie in ihrer ganzen Heterogenität ein »ausgeprägtes ›Wir-Gefühl‹ und ein ausgesprochener Suchcharakter« kennzeichnete (24). Das vorliegende Buch hat ein wirklicher Kenner geschrieben. Forschungsgeschichtlich ausgezeichnet informiert, kritisiert Wedemeyer-Kolbe, dass – nach dem zweifelsohne grundlegenden Buch von Wolfgang Krabbe (»Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform«, 1974) – das Attribut lebensreformerisch immer großzügiger vergeben wurde. Diese Kritik muss sich besonders der monumentale zweibändige Katalog zur Darmstädter Ausstellung von 2000/2001 gefallen lassen (s. S. 17ff.). Der Autor dieser Buchvorstellung kann nicht umhin
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Wolfgang Braungart
zu gestehen: mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen auch er. Und doch möchte ich sagen: Es bleibt das große Verdienst dieses Darmstädter Projektes, die Strahlkraft und das breite Dunstfeld lebensreformerischer Vorstellungen um 1900 nachdrücklich bewusst und dabei höchst anschaulich vorgeführt zu haben, wie sehr Lebensreform auch eine umfassend ästhetische, die heute kanonische Literatur und Kunst erfassende und ebenso eine religiode (Georg Simmel) Bewegung war (und ist?). Nach der Einleitung stellt Wedemeyer-Kolwe kundig zentrale »Begriffe, Motive und Stichwortgeber« vor (S. 22ff.) und übersieht dabei nicht, wie wichtig insbesondere die Kulturkritik des 19. Jahrhunderts für die Lebensreform war und wie viel sie der ideologischen Literatur verdankte, die Horst Thom8 so zutreffend als Weltanschauungsliteratur bezeichnet hat.1 Zutreffend auch deshalb, weil Thom8 mit diesem Begriff nicht von vornherein politisch vorsortiert hat. Denn auch in dieser politischen Hinsicht war die Lebensreform keineswegs homogen, wie Wedemeyer-Kolwe selbst sieht. Dann folgen die vier Hauptkapitel; und sie bilden einen großen, für künftige Forschung äußerst hilfreichen Systematisierungsversuch, und zwar unter den vier Aspekten Ernährung, Naturheilkunde, Körperkultur und Siedlung. Das historische, sehr anschauliche Material, das eingearbeitet wird (Bilder gibt es ebenfalls), kann sich so nicht autonomisieren; immer behält der Autor im Blick, dass ein bedeutendes geschichtliches Phänomen zu bestimmen ist und es nicht darum gehen kann, möglichst viele Geschichtchen und Anekdötchen nachzuerzählen. Das Bizarre, Skurrile, Naive und, besonders mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, oft auch Erschreckende kommt dennoch nicht zu kurz. Das Fazit fällt leicht: Unverzichtbar, muss man benutzen, wenn man einen Überblick gewinnen will.
1 Thom8s Arbeiten werden nicht erwähnt; und eine weitere, kleine Vermisstenanzeige: Wolfgang Riedels Studie »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin/New York 1996, die m. E. für die Inthronisation der Kategorie des Lebens um 1900 als quasi-metaphysisches Letztbegründungskonzept bis heute zentral ist. Der literarisch-philosophische Komplex (Nietzsche, S.40ff.) wird überhaupt nur knapp gestreift.
Hagen Stöckmann
Thomas Kohut: Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Erlebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen: Psychosozial-Verlag 2017, 455 S., ISBN 978-3-83792496-1, 44,90 E
Im Mittelpunkt des Buches stehen die Lebensgeschichten von Mitgliedern des sogenannten »Freideutschen Kreises«, in deren Erzählungen die Jugendbewegung und deren Ideale als prägend nicht nur für die eigene Biografie interpretiert, sondern – wie es der Titel des Buches aufgreift – für Angehörige einer ganzen Generation der um 1910 Geborenen narrativ inszeniert werden. Die Mitglieder des »Freideutschen Kreises« schlossen sich 1947 zu diesem Freundschaftsnetzwerk zusammen, um den Geist der früheren Jugendbewegung aufrechtzuerhalten und im Ideal der lebenslangen Freundschaft das Element der bündischen Gemeinschaft in eine neue Form zu überführen. Vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Enttäuschung über die historische Erfahrung des nationalsozialistischen Deutschlands und – wahrscheinlich mehr noch – dessen Untergang, erkennt der Autor der Studie, Thomas Kohut, hierin eine Art innere Kompensation der Kreismitglieder. Das verbindende Element der »Freideutschen«, folgt man Kohut, sei weniger das relativ scharfe bürgerlich-protestantische Sozialprofil der Gruppe, als vielmehr diese spezifische Figur der kompensatorischen und vermeintlich heilenden Verschmelzung des eigenen Selbst mit dem Kollektiv in ihren vielfältigen Ausprägungen, der folgend sich die »Freideutschen« als Teil der sogenannten »Jahrhundertgeneration« begriffen. Jener Alterskohorte also der um 1910 geborenen Deutschen, die die Niederlage im Ersten Weltkrieg als prägendstes Ereignis vermeintlich zusammenband und die in der historischen Forschung als eine der drei politischen Generationen der deutschen Geschichte geführt wird. Die drei Teile des Buches korrespondieren dabei mit den biografischen Rhythmisierungen der Interviewten selbst: Der Erste Weltkrieg und insbesondere die Weimarer Republik, die von ihnen im überwiegenden Maße negativ erinnert wird und eine innere Flucht in das vermeintlich apolitische Ideal der platonisch geprägten Jugendbewegung begründet hat. Diese spezifische Form des Gemeinschaftsideals habe die späteren »Freideutschen« anfällig für die propagandistische Illusion der NS-Volksgemeinschaft im nationalsozialistischen Deutschland werden lassen, deren Analyse Gegenstand des zweiten Teils
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Hagen Stöckmann
ist. Kohut argumentiert jedoch nicht teleologisch, sondern zeichnet die Biografien auch in deren Ambivalenz. So erlebten gerade Frauen die Mitgliedschaft in NS-Organisationen, Arbeitseinsätze oder den Dienst als Wehrmachtshelferinnen oftmals als Befreiung und Erweiterung der eigenen Möglichkeitshorizonte, Militärdienst und Krieg nahmen nicht wenige der Männer als Fortsetzung einer immer schon gelebten Askese wahr und als Steigerung eines schon immer eigenen Ideals der Härte gegen sich selbst und Aufgehen in der (Kampf-)Gemeinschaft. Der dritte Teil richtet das Augenmerk auf die biografischen Ordnungsstrategien der »Freideutschen« angesichts des verlorenen Krieges: die Überführung des Ideals persönlicher Härte in das Produktivitätsversprechen des Wirtschaftswunders, der Rückzug aus dem kollektivistischen Gemeinschaftsideal in die warme Zelle der Familie und die erneute Enttäuschung angesichts des raschen kulturellen Wandels der 1960er Jahre, die zunehmende Entfremdung von Lebensstil und -form der Jugend und die erneute Flucht in das imaginierte Generationenkollektiv. Kohuts Arbeit bietet tiefgründige Einblicke in die Binnenlogik dieser jugendbewegten Biografien und deren narratologische (Re-)Konstruktion, blieb aber schon beim Erscheinen im amerikanischen Original im Jahr 2012 – die vorliegende Fassung ist die zusammen mit Elisabeth Vorspohl erarbeitete und um ein Vorwort ergänzte deutsche Übersetzung – nicht unumstritten. Ein Umstand, der weniger mit dem Inhalt oder der Quellengrundlage, denn mit Kohuts spezifischem Zugriff auf beides zusammenhängt: Dem Buch liegen die lebensgeschichtlichen Interviews von 62 »Freideutschen« (davon 40 Zeitzeuginnen und 22 Zeitzeugen) zugrunde, die schon seit den 1980er Jahren im Rahmen eines später vom Familienministerium geförderten Projekts von Forschern der Universität Gießen unter dem Titel »Die Freideutschen: Seniorenkreis aus jugendbewegter Wurzel« geführt worden waren und sich – wie im Rahmen der oral history nicht unüblich – durch eine hohe Gleichförmigkeit auszeichnen und relativ gleiche Begründungen, Deutungen und Konflikte für die eigenen Lebensverläufe anbieten. Um diesem Umstand auf analytischer und methodischer Ebene zu begegnen, kompiliert Kohut die Erzählungen zu sechs sogenannten »Interviewmontagen«, die zwar zentrale Elemente der zugrundeliegenden erzählten Biografien aufgreifen, andere jedoch im Rahmen der Rekonstruktion abweichend bewerten oder gewichten, schattieren oder auch verschweigen. Ein Verfahren, das sich an Anthony Appiahs Konzept des »sozialen Drehbuchs« orientiert und von Kohut auch in den Fußnoten zum überwiegenden Teil nachvollziehbar dokumentiert wird, das aber nicht nur bei historisch interessierten LeserInnen die Frage nach der Repräsentativität der von Kohut kompilierten Rollenbiografien aufwirft. Gerechterweise ist zu erwähnen, dass Kohut sich dieses Problems absolut bewusst ist und sich darum bemüht, Zirkelschlüssen zu entgehen, indem er die
Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft
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den Interviews zugrundeliegende Psychodynamik in anschließenden »Analysen« adressiert und diesen kurze Essays zu der relevanten historischen Sekundärliteratur folgen lässt. Und in der Tat gestalten sich die Abschnitte zum Antisemitismus, der Unterscheidung zwischen Gleichgültigkeit gegenüber Juden und einem generellen Mangel an Empathiefähigkeit oder auch Kohuts Ausführungen zu Mitscherlichs »Unfähigkeit zu trauern« als außerordentlich dicht und informativ. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass im Laufe der Argumentation explanans und explanandum austauschbar werden: Nicht nur, dass die am Ende des Lebens der »Freideutschen« aufgezeichneten Interviews – die meisten befanden sich zu diesem Zeitpunkt im neunten Lebensjahrzehnt – sich bereits an relativ stereotypen Repräsentationen einer unwiederbringlichen Vergangenheit narrativ orientierten und dass Kohut die verbliebenen Unterschiede durch seinen Zugriff weiter nivelliert. Darüber hinaus regt sich auch Unbehagen, ob die »Freideutschen« tatsächlich für eine »erlebte Geschichte« des 20. Jahrhunderts als Kollektiv herhalten können. Elitismus und Selbstisolation waren markanter Bestandteil der ehemals jugendbewegten Selbststilisierung und die religiöse Überhöhung der Gemeinschaft ihre gemeinsame Grundlage. Doch gilt dies eben nicht für all jene, denen der »Freideutsche Kreis« eventuell nur als bloße Durchgangsstation diente und Episode blieb. In vielerlei Hinsicht lässt sich Kohuts Studie auch mehr als Geschichte eines speziellen Lebensstils innerhalb einer relativ geschlossen jugendbewegten Weltanschauung lesen, denn als die Geschichte einer »Generationseinheit« im Sinne Karl Mannheims, die darüber hinaus hegemoniale Prägekraft auf die Lebens- und Denkwirklichkeit der ganzen Alterskohorte beanspruchen könnte. Die Jugendbewegten waren auch eine, aber eben nicht die »deutsche Generation«. Das Ticket, mit dem sich die Mitglieder des »Freideutschen Kreises« in die Illusion der nicht mehr nur vorgestellten, sondern vermeintlich gelebten NS-Volksgemeinschaft einkauften, war ein jugendbewegtes und damit auch der Preis aus Verlust der eigenen Ideale, Blindheit gegenüber dem Schicksal Anderer außerhalb der eignen Bezugsgruppe und Rückzug in den isolierten Kreis der Selbsterwählten, der die »Freideutschen« in erster Linie waren. Als sie sich am 4. Juni 2000 zum letzten Mal trafen, sangen die Mitglieder des Kreises zum Abschluss und allerletzten Mal das Lied »Dona nobis pacem«; die Lebensgeschichten lesen sich in weiten Teilen wie die dazugehörige Abbitte.
Paul Ciupke
Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt, Sabine Reh (Hg.): Reformpädagogik und Reformpädagogikrezeption in neuer Sicht. Perspektiven und Impulse, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2016, 315 Seiten, ISBN 978-3-7815-2107-0, 24,90 E Hinter dem etwas umständlichen Titel verbirgt sich ein Sammelband, der neben der Einleitung elf Beiträge öffentlich macht, die im Jahr 2014 während einer Tagung der Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung referiert wurden. Die Bibliothek sammelt nicht nur Bücher oder Zeitschriften, sondern ist darüber hinaus eines der bedeutendsten Archive für die Bildung und ihre Geschichtsschreibung. Sabine Reh, die Leiterin der Einrichtung, Bettina Reimers, Leiterin des Archivs, und Stefan Cramme, der Bibliotheksleiter, stellen in einem abschließenden Beitrag die die Reformpädagogik betreffenden relevanten, dort vorhandenen Quellen und Bestände vor. Die Bibliothek hat ihre Ursprünge in den Lesezirkeln von Schullehrergesellschaften, und sie hat im Laufe der Zeit einige Wandlungen und Häutungen erlebt. Zur Zeiten der DDR unterstand sie zunächst dem Ministerium für Volksbildung und später der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der DDR. Heute ist sie Teil des renommierten Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. Aus jugendbewegter Perspektive ist besonders erwähnenswert das Adolf-Reichwein-Archiv, welches allerdings erst vor einiger Zeit von Marburg nach Berlin gelangt ist. Außerdem sind die Nachlässe von Elisabeth Blochmann (Schülerin von Herman Nohl), Berthold Otto, Hugo Gaudig, Heinrich Deiters und Ludwig Pallat zu beachten. Der Anspruch des Bandes besteht nicht in einer systematischen Bestandsaufnahme; das haben Keim und Schwerdt vor nicht langer Zeit in ihrem Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland versucht, sondern eher in Ergänzungen und interessanten neuen Perspektiven. Mit einer mehr als 50-seitigen und fußnotenreichen Bilanzierung sowie Betrachtungen zur Rezeptionsgeschichte eröffnet Wolfgang Keim den Reigen der Beiträge. Die eigentliche Epoche der Reformpädagogik datiert er – und das ist weitgehend common sense – vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Zeit. Einen wichtigen Wendepunkt sieht Keim im Beginn der Weimarer Demokratie, denn nun schlug ein kulturkritisch grundierter Diskurs, dem bis dahin nur wenige pädagogische Experimente entsprachen, um in einen reformpraktischen Auf-
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Paul Ciupke
bruch, der in sämtliche pädagogische Subdisziplinen, die sich damals überwiegend erst konstituierten, ausstrahlte. Zu den relevanten Forschungsperspektiven zählt er die Untersuchung der pädagogischen Praxis in Kontrast zu ihren normativen Ansprüchen, internationale Vergleiche und die Betrachtung ihrer Fortsetzungen und Diffundierungen nach 1945. Über Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Reformpädagogik schreibt die ausgewiesene Bildungs- und Kulturhistorikern Carola Groppe. Sie stellt unter anderem die Frage, welche Funktion die Reformpädagogik für soziale Mobilität und Reproduktion besessen hat. Diese prägte eine besondere Identität von Nähe, Emphase und Pathos aus, die Gefühle der Besonderheit bei den Teilnehmenden aufrief bei gleichzeitiger Ausblendung sozialer Problemlagen und Privilegierungen. Ulrich Schwerdt stellt fest, dass die Frage nach »behinderten Kindern und Jugendlichen« in den Konzepten der Reformpädagogik bisher weitgehend ausgeblendet wurde. Kaum verwunderlich, dass in seinen Ausführungen die zeitgenössische Eugenik und Rassenhygiene angesprochen wird, die – wie man heute weiß – nicht nur für rechte Szenen ein Thema war, sondern auch für die Arbeiterbewegung oder christliche Milieus. Am Beispiel der Freien Schulgemeinde Wickersdorf greift Peter Dudek noch einmal das Thema sexueller Missbrauch auf. Dabei relativiert er – und das zu Recht – den Zusammenhang mit der Reformpädagogik und verweist auf den tendenziellen Charakter von Landerziehungsheimen als »totalen Institutionen«. Die in der Reformpädagogik wie auch in der Jugendbewegung und Lebensreform verbreitete »Indienmode« untersucht Elija Horn unter anderem am Beispiel der Freundschaft von Paul Geheeb und Rabindranath Tagore. Die Rezeption indischer Schriften und Kultur diente insbesondere der Beglaubigung des eigenen Denkens und der Praxis als ursprünglich, unverdorben, ganzheitlich und eben anders. Einer der bekanntesten Reformpädagogen in seiner Epoche war der auch als emsiger Publizist tätige Berthold Otto mit seiner privaten Hauslehrerschule. Klemens Ketelhut thematisiert Ottos Theorie und Praxis aus der Perspektive pädagogischen Unternehmertums und sieht darin auch einen Beitrag zur Entzauberung der Aura reformpädagogischer Akteure. Christa Uhlig erinnert einmal mehr und berechtigt an die große Bedeutung der Reformpädagogik in der und für die Arbeiterbewegung. Dass das aber eine neue Kontextuierung ist, wie es die Zwischenüberschrift der Herausgebergemeinschaft zu glauben machen sucht, kann man getrost in Frage stellen. Neu ist aber der Versuch, reformpädagogische Diskurse anhand der Veröffentlichungen in drei klassischen sozialdemokratischen Zeitschriften genauer zu identifizieren. Dass die Reformpädagogik kein einseitiges Projekt, kein weltanschaulich, institutionell und theoretisch geschlossener Bereich war, sondern sich quasi quer zu sozialen und politischen Aufstellungen ausbreitete und man deshalb eigentlich auch nicht von »der Reformpädagogik« sprechen kann, sondern den
Reformpädagogik und Reformpädagogikrezeption in neuer Sicht
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Plural benutzen müsste, ist längst plausibel. Dennoch ist man überrascht, wenn man, wie es Till Kössler tut, reformpädagogische Elemente und Prozeduren in der konservativ-katholischen Erziehung Spaniens im frühen 20. Jahrhunderts zu erkennen vermag. Er resümiert: »Neue pädagogische Modelle und Methoden waren für eine Vielzahl unterschiedlicher Erziehungsmilieus und sozialer Bewegungen attraktiv« (S. 237). Nicht ganz überraschend ist hingegen, dass die neue Psychologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Psychoanalyse, vielfältige Verbindungen zur Reformpädagogik aufweist und Anwendungsmöglichkeiten hervorgebracht hat. Sven Kluge zeichnet dies am Beispiel von Alfred Adler und seiner Rezeption im pädagogischen Feld nach. Schließlich äußert sich Ulrike Pilarczyk über die »jugendbewegte« Fotografie. Sie prüft deren eigenen Quellenwert im Hinblick auf die typischen Gemeinschaftserlebnisse in Pädagogik, Lebensreform und Jugendfahrt. Die durchweg lesenswerten Beiträge bringen nicht immer Neues, sind aber geeignet, das Wissen über die Reformpädagogik zu erweitern und zu verlebendigen.
Franz Riemer
Matthias Kruse: Fritz Jöde 1906–1923. Pädagogik im Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Peter Lang GmbH 2017, 488 S., ISBN 978-3-631-72435-4, 86,95 E
Fritz Jöde gehörte zu den bedeutenden, aber auch umstrittenen Persönlichkeiten in der Musikpädagogik des 20. Jahrhunderts. Die einen, insbesondere die Zeitgenossen, sahen ihn als charismatische,1 viele Nachgeborene als problematische, zumindest unnahbare Person.2 Die meisten Darstellungen beziehen sich auf sein musikpädagogisches Wirken. Mit Matthias Kruses Monografie liegt nun eine Studie vor, die Jöde als Pädagogen aus seiner Volksschullehrerzeit in Hamburg darstellt. Zwischen 1908 und 1923 war er Lehrer an unterschiedlichen Schulen. Neben seiner Berufstätigkeit engagierte er sich auch für die pädagogische Erneuerung seiner Zeit (Wendekreis, Reformpädagogik, Hamburger Lehrervereinigungen). Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich nicht um eine Biografie aus dem benannten Lebensabschnitt, sondern um die Lebens- und Weltauffassung eines »revolutionierenden« Reformpädagogen aus dem Geist der ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts. In seiner Zielsetzung fragt Kruse nach Jödes »allgemein-pädagogischen Momenten«, seiner pädagogischen Sichtweise (Kruse spricht vom »alternativen Unterricht«). Auf Musik und Musikerziehung liegt also – zumindest schwerpunktmäßig – nicht der Fokus. Der Leser der Schrift erfährt zunächst etwas über das Umfeld von Fritz Jöde. Da ist zum einen das direkte persönliche Netzwerk in dem »Triumvirat« zusammen mit Friedrich Schlünz und Max Tepp. Die drei Volksschullehrer kennen sich aus Hamburg und kämpfen für die gleiche Sache. Die Idee der Stunde und der Zeit »vom Kinde aus« gehört zu den Grundgedanken der drei Freunde. Diese pädagogische Maxime wird von Kruse auch immer wieder über die ganze Schrift aufgegriffen. Zum anderen sind es neben den persönlichen die eher institutionellen Netzwerke durch die Tätigkeit an der Wendeschule, dem Wendehof, in der Kunsterziehungsbewegung, der Verbandsarbeit (z. B. Bund entschiedener Schulreformer) und natürlich in der Jugend1 Vgl. dazu v. a. Reinhold Stapelberg: Fritz Jöde. Leben und Werk, Wolfenbüttel 1957. 2 Karl-Heinz Reinfandt: Die Jugendmusikbewegung. Impulse und Wirkungen, Wolfenbüttel 1987.
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Franz Riemer
bewegung. Kruse erweitert den pädagogisch-philosophischen Horizont durch Informationen zur Weltanschauung um 1900 (u. a. Irrationalismus, Lebensphilosophie, Expressionismus) und beschreibt die Hamburger Gesellschaft, Kultur und Schule (u. a. Lehrplangestaltung der Hamburger Volksschule) um 1900, also das Umfeld, in dem Jöde aufwächst und das ihn und sein Unterrichtsverständnis schließlich auch prägt. Der Schwerpunkt der umfangreichen Arbeit liegt in der Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen, die Jöde ständig nutzte und die mit seiner Weltauffassung grundlegend zu tun haben. Hier geht es um Leben und Ganzheit als elementare Begriffe für Jöde, aber auch um Natur, Organismus, Gemeinschaft als einen Grundbegriff der Jugend(musik)bewegung, um Kraft, Tat (Arbeit), Schöpfung (schöpferisch), um das Werden und Wesen, um Geist und schließlich auch um Kunst. Es handelt sich dabei um Begriffe der Zeit. Jöde hat sie nicht erfunden, aber reichlich als Schlüsselbegriffe seiner Ausdrucksweise gebraucht. Die Begriffe werden in einen zeitgeschichtlichen, auch historischen Kontext gestellt und miteinander in Bezug gesetzt. Kruses Verdienst ist es, sich an Begrifflichkeiten zu wagen, die in der Sekundärliteratur bis heute immer wieder auf Kritik, Fragwürdigkeit oder schlichtes Unverständnis stießen. Gleichwohl hatten diese Begrifflichkeiten aber für Jöde natürlich einen Bedeutungsgehalt, selbst wenn er sie mitunter nicht ganz klar definiert und auch nicht immer eindeutig verwendet hat. Dem spürt Kruse nach und sucht nach Ursprung und Wesen dieser Begrifflichkeiten und nach den Quellen, die Jöde diese Begriffe und das dazugehörige Verständnis nahegebracht haben. Dabei deckt er auch Kontroversen und Mehrdeutigkeiten auf. Zur Darstellung von Jödes Welt- und Lebensbild, vor allem zur Erklärung der zentralen Begriffe bedient sich Kruse des Gedankengutes von Philosophen, Pädagogen, Schriftstellern und Freidenkern, die Jöde bekannt waren und mit denen er sich (größtenteils nachweislich) beschäftigt hat, oder die er sogar persönlich kannte. Da sind zunächst die Reformer (und auch Lehrer/Pädagogen) aus Jödes direktem Umfeld zu nennen wie Heinrich Wolgast, Adolf Röhl, William Lottig, Carl Götze, Johannes Gläser, Friedrich Friedrichs und natürlich (besonders wichtig, wenn auch aus dem entfernteren Umfeld) Gustav Wyneken ebenso wie die beiden Bremer Reformpädagogen Heinrich Scharrelmann und Fritz Gansberg, nicht zu vergessen Ellen Key. Daneben seien als Auswahl unter den Zeitgenossen genannt die Philosophen Henri Bergson, Artur Bonus, Rudolf Pannwitz, die Schriftsteller Lothar Schreyer, Franz Werfel, Stefan George, Walter Hasenclever als Expressionist, die Pädagogen Paul Natorp und Rudolf Steiner, die Künstler und Kunstpädagogen Heinrich Vogeler und Alfred Lichtwark und der Verleger Eugen Diederichs. Als Denker und Gelehrte aus dem 19. Jahrhundert stehen beispielhaft der Naturforscher Charles Darwin, die Philosophen Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche sowie die Schriftsteller Julius
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Langbehn, Fjodor Dostojewskji und Leo Tolstoi. Kruse zitiert aber auch geistige Anleihen von klassischen Schriftstellern, Philosophen und Pädagogen wie Johann Wolfgang von Goethe, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottlieb Fichte, Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi. Sogar die Philosophie des Altertums lässt er mit Laotse, Platon, Aristoteles zu Wort kommen. Die (immer noch unvollständige) Liste dieser großen Denker, die Kruse als Quelle zur Erklärung Jödes Gedankengutes anführt, zeigen, welch weiten Horizont der Autor dem Leser öffnet. Das vergleichsweise kurze Kapitel zu »Linien und Brüche in der alternativen Pädagogik Fritz Jödes« darf als das Ergebnis, die Zusammenfassung und Quintessenz der Schrift im Fokus auf Fritz Jöde gesehen werden: Jöde ist ein empathischer Mensch mit missionarischem Eifer, der in seiner alternativen Pädagogik für die Selbstentwicklung des Schülers eintritt, der wiederum mit schöpferischer Kraft zum neuen Menschen werden soll/wird. Der Anmerkungsapparat ist riesig (weit über 3.000 Fußnoten). Dabei werden nicht nur Quellenangaben verzeichnet, sondern auch allerhand nähere Erklärungen zu den im Fließtext behandelten Sachverhalten gegeben (als Ergänzung und Kommentar), was den Informationsgehalt durchaus erweitert, aber den Lesefluss – wenn man denn die Fußnoten mitlesen will – behindert. Ebenso umfangreich ist das Literaturverzeichnis, das neben der genutzten Sekundär(mehr als 650 Titel) auch Primärliteratur (lückenloses Verzeichnis der Schriften Fritz Jödes, auch Liedersammlungen, Rezensionen und Anzeigen, aus dem behandelten Zeitraum von 1906–1922) enthält. Zu den selbstständigen Schriften, herausgegebenen Werken (inklusive Zeitschriften) und Liedersammlungen gibt Kruse sogar ausführliche Zusammenfassungen und Informationen. Die Schrift ist nicht nur eine wertvolle Orientierungshilfe für das Lebens- und Weltverständnis (und auch das Begriffsverständnis) Fritz Jödes, sondern – und das in umfänglichem Maße – eine Öffnung zu den philosophischen und pädagogischen Anschauungen aus den ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts. Insofern wiegt der Untertitel des Buches »Pädagogik im Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts« mindestens ebenso schwer wie die Einlassung auf »Fritz Jöde« von »1906–1923«. Die Monografie von Matthias Kruse ist für die Jöde-Forschung gleichermaßen wie für das pädagogische Verständnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und ebenso für die musikpädagogische Historiografie ein Gewinn.
Susanne Rappe-Weber
Cathy Ross, Oliver Bennett (Hg.): Designing Utopia. John Hargrave and the Kibbo Kift (Katalog), London: Wilson 2015, ISBN: 978-1-7813-0040-4, 178 S. Annebella Pollen: The Kindred of the Kibbo Kift. Intellectual Barbarians, London Donlon Books 2016, ISBN: 978-0-95760951-8 Zwei reich bebilderte Ausstellungskataloge widmen sich dem englischen Jugendaktivisten John Hargrave (1894–1982) und der von ihm begründeten englischen Jugendkultur Kibbo Kift. Dabei handelte es sich um eine Abspaltung von Baden-Powells Boy Scouts, die vor allem auf Inspirationen durch das »Book of Woodcraft« (1912) von Ernest Thompson Seton (1860–1946) basierte. In Deutschland stieß Hargraves Neugründung der Kindreds of the Kibbo Kift (1920) sogleich auf ein lebhaftes Echo, als die hiesige Pfadfinderbewegung nach dem Ersten Weltkrieg vor einer Neuausrichtung stand und sich von ihren militärisch geprägten Traditionen löste. Franz Habbel (1894–1964), der den Bund Deutscher Neupfadfinder führte, griff die Ideen von Kibbo Kift und Woodcraft zur Umgestaltung des Pfadfinderbundes auf, insbesondere die Stammes-Erziehung im Rahmen einer Natur- und Abenteuerpädagogik anstelle der bei den Pfadfindern üblichen altersmäßigen Gliederung. Hargraves Bücher wurden ins Deutsche übersetzt und in Habbels Verlag »Der Weiße Ritter« veröffentlicht. Hargraves Gründung galt in Deutschland als Inbegriff der englischen Jugendbewegung und wurde mit der eigenen bündischen Bewegung verglichen. In England selbst wurde Hargraves autoritär geführte Organisation, die sich in den 1930er Jahren zu einer politischen Organisation und Partei (Green Shirt Movement, Social Credit Party of Great Britain) umformierte, aber 1951 schließlich auflöste, zunehmend als Teil der politischen Landschaft angesehen. Demgegenüber positionierte sich die bis heute bestehende Kibbo-Kift-Abspaltung, das von Leslie Paul (1905–1985) begründete Woodcraft Folk, im Arbeitermilieu. Vor diesem Hintergrund geriet Hargrave weithin in Vergessenheit (»a historical footnote«, Pollen), sodass die vorliegenden Bücher durchaus eine Wiederentdeckung darstellen und eine Neuinterpretation der zahlreichen Quellen anbieten. Dazu regen insbesondere die Fotografien, kunsthandwerklichen und künstlerischen Arbeiten aus der, auch ästhetisch durch den Grafiker Hargrave geprägten, Bewegung an, die in beiden Bänden ansprechend wiedergegeben sind.
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Susanne Rappe-Weber
Bei dem von Cathy Ross und Oliver Bennett herausgegebenen Band handelt es sich um den Katalog zu einer Ausstellung im Museum of London, die dort nach dem Erwerb der Kibbo-Kift-Sammlung 2012 realisiert wurde. Eine Online-Datenbank präsentiert inzwischen die Sammlung des Kindred of the Kibbo Kift mit mustergültigem, kontextualisiertem Zugriff auf die farbenfrohen Buchcover, Kleidungsstücke, Kultgegenstände, Abzeichen, Flaggen usw. Der Katalog bietet eine umfassende Sicht auf den Visionär Hargrave, der sich zeitlebens in einer Mischung aus Pflicht- und Sendungsbewusstsein mit kreativen Ansätzen (»resolute imagination«) den Problemen seines Landes im 20. Jahrhundert stellte. Hargraves Lebensweg, im umfangreichsten Kapitel einleitend vorgestellt, war durch seine eigene Erfahrung der Selbsterziehung und Selbstdisziplin geprägt, die ihm – einem begeisterten Leser, der in ländlicher Umgebung aufwuchs – vielfältige Anregungen lieferte. Schon als Jugendlicher zeichnete er, Sohn eines autodidaktischen Malers und Grafikers, viel und bot Londoner Verlagen erfolgreich seine Mitarbeit an. Mit dreizehn Jahren wurde er Mitglied bei den Pfadfindern an seinem Wohnort, wo er den Fahrtennamen White Fox erhielt und bald seine Begabung für Führungsaufgaben entdeckte. Im Alter von 20 Jahren hatte er sich bereits als Kolumnist und Grafiker unter dem Alter Ego White Fox einen Namen gemacht und trat seinen ersten Job als Buchillustrator in einem Verlag an, eine Tätigkeit, die er fortan, überwiegend freiberuflich, ausübte. Am Ersten Weltkrieg beteiligte er sich als Anführer einer größeren Sanitätseinheit. Aus dem Krieg heraus publizierte er – wie manch Andere – zunehmend kritische Positionen, die sich zum einen gegen die zerstörerischen Kriegshandlungen an sich wandten, darüber hinaus aber auch die Degeneration der Zivilisation, die Industrialisierung, das Leben in der Großstadt und die Zerstörung der Natur anprangerten. Demgegenüber evozierte er als Vorbilder eines gesünderen Lebens die »wilden Rassen« und vormodernen Völker, deren Errungenschaften durch entsprechendes Training auch in Großbritannien (wieder) verfügbar gemacht werden könnten. Im Unterschied zu vielen deutschen Lebensreformern propagierte Hargrave dabei die Einheit der Menschheit, die nicht rassisch unterteilt werden dürfe. Neben diesen Ansätze zu einer gesünderen und reineren Lebensführung interessierte sich Hargrave für esoterisch okkulte Praktiken, die er im Kontext von Ausgründungen aus Älteren-Pfadfinder- bzw. WoodcraftGruppen erprobte (»Ndembo Lodge«). Zwischen 1920 und 1924 führte Hargrave, mehr als »Diktator«, weniger als »Demokrat«, die Kibbo Kift-Bewegung, die sich sieben Punkten verschrieb: Naturerziehung der Kinder ; Körper, Geist und Seele umfassende Gesundheit; Handwerkstechniken; Gemeinschaftsleben; Volkskultur ; Pazifismus; friedliches Zusammenleben der Völker. Kinder und junge Erwachsene, darunter besonders viele Lehrer, insgesamt etwa 2.000 Mitglieder, schlossen sich über ganz England verteilt dieser progressiv erscheinenden Alternative zum Pfadfinder-
Designing Utopia / The Kindred of the Kibbo Kift
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tum an, die 1921 von den Boy Scouts ausgeschlossen wurde und in der Öffentlichkeit durch ihre bunten Kluften auffiel. In Zeltlagern, Thingzusammenkünften und Zeremonien entfalteten sich deren Aktivitäten, begleitet von eindrucksvollen symbolischen Ausdrucksformen mit eigener Ikonografie (Kleidung, Kunsthandwerk, grafische Arbeiten). Zwischenzeitlich trennte sich Hargrave von den linken Anhängern der Bewegung, darunter die späteren Gründer des Woodcraft Folk, deren Ausrichtung auf das Kollektiv der Klasse er missbilligte. Weitergehende internationale Zusammenschlüsse, auch mit Franz Habbel und seinen deutschen Neupfadfindern, wurden durch Hargraves abweisende Haltung verhindert. Schließlich verlagerte Hargrave nach 1924 sein Engagement auf die Social-Credit-Bewegung, wobei die Kibbo-Kift-Bewegung selbst mit geringeren Mitgliederzahlen noch, mit Hargrave an der Spitze, bis etwa 1932 vital blieb, wie das Kapitel »Kinsfolk« farbig und eindrucksvoll zeigt. Ein weiterer Abschnitt ist den »schockierenden« Greenshirts gewidmet, den von Kibbo-Kift kommenden, zeitweise 10.000 Mann starken »Truppen«, mit denen Hargrave als Antwort auf die nationale Krise die Forderungen des Social Credit, im Kern eine Art Grundeinkommen für alle, durchsetzen wollte. Zwar beteiligten sich die Greenshirts – zunächst als Bewegung, später als Partei – intensiv am politischen Diskurs, griffen aber nach und nach auch viele Gruppenaktivitäten des Kibbo Kift wieder auf (spirituelle Zeremonien, Theaterspiel). Mit dem Zweiten Weltkrieg ließ Hargraves Enthusiasmus für die Durchsetzung großer Visionen nach. Er verlegte sich weitgehend auf seine Profession als Künstler und Buchillustrator. Mit der Nachwirkung seiner Ideen, die manche postmodernen Themen (Einsamkeit des Individuums, Entfremdung in der Arbeitswelt, Verlust sozialer Gewissheiten) vorweg nahmen, beschäftigt sich das abschließende Kapitel des Katalog. Ein Verzeichnis relevanter Personen und Orte rundet den sorgfältig gestalteten Band ab. Auch das zweite, hier zu besprechende Buch wartet mit vielen, oft ganzseitigen Abbildungen auf, die der Betrachterin einen guten visuellen Eindruck von der Bewegung geben. In vier Kapiteln – Bewegung, Kultur, Geist und Auferstehung – wird die Geschichte des Kibbo Kift nachgezeichnet, wobei Pollen vor allem die Widersprüche zwischen Hargraves weitgespannten Ambitionen mit weltumspannenden Lösungsansätzen für die Probleme der Gegenwart und den Handlungsoptionen der gewollt kleinen, elitären Gruppenformation aufdeckt. Die Ausprägung einer eigenen kunsthandwerklich geprägten ästhetischen Kultur hält Pollen für eine wesentliche Errungenschaft des Kibbo Kift, in der der Aufenthalt im Freien als Ausgangspunkt für Design und Gestaltung und die intensive Beschäftigung mit natürlichen Werkstoffen greifbar werden. Grafische Symbole, oft nach indianisch anmutenden Vorlagen gestaltet, prägen viele Gegenstände, vom geschnitzten hölzernen Totem bis zur individuell gefärbten und bedruckten Kleidung, die von der Bewegung bewusst als Medium der Kom-
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Susanne Rappe-Weber
munikation eingesetzt wurden. Das Interesse der Bewegung, die sich hier besonders deutlich als Zusammenschluss Vieler mit unterschiedlichen Begabungen zeigt, galt der Ausbildung neuer Formen, nicht der Nachahmung älterer Vorlagen. In geistiger Hinsicht bot Kibbo Kift Anregungen zur Auseinandersetzung mit Religion weltweit, aber auch, von Hargrave mit Anweisungen versehene, rituelle Praktiken in eigenen spiritistischen Zirkeln. Hargrave selbst stützte sich insbesondere auf das Rosenkreuzer-, das Freimaurertum und die Theosophie. Der Band zeigt die ganze Bandbreite der Ausprägung dieses Aspektes, so auch den Bezug auf prähistorische Mythen. Die Wiederentdeckung des Kibbo Kift setzte in den 1970er Jahren ein, als der Musiker Chris Judge Smith (*1948) darauf aufmerksam wurde, eine »Rock Show« daraus machte und die Gründung einer Stiftung zur Bewahrung der Hinterlassenschaften anregte. Weitere Studien und Wiederaufnahmen folgten. – Ein schlüssig argumentierender Band voller anregender Informationen zu den englischen Verwandten der Bündischen.
Saskia Fischer
Claudia Selheim, Alexander Schmidt (Hg.): Grauzone. Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus (Beiträge der Tagung im Germanischen Nationalmuseum, 8. und 9. November 2013), Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2017, 108 S., ISBN 978-3-946217-01-5, 15,– E Die Nähe der deutschen Jugendbewegung zum Nationalsozialismus einerseits ebenso wie ihre Abgrenzung von der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis andererseits wurden bereits seit den 1980er Jahren breit diskutiert. Die Frage hat durch die Publikation von Christian Niemeyers »Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend« (2013) erneut an Relevanz gewonnen. Niemeyer konstatiert darin, dass der Zusammenhang von Jugendbewegung und Nationalsozialismus noch immer zurückhaltend oder gar abwiegelnd in den Blick genommen werde, wohingegen er selbst kritisch und akribisch die vielfältigen Verwicklungen und aktive Teilnahme weiter Teile der bündischen Jugend zum Nationalsozialismus herausarbeite. Der vorliegende Band, der die Ergebnisse der Tagung »Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung« versammelt, eröffnet ein äußerst facettenreiches und ebenfalls in keiner Weise unkritisches Bild auf die Verflechtungen von bündischer Jugend mit dem Nationalsozialismus. Vor allem untersuchen die Beiträge des Bandes – und darin besteht ihre besondere Leistung – dieses Verhältnis in interdisziplinärer Perspektive. Der Titel »Grauzone« ist insofern treffend, als er auf die in politischer Hinsicht äußerst heterogene Gemengelage verweist, die für die Jugendbewegung charakteristisch war. Die Zusammenschlüsse und Organisationen der bündischen Jugend waren gerade nicht an eine geschlossene, gar ausformulierte Weltanschauung gebunden; gleichwohl lassen sich einzelne Gruppen und Bünde mitunter sehr wohl spezifischen Ideologien zuordnen. Insgesamt aber spiegelte sich in ihnen die ganze Bandbreite politischer Überzeugungen wider, wie sie generell in der Weimarer Republik vorzufinden waren. Durchaus aber zeichnete sich die Jugendbewegung durch eine größtenteils demokratieskeptische Haltung aus. Zudem hatte sie mit dem Nationalsozialismus die Sehnsucht nach einem neuen Reich, wie auch immer es konkret aussehen sollte, einer (Volks-) Gemeinschaft und einer Führerfigur gemein. Die Jugendbewegung aber deshalb vorschnell als unkritischen Vorbereiter nationalsozialistischen Denkens zu begreifen, wäre
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Saskia Fischer
angesichts ihrer vielfältigen Strömungen verfehlt. Insofern meint »Grauzone« auch folgerichtig das aufgrund dieser politischen Heterogenität nur allzu schwer fassbare Verhältnis jugendbewegter Kreise und Akteure zum Nationalsozialismus. Besonders die Hitlerjugend instrumentalisierte viele der von der bündischen Jugend etablierten Praktiken der Vergemeinschaftung und Zugehörigkeit (Lager, Fahrten, Lieder usw.), während sie die Tendenzen der Jugendbewegung, die der nationalsozialistischen Ideologie entgegenwirkten, radikal bekämpfte, wie etwa pazifistische Bestrebungen. Der Band schöpft aus einer Fülle von Dokumenten und überlieferten Zeugnissen und macht so die Komplexität des Problemfeldes, das er in den Blick nimmt, deutlich. Für die bündische Jugend entsteht auf diese Weise allerdings gerade kein entlastendes Bild. Gleichschaltung und Eingliederung ins nationalsozialistische System vollzogen sich nicht ausschließlich durch eine repressive ideologische Vereinnahmung ihrer Bünde und Strukturen, sondern zudem durch das Engagement führender Persönlichkeiten aus der Jugendbewegung, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, in Organisationen wie dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen oder der nationalsozialistischen Freizeitorganisation Kraft durch Freude. Diese Akteure bekleideten dort hohe Positionen und wollten sich dennoch ihre geistige Verortung in der Jugendbewegung und ihren Zusammenschluss in jugendbewegt organisierten Freundeskreisen bewahren. Hierdurch aber gerieten sie, trotz ihrer aktiven Partizipation am NS-System, in Konflikt mit dem Nationalsozialismus, ohne dass daraus jedoch wirklicher Widerstand zu ihm resultiert wäre. Eindrücklich zeigt der Beitrag von Sven Reiß dieses Lavieren am Beispiel der ehemaligen Wandervögel, Karl Bückmann und Wolfgang Wieckberg, und ihrer verwickelten Beziehung zwischen Nähe und Distanz von bündischer Jugend und Nazi-Ideologie. Besonders hervorzuheben ist auch, dass sich Reiß mit seinem Beitrag überhaupt der bislang kaum erforschten NS-Geschichte der Burg Ludwigstein widmet. Hier schließt der Band also eine wirkliche Forschungslücke. Insgesamt bilden die Beiträge ein äußerst breites Spektrum an thematischen und interdisziplinären Zugängen zu diesem Problemfeld ab: Uwe Puschner beleuchtet einführend und überblicksartig das Verhältnis von Jugendbewegung und völkischer Bewegung, die er als zwei sich teilweise ideologisch, organisatorisch und personell überlappende, aber doch auch wieder getrennt voneinander agierende Strömungen begreift. Die weiteren Beiträge eröffnen vornehmlich spezialisierende Perspektiven auf das Forschungsfeld des Bandes. Stefan Brauckmann widmet sich den Artamanen, einem radikal-völkischen Siedlungsbund der Jugendbewegung, dem die Sympathien Himmlers galten. Richard Nate beleuchtet aus anglistischer Sicht die Konzeption eines europäischen Jugendprogramms der Zwischenkriegszeit des englischen Autors und Aktivisten Rolf Gardiners. Christoph Kopke beschäftigt sich mit dem Reichs-
Grauzone
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landschaftsanwalt Alwin Seifert und seiner Rolle im Nationalsozialismus und Heinke Kalinke konzentriert sich auf Studenten der Volkskunde, einer in der Zwischenkriegszeit noch jungen Disziplin. Den Ansatz der jugendbewegten jungen Wissenschaftler sieht sie im Zusammenspiel von Sammeleifer, völkischer Ideologie und nationalsozialistischer Politik begründet. Darüber hinaus nehmen Karin Stoverock und Justus H. Ulbricht die Musik und die Medien, d. h. die Lieder, Zeitschriften und Verlage der Jugendbewegung, und ihre Aneignung durch die Nationalsozialisten in den Blick. Der Beitrag von Gideon Botsch zu völkischen Jugendbünden und nationalistischen Jugendverbänden in der Bundesrepublik, der den Band abschließt, fungiert gleichsam als Ausblick in die Nachkriegszeit und jüngere Geschichte der BRD, indem er darlegt, inwieweit sich nationalistische und völkische Jugendorganisationen in Westdeutschland häufig auf die bündische Jugend beriefen. Sie setzten damit einerseits die Tradition des völkischen Flügels der Jugendbewegung fort, während sie andererseits aber die bündische Tradition radikalisierten und als dezidierte politische Jugendverbände des rechtsextremen, radikalnationalistischen Lagers gegründet wurden. Es ist eine besondere Herausforderung, der sich der Band stellt, wäre doch zu erwarten, dass sich die »Grauzone«, die der Titel markiert, irgendwann erhellt und klärende systematisierende Breschen ins politisch-ideologische Dunkel geschlagen werden. Die Beiträge des Bandes zeigen an Fallbeispielen, wie kompliziert das Verhältnis zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus war. So bleiben allerdings auch die Ergebnisse uneindeutig. Dies liegt nicht an der Qualität der Beiträge, sondern an ihrem schwer handhabbaren Gegenstand. Nachvollziehbar zeigen die Autorinnen und Autoren des Bandes ideengeschichtliche Linien auf, die von der bündischen Jugend bis in den Nationalsozialismus reichten. Zudem werden bewusste Traditionskonstruktionen rechtsradikaler Gruppierungen der Nachkriegszeit offenbar, die sich noch heute dezidiert in der bündischen Jugend verorten. Der Beitrag von Botsch beschreibt dies nuanciert und deutet damit auf ein hoch aktuelles Problem hin. Der Bund Heimattreuer Jugend bzw. seine Folgeorganisation Der Freibund und ihre konspirativen Ferienlager für Kinder und Jugendliche aus dem rechtsradikalen Milieu sind erst kürzlich wieder durch die Autobiografie »Ein deutsches Mädchen« (2017) der Neonazi-Aussteigerin Heidi Benneckenstein in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Doch auch unter den weiterhin bestehenden jugendbewegten Gruppierungen wird das Verhältnis zum Freibund und ähnlichen Organisationen wieder stark diskutiert. Gerade weil die Ergebnisse der Beiträge erneut der politisch inhomogenen Gemengelage der Jugendbewegung Rechnung tragen, wäre ein zusammenfassender Beitrag, der die Ergebnisse bündelt und noch einmal in Gänze auswertet, sehr erhellend gewesen, um die titelgebende »Grauzone«, in der sich die bündische Jugend bewegte und sich ihre Nachfolger noch heute bewegen, eben nicht einfach zu reproduzieren, sondern ihr pro-
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Saskia Fischer
duktiv zu begegnen. Das große Verdienst des Bandes ist es jedoch, sehr aspektreich und in gründlich recherchierten Beiträgen die Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Jugendbewegung und Nationalsozialismus sowie die Folgen dieser komplexen Beziehung in der BRD interdisziplinär und differenziert zu beleuchten.
Mareike Gronich
David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 52), Göttingen: Wallstein 2015, 672 S., 23 Abb., geb., ISBN 978-3-8353-1709-3, 46,– E Kaum zwanzig Jahre sind seit der Hochzeit der Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik vergangen, als 1995 das Debütalbum der Hamburger IndieRockband Tocotronic erscheint,1 auf dem Dirk von Lowtzow, begleitet von schrebbeligen Gitarren, ins Mikro mehr brüllt als singt: »Ich möcht mich auf euch verlassen können / Lärmend mit euch durch die Straßen rennen / Und jede unserer Handbewegungen / hat einen besonderen Sinn / weil wir eine Bewegung sind.« Die legendär gewordene Antihymne, aus der diese Zeilen stammen, heißt »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« und ist ein etwas wehmütiger und zugleich sehr ironischer Abgesang auf die politischen Jugendbewegungen der späten 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Eine Art Echo auf (jugend-) politisch bewegte Zeiten, von denen man Mitte der 1990er Jahre zwar noch weiß, dass es sie einmal gegeben hat, sich aber nicht mehr recht erklären kann, wozu sie gut gewesen sein könnten und welche Ziele sie verfolgt haben. Die Faszination für Jugendbewegungen ist in dem Song deutlich hörbar, aber was zum Teufel, so glaubt man im Hintergrund des Songs die ganze Zeit zu hören, war eigentlich Sinn und Zweck der Sache? Trotz seiner Polemik und Ironie ist der Song in gewisser Hinsicht der ideale Soundtrack zum Buch zur Bewegung, wirft er doch letztlich – wenn auch auf seine ganz eigene Art – die gleiche Frage auf, die auch David Templin in seiner Dissertation über die bundesdeutsche Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre beschäftigt, die Frage nämlich, was eine politische Jugendbewegung eigentlich ausmacht? Während Tocotronic allerdings – wie es sich für Diskurspunk der Hamburger Schule gehört – in Frage und Antwort mehr als vage bleiben, ist Templins Studie sowohl in der Fragestellung als auch in den Antworten überaus präzise, differenziert und informativ. Im Zentrum der zunächst als Dissertation verfassten Untersuchung steht »die ›Jugendzentrumsbewegung‹ […] der 1970er und frühen 1980er Jahre« (S. 9), deren wichtigstes Ziel es war, selbstverwaltete Räume für Jugendliche und junge Erwachsene zu schaffen. Darüber hinaus 1 Tocotronic: CD/LP Digital ist besser, L’Age D’Or 1995.
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Mareike Gronich
nimmt Templin aber auch die gesellschaftlichen und politischen Kontexte in den Blick, aus denen sich die Bewegung entwickelte, in denen sie situiert war und die sie – so eine These der Studie – ihrerseits auch mitgeprägt hat (S. 618ff). Templin erzählt die Geschichte der bundesrepublikanischen Jugendzentrumsbewegung in drei chronologisch angeordneten Großkapiteln, denen ein kürzerer Abschnitt vorangestellt ist, in dem die Vorgeschichte der Blütezeit der Jugendzentrumsbewegung skizziert wird. In diesem Vorspann (»Von der Jugendpflege zur Jugendrevolte: die 1950er und 1960er Jahre«) arbeitet Templin die (jugend-) politischen und gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen für die Entstehung der Bewegung heraus. Einerseits, so die Bilanz, hat man es in dieser Zeit mit einer sich »rasch modernisierenden Gesellschaft« zu tun, die »die Ausbildung einer neuen Jugendkultur beförderte« (S. 55) – eine Entwicklung, der die bestehenden Einrichtungen der Jugendpflege nur schwer folgen konnten. Andererseits begünstigte der »Politisierungsschub« der späten 1960er Jahre die »Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsforderungen« (ebd.) der jugendlichen Aktivist*innen. Während sich das Kapitel zur Vorgeschichte der Bewegung auf allgemeine Tendenzen konzentriert, besticht der Hauptteil der Studie durch seine Materialfülle und Detailgenauigkeit, ohne dabei jedoch die übergeordneten systematischen Fragen aus den Augen zu verlieren. So wird in den drei Kapiteln nicht nur die Entwicklung, die Programmatik und die soziale Zusammensetzung der Jugendzentrumsbewegung nachgezeichnet, sondern auch präzise analysiert, welche Rolle die Sozialpädagogik in diesem Zusammenhang spielte, wie die Akteur*innen der kommunalen und staatlichen Jugendpolitik mit den Forderungen der Jugendzentrumsbewegung umgingen und welche Bedeutung die Bewegung für die Ausbreitung der (politischen) Jugendkultur im ländlichen Raum hatte. Das erste der drei Großkapitel, »Ausbreitung und Hochphase der Bewegung«, das sich dem Zeitraum von 1970 bis 1974 widmet, schildert nicht nur den Konstituierungsprozess der Bewegung, die Konflikte zwischen den Initiativgruppen und den kommunalen Entscheidungsträger*innen sowie die Einrichtung der ersten selbstverwalteten Zentren, sondern nimmt auch deren Programmatik und ihre »soziale und politische Zusammensetzung« in den Blick. Darüber hinaus beschäftigt sich eines der Unterkapitel mit der bemerkenswerten Bedeutung, die den Fernsehsendungen »Jour fix« und »DISKUSS« im Kontext der Jugendzentrumsbewegung in diesem Zeitraum zukam. Das zweite ebenfalls sehr umfangreiche Hauptkapitel »Zwischen Scheitern und Institutionalisierung« befasst sich sowohl mit Konsolidierungstendenzen der Jugendzentrumsbewegung als auch mit deren ersten Auflösungserscheinungen. Diese Phase der Bewegung ist, so Templin, vor allem von »starken Ungleichzeitigkeiten auf lokaler Ebene« (S. 617) geprägt. Während die Aktivist*innen dort, wo sich
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selbstverwaltete Zentren etablieren konnten, mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert sind, die mitunter auch zur Schließung der selbstverwalteten Räume führen, gründen sich andernorts jetzt erst solche Initiativen, die sich für selbstverwaltete (Jugend-) Zentren einsetzen. Abschließend befassen sich beide Kapitel in systematischer Perspektive mit der Entwicklung der »kommunalen und staatlichen Jugendpolitik« (S. 315) sowie mit der Frage nach dem Verhältnis von »Großstadt und ›Provinz‹« (S. 325) im jeweiligen Zeitraum. Templin skizziert hier nicht nur die Auswirkungen der Jugendzentrumsbewegung auf die zeitgenössische Jugendpolitik, sondern arbeitet vor allem die »langfristigen Wirkungen« (S. 619) heraus, die über den »Bereich der Jugendarbeit und Jugendpolitik« (ebd.) hinaus »gesamtgesellschaftliche Prozesse des kulturellen Wandels« (ebd.) betreffen. Dieser einst durch die 68er-Bewegung initiierte kulturelle Wandel wurde nämlich, so die Argumentation des Verfassers, von der im Wesentlichen lokal und regional agierenden Jugendzentrumsbewegung in den 1970er Jahren nicht nur insgesamt vorangetrieben, sondern vor allem auch von den Metropolen in die Provinz und damit – wenn man so will – in die Fläche gebracht. Im letzten zentralen Kapitel der Studie – »Niedergang und neue Impulse, 1979–1982« – wird skizziert, welche Entwicklung die Bewegung nach ihrer Hochzeit nahm. In durchaus kritischer Abgrenzung zu den Paradigmen der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung arbeitet der Verfasser heraus, dass »der Fokus auf die Frage von Fortbestand oder Niedergang den Blick auf die realen Entwicklungen [verstellt], die sich dieser Dichotomie […] entzogen«. (S. 583) Vielmehr, so Templin, seien bezüglich der (Weiter-)Entwicklung der Bewegung drei signifikante Tendenzen auszumachen: Erstens bestanden viele der Initiativen und Zentren weiter, lösten sich aber zunehmend von der »Identifikation mit der kollektiven Identität ›Jugendzentrumsbewegung‹« (ebd.). Zweitens erhielt die Bewegung »im Zuge der ›Jugendrevolte‹ um 1980/1981« zumindest zeitweise wieder verstärkten Zulauf, und drittens trugen die »generationelle[n] Umbrüche« (ebd.) innerhalb der Bewegung insofern zu deren Entwicklung bei, als sie zur Erschließung neuer Themenfelder und zur Gründung neuer Projekte führten. David Templin hat mit seiner Dissertation ein bisher kaum berücksichtigtes, gleichwohl aber wichtiges Forschungsfeld erstmals detailliert und umfangreich bearbeitet. Entstanden ist eine Studie, die nicht zuletzt durch die gelungene Verbindung von Fallbeispielen und systematischen Analysen besticht. »Freizeit ohne Kontrolle« ist eine materialgesättigte und informative Studie, die nicht nur die Entstehung und Entwicklung der Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er und frühen 1980er Jahre nachzeichnet, sondern darüber hinaus auch zahlreiche Einsichten über die kulturellen und gesellschaftlichen
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Mareike Gronich
Entwicklungen dieser Zeit sowie auch über die Wechselverhältnisse zwischen Jugendbewegung und (gesamt-)gesellschaftlicher Entwicklung liefert.
Rückblicke
Frauke Schneemann
Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung*
Bereits zum fünften Mal trafen sich im April 2017 junge NachwuchsforscherInnen auf Burg Ludwigstein nahe Witzenhausen, um im Rahmen des »Workshops Jugendbewegungsforschung« ihre laufenden und abgeschlossenen Projekte im interdisziplinären Rahmen zu präsentieren und zu diskutieren. Begleitet wurde der Workshop vom Gastreferenten Karl Braun (Marburg), der in seinem Eröffnungsvortrag über den österreichischen Geschichtsphilosophen, Soziologen und Kulturhistoriker Franz Borkenau referierte. Im Zentrum des Vortrags stand Borkenaus psychoanalytische Abhandlung »Autorität und Sexualmoral in der deutschen Jugendbewegung«, welche er 1936 unter dem Pseudonym Fritz Jungmann innerhalb der Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung veröffentlichte. Nach Borkenau bestehe das zentrale Problem bezüglich Sexualität in der Jugendbewegung in der Unterdrückung der Geschlechtlichkeit, die zur Verstärkung der bereits vorhandenen sexuellen Frustration führe. In der Folge würden jene allgemeinen, meist heterosexuellen Spannungen kanalisiert und könnten sich unter anderem als homosexuelle Begierden äußern. Somit negiert Borkenau die Blühersche These, die Jugendbewegung sei als rein homosexuelles Phänomen zu begreifen. Letztendlich würden Romantisierung und Idealisierung geschlechtlicher Beziehungen innerhalb der Bewegung der realen Sexualnot der Jugend entgegenstreben. Ron Hellfritzsch (Greifswald) geht in seinem Dissertationsprojekt deutschen Besatzungsplänen sowie -praktiken des heutigen lettischen Gebietes Kurland zwischen 1916 und 1919 nach. Deutsche Besitzansprüche bezüglich jenes Gebietes leiteten sich weniger aus einer geostrategischen Argumentation heraus ab, als aus einem historisch legitimierten Konstrukt Kurlands als ehemaligem Zentrum des Deutschen Ritterordens. Zentral ist für Hellfritzsch die Frage, inwieweit jenes Besatzungsgebiet von kolonialen Vorstellungen geprägt war. An* Dieser Beitrag wurde online veröffentlicht: Tagungsbericht: Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung, 21. 04. 2017–22. 04. 2017 Witzenhausen, in: H-Soz-Kult, 13. 10. 2017, .
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Frauke Schneemann
hand der Gruppierung der Feldwandervögel zeigte er, dass vor allem kulturmissionarische Aspekte, in Abgrenzung zu Urbanisierung, Industrialisierung und Kapitalismus, eine bedeutsame Rolle spielten. Orientiert an lebensreformerischen Vorstellungen und am Vorbild der Obstbaukolonie »Eden«, sollten die größtenteils kleinbürgerlichen Siedler Garten- und Handwerkersiedlungen auf dem »urdeutschen Boden« aufbauen. Im Verlauf des Krieges engagierten sich die Feldwandervögel zudem verstärkt in der Kriegerheimstättenbewegung und konnten sich durch Wohlwollen des Militärs somit räumlich weitestgehend frei bewegen und wirken. Der endgültigen Umsetzung der Siedlungsbewegungen wirkten jedoch die Gebietsansprüche der Bolschewiki und das Ende des Ersten Weltkrieges entgegen. Viola Kohlberger (München) hat sich zum Ziel gesetzt, Anfänge der katholischen Jugendarbeit in Deutschland nach 1945 aufzuarbeiten und deren Entwicklung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 zu analysieren. Als Untersuchungsgegenstand dient hierbei der Bund Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ) innerhalb des Wirkungskreises Augsburg. Der regionalgeschichtliche Blick bietet sich hinsichtlich der bayrischen Diözesen-Organisation der katholischen Jugendarbeit an, zumal keine übergeordneten Strukturen auf Landesebene bestanden. Als möglichen strukturellen Ansatz schlägt Kohlberger die Unterteilung der BDKJ-Organisationen in die Stammjugend (Katholische Landjugend, Katholische Jungmännergemeinschaft, Katholische Frauenjugendgemeinschaft) und Gliedgemeinschaften (Christliche Arbeiterjugend, Pfadfinder, Studierende Jugend, Sportjugend, Vertriebenenjugend) vor. Sowohl die Nachzeichnung organisatorischer Entwicklungen, als auch die Schwerpunktsetzung in der jeweiligen Programmatik der Verbände sollen bei der Analyse berücksichtigt werden. Wünschenswert bleibt vor allem die Einbettung der katholischen Jugendarbeit im Bistum Augsburg in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen der Bundesrepublik – mit der Amerikanisierung des Freizeitverhaltens der Jugend und den sich allmählich wandelnden Geschlechterrollen seien nur einige Aspekte genannt, die Kontroversen innerhalb der damaligen Jugendarbeit der 1950er Jahre hervorriefen und interessante Anstöße für das Dissertationsprojekt liefern könnten. Formen des jugendlichen Protests untersucht Sandra Funck (Göttingen) in ihrer Masterarbeit über die Göttinger Schülerbewegung der 1960er-Jahre. Die zunehmende Politisierung Jugendlicher sowie intensivierte Maßnahmen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zur Rekrutierung von Nachwuchs bildeten die Grundlage für die Entstehung des Unabhängigen Sozialistischen Schülerbundes und des Aktionszentrums unabhängiger sozialistischer Schüler in Frankfurt. Die Kernfrage des Projektes beleuchtet, inwieweit die Schülerbewegung als selbständige Interessengemeinschaft aufgefasst werden kann, oder eine vom SDS gesteuerte Nachwuchsgesellschaft darstellt. Mittels
Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung
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eines praxeologischen Ansatzes analysiert Funck diverse Protestformen der Schülerbewegung: zum einen das Diskutieren bzw. Theorisieren der, aus Sicht der Schüler, akuten gesellschaftlichen Problematiken, zum anderen die sogenannten sit-ins, go-ins und »teach-ins«. Letztere Protestformen fanden ihren Ursprung in der amerikanischen civil rights-Bewegung und entwickelten sich durch Adaption zu einer transkontinentalen Protestpraktik. In Deutschland fand jene Form des friedlichen Widerstands auch innerhalb der Schülerschaft Anklang. Im Zuge einer Fahrpreiserhöhung bestreikten Schüler verschiedenster Schulformen das öffentliche Nahverkehrsnetz Bremens und auch die Göttinger Schüler veranstalteten ein sit-in am Weender Tor, einem der verkehrsreichsten Knotenpunkte Göttingens. Da sowohl die Studentenbewegung, als auch die Schülerbewegung keine homogene Gruppierung mit einheitlicher Programmatik darstellte, gestaltet sich die Herausarbeitung von Interdependenzen als schwierig. Ein wichtiges Ziel des Projektes, so Funck, sei es jedoch der Schülerbewegung in Abgrenzung zu anderen Gruppierungen der Neuen Linken ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Simon Nußbruchs (Würzburg) Dissertationsprojekt eröffnet verschiedene Zugänge zum bündischen Gruppenlied nach 1945. Hierbei bedient sich Nußbruch diverser musikwissenschaftlicher Methoden. Neben der Betrachtung der Lieder als kompositorische Werke, und der diskursanalytischen Betrachtung von bündischen Zeitschriften wie dem Eisbrecher, bildet die musikethnologische Feldforschung einen Schwerpunkt des Projektes. So stellen Tonaufnahmen von diversen Lagern, besonders den Meißnerlagern, einen Quellenbestand dar, der die musikalischen Stücke in einen direkten Vortragskontext einbettet und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede im Umgang mit dem bündischen Liedgut sichtbar werden lässt. Anhand der Musikbeispiele in ihrem jeweiligen zeitlichen Vortragsrahmen »Was ließen jene, die vor uns waren« (1962), »Wenn der Abend naht« (1982), »Santiano« (2008) und »Leinen los« (2012) verdeutlicht Nußbruch die vielfältigen Aufführungsmöglichkeiten und auch Deutungen, die jene musikalischen Stücke durch ihren Gebrauch bekommen. Das Bespiel »Leinen los«, welches von der norddeutschen Band »Santiano« umgetextet wurde, zeigt vor allem die Kommerzialisierung volkstümlichen Liedguts als aktuellste Entwicklung. Für die Nachkriegszeit konstatiert Nußbruch zusammenfassend eine musikalische Kontinuität, merkt jedoch an, dass die Wahrnehmung des bündischen Liedguts sich veränderte. Auch Felix Ruppert (Marburg) widmet seine Bachelorarbeit der musikalischen Seite der bündischen Jugendbewegung. Er untersucht den Einfluss der Jugendbewegung auf die Burg Waldeck-Festivals im Zeitraum 1964 bis 1968 sowie die Wirkung der Festivals selbst auf die deutsche Liedermacherszene. Die Besitzrechte für das Gelände der Burgruine Waldeck sind zwischen dem Jugendbund Nerother Wandervogel und der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck
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Frauke Schneemann
(ABW) aufgeteilt. Aus Letzterer ging wiederum ein studentischer Arbeitskreis hervor, welcher die Idee zu einer musischen Bauhütte aufgriff. Zu den Initiatoren des Festivals gehörten somit Angehörige der autonomen bündischen Jungenschaften: Diethart Kerbs, Jürgen Kahle, Rolf Gekeler und Peter Rohland strebten einen internationalen, interkulturellen musikalischen Austausch an und wollten der deutschen Liederszene, die von romantisierenden Schlagern geprägt war, neue Entwicklungen entgegensetzen. Mit steigender Popularität des Festivals, dessen Besucherzahlen in die Tausende wuchsen, wurde zunehmend auch die ideologische Ausrichtung und der Zweck des Musizierens selbst thematisiert. Während Kerbs beispielsweise vom Gemeinschaftslied abkehren und eine künstlerische Liedform etablieren wollte, fand letztendlich insgesamt eine starke linke Politisierung des Festivals statt. Das neue deutsche Lied sollte gesellschaftskritische Themen aufgreifen und zur Diskussion anregen. Durch die Interventionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) eskalierte 1968 die Situation auf dem Festival. Ruppert resümiert, dass somit insgesamt eine Abkehr vom bündischen Liedgut erfolgte, welches zwar kaum Einflüsse auf das neue deutsche Lied ausübte, dessen Entstehung jedoch mitprägte. Schließlich blieb immer noch die Tradition des Sammelns und Aufbewahrens bündischer Lieder erhalten. Die chronologische Verlagerung der Forschungsschwerpunkte der Vorträge auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt begrüßenswerte Entwicklungen in der Jugendbewegungsforschung wider. Auch durch die Archivtagung 2017, welche sich mit Fragen der Selbsthistorisierung jugendbewegter Akteure und Gruppierungen nach 1945 befasst, werden Forschungsdesiderate für diesen Zeitraum angegangen. Von einem stärkere Einbezug verwandter Forschungsthemen, wie etwa der Lebensreform- oder der Vegetarismusbewegung erhoffen sich die TeilnehmerInnen des Workshops zukünftig eine beständige Erweiterung des Forschungsnetzwerkes. Gelegenheit zur weiteren Diskussion werden die Workshops der Folgejahre bieten.
Susanne Rappe-Weber
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2017
Bedeutsame Zu- und Abgänge im Archivbestand prägten das zurückliegende Jahr im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb). Zunächst hatte der Wissenschaftliche Beirat über das künftige »Sammlungsprofil« des AdJb beraten und den Beschluss gefasst, dass dieses künftig über den Kern der Historischen Jugendbewegung hinaus auf die in den 1960er Jahren einsetzende »zweite« Jugendbewegung hin erweitert werden soll. Schwerpunkt der erweiterten Sammlungspolitik sollen dabei die Felder Musik, Alternativkultur und Lebensreform sein. Diesem Beschluss war ein längerer Beratungsprozess vorausgegangen; so stand etwa die Archivtagung des Jahres 2013 unter dem Titel »Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv« in diesem Zusammenhang. In der Konsequenz konnte abschließend über den Umgang mit einem größeren Sammlungsbestand im AdJb zu den »Neuen Sozialen Bewegungen« der 1970er und 1980er Jahre entschieden werden. Diese Unterlagen in einem Umfang von rund 25 lfm, die sich vorwiegend aus Publikationen des linken politischen Spektrums zusammen setzen, gehören nicht zu dem beschlossenen Profil und wurden daher an das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung abgegeben. Dort stellen sie eine willkommene Ergänzung zu den vorhandenen Beständen dar und schließen Lücken, etwa im Zeitschriftenbestand. Der damit frei gewordene Magazinplatz wurde nur wenige Wochen später mit Akten der »Stiftung Demokratische Jugend« aus Berlin wieder belegt. Diese enthalten in einem Umfang von etwa 50 lfm überwiegend Projektunterlagen zur demokratischen Bildung in den Neuen Bundesländern zwischen 1990 und 2015. Für den Aktentransport und die Erschließung ihrer Unterlagen hat diese Stiftung Mittel bereitgestellt, sodass sogleich ein Werkvertrag mit ersten Ergebnissen anlaufen konnte. Dieser Bestand bietet Forschenden Einblicke in die Lebenswelten junger Menschen zwischen Rostock und Zwickau im Übergang von der DDR zur Bundesrepublik, die diese selbst in Projektzusammenhängen reflektiert haben – ein archivisch bislang weitgehend weißer Fleck in der Jugendgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Eckart Conze vorbereitete Archivtagung
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Susanne Rappe-Weber
zu Fragen der Historisierung und Selbsthistorisierung in der Jugendbewegung nach 1945 prägte die Jahresarbeit inhaltlich. Die seit langem zentrale Frage zum Zusammenhang und Übergang von der Bündischen Jugend zur Hitlerjugend wird damit entsprechend neuester Entwicklungen in der Zeitgeschichtsforschung in die Nachkriegszeit verlängert. Kollektive und persönliche Erinnerungen, Geschichtspolitik und Geschichtsbilder sind Aspekte, die sich nicht zuletzt auf die Sammlungstätigkeit des Archivs nach 1945 ausgewirkt haben. Als Konsequenz daraus werden Informationen über frühere Erwerbungsvorgänge zu vorhandenen Bestände künftig noch stärker zu beachten sein. Die Historisierungsfrage spiegelt sich auch in der neu konzipierten Gesamtausstellung des Archivs wider, in der das Thema u. a. mit einem erklärenden Plakat zu den wesentlichen Publikationen des Diskurses, aber auch mit einer Medienstation veranschaulicht wird. Zudem reflektiert eine Präsentation originaler Grafiken von Erich Zimmer (1908–2001) mit künstlerischen Mitteln Aspekte des Umgangs mit der Vergangenheit und der individuellen Verantwortung. Insgesamt ist die Ausstellung mit den beiden Schwerpunkten »Jugendbewegung – historisch« und »Jugendburg Ludwigstein« jetzt mit erklärenden Plakaten, Originalen und Objektvitrinen stärker modularisiert. Damit kann sie innerhalb der begrenzten Archivräumlichkeiten besser mit Sonderausstellungen zu den jeweiligen Jahresthemen kombiniert werden. Tatsächlich interessieren sich bislang die meisten Archivbesucher für ebendiese Basisthemen und weniger für speziellere Aspekte. Doch wie die zentralen Themen »Jugendbewegter Geschichte(n)« am besten mit den Originalschauplätzen auf der Jugendburg zu kombinieren sind, wie Gäste und Besucher der Burg Orientierung und Wissen dazu erlangen und wie das Ganze in einer immer stärker medial geprägten Welt platziert wird – das sind Fragen, die mittelfristig schon auf das Jubiläumsjahr 2020 verweisen und umfassende, über das Archivfachliche hinausweisende Ansätze erfordern.
Archivstatistik 2017 Schriftliche Auskünfte
2013 315
2014 203
2015 284
2016 294
2017 269
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Seminargruppen Seminarteilnehmer
9 137
8 147
8 125
11 210
11 174
Scanaufträge
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Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2017
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Personal Bei den Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der B. A. / FAMI B. Richter gab es keine Veränderungen. Ende August wurde die Bundesfreiwillige Britta Klein verabschiedet, die eine Ausbildung für den gehobenen Archivdienst beim Land Niedersachsen antritt. Mit einem Werkvertrag über 300 Stunden hat Frauke Schneemann M. A. die Verzeichnung des ZAP nun im dritten Jahr fortgesetzt. Einen ersten Werkauftrag erhielt Sandra Funcke zur Erschließung des Zugangs »Stiftung Demokratische Jugend«.
Ehrenamt, Praktikum, Werkvertrag – Ehrenamtlich: Johan P. Moyzes und Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte), Frauke Schneemann und Anne-Christine Hamel (Workshop Jugendbewegungsforschung) – Werkvertrag Frauke Schneemann, Göttingen: Erschließung von Pfadfinderunterlagen der Sammlung ZAP (01.07.–31.12.) – Werkvertrag Sandra Funck, Göttingen: Erschließung des Aktenbestandes »Stiftung Demokratische Jugend« (01.11.–31.12.) – Praktikant Christoph Friedrich, Marburg: Erschließung der Nachlässe Herbert Westenburger (N 36) und Johannes Böhner (N 50) (25.04.–19.05.) – Praktikum Sarah Griwatz, Marburg (12.06.–17.07.): Erschließung der Nachlässe Johannes Fredrich (N 51), Hermann Hollerbach (N 187), Hermann Groß (N 134) und August Halm (N 9) – Praktikum Nico Habermehl, Marburg (24.07.–20.08.): Überarbeitung vorhandener Findbücher – Praktikum Benjamin Westphalen, Habichtswald (14.11.–21.12.): Überarbeitung von Nachlass-Erschließungen sowie der Sammlung »Personenmappen«
Erschließung E. Hack hat den Nachlass von Luise Danker (N 209) umfassend bearbeitet. Weiterhin hat sie die Überarbeitung des Findbuches zu Hugo Höppener-Fidus (N 38) fortgesetzt, um weitere Korrespondenz- und Gesprächspartner von Fidus nachzuweisen. In diesem Zusammenhang hat sie Informationen zu einem Restitutionsfall in der Berlinischen Galerie ermittelt. Die Provenienzforschungsstelle dort hat das Werk »Tempeltanz der Seele« als unrechtmäßigen Erwerb der NS-Zeit nachgewiesen. Der Bilderzyklus wurde den Erben zurückgegeben und konnte anschließend vom Museum wieder angekauft werden.
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Susanne Rappe-Weber
B. Richter hat sich, nicht zuletzt aufgrund von Nutzeranfragen, der Digitalisierung der Tonträger des AdJb angenommen (Stand Ende 2017: 265 Einheiten). Dafür hat sie einen auf die lokalen Verhältnisse abgestimmten Work-Flow entwickelt, mit dem die Lieferung der Digitalisate als Ersatzüberlieferung in das künftige Digitale Archiv Hessen vorbereitet wird. Mit der Implementierung von HeBis (Übertragung von 33.634 Datensätzen) konnte die Katalogisierung der Zeitschriften und Bücher wieder aufgenommen werden. Alle Zeitschriften- und Bucherwerbungen 2015–2017 sind von B. Richter in HeBis neu katalogisiert worden: 290 Buchtitel und 110 Zeitschriften. Fortgesetzt wurde die Erschließung des Zentralarchivs der Pfadfinderbewegung (ZAP) durch Frauke Schneemann M. A. (Stand Ende 2017: A 233, 1.780 VZE).
Zugänge Der Abgabe der »Sammlung Studentenbewegung« an das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit rund 25 lfm Unterlagen stand die Aufnahme von 50 lfm Unterlagen der »Stiftung Demokratische Jugend« aus Berlin (A 263) gegenüber. Die Stiftung war 1990 auf Initiative des Runden Tisches der Jugend von der letzten DDR-Regierung gegründet und mit dem vorhandenen Vermögen der ehemaligen DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend ausgestattet worden. Sie hatte bis 2015 eigene Programme wie etwa »Zeitensprünge. Perspektiven für junge Menschen« oder »Civitas. Initiative gegen Rechtsextremismus« aufgelegt. Da die ostdeutschen Bundesländer dies inzwischen in eigener Regie organisieren, sind die Projektunterlagen bereits historisch geworden. Einen wertvollen privaten Zugang stellt die Ergänzung des Nachlasses der Historikerin und Soziologin Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974, N 7) dar, die in Lauterbach (Vogelsbergkreis) im Haus der Familie aufbewahrt worden war. Manuskripte, berufliche und private Korrespondenz sowie exemplarische Werke ihrer Bibliothek in 40 Archivkartons machen das Lebensbild dieser kritischen Beobachterin der Jugendbewegung aus dezidiert weiblicher Perspektive, die selbst Mitglied der Freideutschen Jugend und des Sera-Kreises war, künftig noch besser erforschbar. Der umfangreiche Nachlass von Walther, Marga und Hinrich Jantzen aus Schwarzerden (N 216) stellt für die Geschichte der Jugendburg Ludwigstein ein interessantes Quellenkorpus dar. Walther Jantzen prägte als Burgwart, der mit seiner Familie hier lebte, das Burgleben zwischen 1948 und 1954. Darüber hinaus betätigte er sich als Veranstalter, Autor und Herausgeber in einer rechtsradikalen Literaturszene rings um den Ludwigstein. Der Nachlass enthält u. a. die um-
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fangreichen Vorarbeiten und Manuskripte zu der Publikation »Namen und Werke«, die für die allgemeine Jugendbewegungsgeschichte zentral sind. Hans E. Gerr (Bad Kissingen) überließ seine wertvolle Pfadfinderbibliothek, u. a. mit Raritäten früher internationaler Ausgaben von Robert Baden-Powells Schriften, dem Archiv.
Ausstellung Bis zum 30. 09. 2017 war die Ausstellung »›Gegen Sumpf und Fäulnis‹ – leuchtender Menschheitsmorgen. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien ›biologischer Aufrüstung‹« (elf Plakate, fünf Schauvitrinen, eine Installation zu den Zeitschriften der Lebensreform) zu sehen. Am 27. 10. 2017 wurde die neue Dauerausstellung unter dem Titel »Jugend – bewegt und …« eröffnet. Sie ist in die beiden Abschnitte »Jugend – bewegt und … auf der Jugendburg zuhause« sowie »Jugend – bewegt und … voller Geschichte(n)« gegliedert und umfasst 27 Plakate, sieben Vitrinen mit Objekten sowie einen Schubladenschrank. Eine Sonderausstellung mit Poster und wichtigen Publikationen sowie einer Tablet-Station, auf der in einem digitalisierten Fotoalbum geblättert werden kann, widmet sich der »Historisierung der Jugendbewegung«. Porträtiert werden in diesem Zusammenhang zudem Werk und Person des Künstlers Erich Zimmer mit 9 originalen Druckgrafiken.
Beteiligung an fremden Ausstellungen – Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan (Bröhan Museum. Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, 15.06.–02. 10. 2017) – Wanderlust oder : Die Sehnsucht nach dem Paradies (Stadtmuseum Eisenach, 01.07.–09. 10. 2017) – Käthe Kollwitz und ihre Freunde (Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, 08.08.–16. 10. 2017) – Mahlzeit. Geschichte(n) vom Essen in Hessen (Ausstellung des Hessischen Landesarchivs, 10.09.–02. 11. 2017) – Sulle vie dell’illuminazione. Il mito dell’India nella cultura occidentale 1808–2017 (Ausstellung des Stiftung Kunst Museum, Lugano, Schweiz, 24. 09. 2017–21. 01. 2018)
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Susanne Rappe-Weber
Archivführungen, Seminare, Präsentationen Zahlreiche Treffen von Ehemaligengruppen der Jugendbewegung, Älteren- und Klasentreffen sowie im Einzelnen: Christliche Pfadfinder Deutschlands, 13 Pers. (14.01., 11.03.), Wandervogel »Sternengreifer«, 9 Pers. (11.02.), Wandervogelgruppe »Mytilus«, 35 Pers. (18.02.), Studierende der Freien Universität Berlin, 42 Pers. (22.04., 27.07.), »Drei-Ecken-Kreis« der Jugendbildungsstätte Ludwigstein, 15 Pers. (10.06.), Exkursion »Denkwege«, 15 Pers. (14.06.), FKK-Jugend, 20 Pers. (11.11.), Sozialamt des Werra-Meißner-Kreises, 15 Pers. (14.12.); Archivseminar der Universität Siegen, Lehrstuhl für Neuere und Neuste Geschichte mit 25 Teilnehmenden (Tobias Scheidt M. A., 19. 01. 2017); Archivseminar des Engelsburg Gymnasiums Kassel, Oberstufenkurse mit 42 Teilnehmenden (Christina Selzener, 20. 01. 2017); Archivseminar der Universität Marburg, Fachbereich Europäische Ethnologie mit 15 Teilnehmenden (Felix Linzner M. A., 08. 04. 2017); Archivwerkstatt der Jugendbildungsstätte Ludwigstein mit 15 Teilnehmenden (05.–06. 06. 2017); Archivseminar der Akademie der Bildenden Künste München mit 20 Teilnehmenden (Prof. Dr. Stephan Dillemuth, 26. 06. 2017); Archivseminar der Internationalen Akademischen Sommerschule Bielefeld mit 28 Teilnehmenden (Prof. Dr. Wolfgang Braungart, 08. 09. 2017); Archivseminar der Universität Kassel, Witzenhausen mit 15 Teilnehmenden (Prof. Dr. Werner Trossbach, 04. 12. 2017); Archivseminar des Internationalen Studiengangs »Erlebnispädagogik«, Universität Marburg mit 15 Teilnehmenden (Prof. Dr. Peter Becker, 11.–13. 12. 2017); Archivseminar der Universität Würzburg, Fachbereich Europäische Ethnologie mit 10 Teilnehmenden (Felix Linzner M. A., 16. 12. 2017)
Tagungen – Workshop »Jugendbewegungsforschung« mit 10 Teilnehmenden (21.–23.04.) – Tag des offenen Denkmals und Handwerkermarkt auf der Burg mit 160 Besuchern (10.09.) – Archivtagung »Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945« mit 80 Teilnehmenden (27.–29.10.)
Medien, Internet und Portale – Leben ohne roten Faden. Historikerin forscht zum Jugendburg-Gründer Enno Narten, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 02. 11. 2017 – Seitenaufrufe für www.archiv-jugendbewegung.de von Dezember 2016 bis Dezember 2017: 17.500
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Veröffentlichungen und Vorträge Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13j2017), Göttingen: V& R unipress 2017, 275 S. Susanne Rappe-Weber – Bewegung – Bildung – Geschichte. Die Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Regierungspräsidium Kassel 150, herausgegeben vom Regierungspräsidium Kassel, S. 24–31 – Lemma »Wandervogel«, publiziert am 21. 02. 2017, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (23. 01. 2018) – Elisabeth Busse-Wilson: Akademischer Frauennachlass bereichert die Sammlungen des AdJb, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 275, S. 16–17 – Tagungsbericht: Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945, in Ludwigsteiner Blätter Nr. 276, S. 43–47 – Rezension zu: Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne (1951–1958), 2016, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung«, Göttingen: V& R unipress 2017, S. 249–251 – Beitrag zum Thema »Fahrtenbuch« in der AG »Erschließung von Objekten« beim Workshop der Archive von Unten im Archiv der Jugendkulturen in Berlin (15.–17.06.) – Vortrag: »Jugendbewegung« beim Festakt »150 Jahre Regierungspräsidium« in Kassel (17.10.)
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2017 und Nachträge
1.
Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 56), Göttingen: Wallstein 2016 2. Hartmut Bartmuß: Alexander Lion (1870–1962). Arzt, Sanitätsoffizier, Pfadfinder (Jüdische Miniaturen 210), Berlin: Hentrich & Hentrich 2017 3. Dieter Borchmeyer : Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin: Rowohlt 2017 4. Peter Bernhard (Hg.): Bauhausvorträge. Gastredner am Weimarer Bauhaus 1919–1925, Berlin: Gebr. Mann 2017 5. Wilfried Breyvogel (Hg.): Pfadfinderische Beziehungsformen und Interaktionsstile. Vom Scoutismus über die bündische Zeit bis zur Missbrauchsdebatte, Wiesbaden: Springer 2017 6. Peter Dudek: »Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!« – Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1964). Eine Biographie, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017 7. Oswald Franke, Jenny Feuerstein: Das gleiche immer Meer. Ein Reisetagebuch, Köln: jenny feuerstein design 2014 8. Kirsten Gerland: Politische Jugend im Umbruch 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der Volksrepublik Polen, Göttingen: Wallstein 2016 9. Britt Großmann: Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse, Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2017 10. Christoph Hamann (Hg.): Erziehen und Bilden. Der Bildungsstandort Struveshof 1917–2017, Ludwigsfelde-Struveshof: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg 2017 11. Tobias Hoffmann (Hg.): Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan (Ausstellungskatalog), Köln: Wienand 2017
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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2017 und Nachträge
12. Arno Klönne, Fritz Schmidt: Jungenschaften in der Nachkriegszeit. Neue Deutsche Jungenschaft – Jungenschaft im Bund. Zwei fast vergessene Bünde (Schriftenreihe des Mindener Kreises 14), Baunach: Spurbuchverlag 2017 13. Käthe Kollwitz Museum Berlin (Hg.): Käthe Kollwitz und ihre Freunde (Ausstellungskatalog), Berlin: Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte 2017 14. Thomas Kohut: Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Elebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen: Psychosozial 2017 15. Matthias Kruse: Fritz Jöde (1906–1923). Pädagogik im Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a.: PL Academic Research 2017 16. Knut Kühn-Leitz (Hg.): In memoriam Dr. Elsie Kühn-Leitz (22. 12. 1903–05. 08. 1985), Wetzlar : Eigenverlag 2015 17. Klaus Kunze, Karin Huser, Ursula Renner : Karl Henckell. Literatur- und Sozialrevolutionär, Zürich: Monsalvat 2017 18. Franziska Meier (Hg.): Gemeinsam Leben und Lernen. Studentische Selbstverwaltung im Collegium Academicum 1945–1985–2015 (Ausstellungskatalog), Heidelberg: Econotion 2017 19. Mindener Kreis e. V. (Hg.): Oskar Kröher (Oss). 90 Jahre (1927 bis heute) (Schriftenreihe des Mindener Kreises 15), Baunach: Spurbuchverlag 2017 20. Peter Mommsen: Radikal barmherzig. Das Leben von Johann Heinrich Arnold. Eine Geschichte von Glauben und Vergebung, Hingabe und Gemeinschaft, Schwarzenfeld: Neufeld 2017 21. Daniel Morat u. a.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 22. Christina Norwig: Die erste europäische Generation. Europakonstruktionen in der Europäischen Jugendkampagne 1951–1958, Göttingen: Wallstein 2016 23. Jürgen Oelkers: Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die »Karriere« des Gerold Becker, Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2016 24. Annebella Pollen: The Kindred of the Kibbo Kift. Intellectual Barbarians, London: Donlon Books 2015 25. Regierungspräsidium Kassel (Hg.): Regierungspräsidium Kassel 150, Kassel: Selbstverlag 2017 26. Jürgen Reulecke, Eckard Holler : Wir wollen zu Land ausfahren. Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung (Schriftenreihe des Mindener Kreises 13), Baunach: Spurbuchverlag 2016 27. Leo van Santen (Hg.): »Überhaupt fehlst du mir sehr« – Die Freundschaft zweier junger Exilanten. Der Briefwechsel von Manuel Goldschmidt und Claus Victor Bock (1945–1951), Berlin: Quintus 2017
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2017 und Nachträge
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28. Ina Schmidt: Bündische Jugend zwischen links und rechts. Werner Laß, die Freischar Schill und die Eidgenossen in der Weimarer Republik, Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2017 29. Hans-Joachim Seidel: Stuttgart ’29. Zwei junge Frauen erleben die Stadt (Schriftenreihe des Mindener Kreises 12), Baunach: Spurbuchverlag 2016 30. Claudia Selheim, Alexander Schmidt (Hg.): Grauzone. Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus (Tagungsband), Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2017 31. Stadtverwaltung Eisenach, Kulturamt Thüringer Museum (Hg.): Wanderlust oder : Die Sehnsucht nach dem Paradies, Eisenach: Katmos 2017 32. Wolf-Dieter Tempel: Vor und nach 1945. Erlebnisse und Begegnungen in und um Celle, Celle: Schadinsky 2016 33. Corinna Treitel: Eating nature in modern Germany. Food, agriculture, and environment, c. 1870 to 2000, Cambridge: Cambridge University Press 2017 34. Ursula Vaupel: Auch ich war ein Hitlermädchen. Erinnerungen 1928–1950, Büdingen: Geschichtswerkstatt Büdingen 2016 35. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland; Darmstadt: Philipp von Zabern 2017 36. Mathias Weifert: 150 Jahre deutsche Lebensreformbewegung (1867–1967), Herborn: Die Goden 2017
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
Hendrik Baumbach, Marburg: Frida Stengel Knut Bergbauer, Köln: Jüdische Jugendbewegung in Breslau (1912–1938) Christian Bluhm, Marburg: Der Ettlinger Kreis (1957–1977). Ein vergessener Akteur der Bildungsreformen Christopher Büdeker, Hameln: Die deutsche Arbeiterbewegung Marcus Coesfeld, Bielefeld: Kampfsport im Dritten Reich Maria Daldrup, Dortmund: Bevölkerungsforscher im 19. und 20. Jahrhundert Louisa van der Does, Mannheim: Deutsche Landkommunen Sandra Funck, Göttingen: Göttinger Schülerbewegung in den 1960er Jahren Marcel Glaser, Kassel: Peter Koller – Architekt der Stadt des KdF-Wagens. Eine Biografie Theresa Göbel, Laubach: Roverhike Holger Gruber, Stuttgart: Jugendbewegung vor 1933 im Raum Hannoversch Münden und Kassel Johannes Häfner, Marburg: Koloniales Hessen Anne-Christine Hamel, Utrecht (Niederlande): Die Deutsche Jugend des Ostens (DJO) Julia Hauser, Berlin: Transnationale und globale Bezüge in der Lebensreform Winfried Herbers, Wuppertal: Otto Schmidt – eine Biografie Cornelia Jacob, Marburg: Die Akademische Vereinigung Marburg Mareike Kleinschnittger, Iserlohn: Geschichte der Volksmusikschulen Helmut Koch, Homberg: Der Erste Weltkrieg und die Kirche, dargestellt am Beispiel der Zeitung »Heimatgrüße aus dem Homberge« Lisa Koch, Göttingen: Wilhelm Stählin und der Bund Deutscher Jugendvereine/Christdeutscher Bund Viola Kohlberger, München: Katholische Jugendarbeit im Bistum Augsburg 1945–1963
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Wissenschaftliche Archivnutzung 2017
21. Katharina Kron, Gau-Bischofsheim: Liedgut der bündischen Jugend 22. Jörg Hannes Kuhn, Bad Münstereifel: Ernst Reden, Freund der Geschwister Scholl 23. Jan Kuschnir, Marburg: Welten des Kolonialismus in Marburg und Hessen 24. Martin Leimbach, Berlin: Alkoholverzicht zwischen »Volksgesundheit« und libertärem Lebensstil: Jugendwanderbewegungen der Weimarer Republik und ihre nüchterne Vision 25. Malte Lorenzen, Bielefeld: Otto Bernhardi 26. Nele Luyts, Turnhout (Belgien): Architektur von Jugendherbergen (1909– 1950) 27. Katrin Marx-Jaskulski, Marburg: Essen und Ernährung in der Jugendbewegung 28. Johann Moyzes, Varel: Franz Albrecht Schall, Hitlerjunge und Pfadfinder 29. Robert M. Müller-Mateen, Nürnberg: Burg Lauenstein: Jungdeutscher Bund (1919), Muck-Lamberty und die Neue Schar, Kronacher Bund 30. Teresa Nentwig, Göttingen: Helmut Kentler 31. Rainer Otte, Bad Sachsa: Karl Wilhelm Diefenbach auf Capri 32. Stefan Peil, Köln: Michael Jovy und dj.1.11 33. Ronja Radigk, Darmstadt: Aspekte der Umwelterziehung im Rahmen des Nationalsozialismus am Beispiel der Artamanen 34. Reinhart Richter, Osnabrück: Leben und Werk Franz Kaisers 35. Finn Lukas Rohde, Gießen: Die Schlacht bei Langemarck im Kontext der Jugendbewegung 36. Jennifer Rojahn, Northeim: Bildüberlieferung der Jugendbewegung in den 1960er Jahren 37. Daniel Schober, Halle: Fidus und die ganzheitlich-heidnische Religionsphilosophie 38. Kerstin Stache, Marburg: Die Siedlungen Schwarzerden und Loheland im Kontext von Lebensreform und Jugendbewegung 39. Barbara Stambolis, Münster : Burg Lauenstein als jugendbewegter Experimentier- und Erfahrungsraum 40. Klaus Stanjek, Potsdam: Jugendbewegung und Lebensreform 41. Karen Strobel, Mannheim: Zur Biografie von Rudolph Höß 42. Thomas Spengler, Potsdam: Wilhelm Kotzde, Adler und Falken, Deutsche Falkenschaft 43. Dennis Tesch, Magdeburg: Oskar Schöneberg und die Wandervogelbewegung – Spurensuche vor 1914 44. Justus Ulbricht, Dresden: Facetten der deutschen Jugendbewegung 45. Meike Werner, Nashville (USA): Rudolf Carnap und die Freischar Freiburg 46. Melanie Werner, Köln: Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Sozialen Bewegungen im Kaiserreich
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47. Wolfgang Wiedl, Aßlar : Ernst Leitz, Ludwig Leitz und Elsie Kühn-Leitz und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 48. Manfred Wittmeier, Frankfurt a. M.: Fotoarchiv Julius Groß
Anhang
Autorinnen und Autoren
Knut Bergbauer M.A., Jg. 1962, Diplom-Sozialpädagoge; Studium der Sozialpädagogik; Doktorand an der Bergischen Universität Wuppertal; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt: »Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen« an der Technischen Universität Braunschweig Wolfgang Braungart, Prof. Dr., Jg. 1956, Professor für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Näheres zu den Forschungs- und Publikationsschwerpunkten ist der Homepage zu entnehmen: http://www.uni-bielefeld.de/lili/personen/braungart/ Benedikt Brunner, Jg. 1986, Kirchenhistoriker ; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Eurpäische Geschichte in Mainz; 2017 Dissertation mit einer Arbeit über den Volkskirchenbegriff im deutschsprachigen Protestantismus des 20. Jahrhunderts; Forschungsschwerpunkte: Kirchliche Zeitgeschichte, Kirchen- und Theologiegeschichte der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters, Predigtgeschichte Paul Ciupke, Dr. phil., Jg. 1953, Diplompädagoge, Mitglied im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union NRW, Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Außerschulische Bildung«; Veröffentlichungen zu Theorie und Praxis politischer Jugend- und Erwachsenenbildung, zur Erinnerungskultur und zur Kultur- und Bildungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert Eckart Conze, Prof. Dr., Jg. 1963, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg; Forschungs- und Publikationsschwerpunkte im Bereich der deutschen und internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts Saskia Fischer, Dr. phil., Jg. 1981, Literaturwissenschaftlerin, seit 2018 wissenschaftliche Koordinatorin am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Uni-
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Autorinnen und Autoren
versität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur über die Shoah, Lagerliteratur, Literatur nach 1945, Drama, Theater und Ritual Mareike Gronich, Dr. phil., Jg. 1976, Studium der Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaft und Geschichtswissenschaft, 2010–2017 Wiss. Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, seit Januar 2018 akademische Rätin; Forschungsschwerpunkte: Literatur und Politik, Literatur und Erinnerungskultur, Schnittstellen zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, Gegenwartsliteratur Ewald Grothe, Dr. phil., Jg. 1961, Historiker ; Leiter des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach, außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal; Veröffentlichungen zur Verfassungsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Liberalismusgeschichte und hessischen Landesgeschichte. Michael Kubacki, B.A., Jg. 1990, Studium der Geschichte und Kulturwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg Reinhard Mehring, Prof. Dr. phil., Jg. 1959, Abteilung Politikwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Heidelberg; Veröffentlichungen u. a. über Thomas Mann, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Geschichte der Philosophischen Pädagogik Franziska Meier, M.A., Jg. 1989, Doktorandin an der Professur für Public History, Stipendiatin im interdisziplinären Promotionskolleg »Kunst, Kultur und Märkte. Geschichte der europäischen Kulturwirtschaft vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart« am Zentrum für europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Kristian Mennen, Dr., Jg. 1985, Studium der Geschichte und Historischen Wissenschaften in Nijmegen und Wien, 2013 Promotion in Münster und Nijmegen mit einer Dissertation zum Thema der politischen Kultur in Deutschland und den Niederlanden in der Zwischenkriegszeit, Forschungsprojekt zum europäischen Netzwerk faschistischer Jugendverbände bis 1945 (in Vorbereitung); Veröffentlichungen zur niederländischen Geschichte und zu Jugendverbänden, insbesondere der niederländischen Pfadfinderbewegung, im 20. Jahrhundert. Torsten Mergen, Dr. phil., Jg. 1977, Studium der Fächer Germanistik, Geschichte, Katholische Theologie und Politikwissenschaft, Gymnasiallehrer und Fachberater für Deutsch bei der saarländischen Schulaufsichtsbehörde sowie Dozent für
Autorinnen und Autoren
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Fachdidaktik Deutsch an der Universität des Saarlandes; Veröffentlichungen zur historischen Jugendbewegung, Literaturgeschichte, Medien- und Literaturdidaktik sowie zur Theorie und Praxis der Unterrichtsevaluation. Christoph Nonn, Dr., Jg. 1964, Professor für Neueste Geschichte an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf; Veröffentlichungen zur Geschichte der Geschichtsschreibung, des deutschen Kaiserreichs, des Landes Nordrhein-Westfalen und des Antisemitismus Ulrike Pilarczyk, Dr., Jg. 1956, apl. Professorin für Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaften der TU-Braunschweig; Forschungsschwerpunkte: bildanalytische Forschungsmethoden, historische Bildungs- und Sozialisationsforschung, Leiterin des DFG-Projektes »Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen« an der Technischen Universität Braunschweig (2018–2021) Susanne Rappe-Weber, Dr., geb. 1966, Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften, 1993–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Arbeitsschwerpunkte: Archiv- und Historische Bildungsarbeit, Historische Jugendforschung, hessische Regional- und Agrargeschichte Jürgen Reulecke, Prof. Dr., geb. 1940, 1984–2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen, danach bis Ende 2008 Professor für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen an der Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Sozialreform, sozialen Bewegungen und Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der Urbanisierung; Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen sowie Generationengeschichte im Kontext einer allgemeinen Erfahrungsgeschichte Franz Riemer, Prof. Dr., Jg. 1953, Professor für Musik und ihre Didaktik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover; Arbeitsschwerpunkte: historiografische und komparative Musikpädagogik Wolfgang Schieder, Prof. Dr., Jg. 1935, Professor em. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln; Forschungsschwerpunkte: Italienische Geschichte, vergleichende Faschismusforschung sowie deutsche und europäische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
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Autorinnen und Autoren
Frauke Schneemann M.A., Jg. 1989, Studium der Germanistik und Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und der Aberystwyth University, wissenschaftliche Hilfskraft im Archiv der deutschen Jugendbewegung zur Erschließung des »Zentralarchiv der Pfadfinder«; Dissertationsprojekt zur deutschen Pfadfinderbewegung im internationalen Kontext (1945–1980) im Fach Mittlere und Neuere Geschichte an der Uni Göttingen, Stipendiatin der HansBöckler-Stiftung Hagen Stöckmann M.A., Jg. 1984, Historiker ; Dissertation zu Erziehungsstilen und Elitenbildung zwischen 1920 und 1960; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsund Erziehungsgeschichte, Geschichte der Kindheit, Nationalsozialismus und Generationengeschichte Arbeitsschwerpunkt: Bildungs- und Erziehungsgeschichte, Geschichte der Kindheit, Nationalsozialismus und Generationengeschichte Max Zeterberg, M.A., Jg. 1989, Historiker und Trainer in der außerschulischen und politischen Bildungsarbeit, Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of British Columbia (Kanada)